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German Pages 477 [480] Year 2012
Frühe Neuzeit Band 168
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640)
Herausgegeben von Stefanie Arend und Claudius Sittig in Verbindung mit Sonja Glauch und Martin Klöker
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027877-4 e-ISBN 978-3-11-028832-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
In memoriam Prof. Dr. Erika Greber (1952–2011)
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................... XI
NICOLA KAMINSKI »Man wird mich nennen hören«. Dichtung als Nachlaß ................................
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THOMAS ALTHAUS »Ich sage noch einmahl« – Paul Flemings Wiederholungen ......................... 17 TINO LICHT Varipediclauda. Innovationen in Paul Flemings lateinischer Dichtung ......... 35 THOMAS BORGSTEDT Eleganz und Intimität. Zu Paul Flemings Petrarkismus ................................. 47 STEFANIE AREND Was vermag die Medizin? Figurationen des Arztes in Paul Flemings Gedichten .................................... 59 JÖRG ROBERT Der Petrarkist als Pathologe. Bemerkungen zu Flemings medizinischer Dissertation De lue venerea (1640) ............................................................... 75 DIETMAR SCHUBERT »Denn mein Erlöser trug mich allzeit auf den Armen«. Nachdenken über Paul Flemings geistliche Lyrik ......................................... 97 JOHANN ANSELM STEIGER Hephata! Ein geistliches Gedicht des Dichters und Arztes Paul Fleming und dessen auslegungshistorischer Kontext ................................................... 115 FRANZ FROMHOLZER / JÖRG WESCHE »Ich bin nicht itzo ich.« Flemings Psalmenübersetzung im Kontext der frühneuzeitlichen Bußpraxis .................................................................... 141
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Inhalt
BEATE HINTZEN Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens. Zur Interferenz der Diskurse in Paul Flemings Dichtung .............................. 159 PETER J. BURGARD Flemings verdrehte Osculo-Logik und die Ästhetik des Barock ................... 181 CLAUDIUS SITTIG ›Der Zeuge von meiner Poesie‹. Männlich-homosoziales Begehren in Paul Flemings Freundschaftsdichtung ........................................................... 205 BARBARA BECKER-CANTARINO PaulF lemings Schreiben vertriebener Frauen Germanien. Zu Ikonographie und Konzept von ›Germania‹ im 17. Jahrhundert ............. 233 DIRK NIEFANGER »Ich sags auch mir zum Hohne.« Paul Flemings Kriegslyrik ........................ 257 GUNTER E. GRIMM Zwischen Propaganda und Distanz. Gustav II. Adolf von Schweden in der politischen Lyrik Paul Flemings ....... 273 MARTIN KLÖKER Ein Dichter kommt in die Stadt. Flemings literarische Kontaktaufnahme in Riga ............................................ 297 JOACHIM HAMM Ovid am Kaspischen Meer. Imitatio und Selbststilisierung in Paul Flemings Dagestaner Epigrammen ................................................... 317 MAXIMILIAN BERGENGRUEN Die epigrammatische Überschrift. Zu einem Strukturmerkmal von Paul Flemings Reisegedichten .................... 333 KRISTI VIIDING Die lateinischen Reisegeleitgedichte von Paul Fleming ................................ 349 HARALD TAUSCH Erinnerungen an das irdische Paradies. Persien und die Alchimie bei Paul Fleming und Adam Olearius ................... 369
Inhalt
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MANFRED KERN / OTTO RASTBICHLER Wie klinget mein Gethöne? Zur Intermedialität barocker Lyrik und zu Vertonungen von Flemings weltlichen Gedichten .................................... 409 WILHELM KÜHLMANN Erinnerung als Roman. Fleming in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts .......................................................................... 425 DIETER MARTIN Plädoyer für eine neue Fleming-Ausgabe ...................................................... 441
Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen ...................................................................................................... 455 Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 457 Namenregister ................................................................................................ 459
Vorwort »Von Glückwünschungen« ist das vierte Buch der Poetischen Wälder in Lappenbergs Edition von Paul Flemings Deutschen Gedichten überschrieben – von dort stammt das Zitat, das dem vorliegenden Band den Titel gibt: Er solle zeigen, »was ein Poëte kan!«, so lautet Flemings Aufforderung in einem Glückwunschgedicht an Elias Major, als dieser im Mai des Jahres 1631 zum Dichter gekrönt wurde. Fleming entwirft darin ein ambitioniertes Verständnis von einer göttlich inspirierten Poesie, die als »Widertod« den Menschen der Sterblichkeit entreißt und ihn über den »Pöbel« erhebt; einer Dichtung, durch die »er schon ein Gott, weil er noch Mensch ist, heißt«. Dieser hochgespannte Ton ist ebenso charakteristisch für das Gedicht wie die Tatsache, dass Fleming zwar die Erhebung Majors in den Stand der gekrönten Poeten besingt, dass er sich aber gleichzeitig implizit auch zur Gruppe derjenigen rechnet, die im Stande sind, dem anspruchsvollen Dichtungsverständnis zu genügen. Mehrfach schließt er sich grammatisch ein in die Gruppe der wahren Dichter, etwa in der Überlegung, es seien »günstige Natur« und »Himmelsgunst« und nicht Fleiß allein, der »uns […] zu Poëten« mache. Seine eigene Dichterkrönung schien Fleming zu diesem Zeitpunkt bereits unmittelbar bevorzustehen. Das wird beim Blick auf eine lateinische Elegie deutlich, die er wenig später verfasste und in der er von der erhofften institutionellen Bestätigung seiner eigenen Berufung zum Dichter in den weihevollsten Tönen spricht. Das Bild der Aufnahme in die Gruppe der Poeten trägt hier wie im Glückwunschgedicht an Elias Major Züge einer Sehnsuchtsvision – so heißt es in den Schlussversen über dessen Krönung und die folgende Ankunft auf dem Musenberg: Wohlan, so nehmt nun hin die immergrüne Krone, die euch, Herr Major, gibt für euren Fleiß zu Lohne der klugen Schwestern Zunft! Nehmt hin und setzt sie auf und schwingt euch freudig hin, wo der Poëten Hauf’ umb ihren Pindus tanzt. Die frische Hippocrene fleust reicher als zuvor, der breite Platz ist schöne von Neuem ganz begrünt, auf dem ihr tichten solt. Das ganze Himmelsfeld ist blau und pures Gold. Apollo gibt euch selbst von Hand zu Hand die Saiten, die er auf seiner Harf’ auch führete vor Zeiten Der ganze Helicon ist still’ und höret an, was dieser neue Gast für schöne Lieder kan, wie er so wol besteht. Ich, der ich weit zurücke von eurer Hochheit bin, wündsch’ euch zu diesem Glücke, was mancher wünschet ihm. Tut, was ihr vor getan, daß man auch seh’ an euch, was ein Poëte kan! (PW V,I 7)
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Stefanie Arend / Claudius Sittig
Die Vision einer solch gastfreundlichen Aufnahme in die Gruppe der Poeten hat Fleming (der seinen hohen Anspruch im Gedicht einzig durch die knappe Bescheidenheitsformel am Ende ein wenig zurücknimmt) auch mit Blick auf sich selbst formuliert. – Und die gewünschte Anerkennung wurde schließlich auch ihm gezollt, nicht nur durch die Auszeichnung mit der Dichterkrone, die er wenige Monate später, im Dezember 1631, tatsächlich erhielt. Das umfangreiche Korpus der Texte, in denen Paul Fleming selbst zeigt, »was ein Poëte kan«, indem er sein rhetorisches Können und poetisches ingenium zugleich unter Beweis stellt, hat ihm bei seinen Zeitgenossen den Ruf eines höchst begabten Liederdichters eingetragen. Sein Name wurde in einer Reihe mit Martin Opitz genannt, und Fleming selbst hat seinen eigenen Anspruch auf einen herausgehobenen literarischen Rang immer wieder – am deutlichsten in seiner Grabschrifft – selbstbewusst formuliert. Am 5. Oktober 1609 in Hartenstein im Erzgebirge geboren, erhielt Fleming seine Ausbildung vor allem in Leipzig, wo er nach dem Besuch der Artistenfakultät Medizin studierte. Freundschaftlich verbunden war Fleming hier mit den Leipziger Dichtern Christian Brehme und Gottfried Finckelthaus, Georg Gloger sowie mit dem Mathematiker und Theologen Adam Olearius. Mit letzterem nahm er in den Jahren 1633 bis 1639 an der Gesandtschaft nach Russland und Persien teil, die Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf initiiert hatte, um einen neuen Handelsweg nach Osten zu erschließen. Fleming fungierte auf dieser Reise als Hofjunker, er begleitete und dokumentierte sie zugleich literarisch mit seinen Gedichten. Nach Beendigung der Reise wollte er in Reval sesshaft werden. Die anvisierte Stelle eines Stadtarztes konnte er allerdings nicht mehr antreten. Auf der Rückreise von Leiden, wo er den medizinischen Doktorgrad erworben hatte, erkrankte er und starb am 2. April 1640 in Hamburg, wo er in der Kirche St. Katharinen begraben wurde. – Vor allem mit Blick auf die unternommene lange Reise nach Russland und Persien erscheint Flemings Biographie im Vergleich mit vielen anderen Dichterbiographien der Frühen Neuzeit bemerkenswert. Diese Reise eröffnete ihm einen Erfahrungsraum, der weit über den seiner Zeitgenossen hinausging. Da etliche seiner Gedichte auf dieser Reise geschrieben sind und sie poetisch begleiten, wurden Flemings Texte auch als einzigartiges ›poetisches Tagebuch‹ (Lappenberg) gelesen und in die Nähe moderner ›Erlebnislyrik‹ gerückt. Diese Lesart wurde schließlich generalisierend auf weite Teile des Werkes ausgedehnt. Man meinte, immer wieder den charakteristischen Ton einer subjektiven Selbstaussprache zu hören. Im Gegenzug wurde aber immer wieder auch darauf hingewiesen, dass Flemings Texte in hohem Maße an Traditionen anschließen, rhetorischen Konventionen folgen und aus dem Reservoir antiker und zeitgenössischer Topoi schöpfen. In dieser Spannung zwischen biographischen Lesarten und dem Blick auf die ästhetischen Verfahren hat sich die Forschung zu Flemings Dichtung seit längerem bewegt. Dabei hat sich im Zuge der Untersuchungen ein relativ festes Korpus von Texten herausgebildet, die seit längerem stellvertretend für Flemings Werk stehen.
Vorwort
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Es war ein Ziel der internationalen Fachtagung in Erlangen vom 24.–27. September 2009, die der vorliegende Band dokumentiert, Fleming nicht als ›Erlebnisdichter‹ zu profilieren, sondern den spezifischen ästhetischen Eigenheiten der Texte in einem philologischen Zugriff mehr Aufmerksamkeit zu widmen, dabei die literatur- und kulturgeschichtlichen Kontexte mit in die Interpretationen einzubeziehen und zudem den Blick auch auf bisher kaum diskutierten Texte und Diskurse auszuweiten. So widmen sich eine Reihe von Beiträgen des vorliegenden Bandes insbesondere der großen Gruppe der lateinischen Gedichte, die nach Flemings eigenem Verständnis mindestens gleichwertig neben seinen deutschsprachigen Texten stehen, in den Fokus gerückt werden Flemings religiöse Dichtung ebenso wie medizinische Diskurse, die Kategorie ›Geschlecht‹ ebenso wie politische Implikationen seiner Texte bis hin schließlich zur Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert. Die lebhaften und mitunter kontroversen Diskussionen während der Tagung haben bereits gezeigt, dass hier Fragehorizonte und Problemkreise formuliert sind, an die künftige Forschungsbeiträge anschließen können. Die Tagung wurde in einer Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg und dem Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück durchgeführt: Wir danken Prof. Dr. Dirk Niefanger (Erlangen) und Prof. Dr. Wolfgang Adam (Osnabrück) herzlich für ihre Unterstützung im Vorfeld und während der Tagung. Ebenso herzlich danken wir den Erlangern Hilfskräften Michael Beck, Denis Hagedorn, Carina Pfahlmann, Timo Pohl, Elke Roeder, Katharina Vater und Alexander Weber für unermüdlichen Einsatz. Unser besonderer Dank gebührt Erika Hilscher, die mit Geduld, Umsicht und Heiterkeit die Fäden immer fest in der Hand hielt. Für Redaktionsund Satzarbeiten danken wir Wolfgang Delseit. Den Band widmen wir dem Andenken an Frau Prof. Dr. Erika Greber. Die Nachricht über ihren frühen Tod im August 2011 hat uns sehr erschüttert. Sie hat die Erlanger Tagung mit ihrem Vortrag über Fleming und den Beginn der russischen Sonett-Tradition und nicht zuletzt durch ihre Präsenz in Diskussionen und Gesprächen außerordentlich bereichert. Sie bleibt uns als eine stets anteilnehmende, warmherzige und liebenswerte Kollegin in Erinnerung. Stefanie Arend und Claudius Sittig
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»Man wird mich nennen hören« Dichtung als Nachlaß In einer rezeptionsgeschichtlich frühen Phase las man Flemings deutsche Gedichte im Zeichen von Unmittelbarkeit, einer für das 17. Jahrhundert ungewöhnlichen Unmittelbarkeit, beinahe so, als handelte es sich um Vorboten erlebnislyrischer Gelegenheitsdichtung im Sinne Goethes.1 Dann rief man sich, beflügelt und gebremst zugleich durch breitangelegte Untersuchungen zu Rhetorik und Topik,2 zur Ordnung, rezipierte gleichberechtigt neben den Teütschen Poemata nun auch die lateinischen Gedichte und wies für die deutschen nach, wie sehr und in welchen Traditionen sie stehen: antiker, neostoizistischer, petrarkistischer und ganz besonders in der Nachfolge des deutschen Versreformators Martin Opitz. Für Flemings Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht, der das Titelzitat entlehnt ist, wird dabei folgender Traditionshorizont geltend gemacht: Gattungspoetologisch Pate steht ein bedeutender Zweig barocker Gelegenheitsdichtung, das aus der Antike und dem Neulateinischen sich herschreibende Epitaph, ebenso wie die fiktive Adaption solcher Grabschriften.3 Für den poetischen Anspruch auf Unsterblichkeit ruft man als Vorbilder Horazens Exegi monumentum aere perennius und den stolzen Epilog der Metamorphosen in den Zeugenstand, ferner Ovids proleptische Grabschrift auf sich selbst in den Tristien.4 Der Wortlaut schließlich läßt sich vor
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Vgl. dazu Peter Krahé: »Flemming, unsrer Tichter Wonn’«. Paul Flemings literarischer Nachruhm. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 71–89; zu diesem Rezeptionsproblem auch ders.: Persönlicher Ausdruck in der literarischen Konvention. Paul Fleming als Wegbereiter der Erlebnislyrik? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987), S. 481– 513, und Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/II: Barockhumanismus. Liebeslyrik. Tübingen 2006, S. 109–111. Bahnbrechend für diese Revision Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg u. a. 1966; Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. Ein dezidiertes Plädoyer in diesem Sinne formuliert Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings Grabschrifft. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 168–175, bes. S. 168f.; Jochen Schmidt: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische Grabschrift »auf sich selbst«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 161–182, bes. S. 161–166. Ebd., S. 167, 172 u. 176; vgl. auch Urs Herzog: Kunst als »Widertod«. Paul Flemings (1609– 1640) »Grabschrift«. In: Der Deutschunterricht 37 (1985), H. 5, S. 38–43, hier S. 39 u. 41.
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dem Hintergrund stoischen Autarkiedenkens und manieristischer argutia-Poetik auf eine Vielzahl antiker und frühneuzeitlicher Autoren zurückführen. Und doch gelangt beinahe jede Deutung dieses mittlerweile von Tradition regelrecht umstellten Textes irgendwann an einen Punkt, an dem all diese Referenzen zur Bestimmung seiner Eigenart nicht zureichen. Von einer »einzigartigen Redesituation« spricht Italo Michele Battafarano, die Flemings Grabschrift schaffe, indem das »dichtende Ich« mit dem »bedichteten, verstorbenen/sterbenden Ich« zur Deckung komme.5 Daß von den »spielerischen Variationen« der poetischen Grabschrift »die Grabschrift, die Fleming auf sich selbst in Erwartung des Todes schrieb«, »denkbar weit entfernt« sei, stellt Jochen Schmidt fest.6 »Es ist ein sehr besonderes Gedicht«, schreibt Heinz Entner (nicht ohne hinzuzufügen, man dürfe »bei einem Gedicht aus dem 17. Jahrhundert nie vergessen, daß es Tradition verpflichtet ist«);7 gleichwohl unterscheide es sich »von einem Großteil dieser Tradition«, denn: »es war nicht fiktiv gemeint, als es entstand«.8 Das gilt freilich auch für die Masse barocker Begräbnisgedichte bei Gelegenheit tatsächlicher Todesfälle, über deren die poetische Qualität verderbende Serienproduktion Martin Opitz bereits 1624 klagt.9 Doch bekommt die Gelegenheit zu einer nichtfiktiven Grabschrift auf sich selbst der Gelegenheitspoet eben bestenfalls einmal. Der Sprechakt und seine deiktisch auf eine im Wortsinn einzigartige Sprechsituation weisende Rahmung sind es demnach, die das ›sehr Besondere‹ von Flemings Grabschrift ausmachen; auf diesen Sprechakt, dessen Besonderheit die Forschung zwar konstatiert, sich aber nicht so recht einen Reim darauf zu machen weiß, möchte ich im Folgenden die Aufmerksamkeit lenken. Und zwar – das wäre der Reim, den ich anzubieten hätte – im Hinblick auf sein (wiederum 5
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Italo Michele Battafarano: Grabschrift für sich selbst oder die Transzendenz durch die Literatur. Giuseppe Artale und Paul Fleming. In: Ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern 1994 [zuerst 1985], S. 413–428, hier S. 426, Anm. 3. Schmidt (Anm. 3), S. 166. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 536. In der »Spannung« zwischen »fiktive[r] und historische[r] Schreibsituation« sucht auch Kühlmann (Anm. 3), S. 169, das Besondere des Gedichts zu bestimmen: »In der fiktiven Perspektive versetzt sich der Dichter in eine imaginierte Zukunft nach dem eigenen Tod, wie das Präteritum der ersten Verse bzw. das Futur in Vers 6 andeutet. Durch den Wechsel ins Präsens (8ff.), also in der strophischen Zäsur des Sonetts, tritt die Situation der Sterbestunde in den Mittelpunkt. Die genauen Angaben der Überschrift unterrichten den Leser, daß Flemings dichterischer Entwurf durch die furchtbare Wirklichkeit eingeholt wurde. Die poetische Phantasie erhält den Charakter realer Antizipation, das Gedicht wird zu einem Dokument beeindruckender Authentizität, es nähert sich dem testamentarischen Rang der ›letzten Worte‹. Die fiktive Grabschrift wandelt sich zu einem Text, der in der Erfüllung dichterischer Prophezeiungen alsbald seinem pragmatischen Zweck hätte zugeführt werden können.« Entner (Anm. 7), S. 537. Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm Braune neu hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 1963, S. 11: »Ferner so schaden auch dem gueten nahmen der Poeten nicht wenig die jenigen / welche mit jhrem vngestümen ersuchen auff alles was sie thun vnd vorhaben verse fodern. Es wird kein buch / keine hochzeit / kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben / gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter.«
»Man wird mich nennen hören«
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im Wortsinn) ›poietisches‹ Vermögen. Das wird in einem zweiten Schritt, einigermaßen folgerichtig, wie ich glaube, von Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht zu D. Paul Flemings Teütschen Poemata führen. Zunächst aber zu jenem besonderen Sprechakt, den es zuallererst in die Gegenwart zu zitieren gilt: Herrn Pauli FlemingI der Med. Doct. Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg / den xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl. auff seinem Todtbette drey Tage vor seinem seel: Absterben. Jch war an Kunst / und Gut / und Stande groß und reich. Deß Glückes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren. Frey. Meine. Kunte mich aus meinen Mitteln nehren. Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann sang mir gleich. Von reisen hochgepreist; für keiner Mühe bleich. Jung / wachsam / unbesorgt. Man wird mich nennen hören. Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören. Diß / Deütsche Klarien / diß gantze danck’ ich Euch. Verzeiht mir / bin ichs werth / Gott / Vater / Liebste / Freunde. Jch sag’ Euch gute Nacht / und trette willig ab. Sonst alles ist gethan / biß an das schwartze Grab. Was frey dem Tode steht / das thu er seinem Feinde. Was bin ich viel besorgt / den Othem auffzugeben? An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben.10
Daß es einem Ich-Erzähler, einem autobiographischen zumal, aller Teleologie zum Trotz nicht gegeben ist, das eigene selige Ende zu berichten, ist ein erzähllogisches Problem;11 der verschiedentlich in der Rolle des frommen Einsiedlers sich versuchende Simplicissimus muß diese Erfahrung schmerzlich machen. Die Heiligenlegende ist daher ein heterodiegetisches Genre par excellence. Vergleichbares gilt für den Nachruf, die Leichabdankung, die Grabschrift oder – moderner – die Todesanzeige. »Die kürzeste Form der Selbstanzeige, ›Ich bin tot‹«, so war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. August 2009 in einer Besprechung der Website www.todesanzeigen-sammlung.de zu lesen, »überzeugt […] nicht recht. Überhaupt sind die Selbstanzeigen fast immer peinlich, was man wohl als Beleg dafür nehmen kann, dass mit ihnen Genregrenzen überschritten wurden,
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Zit. n. TP 670. Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Vgl. Alexandra Stein: Die Hybris der Endgültigkeit oder der Schluß der Ich-Erzählung und die zehn Teile von »deß Abentheuerlichen Simplicissimi Lebens-Beschreibung«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 175– 197; Gerhart von Graevenitz: Das Ich am Ende. Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius’ Goldenem Esel und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning. München 1996, S. 123–154.
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die man besser respektiert: Es gibt viele Arten, die Nachwelt zu adressieren, aber die Todesanzeige ist und bleibt eine Sache Dritter.«12 Nun ist Flemings Sonett gewiß etwas anderes als eine im Netz anthologisierte Selbstanzeige. Doch verdient ungeachtet des historischen Abstands die Beobachtung der Grenzüberschreitung Aufmerksamkeit. Flemings Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht präsentiert sich, gerade weil sie nicht bloß fiktives Rollenspiel ist, vielmehr performativ am Übergang von Leben zu Tod geschrieben wird, als Experiment auf der Grenze. Der da spricht, trifft in den Quartetten des Sonetts lapidar, wie es dem Genre ziemt, letztgültige, superlativische, absolute Aussagen über das eigene Ich, die derart präterital in Stein gemeißelt (»Jch war…«) einen unmöglichen Sprechakt darstellen: Das »war« setzt den Spielregeln des Nachrufs entsprechend Abgeschlossenheit des bilanzierten Lebens voraus; das »Jch« hingegen entwirft just diesen besprochenen Verstorbenen als lebendigen Sprecher in eigener Sache.13 Dieser Schritt über die durch Herkommen und Bio-Logik gesetzte Grenze ist konstitutiv für Flemings Grabschrifft. Indem das Ich seinen eigenen Nachruf (in den Quartetten) und seine letzten Worte auf dem Sterbebett (in den Terzetten) pointiert mit den Versen »Was bin ich viel besorgt / den Othem auffzugeben? | An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben« an die Adresse des Todes beschließt, stellt es performativ unter Beweis, wovon es spricht: daß seine Kunst bis zuletzt dem Tod trotzt. Flemings Gedicht ist die letzte Lebensäußerung eines Todkranken und ist es doch nicht: Der da spricht, verfügt bis zum epigrammatischen Schlußcouplet souverän über seine poetischen Kräfte. Daß bei diesem ultimativen Experiment das Ich am Ende doch an seine Grenze stößt, ist freilich unvermeidlich. Markiert ist sie durch die Überschrift des Gedichts, seine zum Text hinzutretende paratextuelle Rahmung: »Herrn Pauli FlemingI der Med. Doct. Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg / den xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl. auff seinem Todtbette drey Tage vor seinem seel: Absterben«. Dieses situationsbezogene Beiwerk zum eigentlichen Dichterwort, so die nächstliegende Lesart, kann nur von einem Dritten stammen.14 Und doch ist die Überschrift für die Einzigartigkeit des poetischen Sprechakts alles andere als nebensächlich; vielmehr bezeugt gerade sie erst seine Authentizität als nichtfiktives ›letztes Wort‹ auf dem »Todtbette«. Zuletzt also erweist sich das poetisch die Grenzen seiner Autarkie auslotende Ich denn doch als heteronom: 12 13
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Helmut Mayer: Todesanzeigen im Vergleich. Konsequenzen für jedermann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. August 2009, S. 34. Von einer »situation involving two ›speakers‹ in this poem«, einer »dual persona« spricht Marvin S. Schindler: A Note on Paul Fleming’s »Grabschrift«. In: Weg der Worte. Festschrift Wolfgang Fleischhauer. Hg. v. Donald C. Riechel. Köln/Wien 1978, S. 234–236, hier S. 235 u. 236. »What we ›hear‹ in those first eight lines is not the ›voice‹ of the speaker-poet, directly, in quite the same way as in the sestet, for the words are those he has already composed and left behind as his monument, words ›spoken‹, in a sense, after death«, weshalb sie »with no change in substance or import« auch in die dritte Person gesetzt werden könnten; »in contrast, what is heard in the tercets is the ›voice‹ of the poet composing this sonnet apparently three days before his death« (S. 235). Deutlich als nicht dem Autor Fleming zuzurechnender Paratext gekennzeichnet etwa bei Deutsche Sonette. Hg. v. Hartmut Kircher. Stuttgart 1979, S. 48, wo die Überschrift in eckige Klammern gesetzt wird.
»Man wird mich nennen hören«
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angewiesen auf Beglaubigung durch einen Hinterbliebenen, in der konkreten Situation den Freund Caspar Hertranft, mit dem Fleming am 7. März 1640 von Leiden in Richtung Reval aufgebrochen war, mit Zwischenstation in Hamburg, die für ihn zur Endstation werden sollte.15 Von Ende Januar bis zum 7. März, so hat man diese letzten Wochen rekonstruiert, hatte Fleming das Konvolut seiner gesammelten Gedichte in Reinschrift gebracht, zu Büchern geordnet und diese mit Widmungen versehen,16 mit diesem für den Druck vorbereiteten Manuskript traf er am 20. März in Hamburg ein, um es seinem Freund Adam Olearius für die Drucklegung zu übergeben. Statt dessen erkrankte er, wurde am 27. März bettlägrig, schrieb oder diktierte am 28. März jene Grabschrifft, die der Freund Hertranft – »Vater / Liebste« oder sonstige »Freunde« waren nicht anwesend – nach seinem Tod am 2. April mit besagter Überschrift versah und dem Druckmanuskript hinzufügte. Oder sollte alles ganz anders gewesen sein? Nimmt man den pointierten Anspruch der Grabschrifft, dem Tod über das Leben hinaus durch das Wort zu trotzen, ernst, so läßt die Grenze des dem Ich aus eigener Kraft Sagbaren sich noch ein gutes Stück über den poetischen Text hinausschieben: bis zur letzten, relationalen Bestimmung der Überschrift nämlich – »drey Tage vor seinem seel: Absterben« –, die, dem sterbenden Ich unverfügbar, den Zeitpunkt seines Todes feststellt. Allerdings fällt ausgerechnet an dieser sensiblen Stelle des Umschlags von Autonomie zu Heteronomie eine Unstimmigkeit auf, die in der Forschung bislang merkwürdigerweise unbeachtet geblieben ist. »Den xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl.« schreibt Fleming laut der (bis dahin womöglich von ihm selbst verantworteten) Überschrift sein Gedicht, »drey Tage vor seinem seel: Absterben«. Das wäre der 31. März. Tatsächlich aber stirbt Fleming am 2. April,17 dem Donnerstag vor Ostern; am 6. April, Ostermontag, wird er in der Hamburger St. Katharinen-Kirche bestattet. Wie soll 15 16
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Hierzu und zum Folgenden vgl. Entner (Anm. 7), S. 528, zu Hertranft S. 526–528. Vgl. Paul Flemings deutsche Gedichte. Hg. v. Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1865, Bd. 2, S. 893; so auch Jörg-Ulrich Fechner: Paul Fleming. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 365–384, hier S. 371f. In der Forschung ist diese Ungereimtheit – mit einer Ausnahme – nicht vermerkt, womöglich noch nicht einmal bemerkt worden. Besonders augenfällig wird diese Unachtsamkeit im Kommentar von Lappenberg (Anm. 16), Bd. II, S. 769 (mit Bezug auf die variante Datierung des Gedichts im Erstdruck des Prodromus, vgl. unten Anm. 22): »Den 20. Tag des Mertzen A […]. Der 28. März nebst der genauen Angabe ›drei Tage vor seinem Absterben‹ ist wahrscheinlicher, da Fl. am 2. April starb, erst am 20. März in Hamburg angekommen war, und die Zahl 20 leicht aus 28 entstehen konnte.« So auch Gedichte 1600–1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. Hg. v. Christian Wagenknecht. München 1969, S. 111. Vgl. noch Dietmar Schubert: »Man wird mich nennen hören…«. Zum poetischen Vermächtnis Paul Flemings. In: Weimarer Beiträge 30 (1984), S. 1687–1706, hier S. 1687: »Am 28. März 1640 – drei Tage vor seinem Tode – schrieb Paul Fleming jenes Sonett, in dem er die Bilanz seines Lebens zieht.« Die Ausnahme bildet ein jüngst erschienener, der germanistischen Fleming-Forschung nur schwer zuzurechnender Aufsatz von Joachim Rickes: »Man wird mich nennen hören«. Gedanken über Zeit, Sterben und Küssen bei Paul Fleming. In: Wirkendes Wort 59 (2009), S. 177–187, der von einer ähnlichen Ausgangshypothese ausgeht wie der vorliegende Beitrag, von da aus jedoch zu kaum nachvollziehbaren Schlußfolgerungen gelangt (vgl. unten Anm. 21).
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man sich diesen ›Rechenfehler‹, den man für den bei Flemings Tod anwesenden Caspar Hertranft wohl wird ausschließen dürfen, erklären? Der 31. März, im Jahr 1640 fällt er auf den Dienstag der Karwoche,18 weist keinerlei Signifikanz auf, ganz anders als das tatsächliche Todesdatum, wie Jörg-Ulrich Fechner zu Recht bemerkt: »Gründonnerstag, die coena domini«, barg »im Verständnis der Zeitgenossen einen heilsgeschichtlichen Verweis«.19 Eine »metaphysische Korrektur« der kontingenten Wirklichkeit, wie Andreas Gryphius sie 1637 im Sonett Der Autor vber seinen Geburts-Tag den 29. Septembr. des M DCXVI Jahres vornimmt,20 liegt darum nicht nahe, weder in Hertranfts noch in der Verantwortung durch den Autor selbst. Schlüssiger erscheint demgegenüber eine andere Lesart, die allerdings in der Tat den Autor selbst am Werke sieht: die Annahme nämlich, daß das Ich »auff seinem Todtbette« auch diese letzte Grenze noch überschreitet, daß es die Gewalt über das Wort bis zum Schluß nicht aus der Hand gibt und seinen prospektiven Todestag selbst setzt.21 Dann würden die letzten Worte der Überschrift, »drey Tage vor seinem seel: Absterben«, lesbar als Spur dieses grenzüberschreitenden Sprechakts wie seiner Unmöglichkeit, die berichtigend auszulöschen der hinterbliebene Freund aus Pietät oder Versehen unterlassen hätte.22
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Vgl. Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Bd. 1: Glossar und Tafeln. Hannover 1891 (ND Aalen 1984), Tafeln, S. (62). Fechner (Anm. 16), S. 365. Vgl. Andreas Gryphius. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Bd. 1: Sonette. Hg. v. Marian Szyrocki. Tübingen 1963, S. 9f., und dazu Albrecht Schöne: Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. v. Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 117–169, hier S. 117: »Weil der Schreiber sich von den Engeln behütet weiß, wurde er am Michaels-Tag ins Leben geleitet. Durch Gryphius selbst erfährt man an anderen Stellen zuverlässig, daß er am 2. Oktober dieses Jahres 1616 geboren wurde. Nennt er in seinem Sonett den 29. September seinen Geburtstag, so ist das weder als Versehen noch als Irreführung zu begreifen, sondern gleichsam als eine metaphysische Korrektur […]. Solchen Sinn und solche Wahrheit zu offenbaren, dient die Berichtigung des Faktischen am Normativen.« »Dass die Überschrift von Fleming selbst stammt und ein genau kalkulierter Bestandteil des Gedichts ist«, nimmt, ausgehend von der »Diskrepanz der Daten«, auch Rickes (Anm. 17), S. 180, an. Die argumentative Fortführung, die Grabschrift erweise sich mit der Setzung des Todestages »als ein prophetisches Gedicht in einem mehrfachen Sinn«, mutet allerdings abstrus an: »Der medizinisch gebildete Verfasser sagt im Titel zunächst den Zeitpunkt seines Todes voraus. Diese Vorhersage ist, wie die Retrospektive zeigt, zwar nicht exakt richtig; aber sie ist erstaunlich genau, wenn man bedenkt, wie schwer solche Prognosen heutigen Ärzten immer noch fallen können.« Diese medizinische Prophezeiung deute »voraus auf die zweite literarische Prophezeiung, die selbstgewiss seinen Nachruhm als Dichter ankündigt« (ebd.), und stehe zu ihr in einem typologischen Verhältnis im Sinne der »biblischen Hermeneutik« (S. 181). Das wird noch augenfälliger mit Blick auf die variante Überschrift im Vorabdruck: D. Paul Flemings Poetischer Gedichten So nach seinem Tode haben sollen herauß gegeben werden. PRODROMUS. Hamburg Gedruckt bey Hans Gutwasser / in Verlegung Tobiæ Gundermans Buchhändlers / ANNO M. DC. XLI, fol. E5r. Hier heißt es: »Des seligen Herrn D. PAUL FLEMINGI Grabschrifft / So er jhm selbst drey Tage vor seinem Tode gemachet. Jn Hamburg den 20. Tag des Mertzen 1640.« Im Vergleich zum ohne Varianten gebotenen poetischen
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Unmöglich ist der Sprechakt der Flemingschen Grabschrifft freilich nicht nur hinsichtlich seiner Performanz, sondern auch auf der Ebene seiner Aussage. Das beginnt schon mit den ersten beiden Sätzen: »Jch war an Kunst / und Gut / und Stande groß und reich. | Deß Glückes lieber Sohn.« »Genau genommen«, gibt mit gutem Grund Jochen Schmidt zu bedenken, »trägt die Berufung auf die Gaben der Fortuna nicht weit: […] Vor dem Hintergrund reputierlicher, aber keineswegs ›großer‹ und ›reicher‹ Verhältnisse und im Hinblick auf ein noch gar nicht begonnenes Berufsleben kann die dichterische Selbstinszenierung des gerade Einunddreißigjährigen für seine Grabschrift wohl nur als programmatischer Rollenentwurf verstanden werden, der auf die Demonstration von Selbstbewusstsein abzielt.«23 Als topische Referenz macht Schmidt die Horazische Formel »Fortunae filius« aus,24 ebenso und erheblich gewagter kann die Selbstbestimmung als »deß Glückes lieber Sohn« sich im Kontext der Rede von der eigenen Herkunft allerdings auch auf Sophokles’ erste Ödipus-Tragödie beziehen, in welcher der Protagonist unmittelbar vor dem Sturz in die Erkenntnis sich in trotziger Euphorie als »des Glückes Sohn« feiert,25 autark und voraussetzungslos bis an den Zenit seiner Lebensbahn gestiegen. Daß dieser kühne Selbstentwurf dem Ich der Grabschrifft nicht eben fern liegt, wird deutlich, wenn man Fleming mit Fleming liest. Heißt es im das eigene Ich adressierenden Sonett An Sich doch: »Sein Unglück und sein Glücke | ist ihm ein ieder selbst.«26 »Deß Glückes lieber Sohn« gerät so zur Autonomieerklärung, in der das Ich »ihm […] selbst« zur einzigen und unbedingten Voraussetzung wird. Dieser Gestus unbedingter Setzung, in der Logik wäre er als petitio principii zu bestimmen, bleibt aber nicht auf diese eine Wendung beschränkt. Vielmehr ist er konstitutiv für die ganze Grabschrifft, die bereits mit dem vierten Wort ihre zentrale Botschaft intoniert: »Kunst«. »Jch war an Kunst / […] groß und reich. […] Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann sang mir gleich. […] Man wird mich nennen hören. […] Diß / Deütsche Klarien / diß gantze danck’ ich Euch«: das ist so ostinat wie apodiktisch die Summe dieses kurzen Dichterlebens – trotz einem Martin Opitz oder Andreas Gryphius. Ist denn aber dieser superlativische, den Vergleich regelrecht herausfordernde Anspruch am »xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl.« schon gedeckt? Konnte Fleming auf ein Publikum rechnen, das sein »überweit« fliegender »Schall« erreicht hatte, das ihn im nationalen Wettstreit als den überlegenen ›Sänger‹ zu bestätigen vermochte? Zu Recht ruft Entner ins Bewußtsein, daß »Fleming […] seit 1635 praktisch nichts mehr [hatte] drucken lassen […]. Überhaupt lag ja noch, grob geschätzt,
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Text erweist der Paratext sich als weniger fest, ausgerechnet die (bezogen auf den 20. März noch weitaus unstimmigeren) »drey Tage« aber werden unverändert bewahrt. Schmidt (Anm. 3), S. 169. Ebd. Sophokles, Oidipus Tyrannos, V. 1080. Die wörtliche Übersetzung der griechischen Formulierung (παῖδα τῆς Τύχης) stammt aus: Sophokles. Die Tragödien. Übers. und eingel. v. Heinrich Weinstock. Stuttgart 41962, S. 365. TP 576. Vgl. auch Entner (Anm. 7), S. 541.
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die Hälfte seiner Arbeiten […] in den Laden.«27 Und die andere Hälfte, so belehrt ein Blick in die zweite Auflage von Dünnhaupts Bibliographischem Handbuch der Barockliteratur, bestand aus verstreuten, meist nur wenige Blätter umfassenden Einzeldrucken von mutmaßlich niedriger Auflagenzahl und geringer Reichweite: 69 »zeitgenössische Einzelveröffentlichungen« sind verzeichnet, darunter manches Lateinische und Nichtpoetische, wie die medizinische Dissertation, vor allem aber Gelegenheitsgedichte,28 die nach Opitz’ bösem Wort, »gleichsam als niemand köndte alleine sterben«, nicht selten mit den Sterbenden »zuegleich […] vnter[gehen]«.29 Ein Werk jedoch, das auch den Kasualpoemen einen die Gelegenheit übersteigenden Rahmen geboten hätte, ein Werk, auf das der unvergängliche Nachruhm eines Dichters namens Paul Fleming zu gründen wäre, existiert im Jahr 1640 nicht. Nicht einmal die Grabschrifft selbst, für sich genommen beredtes Zeugnis seiner »Kunst«, vermag, unpubliziert wie sie ist, diesen Anspruch auch nur pars pro toto einzulösen. Erneut setzt somit das Ich die Voraussetzung seiner poetischen Aussage selbst: fundiert das zukunftsgewisse »Man wird mich nennen hören« durch die Prämisse allgemeiner, die ganze res publica literaria umfassender Rezeption seines dichterischen Werks, wiewohl dieses Werk im Hamburger Krankenquartier in Manuskriptgestalt der Werkwerdung durch Veröffentlichung erst noch harrte. Doch bleibt es nicht schlechterdings beim Widerspruch zwischen poetisch postulierter Existenz und realer Nichtexistenz. Vielmehr vollzieht Flemings Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht den entscheidenden, im Wortsinn ›poietischen‹ Brückenschlag von Nichtexistenz zu Existenz des Flemingschen Werkes selbst, indem sie einerseits als ›Schlußstein‹ das auf den Druck wartende Manuskript zur ›Werkarchitektur‹ autorisiert, andererseits als des Autors letztes Wort und Vermächtnis der Nachwelt die Verpflichtung auferlegt, diesem Werk Publikum zu werden. Die Grabschrifft bringt so, indem sie das Werk des Dichters Paul Fleming im Modus der petitio principii evoziert, dieses Werk überhaupt erst hervor und wird darin, über die kunstvolle Sonettfaktur hinaus, poetisch produktiv; die Werkausgabe D. Paul Flemings Teütsche Poemata erwächst aus dem Sprechgestus von Herrn Pauli FlemingI […] Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht. So wie die Grabschrift als Gattung im eigentlichen Gebrauchszusammenhang deiktisch auf das Grab verweist, dessen Aufschrift sie ist, es sprechlogisch voraussetzt und diese »situationsbezogene Poetik«, wenn sie metaphorisch vom Grab ins Buch wandert, zum Bestandteil ihres poetischen Diskurses macht,30 so verweist Flemings Grabschrifft deiktisch auf das Werk, aus dem das Ich des Poeten sich konstitu27 28
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Entner (Anm. 7), S. 543. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1490–1513, hier S. 1495. Opitz (Anm. 9), S. 11. Vgl. dazu Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 430–468.
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iert, als läge es der Öffentlichkeit bereits vor. Die Grabschrifft, die mit gutem Grund nicht nur entstehungsgeschichtlich, sondern auch im Druck die Ausgabe beschließt,31 wird so, buchstäblich als Aufschrift dieses monumentum aere perennius, zur Kehr- und Rückseite des Werktitels D. Paul Flemings Teütsche Poemata, der auf dem Kupfer – als Titelblatt im Titelblatt – in arkadischem Ambiente soeben angeschlagen wird (Abb. 1). Zu beobachten ist der Prozeß der Werkwerdung aus der ›poietischen‹ Produktivität des letzten Textes dieses werdenden Werks vom Ende der Ausgabe her: ihrer letzten Seite (Abb. 2). Dort nämlich findet der Leser genaugenommen nicht nur jene potente Grabschrifft, die als Vermächtnis Werk und Publikum evoziert, sondern unter der Überschrift Eines Andern noch einen weiteren Text, den Lappenberg in seinem Kommentar so charakterisiert (ohne ihn abzudrucken): »In den Ausgaben bildet den Schluß der Gedichte die Grabschrift ›Eines Andern‹ in vier unbedeutenden Alexandrinern, unterzeichnet C. H. Z., was wohl nichts anderes als Caspar Hertranft aus Zittau bedeuten soll.«32 Damit mag er, was die Zuschreibung und die poetische Qualität der Verse anbetrifft, gewiß recht haben. In Hinsicht auf die ›poietische‹ Potenz der eigenen, nicht von einem anderen verantworteten Grabschrifft aber stellt das unscheinbare Epigramm, seinerseits in der Rolle des deiktischen Paratextes, en miniature die Erfüllung ihres hochfliegenden Anspruchs unter Beweis und verdient darum nicht nur Beachtung, sondern Zitation: Eines Andern. Hier liegt der deutsche Schwan / der Ruhm der weisen Leute / Der Artzney lieber Sohn / der wolberedte Mund / Dem noch kein Landsmann ie gleich reden hat gekunt. Was / Leser / er itzt ist / das kanstu werden heute. C. . .33
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»Mein Schall floh überweit. […] Man wird mich nennen hören«, hatte das Flemingsche Ich als sein letztes Wort verlauten lassen, »Hier liegt der deutsche Schwan / der Ruhm der weisen Leute«, repliziert das Ich »eines Andern« stellvertretend für die Nachwelt, als deren »Ruhm« (aktivisch vom Rühmen her gedacht) der Verstorbene bezeugt wird. Nachruhm in statu nascendi wird so beobachtbar, und zwar präzise in den vom sterbenden Ich vorgezeichneten Bahnen: meint »der deutsche Schwan« doch keineswegs den sieben Monate zuvor verschiedenen Boberschwan Martin Opitz,34 sondern den, der von sich festgestellt hat, »Kein 31
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Dieses Arrangement wird in der Neuordnung von Flemings Gedichten in der Ausgabe Lappenbergs (Anm. 16), in welcher das »Vierdte Buch Der Sonnetten / Auff Begräbnüsse« (TP 663) in vermeintlich sachgerechter Analogie zur Abfolge der Odenbücher zum zweiten wird, zerstört. Lappenberg (Anm. 16), Bd. II, S. 769. TP 670. Vgl. Rudolf Drux: So singen wie der Boberschwan. Ein Argumentationsmuster gelehrter Kommunikation im 17. Jahrhundert. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Sebastian Neumeister u. Conrad Wiedemann.
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Abb. 1: Paul Fleming: TeütscheP oemata (1646), Titelkupfer
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Abb. 2: Paul Fleming: TeütscheP oemata (1646), letzte Seite
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Landsmann«, auch Opitz nicht, »sang mir gleich«. Und prompt bringt Vers 3 denn auch ein bestätigendes Echo dieses superlativischen Anspruchs: »Dem noch kein Landsmann ie gleich reden hat gekunt.« En abyme reflektiert das die Ausgabe beschließende Ensemble von Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht und Eines Andern auf diese Weise modellhaft die Werkwerdung desjenigen (bereits gewordenen) Werks, dessen Schlußstein es darstellt. Im Horizont dieser selbstreflexiven Inszenierung ist die von »C. H. Z.«, Caspar Hertranft aus Zittau, dem Freund am Totenbett, unterschriebene Grabschrift, deren Titel sich überhaupt nur relational erschließt, erstes, paradigmatisches Produkt der Flemingschen Grabschrifft: vorab evozierter Nachruhm, ehe noch das Werk als dessen Fundament veröffentlicht vorliegt, bekundet von dem einzigen, dem dies gleichwohl fundiert schon möglich ist, weil der Sterbende ihm das durch die Grabschrifft zum Werk formierte Manuskript seiner Poemata hinterlassen hat. Jenseits der Werkkonstellation der Teütschen Poemata ist die Publikationschronologie demgegenüber eine ganz andere. Wie nämlich Theodor Anckelmanns Inscriptiones Antiqvißimæ & celeberrimæ Urbis Patriæ Hamburgensis von 1663 bezeugen, gelangten Hertranfts Alexandriner mit geringfügigen Varianten lange vor den Teütschen Poemata an die Öffentlichkeit: als Epitaph im eigentlichen Sinne auf Flemings Grab in der Hamburger St. Katharinen-Kirche,35 so daß das deiktische »Hier liegt« ebenso im
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Wiesbaden 1987, T. II, S. 399–408. Nachgerade als gezielte Kontrafaktur wird das Textensemble aus Flemings und Hertranfts Grabschrifft lesbar, wenn man es auf das erste deutschsprachige Gedicht in der von Johann Mochinger bereits am 22. August 1639 (»DIE TERTIO AB OBITV«!) herausgegebenen Danziger Trauerschrift auf Opitz bezieht. Dort heißt es: »Der Schwan vor seinem End’ / als vns die Alten lehren / | Mit lieblichem Gethön sein Grablied läst anhören: | So machts Herr Opitz auch der Edle Deutsche Schwan | Deßgleichen nicht bescheint die Sonn’ in jhrer Bahn | Was Deutsch zu sagen steht. Wie fein kondt’ er doch singen? | Wie ließ er doch in Deutsch / des Königs Harpffe klingen? | Ein Buch das wol die Zeit gar nicht verzehren wird | Biß zu Gerichte kompt / von Sion vnser Hirt. | […] Der treffliche Poet | Wie eine schöne Blum’ erwächst / bleibt / vnd vergeht. | Sein Nam’ ist aber noch. Er lebt in seinen Schrifften / | Denselben wird gewiß kein Todes-Boht vergifften.« FAMÆ MARTINI OPITII SECRETARII ET HISTORIOGRAPHI REGII QUI ANNO M DC XXXIX Die XX AUG. HIC GEDANI MORTALITATEM EXPLEVIT MORI NESCIÆ IPSO EXEQUIALI DIE TERTIO AB OBITV CHRISTIANO ACCLAMANDI CAVSSA PUBLICATVM. à N. R. TYPIS HVNEFELDIANIS. ANNO M. DC. XXXIX., fol. )(2v–)(3r. Zit. n. dem Faksimile in: Martin Opitz. Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition mit Übersetzung. An der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel hg. v. Klaus Conermann unter Mitarbeit von Harald Bollbuck. Berlin/New York 2009, Bd. 3, S. 1624–1641, hier S. 1627f. Auch Christoph Coler spielt in seiner »paulò post obitum ejus A. M D C. XXXIX.« gehaltenen Breslauer Gedenkrede auf Opitz mit der Schwanenmetapher; vgl. Laudatio Honori & Memoriæ V. CL. MARTINI OPITII paulò post obitum ejus A. M D C. XXXIX. in Actu apud Uratislavienses publico solenniter dicta à CHRISTOPHORO COLERO, Præter continuam Opitianæ vitæ narrationem complectens multorum quoque Principum atque celebrium Virorum, cum quibus Opitio consuetudo & amicitia fuit, memorabiles notitias. Publici juris fecit Melchior Weise Vratislav. LIPSIÆ, Sumptibus PHILIPPI FUHRMANNI imprimebat JOHANNES WITTIGAU A. M DC.LXV., S. 13, wo es, ausgehend vom bevorstehenden Martinstag, heißt: »Nos verò […] hæc Martinalia non anserina, sed olorina, Memoriæ ac Honori MARTINI OPITII Poetæ ac Polyhistoris, cum paucis comparandi celebramus […].« Vgl. INSCRIPTIONES Antiqvißimæ & celeberrimæ URBIS PATRIÆ HAMBURGENSIS Editæ pridem à THEODORO ANCKELMANNO, HEIDELBERGÆ, Apud Guil. Waltherum Academiæ Typographum, Anno MDCLXIII. Nunc cum novo AUCTARIO recuso. HAMBURGI, Sumptibus CHRISTIANI LIEBEZEITII, LEOBURGI, Excudebat CHRISTIAN.
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gebrauchslyrischen Situationsbezug aufgeht wie das den Leser adressierende Memento mori.36 Entsprechend ist für den ursprünglichen Verwendungszusammenhang denn auch eine selbständige Überschrift überliefert: »Grab-Schrifft über den seligen Ableben Hn. PAUL FLEMING, der Medicin Doct. und P. L. C. so in Christo sanfft allhie abgeschieden den 2. April. 1640.«37 Indem Hertranfts (richtig datierte) Grab-Schrifft vom eigentlichen Grab in das Buch übertritt und sich dort der Evokationslogik von Flemings Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht samt ihrer autarken (aber falschen) Datierung unter- und nachordnet, verschiebt sich metaphorisch auch ihre Referenz: vom »sanfft allhie abgeschieden[en]« Freund und Reisegefährten zum in seinem Werk ruhenden Poeten Paul Fleming, den »man wird […] nennen hören«. Dieses Werk aber wird, 1646 schließlich unter dem Titel D. Paul Flemings Teütsche Poemata erschienen, auch insgesamt als wohlüberlegte Inszenierung von Dichtung als Nachlaß aus dem letzten Willen seines Autors lesbar. Johann Martin Lappenberg, Herausgeber der immer noch einzigen Gesamtedition, hat über diese Ausgabe ein vernichtendes Urteil gefällt: »Man kann sich«, schreibt er, »kaum zu bitter über die Nachlässigkeit beschweren, mit welcher Olearius, der Pylades, der Bitte seines Freundes, dessen Gedichte herauszugeben, nachgekommen ist. Ihr Misgeschick darf dem der Werke des Shakespeare, des Dante und anderer berühmter Schlachtopfer berufener Herausgeber gleichgestellt werden. Wenn Flemings Manuscript auch die letzte Anordnung für den Druck noch nicht erhalten haben mag, so hätte ein liebevoller Herausgeber den auffallendsten Mängeln in wenigen Stunden abgeholfen.«38 Aufgelistet werden unter den editorischen Sünden Inkonsequenzen in der Anordnung der Gedichte wie in ihrer Zusammenstellung zu Bucheinheiten, Unstimmigkeiten im Register und die hohe Druckfehlerzahl, »das schlimmste Vergehen des Herausgebers« sei es »allerdings, dass der Text nicht selten zur Unverständlichkeit entstellt, während
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ALBRECHT. PFEIFFER. Anno MDCCVI, S. 28–33, wo die Grabschriften »In Templo D. Catharinæ« aufgeführt werden. Auf S. 33 als Nr. XCVII wird das Epitaph auf Flemings Grab mit geringfügigen Varianten gegenüber den Teütschen Poemata abgedruckt: »HJer liegt der Teutsche Schwan / der Ruhm der weisen Leute / | Der Artzney wehrter Sohn / der wohlberedte Mund / | Dem noch kein Landsmann gleich hat reden je gekundt. | Was / Leser / er jetzt ist / das kanstu werden heute.« Zitiert auch bei Lappenberg (Anm. 16), Bd. II, S. 893, der »diese Grabschrift […] in der St. Catharinen-Kirche« 1865 als »nicht mehr vorhanden« bezeugt. Vgl. die Bedenken gegen die Annahme einer solchen Grabschrift bei Entner (Anm. 7), S. 528f.: »Totenamt und Beerdigung fanden am 6. April, Ostermontag, in der St.-Katharinen-Kirche statt, wo die Niehusens noch ein Erbbegräbnis besaßen. Allerdings wurde die Gruft gegen Ende des Jahrhunderts veräußert, so daß nicht bekannt ist, ob Paul Fleming dort überhaupt eine Grabinschrift gewidmet war. Von der Örtlichkeit her erscheint das sogar als unwahrscheinlich, weil sich die Grabstelle unter dem Gestühl des südlichen (rechten) Chorseitenschiffes befand. Was eine Hamburger Sammlung von 1663 mitteilt, ist das deutsche literarische Epitaphium, das von Caspar Hertranft stammt und am Schluß der Lübecker Ausgabe der Teutschen Poemata erscheint. Es spricht ausdrücklich den ›Leser‹ an, so daß man vermuten darf, es wurde eigens für diesen Zweck geschrieben.« Zu diesem abschließenden Argument vgl. allerdings Segebrecht (Anm. 30), S. 435f. Vgl. dazu insgesamt Segebrecht (Anm. 30). Anckelmann (Anm. 35), S. 33. Lappenberg (Anm. 16), Bd. II, S. 894.
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anderes durch die mit überflüssigen Diphthongen und gehäuften Consonanten überladenen Zeilen fast ungenießbar wurde«.39 Mag die Klage im Hinblick auf Orthographie und Registerverläßlichkeit womöglich berechtigt sein: unter dem Aspekt ihrer dispositio stellen sich D. Paul Flemings Teütsche Poemata keineswegs als nachlässig oder lieblos veranstaltet dar, vielmehr läßt sich ihrer Darbietung eine durchaus folgerichtige Konzeption ablesen. Dieses Konzept heißt Nachlaß, und sein diskursives Präludium findet es fünf Jahre zuvor in einem Vorboten des eigentlichen Werks unter dem Titel D. Paul Flemings Poetischer Gedichten So nach seinem Tode haben sollen herauß gegeben werden. PRODROMUS. Sein Herausgeber ist, hier noch namentlich zeichnend, Adam Olearius, der in seiner Widmungsvorrede die bloß andeutende Titelformulierung »So nach seinem Tode haben sollen herauß gegeben werden« so ausbuchstabiert: Damit dz Werck nicht zugleich mit dem Meister stürbe vnd vergraben würde / hat obererwehnte Sel. D. Fleming kurtz vor seinem Ende / als er vermercket / das es nunmehr mit jhm alles biß auff das Grab (wie er selbst in seinem letzten oder valetCarmine schleust) gethan sey / hat er mehrerwehnte Poëmata in guter Disposition vnd ordentliche Inscriptionen, mir als seinem alten Freunde gewesenen Reisegefehrten vnd vieler seiner beschwerlichen Fortun Conscio & consorti zu vberreichen / vnd zum beförderlichsten an den Tag zugeben / ernstlich begehret / wie ich denn auch diesen seinen letzten Willen zu vollenzihen mir emsig angelegen sein lassen wil / auch darumb desto mehr weil das Werck der Wichtigkeit wol ist / das es balt herauß vnd in Gelerter Leute Hände komme.40
»Das Werck« selbst verfährt demgegenüber dann anders: performativ. Nur scheinbar nämlich beginnt es, wie der Prodromus, mit einer Widmungsvorrede, nun nicht an Johann Brandt, Bürgermeister der Stadt Hamburg, adressiert, sondern an Friedrich III., Herzog von Holstein. Tatsächlich eröffnet diese Dedikation an den fürstlichen Initiator der Persienreise ein Textensemble ganz eigener Gesetzmäßigkeit: ein Portal, das dem Werk – in Übereinstimmung mit dem Kupferstich, auf dem der Werktitel soeben erst angeschlagen wird – im Prozeß seiner Werkwerdung ein Denkmal setzt. Denn während die Widmung des Prodromus unzweifelhaft vom hinterbliebenen Olearius verantwortet wird, setzt diejenige der Teütschen Poemata – man muß sagen: die erste von insgesamt siebzehn – die Kreuzung zweier Ich-Reden in Szene. »Meinem gnädigst: Fürsten und Herrn«, so weit scheint die Dedikation an den Herzog noch Wortlaut Flemings zu sein, dann aber heißt es weiter: »wird nach der vom Autore selbst auffgesetzten Inscription und hinterlassenen Ordre diß gantze Werck / vnd insonderheit das erste Buch der Poetischen Wälder dediciret vnd zu geeignet.«41 Eine andere Sprechinstanz fällt dem Autor in die Rede, doch bleibt sie konsequent anonym, ganz auf die Funktion des Nachlaßverwalters beschränkt. Nun mag freilich die Zweistimmigkeit ungewöhnlich sein, die Sache hingegen scheint doch klar: Die Ausgabe wird eröffnet durch eine Gesamtwidmung und 39 40 41
Ebd., S. 894f. Prodromus (Anm. 22), fol. Aijv-Aiijr. TPfol. )(ijr.
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eine Spezialdedikation des ersten Buches der Poetischen Wälder, danach, so sollte man denken, beginnt dieses erste Buch. Dem ist aber nicht so. Vielmehr folgt eine Serie von sechzehn weiteren Widmungen, zusammen mit der ersten ebensoviele, wie die Teütschen Poemata Bücher haben. »Folgende Tittel und Inscriptiones«, erklärt vor der zweiten Dedikation eine editorische Regiebemerkung, »seynd aus deß Autoris manuscripto genommen / und nacheinander hieran gesetzet.«42 Warum »nacheinander hieran«, warum nicht an Ort und Stelle zu Beginn des jeweiligen Buches? Die Frage stellt sich um so nachdrücklicher, als jede dieser Widmungen nicht nur genaue Hinweise zu ihrer Buchzuordnung enthält, sondern auch zur Plazierung im Werk. »Meinem gnädigsten Landes-Fürsten und Herrn / das Ander Buch der Poetischen Wälder / so fol. 36. zu finden«, lautet etwa die zweite Zueignung an »Herrn Augusten / Postulirten Ertzbischoffen zu Magdeburg«,43 »Meinem gebietenden Herrn / Das dritte Buch der Sonnetten / Fol. 599.« die fünfte an Diederich von dem Werder,44 »Meinem vielgeliebten H. Schwieger-Vater das absonderliche Buch der Poetischen Wälder. Fol. 231.« die vorletzte an Heinrich Niehusen.45 Immerhin, das stellt die zuletzt zitierte Widmung sicher, ist das Ich eindeutig wieder das des Autors. Sollte es also auch des Autors »hinterlassene Ordre« gewesen sein, gegen alle Üblichkeit die Dedikationen »nacheinander« der Ausgabe voranzustellen? Eine Erklärung findet dieser ungewöhnliche Präsentationsmodus, wenn man zum einen von der Grabschrifft her die Teütschen Poemata als Werk im Prozeß seiner Formation begreift und zum andern über das »nacheinander« etwas genauer nachdenkt. Keineswegs nämlich entspricht die Reihenfolge der »nacheinander hieran gesetzet[en]« Widmungen der Ordnung der einzelnen Bücher; die gehen vielmehr in dieser merkwürdigen Liste, ebenso wie die akkurat beigefügten Seitenzahlen, munter durcheinander. Das »Nacheinander« der Dedikationen gehorcht einer lebensweltlichen Taxonomie: ständischer Hierarchie. Das dem Werk als Portal vorangestellte Ensemble der Zueignungen wird so zur Schaltstelle, an der nach dem letzten Willen des Autors paradigmatisch die Nachwelt aus dem Leben ins sich formierende Werk übertritt: noch nicht unter seine Gesetzmäßigkeit gebracht, doch bereits mit Platzzuordnungen versehen. Zu dieser Konzeption von Dichtung als Nachlaß paßt es denn auch, daß das allerletzte Wort der Ausgabe ein Appell ist, die Werkwerdung zu vollenden: »Folgende Gedichte«, so heißt es vor dem letzten Register, »sind dem Autori theils auff wehrenden Reisen wegkommen / theils in guter Freunden Händen / welche günstig und freundlich erbehten werden / selbige dem Verleger einzuhändigen / damit sie dem gantzen Wercke / ein iegliches an seinen Ort können beygefüget werden.«46 Dieses Register aber, das nicht weniger als 162 Gedichte aufführt, zeigt nicht an, wo in der Ausgabe sie stehen (da stehen sie ja eben auch noch nicht), sondern wo man sie im Werkganzen wird zu plazieren haben: »Unter die Wälder gehören: …«, »Un42 43 44 45 46
Ebd. Ebd., fol. )(ijv. Ebd., fol. )(iijr. Ebd., fol. )(jvv. Ebd., fol. Xxijr.
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ter die Oden gehören: …«, »Unter die Sonnetten gehören: …«.47 Das Werk eines derart unvergleichlichen Dichters erlebt natürlich auch eine zweite, vermehrte Auflage:48 hier werden die Weichen dafür gestellt.
47 48
Ebd. Weitere Auflagen der Teütschen Poemata gab es in der Tat, vgl. die bibliographischen Angaben bei Dünnhaupt (Anm. 28), S. 1493f.; die Hoffnung auf Vermehrung der darin abgedruckten Gedichte erfüllte sich allerdings nicht.
Thomas Althaus
»Ich sage noch einmahl« – Paul Flemings Wiederholungen Im Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich muss sich Gottsched nachsagen lassen, seine »Lehrsätze« im Versuch einer Critischen Dichtkunst seien hausgemacht: »Niemandem als sich selber« habe er »die Exempel zu denselben […] wollen schuldig werden. Er hat diese gröstentheils aus seinen eigenen Schriften genommen.«1 Gottsched reagiert darauf mit der dritten Auflage seiner Regelpoetik von 1742, in der sich nun »bey allen Capiteln, wo vorhin Exempel von meiner eigenen Arbeit stunden, lauter Meisterstücke von unsern besten Dichtern eingeschaltet« finden, »als Opitzen, Flemmingen, Dachen, Racheln, Neukirchen u. d. m.«2 So ist Fleming in die Critische Dichtkunst gekommen. Dort hat seine Lyrik – durch die Zitatauswahl – eine heute kaum noch nachzuhaltende Wahrnehmung erfahren. Diese Wahrnehmung drängte sich historisch offenbar (noch) auf, war aber von späteren Dichtungskonzepten nicht mehr zu gewichten. Sie galt rhetorisch kalkulierter Redundanz. Das fügte sich nicht den Vorstellungen von ›reiner Poesie‹. Bei der Einverleibung Flemings in die Geschichte dieser Poesie wurde die Wahrnehmung schlicht verschüttet.
1. Rhetorik der Wiederholung Gottsched macht Fleming für die »Wiederholung (repetitio) gewisser Wörter und Redensarten« zuständig, »wodurch die Rede einen sehr großen Nachdruck bekömmt«: Zuweilen wiederhohlt man dasselbe Wort im Anfange etlicher Theile desselben Satzes, und das ist die Anaphora. Z.E. Flemming in einem Hirtenliede […] Oder man wiederhohlt zuweilen ein Wort, das am Ende eines Satzes gestanden, im Anfange des darauf folgenden, welches Anadiplosis heißt. Z.E. Flemming […]3
Die Verweise betreffen das »Her/ Palemon/ her Florelle/ | her/ Amynt/ her Sylvius/ | Melibeus/ her zur Stelle«, mit dem das Hirten-Lied/ Auff eines Freundes in 1
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Johann Jacob Bodmer/Johann Jacob Breitinger [?]: Nachrichten von dem Ursprung und Wachsthum der Critik bey den Deutschen. In: Sammlung der Zürcherischen Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmackes, wider die Gottschedische Schule, von 1741. bis 1744. vollständig in XII. Stücken. Neue Ausgabe, enthält die vier ersten Stücke. [Hg. v. Christoph Martin Wieland.] Zürich 1758, [2. Stück,] S. 83–180, hier S. 165f. Vgl. dazu Steffen Martus: Gründlichkeit. J. C. Gottscheds Reform von Zeit und Wissen. In: Scientia poetica 6 (2002), S. 28–58, hier S. 43. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. ND der 4., vermehrten Aufl. Leipzig 1751. Darmstadt 1977, S. XXIV (Vorrede zur 3. Auflage). Ebd., S. 322f.
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der Moßkow gehaltener Hochzeit den bukolischen Kontext organisiert, und das »Leich-gedicht« Auff H. Ilgens Leichbestattung, das sich für die Vorstellung vom Tod als Heilung an einem »[…] seyd/ Vater/ Ihr genesen/ | Genesen seyd ihr nun« (V. 30f.) die erforderliche Ausdruckssicherheit verschafft und selbst bestätigt.4 Doch ist das eigentlich ein wahlloser Zugriff. Gottsched hätte etwa im zuletzt Zitierten nur einige Zeilen später auf ähnlich Kennzeichnendes treffen können (»Die Tochter springt und schreyet: | komt Vater/ Vater komt.« (V. 34f.) Über den Versuch einer Critischen Dichtkunst verstreut finden sich weitere Fleming-Beispiele für die ›Wiederholung gewisser Wörter und Redensarten‹. Bei entsprechender Konzentration zeigt sich Fleming tatsächlich als der Wiederholer in der deutschen Lyrik. Der Frühaufklärer Gottsched schätzt daran freilich auch schon nicht mehr die Denkarbeit der Fontes-Lehre, der das Wiederholen ein Findemittel der Argumentation war. Vieles ließ sich aus dieser ›Kunstquelle‹ erschließen, aus dem »Fons Comparatorum, wann gleiche/ oder auch ungleiche/ Dinge unter sich artig verglichen werden«, und dem »Fons Allusionum, wann man mit den Wörtern/ Wort-Gleichungen/ Letterwechseln/ Sprichwörtern u. d. schön spielet«.5 Nur fehlt dem nach dem Strukturwechsel von topisch-inventiver zu logisch-stringenter Ausgestaltung des Wissens zumeist der rechte Zweck einer Gedankenführung von A nach B. So kann Gottsched bei bestem Willen nichts mehr damit anfangen, wenn in Flemings Epithalamium Auff Herrn Adam Zeidlers und Jungfr. Esther Webers über die figura etymologica »Schaffets/ daß sich selbsten müssen | die geküßten Küsse küssen« (TP 367, V. 71f.) mit dem Selben im Selben im Selben nach völlig bruchloser Vermittlung und höchster Identität der Liebe gestrebt wird. Wortspiele solcher Art, als »Wiederholung eines Wortes«, sind »zu unsern Zeiten aber ganz lächerlich geworden«.6 Das seit Gottsched und der frühen Aufklärung historisch eingeschränkte Verständnis für solche Darstellungsvorgänge ist dann wohl selbst der Grund dafür, dass Gottscheds Beobachtungen an Fleming literaturgeschichtlich vergessen wurden. Die Rekonstruktion des Textphänomens im Horizont der Barockästhetik und -poetik birgt ihrerseits freilich ein anderes Problem. Sie ebnet den Unterschied zwischen den Reflexionsmustern barocken Schreibens im Allgemeinen und Flemings tatsächlich textprägender Rhetorik der Wiederholung ein. Wie bei Gottsched der Blick nun einmal für Flemings Wiederholungen geschärft ist, zitiert er etwa auch den epigrammatischen Schluss der Elegie Auff deß Edlen und Hoochgelahrten Herrn Philipp Krusens […] geliebten Haußfrauen/ Ableben, die sich hier durch einen tropus autorisiert: »Wol dem der so verdirbt./ | Wer eh’ stirbt/ als er stirbt/ der stirbt nicht/ wenn er stirbt« (TP 126–129, hier 129, V. 111f.). Die Critische Dichtkunst bezieht sich darauf in seltener Ausführlichkeit. Hier habe »der Poet […] lauter wahre und wohlgegründete Gedanken im Kopfe« gehabt, »bald 4 5 6
TP 376, V. 7–9 u. 131, V. 30f. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten FlemingAusgaben und Siglen in diesem Band. So noch Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst […] Andere Auflage. Nürnberg 1712, S. 184–187. Gottsched (Anm. 2), S. 251. »Denn was soll es heißen, daß sich die geküssten Küsse küssen? Ein Kuß kann ja nicht geküßt werden, weil er im Küssen erst entsteht, und sogleich aufhört zu seyn. Vielweniger kann er selber küssen.« (Ebd., S. 252)
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in eigentlichem, bald in verblühmte[m] Verstande« erst von der Weltabkehr, »ehe noch die Seele vom Leibe getrennet wird«, dann von »gutem Andenken« über den Tod hinaus gehandelt7 und beides wie Bedingung und Folge genau unterschieden. Die Wiederholung führt aber nicht auf diese Weise analytisch aus der Paradoxie des »stirbt«, »stirbt nicht« und »stirbt« in widerspruchsfreie Argumentation. Sie überspielt vielmehr Differenz, um aus der »Kunstquelle« der »Doppeldeutung« zu schöpfen: »Ob die Wörter in ihren eignen Verstand/ oder Gleichnißweise vernennet werden/ […] daraus flüssen feine Gedancken.«8 Die zirkuläre Reflexion hebt die Aporie des Todes auf, indem sie fortwährend gegen das principium contradictionis verstößt, hierfür zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung des viermal bemühten Wortes changiert und von Unterschied nichts wissen will. Vielmehr will sie den Tod im Vorhinein so mit dem Leben verbunden sehen, dass er es im Nachhinein nicht mehr aufheben kann. – So kennzeichnend die Formel aber für eine argutia-Technik ist, so deutlich tritt sie auch als locus communis hervor, der sich schon bei Fleming selbst variiert findet (»Wer so/ wie du/ verdirbt/ der bleibet unverdorben; | Lebt/ wenn er nicht mehr lebt/ und stirbet ungestorben.« [Als der Kunstreiche Johann Rudolff Stadeler aus der Schweitz/ auf dem Meydan zu Ispahan in Persien jämmerlich niedergesebelt ward; TP 669, V. 13f.]). Das ist von Parallelformeln bei Czepko, bei Scheffler nicht abzusetzen, die wiederum von Franckenbergs »Wer nicht stirbet eh er stirbet | Der Vertirbet eh er stirbet« aus den Beht-Gesänglin Für die Einfältigen9 zitatabhängig sind, wie Flemings Elegienschluss womöglich auch.
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Ebd., S. 251. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden. 2 Bde. ND der Ausg. Nürnberg 1655/56. Hg. und eingel. v. Georg Braungart. Frankfurt a.M. 1990. Bd. 1, S. 12 u. 9 (Vorrede). Abraham von Franckenberg: Christliche vnd Andächtige Beht-Gesänglin Für die Einfältigen: Auß den gewöhnlichen Kirchenliedern vnd Wunschgebehtlin […] zusammengetragen Durch Einen Liebhaber des Wahren Christenthumes. O. O. 1633, S. 263. Zit. n. Hugo Föllmi: Czepko und Scheffler. Studien zu Angelus Silesius’ »Cherubinischem Wandersmann« und Daniel Czepkos »Sexcenta Monodisticha Sapientum«. Diss. Zürich 1968, S. 25. Parallel dazu: Daniel Czepko: Sexcenta Monodisticha Sapientum. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1, 2. Hg. v. Hans-Gert Roloff u. Marian Szyrocki. Berlin/New York 1989, S. 517–672, hier S. 561 (I, 77): »Wer vor dem Tode stirbt, darff nicht im Tode sterben«; Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hg. v. Louise Gnädinger. Stuttgart 1985, IV, 77: »Stirb ehe du noch stirbst/ damit du nicht darffst sterben/ | Wann du nu sterben solst: sonst möchtestu verderben«. – Über Franckenberg erweist sich Flemings ›Variante‹ fast noch ante festum als ein frühes typisches Beispiel für jene ›böhmisierende‹ Geistliche Lyrik, die über die Lust am Widerspruch barocke Mystik und argutiaMode aufeinander bezieht. Die Zusammenhänge legen offen: Theodor C. van Stockum: Zwischen Jakob Böhme und Johann Scheffler: Abraham von Franckenberg (1593–1652) und Daniel Czepko von Reigersfeld (1605–1660). Amsterdam 1967, S. 5; Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin/New York 1996, S. 265, u. Ferdinand van Ingen: Jacob Böhme und die schlesischen Dichter Daniel von Czepko, Johannes Scheffler und Quirinus Kuhlmann. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, S. 243–265.
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2. Ecce Homo! So ist Flemings Wiederholungen vieles anzureihen, das seine Lyrik mustergültig erscheinen lässt. Eine Differenz soll hier zunächst nicht statuiert und schon gar nicht soll von einer Verfahrensbegründung durch Fleming ausgegangen werden, auch auf die Gefahr hin, dass der Kontextabgleich und die Akzentuierung der literarisch-rhetorischen Praxis den besonderen Stellenwert einer Lyrik verdecken, die sich auf Selbstbezüge versteht und an ihnen festigt. Das Verfahren ist – über jene rhetorische Praxis – durch Schwierigkeiten verlässlicher Welterfassung bedingt, die im Extrem zu einem gewissermaßen bestandsorientierten Schreiben führen. Um diese Konsequenz soll es hier gehen, aber unter Beachtung des Horizontes, in dem Flemings Lyrik sich durchaus bedingungsgemäß und keineswegs anders entwickelt, als dies der Typik barocker Lyrik entsprechen kann. Der Zusammenhang bleibt deshalb wichtig, weil mit ihm die poetische Emergenz Flemings literaturhistorisch ohne Bruch verständlich wird. Aus diesem Blickwinkel führt Flemings spezifische Intensität des Wiederholens auf eine Schreibkonzentration von epochengeschichtlicher Relevanz. Seine Verdichtungen sind hier methodisch als ein Wahrnehmungsfilter zu nutzen, der an einem durchaus üblichen Verfahren ein wichtiges konzeptuelles Moment der Barocklyrik entdecken lässt. Es geht also um literarische Phänomene der BarockLyrik von paradigmatischer, darum aber nicht singulärer Geltung. Zur Fokussierung auf das Paradigmatische werden solche argumentationsleitenden Formeln vernachlässigt, die mit Flemings Diktion die Typik des Barockgedichts nur ohne jene spezifische Intensität und deren Kennwert ausstellen. Vernachlässigt werden etwa die vielen chiastischen Konfigurationen wie »So könnt ihr Will- und Muth/ so Muth und Willen stillen« (Auff Herrn Heinrich Dieners mit Frau Willmuth Mecks ihre Hochzeit in Revall; TP 594, V. 5) aus den Glückwunsch-Sonetten oder das petrarkistische »Ich muß’ zu grunde gehen/ | durch dich/ gehasstes Lieb/ durch dich/ geliebter Haß.« (An Dulkamaren; TP 646, V. 13f.) Doch ist der Anteil solcher Formeln an der Rhetorik der Wiederholung gleichwohl substanziell, und im Ganzen lassen natürlich auch sie auf das hier wichtige Textbildungsverfahren rückschließen. Flemings intensives Wiederholen zeigt nahezu programmatisch und werkeröffnend der Eingangstext der Teütschen Poemata, das lange Klag-Gedicht Vom unschuldigen Leyden CHRJSTJ. Wiederholungen bilden hier, mittig gestellt (als V. 213–220 von 444 Versen), das Textzentrum aus zwei Alexandrinerquartetten gleichen Ein- und Ausgangs, mit dadurch noch einmal einer Mitte der Rekurrenz: […] Seht/ welch ein Mensch ist daz! geht/ fragt/ ob man auch finde Ein’ Angst die dieser gleicht. Er ist/ als für uns stünde Sein Schatten/ und nicht Er. Wie macht ihn doch so naß/ Der wüst und Schmertzen Schweiß. Seht welch ein Mensch ist das! Seht/ welch ein Mensch ist das! so ihr noch könt erkennen/ Daß er nicht sey vielmehr ein Wurm/ als Mensch/ zu nennen.
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Wie elend ist er doch/ wie kranck! wie matt! wie blaß! Wie wund! wie zugericht! Seht welch ein Mensch ist daz! […] (TP 8, V. 213–220)
Zur Erzeugung größtmöglicher poetischer Energie überlagern sich unterschiedliche literarische Traditionen der Klage. Die Alexandriner erinnern das Distichon als Versmaß der Elegie, während das Wiederholen zum Refrain und Gegenrefrain gerät, den parallelismus membrorum der Psalmen bis zur Identität übertreibt und den Charakter der Invokation annimmt. Das Klag-Gedicht ist dadurch ineins threnetischer und liturgischer Gesang, Passionslied, Litanei. Der Text strapaziert rhetorische Kategorien (Anadiplose, Epanadiplose, Epanalepse), begibt sich aber gleichzeitig in seiner Klagehaltung aller Eloquenz und demonstriert die Unüberschreitbarkeit des Pilatus-Satzes Joh 19,5 »Sehet/ welch ein Mensch.« Das volle Gewicht des Satzes ist nicht nach der ersten und nicht nach der zweiten, sondern erst nach der dritten und vierten Aufrufung geltend gemacht. Das betrifft dann aber auch einen Ebenenwechsel im Zeichen des Gleichen, der eine engagierte Lektüre verlangt: Durch dieses permanente Ecce Homo Flemings wird die deskriptive Darstellung nicht einfach nur von einer appellativen unterbrochen, sondern in diese übersetzt. Für die Dauer des Vorgangs soll Leserdistanz unmöglich sein. Die Folge ist, dass die Gerichtsszene im Klag-Gedicht Vom unschuldigen Leyden CHRJSTJ der eigentlichen Kreuzigungsszene an emphatischer Vergegenwärtigung im Maß der Wiederholungen konkurriert. Zwar ist den ganzen Text hindurch das Verfahren latent und mit dem Effekt der Polyptota wirksam. Zumindest erwecken Homonymie und Paronomasie den Eindruck, dass dies so sei und Steigerung aus Identischem statthabe: »Hier hängt dein Wunder Kind/ in so viel hundert Wunden/ | In ängsten über Angst/ gebissen von den Hunden/ | Die ärger sind/ als Hund’.« (TP 11, V. 305–307) Das bricht aber nicht noch einmal zur Ballung des Einen durch und wird an den betreffenden Stellen von anderen Intensivierungsverfahren näher am Eloquentia-Ideal dominiert, die den Ausdruck aspektreich variieren und amplifizieren: »Hier hängst du außgespannt/ geädert/ abgefleischt/ | Zerstochen/ Striemenvoll/ entleibet/ außgekreischt.« (TP 12, V. 338f.) Unter rhetorischem Aspekt steht solche Akkumulation allerdings in einem nur funktionalen Kontrast zur Wiederholung. Mit beidem ist Nachdruck bezweckt, den die Summationsschemata ›barocker Aufschwellung‹ ebenso gut erwirken wie der Umschlag ins andere Extrem der Wiederholung, was das Wiederholen darstellungsstrategisch an sein direktes Gegenteil bindet. In der Barockliteratur nach Fleming erfährt das Ecce Homo nur ganz selten noch eine wiederholungsfreie Aufnahme. Das reduziert sich auf Einzelfälle,10
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So in Andreas Gryphius: Christi Geisselung vnd Krönung. In: Ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 2. Oden und Epigramme. Hg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Tübingen 1964 (Neudrucke deutscher Literaturwerke), S. 133–136, hier S. 134, V. 37–40: »Schaut Kron/ Schläg’ vnd Purpur an/ | Solt’ Er ferner leyden! | Welch ein Mensch! drauff schreyt/ wer kan/ | Heiß zum Tod’ ihn scheiden.«
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während regelmäßig ein erster Bezug auf den Pilatus-Satz fixierend mindestens einen zweiten,11 meist mehrere und viele nach sich zieht: Ist das ein Mensch? ich gläub es nicht: […] Ist diß ein Mensch? in der Gestalt Ward keiner je gesehen. Seht, wie das Blut doch quillt und wallt: Ich muß mich näher nähen. […] Schau, welch ein Mensch, O Menschen-Kind, Und der von wegen deiner Sünd Ein solcher Mensch ist worden […]12 Ach sehet/ welch ein Mensch! durch Gifft gefüllten Mund Verspeyt die Krieges-Schaar sein holdreich Angesichte/ Sie macht die linde Haut mit rauhen Nägeln wund/ Den Sanfftmutt vollen Sinn mit scharffem Hohn-Gedichte. Ach sehet/ welch ein Mensch! […] Ach sehet/ welch ein Mensch dort angebunden steht! […] Ach sehet/ welch ein Mensch! Es kan auch seine Pein Der harte Richter selbst nicht unbewegt betrachten/ Er sagt: Seht/ welch ein Mensch! kein Mensch/ vielmehr ein Schein/ […]13
Die hohe Ähnlichkeit der Texte ist bedingt durch das zwingend wirkende Memorieren, kaum jedoch konkret von Flemings Klag-Gedicht herzuleiten. Allenfalls Klajs Trauerrede Vber das Leiden Christi verpflichtet sich auf den Vortext (»ach jammervolles Bild! kranck/ elend/ matt und blaß/ | seht/ welch ein Mensch ist das!«14), während das für eine Prosaparaphrase im Textumfeld, die den PilatusSatz auch in Wiederholungen exponiert, schon wieder nicht gilt.15 11
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So in Catharina Regina von Greiffenberg: Auf das erbarmbare Jammer-Bild meines allerliebsten HErrn JEsu. Sehet welch ein Mensch. In: Dies.: Sämtliche Werke. Hg. v. Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. Millwood, (N. Y.) 1983. Bd. 1. Geistliche Sonnette (ND der Ausg. Nürnberg 1662), S. 144, V. 1f. u. 13f.: »Ach sehet/ welch ein Mensch! der schönste/ so gebohren | in und auch vor der Zeit […] Seht Wunder! welch ein Mensch / der GOtt und uns versühnet / | mit höchster Schmerzen-Schmach uns Himmels-Ehr verdienet!« Sigmund von Birken: Jesus. Der himlische Purpurwurm. In: Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und hg. v. W[ilhelm] Tümpel. Bd. 5. Hildesheim 1964, Nr. 68, S. 63f., hier S. 63, V. 6, 12–15 u. 41–43. Hans Aßmann von Abschatz: Du Sünden-truncknes Hertz/ begieb die faule Ruh. In: Ders.: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Faksimileausgabe nach der Gesamtausgabe von 1704 mit einer Vorrede von Christian Gryphius. Hg. v. Erika Alma Metzger. Bern 1970. Himmel-Schlüssel oder Geistliche Gedichte. S. 58–64, hier S. 61f., V. 97–102, 122 u. 134– 136. Johann Klaj/ der hochheiligen Gotteslehre Ergebenens und gekrönten Poetens/ Trauerrede über das Leiden seines Erlösers. In: Ders.: Friedensdichtungen und kleinere poetische Schriften. Hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1968, S. 291–346, hier S. 325. Ebd., S. 309f.: »Man führet das Jammerbild herauß/ sein abgematteter Leib keuchet/ die unvermögenden Füsse straucheln/ deß Haubtes Kleid/ die Haare/ sind von Blute zusammenge-
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Die Querverweise zeigen, dass es keineswegs gleichbedeutend mit eigener Diktion ist, wenn sich Flemings Lyrik aus dem eigenen Vokabular generiert und perspektiviert. Darin genügt sie vielmehr rhetorischen Mustern der Textkonstruktion, die für sie verbindlich bleiben und an denen sie sich ihrerseits als verbindlicher literarischer Ausdruck erweist. Gleichzeitig jedoch führen z. B. die ausgesprochen reflexionswertigen choriambischen Fügungen, die von Fleming häufig aus der Figur der redditio oder inclusio entwickelt werden, durch genaue semantische Qualifikation zu einer neuen Art von Lyrik. Sie zeigen den Problemlösungswert sprachlicher Situierung und ermöglichen hierüber eine Erkenntnisleistung des Gedichts. Konstellationen wie »Kommt/ eilt/ Herr; Herr/ kommt eilt.« (An denselben Fürstl. Holst. Rath und Gesandten/ zu eben selbiger Zeit [an Philipp Kruse, November 1634]; TP 570, V. 12) und »Gantz diß das ist gantz das/ nach dem ich muß Verlangen.« (Auff Ihr Bildnüß; TP 638, V. 8) oder Ich bin betrübt mit Ihm/ dem Freunde jener Zeit. Es thauret mich sein fall […] Ich bin betrübt mit Ihm. Es tauret mich sein Leid. (Als Ihm Herrn Timothei Swirsens Haußfrauen Ableben/ in Ehsten berichtet ward; TP 666, V. 1–4)
können einen Spannungsaufbau ohne weitere argumentative Unterstützung allein durch den Spiegelungseffekt ausgleichen. De profundis-Gesten wie im Gebet Manasse, »Ach HERR/ ich bin gefallen! | Gefallen bin ich/ HERR.« (TP 29, V. 41f.), bezeichnen dann in symmetrischer Vergegenwärtigung statt eines Abgrundes einen Halte- und Bezugspunkt der Klage. In Ein Psalm Davids/ zum Gedächtnüß klammert sich der Betende, der sich zunächst aus allen verlässlichen Kontexten herausgesetzt sieht, dergestalt an Gott und kehrt allein hierdurch, ohne weitere Gewähr, Bezugslosigkeit für sich in Bezug um: »Auff dich/ HErr/ HErr/ auff dich harr’ ich in diesen Nöhten« (TP 18–20, V. 41). Er erzwingt durch Wiederholung Erhörung. An anderen Stellen in der geistlichen Lyrik wird dieser Vorgang explikativ. »Ich steiffe mich auff dich« heißt es im 143. Psalm (Ein Psalm Davids; TP 26f., V. 41) und wieder im Sonett An meinen Erlöser: »Hier steh’ ich/ Ich steh’ hier. […] Ich steiffe mich auff dich« (An meinen Erlöser; TP 546, V. 6 u. 13). Der einmal wiederholte Bezug wirkt so, als gäbe es nur noch ihn. Rückkoppelung und Referenzverstärkung tendieren auf eine Semantik der Persistenz und der unablässigen Bemühung, und die nachhaltige Reflexion tendiert ihrerseits auf Selbstbacken/ das Engelreine Angesichte bespien/ […] daß jhn kein Mensch vor einen Menschen ansehe/ wann nicht Pilatus sagte: Sehet/ welch ein Mensch; Sehet/ welch ein Mensch/ rufft GOtt der Vatter vom Himmel/ waarer Mensch und waarer GOTT […]. Sehet/ welch ein Mensch/ rufft die Mutter! Wegen der Menschen Mensch worden/ wegen der Sterblichen gestorben! Sehet/ welch ein Mensch/ rufft der Oberengel Gabriel/ ein Sohn deß Höchsten […] Sehet/ welch ein Mensch/ rufft der Feind Menschliches Geschlechts/ der auß allen Steinen nicht einen Bissen Brod machen kan; Sehet/ welch ein Mensch/ rufft der Heyd: der so viel Krancken geholffen/ kan jhm selbst nicht helffen; Sehet/ welch ein Mensch/ rufft das Volck/ ein Aufrührer und Verführer deß Volcks […] Creutzige/ Creutzige jhn/ dann er hat sich zu Gottes Sohn gemacht.«
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reflexion, die den ganzen Vorgang auch als solchen bezeichnet: »Ich sage noch einmahl«, heißt es dazu im 32. Psalm (Eine Unterweisung Davids; TP 17f., V. 5) und im Schreiben Vertriebener Fr. Germanien an ihre Söhne: »Ach springt der Mutter bey! Ich lieg’ in letzten Stunden/ | Ich ruffe noch einmahl: Ach springt der Mutter bey!« (TP 112–121, 119, V. 235f.) Entsprechend kommt bei Fleming auch das vierfache Ecce Homo ohne Aspekt- und Perspektivenwechsel aus, anders als bei Klaj (»Sehet/ welch ein Mensch/ rufft GOtt […] rufft die Mutter! […] rufft der Oberengel Gabriel […] rufft der Feind Menschliches Geschlechts/ […] der Heyd […] das Volck«16). Das »noch einmahl« und »noch einmahl« des Aufgriffs gilt äußerster Betonung. Solange ist an ein Fortkommen im Gang der Verse und der Reflexion nicht zu denken.
3. Einerlei in den Oden In den Oden entwickelt sich das Wiederholen meist aus einem anaphorischen Versaufbau und Aufbau der Kola mit dem Zweck der Reimergänzung. Das akzentuiert die Liedstruktur der Texte, schafft Korrespondenzen und Korrelationen unter dem Druck schwierig auszutarierender Differenz, die etwa das berühmte Wie Er wolle geküsset seyn in solcher Weise umspielt: »Nicht zu frey/ nicht zu gezwungen/ | nicht mit gar zu fauler Zungen«, »Nicht zu harte/ nicht zu weich. | Bald zugleich/ bald nicht zugleich« (TP 535f., V. 3f. u. 13f.). Die rechte Berührung der Lippen wird zum ausgezeichneten Fall einer Suche nach der Mitte. Alle erdenklichen Möglichkeiten des Verfehlens werden durchlaufen und mit einem tragenden Anteil an sprachlicher Fügung zum Aspektwechsel umgewertet. Das Kuss-Gedicht wird darüber zu einem lyrisch sensitiven Vollzug des Abwägens und Auswiegens. Dies gilt vor dem Hintergrund (und hat darin sein Gewicht), dass in den verfügbaren Denk- und Erfahrungsmustern alles Tun differenzgeprägt erscheint, Welt überhaupt nach der Logik des Gegensatzes funktioniert und folglich an Unterschieden krank ist: »als wann nur zwischen den Menschen allein Krieg were/ so doch derselbe auch vnter den Elementen gefunden wird«, ebenso im einzelnen Menschen, in dem »die Seele/ vnnd der Leib« nur »mit einer vneinigen einigkeit« zusammenhängen und »sich nicht leichtlich vertragen«.17 Der Widersprüchlichkeit des Ganzen kontrastiert hier poetische Affinität. Das macht die Oden zu Bezugsfeldern, in denen das Bemühen um stimmige Situation durch »Wort-Gleichungen« aus dem Fons Allusionum angeleitet wird und sich mit der Perspektive auf völlige Identität in kehrreim- und ritornellartigen Abfolgen vollendet. Zu solcher Wiederkehr verhält sich in der Ode Ein getreues Hertze wissen (TP 532f.) der übrige Text, das Nicht-Wiederholte fast bereits additiv. Das Schäferlied Bittre Freude/ süßes Leid (TP 511ff.) ist in neun von 16 17
Ebd. Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [De constantia]. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Viritius nach der zweiten Auflage von c. 1601 mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599. Hg. v. Leonard Forster. Stuttgart 1965, Bl. 46 u. 12.
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17 Strophen identisch, beinahe ein einziger Kehrreim. Hier dreht sich alles um den Widerspruch »Zwar/ was lieb ist/ das bringt Leid« (V. 45). Sophismen helfen zwischenein, das Inkommensurable zu ertragen (»Was sich einmahl von uns bricht/ | ümm das kommt man zweymahl nicht« (V. 53f.)). Aber erst der Kehrreim »Bittre Freude/ süßes Leid/ | was ists/ das bleibt allezeit?« kann mit den zwei Seiten der Liebe versöhnen, indem von Bestätigung zu Bestätigung akzeptabler wird, dass dies so ist. Vor dem Hintergrund solcher Vermittlungsleistungen wirken die anaphorischen Reihen der Oden als ein ständiger Ansatz zum Wiederholen, dem es freilich zumeist an weiterer Ausführung mangelt. Bei aller Häufigkeit der Erscheinung in Flemings Lyrik dominiert natürlich dennoch Veränderung den Hang zur Symmetrie. Für mehr Entsprechung und Einheit gebricht es der barocken Welt eben an Zusammenhang. »Der weise Künstler hat ein Wechsel aller Sachen«.18 Das Weltgeschehen hat ihn ja auch und klärt sich deshalb viel angemessener und genauer auf Unterschiede hin, als dass gleichförmiger Ausdruck auf gleichartige Verhältnisse stoßen ließe. Nur kann Kongruenz, die nicht über Anaphern hinaus einzulösen ist, immerhin doch Widersprüchliches in Parallelismen und Chiasmen aufeinander beziehen, mit dem Ertrag erhellender Koordination, und Antithesen identischen Gepräges entstehen lassen, was auch eine Form von Ähnlichkeit ist: Es ist ein Wechsel aller Sachen. Auf schein kommt Plitz. Auf Tag folgt Nacht. Ein nasses Leid auff trucknes lachen. Auff Wollust/ das/ was Eckel macht. Und diese/ die dich gestern liebet’/ ists/ die dich heute so betrübet. (Und soll es nun nicht anders gehen; TP 497–501, hier 500, V. 73–78)
Die in den Anaphern (»Auf«, »Auf«, »Auff« – »die dich gestern«, »die dich heute«) spurgebend poetische Wahrnehmung von Welt gereicht so noch zur Ordnung ihrer Widersprüche, zu deren Ausgleich aber nicht. Nur umso mehr jedoch kommt den Oden die Funktion zu, Nicht-Identität in Darstellungszusammenhänge aufzuheben. Dafür ist mit jedem (anaphorischen) Ansatz zur Gleichung ästhetisch die ideale Kongruenz nach dem Muster der Choriambe projektiert. Solche Kongruenz wiederum ist in ihrer Selbstbezüglichkeit zunächst noch gar nicht auf weiteren Ausgleich angewiesen, aber sie schafft wichtige und orientierende Ansatzpunkte dafür. Sie wirkt als ein Postulat der Fügung, das die poetische Argumentation nach Möglichkeit einzulösen hat. Thaue doch/ O Himmel/ thaue brecht/ ihr Wolcken/ regnet her/ daß man den Gerechten schaue […] 18
Martin Opitz: Vber Herrn Andreas Hindenberges new erfundenen Zehltisch. In: Ders.: Weltliche Poemata 1644. Zwei Teile. Reprograph. ND. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen 1975, Teil 2, S. 48–50, hier S. 48, V. 5.
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Thomas Althaus Ja es treuffelt; Ja/ es tauet/ der gesunde Regen fällt/ Schauet hin/ ihr Menschen/ schauet/ dort/ dort liegt das Heyl der Welt/ […] (Auff die selig-machende Gebuhrt unsers Erlösers Jesu hristi; C TP 295, V. 1–3 u. 7– 9)
Nur selten wird der Einklang dergestalt Ereignis. Dann modelliert die Odenlyrik Flemings die Welt nach dem Muster poetischer Gleichsetzung und inszeniert sich in dieser Hinsicht als initiativ und präskriptiv. Mitinszeniert ist indes die Einzigartigkeit solcher Lösung. Sie vollzieht sich immer vor dem Hintergrund identitätsferner Kognition als Dispositiv der historischen Wahrnehmung. Auf den »Wechsel aller Sachen« (»Auf Tag folgt Nacht. | Ein nasses Leid auff trucknes lachen.«) schlägt das Wiederholen nicht durch. Sein Zweck bleibt an das Ethos eines Schreibens gebunden, das sich für seine eigenen Möglichkeiten damit nicht begnügen will – und dennoch seinerseits auf »Wechselungen« hinaus muss, »buchstabenwechselt«, »Wechselwörter«, »Wechselverse« hat und also schlicht durch seinen Vollzug den »Wechsel Menschlicher Sachen« ausdrückt.19
4. Rekurrenz und literarische Authentizität Die Zerlegung in Widersprüche bleibt das Kriterium analytisch genauer Reflexion. Entsprechend wird das Versmaß des Alexandriners privilegiert. An dessen zäsurbedingt schnitthafter Anlage forciert Fleming (wie die Barocklyrik überhaupt) eine lyrische Argumentation in Antithesen, die auch das petrarkistische Paradigma für die Widerspruchskultur des Sonetts, Petrarcas Canzoniere CXXXII (»S’amor non è […]«), nicht umgeht: »Ist Liebe nur ein Feur? wie daß im Flusse wandern | die Fische Paar bey Paar […]« (Frülings Hochzeitgedicht; TP 149–157, hier 152, V. 110f.), »Wie? ist die Liebe nichts? was liebt man denn im Lieben? | was aber? alles? Nein. Wer ist vergnügt mit ihr?« (Auff eben dergleichen [eine Hochzeit]; TP 574, V. 1f.) Das geschieht in einer Reihe mit Opitz, Sibylla Schwarz, David Schirmer, Hoffmannswaldau und anderen und steht über die Petrarca-Nachfolge hinaus grundsätzlich für die Möglichkeiten adversativen Denkens, das seinen Gegenständen Komplexität zuschreibt in der Spannweite von einem zum anderen Extrem, über Oxymora und Paradoxa. Trotzdem bilden die Alexandriner in den 19
Qvirin Kuhlmanns Breßlauers Lehrreicher Geschicht-Herold/ Oder Freudige und traurige Begebenheiten Hoher und Nidriger Personen […]. Jena 1673. Vorgespräche an den Höflichen und nach Würden geehrten Leser/ Darinnen vil merkwürdiges behandelt wird, Bl. E–E ivv, Nr. 23, 24 u. 21. »Komm herbei! o Sprachkunst! mit deinem Buchstabenheere! ist deine Anei[n]anderfügung nicht alleine ein eintziges wechselrad?« (Ebd., Nr. 23) – »Auf Nacht/ Dunst/ Schlacht/ Frost/ Wind/ See/ Hitz/ Süd/ […] Folgt Tag/ Glantz/ Blutt/ Schnee/ Still/ Land/ Blitz/ Wärmd« (Quirinus Kuhlmann: Himmlische Libes-küsse. ND der Ausg. Jena 1671. Hg. v. Birgit Biehl-Werner. Tübingen 1971. XLI. Libes-kuß. Der Wechsel menschlicher Sachen, S. 54f., V. 1–3).
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Sonetten, Elegien und Versepen den eigentlichen Textschauplatz des Wiederholungsgeschehens. Es stört die Erwartung kontrastiver Darstellung, strukturiert gleichzeitig aber die gegenwendige Argumentation nach und bekräftigt sie durchaus auch in ihren einzelnen Schritten. Blickwechsel und gedanklicher Umbruch werden so zu Wendepunkten einer durch Wiederholung konzentrierten Reflexion. Rückbezüglichkeit kann dabei ihrerseits sehr unterschiedlich funktionieren und semantisiert werden. Sie fixiert und bannt, beschwört und evoziert das wiederholt Gemeinte. Sie relativiert Augenblickserfahrungen, ermächtigt sie aber auch. Das Gleiche ist seiner Funktion nach auf textanalytischer Ebene jedes Mal etwas anderes. Die Wiederholungen sind in ihrer semantischen Qualität nicht einheitlich zu beschreiben. Sie geben jedoch Flemings Lyrik ein erkennbares Gepräge: Ich habe fast geirrt. Was soll ich dem doch geben/ der alles giebt und hat? und was verpflicht ich mich auff etwas/ das mich knüpfft/ und nichts doch hat auff sich? Warümm verred’ ich das/ dadurch ich doch muß leben? Ich habe fast geirrt. […] (Über sein Gelübde; TP 548, V. 1–5) Ach! sprich es auch zu mir/ dein kräfftigs thu dich auff/ Ach! sprich es auch zu mir. Denn mir auch sind verschlossen Ohr/ Augen/ und der Mund. Viel Zeit ist hin verflossen/ daß ich so elend bin. Die Welt hat viel zu kauff’. […] (Hephata; TP 556, V. 1–4) Jch hab’ euch Leid gethan/ Ihr Deutschen Kastalinnen/ o Ihr mein andrer Ruhm/ als ich mir bildet ein/ man ehr’ euch weiter nicht/ als was der weise Rhein/ der Elb’- und Donau-Strohm in sich bearmen können. Ich hab’ euch Leid gethan/ Ihr Edlen Pierinnen; verzeiht mir meiner Fehl. […] (Herrn D. Höveln zu Rige […]; TP 569, V. 1–6) Ach Desiderie/ das macht der erste Tantz/ den ich mit dir gethan/ daß ich so nach dir dencke/ und/ weil du nicht bist da/ mich sehr und hertzlich kräncke/ das macht der erste Tantz/ da deiner Augen Glantz/ der auch die Sonne trutzt/ mich mir geraubet gantz. […] Komm/ mein Verlangen/ komm/ wie du mir denn beyneben durch eine stille Post lässt zu vernehmen geben/ Komm/ mein Verlangen/ komm: Ich bin schon/ wo du wilt/ […] (An seine Desiderien; TP 644, V. 1–5 u. 9 –11) Ists wahr/ Adelfie/ als wie man sagt vor wahr/ du habest/ also bald ich sey von dir gezogen/ mit eines andern Gunst der Freundschafft so gepflogen/ daß dus ihm zugesagt/ und nun auch Braut seyst gar. Ich fürcht’/ und gläub’ es fast. Am allermeisten zwar/ daß etwan dich hierzu mein langer Weg bewogen/
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Thomas Althaus und ein vergälltes Maul di[r] etwas vorgelogen/ damit du dich und mich so setzest in Gefahr. Ich fürcht’/ und gläub’ es fast. […] (An Adelfien; TP 651, V. 1–9)
Folgt das Wiederholen rhetorischen Formeln, so bildet es für sich auch Muster aus. Vorzüglich die Eingänge der Quaternarien und Terzinen des Sonetts werden textgliedernd korreliert. (Die Detaillierung nach der ersten Nennung schafft der zweiten den Status des inzwischen recht Durchdachten.) Wiederholung einerseits, gedanklicher Umschlag andererseits vollziehen sich strukturell äquivalent im Verhältnis jeweils von Protasis und Apodosis, indem die Alexandrinerzäsur zumeist auch die Schnittstelle markiert, bis zu der oder ab der wiederholt wird, anaphorisch oder epiphorisch. (Das Wiederholen stützt also die antithetische Konstruktion.) Hier stufen sich Muster Mustern auf, und es macht kaum einen Unterschied, ob Fleming der mehrschichtigen Disposition wiederum Vorstellungsmuster der Barocklyrik einlagert oder – noch einmal in diese hinein – Interpretationen der eigenen Biographie. Der Weg, auf dem jederart Partikuläres und Kontingentes exemplarisch und repräsentativ wird, ist allemal durch Muster vorgezeichnet. In An Adelfien ist es die Untreue der Revaler Kaufmannstochter Elsabe Niehusen, an der sich dieserart der Topos von der Unverlässlichkeit der Welt erfüllt. Auch wenn sich dieses Sonett also biographisch verorten lässt, baut sich seine Semantik gerade nicht über die Referenz auf. Der Eindruck von Individuation entsteht allerdings trotzdem. Nur gilt letzteres durchweg auch für die anderen zitierten Sonette, für die sich eine solche Lesart nicht aufdrängt. Dies hat im Fokus der hier anzustellenden Überlegungen mit einer Konzeption des Schreibens zu tun, die im Wiederholen Zeichen rhetorisch modulierter und dennoch existentieller Artikulation setzt. Die Wiederholung als eines der darstellungstypischen Momente verleiht dem Darstellungsvorgang auf paradoxe Weise literarische Authentizität. Das zeigen deutlich die Epicedien auf den Tod des Freundes Gloger 1631,20 wo sie von den kasualpoetischen Vorgaben durch starke Rekurrenz abweichen und sich daran ihre Ausdrucksgewalt steigert: An dir hab’ ich gehabt/ ach! ach gehabt! den Zeugen von meiner Poesie […] […] Die Faust erstarret mir/ die Thränen schwemmen aus die Dinte vom Pappier’. Ich kan/ ich kan nicht mehr. So nim doch hin/ mein Leben/ den Kuß/ den letzten Kuß/ den ohne wieder geben/ Ach! wers auch vor geschehn? Ich setz’ auff deinen Mund/ auff deinen kalten Mund. […] (Auff H. Georg Glogers […] Seeliges Ableben; TP 144f., V. 17f. u. 35–40) 20
Zu den biographischen Kontexten vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 405–446 (Esalbe Niehus) u. S. 263–280 (Georg Gloger), mit jeweils fragwürdigen Spekulationen.
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Der Zusammenhang von rhetorischer Praxis und literarischer Authentizität hat seine Prämissen natürlich noch in der rhetorischen Praxis selbst.21 Über amplifikatorische Verfahren und Techniken der Affektsteigerung werden »einerley worte/ mit einem sonderlichen nachtruck und mit allem fleiße wiederholet«.22 Nach hiervon abstrahierbarem Kriterium (»mit was für herrlichem nachdruck«, »mit sonderbarer bewegligkeit und nachtruck«23) gewinnt die poetische Rede Intensität und zeigt sich, wie sehr »Dr. Paulus Flemming/ […] in seinem Vorhaben der Teutschen Sprache mit sonderem Nachdruk mächtig gewesen«.24 Im Zuge des Wiederholens verändert sich aber die auf Wirkung bedachte Rede kategorial. Dass bei Fleming immer wieder ein Wort »zum merklicheren Vorbilde seiner Deutung […] (zuweilen etwas verändert) zweymahl gesetzet« wird,25 treibt überhaupt den Setzungscharakter des Schreibens hervor, bis es im Ganzen als ein emphatisch gesteigerter Akt poetischer Selbstbehauptung erscheint. Es erwehrt sich der Unbeständigkeit im ›Wechsel aller Sachen‹, an dem es allerdings in der schon angezeigten Weise durch den eigenen sprachlichen Prozess selbst auch teilhat. Die Klage über Unbeständigkeit – die Flemings Lyrik wie jede des Barock durchzieht – ist deshalb von besonderer, durch den Textduktus gedeckter Evidenz: »Das Jahr ist niehmals gleich, […] | itzt sind wir jung/ bald greiß.« (In ein Stambuch; TP 55f., V. 7f.); »diß Leben/ wie mans nennt; ein Rauch ists/ der verschwindet« (Auff […] Herrn Philipp Krusens […] geliebten Haußfrauen/ Ableben; TP 126–129, hier 128, V. 85); »Die Zeit die fleucht voran/ | Heut alles vor ihr ümm« (An das Jahr/ daß es doch balde verlauffe; TP 650, V. 4f.). Das gehört zum topischen Inventar, wobei freilich die Verfügbarkeit der Vorstellung mitnichten etwas an der Unverfügbarkeit des gemeinten Ganzen ändert. Angesichts dieser Problematik stellt sich das entschiedene Festhalten am Wort als Auflehnung des Schreibens gegen die Verflüchtigung seiner selbst dar. Das tragen die Grabgedichte besonders spannungsreich aus, wenn sie den Unbestand als Kondition menschlichen Lebens selbstverständlich und begütigend einzuräumen haben und ihm gleichzeitig widerstreben, wo immer Verstorbenen mit dem Zweck gedacht wird, dass nicht auch noch dieses Trauern und Erinnern der »Fluht der Zeiten« (Auff einer Jungfrauen Absterben; TP 132, V. 31) anheim fällt. »Sie/ ach! sie ist 21
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Vgl. dazu in anderer Hinsicht die »szenische Präsenz« von Flemings Lyrik, wie Thomas Borgstedt sie hervorhebt (Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 279–295, hier S. 286). Andreas Tschernings Unvorgreiffliches Bedencken über etliche mißbräuche in der deutschen Schreib- und Sprach-Kunst/ insonderheit der edlen Poeterey. Wie auch Kurtzer Entwurff oder Abrieß einer deutschen Schatzkammer/ Von schönen und zierlichen Poëtischen redens-arten/ umbschreibungen/ und denen dingen/ so einem getichte sonderbaren glantz und anmuht geben können. Lübeck 1659, S. 140 sowie 67 u. 101; online unter http://diglib. hab.de/drucke/ko-137/start.htm?image [Dezember 2011]. Ebd., S. 67 u. 101. Justus Georg Schottel: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. 2 Teile. Hg. v. Wolfgang Hecht. Tübingen 1967. ND der Ausg. Braunschweig 1663, S. 1177 (Lib. V, Cap. IV. Von Teutschlands und Teutschen Scribenten). Ebd., S. 728 (Lib. 3, Cap. II. Von der Wortfügung mit dem Nennworte). Das »geschiehet in Teutscher Sprache mit wollautender Zier und lieblichem Nachtrukke« (ebd.).
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vorbey/ die ihr so innig liebtet/ | das treue fromme Weib. Sie/ ach! sie ist vorbey.« (Auff […] Herrn Philipp Krusens […] geliebten Haußfrauen/ Ableben; TP 128, V. 6f.) Durch Wiederholung entstehen Zentren der Verdichtung des Ausdrucks, während die Rede bereits in ihrem eigenen Vollzug mit dem Schwundcharakter aller Erscheinungen, mit dem Grundproblem unaufhaltsamen Verlaufs sinnfällig konfrontiert ist. Dadurch gewinnen die Wiederholungen den Stellenwert einer gegen den Fluss der poetischen Rede gearbeiteten constantia, mit der diese Rede auf sich selbst beharrt und von Wörtern und Wendungen so schnell nicht ablassen will. Dergestalt befinden sich die Texte in einer permanent dringlichen Auseinandersetzung mit ihren Bedingungen, in denen die Bedingungen des Ganzen aufscheinen. Diese stets akute Spannung ergibt den Zusammenhang von Rekurrenz und literarischer Authentizität.
5. Stoische Beharrlichkeit im Ausdruck Fleming gewichtet im Wiederholen den Schreibakt selbst als Auflehnung gegen die mit den unterschiedlichsten Bezügen besetzbare Bewegung des »Reist alles mit sich hin« (Auff eines von Grünentahl Leichbestattung; TP 124f., V. 27), dies in Näherung an die horazische Utopie von Gedichtmonumenten, »dem Ertz nicht zu vergleichen«, die nichts, auch nicht die »folge vieler Jahr’ vnd Flucht der Zeit zerbricht«26: […] Sonst alles ander sti[r]bt. Was eine Feder schreibt/ die Gluht und Seele hat/ das gläube/ daß es bleibt/ wenn nichts mehr etwas ist. […] (An Herrn Hartman Grahman […] geschrieben in Astrachan [1638] In welchem der verlauff der Reise nacher Moschkaw und Persien meistentheils angeführet wird; TP 200–213, hier 212, V. 421– 423)
So wird das Schreiben zum Akt stoischer Insistenz: »Diß ist es/ werther Freund/ wie wenig es auch ist/ | […] Diß ist es/ was ich schriebe«, beginnt eines der Grabgedichte (Auff deß Edlen Georg Seidels von Breßlau Leichbestattung; TP 133f., V. 1 u. 3). Für den Anspruch auf Bewahrung stehen die Wiederholungen in ausgezeichneter Weise ein. Bei 485 Teütschen Poemata zeugt der Wechsel von Gedicht zu Gedicht und früher schon in jedem einzelnen der Wechsel von Strophe zu Strophe, Vers zu Vers, ja Wort zu Wort, mithin der konkret sequentielle Vollzug der Sinnkonstruktion gegen die Möglichkeit zeit- und verfallsenthobener Darstellung. Aber das Wiederholen findet sich damit dennoch nicht ab. Es lässt 26
Martin Opitz: Horatii: Exegi monumentum (Ich hab’ ein Werck vollbracht dem Ertz nicht zu vergleichen). In: Opitz: Weltliche Poemata (Anm. 18), Teil 2, S. 64, V. 1 u. 4.
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Flemings Texte schlicht schon quantitativ, durch die ungewöhnliche Fülle der Realisierungen, eine prozessgehemmte Entwicklung nehmen. Dafür bildet nicht einmal mehr jener Wechsel von Gedicht zu Gedicht klar gezogene Grenzen. Das geistliche Sonett Hephata mit seinem stark anaphorischen Eingang »Ach! sprich es auch zu mir/ […] | Ach! sprich es auch zu mir […]« (TP 556, V. 1f.) gibt seinen Schluss »Der alles machet wol/ hat mirs auch wol gemacht!« (V. 14) in nachdrücklicher Bestätigung von Mk 7,37 weiter an den Titel des nächsten Sonetts Er hat alles wol gemacht, an dessen ersten Vers »Ja mehr als wol gemacht! […]« und an dessen letzten Vers, bis es endlich genug ist: »Rufft läuter/ ruffet weiter: | Er/ Er hat alles wol/ und mehr als wol gemacht.« (TP 556f., V. 1 u. 14)27 In der Textfolge von Hephata und Er hat alles wol gemacht sind Versicherung und Bekräftigung aber nicht argumentativ hergeleitet. Der letzte Vers von Hephata ist als acutum und epigrammatischer Schluss gesetzt. Das soll durch argute Reflexion, durch »spitzfindigkeit […] an dem ende […] anders als wir verhoffet hetten gefallen«.28 Bis dahin wird eine ganz andere Sprache gesprochen (»daß ich so elend bin« (TP 556, V. 4)). Noch das letzte Wort vor dem letzten Vers lässt nicht auf die gedankliche Wende schließen, dass alles Schlechte doch gut gewesen sein soll, wenn nur der Tod vom Übel abhilft: »so soll mein Lob auch ruffen aus mein Grab: | Der alles machet wol/ hat mirs auch wol gemacht!« (V. 13f.) Derart werden dem leidblinden Menschen die Augen geöffnet. Das ist einerseits zwar nach dem Christus Medicus-Topos durch »dein kräfftigs thu dich auff« (V. 1) erwartbar, wird andererseits aber eben doch als völlig überraschende Pointe gegen den exponierten Befund gestellt. Dem folgt das hierauf verpflichtete Sonett Er hat alles wol gemacht mit den weiteren Wiederholungen, zum Zeugnis einmal mehr des ›feststellenden‹ Schreibens (»Was eine Feder schreibt«, »das […] bleibt«), das der Transitorik von Sprache und Schrift und den daran eminent kenntlichen Aufhebungen trotzt. Es zeigt sich hier aber ebenso trotzig als eine Perspektivensuche bei stets wertaufhebenden Bedingungen, gegen die es entschlossen Sichtweisen statuiert und gegen die es sich in seiner Begründungslosigkeit durch Selbstreferenz behauptet. So sind Flemings Wiederholungen mit der denkgeschichtlichen Ausrichtung dieser Lyrik am Neostoizismus zu folieren. Bei entsprechend forcierter Wahrnehmung bieten sie eine strukturell genaue Einlösung des Selbstbezugs im Sonett An Sich: »und eh du förder gehst/ so geh’ in dich zu rücke.« (TP 576, V. 12)29 Die 27
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Eine solche Konstellation erzeugen die Teütschen Poemata auch durch Einbeziehung eines der Gedichte Georg Glogers, mit deren Herausgabe Fleming sich trug. Sie stellen eine echoartige Situation her, mit Gloger gegen über, so der Titel des Einzitierten in den Poetischen Wäldern (TP 56). Es greift in der entstandenen Folge den letzten Vers des Vortextes In ein Stambuch (»Hier ist beständig nichts/ als Unbeständigkeit« [TP 55f., V. 14]) mit seinem ersten und noch einmal mit seinem eigenen letzten Vers auf (»Weil nichts beständig ist/ als Unbeständigkeit« [TP 56, V. 1 u. 12]). Vgl. DG 2, Beilage V.: Glogers Deutsche Gedichte, S. 658: In Herren Kolbens von Mutschen Stammbuch. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. 2, 1. Stuttgart 1978, S. 331–416, hier S. 366. Flemings Nähe zum Neostoizismus macht das Sonett »An Sich« in besonderer Weise erkennbar. Das ist aber auch in einer werkgeschichtlichen Entwicklung zu sehen, in der sich Denk- und Schreibweise mit solchem Richtungsgewinn dialektisch aufeinander beziehen.
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Orientierungskraft solchen Rückgangs wird hier im ersten Vers an einem Nebenmoment der Aussage demonstriert. Der berühmte Eingang »Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren« hebt das konzessive Adverb durch Doppelung derart hervor, dass es zur attributiven Bestimmung der Reflexion überhaupt wird, die sich in ihrem Modus hierüber definiert. Das »dennoch« wird mit der zweiten Setzung zur Hauptvokabel und zum Text tragenden großen Quandmême, zu dem sich alle weiteren Bestimmungen von Vers zu Vers erläuternd verhalten. An solchen durch Wiederholung zentralen Textpunkten hat eine seltsam veränderte copia rerum, verborum et figurarum statt, bei der es nicht um Mehrung und Variation zu tun ist, sondern um Reduktion und Konzentration. Dahingehend wird in den Teütschen Poemata das Trostgedicht Ann Christianen und Sigismunden Ilgen/ Gebrüder/ über Ableben Jhres Vatern/ Schwester und Schwagern gegenüber dem Erstdruck im Abschluss einer Leichpredigt an einer Stelle bezeichnend korrigiert.30 Dort findet sich eine im Binnenreim nuancierte Wiederholung (»Was aber? gieb dich drein. das Leid zwar ist gleich groß/ | […] Was aber? Es muß seyn […]« (V. 9 u. 12)), aus welcher disiunctio in der Neufassung eine genaue repetitio entwickelt wird. Das ist dann aber bereits die zweite stark markierte Wiederholung in diesem Sonett, und beide Wiederholungen stehen in einem unaufhebbar antithetischen Verhältnis zueinander: Du brüderliches Paar/ und meiner Freundschafft Zier/ Halt’ an/ und sieh dich ümm/ ob irgends aller Enden/ noch was zu finden sey/ das deine Quahl kan wenden. Halt’ an/ und sieh dich ümm. Ich sehe/ klagst du mier/ Ich sehe nichts für mich. Ja/ recht. Ich gläub’ es dier. Was soll denn dieses Ach? Diß ringen mit den Händen? Ists diß nun/ das du siehst/ das dir soll Hülffe senden? O nein. Drüm laß es nach/ und nim ein anders für.
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Vgl. dazu u. a. Wilhelm Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings »An Sich«. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 160–166, und Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett »An sich«. In: Daphnis 31 (2002), S. 234–254. Sonnet An deß Sel. Verstorbenen Geliebte Söhne Christianen vnd Sigemunden/ Seine besondere Freunde. [Von] Paull Flemming. In: Drey Leichpredigten Bey Christlicher Sepulturn vnd Begräbnissen Vaters/ Eydam vnd Tochter/ 1. Des Ehrenvesten/ Achtbarn vnd Wolgelarten Herrn JOHAN ILGENS/ […] 2. Des Erbarn vnd Ehren-Wolgeachten Herrn Peter Kuch […] Vnd 3. Der Erbarn vnd Tugendsamen Frawen HELENEN/ Jtzo genandten Herrn Peter Kuchs Sel. ehelichen Haußfrawen/ vnd Herrn Johan Jlgens eheleiblichen Tochter […] gehalten durch POLYCARPUM Leysern […] Leipzig 1633, Bl. ; online unter http:// diglib.hab.de/drucke/xb-4310-36/start.htm?image=00000030 [Dezember 2011]. – Dieter Martin erläutert in seiner eingehenden Erschließung des Drucks (Fortgesetzte Trauer. Ein unbekannter Druck mit Begräbnisgedichten Paul Flemings. In: Daphnis 35 (2006), S. 695– 711) die Familientragödie, in der den Brüdern Ilgen aus Leipzig an wenigen Tagen im September 1632 der Schwager und die Schwester, dann im November der Vater wegsterben. Martin hebt die Textveränderung des Sonetts hervor und weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass es »seine Eindringlichkeit« maßgeblich durch »intensivierende Wiederholungen« »aus einem […] rhetorisch kalkulierten Sprechen gewinnt« (S. 710).
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Was aber? gieb dich drein. Daz Leid zwar wird gleich groß/ Je liebers uns was fällt. Ich sag’ auch nicht so bloß/ daß man ümm Freunde nicht gebührlich trauren solle. Was aber? gieb dich drein. Entschlage dich der Angst/ und wisse/ daß du nur durch schweigen diß erlangst/ was kein Mensch sonst nicht kan/ Er thu auch/ wie er wolle. (Ann Christianen und Sigismunden Ilgen/ Gebrüder/ über Ableben Jhres Vatern/ Schwester und Schwagern; TP 664)
Offenbar ergibt die stoische Beharrlichkeit im Ausdruck nicht zwangsläufig auch eine Positionsfestlegung des Gedichts. Vielmehr können mit blockartig aufeinander reagierenden Setzungen konträre Gewichtungen vorgenommen werden, wobei jedoch die zweite Gewichtung die erste trotzdem nicht relativiert. Die adhortatio »Halt’ an/ und sieh dich ümm« macht sich schon bei erster Nennung autoritativ geltend, vollends mit ihrer Resonanz im Abschluss des ersten Quatrains. Gegengründe werden schlicht deshalb nicht zugelassen, weil es deren wahrlich genug gibt. Eigentlich spricht alles dagegen, nur vielleicht »irgends aller Enden« etwas nicht. Der vorläufige Eindruck von Folgeleistung und positivem Bescheid, noch im selben Vers, beruht indes nur auf der eingeschobenen Inquitformel, die den Eindruck gezielt provoziert, bevor das Enjambement darüber hinweg zur Negation führt (»Ich sehe/ klagst du mier/ | Ich sehe nichts für mich.«). Wie der Not nicht zu steuern ist, hält aber der neue Vierzeiler gleichwohl unbeirrt an der Ablenkungsstrategie fest (»nim ein anders für«), – bis im Beginn der Terzette der Widerruf erfolgt, mit neuer autoritativer Geltung, neuer Resonanz im Text und neuem Ausschluss von Gegengründen. Jetzt gilt eine ganz andere Wahrheit. »Was aber? gieb dich drein« ist – als Preisgabe an das Leid – annähernd eine Umkehrung von »Halt’ an/ und sieh dich ümm« – als Gebot, sich neu zu orientieren. Suche nach Alternativen, suche nicht nach Alternativen! Ab hier überzeugt das Sonett von der Zwecklosigkeit seiner zuerst inständig vorgebrachten Empfehlung, wenn nicht sogar von der Zwecklosigkeit seiner selbst als Epicedium. Es erweist sich jeder, auch dieser Versuch als nutzlos, ein rechtes Verhältnis zum Tod Geliebter anders als »nur durch schweigen« zu gewinnen. Consolatio gibt es nicht. In der Klagesituation barocker »Leich-Gedichte«, »Leich-Gesänge« und »Sonnetten« »Von den Leichen« – so die Rubra der Poetischen Wälder – fußt jeder Zuspruch, diesseitige Belange betreffend, per se auf nichts (»Nichts ist alles. Du sein Schein.« [Bey einer Leichen; TP 664f., V. 14]) und führt zu nichts (»Wir Menschen pflegen offt zu klagen über Leichen/ | und wissen selber nicht/ wie nah’ uns unsre Zeichen | deß Todes sind gesteckt.« [Als Ihm Herrn Timothei Swirsens Haußfrauen Ableben/ in Ehsten berichtet ward; TP 666, V. 9–11]). Guter Rat zur Abkehr von lamentatio ist insofern um ein Leichtes widerlegt. »Weil es denn also in der Welt zugehet/ so ist das beste patientia, daß man sich in Gedult ergiebet/ in die bösen Zeiten schicket«.31 Trotzdem bleibt im Sonett für die Gebrüder Ilgen die erste durch Wiederholung verstärkte Evokation als schließlich Falsches 31
Drey Leichpredigten […] (Anm. 30), Die erste Predigt, Bl. B iiijrf.
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an ihrer Stelle völlig richtig. Es ist zu früh, Ausweglosigkeit einzuräumen, solange nicht alles dagegen versucht worden ist. Für ein Leben ohne Perspektive ist jeder den gehörigen Erweis durch Auflehnung noch erst schuldig. Nachher ist es aber ebenso unangebracht und auch zu spät, mit einem »Halt’ an/ und sieh dich ümm« dem »gieb dich drein« noch weiter auszuweichen. So hebt denn die zweite Gemination die andere erste nur in ihrer Aussage, nicht jedoch in ihrer Wertigkeit und Intensität auf. Wichtiger als der Aussagegehalt, auf den verpflichtet wird, erst so, dann anders, ist der Verpflichtungscharakter der Aussagen selbst. Flemings reflexiv gewendetes Sonett zielt grundsätzlich auf eine Emphatisierung der Verhaltensoptionen unabhängig von der Frage, welche sich schließlich berechtigen lässt. Dafür kommen überhaupt nur solche Vorstellungen in Betracht, die mit letzter Dringlichkeit vorzubringen sind. Von der Rhetorik der Wiederholung beziehen Flemings Gedichte dieses ihr Ethos nachdrücklicher Reflexion. Ein Gedanke für sich, in der Vorläufigkeit seiner Formulierung, ist eine Sache. Aber die andere und entscheidende Sache ist die Arbeit am Gedanken, deren energetisches Potenzial und Gewicht eine einzige Bezugnahme womöglich noch nicht sicher freilegt, sondern erst eine zweite, die dem Textlauf trotzt. Insofern es hierauf ankommt, sind die verba die res, mit extremer Belastung des Ausdrucks bei jedem Schritt der literarischen Argumentation. Darin liegt eine mögliche Antwort auf die Frage, wie Fleming und wie sich an dieser literarhistorischen Schnittstelle eine eigenartige Schreibweise ausbilden konnte, bei einem vorgegebenen poetischen Lexikon und Ausdrucksarsenal, in Übersetzungssituationen, in der Opitz-Nachfolge, in stark schematisierten Texturen, in deutlicher Abhängigkeit von literarischen Strömungen (Petrarkismus, Antipetrarkismus), von denkgeschichtlichen Zusammenhängen (Neostoizismus) und unter den Bedingungen rhetorisch organisierter Literatur. Das Repertoire der barocken Verhaltenslehre, über das Fleming natürlich verfügt, und die Topik des Barockgedichts, die dieses Repertoire zum Tragen bringt, machen seine Lyrik zeittypisch. Zugleich jedoch werden Positionen aus jenem Repertoire und Darstellungsmuster der barocken Lyrik nun wegweisend intentionalisiert: durch den Reflexionsdruck, den sein sprachlicher Stoizismus aufbaut, und durch das von Konzentration geprägte Wiederholen, wie es der Zeichendynamik von Sprache und Schrift und dem dadurch flüchtigen Ausdruck mit der Sorgfalt zweiter Nennung begegnet und die Rede validiert.
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Varipediclauda Innovationen in Paul Flemings lateinischer Dichtung Ista tuis radians excelsior emicat annis dumque doces vitam, vivis, ut ipse doces. Reinhard Düchting zum 75. Geburtstag
Eine Untersuchung von Flemings lateinischer Dichtung führt tief in die Latinistik und in die lateinische Sprach- und Stilgeschichte hinein, berührt die Ränder und Entlegenheiten der Latinität in sowohl historischer als auch formaler Hinsicht. Werke und Vorbilder werden heute im Lateinunterricht nicht mehr behandelt, die Namen der Autoren wohl nicht einmal genannt, und doch sind sie für Fleming prägend gewesen. Der Späthumanismus, die Gelehrtenkultur, in die Fleming hineingewachsen war, hat sich die Autoren des archaischen, spätantiken, gar mittelalterlichen Lateins breit erschlossen.1 Es kann als Charakteristikum des ausgehenden 16. und ganzen 17. Jahrhunderts gelten, dass den Gebildeten Sprache, Formen und Stilistik der gesamten Latinität zur Verfügung standen, und das gilt auf allen Seiten der konfessionellen oder nationalen Demarkationslinien. Caspar von Barth († 1658) zum Beispiel ist als evangelischer Gelehrter und philologischer Universalgeist, als Zeitgenosse und Vorbild Flemings bekannt.2 Er hat sich nicht gescheut, selbst hochmittelalterliche Lehrdichtung – den Humanisten eigentlich ein Graus – in höchsten Tönen zu preisen: »Pauper Henricus ist ein fein Büchlein« lobt er die Elegia de diversitate Fortunae des Italieners Heinrich von Settimello († nach 1193), ein Lehrgedicht aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert.3 Im katholischen Bereich wurde gegen alle früheren sprachlichen Vorbehalte die ältere Hagiographie historisch-philologisch, d. h. in ihrem 1
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Der Begriff ›Späthumanismus‹ wurde geprägt von Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 21 (1931), S. 17–53 (mit zahlreichen Ergänzungen nachgedruckt in Erich Trunz: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München 1995, S. 7–60); eine Definition als »sozioliterarische Formation« findet sich bei Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 10f.; zur Diskussion vgl. die einleitenden Bemerkungen bei Gundula Caspary: Späthumanismus und Reichspatriotismus. Melchior Goldast und seine Editionen zur Reichsverfassungsgeschichte. Göttingen 2006 (Formen der Erinnerung 25), S. 20–25. Einzige Monographie zu Barth ist noch immer die alte Arbeit von Johannes Hoffmeister: Kaspar von Barths Leben, Werke und sein Deutscher Phönix. Heidelberg 1931 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 19). So laut Aufzeichnungen des Zwickauer Gelehrten Christian Daum († 1687) aus Gesprächen mit Barth, ediert von Johannes Hoffmeister: Deutsche Fragmente von Kaspar Barth aus der
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ursprünglichen Sprachgewand wiedergewonnen; dieses Unternehmen der Acta Sanctorum ist zum Vorbild für die späteren großen Quellenunternehmungen geworden; der Rezeption der Legenden und Heiligenliteratur haben die Acta Sanctorum noch einmal Vorschub geleistet. Solche Orientierung führte vom Ziel der humanistischen Sprach- und Stilkritik weg. Der Humanismus verstand sich ursprünglich als eine Bewegung, die einen einheitlichen Maßstab für gutes und richtiges Latein an- und durchsetzen wollte. Die Sprachentwicklung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, d. h. vor allem im 15. Jahrhundert, wurde durch die humanistische Kritik am Latein der Scholastik, am Latein der Konvente, Schulen und Universitäten des Spätmittelalters bestimmt. Das scholastische Latein war eine auf die Vermittlung komplexer philosophischer und theologischer Zusammenhänge angelegte, fast mathematisch-formelhafte Sprache, deren Hauptcharakteristikum die Freigabe der im Lateinischen angelegten Wortbildungsmöglichkeiten war. Diese Sprache war – so hat der schwäbische Humanist Heinrich Bebel († 1518) es einmal formuliert – karg wie eine Fastenspeise (dicendi atque loquendi ieiunium), ihre Autoren waren scharfe Denker, aber schlechte Lateiner.4 Gutes Latein musste bei antiken Autoren gelernt werden; auch da nicht bei allen, sondern vornehmlich bei denen der späten Republik und der augusteischen Zeit. Der Humanismus hat Sprache und Stil dieser Zeit zum Ideal einer Goldenen Latinität erhoben, umgeben von Absenkung und späterem Verfall der lateinischen Sprache. Dieses Modell der Sprachentwicklung ist das von uns rezipierte, das geltende (vgl. Abb. 1).5 Schon unter den italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts setzte die Diskussion des Autorenkanons ein; durfte also zum Beispiel nur Cicero – so die Extremposition des sogenannten Ciceronianismus – als Vorbildautor in der Prosa gelten und in der Dichtung die augusteischen Dichter? Das war nicht nur sprachlich relevant, sondern bestimmte die Literaturproduktion. Neulateinische Autoren waren lange auf die Technik der Imitation, auf das imitando delectare festgelegt, d. h. also auf Sprache, Stil, Werk und Genus von Vorbildautoren, die – das machte nicht wenig den Reiz der Literatur aus – vom Leser wiedererkannt werden sollten. Hier nun wirkte das Prinzip der Suche nach Abstand, nach Distinktion. Enger Autorenkanon und imitatives Verfahren bedeuteten Einschränkung. Wer Aufmerksamkeit erregen, etwas Neues bieten, gar auf dem Buchmarkt erfolgreich sein wollte, der musste an die Ränder vorstoßen, sich vom klassischen Sprach- und Stilideal und seinen Vertretern lösen, überraschen. Es gab zwei Möglichkeiten der Innovation, und beide lassen sich bei Fleming belegen: erstens das Erschließen neuer Vorbildautoren, zweitens das Lösen vom strengen Postulat der Imitation. Beides führt vom klassischen Stilideal hin zum manieristischen. Es
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Ratsschulbibliothek Zwickau. Heidelberg 1929 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1929/30, 2), S. 11. Diese Bewertungen liest man in Bebels Opusculum qui auctores legendi sint, das Teil (Lagen A, B) einer Werksammlung ist, die im Jahr 1513 bei Matthias Schürer in Straßburg erschienen ist (VD 16, Nr. B 1236). Vgl. Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Bd. 3: Karolingische Biographie 750–920 n. Chr. Stuttgart 1991 (Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters 10), S. 148.
Abb. 1: Entwicklung von Stil und Quantität des literarischen Lateins nach Berschin
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gibt manche, die in dieser Entwicklung vom Klassizismus zum Manierismus eine Gesetzmäßigkeit sehen. Sie dürfen sich auf Ernst Robert Curtius berufen, der den Manierismus als eine Entwicklung beschrieben hat, welche die »klassische Norm überwuchert«, »der Klassik entgegengesetzt« ist.6 Wir wissen inzwischen, dass die Stilhaltungen von Manierismus und Klassizismus nebeneinander vorkommen können, auch zu Anfang des 17. Jahrhunderts gibt es noch die unnachgiebigen Ciceronianer. Von Curtius aber sicher richtig gesehen ist die Tendenz, wonach Epochen des Klassizismus (Goldene Latinität, Karolingerzeit, Lateinische Klassik des 12. Jahrhunderts, Renaissance) von Epochen des Manierismus (Spätantike, Ottonenzeit, Barock) abgelöst werden. Der Manierismus ist ein gewaltiges Forschungsgebiet geworden; es gibt unendliche Literatur, die auch die Epochendiskussion betrifft. Die Kunstgeschichte z. B. bleibt – anders als die Philologie – bei ihrer Festlegung auf die Zeit zwischen Renaissance und Barock.7 Sucht man nach einer Definition des Manierismus in der Literatur, muss man sich von Curtius lösen, der sich auf bestimmte stilistisch-rhetorische Vorlieben (Hyperbaton, Periphrase, Figurengedicht usw.) konzentriert hat; das sind Indizien des Manierismus, aber eben nur Teile des Ganzen. Den besseren Ansatz bietet Hugo Friedrich,8 der den literarischen Manierismus daran erkennt, dass »in seinen Texten der normale Abstand zwischen Stil und Sache (ohne den es keine Kunstsprache gäbe) ein übermäßiger geworden ist«. Manierismus ist also ein »Übermaß an Kunst«.9 Paul Fleming war in seiner lateinischen Dichtung Manierist, das gilt – auch wenn das für einen jung verstorbenen Autor merkwürdig klingt – vor allem für den frühen Fleming. Will man den Innovationen, den novitates auf die Spur kommen, muss man die Leipziger Produktion in den Blick nehmen: die Arae (Sylv. IX, 1) und die Taedae Schoenburgicae (Sylv. IX, 3), das Iesu Christo sacrum natalicium (Sylv. IX, 2), den Rubella-Zyklus (Sylv. VIII) und den Promus […] historiae penum abundanter extradens (Sylv. IX, 8; Zyklus über die Kriegsereignisse des Jahres 1631). Lektüre und Verständnis dieser Texte sind nicht einfach. Der um die Erforschung der Verhältnisse zwischen Fleming und dem Haus Schönburg verdiente Conrad Müller beschrieb seine Erfahrung mit den Taedae Schoenburgicae so: »[E]ine heitere, sonnige Gabe, ein Gesang von Liebe und Lenz, wohl der anmutigste in dem Reigen der schönburgischen Hausdichtung, freilich auch der schwierigste zum Lesen mit seinem modern überschwänglichen, verwickelten
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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Bern 21954, S. 277. Vgl. Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Von 1520 bis 1650 und in der Gegenwart. Hamburg 1957, S. 10. Vgl. Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ›bei Gelegenheit‹. Heidelberg 1988 (Beihefte zum Euphorion 22), S. 50f. mit Anm. 141. Hugo Friedrich: Über die Silvae des Statius (insbesondere V, 4 Somnus) und die Frage des literarischen Manierismus. In: Wort und Text. Festschrift für Fritz Schalk. Hg. v. Harri Meier u. Hans Sckommodau. Frankfurt a. M. 1963, S. 34–56, hier S. 37f.
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Humanistenlatein […] und man atmet erst auf, wenn man am Schluß noch auf das deutsche Fruelings-Hochzeit Gedicht […] endlich stößt.«10 Den Hang zu Neuerung und Verrätselung, zum gesuchten Ausdruck und der überraschenden Form hat Fleming später gezügelt, seine Dichtung entfernt sich von der manieristischen und nähert sich der klassizistischen Stilhaltung, ohne diese zu erreichen. Diese Erkenntnis ist nicht neu;11 Ziel ist es, die Neuerungen Flemings an einigen Beispielen sichtbar und nachvollziehbar zu machen, und zwar in Form, Sprache und Stil. Im Internetportal CAMENA zu den deutschen neulateinischen Dichtern ist der lateinische Fleming mustergültig aufbereitet:12 Neben Lappenbergs Edition finden sich Volltext und Register, darunter ein Index metrorum. Dieser Index ist meistens zuverlässig,13 außerdem ein hervorragendes Instrument, um den entlegeneren Dichtungsformen bei Fleming auf die Spur zu kommen. Die häufigsten Versmaße bei ihm sind durchaus die gängigen: Die Mehrzahl der Gedichte sind in Hexametern oder elegischen Distichen verfasst. Eine zweite große Gruppe machen die horazischen Metren aus: sapphische Strophe, alkäische Strophe, asklepiadeische Kombinationen, Epodenmaße.14 Insgesamt 23 Mal kommt der phaläkeische Elfsilber vor, 19 Mal stichische Hinkiamben; beides sind Metren, die in Catull-Tradition stehen. Es folgen Metren, die bei Plautus († 184 v. Chr.) oder in Senecas († 65) Tragödien vorkommen, etwa der trochäische Septenar.15 In die Spätantike und das Frühmittelalter gehören einige Metren des Rubella-Zyklus: der stichische Adoneus und der stichische iambische Dimeter. Bemerkenswert sind 15 Indizierungen »Fancy Metre«, die auf Stücke verweisen, in denen Fleming ausgefallene oder neu erfundene Metren und Verskombinationen verwendet. Von diesen 15 Beispielen betreffen die meisten die schönburgischen Zyklen: fünf die Arae Schoenburgicae und fünf die Taedae Schoenburgicae. Die Arae Schoenburgicae sind Trauergedichte (Epicedien) auf den Tod der Maria Juliane von Schönburg aus dem Jahr 1630. Die Taedae Schoenburgicae sind ein Zyklus mit Hochzeitsgedichten (Epithalamia) auf die Vermählung von 10 11 12 13
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Conrad Müller: Paul Fleming und das Haus Schönburg. Waldenburg 1939 (Mitteilungen des Fürstlich Schönburg-Waldenburgschen Familienvereins 6), S. 29. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 130f. Vgl. http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenahtdocs/camena.html [Dezember 2011]. Sylv. IX, 6 ist kein »Fancy Metre« sondern ein katalektischer trochäischer Tetrameter (nach CAMENA-Terminologie »Trochaic Septenarius«), was wegen Lappenbergs Abdruck in Halbversen schwierig zu erkennen ist. Arae Schoenburgicae 3 (Sylv. IX, 1, 3) steht »Glyconic Strophe« für unregelmäßigen Wechsel von je 7, 7 und 4 Glykoneen mit einem Pherekrateus, ähnliches gilt für Suavium 9 (Sylv. VIII, 9) mit 4, 3, 3, 3 Glykoneen und je einem Pherekrateus. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Sapphische Strophe 8 x, alkäische Strophe 5 x; asclepiadeum alterum 1 x (CAMENA: »Asclepiadean Strophe 3«); asclepiadeum quartum 3 x (CAMENA: »Asclepiadean Strophe 2«); I. Epodenmaß 9 x (CAMENA: »Iambic Strophe«); V. Epodenmaß 2 x (CAMENA: »Pythiambic Strophe 1«); VI. Epodenmaß 5 x (CAMENA: »Pythiambic Strophe 2«); VII. podenmaß 8 x (CAMENA: »Iambic Trimeter«). Eigentlich ein katalektischer trochäischer Tetrameter.
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Christian zu Wechselburg mit Agnes von Schönburg im Frühjahr 1631. Es gibt zu den Taedae (»Hochzeitsfackeln«) eine Vorrede mit einem kleinen poetologischen Programm (Sylv. IX, 3, praef.): Fleming benennt darin sein Vorbild, den spätantiken Autor Ausonius († nach 393), bekennt sich zu einer »Keckheit der Worte« (verborum petulantia) und entschuldigt seine Dichtung als »nicht ganz ernst gemeinte Kunstspielereien« (lusus artis minimae severae). Schon das ist manieristisch, denn Schnelligkeit und Leichtigkeit als positive ästhetische Kategorien stehen in Spannung zu der ganz ausgefeilten Wort- und Formkunst der Stücke.16 Als Beispiel sollen die abschließenden Verse 8 bis 14 des ersten Gedichts im Zyklus gelten. Um zunächst von der Form zu sprechen, die als »Fancy Metre« indiziert ist: Fleming nennt sein Gedicht an die Musen und Amor Ithyphallicum. Dieses Metrum gibt es; so wird ein trochäischer Dreifuß genannt, der mit einem anderen Versmaß kombiniert wird, vor allem von Plautus.17 Bei Fleming steht ein Glykoneus davor; das findet man so auch nicht bei Plautus. Das Vorbild ist also gerade noch erkennbar, aber Fleming nuanciert. Nec Jovis tonitru crepam, nec canam Gradivum. Quid boni inde fuat? Deum sed potentiorem omnibus mage dis canam. Quem? Cupidinillum. Huius uranimas faceis atque factiones expedibo. Sed heus, meae te volunt Camenae, magne pusio. Si voles scribier, venito et praei melos. Hoc quidem si nevis, tacebunt. (Sylv. IX,
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3, V.1,8–14)
Zur Erläuterung:18 Vers 9 die Form fuat steht nicht in den Grammatiken; sie ist eine alte Nebenform des Konjunktiv Präsens (sit), die sich vor allem bei Plautus findet, ein Archaismus also. Das Gleiche gilt für mage statt magis in Vers 10. Das von cupido gebildete Diminutiv Cupidinillus (›Amorlein‹, ›Putto‹) im selben Vers ist nach dem, was man weiß, eine Neubildung Flemings. Gleiches gilt für Vers 11 uranimas, ein Kompositum aus urere (›verbrennen‹) und anima (›Seele‹), also »seelenverbrennend«. Der Akkusativ Plural faceis statt faces in Vers 11 ist die archaische Form bei Nomina der i- und gemischten Deklination; viele Beispiele finden sich auch hier bei Plautus (etwa aureis). Expedibo statt expediam in Vers 12 findet sich bei Ennius († 169 v. Chr.), Plautus, Pacuvius († ca. 130 v. Chr.), den Altlateinern also. Auch die Formen des Infinitiv Passiv auf -ier gelten als altlateinisch: Vers 13 scribier statt scribi. Nevis in Vers 14 ist ebenfalls nicht die herkömmliche Form, auch sie steht mehrfach bei Plautus für non vis. 16 17
18
Vgl. Friedrich (Anm. 9), S. 45f. »Der Ithyphallicus (akatalektische Tripodie) erscheint als Klausel am häufigsten nach Kretikern […] aber auch nach Trochäen und Anapästen«; Caspar Hammer/Hugo Gleditsch: Rhetorik und Metrik der Griechen und Römer. München 31901 (Handbuch der klassischen Altertumswissenschaften III, 2), S. 265 (mit Nachweisen aus Plautus). Die Nachweise der abweichenden Formen finden sich bei Friedrich Neue/Carl Wagener: Formenlehre der lateinischen Sprache. 4 Bde. Berlin/Leipzig 31892–1905; fuat in Bd. 3, S. 600–602; mage in Bd. 2, S. 594f.; Akkusativ Plural auf -eis in Bd. 1, S. 383–393; expedibo in Bd. 3, S. 323; Infinitive auf -ier in Bd. 3, S. 223–235 und nevis in Bd. 3, S. 620.
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Insgesamt acht Abweichungen und Neubildungen muss man also erkennen oder erschließen, bis man diese sieben Verse des frühen Fleming übersetzen kann. Das Gedicht handelt davon, dass nach den Epicedien der Arae Schoenburgicae nun ein anderer Gegenstand besungen werden soll. Nicht mit dem Donner des Jupiter will ich dröhnen, nicht den Mars besingen. Was käme Gutes davon? Vielmehr will ich einen mächtigeren Gott besingen, größer als alle Götter. Wen? Das Amorchen. Seine seelenverbrennenden Fackeln und sein Treiben werde ich wachrufen. Doch ach, meine Musen brauchen Dich, großes Knäblein. Wenn Du bedichtet werden willst, komm und geh dem Lied voran! Willst Du das freilich nicht, werden die Musen schweigen.
Die episch-archaisierende Sprache steht im Kontrast zur erwarteten und angekündigten Leichtigkeit. Fleming will überraschen: durch das entlegene Metrum, durch die absonderlichen Wortformen, durch die Neubildungen, durch die Wendung des Gedankens. Vor allem in der Romania setzte sich zu Flemings Zeit eine Ästhetik des Concettismo durch, die – um von der Literatur zu sprechen – den Dichtern eine »elegant-tiefsinnige und zugleich staunenerregende, schockierende Ausdrucksweise« empfahl.19 Eine der Strategien des Concettismus ist die gesuchte, unerwartete Wortverbindung, die raffinierte Junktur. Um dies zu illustrieren, wird gern eine späte Theorieschrift des Concettismus angeführt: Il Cannocchiale Aristotelico des Italieners Emanuele Tesauro († 1675) trägt so einen Concettismus schon im Titel;20 Aristoteles und Fernrohr passen nicht zusammen, der Concettismus liegt hier im Anachronismus. Auch Fleming bringt in Vers 13 einen Concettismus: magne pusio (›großes Knäblein‹) ist ein sachlicher Widerspruch, oder in den Worten der traditionellen Rhetorik ein Oxymoron. Dieses Oxymoron wird effektvoll vorbereitet: Fleming lässt den antiken Götterhimmel aufziehen, Jupiter mit Blitzattribut, Mars mit seinem Epitheton gradivus (›der Schreitende‹), kündigt eine Überbietung an, verzögert noch einmal durch Nachfrage Quem? und löst dann im Diminutiv auf. Der Abstand zwischen »Stil und Sache [ist] ein übermäßiger«, zumal wenn man bedenkt, dass der Inhalt des Gedichts spärlich ist: Den Tod hab ich bedichtet, nun singe ich von der Liebe. Auch in der Genuslehre schont Fleming seine Leser nicht. Was ist selbstverständlicher, als dass grando, -inis (›der Hagel‹) Femininum ist, wie fortitudo, dulcedo und andere? In Sylv. III, 2 auf die Vertreibung des tillyschen Heers nach der Schlacht von Breitenfeld steht es aber mit ferratus (›eisern‹) in Kongruenz. Alle Versuche, der Stelle einen Sinn abzuringen, enden erst, wenn man nach abweichenden Genera sucht. Nach Angabe des spätantiken Fachschriftstellers Nonius Marcellus (4. Jahrhundert) hat Varro († 27 v. Chr.) grando einmal als Maskulinum verwendet, und Fleming gebraucht diese Ausnahme.21 Nonius Marcellus 19 20 21
Gustav René Hocke: Über Manierismus in Tradition und Moderne. In: Merkur 10 (1956), S. 336–363, hier S. 341. Emanuele Tesauro: Il cannocchiale Aristotelico, o sia idea delle argutezze heroiche vulgarmente chiamate imprese […], Turin 1654. Nonius Marcellus De compendiosa doctrina III, G: Grando generis feminini […] masculini Varro […] nec coruscus imber, alto nubilo cadens multus / grandine inplicatus albo; Nonii Marcelli De compendiosa doctrina libri XX. Bd. 1. Hg. v. Wallace M. Lindsay. Leipzig 1903. ND Hildesheim 1964, S. 306.
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war übrigens einer der Autoren, die Caspar von Barth in den Adversaria breit ausgeschrieben hat.22 Die Stelle bei Fleming kann man dann wieder verstehen: […] ferratus atque sons merentis / grando caput fodiat Liburni (›[…] und ein Eisenhagel soll sich in das schuldige Haupt des Kroaten bohren, der das verdient hat‹). Ebenso unerhört ist eine Bildung in den Taedae Schönburgicae 4 (Sylv. IX, 3, 4). Das Metrum dieses Stückes ist laut Überschrift ein Hyporchema, ein schnelles Tanzlied, welches nur aus Kürzen besteht. Für solch ein Metrum sind im Versinnern zahlreiche lateinische Wörter nicht zu verwenden, weil sie mindestens an einer Stelle eine lange Silbe haben. Das lateinische Wort für Finsternis gehört dazu; es besitzt ausschließlich Pluralformen mit langen Silben, ist ein sogenanntes plurale tantum: tenebrae, -arum. Fleming wusste – das ist selbstverständlich und aus anderen Gedichten auch ersichtlich –23 um diese Pluralform von tenebrae, doch setzt er sich wegen des Metrums darüber hinweg und verwendet den Singular tenebra. Bedenkt man, wie streng und reglementiert Metrik und metrische Tradition sind, empfindet man diesen Verstoß als ungeheuerlich. Doch auch hier konnte Fleming auf spätantik-frühmittelalterliche Autoren verweisen, die tenebra verwendet haben: Apuleius († ca. 170), Lucifer von Cagliari († 370/71), Venantius Fortunatus († ca. 600) und andere.24 Und so dichtete er Vers 5f.: Ruit oculitega, radiineca / opica tenebra pede citivolo (›Die augenbedeckende, strahlentötende, finstere Nacht bricht eilenden Fußes herein‹). Bei vielen Auffälligkeiten in Flemings Dichtung ist es bisher gelungen, entlegene Vorbilder zu benennen – das könnte man auch bei dem Graecolatinum opica (mehrfach bei Ausonius).25 Wie frei er aber sich auch über Traditionen hinwegsetzt, lassen drei andere Wörter in diesen zwei Versen erahnen: oculitega, radiineca, citivolo. Das sind sog. epische Komposita, die sich aus zwei nomina zusammensetzen, die mit einem Bindevokal i verknüpft werden. Citivolus gibt es noch vereinzelt bei mittelalterlichen Autoren, Heiric von Auxerre († 876/77) oder Iohannes Scotus Eriugena († ca. nach 877) etwa,26 die anderen beiden sind Flemings Neubildungen. Wie eine Klippe solle man ein neues Wort meiden, hat der Sprachpurist Cäsar einst gesagt;27 bei Fleming wird die Neubildung bisweilen zum Konzept.
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Caspar von Barth: Adversariorum commentariorum libri LX. Frankfurt 1624, S. [27] (Index generalis omnium scriptorum gentilium, quorum testimoniis utimur). Z. B. Sylv. IV, 7; V, 63. Neue/Wagener (Anm. 18). Bd. 1, S. 712. Vgl. Thesaurus Linguae Latinae. Bd. IX, 2. Leipzig 1968–1981. Sp. 702f. Heiricus Autissiodorensis Homiliae per circulum anni I, 11: […] extraque omnia citivolis theologiae pennis exaltatus […]; Heirici Autissiodorensis homiliae per circulum anni. Bd. 1. Hg. v. Richard Quadri. Turnhout 1992 (CCCM 116), S. 90; Iohannes Scotus Eriugena Expositiones in ierarchiam coelestem 13, 438: […] citivolam et altissimam extensionem […]; Iohannis Scoti Eriugenae expositiones in ierarchiam coelestem. Hg. v. Jeanne Barbet. Turnhout 1975 (CCCM 31), S. 178. C. Iuli Caesaris commentarii. Bd. 3. Hg. v. Alfred Klotz. Leipzig 1927, S. 178: tamquam scopulum sic fugias inauditum atque insolens verbum! (Überliefert bei Gellius.)
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Als Beispiel soll das vielleicht kühnste Gedicht in seinem lateinischen Œuvre dienen; zumindest aus lexikalischer Sicht muss das gelten, denn elf von zwölf Versen darin bestehen ausschließlich aus neugebildeten Wörtern, meist dreigliedrigen Komposita. Es findet sich wieder in den Taedae Schoenburgicae (V. 8) und richtet sich Ad Mortas »an die Totengeister«, schon das eine Neubildung. Eine deutsche Übersetzung kann man versuchen, weil das Deutsche zusammengesetzte Nomina kennt und frei verwendet. Varipediclaudae, confracticrurigradivae, gibbeidorsigerae, pellidraconiferae, hydrivenenilabrae, basilisciferocilacertae, tabidilumbimanae, collichimaerimitae, luminitorvituae, liventicolubrisusurrae, raucisonibaubae, linguibisulcifibrae, horricerasticomae, turpissimibusticolonae, imimedullivorae, crudicruoribibae, laneifilisecae, contortibipennitenentes, nullivirimiserae, cuncthominiiugulae, appagete, appagete hinc, pestes, estote nec umquam christianagnesisponsivenustinecae. (Sylv. IX, 3,) 8
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[Ihr Hinkfußhumpelnden, Bruchschenkelschreitenden, Buckelrückentragenden, Drachenhautbekleideten, Natterngiftlippigen, Wutbasiliskechsigen; Faullendenleichnamigen, Chimärenhalsartigen, Finsteraugschauenden, Blaßnatternzischenden, Rauhkeuchhustenden, Spaltzungenbergenden, Schlangenhaarstrotzenden, Ekelgrabhausenden, Innerstmarkverzehrenden, Rohbluttrinkenden, Spinnfadenschneidenden, Krummaxttragenden, Keinmannschonenden, Jedermannwürgenden hinweg mit euch, fort von hier, ihr Seuchen, und seid niemals ChristianAgnesenSchönpärchenstötende.]
Was Fleming da über den Gräbern aufsteigen lässt, sind lexikalische Verwachsungen, Wortungetüme, ein Totentanz zunächst missgebildeter, später (ab V. 8) immer bedrohlicherer Gestalten. Der daran gemessen einzig plane Vers 11 ist ein Abwehrzauber, elidierte Sprachmagie, bekannt durch die Exorzismusformel apage Satana. Das Gedicht ist gelungen: Die sprachliche Freiheit weiß Fleming für eine wunderbare Synthese von Inhalt und Wort, von res und verba zu nutzen; die lateinische Sprache wird in seinen Händen formbar und dienstbar gemacht, weil er die in ihr angelegten Wortbildungsmöglichkeiten zu nutzen weiß. Und das nun ist eigentlich – oben war es erwähnt – ein Charakteristikum der lateinischen Sprache der Scholastik, jener Sprachstufe also, an der die Sprachkritik des Humanismus sich einst entzündet hatte. Befragt man die lateinische Tradition, dann begeht Fleming Ungeheuerlichkeiten. Wie grotesk dreigliedrige lateinische Komposita gewirkt haben, das weiß man aus dem Komödientitel Horribilicribrifax des Andreas Gryphius († 1664). Es war schon verpönt, mit einem
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(sog. penthemimerischen) Einzelwort einen Halbvers zu füllen.28 Einen ganzen Vers mit zwei Wörtern zu ›stopfen‹ hat erst der spätantike Reisedichter Rutilius Namatianus einmal gewagt; sein Bellerophonteis sollicitudinibus gilt als »der einzige Pentameter der lateinischen Literatur, der nur aus zwei Wörtern besteht«.29 Dass dies nur stimmt, wenn man die lateinische Literatur im 5. Jahrhundert aufhören lässt, sieht man; aber es gilt: Nach Ausweis der Überlieferung hat es das bis zum 5. Jahrhundert nicht gegeben und auch danach erst wieder im Barock; die Traditionsbindung hat es nicht anders zugelassen. Und Fleming überbietet sogar das. Schaut man genauer hin, dann haben neun der zwölf Verse Binnenreim; dieser sog. leoninische Reim galt den Humanisten als dunkle mittellateinische Verirrung. Der gewagteste Kunstgriff aber ist es, den letzten Pentameter mit einem Wort zu füllen. Die Bestandteile sind gut zu erkennen: Christian heißt der Bräutigam, Agnes die Braut, die beiden bilden ein Pärchen sponsi, und zwar ein schönes venustus, welches der Tod nex nicht bedrohen soll: Christianagnesisponsivenustinecae. Christian und Agnes von Schönburg durften sich rühmen, Wortbestandteil des ersten lateinischen Pentameters aus einem Wort geworden zu sein – so zumindest der momentane Kenntnisstand –, und Fleming ist dort angekommen, wo die Sprachkunst an ihre natürliche Grenze stößt. In dieser Entwicklung ist die nächste klassizistische Reaktion schon angelegt. Dass sich hinter solcher Darbietung nicht nur Freude am Wortspiel, sondern ernsthafter Ausdruckswille verbirgt, sei abschließend noch einmal belegt. An dem spätantiken Autor Aurelius Prudentius Clemens († nach 405) war zu lernen, wie man in der lateinischen Dichtung einen abbildenden Stil umsetzte, d. h. wie man mit den Mitteln des Metrums und des einfachen rhetorischen Schmucks, etwa der Wortbildung und Lautmalerei, den Inhalt sprachlich reproduzierte. Noah hatte nach dem Abschwellen der Fluten zuerst einen Raben aus der Arche entsandt (Gen 8,6f.), der nicht wieder heimgekehrt war. Wo hatte sich dieser niedergelassen? Die Bibel gab darauf keine Antwort, weshalb schon in der Väterzeit eine Deutung die Lücke füllen musste:30 Der (schwarze) Rabe hatte sich an schwimmenden Kadavern sattgefressen, die (weiße) Taube pflichtgetreu das Friedenszeichen zur Arche getragen. Prudentius dichtet: 28
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Zum Gebrauch solcher Wortformen vgl. den Aufsatz von Max Bernhard. Die penthemimerischen Wortformen im griechischen und römischen Pentameter. In: Philologus 84 (1929), S. 10–34. Rutilius Claudius Namantianus: De reditu suo sive Iter Gallicum. Hg. v. Ernst Doblhofer. Bd. 2: Kommentar. Heidelberg 1977, S. 206 (freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Reinhard Düchting, Heidelberg); die wichtige Studie von Bernhard (Anm. 28) hat Doblhofer zitiert; er hätte darin Flemings Gedicht finden können; Caspar von Barth hat übrigens 1623 eine eigene Namatian-Edition herausgegeben. Augustinus Quaestiones in Heptateuchum Gn, 13: Quod scriptum est dimissum esse corvum nec redisse et dimissam post eum columbam et ipsam redisse, quod non invenisset requiem pedibus suis, quaestio solet oboriri, utrum corvus mortuus sit an aliquo modo vivere potuerit. Quia utique, si fuit terra ubi requiesceret, etiam columba requiem potuit invenire pedibus suis. Unde conicitur a multis, quod cadaveri potuit corvus insidere, quod columba naturaliter refugit; Sancti Aurelii Augustini Quaestionum in Heptateuchum libri VII Locutionum in Heptateuchum libri VII De octo quaestionibus ex Veteri Testamento. Hg. v. Jean Fraipont. Turnhout 1958 (CCSL 33), S. 5.
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Nuntia diluvii iam decrescentis ad arcam ore columba refert ramum viridantis olivae. Corvus enim ingluvie per foeda cadavera captus haeserat; illa datae revehit nova gaudia pacis. (Prudentius Dittochaeon 3)31 [Als Botin der schon abschwellenden Fluten bringt die Taube im Schnabel einen Zweig des ergrünten Olivenbaums zur Arche zurück. Der Rabe war nämlich von Fresssucht besessen auf den grässlichen Leichen hängengeblieben; sie aber führt das Freudenzeichen des erneuerten Friedens heim.]
In den letzten beiden Versen findet man die Elemente des abbildenden Stils: Gut hörbar ist das Würgegeräusch des Raben, welches Prudentius durch die Elision von enim mit dem in klassischer Literatur seltenen ingluvies nachahmt. Es war zweitens Konvention, dass ein syntaktischer Einschnitt nur in Ausnahmen mit einem Fußende, etwa mit dem Ende eines Daktylus zusammenfallen durfte, denn dann entstand dort keine Zäsur, sondern ein markanterer Einschnitt, eine Diärese; der Vers klapperte, stockte. Prudentius nutzt das: Er lässt nach haeserat den Vers hängenbleiben, genau wie der Rabe auf den Leichen ›hängengeblieben‹ war, und beschleunigt gleich darauf mit flinken Daktylen wieder, um den schnellen Rückflug der Taube einzufangen. Eine Möglichkeit der Abbildung konnte es also sein, gegen die Konvention zu verstoßen und ein Signal an den Leser zu geben. So eine Grenzüberschreitung war – wie gehört – auch der Einsatz einer penthemimerischen Wortform. Prudentius überschritt die Grenze selten; in Apotheosis 863 verwendete er einmal solch ein übermäßiges Wort, um den zu umreißen, der nicht mit Worten zu beschreiben ist: incircumscriptus Dominus, sed tradita forma est.32 Fleming hat nicht nur diesen Vers gekannt, sondern auch die Abbildung des Prudentius aufgegriffen und überboten. Am 1.februar 1631 kam er zu der hohen Ehre, eine eigene Bibeldichtung vor der versammelten Leipziger Professorenund Studentenschaft vortragen zu dürfen. Gegenstand war die Geburt des Herrn (Sylv. IX, 2; Iesu Christo sacrum natalicium), ein Mysterium, das auch mit den stärksten Mitteln der Sprache nicht zu fassen war. In Vers 458 wird die Gottesmutter apostrophiert: ›Den unumschränkten und unermeßlichen, den Herrn hältst du Reine umschlossen […].‹ – Incircumscriptumque incompraehensibilemque / intemerata capis Dominum […].33 Erneut ist jenes Übermaß an Kunst belegbar, das Kennzeichen des Manierismus ist: Fleming überschreitet die festgelegten Grenzen nicht nur mit dem penthemimerischen incircumscriptus des Prudentius, sondern mit einem zweiten übermäßigen Wort. Über das Vorbild hinaus gelingt es ihm, die Unermesslichkeit Gottes abzubilden und den Kontrast zu der irdischen Enge, mit der die Gottesmutter den Herrn umfängt, zu schärfen. Das ist ein Ma31 32 33
Aurelii Prudentii Clementis carmina. Hg. v. Maurice P. Cunningham.Turnhout 1966 (CCSL 126), S. 390. Ebd., S. 107; ich finde außerdem Contra Symmachum I, 385: amphitheatralis spectacula tristia pompae; ebd., S. 199. Eigentlich wäre incomprĕhensibilis im daktylischen Metrum nicht verwendbar; Fleming nimmt sich die (übrigens in Hss. oft anzutreffende) Lizenz, durch Diphthong zu ersetzen und so die Silbe zu längen.
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nierismus, der der Verdeutlichung, der Eindringlichkeit dient und dem Publikum einen hohen ästhetischen und intellektuellen Reiz geboten haben muss. Fleming folgt in seiner manieristischen Dichtung natürlich einer Schule. Einmal hat er in dem vielbesprochenen Gedicht Sylv. I, 4 (Satyra) das gegenüber Kritikern geltend gemacht und dabei (V. 64) die Exponenten seiner Dichtungsauffassung benannt: die beiden Scaliger (Julius Caesar † 1558; Joseph Justus † 1609), Friedrich Taubmann († 1613), Caspar von Barth, Daniel Heinsius († 1655). Insbesondere von Barth wird einen erheblichen Einfluss ausgeübt haben; auf seine Anregung dürften Flemings Experimente mit mehrgliedrigen Komposita zurückgehen; man kann das in Barths Amphitheatrum sapientiae nachprüfen.34 Caspar von Barth hat »Dichtung als angewandte Philologie« exerziert,35 und auch für den frühen Fleming gilt dieser Hang zu einer – das ist nicht abwertend gemeint – philologischen Poesie. Dass Fleming in seinem lateinischen Werk später davon abgerückt ist, wird gern mit der deutschen Dichtung erklärt. Die engen und enger werdenden Möglichkeiten in der lateinischen Dichtung hätten auf das weitgehend unbestellte Feld der muttersprachlichen Dichtung gelenkt und den Innovationsdruck im lateinischen Werk abgebaut. Es gilt aber auch zu bedenken, dass solche manieristische Sprachkunst nur ein bestimmtes Publikum angesprochen haben kann. Fleming hat Zeit seines Lebens nur sechs eigene, größere lateinische Drucke herausgegeben, fünf in Leipzig, einen in Reval,36 und ausgerechnet die Leipziger Drucke sind die stärksten Zeugnisse seiner manieristischen Stilhaltung. Der Grund ist meines Erachtens ein denkbar einfacher: Hier gab es das Publikum dafür, ein akademisch gebildetes, in aktuellen Stilfragen geschultes und mit Sprachkenntnis begabtes Publikum, das allein Geschmack an diesen außerordentlichen Erzeugnissen neulateinischer Kunstdichtung haben konnte. Auf der Reise zahlt Fleming in kleinerer Münze, auch da souverän und mit teils wunderbaren Ovidimitationen. Er war ein typischer Vertreter einer umfassend gebildeten Gelehrten- und Dichtergeneration, die über Sprache, Formen und Stilistik der gesamten Latinität verfügte; die lateinische Dichtung hat dieses Niveau seitdem nicht mehr erreicht.
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Dort das Gedicht VIII, 8 (Fama); Caspar von Barth: Amphitheatrum Sapientiae. Hanau 1613, S. 145. Hoffmeister (Anm. 2), S. 43. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1490–1513, Nr. 3, 6, 8.1, 17, 21 u. 62.
Thomas Borgstedt
Eleganz und Intimität Zu Paul Flemings Petrarkismus
1. Was ein Poëte kan? Das Thema des Petrarkismus ist seit langem eng mit der Lyrik Paul Flemings verbunden. Gleichwohl ruft es mehr Fragen hervor, als es Antworten zu liefern scheint. Die Frage nach Flemings Petrarkismus thematisiert nämlich nicht nur einen einfachen Traditionsbezug. Sie bündelt vielmehr eine Fragestellung, die ins Herz der zeitgenössischen Poetik zielt, und die speziell im Blick auf die Gedichte Flemings die Gemüter nach wie vor bewegt: Wie verhält sich der für die Literatur dieser Zeit dominante Traditionsbezug zur möglichen Eigenständigkeit der Texte? Wie ist es zu bewerten, dass gerade die Gedichte Flemings nicht nur die Zeitgenossen, sondern viele nachfolgende Generationen und Epochen weiterhin anzusprechen vermochten? Was macht die literarische Qualität dieser Gedichte aus? Und wie verhält sich solche Besonderheit zur Fortschreibung literarischer Traditionen wie etwa der des Petrarkismus? Mein Schall floh überweit!1 – Schon Fleming selbst schien zu wissen, wovon hier die Rede ist. Er ruft mit diesen Worten nicht einmal den Topos des Nachruhms auf. Trotz seiner jungen Jahre hatte er bereits seine Zeitgenossen zu begeistern vermocht, und darum wusste er offenbar. Schwerer ist dies für uns zu greifen, die wir dafür einen wissenschaftlichen Begriff zu finden versuchen. So schleichen wir uns durchs Hintertürchen herein, indem wir die ›Konstruktion des Autors‹ über seine Rezeptionsgeschichte rekonstruieren. Aber müssten uns nicht auch die Texte selbst Auskunft geben können? Was macht diese aus? Wo springen sie heraus aus dem Erwartbaren? Und täuscht uns zugleich nicht einfach das, was einer modernen Sichtweise kompatibel erscheint, über die zeitgenössisch relevanteren, traditionsorientierten Motive hinweg? Lange Zeit empfahl sich der scheinbar so subjektivistisch-romantische Zug diese Dichtung einer goethezeitlich inspirierten Philologie. Heute vermuten wir eher im artistisch-illusionistischen Gestus des Barock eine Affinität zu unseren postmodernen Befindlichkeiten. Um die Berechtigung solcher interessierenden Wahrnehmungen zu ermessen, ist allerdings neben den Affinitäten zu modernen Sichtweisen stets auch auf die Differenzen zu achten und es ist zu fragen, worauf solche Affinitäten beruhen und wo die Wurzel jener Aktualisierbarkeit liegt. 1
Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg [...]. In: TP 670, V. 4. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band..
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Für Hans Pyritz, den Doyen der auf Fleming bezogenen Petrarkismus-Forschung, ließ sich der Sachverhalt noch klar sortieren.2 Flemings Petrarkismus galt ihm als traditionsverhaftet und wenig eigenständig. Demgegenüber entwickelte Fleming laut Pyritz einen ›eigenen Ton‹, der sich durch Subjektivität, stilistische Schlichtheit und Innerlichkeit auszeichnete, und den er aufs Konto biographischer Erfahrungen und ›Erlebnisse‹ rechnete. Diese Konstruktion setzt eine biographische Abfolge voraus, nach der auf eine frühe, traditionsorientierte und eben häufig petrarkisierende Dichtung eine spätere, reife, subjektiv und emotional geprägte, hochwertige Poesie folgte. Dies ist natürlich eine biographische Fiktion, die seit langem wissenschaftlich nicht mehr akzeptiert wird. Gleichwohl ist an den stilistischen und thematischen Beobachtungen von Pyritz etwas dran. Stimmt allerdings auch der stilistische Kontrast? Ist der flemingsche Petrarkismus tatsächlich derart unselbständig und literarisch uninteressant, wie Pyritz suggeriert, und taugt er überhaupt als Kontrastprogramm zu einem moderneren Fleming? Im Konzept von Pyritz steckt nicht nur eine nachromantische Deutung der flemingschen Liebesdichtung, sondern auch eine moderne Petrarkismus-Verachtung, die zu hinterfragen ist. Trägt also der Kontrast von Petrarkismus und Innerlichkeit überhaupt?
2. Barocker Petrarkismus Gibt es eigentlich einen guten Petrarkismus? Für die ältere Forschung war diese Frage im Grunde negativ beantwortet.3 Der Petrarkismus war der Inbegriff einer imitatio-orientierten Poesie. Damit stand er dem auf Originalität und Autonomie verpflichteten modernen Dichtungsideal grundsätzlich entgegen. Diese epochale Abwertung der imitatorischen Tradition ist seit langem obsolet, und doch scheint sie nicht völlig ausgeräumt. Noch das große moderne Interesse an der Kategorie der aemulatio – als einer besseren, kreativeren Nachahmung – spiegelt eine geheime Verachtung jenes vormodernen imitatio-Programms, das man sich als Ideal scheinbar nur noch schwer vorstellen kann. Letztlich liegt aber ähnliches natürlich jedem Klassizismus zugrunde. Die imitatio-Empfehlung ist ein historisches Mittel zur Qualitätssteigerung der Literatur. Einer heruntergekommenen Gegenwartsliteratur werden in der Renaissance Vorbilder der Vergangenheit zur Orientierung vorgehalten. Dem liegt die plausible Idee zugrunde, dass, wer sich Mühe gibt, wie Cicero zu schreiben, kein ganz schlechtes Latein schreiben werde. Als Pietro Bembo die volkssprachliche Lyrik am Beginn des 16. Jahrhunderts am Vorbild des Petrarca auszurichten unternahm, richtete sich dies gegen die scherzhafte und burleske höfisch-gesellige Lieddichtung der Zeit. Bembo verfolgte eine sprachliche und stilistische Anhebung und Verfeinerung der Dichtung, die sich unmittelbar in die klassizistischen Tendenzen der italienischen Hochrenaissance 2 3
Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963. Vgl. stellvertretend Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a. M. 1964, S. 311ff.
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fügte. Der klassische Petrarkismus war in der Sache idealistisch, sprachlich gereinigt und hochsubtil, und brachte das Programm einer Steigerung des poetischen Niveaus erfolgreich auf den Weg.4 Ein klassizistisches Kunstideal hat allerdings eine entscheidende Schwäche, und die betrifft seine Statik. Indem es an einem feststehenden Modell ausgerichtet wird, ist es unbeweglich, wenn man es orthodox betreibt. Der Spott auf den Ciceronianismus – etwa im Ciceronianus des Erasmus von Rotterdam5 – ebenso wie auf den Petrarkismus – etwa im parodistischen Antipetrarkismus eines Francesco Berni6 – macht dies deutlich sichtbar. Auch die beeindruckendsten Beispiele petrarkisierender Lyrik der Frühen Neuzeit sind aber natürlich alles andere als orthodox. Den klassizistischen Programmen schreibt sich vielmehr fast naturwüchsig die Ketzerei ein: satirische Verspottung, kunstvolle Anpassung an veränderte Zeitgegebenheiten, eine historisch wandelbare Heterodoxie im Vergleich zu den ursprünglich orthodox-klassizistischen Entwürfen. Dies ist das Merkmal des europäischen Petrarkismus bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts, und umso mehr im 17. Jahrhundert, als der Petrarkismus auf breiter Front von deutschen Autoren importiert wird.7 Es ist mithin kein Zufall, dass Martin Opitz seine Reihe von petrarkistischen Beispielsonetten im Buch von der Deutschen Poeterey mit dem antipetrarkistischen Tyndaris-Sonett eröffnet.8 Opitzens Interesse am Petrarkismus scheint hauptsächlich technischer Natur zu sein. Als ›wetzstein des verstandes‹ legitimiert er sein Tun.9 Mit dem ideologischen Ballast des ursprünglichen Renaissance-Petrarkismus, mit dem höfischen Erbe der Minnethematik, mit dem konstitutiven Kontrast von Affekt und Norm befasst er sich kaum noch.10 Jörg-Ulrich Fechner 4
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Einführend in die Thematik des Petrarkismus: Gerhard Regn: Art. Petrarkismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 911–921; Thomas Borgstedt: Art. Petrarkismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin/New York 2003, Sp. 59–62; ders.: Petrarkismus. In: Petrarca. 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck. Hg. v. Reiner Speck u. Florian Neumann. Köln 2004, S. 127–151; sowie immer noch lesenswert: Leonard Forster: Petrarcas Dichtweise. Eine Einführung. In: Ders.: Das eiskalte Feuer. Sechs Studien zum europäischen Petrarkismus. Übers. v. Jörg-Ulrich Fechner. Kronberg/Ts. 1976, S. 9–47. Erasmus von Rotterdam: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive De optimo dicendi genere. Der Ciceronianer oder der beste Stil. Ein Dialog. Übers., eingeleit. u. mit Anmerkungen versehen v. Theresia Payr. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lat. und dt. hg. v. Werner Welzig. Darmstadt 1967, S. 2–355. Vgl. dazu Ulrich Schulz-Buschhaus: Spielarten des Antipetrarkismus bei Francesco Berni. In: Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen. Akten des Kolloquiums an der Freien Universität Berlin, 23.10.–27.10.1991. Hg. v. Klaus W. Hempfer u. Gerhard Regn. Stuttgart 1993, S. 281–332. Vgl. zum deutschen Petrarkismus Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, S. 269–362; Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966. Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2006, S. 56f. Ebd., S. 21. Vgl. zum Kontrast von Affekt und Norm Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ›Parte prima‹ der ›Rime‹ (1591/1592). Tübingen 1987, S. 52; sowie Borgstedt: Topik des Sonetts (Anm. 7), S. 273ff.
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hat deshalb die gesamte Petrarkismus-Rezeption der deutschen Literatur mit dem pauschalen und insgesamt eher irreführenden Prädikat des »Antipetrarkismus« belegt.11 Gemeint ist damit, dass die höfische Unerreichbarkeit der Dame und ihre idealisierende Besetzung unter der Voraussetzung protestantischer Ehevorstellungen nicht mehr akzeptabel erscheint, dass in der Liebe auf prononcierte Weise Reziprozität eingefordert ist und die alten Konzepte satirischem Spott verfallen. In diese Sparte eines satirischen Antipetrarkismus gehört auch Paul Flemings Sonett An Chrysillen: An Chrysillen GOldt ist dein treflichs Haar / Goldt deiner Augen-Liecht / Goldt dein gemahlter Mund / Goldt deine sch=ne Wangen / der Halß / die Brust / der Leib / und was uns macht Verlangen / Goldt ist die Rede selbst / die deine Zunge spricht / die auch gantz gFlden ist. – – – – – Ach! dass sich doch mein Hertz an dieses Goldt gehangen? Goldt suchet iedermann. Goldt l(sst sich noch erlangen. Dich / du deß Goldes Goldt kan ich erlangen nicht. Chrysille / gFldnes Bildt / und gFldner noch / als Goldt / dein mehr als gFldner Preiß ist mehr als Goldt verzollt. Diß hat nicht so viel Goldt in allen seinen Sch(tzen. So viel nicht Jupiter / der alles Goldt auf k(ufft. Wenn du dich h(ltst so hoch / als sich dein Werth bel(ufft / So kan dich niemand nicht / als du dich selbst bezahlen.12
Der artistisch-technische Charakter dieses Sonetts ist auf den ersten Blick zu erkennen. Es steht in der Tradition des petrarkistischen Schönheitspreises, was an der Abfolge der aufgerufenen Körperteile Haar, Augen, Mund, Wangen usw. sichtbar wird. Das artistische Vorbild ist Petrarcas Sonett Canzoniere 205, Dolci ire, dolci sdegni et dolci paci, wo sich die ›dolce‹ und ›dolci‹ im ersten Quartett zehnfach wiederholen.13 Darüber hinaus fällt auf, dass das in Deutschland übliche französische Reimschema des Sonetts am Schluss durchbrochen wird, indem der letzte Vers ohne Reim bleibt: bezahlen reimt nicht auf Schätzen in Vers 11. Die antipetrarkistische Pointe erstreckt sich also auch auf den Reim: Die hier beschriebene Schönheit bleibt ungereimt, ähnlich, wie es viel später in dem recht bekannten Ungereimten Sonett von Christian Gryphius für alle Verse durchgeführt wird.14 Den Witz des Texts bildet die 18-fache Wiederholung der Prädikate gülden und Gold. Diese greift nicht nur das Petrarca-Modell aus dem dolce-Sonett auf und übersteigert es, es führt insgesamt die petrarkistische Preziosenmotivik und hyperbolische Metapherntechnik auf kunstvolle Weise ad absurdum. Ähnlich wie in Opitz’ 11 12 13 14
Fechner (Anm. 7). TP 642. In Flemings Sonett fehlt in Vers 5 ein Halbvers; es ist unfertig geblieben. Vgl. auch Borgstedt: Topik des Sonetts (Anm. 7), S. 304f. Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. und komm. v. Marco Santagata. Mailand 1996, S. 866. Christian Gryphius: Poetische Wälder. Faksimiledruck der Ausgabe von 1707. Bern [u. a.] 1985, S. 826; dazu Borgstedt: Topik des Sonetts (Anm. 7), S. 405.
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Tyndaris-Sonett sind die Gold-Zuschreibungen auch hier zunehmend kontraproduktiv. Goldene Haare sind zwar orthodox petrarkistisch vorgegeben, nicht aber goldene Augen, ein goldener Mund oder gar eine goldene Zunge. Und dass sich das Herz des Dichters an solches Gold gehangen haben sollte, wäre moralisch klar verfehlt. Der Sprecher dieses Gedichts hängt sich nicht an solches Gold. Dass es im Schlussvers ums Bezahlen geht, spielt vielmehr das Gold der Chrysille schließlich vollends ins ungereimte Feld der Prostitution und negativiert somit ihre Schönheit in moralischer Hinsicht. Das vorliegende Sonett zeigt aber noch ein anderes charakteristisches Merkmal des zeitgenössischen Petrarkismus, und zwar hinsichtlich seiner stilistischen Gestaltung. Ulrich Schulz-Buschhaus hat darauf hingewiesen, dass die Sonettgestaltung bei Opitz einer typisch barocken Stiltendenz folgt, die er mit den Stichworten ›Emphase und Geometrie‹ umschrieb, und die dem ursprünglichen Stilideal italienischer Renaissancedichter unmittelbar zuwiderläuft.15 Ihren Ursprung sieht Schulz-Buschhaus in der zunehmenden Orientierung der Sonettform an der pointierten Struktur der Epigrammdichtung, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts um sich greift, und der daraus hervorgehenden argutezza-Stilistik. Ideologisch entspricht dem eine Abwendung von den dominant ästhetischen Maßgaben der Renaissancedichtung und eine zunehmende Betonung inhaltlicher, moralischer und religiöser Zielsetzungen in einem zunehmend rhetorisch verstandenen Horizont der Poesie. Stilistisch werden dabei die rhetorischen Mittel intensiviert und ausgestellt. Die Dichtung wird auf eine Weise rhetorisch ›laut‹, die einem italienischen Renaissancepoeten als affettazione, als unangemessene Künstelei erschienen wäre. Genau dies charakterisiert auch das vorliegende Sonett. Es ist insgesamt extrem parataktisch strukturiert. Das erste Quartett eröffnet eine Abfolge von vier anaphorischen Hauptsätzen, die mit Gold beginnen und die jeweils die Alexandriner-Halbverse bilden. Syntax und Versstruktur stimmen überein und rhythmisieren die Quartette deutlich. Der Text hämmert sich in raschen Rhythmen ein, wirkungsvoll und wenig subtil: Emphase und Geometrie im Sinn von SchulzBuschhaus bilden die Stilprinzipien auch dieses Gedichts. Am Übergang zu den Terzetten wird der Rhythmus noch erhöht, indem die Prädikate Gold und gülden nun nicht mehr in anaphorischer Position stehen, sondern in dichtester Folge wiederholt werden: in Vers 9 nicht nur zwei-, sondern dreimal, und dabei sogar in Reimposition. Die Pointe in den letzten beiden Versen wird schließlich dadurch betont, dass das Schlüsselprädikat Gold hier plötzlich nicht mehr vorkommt und dann sogar der Reim ausbleibt. Emphase und Geometrie sind mithin das zentrale Kennzeichen auch dieses Sonetts. Es ist antipetrarkistisch motiviert, was bei Fleming nicht sehr oft vorkommt. Es stellt eine Antwort auf das Tyndaris-Sonett von Opitz dar, sehr barock, sehr rhetorisch, sehr artistisch – aber nicht sehr typisch für Paul Fleming.
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Ulrich Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie. Notizen zu Opitz’ Sonettistik im Kontext des europäischen ›Petrarkismus‹. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 68–82.
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3. Epigrammatisierung und Eleganz Ein entscheidendes Merkmal des barocken Petrarkismus bildet wie bereits angedeutet die Orientierung an der Poetik des Epigramms. Diese überformt im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts nicht nur die Sonettpoetik, sondern auch die Poetik des Petrarkismus. Im Sonett gewinnt die Ausrichtung auf die abschließende Pointe die Oberhand über die Binnenstruktur. Darauf verweisen schon die neuartigen Reimschemata in Frankreich und in England. Die französischen orientieren sich an der einheimischen Epigrammtradition, indem sie mit den Paarreimen in den Terzetten das Reimschema der Quartette möglichst gleichförmig fortsetzen – am liebsten ccd eed. Die englischen Schemata betonen vollends die epigrammatische Pointe des Sonetts, indem sie es auf einem Paarreim schließen lassen, dem heroic couplet. Doch auch thematisch zeigt sich der Wandel. Besonderes Interesse gewinnt der epigrammatische Objektbezug, die Andichtung von Dingen, Geschenken, Personen und vielem mehr. In der petrarkistischen Tradition konzentriert sich dieser Objektbezug vor allem auf die von Petrarca überkommenen Schönheitsaccessoires der Dame. Zunächst sind das die für ihre Schönheit verantwortlichen Körperteile: Petrarca zelebriert die Augen, die Haare, die Hand oder den Fuß der schönen Dame. Hinzu kommen bestimmte Accessoires, Dinge, die sie umgeben und die auf ihre Schönheit Bezug haben, bei Petrarca insbesondere der Schleier, der Kamm, der Spiegel. Nichtorthodox – weil nicht durch Petrarca gedeckt16 – sind eine Reihe anderer Accessoires, die ein zunehmend scherzhafter oder ironisierender Petrarkismus hinzuerfand, etwa die Haarnadel oder gar eine Brille. Nichtorthodox ist natürlich auch Paul Flemings Sonnenschirm: Auff den Sonnenschirm NIcht / daß sie den Verdruß der Sonnen ihr benehme / braucht meine Sonne dich / O du der Sch=nheit Schutz / und Zaum der fremden Glut. Nein. Dieses ist dein Nutz / daß sich die Sonne nicht fFr ihrer Klarheit sch(me / und sich nicht etwa kranck und gar zu tode gr(hme / fFr derer Trefligkeit / die ihrer auch beut Trutz. DrFm setzt sie dich vor sich. Dein frommer Schatten thuts / daß du dem Himmel selbst und ihr auch bist bequ(hme. So bleibt die Sonne klar / und ihre Sch=nheit gantz. Durch dich / O Schiedemann / hat iedes seinen Glantz. Ach / daß du solchen Dienst mir woltest nicht verschm(hen. Tritt zwischen mich und sie. Ihr allzustarckes Liecht kan mein verblendter Schein durchaus vertragen nicht. Welchs sterblichs Auge kan in diese Sonne sehen?17
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Es handelt sich um ein epigrammatisierendes Accessoire-Gedicht, wie es Hans Pyritz als besonders uninspiriert und gekünstelt erschienen ist; eine belanglose 16 17
Vgl. dazu Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik (Anm. 10), S. 50ff. TP 653.
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Spielerei, sonst nichts. Man kann in diesem Zusammenhang feststellen, dass der pyritzsche Affekt gegen den Petrarkismus bei Fleming sich insbesondere gegen die epigrammatische Charakteristik der Gedichte richtet. Wo er besonders epigrammförmig ist, gilt der Petrarkismus als besonders uninteressant. Das aber trifft besonders den Petrarkismus des Barockzeitalters. Das vorliegende hübsche Gedicht zeigt aber noch ein paar andere Merkmale. Zunächst einmal arbeitet auch dieses mit Wiederholungen der zentralen Motive der Sonne (in den V. 1, 2, 4, 9 u. 14) und der Schönheit (Verse 2 und 9), allerdings sehr viel dosierter als das vorherige Beispiel. Die Periodenführung unterscheidet sich dagegen erheblich von jenem. Die Sätze führen von Beginn an über mehrere Verse hinweg. Vers 1 startet mit einem auffälligen Enjambement zum zweiten Vers und auch die Alexandrinerzäsur in der Mitte des Verses wird überspielt. Dies bewirkt eine Gegenläufigkeit von Syntax und Versstruktur und konterkariert den Versrhythmus. Es folgt eine noch längere Periode über vier Verse hinweg (V. 3–6) mit weiteren Enjambements auch über den Quartettübergang hinweg (nach den Versen 4 und 5). Auch hier sind die Zäsuren des Alexandriners in Vers 4 und 5 überspielt. Mit den beiden konträr gesetzten Perioden schließt das Argument am Ende von Vers 6 in der Mitte des zweiten Quartetts. Die Kontraststellung der ersten zwei Sätze wird durch das dazwischen gestellte Nein noch markant betont. Die folgenden vier Verse (7–10) fügen sich der Versstruktur stärker ein. Dabei bilden die beiden ersten paargereimten Terzettverse zwei kurze Sätze mit betonter Zäsur, die das spielerische Argument pointiert zusammenfassen und objektiviert formulieren: »So bleibt die Sonne klar / und ihre Schönheit gantz. | Durch dich / O Schiedemann / hat iedes seinen Glantz.« Man könnte meinen, dass das auf das Accessoire des Sonnenschirms bezogene ›Epigramm‹ an dieser Stelle schließt, doch dies ist nicht so. Die vier letzten Verse der Terzette, die durch die Reimordnung mit deed gleichsam ein eigenes Quartett bilden, bringen das Sprecher-Ich ins Spiel und sprechen das angedichtete Objekt direkt an. Sie sprechen nicht mehr über den Sonnenschirm, sondern mit ihm: »Tritt zwischen mich und sie« (V. 12). Die Periodenführung überspielt wieder Zäsuren und Versgrenzen. Der Takt wird verlangsamt, die vielschichtige Satzmelodie gewinnt die Oberhand, was dem Gedicht Charme verleiht. Die Geometrie aber, die rhythmisch ausgestellte Rhetorik, ist zurückgenommen. Die Sonettstruktur ist eigenwillig interpretiert, die Epigrammcharakteristik gleichsam verdoppelt, die Sonetteinteilung dabei überspielt. Die Pointe, wonach der Sonnenschirm den Dichter vor der Schönheit der Dame beschützen soll, hyperbolisiert diese Schönheit zwar, verweist aber auch auf eine körperliche Nähe zur Dame, die nicht ursprünglich petrarkisch ist. Dabei verkehrt es den Zweck des petrarkistischen Accessoires in sein Gegenteil: dient dieses gewöhnlich dazu, substitutiv und fetischhaft Nähe zur körperlich unerreichbaren Dame herzustellen, so soll es hier eine rettende Distanz schaffen. Es handelt sich um eine beinahe unscheinbare Pointe, die das Subjekt ins Spiel bringt. Fleming folgt in diesem Sonett dem Zug zum Epigramm. Die sprachlichen Mittel indes, die er anwendet, folgen keineswegs einer parallelen Tendenz zu
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Emphase und Geometrie, sondern sie reduzieren den ornatus. Sie halten sich mit Metaphern zurück, gerade auch mit hyperbolischen. Es findet sich keine Mythologie, wir bewegen uns auf einer mittleren Stilebene. Zum Einsatz kommt ein alltagssprachliches Lexikon. Schulz-Buschhaus beschreibt eine solch zurückgenommene Rhetorik bei gleichzeitigem verstärktem Einsatz von Enjambements als Merkmal eines hohen, am höfischen Ideal der sprezzatura orientierten Stils italienischer Renaissancepoeten wie Giovanni Della Casa. Damit ist hier nicht weitergeholfen, denn auf höfische ›Lässigkeit‹ zielt der Charakter von Flemings Dichtung nicht. Sprachliche Eleganz allerdings strahlt er aus. Es handelt sich um ein barockes Epigrammsonett in wenig barocker Sprache. Das Ergebnis erscheint reizvoll und von einiger poetischer Qualität.
4. Epigrammatisierung und Intimisierung Pyritz hat Fleming wohl deshalb als exemplarischen Petrarkisten ausgemacht, weil dieser viel Freude an solchen epigrammatischen Accessoire-Sonetten hatte. Nicht nur der Sonnenschirm, die güldene Haarnadel, Armbänder und Ringe, Preziosen aller Art haben es ihm angetan. Streng genommen hält sich der Petrarkismus solcher Gedichte in Grenzen. Es sind Epigrammsonette, die sich motivisch beim Petrarkismus ein wenig bedienen. Genau so allerdings sieht Petrarkismus im 17. Jahrhundert meistens aus. Bei Fleming setzt sich nun aber sogar im Feld des epigrammatisierten Petrarkismus eine Tendenz zur Subjektivierung und zur Intimisierung durch. Damit wird die schöne pyritzsche Opposition von Petrarkismus und Innerlichkeit brüchig. Dies kann etwa folgendes Ringgedicht zeigen: An seinen Ring. DER sch=ne Nahmens-Tag der Liebsten ist erschienen; die Anmuth macht mich froh / die aus der halben Nacht gantz wie die Lilgen-Milch / und Blut der Rosen lacht / mit Saffran angemischt. Ihr mFsset euch erkFhnen zu wagen einen Gang / ihr funckelnden Rubinen; Eilt / eh das sch=ne Kind von ihrer Ruh’ erwacht / und sehet wie ihr euch an ihren Finger macht? So wird ihr sanffter Schlaf zu eurem Vortheil dienen. Geht / bindet sie also / wie aber? wollt ihr nicht? wie werdet ihr so blaß Fmm euer Angesicht’? und was verstellt ihr euch in sterbende Geberden? Ists etwan / das ihr meynt / wo sie schon sey erwacht / ihr m=chtet schamroth stehn fFr ihrer Lippen Pracht / und diß Goldt bleiches Bley fFr ihren Augen werden?18
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TP 647.
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Hier finden sich tatsächlich petrarkistische Preziosen mit der entsprechenden Hyperbolik: Lilienmilch, Blut der Rosen (V. 3), Safran (V. 4), funkelnde Rubinen (V. 5), Gold zur unironischen Beschreibung der Frauenschönheit (V. 14); dazu die Benennung der Finger (V. 7), der Lippen (V. 13), der Augen (V. 14). Gleichwohl handelt es sich nicht um das Lob einer unerreichbaren Dame, sondern um die Liebste und ihren Namenstag, zu dem ein Geschenk überreicht werden soll. Entsprechend persönlich und intim ist das Verhältnis. Die Liebste wird als ›schönes Kind‹ apostrophiert und im ›sanften Schlaf‹ imaginiert. Die epigrammatische Andichtung des Rings dient der Absicht, diesen der Geliebten im Schlaf an den Finger zu stecken, um sie zu ›binden‹, wie es in Vers 9 heißt. Die Periodenführung geht auch hier gleich über vier Verse hinweg und wirkt dadurch alltags- und gesprächshaft. Selbst die preziösen Schönheitsattribute erhalten eine individualisierende Note, indem die blutroten Lippen ›mit Safran angemischt‹ erscheinen, was einen näher beschreibenden Eindruck hinterlässt, einen genauer bestimmten Farbton. Die Ansprache an den Ring erfolgt in der Art jenes Kolloquialstils – gesprächshaft und gleichsam dialogisch –, den Fleming in seinen Briefgedichten bevorzugt anwendet, und der für deren persönlichen Charakter wesentlich mitverantwortlich ist.19 Auch hier helfen schwache Enjambements und ein zurückgenommener ornatus zu einem natürlichen und lebendigen Ausdruck. Amüsant ist dann die Imagination, dass der Ring wie in einem Comic oder einem Trickfilm mit theatralischen Gebärden antwortet. Diese werden wiederum vom Sprecher in ihrer Bedeutung interpretiert, so dass ein imaginierter Dialog den Gegenstand dieses epigrammatischen Accessoiregedichts bildet. Die Pointe erscheint demgegenüber konventionell und hyperbolisch auf den Vergleich von Preziose und Frauenschönheit bezogen. Trotzdem ist es offenbar ein typischer Fleming: stilistische Eleganz durch lange Perioden und mittleren Stil, zurückgenommene und individualisierte Preziosenmotivik, lebendiger Gesprächscharakter, intime Thematik des Besuchs der schlafenden Geliebten, Binde- und Verlobungsmotiv. All diese Merkmale sind typisch und eigen für Flemings Umgang und Interpretation des Petrarkismus in seiner epigrammatischen Ausprägung.
5. Schönheitspreis und Individualisierung Flemings Umgang mit der petrarkistischen Tradition erscheint angesichts dieses kurzen Durchgangs durchaus einer differenzierteren Betrachtung wert. Die von Pyritz angestellte Ausgangsvermutung, dass zwischen dem – von ihm noch nicht so genannten – epigrammatisierten Petrarkismus Flemings und seiner Liebes- und Freundschaftsdichtung mit ihrem ›eigenen Ton‹ ein harscher Kontrast 19
Vgl. zum Gesprächscharakter der flemingschen Lyrik Thomas Borgstedt: Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 279–295, bes. S. 285ff.; sowie Borgstedt: Topik des Sonetts (Anm. 7), S. 320ff.
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festzustellen sei, lässt sich nicht bestätigen. Fleming findet vielmehr einen besonderen Gefallen an den epigrammatisch-petrarkistischen Motiven, er verbindet diese aber mit jenen Stilprinzipien, die auch für seine Liebes- und Freundschaftsdichtung kennzeichnend sind; mit anderen Worten: auch sein Petrarkismus hat den ›eigenen Ton‹. Ich halte es für unvermeidlich, jenen eigenen Ton als eine programmatische poetische Aussage des Dichters Paul Fleming ernstzunehmen. So schwierig es ist, dessen Merkmale im zeitgenössischen Horizont zu beschreiben beziehungsweise auf bestimmte zeitgenössische Traditionen zu beziehen, so unübersehbar ist doch die Tatsache, dass sie für Fleming einen systematischen und auch programmatischen Charakter besitzen. Sieht man sich die thematische Aufteilung der posthumen flemingschen Poemata-Ausgabe statistisch an, dann fällt ihr ganz überwiegend weltlicher Charakter auf. Nur jeweils 10 % der Gedichte entfallen gattungsübergreifend auf geistliche und auf Leichengedichte.20 Nach dem Umfang der Gedichte stehen die sogenannten Glückwunschgedichte eindeutig an erster Stelle. Nach der Anzahl der Texte ziehen die Liebesgedichte gleich, wegen der hohen Zahl an Sonetten, die eben kürzer sind, als die Oden.21 Beide Sparten sind zu einem nennenswerten Teil auch epigrammatisch verfasst. Beide sind auf den intersubjektiven Austausch ausgerichtet und pflegen die persönliche Ansprache. Beide Themenbereiche ermöglichen eine dialogische Anlage der Gedichte und den Fleming-typischen Kolloquialstil. Und beide kultivieren einen intersubjektiven Idealismus: die Aufrichtigkeits- und Treuethematik spielt nicht nur zwischen Liebenden, sondern genauso zwischen Freunden und im gesellschaftlichen Umgang eine Schlüsselrolle. Dies ist verknüpft mit Flemings Stoizismus, und es ist den höfisch-politischen Maximen der Zeit entgegengesetzt, besitzt also durchaus einen ideengeschichtlichen und gesellschaftlich-politischen Akzent. Dieser Programmatik fügt sich der stilistische Gestus der flemingschen Lyrik ein: er kultiviert das intime Gespräch und den persönlichen Austausch, indem er sich den ›barocken‹ Stiltendenzen offenbar bewusst verweigert, die generell und gerade auch im Epigramm auf Objektivierung und Entsubjektivierung zielen. Die ›barocktypische‹ Kombination einer Erleichterung der Lektüre durch Geometrisierung und Rhythmisierung bei gleichzeitiger Emphase im sprachlichen Ausdruck, im Lexikon, lässt sich bei Fleming nicht beobachten. Er agiert umgekehrt und damit im Sinn des gehobenen Renaissancestils italienischer Provenienz: Erschwerung der Lektüre durch komplexen Satzbau und Kontrastierung der Versstruktur und Reduktion der rhetorischen Mittel, Schlichtheit und Alltäglichkeit der Sprache. Diese Tendenzen einer stilistischen Anhebung jenseits einer Barockisierung lassen sich nicht mehr auf die schlichten, volkstümlichen 20
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Es sind 41 geistliche Gedichte (PW I, 12, Oden I, 9 und Sonn. I, 20) von 417 Gedichten insgesamt. Leichengedichten finden sich ebenfalls 41 (PW III, 12, Oden II, 18, und Sonn. IV, 11). Wir zählen 152 Glückwunschgedichte (von 417 insgesamt: davon PW II, 48, Oden IV, 48, und Sonn. II, 56) und 157 Liebesgedichte (PW V, 17, Oden V, 42, und Sonn. III, 98). Eine fünfte Gruppe bilden die 26 Hochzeitsgedichte, die insgesamt 6 % ausmachen (PW IV, 6, und Oden III, 20).
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Liedtraditionen der Zeit und der Umgebung Flemings zurückführen. Sie stehen allerdings auch nicht im Dienst höfischer Lässigkeit, sondern in dem einer eher unhöfischen – früher hätte man gesagt: ›bürgerlichen‹ – Intimisierung der poetischen Kommunikation bei gleichzeitiger Steigerung des poetischen Anspruchs. Nach wie vor stellt sich die Frage, wie man dies alles erklären kann. Verweisen kann man auf die Rolle des Stoizismus und auf deren subjektivistische Interpretation bei Fleming, ebenso auf seine Bindung an die geistliche und weltliche Liedtradition. Ferner wissen wir von seinen Fertigkeiten in der neulateinischen erotischen Lyrik und von seinem Opitzianismus. Zugleich müssen wir aber auch konstatieren, dass Fleming den Zug zur barocken Hyperbolisierung, Rhetorisierung und Entsubjektivierung der Dichtung, den Opitz verkörpert, zumindest im Bereich der deutschsprachigen Liebeslyrik nicht mitgeht. ›Eleganz‹ und ›Intimität‹ waren die Stichworte, die ich zur Beschreibung dessen vorgeschlagen habe. Ein nennenswerter Teil von Flemings Lyrik ist durch einen gleichsam ›vorbarocken Subjektivismus‹22 gekennzeichnet, dessen einzigartiger Zuschnitt aufs Konto des Autors selbst zu gehen scheint.
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Die Charakterisierung spielt an auf die bekannte, etwas anders gelagerte Kennzeichnung bei Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und Griechische Tragödie. Analyse der ›Antigone‹-Übersetzung des Martin Opitz. Heidelberg 1926.
Stefanie Arend
Was vermag die Medizin? Figurationen des Arztes in Paul Flemings Gedichten In einem Begräbnisgedicht, das Fleming auf den Freund Georg Gloger verfasste, der wie er selbst ebenfalls Dichter und Mediziner war, lesen wir von der Inspiration durch Apoll, den Vater des Aeskulap, dessen Zeichen Stab und Schlange zu Sinnbildern der Medizin geworden sind.1 Apoll gilt in Flemings Text als die mythische Figuration der Verbundenheit von Kunst und Medizin: […] Apollo war mir günstig, der Musicant’ und Arzt, weil du mich machtest brünstig zu seiner doppeln Kunst. Die freie Meditrin verweiste mich durch dich zu ihrem Tempel hin und hieß mich ihren Freund […]. (Aus: Auf H. Georg Glogers Med. Cand. seliges Ableben;P WI I,7, V. 21–25)2
Über Flemings Medizinstudium ist indes außer einigen handgreiflichen Daten wenig bekannt. In Leipzig hatte sich Fleming 1628 zunächst an der Artistenfakultät eingeschrieben und das Studium im Mai 1633 mit einem Magistergrad abgeschlossen. 1629 begann er das Studium der Medizin.3 Wir wissen, dass er in medizinischen Disputationen als Respondent aufgetreten ist.4 Manifest wird das Medizinstudium durch seine Dissertation über die Syphilis, De lue venerea, die er 1640 in Leiden verfasste, um in Reval die Stelle eines Stadtarztes antreten zu können.5 Dazu kam es jedoch nicht. Auf der Rückreise von Leiden erkrankte er und starb in Hamburg, wo er in der Hauptkirche St. Katharinen begraben liegt. Die Doppelkarriere als Dichter und Mediziner ist in der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich, wenn nicht sogar typisch. Zu denken ist an den universal gelehrten Arzt Girolamo Fracastoro, von dem ein berühmtes Gedicht über die Syphilis überliefert ist (Syphilis, sive morbi gallici, libri tres, ad Petrum Bembum, 1530), an den neulateinischen Dichter und Heidelberger Professor der Medizin Petrus Lotichius, an Opitz’ Lehrer Caspar Dornau, zunächst Medizinstudent in Basel 1
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Vgl. Art. Aeskulap. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Bd. 1–16. Stuttgart, Weimar 1996–2003, hier Bd. 2 (1997), Sp. 94–100, hier Sp. 99f. Zit. n. DG. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Oswald Feis: Paul Fleming und seine Beziehungen zur Medizin. In: Archiv für Geschichte der Medizin 9 (1916), H. 4 (April), S. 185–199, hier S. 185. Vgl. ebd., S. 189f. Vgl. Paul Fleming: Disputatio medica inauguralis de lue venerea. Leyden 1640. Vgl. dazu den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band.
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und dann Schulrektor und Dichter, sowie an Johann Rist, der in Rostock Theologie und Medizin studierte und 1646 zum poeta laureatus gekrönt wurde.6 Die Medizin war für die Dichter das Brotstudium, das finanzielle Sicherheit bieten sollte. Dichtung und Medizin gingen jedoch eine Allianz ein, weil beide (zumindest großenteils) ein Lesestudium darstellten. Grundlage für beide war die Philologie: Die Schrift des Philologen und Mediziners Thomas Bartholinus ›Über die Medizinerdichter‹ – De medicis poetis − erklärt im Vorwort das Studium der Dichtung als nützlich und angenehm für die Mediziner, basierten doch beide, Medizin und Dichtung, auf der Tätigkeit des Lesens sowie der Nachahmung.7 Nun hinterlässt das Studium der Medizin in Flemings poetischen Texten nicht gerade sehr auffällige Spuren. Insbesondere drängt sich der Eindruck eines medicus poeta, eines Dichters, der, so Sandra Pott, »in das Wissen der medizinischen Fakultät eingeweiht ist oder es sich als Wundarzt angeeignet hat, und es in Versform thematisiert«,8 nicht auf. Flemings Gedichte verarbeiten kein medizinisches Wissen. Vermissen könnte man auch Hinweise auf eine etwaige Mithilfe bei der medizinischen Versorgung während der großen Reisen nach Russland und Persien. Die Reisegedichte lassen Fleming selbst als Arzt jedenfalls nicht in Erscheinung treten. Allerdings finden sich Texte, die über die Medizin variantenreich sprechen. Sie reflektieren ihren Standort als Wissenschaft in der Frühen Neuzeit in besonderer Weise. So lassen sie den Tatbestand durchscheinen, dass man wehrlos war gegen ernsthafte Krankheiten, wie etwa Pest oder Syphilis. Aus dieser Tatsache rührt der beißende Spott über Ärzte als Quacksalber und Scharlatane bei Jakob Balde oder Johann Beer.9
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Vgl. Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 20), S. 87–105. Vgl. Johann Anselm Steiger: »O Ewigkeit, du Donnerwort«. Zum 400. Geburtstag des Pastors, Dichters und Arztes Johann Rist. In: Deutsches Pfarrerblatt 3 (2007), S. 128–133. Vgl. Thomas Bartholinus: De medicis poetis. Kopenhagen 1669, S. 1. Vgl. Dietrich von Engelhardt: Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Wilhelm Kühlmann. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 30–54, hier S. 45. Vgl. auch Herbert Jaumann: Iatrophilologie. Medicus philologus und analoge Konzepte in der frühen Neuzeit. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Hg. v. Ralph Häfner. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 151–176. Vgl. auch insgesamt die sozial- und kulturgeschichtliche Studie von Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991. Vgl. Sandra Pott: ›Medicus poeta‹. Poetisierung medizinischen Wissens über Pest und Blässe: Hans Folz und einige unbekannte Mediziner-Dichter. In: Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Hg. v. Florian Steger u. Kay Peter Jankrift. Köln/Weimar/Wien 2004 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 55), S. 237–261, hier S. 240. Vgl. Hermann Wiegand: »Ad vestras, medici, supellex prosternitur aras….« – Zu Jacob Baldes Medizinersatiren. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit (Anm. 7), S. 247–269.
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Flemings Gedichte spotten nicht direkt, sondern entwerfen zwei markante Figuren des Arztes in einer Welt, in der sich die Medizin als Wissenschaft weitaus weniger als heute mit dem Anspruch zu heilen Legitimation verschaffen konnte. Zur Diskussion stehen erstens das Lobgedicht auf Hartmann Grahmann, den Leibarzt der Reise (a.); zweitens Texte aus dem Korpus der Bußpsalmen und Klagegedichte (b.); schließlich zeigt ein Widmungsgedicht auf eine medizinische Dissertation ›Über die Pestbeule‹ (De carbunculo pestilenti),10 wie der Arzt und Dichter Fleming mit einer Krankheit umgeht, gegen die kein Kraut gewachsen war (c.). a. Handgreiflich wird die Figur des weltlichen Arztes in Flemings Lobgedicht auf den Leibarzt der Reise Hartmann Grahmann. Fleming verfasste es, als Grahmann von Reval aus, wo die Gesandtschaft Station machte, nach Deutschland aufbrach, um den Doktorgrad zu erwerben.11 Es ist auch deshalb interessant, weil es einen Einblick in die Medizingeschichte der Zeit bietet. Der in Halle gebürtige Grahmann stammte aus einer bekannten Medizinerfamilie und war vermutlich ein Verwandter des paracelsistisch inspirierten Erfurter Arztes Johannes Grahmann.12 So scheint in Flemings Gedicht der Paracelsismus als die eigentlich vielversprechende Heilmethode der konventionellen galenischen den Rang abzulaufen. Im 17. Jahrhundert stellte er bereits eine relativ anerkannte Medizin dar. Auch in Leipzig war er »unversitätsfähig« geworden.13 Bekannt war hier beispielsweise der Paralcesus-Adept Oswald Croll (1580–1609), dessen Basilica Chymica 1634 von Georg Eberhard Hartmann neu ediert wurde.14 Als Zierde Europas, »Europæ decus«, wird Paracelsus in Flemings Epigramm V, 8 bezeichnet. Im Leipziger medizinischen Feld war Paracelsus gut vertreten, Fleming mit seinen Vermittlern bekannt und dennoch handelt es sich bei dem Gedicht nicht um eine Bekenntnisschrift,15 vielmehr nutzt es die Mode des Paracelsismus, um Grahmann in fraglicher Weise als Arzt zu zeichnen.
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Johannes Zeidler: De carbunculo pestilenti. Respondente M. Paulo Flemingem Hartensteinense. Leipzig 1633. Außerdem nahm als weiterer Arzt Wendelin Sibelist an der Reise teil und wurde Leibarzt am Moskauer Hof. Vgl. Sylv. V, 2. Überliefert ist auf Grahmann außerdem ein kurzes lateinisches Propempticum (August 1633, vgl. Sylv. II, 8), eine längere poetische Reisebeschreibung (September 1638, PW IV, 53) sowie kleinere Texte (vgl. etwa Epigr. IV, 35, 10; 41). Zudem ist, wie dem Kommentar von Barbara Becker-Cantarino zu entnehmen ist, an Grahmann einer der seltenen Autographen erhalten, ein lateinisches Epigramm in Grahmanns Stammbuch, das sich heute in einer Moskauer Bibliothek befindet. Vgl. Barbara BeckerCantarino: Drei Briefautographen von Paul Fleming. In: Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981) S. 191–204, hier S. 192. Von Johannes Grahmann stammt die antigalenische Schrift Tractatus de pharmaco purgante (1593). Vgl. Wilhelm Kühlmann zu ›Grahmann‹ in: Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Bd. 3, Nr. 146 (im Erscheinen). Bisher erschienen: Bd. 1 u. 2 (Tübingen 2001 u. 2004). Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 105. Vgl. auch Oswaldus Crollius: De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623). Hg. und eingel. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Stuttgart 1996 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 5). Vgl. Entner: Paul Fleming (Anm. 13), S. 114.
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Wie ist das Gedicht aufgebaut? Zuerst wird auf die Familie Grahmanns verwiesen, die bereits seit langem die ›neue Medizin‹ praktiziert habe, die derzeit in aller Munde sei (V. 1–11). Dann wird derjenige Arzt, der noch der ›alten Medizin‹ anhängt, gegen den Paracelsisten ausgespielt, den vermeintlich ›klugen Arzt‹ (V. 29). Der Text lässt dann Grundlagen der paracelsischen Medizin Revue passieren, wie etwa Iatrochemie, Spagyrik oder die Signaturenlehre, die Heilung durch Gleiches (V. 11–55), um deutlich werden zu lassen, dass Grahmann ein Universalmediziner ist, der alte und neue Lehren beherrsche (V. 55–75). Dann hebt der Text seinen guten Ruf hervor, den er sich über die Landesgrenzen hinaus errungen habe (V. 75–123). Am Ende heißt es: »[…] so hast du, Glanz der Ärzte, ganz Moskow auch bestrahlt; du hießest der bewährtste. Die Krankheit, die zog aus, wo du nur gingest ein.« (PW IV, 31, 119–121). Ein Lobgedicht bei Gelegenheit einer Promotion zum Mediziner muss so loben, allerdings ist dieses Lob hier unerlässlich. Warum? Zunächst baut der Text zu Beginn zu derjenigen Medizin, die in Grahmanns Familie gepflegt wurde, eine kritische Distanz auf. Der Anschein, als sei der Paracelsismus die wahre Heilmethode, wird im Ansatz dekonstruiert. Aus der Polemik aus den Reihen der Paracelsisten kann keine Parteinahme für dieselben abgeleitet werden: […] Ich habe wol erfahren, daß dein berühmtes Haus von mehr als hundert Jahren die Medizin geübt, die durch die Glieder dringt, eh’ man sie hat gebraucht, die die Gesundheit bringt bald, sicher und mit Lust. Wir sind nun überhoben der alten Phantasei. Wer will den Arzt doch loben, der einen Zettel schreibt fast einer Ellen lang, umb daß er nur verdient des Apothekers Dank, der doch setzt diß vor das? Soll man die armen Schwachen durch einen starken Trunk noch duppelt schwächer machen, der oft, vom Schmacke nicht geredt, so lieblich reucht, daß sich der Arzt wol selbst für seiner Luft entzeucht und hält die Nase zu? Doch wer will jene Blöden, die Klugen auf den Schein, ein Bessers überreden? Sie bleiben, wie sie sein. Ihr, Kinder der Natur, geht einen weisern Weg! […] (PW V,I 31, V. 7–22)
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Der Sprecher reiht sich ein in die Reihen der Paracelsisten, um von hier über die galenische Schulmedizin und ihre Medikationen zu spotten. Alte und neue Medizin, Galenismus und Paracelsismus erscheinen als Antipoden. Der weitere Fortgang des Gedichts zeigt aber, dass die Tatsache, dass in Grahmanns Familie die paracelsische Medizin ausgeübt wurde, mitnichten zu ihrer Würdigung verpflichtet. Die paracelsische Polemik gegen die Praktiken der ›alten Medizin‹ als »Phantasei« (V. 12) erweist sich als gespielte Zustimmung, denn als »Phantasei« erscheinen die Grundlagen der paracelsischen Medizin im Folgenden selbst. Die Tätigkeit der »Kinder der Natur« (V. 21) wird nicht ohne Skepsis beschrieben. Die folgenden Verse lassen den Eindruck entstehen, als dringe die paracelsische
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Kunst mit Gewalt in die Natur vor und erzwinge von ihr etwas, das sie freiwillig nicht gibt: Bald zieht ihr auf das Feld und tragt die Kräuter ein, die für so manchen Gift der Schmerzen dienlich sein. Ihr laßt die Blüten ab, grabt zu gewissen Zeiten die starken Wurzeln aus, wißt künstlich zu bereiten 40 Aus diesem das und das, erzwingt aus allerlei den Geist und Seele selbst, darmit es stärker sei. Bald lasset ihr euch ab in die verborgnen Schlünde, die Pluto selbst kaum weiß, durchsucht die finstern Gründe, haut die Metallen aus, legt eure Kunst daran 45 durch Handgriff’ und die Glut. Da wird erst kund getan, was die Natur vermag. Die Steine müssen schwitzen, das Erz entfärbet sich und schmelzt für euren Hitzen, das harte Gold wird Flut, der flüchtige Merkur hält Fuß und führet euch auf eine schöne Spur, 50 die güldner ist als Gold. Kein Spießglas, kein Arsenik, das muß euch giftig sein. Ihr wirket viel durch wenig. (PW V,I 31, V. 37–52)
Man könnte sich eine inquit-Formel hinzudenken im Sinne von: »Ihr sagt, ihr tut das alles, um viel durch wenig zu wirken.« Der beschriebene Zugriff auf die Natur erinnert an Senecas Kulturkritik, etwa an die Warnung, dass die Menschen in die Eingeweide der Erde vordringen, um sich zu bereichern.16 Das Gedicht spielt darauf an, dass man versuchte, im Experiment künstliches Gold herzustellen (V. 50f.).17 Worte wie »künstlich« (V. 39), »erzwingen« (V. 40), »durchsuchen« (V. 44), »hauen« (V. 45), »entfärben« (V. 48), »schmelzen« (ebd.), lassen im Rückblick den Ausdruck »Kinder der Natur« in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Was die Natur vermag, ergibt sich nicht teleologisch im Sinne des Aristotelischen Naturbegriffs, nach dem die Kunst Natur vollendet,18 sondern wird mit Gewalt erzwungen. Die paracelsische Medizin, die in Grahmanns Familie gepflegt wurde, wird nicht zweifelsfrei als eine Alternative zur Schulmedizin exponiert. Im weiteren Verlauf des Gedichtes erweist sie sich denn auch als eine von vielen Lehren, die sich in Büchern finden und die für die Gelehrten da sind, u. a. für Grahmann, der nun wieder direkt angesprochen wird. Worte wie »schreiben« (V. 59), »auslegen« (V. 61), »lehren« (V. 62), »durchlesen« (V. 63), 16
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Zit. n. L. Annaei Senecae ad Lucilium Epistulae morales. Recognovit et adnotatione critica instuxit L. D. Reynolds. Bd. 1: Oxford 1965; Bd. 2: Oxford 101991, hier Bd. 2. Dieser Zugriff auf die Natur liefe der stoischen Leitmaxime des ›naturgemäßen Lebens‹, des secundum naturam vivere, entgegen. Die Natur gibt alles, was der Mensch braucht, von sich aus (vgl. Ep. 90. 16; 19). Zum stoischen Naturgesetz vgl. Maximilian Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung. Darmstadt 1998, S. 530. Vgl. Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle: Einleitung zu: Corpus Paracelsisticum. Bd. 1 (Anm. 12), S. 139, hier S. 16. Vgl. zum aristotelischen Naturbegriff im Paracelsismus Max Bergengruen: Expansion in die Natur. Zum Verhältnis von ars und natura bei Paracelsus und im Paracelsismus. In: Expansionen in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Renate Dürr, Gisela Engel u. Johannes Süßmann. Berlin 2005 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 34), S. 215–232, hier S. 219 u. 223–232.
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»verstehen« (V. 67) und »Schrift« (V. 68) beschreiben die Tätigkeiten, die seine Lebenswelt bestimmen: […] Die ersten Wundertäter, die Säulen unsers Heils, der Arzeneien Väter kennst du so wol als dich. Der weise Podalir, der stirbt nicht, weil du lebst; Machaon wohnt in dir, und die man itzt kaum nennt. Was Hermes hat geschrieben, der dreimal große Man, Herophilus getrieben, Diokles ausgelegt, was Asklepiades die Prusier gelehrt, und was Archigenes von Guten aufgesetzt, das hast du wol durchlesen, bist umb Hippokrates zu Tag und Nacht gewesen. Galenus ist dein Freund, wie denn der Celsus auch, der Ärzte Tullius. Du weißt den rechten Brauch von Beider Medizin, verstehst die dunkeln Sachen, die manchen in der Schrift der Weisen irre machen und lange halten auf. Der hohe Theophrast, der mehr als billig ist von vielen wird gehaßt, der ist dir ganz bekant. Was Lullius verstecket, was Crollius verbirgt, das ist dir ganz entdecket. Was Bruder Valentin für ein Geheimniß hält, das hast du an das Licht der Sonnen längst gestellt, glückseliger als er. Die Elbe, Saal’ und Pleiße, die schrein einander zu von deinem hohen Fleiße, den du sie ließest sehn. […]19 (PW V,I 31, V. 55–77)
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Man könnte sich vorstellen, dass Krankheiten oder berühmte Kranke aufgezählt werden, die Grahmann geheilt hat. Der Text figuriert ihn aber vor allem als fleißigen Leser, der sich in Schriften vertieft. Der Paracelsismus, durch Crollius (V. 72) – eben der genannte Oswald Croll – angesprochen, verschwindet als ein Register unter vielen anderen Schriften ganz unterschiedlicher Couleur, kann weiterhin nicht dazu dienen, Grahmann als besonders innovativen Mediziner herauszustellen. Konservatives, Spekulatives oder Hermetisches, Altes und Neueres wird da gelesen, ein ungeheures Korpus an Schriften, die man als fleißiger Philologen-Mediziner zu kennen hat, um sich als gelehrter Mann der Wissenschaft Ruhm zu erwerben, war es schon nicht möglich, schwere Krankheiten zu heilen. Das Lob auf Grahmann am Ende des Gedichts, die Bezeichnung als »Glanz der 19
In aller Kürze: Machaon und Podalir: Söhne von Aesculap, Hermes Trismestigos: Urvater der hermetischen Wissenschaften, Hierophilus: griechischer Arzt und Anatom (ca. 330– 250 v. Chr.), Diokles von Karystos: griechischer Arzt im 4. Jahrhundert vor Christus, Asklepiades von Prusa (ca. 124 v. Chr.–60 v. Chr.): griechischer Arzt und Philosoph, auch Begründer der Balneotherapie, Archigenes (1./2. Jahrhundert): griechischer Physiker, der sich u. a. mit dem Puls beschäftigt hat, Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr.–50 n. Chr.): Hippokratiker, hinterließ zahlreiche Schriften, gilt als Medicorum Cicero, Raimundus Lullus (1232–1316): katalanischer Universalgelehrter, Begründer des ›Lullismus‹, Basilius Valentinus: Unter seinem Namen sind um 1600 zahlreiche alchimistische Schriften erschienen (vgl. Art. Basilius Valentinus. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann in Verb. mit Achim Aurnhammer u. a., hier Bd. 1 (2008), S. 348–350).
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Ärzte«, ist nach dieser Ausstellung seiner philologischen Gelehrsamkeit unbedingt notwendig, mildert es doch den impliziten Vorwurf, dass der Leibarzt der Reise mit reiner Theorie beschäftigt sei. Dass die Medizin auch in der Praxis versagt, lässt das Reisegedicht vom September 1638 deutlich werden. In der Not, dürstend und hungernd, muss sich der Heiler um sein eigenes Überleben kümmern. Wir lesen: »Auch du, o aller Arzt, inmitten Krieg und Friede, | inmitten Furcht und Trost, vergaßest fast dein Tun, | erfuhrest, was es heißt: Arzt, hilf dir selbsten nun!« (PW IV, 53, V. 220–222). Aus der Perspektive einer Kritik am Polymathie-Ideal der Medizinerschaft ist Flemings Gedicht anschlussfähig an ikonographisches Material der Frühen Neuzeit, das den Arzt als Schriftgelehrten exponiert.
Abb. 1: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Die Anatomie des Dr. Tulp (1632)
Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp aus dem Jahr 1632 verbildlicht prägnant die Rolle der gelehrten Medizinerschaft in der Frühen Neuzeit (Abb. 1). Mitglieder der Amsterdamer Gilde der Barbiere und Chirurgen wohnen einer Anatomievorführung bei. Ganz rechts sehen wir den Anatomieprofessor Dr. Tulp.20 Den Muskel hat er nicht selbst präpariert. Er macht sich die Hände nicht schmutzig, ebensowenig wie die anderen feierlich gekleideten Herren. Sie pflegen ihre Neugierde (curiositas) durch eine Buchgelehrsamkeit. Rechts unten ist ein aufgeschlagenes Buch zu sehen. Der Muskel ist offenbar falsch präpariert, vielleicht weil das Buch 20
Zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen des Bildes vgl. Claus Volkenandt: Rembrandt – Anatomie eines Bildes. München 2004.
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gar keine, irrige oder konfuse Anweisungen erteilt – vielleicht ist es von Bedeutung, dass die Schrift nicht entzifferbar ist.21 Die Medizin als Wissenschaft wird von einem philologisch versierten Gelehrtenstand gepflegt, der lesen und auszulegen versteht und selbst schreibt. Das blutige Alltagsgeschäft mussten andere verrichten. Ebenso zu verknüpfen ist Flemings Text mit dem Holzschnitt von Hans Burgkmair aus dem frühen 16. Jahrhundert (Abb. 2). Er zeigt den akademisch gelehrten Arzt in seiner Bücherwelt, der liest und sich im Ernstfall lieber in seiner Stube aufhält, als mit dem wahren Elend konfrontiert zu werden. Ohne den Gestus des Spottes einzunehmen, erscheint in Flemings Gedicht Grahmann als die Figuration des gelehrten und in allen Dingen belesenen Mediziners, der in tatsächlicher Not nichts vermag. Wem bleibt das Heilen in der Welt vorbehalten?
Abb. 2: Hans Burgkmair: Akademischer Arzt in der Studierstube (1530)
b. Als Alternative zum gelehrten Arzt in der Welt, der mit seinem Wissen im Ernstfall nicht heilen kann, kennt die Frühe Neuzeit die Figur des Christus medicus.22 Beliebt in der frühneuzeitlichen Ikonographie ist sie auf einem Kupferstich von Peter Troschel aus dem 16. Jahrhundert zu sehen (Abb. 3). Er zeigt Christus in der Apotheke. Oben rechts findet sich ein locus classicus aus dem zweiten Buch Mose, 15,26: »Ich bin der HERR dein Arzt.« Die Kräuter und Salben fungieren als Metaphern seiner besonderen Seelenarznei. Der Christus medicus heilt durch seine eigene Person. Hierin liegt nun, wie Anselm 21 22
Vgl. ebd., S. 33f. Vgl. auch Sonn. I, 1, 18 u. 19.
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Abb. 3: Peter Troschel: Christus in der Apotheke (Nürnberg 1653)
Steiger zeigt, »die entscheidende Differenz« zum leiblichen Arzt in der Welt.23 »Der menschliche Arzt« kann »niemals auch und zugleich Arzneimittel sein«.24 Der Christus medicus figuriert seine Botschaft selbst, ist insofern selbst »medicamentum«,25 die Botschaft ist »göttliche Arznei«.26 Nur die Heilsbotschaft verspricht Heilung von der Sündenkrankeit, deren äußerliches Zeichen die körperlichen Krankheiten sind.27 23
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Vgl. Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition zweier Quellentexte. Leiden/Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 121), S. 28. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 24. Vgl. auch ders.: Theologia medicinalis und apotheca spiritualis: Zur Intertextualität von medizinischen und theologischen Schreibweisen bei Luther und im Luthertum der Barockzeit. In: Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Hg. v. Nicolas Pethes u. Sandra Richter. Tübingen 2008 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117), S. 99–129. Vgl. das Kapitel »Christus medicus« als Vorbild bei Sandra Pott: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2002, S. 70– 76. Vgl. zu weiteren Abbildungen der Christus medicus-Figur: Fritz Krafft: Christus ruft in die Himmelsapotheke. Die Verbildlichung des Heilandsrufs durch Christus als Apotheker.
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Nun zeigt sich dieser Christus medicus in Flemings geistlichen Texten in besonderer Weise. In einer Variation des sechsten Psalms wird im Vergleich zum Wirken des menschlichen Arztes ein eigenwilliges Arzt-Patienten-Verhältnis entworfen. Entsprechend dem Wortlaut des Psalms in der Lutherbibel spricht der Text zwar vom Heilen, variiert ihn aber dergestalt, dass er explizit den zornigen Gott als »Arzt« (V. 8) anruft: […] Herr, züchtige mich nicht, wenn dir die Grimmesglut aus Mund und Augen bricht, die niemand tragen kan! Umd so viel mehr laß blicken 5 dein Gnadenangesicht, indem mich unterdrücken viel tausent Schmerz und Angst! Herr, heile, heile mich, weil ich voll Schwachheit bin! O Arzt, erweise dich! Die Seele zittert mir. Ach Herr, ach Herr, wie lange? Das Mark verschwindet aus, das Reißen macht mir bange, 10 das meine Beine kreischt. Herr wende dich einmal, und hilf mir, so du wilst, aus dieser Seelenqual! Wer wird dir, wenn du mich nun wirst getötet haben, für deine Hülf’ und Treu’ erlegen solche Gaben, wie ich bißher getan? wer will dir danken doch 15 und denken deiner Ehr’ in jenem finstern Loch, in welches du mich wirfst? […]. (Aus: Der VI. Psalm: Ein Psalm Davids, vorzusingen auf acht Saiten; PW I, 1, 3–17)
Die Erinnerung an den göttlichen Zorn ruft ein Sündenbewusstein hervor, das bereits Bestandteil der Heilung ist, die gleichwohl in der Welt niemals abgeschlossen sein kann.28 Zorn als Voraussetzung gestaltet Heilung zu einem Mysterium, während, wie Wilhelm Kühlmann zeigt, in Gryphius’ Gedicht Thränen in schwerer Krankheit die Christus medicus-Figur eben nicht angerufen und insofern »die im Christusglauben angelegte Heilshoffnung nicht […] ausgesprochen« und so das Leben in der Welt radikal entwertet wird.29 Eine solche Heilung ist nur im Kontext des göttlichen Wortes zu begreifen. Das Handeln des Christus medicus kann nicht als Appell für den gelehrten Mediziner gelten, sich auf eine bessere Praxis zu besinnen – auch deshalb nicht, weil allein der Christus medicus zugleich mit der
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Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung im Museum Altomünster (29. November 2002 bis 26. Januar 2003). Mit Beiträgen von Christa Habrich u. Woty Gollwitzer-Voll. Stuttgart 2002. Die Christus medicus-Figur ist Vernichter und Heiler zugleich wie der heidnische Apollo – das griechische ¢pÒllumi heißt ›verderben‹, ›zugrunde richten‹ sowie ›abwenden‹. Apollo ist eine Zwitterfigur, er ist Heiler, wie der christliche Gott eine swt»r-Gestalt, und zugleich Vernichter. Er ist, wie der christliche Gott, ein Allmächtiger. Beispielsweise bringt Apollo den Danaern zur Strafe die Pest, weil sie dem Priester Chryses Agamemnons Tochter vorenthielten. Später wird er angerufen, diese wieder zu nehmen (Homer: Il. 1. 43–52, 451–456, zit. n. Homer: Ilias. Nach der Übertragung von Johann Heinrich Voss. München o. J.). Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden. Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit (Anm. 7), S. 1–29, hier S. 5. Das Gedicht mache »Front gegen eine offenbar als bedrohlich empfundene, weil im eigenen Ich angelegte säkulare Einstellung zur Welt« (ebd., S. 6).
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leiblichen auch die Sündenkrankheit heilt – mit dem Zorn als Voraussetzung. Der gelehrte Arzt in der Welt scheint dann besonders ausgeblendet, wenn das Skandalon des Kreuzes als konstitutives Element der Heilsbotschaft mit ins Spiel gerät: Hier hänget unser Ruhm, hier leidet unser Prangen, hier kranket unser Arzt, durch den wir Heil erlangen! Ist das der Wunderbaum? ist diß das werthe Holz, darauf wir Christen sein so prächtig und so stolz? […]
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O Herr, ist das dein Ehr’? O Arzt, ist das dein Sold? Kein Tiger ist so grimm, so grausam ist kein Drache, der einem seiner Art ein solches Quälen mache. Der Löwe liebt den Arzt; wir Menschen sein so toll und töten den, der uns vom Tode helfen sol. 360 (Aus: Klagegedichte über das unschuldigste Leiden und Tod unsers Erlösers Jesu Christi; PW I, 9, 289– 292 u. 356–360]
Hier kann kein gelehrter medicus mithalten. Der Arzt am Kreuz, der von den eigenen Patienten verwundet wird und deswegen heilt, ist mit demjenigen in der Studierstube nicht mehr verhandelbar. Das Altarbild von Jan van Enum in der Flensburger Marienkirche (Abb. 4, nach einem Holzschnitt von Hendrick Goltzius)30 erinnert emblematisch an die Heilung durch die Wunden, die Christus zugefügt wurden. Das dominante rote Herz in der relativen Mitte des Bildes führt zunächst ohne Schwierigkeit auf den Grund des christlichen Handelns: Christus heilt, indem er den Menschen, die ihn verwundeten, vergibt, sie durch seine Zuneigung und Liebe nährt und am Leben erhält, wie im Herz die Wildsau ihre Jungen säugt. Zwischen Herz und Christusfigur anzitiert wird in Form eines Lemmas oder der inscriptio im Emblem ein weiterer locus classicus der medizinischen Theologie, Mt 9,12: »Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Schwachen.« Etwas schwieriger zu lesen ist das Zeichen der Schlange, die sich auf der rechten Seite um das Kreuz windet. Es ist doppelt kodiert: Zum einen ist an die »erhöhte Schlange« zu denken. Das vierte Buch Mose erzählt, wie das Volk Israel für seine Ungeduld gestraft wird. Gott schickt zur Strafe giftige Schlangen. Um Rettung gebeten, lässt er Mose eine eherne Schlange aufrichten, die die Strafe auf sich nimmt, deren Anblick das Leben schenkt und zur Selbsterkenntnis führt (vgl. Mos 21,4–9). So erinnert die Schlange an die des Aeskulap, die, weil sie sich häuten kann, Zeichen ewiger Jugend und Unsterblichkeit ist. Unvergleichbar ist der am Kreuz erhöhte Christus mit jedem anderen Arzt, weil er heilt, indem er selbst vom Menschen verwundet wurde. Wie in einem Emblem die Unterschrift oder erläuternde subscriptio löst hier die Schrift das Rätsel des Bildes auf. Zitiert wird Jes 53,5: »Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt« – et livore eius sanati sumus. 30
Für das Foto danke ich Johann Anselm Steiger (Archiv d. Verf.).
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Stefanie Arend
Abb. 4: Jan van Enum: Christus medicus (Altarbild in St. Marien; Flensburg 1598)
Der Arzt heilt, indem er selbst vom Patienten verwundet wird, wie es Flemings Klagegedicht herausstellt. Das paradoxe Bild ist nur theologisch lesbar, nicht einmal als ›kühne Metapher‹ mit dem Wirken des weltlichen Arztes vergleichbar.31 Sicher ist, wie Gollwitzer erläutert, die Vorstellung nachzuvollziehen, dass nur derjenige Heiler die Wunden heilen kann, die er selbst empfindet.32 Das Funktionieren dieser Heilung setzt aber ein Wissen jenseits aller stupenden philologischen Buchgelehrsamkeit voraus, das zeitlos ist und keine grundlegende Veränderung kennt. Auch auf dem Zenit seiner Belesenheit kann der gelehrte Arzt eine 31
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»Je weiter Bildspender (›Bild‹) und Bildempfänger (›Sache‹) voneinander entfernt sind, um so kühner ist die Metapher […]«. Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher. In: Theorie der Metapher. Hg. v. Anselm Haverkamp. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag ergänzte Aufl. Darmstadt 1996, S. 316–339, hier S. 319. Vgl. Woty Gollwitzer-Voll: Christus Medicus – Heilung als Mysterium. Interpretationen eines alten Christusnamens und dessen Bedeutung in der Praktischen Theologie. Paderborn u. a. 2007, S . 185.
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solche Heilung niemals leisten. Eine Besonderheit der »theologia medicinalis« besteht folglich darin, dass sie den Patienten selbst an das Wissen der Heilsbotschaft erinnert, es mobilisiert. In dieser Heilung kennt der Patient seine Krankheit sehr genau, vorausgesetzt, er erinnert sich. Allein das Denken an den Christus medicus führt dazu, dass er wieder und immer von neuem weiß, woran er krankt, ohne allerdings jemals vollständig in der Welt zu gesunden. Was bleibt aber dem Arzt in der Welt? c. Präziser sollte die Frage lauten: Was bleibt dem Arzt in der Welt, zumal demjenigen, der – wie Fleming – zugleich ein Dichter ist? Dies zeigt Fleming in seinem Widmungsgedicht der Dissertation von Johannes Zeidler De carbunculo pestilenti (›Über die Pestbeule‹), die er auch selbst verteidigte.33 Er setzt den Thesendruck metonymisch mit dessen Gegenstand gleich. Das Gedicht wird selbst zu einem »Karbunkel« (V. 1 u. 3): Magnifico, Excellentißimo & Experientißimo Viro Dn. Philippo Mullero […] Ne dono fallare meo! Carbunculus hic est; Non sed in arcana gemma corusca die. Nec donum vereare meum. Carbunculus hic est; Non sed in abstruso qui necat igne viros. Nulla sub exposita, celantur toxica peste: Nec cum tam celebri nomine dantur opes. Artis opus sine fraude damus nudasque papyros, Chartaqua, qua fuimus terror amorque, fuit. Mors quod erat multis, per idem mihi spero salutem, Sic vel ab ingrato funere gratus ero. Cætera turba suos gemmis sibi quærat Achates; Non fuit hoc nostræ conditionis opus. Non prodesse queo; volo nec nocuisse. quis ausit, Noxia pro gratis, pro mala ferre bonis? Maxime Vir, mihi fautor eris, mihi nulla nocebunt, Fautor eris, vere sic mihi dives ero.
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[Dem großartigen, hervorragenden und erfahrenen Philipp Müller (…) Sei nicht getäuscht durch mein Geschenk! Dies ist ein Karbunkel, aber kein Edelstein, der im Dämmerlicht funkelt. Fürchte auch nicht mein Geschenk! Dies ist ein Karbunkel, aber nicht einer, der durch verborgenes Feuer die Männer tötet. Kein Gift verbirgt sich unter einem sichtbaren Übel Und nicht werden Reichtümer unter einem berühmten Namen gewährt. Ohne Trug schenken wir ein Kunstwerk und nacktes Papier, es war ein dünnes Blatt, wodurch wir Schrecken und Anerkennung hervorriefen. Was für viele den Tod bedeutete, davon erhoffe ich mir Heil, so werde ich auch durch das widrige Verderben willkommen sein. 33
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Vgl. dem Abdruck in der Dissertation von Joannes Zeidler: De carbunculo pestilenti (Anm. 10). Der Adressat ist Philipp Müller, damaliger Rektor der Universität Leipzig. Vgl. die leicht abweichende Version in: Sylv. II, 2.
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Stefanie Arend Die übrige Menge möge zu ihren Edelsteinen Achate verlangen, nicht stand mein Werk unter diesen Vorzeichen. Kann ich nicht nützen, will ich auch nicht schaden. Wer wagte es, Schädliches statt Willkommenes, Übles statt Gutes zu bringen? Großartiger Mann, sei mein Begünstiger, nichts wird mir schaden, 15 wenn Du mein Begünstiger bist, werde ich auf diese Weise wahrlich vor mir selbst reich.]
Das Gedicht spielt mit den beiden Bedeutungen eines Karbunkels als Pestgeschwür und als Edelstein. Nicht die Sache, sondern das Wort kann positiv und negativ gedeutet werden, typisch für die Allegorie. Die sehr unterschiedlichen Bedeutungen derselben Bezeichnung ergeben sich aus äußerlichen Merkmalen. So lesen wir in Zedlers Universallexicon, dass die Rubine – das verstand man in der Frühen Neuzeit unter »Karbunkel« – am wertvollsten sind, die, ursprünglich weiß, mit der Zeit eine feurige rote Farbe annehmen und »fleischfarbig [aus-]sehen.«34 Deswegen wurden sie auch als Heilmittel gegen Wunden verwendet.35 Mit dieser Bedeutung spielt der Text, wenn er ausruft: »Dies ist ein Karbunkel«, aber weder ein Edelstein noch freilich eine Pestbeule selbst. Es wird offenbar eine dritte Bedeutung gestiftet, die den Titel der Schrift umbewertet und ihr auf diese Weise eine heilende Wirkung zuschreibt, qua ihrer Eigenart als Kunstwerk. Es handelt sich um ein Kunstwerk, ein »opus artis«, keines der bildenden Kunst, sondern ein verschriftliches, auf »nacktes Papier« (V. 7) niedergeschrieben, auf einem »dünnen Blatt« (V. 8): Der Mediziner ist ein Schriftsteller, der nicht bloß Thesen zusammenstellt, sondern kunstfertig tätig ist. Diese Kunstfertigkeit drückt sich eben darin aus, dass er als Dichter fähig ist, den an sich grausamen Gegenstand zum Anlass zu nehmen, ihn in einen poetischen Text zu transformieren, der auf seine Weise vielleicht heilen kann. So lautet die paradox anmutende Wendung: »Was für viele den Tod bedeutete, davon erhoffe ich mir Heil« (V. 9) – vom Karbunkel, der sich in eine vertextlichte Edelsteintinktur verwandelt hat. Dann folgt eine Bescheidenheitsfloskel, wobei sich poetologischer Anspruch und medizinische Ethik verschränken. Die horazsche Idee vom Nutzen der Dichtung und der hippokratische Eid klingen an: »Kann ich nicht nützen, so will ich auch nicht schaden« (V. 13).36 Wenn von der vertextlichten Edelsteintinktur doch nichts Heilendes erwartet werden kann, so soll sie wenigstens nichts Übles anrichten. Das Gedicht weist die Bedeutung eines Karbunkels als Pestbeule ab und somit auch die Krankheit von sich, nutzt das Grauen für ein 34
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Art. Rubin, Rubinstein. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon. Bd. 1–64. Graz 1961–1964, hier Bd. 32, Sp. 1423–1429, hier Sp. 1423. Von »Carbunckel« wird auf »Anthrax« und von dort auf »Rubin« weiterverwiesen. Ebd. Vgl. Friedrich Ohly: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne. Berlin 1976. Das Nicht-Schaden war und ist stets das Zentrum des ärztlichen Schwures. Vgl. Charlotte Schubert: Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute. Darmstadt 2005. Wilfried Nolte: Der hippokratische Eid und die Abschlußeide der früheren und jetzigen deutschsprachigen Hochschulen – mit ergänzender Betrachtung ausländischer Eide. Diss. Bochum 1981.
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ästhetisches Spiel. Der gelehrte Mediziner wird der Herausforderung auf diese Weise Herr. Kunst ist die einzige Möglichkeit, der todbringenden Krankheit entgegenzutreten. Sie hilft dabei, dem Leiden, gegen das kein Kraut gewachsen ist, durch ästhetische Transformation noch einen Sinn abzugewinnen. Die drei Beispiele reflektieren auf die Figur des gelehrten Mediziners auf unterschiedliche Weise. Das Reisegedicht stellt den medizinischen Gelehrten als Lesenden aus, der nicht heilen kann, sich aber dennoch Ruhm erwirbt. Die geistlichen Gedichte exponieren als wahren Heiler den Christus medicus, der nur im Kontext des göttlichen Wortes zu verstehen ist und nach dem Handeln des Arztes in der Welt, der Legitimation seines Wissens, fragen lässt. Das Widmungsgedicht zeigt den Weg aus der Krise. Die Medizin in der Welt gibt Anlass, das Grauen in Kunst zu transformieren. Sie vermag, dass aus einer Pestbeule ein Vergnügen wird. Das will nur einer, der sich auf beides versteht: auf Medizin und auf Poesie.
Jörg Robert
Der Petrarkist als Pathologe Bemerkungen zu Paul Flemings medizinischer Dissertation De lue venerea (1640)
1. Petrarkist und Pathologe Dass Paul Fleming kein »Mediziner aus Leidenschaft, Neigung, Berufung« gewesen sei,1 zählt seit Heinz Entner zu jenen Vorurteilen der Forschung, die einer erneuten Überprüfung kaum standhalten. Flemings Beziehungen zur Medizin erstrecken sich über gut ein Jahrzehnt: vom Medizinstudium in Leipzig (1632/33) über die persönliche Bekanntschaft mit Medizinern wie Hartmann Grahmann bis zum Studium in Leiden2 (Immatrikulation am 29. Oktober 1639), das er kurz vor seinem Tod noch mit der Promotion abschließt. Auch wenn Fleming nie als Arzt praktiziert hat, scheint er doch von den Debatten um alternative Methoden im Fach, zumal über den Gegensatz von theoretischer bzw. »iatrophilologischer« und praktisch-empirischer Medizin, die Fleming in den Kasualcarmina auf den Freund Hartmann Grahmann,3 Georg Gloger4 oder im Widmungsgedicht zu Johannes Zeidlers De carbunculo pestilenti5 thematisiert hat, nicht unberührt geblieben zu sein.6 In der Geschichte der Symbiosen bzw. »Koevolutionen« von Literatur und Medizin7 hat damit auch Fleming seinen gebührenden Platz. Auch dieser Autor 1 2 3 4 5 6
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Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 117. Zu Fleming als Mediziner eingehend ebd., S. 65–121. PW IV, 31. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. PW IV, 6. Sylv. II, 2. Ich gehe auf diese Zusammenhänge nicht mehr im Einzelnen ein, da die genannten Texte im Beitrag von Stefanie Arend eingehend besprochen sind. Ich danke der Autorin an dieser Stelle für die Einladung und großzügige Überlassung ihres Manuskripts im Vorfeld der Tagung, die es mir ermöglicht hat, meine Fragestellung zu präzisieren. Den Begriff der »Koevolution« wählt Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28 (2003), S. 181–231, hier S. 228–231. Zum Überblick verweise ich auf das Lexikon Literatur und Medizin. Hg. v. Bettina von Jagow u. Florian Steger. Göttingen 2005 (zur Syphilis vgl. Sp. 762–766) sowie Herbert Heckmann: Literatur und Krankheit. Fernwald 1987; Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. I: Darstellung und Deutung. Hürtgenwald 1991; Joanne Trautmann/Carol Pollard: Literature and medicine: topics, titles and notes. Philadelphia 1975. Zur Frühen Neuzeit: Dietrich von Engelhardt: Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Wilhelm
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gehört zu den »gelehrte[n] Doppelkompetenz[en]«,8 jenen »Arztschriftstellern«,9 denen Thomas Bartholin10 – selbst in Personalunion Mediziner, Philologie und Dichter – wenige Jahre später (1669) eine eingehende Würdigung zukommen lässt. Bartholin verfolgt die Reihe der poetae medici von Homer bis in die Gegenwart, um den Adepten der hippokratischen Kunst eindringlich zu empfehlen, aus der Lektüre der Klassiker auch für die eigene Disziplin zu profitieren.11 Wo Bartholin noch einmal die Einheit von doctrina und poiesis feiert, scheinen sich bei Fleming die Bahnen zu trennen – zumindest auf den ersten Blick.12 Ziel der folgenden Überlegungen ist es daher, die Frage nach dem Zusammenhang von medicina und poiesis, von Petrarkismus und Pathologie in Flemings Werk noch
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Kühlmann. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992, S. 30–54; Sandra Pott: ›Medicus poeta‹. Poetisierung medizinischen Wissens über Pest und Blässe: Hans Folz und einige unbekannte Mediziner-Dichter. In: Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Hg. v. Florian Steger u. Kay Peter Jankrift. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 237–261; Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991. Herbert Jaumann: Iatrophilologie. Medicus philologus und analoge Konzepte in der frühen Neuzeit. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹. Hg. v. Ralph Häfner. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 151–176, hier S. 151. Engelhardt (Anm. 7), S. 45–47. Zu seiner Person vgl. Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin/New York 2004, S. 70f. (mit weiterer Literatur). Thomas Bartholin: De medicis poetis. Kopenhagen 1669, S. 1: »Poëseos studium non alios magis qvam Medicos afficit, sive utile expendas sive jucundum. Utroque enim nomine se ad hoc mortalium genus demittunt apes imitati, qvi in horto pulcros flores sectantur & dulcedine proficuos. Ne igitur inutili vel damnoso opere occupatos clamet invidia vel imperitia, si qvando ad has studiorum amoenitates deflectant, placet utriusque causam agere, Medicisque Poëtas commendare vel legendi studio vel imitandi.« Bartholin geht es weniger um den Nachweis von Doppelberufungen, wie sie Fleming, Haller, Schiller, Büchner, Benn, Döblin u. a. repräsentieren, als um eine Neuauflage der Figur des poeta doctus im Hinblick auf die Medizin (nach dem Schema: »Auch Autor xy ist voll von medizinischem Wissen …«), nicht also um die professionelle Personalunion von Dichter und Mediziner, sondern um die Präsenz von Medizin in Dichtung, modern gesprochen: von Wissen in Poesie. Dieser Nachweis der wissenschaftlichen ›Sättigung‹ von Dichtung – ausgesprochen von einem Mediziner – hat klar apologetischen Charakter. Er zielt auf eine Rettung der (alten) Dichtung unter der Perspektive des (neuen) empirischen Wissenschaftsbegriffs, wie ihn der von Stefanie Arend erwähnte Nicolaes Tulp (s. u.) oder (eine Generation später) Thomas Sydenham vertraten. Gegen die Ankündigung, auch den Nutzen der Medizin für den Dichter zu untersuchen, bemüht sich Bartholin doch fast ausschließlich darum, alte wie neue Dichtung als Quelle medizinischen Wissens zu erschließen und zu rehabilitieren. Nur ganz allgemein wird dazu animiert, die gelehrte Praxis der Alten nachzuahmen und »medizinisches Wissen in Verse zu gießen« (S. 76). Sein Werk schließt mit einem großen Katalog von »poetae medici«, der in breiter Folge von Homer bis zu den Autoren der eigenen Gegenwart und Region (Dänemark) reicht. Diese Auffassung vertritt Entner (Anm. 1), S. 121: »Muß man sich da wundern, dass Flemings Haltung als Mediziner so unbestimmt bleibt? Sein Leben stand in Wahrheit unter einem anderen, dem Zeichen der Dichtung.« Eine Ausnahme bildet das Gedicht an Hartmann Grahmann (PW IV, 31), das als Casualcarmen zugleich ein Lehrgedicht darstellt, in dem kontroverse medizinische Materien »beider Medizin« (V. 67) vom poeta doctus bzw. medicus vorgeführt werden.
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einmal vor dem Hintergrund beider Professionen neu zu stellen und damit nicht nur das Feld der ›Liebe als Passion‹, sondern auch den Raum der ›Wissenspoetik‹ des 17. Jahrhunderts neu zu kartieren. Ausgangspunkt ist Flemings medizinische Dissertation mit dem Titel Disputatio medica inauguralis de Lue Venerea (›Über die Lustseuche‹), mit welcher der Dichter am 23. Januar 1640 in Leiden, also nur gut zwei Monate vor seinem Tod, zum Doktor der Medizin promoviert wird.13 In der Fleming-Forschung hat der in Leiden erschienene, den russischen Freunden Wendelin Sibelist, Hartmann Grahmann und Adam Olearius gewidmete Thesendruck zumeist keine Rolle gespielt; lange galt er als verschollen. Jean Astuc erwähnt die Dissertation des »Medicinae Doctor celebris« noch in seiner Schrift De morbis Venereis (1740),14 ebenso Wilhelm Gottfried Ploucquet in seiner literatura medica digesta.15 Doch schon Lappenberg konnte ihn 1857 bei seinen Recherchen in Leiden, an der promovierenden Alma mater also, nicht auffinden;16 ein Aufsatz von Oswald Feis aus dem Jahr 1916, der sich Flemings Beziehungen zur Medizin widmet, zitiert am Ende – ohne Angaben zu Fundort und Provenienz – aus dem Leidener Druck,17 den erst die amerikanische Germanistin Marian R. Sperberg-McQueen in der Kieler Universitätsbibliothek wiederentdeckt und kursorisch gewürdigt hat18 – ohne auf nennenswerte Resonanz in der Fleming-Forschung zu stoßen. Immerhin hat Heinz Entner dem Thesendruck in seiner großen Biographie von 1989 einige vorläufige Bemerkungen gewidmet.19 Sie münden in die bereits zitierten Zweifel an Flemings Willen, »eine wissenschaftliche Überzeugung um jeden Preis zu vertreten«.20 Schon Oswald Feis hatte in seiner flüchtigen Durchsicht der Schrift die Meinung geäußert, sie repräsentiere nur den »Niederschlag der damals gel-
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Disputatio medica inauguralis de Lue Venerea, quam […] Publicae disquisitioni subjicit M. Paulus Flemingus […] ad diem 23 Ianuarij, horis locoque consuetis. Lugduni Batavorum (Leiden) 1640 (Exemplar der Universitätsbibliothek Kiel. Sign. Ke 9978-503. Ich danke der UB Kiel und ihren freundlichen Mitarbeitern für die ungewöhnlich prompte und kollegiale Hilfe bei der Übermittlung des Textes). Im Codex academicorum 1640 (16. Januar) findet sich die Eintragung: »Concessus est M. Paulo Flamingo, ad disputandum pro summo gradu in Medicina dies huius mensis XXIII. qui erit dies Lunae. // d. XXII (so für XXIII) eiusdem mensis M. Paulus Flamingus visus est dignus, cui supremus in Medicina gradus conferetur: quem illi contulit D. Screvelius«. Nach Oswald Feis: Paul Fleming und seine Beziehungen zur Medizin. In: Archiv der Geschichte der Medizin 9 (1916), S. 185–199, hier S. 196. Gemeinsam mit Frau Professor Stefanie Arend plane ich, demnächst eine kommentierte Edition des Textes der disputatio vorzulegen. Bd. 2, 925. Desgleichen Christoph Girtanner: Abhandlung über die Venerische Krankheit. 2. Bd. Göttingen 1793, S. 211, der sich auf Astuc bezieht. Übrigens wäre Girtanners chronologisch-annalistische Bibliographie neben dem genannten Jean Astuc ein exzellenter Ausgangspunkt für eine systematische Studie zum Thema in der Frühen Neuzeit. Bd. 4. Tübingen 1809, dort S. 219. Lappenberg in DG 2, 844. Feis (Anm. 13), hier S. 196–198. Marian R. Sperberg-McQueen: Paul Fleming’s inaugural disputation in medicine: a »lost« work found. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), S. 6–9. Entner (Anm. 1), S. 114–118. Ebd., S. 117.
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tenden Grundsätze über Wesen und Behandlung der Lues«.21 Diese Auffassung soll hier weniger revidiert als neu kontextualisiert werden. Es wird sich dabei zeigen, dass die Symbiose von Dichter und Mediziner, von Petrarkist und Pathologie keineswegs zufällig ist. Vielmehr zeigt sie zwei komplementäre Seiten eines Liebesdiskurses, dessen frühneuzeitliche »Pluralität«22 im Falle Flemings noch um den Aspekt des medizinischen Diskurses bereichert wird.
2. Syphilis und Literatur in der Frühen Neuzeit Mit seiner Disputatio de lue Venerea greift Fleming ein Thema auf, dem für eine Geschichte der Beziehungen zwischen Medizin und Literatur schlechthin zentrale Bedeutung zukommt – die Syphilis. Die Leidener Dissertation bildet in der noch zu schreibenden Literaturgeschichte der Syphilis in der frühen Neuzeit einen wichtigen Markstein. Sie stellt sich in eine Reihe mit den Texten bedeutender Arzt-Humanisten wie Sebastian Brant oder Girolamo Fracastoro, die sich der Krankheit seit ihrem pandemischen Ausbruch in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts in verschiedenen Kontexten und Perspektiven annähern. Das Schrifttum, das sich dem morbus Gallicus widmet, ist immens. Es umfasst bis zum Jahre 1600 »schätzungsweise an die zweihundert handschriftliche und gedruckte Abhandlungen, nicht wenige aus Deutschland«.23 Neben die Traktate der Arzt-Humanisten treten Zeugnisse einer poetischen »Selbstverständigung im Leiden«.24 Conrad Celtis und Ulrich von Hutten – die prominentesten Opfer des morbus Gallicus unter den deutschen Humanisten – haben zu dieser literarischen Reihe beigetragen.25 Die literarische und kulturelle Konstruktion der Syphilis unterliegt in der frühen Neuzeit historisch spezifischen Bedingungen, die sie von der inzwischen gut untersuchten modernen Literaturgeschichte der Syphilis abheben. In dieser treten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die »subversive poetische Qualität der Syphilis«26 oder – wie in Thomas Manns Doktor Faustus – die kreativen Potenziale des genialen Syphilitikers in den Vordergrund.27 21 22 23
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Feis (Anm. 13), S. 196. Zur Frage der »Pluralität« der rinascimentalen Liebesdiskurse vgl. unten Anm. 35. John L. Flood: Die Syphilis und der deutsche Humanismus. In: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. v. Christa Baufeld. Göppingen 1994, S. 217–247, S. 222. Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden. Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chythraeus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Wilhelm Kühlmann. Tübingen 1992, S. 1–29. Raimund Kemper: Zur Syphilis-Erkrankung des Conrad Celtis, zum ›Vaticinium‹ Ulsens und zum sogenannten ›Pestbild‹ Dürers. In: Archiv für Kulturgeschichte 59 (1977), S. 99– 118. Anja Schönlau: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880– 2000). Würzburg 2005, S. 17. Ebd., S. 449–468.
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In der frühen Neuzeit kann selbst bei Iatrophilologen und poetae medici wie Fleming von einer solchen »Syph-Philologie«,28 die Krankheit zum poetogenen Merkmal aufwertet, noch keine Rede sein. Eine kursorische Durchsicht des Textfeldes scheint zu bestätigen, dass der »literarische Stellenwert der Krankheit im 17. und 18. Jahrhundert gering«29 ist. Im Hinblick auf die wissenspoetischen Symbiosen von Dichtung und Medizin bleibt zu konstatieren, dass »die deutsche Literatur der frühen Neuzeit nichts zu bieten [hat], was mit Fracastoros Gedicht zu vergleichen wäre«.30 Damit zeichnen sich – unter Vorbehalt – folgende Tendenzen ab: 1. Sieht man von den genuin medizinischen Texten, vor allem von Girolamo Fracastoros Lehrgedicht Syphilis sive de morbo Gallico (1530) oder Huttens De guaiaci medicina et morbo Gallico (1519) ab, so ist das erste Jahrhundert der Auseinandersetzung mit der Syphilis von Zuschreibungs- und Sinnfindungsstrategien, namentlich theologischer und moral-didaktischer Art, bestimmt. 2. Im poetischen Rahmen erscheint die Syphilis allenfalls als »Nebenmotiv zur komischen oder polemischen Satire«.31 Zur »Krankheit à la mode« avanciert sie im elisabethanischen Theater,32 namentlich bei Shakespeare, in Deutschland finden sich sporadische Entsprechungen bei Gryphius (Horribilicribrifax) oder Rist (Das Friedewünschende Teutschland). Hinzu kommt der satirische Roman (Rabelais) bzw. der Picaro-Roman. So zieht sich Grimmelshausens Courasche die »lieben Frantzosen mit wohlgeneigter Gunst«33 zu. 3. Die kulturelle Konstruktion der Syphilis erfolgt im Horizont einer spezifischen Kodierung von Liebe und Passion. Rede über die Syphilis situiert sich innerliterarisch im Rahmen eines grundsätzlich »pluralen« Liebesdiskurses, in dem etwa der entstellte oder als entstellt imaginierte Körper der Geliebten zum Spielmotiv petrarkistischer (bei Hoffmannswaldau) oder antipetrarkistischer vanitas-Topik wird.34 Der medizinische Liebesdiskurs steht in 28
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Dietmar Schmidt: »Menschenoberfläche durchlöchert«. Zur modernen Literaturgeschichte der Syphilis. In: Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt. Hg. v. dems. u. Annette Keck. Berlin 1994, S. 38–56, hier S. 39. Schönlau (Anm. 26), S. 76. Flood (Anm. 23), S. 233. Schönlau (Anm. 26), S. 60. Jean Goens: De la Syphilis au Sida. Cinq siècles des mémoires littéraires de Vénus. Brüssel 1995, S. 46. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche. Abdruck der Erstausgabe (1670) mit Lesarten der späteren unrechtmäßigen und der zweiten rechtmäßigen Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Bender. Tübingen 1967, S. 128. »Dass sich die kulturelle Konstruktion der Syphilis – nicht ganz ohne Grund – mit Vergänglichkeitstopoi überschneidet«, betont schon Anja Schönlau (Anm. 26, S. 65). Es ist hier nicht der Ort, den umstrittenen aber doch unverzichtbaren Begriff des Antipetrarkismus näher zu erörtern. Vgl. zuletzt Thomas Borgstedt: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, S. 297–306; Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 4/2.
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Wechselwirkung mit der von Klaus W. Hempfer aufgewiesenen »Pluralisierung der Liebesdiskurse in der Frühen Neuzeit«,35 ein Vorgang, der noch einmal um die pragmatischen und wissenspoetischen Komponenten der medicina poetica zu erweitern wäre. Abzugleichen und zu bestimmen sind von hier aus Schnittmengen zwischen arguter, insbesondere antipetrarkistischer Liebessemantik und Pathologie, lyrischer Desintegration des schönen Leibes und physiologischer Symptomatik in der medizinischen Trattatistik. Einen Hinweis auf Schnittmengen zwischen Medizin und Literatur im Zeichen einer argutia-Poetik, die auf das sinnreiche Spiel mit dem Ekel36 setzt, gibt Flemings Widmungsgedicht zur Dissertation De Carbunculo pestilenti.37 Die Zweideutigkeit des Rubins (»Carbunculus«, auch »Anthrax« genannt) zwischen Pestgeschwür und Edelstein erlaubt ein semantisches Vexierspiel, bei dem sich je nach Neigungswinkel, eigentlicher oder uneigentlicher Deutung, das Schöne und das Hässliche verbinden. Diese Kompensation des Eklen durch das Edle, der Krankheit durch die Kunst kehrt bei Grimmelshausen wieder, wenn es an der oben zitierten Stelle von den »lieben Frantzosen« weiter heißt: »Diese schlugen aus / und begunten mich mit Rubinen zu zieren / als der lustige und fröliche Frühling den gantzen Erdboden mit allerhand schönen wohlgezierten Blumen besetzte«.38
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Tübingen 2006, S. 144–146; für Pyritz sind es die Momente (auch sexueller) Erfüllung, die »Lustmoment(e)«, die Flemings idealtypischen Petrarkismus gelegentlich antipetrarkistisch einfärben; Pyritz nennt das (Anm. 87, S. 206) »Ketzereien eines Petrarkisten«. Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966, S. 70–73 stimmt dieser Einschränkung des Antipetrarkismus auf die Darstellung von »Liebesgewährung« im Kern zu (S. 74), weitet allenfalls die Zahl der zugehörigen Texte aus. Exemplarisch in folgenden Studien: Klaus W. Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hg. v. Wolf-Dieter Stempel u. Karl-Heinz Stierle. München 1987, S. 253–277; Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 38 (1988), S. 251–264; Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissance-Begriffs und die epistemologische Wende. In: Renaissance – Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur, Philosophie, bildende Kunst. Hg. v. Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1993, S. 9–45. Leider setzt Winfried Menninghaus’ anregende Studie über den Ekel: Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 2002 erst Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Eine vergleichbare Studie für die Frühe Neuzeit fehlt. Sylv. II, 2 (Dedicatio Disputationis de Carbunculo ad Philipp Müllerum, V. Cl. Medicum et Mathematicum). Vgl. dazu die Ausführungen von Stefanie Arend im vorliegenden Band. Grimmelshausen (Anm. 33), S. 128. Mit ähnlicher Motivik ein Gedicht von Abschatz auf Die Blattern oder Kinder-Pocken: »Ihr Kinder schnöder Eitelkeit/ Die ihr mit theuren Steinen pranget/ Was eine Muschel zubereit/ Aus weit-entfernter See verlanget/ Kommt/ seht die Perlen und Rubinen / Die mir itzund zum Schmucke dienen« (Hans Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Faksimile der Gesamt-Ausgabe von 1704. Hg. v. Erika Alma Metzger. Bern 1970, Bd. 4, S. 84); vgl. auch Angelus Silesius: Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge: »Die Pestilenz, die plaget sie / Mit Eiterbeuln und Schlieren, / Carbunkel, Sprenkeln und was nie / Auf Erden war zu spüren. / Die Gicht, das Zahnweh und der Stein, / Das Nagen in dem Herzen / Sind gegen ihrer andern Pein / Noch gar geringe Schmerzen«. Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden, Hg. u. eingel. v. Hans Ludwig Held. München 1952, Bd. 3, S. 250. Ähnliches findet sich schon
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Die Symptomatik der Syphilis dient hier einem iatrophilologisch belesenen Antipetrarkismus. In jedem Fall waren die ganz realen Bilder der Syphilis das Andere des petrarkistischen Schönheitsideals, dessen kompensatorische Energien nur vor ihrem Hintergrund zu verstehen sind. Die Beschreibung vollkommener Schönheit war die phantasmatische Umkehrung des vollkommen Hässlichen und Stigmatisierten, das der Petrarkist als Pathologe in der Symptomatik der Syphilis so eingehend beschrieb. »Die brennenden Rubinen«, mit denen Fleming bereits 1635 den Mund einer livländischen Schönen vergleicht, waren im Kontext der Zeit eine zweideutige Chiffre, in der Ekel und Begehren sich in lyrischem Fetischismus verdichteten. Hier lag der Ansatz zu einer Pathologisierung des Petrarkismus, die auf eine Dialektik von Liebesdichtung und Lustseuche reflektierte. Im Angesicht der ganz realen Liebesleiden waren Verse wie die folgenden eines Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau von beinahe zynischer Doppeldeutigkeit: Mich deucht es rühren mich der hellen augen flammen Und das geschwinde gifft / so aus rubinen fährt. Es schlägt itzt über mir die wollust-fluth zusammen So mir die höllen-angst ins paradieß verkehrt.39
3. De lue Venerea – Konturen Flemings Disputatio de lue Venerea ist den russischen Gefährten und Freunden gewidmet: Adam Olearius (1599–1671), dem Hofmathematiker, sowie Hartmann Grahmann und Wendelin Sibelist, den »Leibärzten« des Zaren. Letzterem, Sibelist, hatte Fleming bereits ein längeres Lobgedicht, verfasst in der zweiten Hälfte des Jahres 1634, gewidmet, in dem er als »ter peritus interpres fidusque doctor«40 angesprochen wird. Ob er tatsächlich ein »konservativer Galeniker«41 war, lässt sich dem Gedicht nicht mit Bestimmtheit entnehmen; immerhin wird auch hier die akademische Reputation, die theoretische Ausbildung (»ars«, »disciplina«), mithin die Seite der gelehrten »Iatrophilologie« betont. Die Widmung an die drei Freunde unterstreicht eines: Flemings Willen, die wissenschaftliche Dignität seiner Schrift durch den Hinweis auf die medizinische (bzw. mathematische) Autorität und doctrina der berühmten Freunde zu sichern. Sie bleibt indes der einzige Paratext, der Hinweise auf lebensweltliche oder epistemologische Kontexte jenseits des Fachwissenschaftlichen gestattet. Ansonsten kommt der Druck ohne
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bei Luther: »Es möcht jemand wol gern fluchen, das sie der Blitz und Donner erschlüge, Hellisch fewr verbrente, Pestilentz, Frantzosen, S. Nelten, S. Antoni, Aussatz, Carbunckel und alle Plage hetten«. (Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe in 120 Bänden (Weimarer Ausgabe). Weimar 1888ff., hier 1. Reihe, Bd. 54, S. 227). Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster Teil. Hg. v. Angelo George de Capua u. Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961 (ND von Benjamin Neukirchs Anthologie. Leipzig 1695), S. 79. Sylv. V, 2, V. 5f. (Wendelino Sibelist, Magni Moschoviae Principis Archiatro). Entner (Anm. 1), S. 114.
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Rahmung, ohne Vorreden oder Geleit-carmina aus; manches, die zahlreichen typographischen Irrtümer etwa, deutet auf eine eilige Drucklegung hin. Auch über Flemings Gründe für die Wahl dieses Themas erfahren wir nichts. Vielleicht lagen diese in Erfahrungen der Expedition. Olearius berichtet etwa, dass die Gesandtschaft in Persien mit der »schändlichen Kranckheit der Frantzosen« in Berührung kam.42 Vielleicht war es auch die Präsenz der Syphilis in Reval, die Fleming dazu bewegte, in Leiden neueste medizinische Expertise zu gewinnen, die ihm bei einer praktischen Tätigkeit als Arzt vor Ort von Nutzen gewesen wäre.43 Die dissertatio ist ein Stück genuin medizinischer Fachprosa, eine reine »Qualifikationsarbeit«. Sie verzichtet auf alle Exkurse in eigener oder methodischer Sache, auf (fast) alle Brückenschläge in die Sphäre der Literatur oder Philosophie. Was den wissenschaftlichen Gehalt betrifft, so scheint er »nur der Niederschlag der damals geltenden Grundsätze über Wesen und Behandlung der Lues« zu sein, eine »eigene Note« zeichnet sich zunächst kaum ab.44 Entner hatte zurückhaltend auf eine »paracelsisch getönte Modernität« hingewiesen, die jedoch lediglich oberflächlich eine konservative galenische Säftelehre mit ihren ›purgierenden‹ Maßnahmen (Aderlass, Abführen, Erbrechen, Speichelfluss, Schwitzen) überdecke.45 In der Tat scheinen die insgesamt 27 Thesen kaum mehr zu bieten als eine Synopse des zeitgenössischen Wissensstandes, Fleming erscheint weniger als poeta medicus denn als poeta philologus. Der Thesendruck weist folgende Gliederung auf: I. Teil (Kap. 1–13): Allgemeines (Begriffliches, Ätiologie, Symptome, Diagnostik) 1. 2. 3. 4. 5.–7. 8. 42
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Bezeichnung Definition Art und Status der Krankheit Wirkung Ätiologie Ansteckungswege
Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse. Schleswig 1656 (ND Tübingen 1971), S. 565: »Am aller meisten aber werden sie mit der schändlichen Kranckheit der Frantzosen beschweret / welche sie ihre hitzige Natur und Begierden mit unzüchtigen mitteln zu fühlen selbst veruhrsachen. Gleich wie bey uns solche Kranckheit den Nahmen von der Frantzösischen Nation / weil sie bey ihnen am meisten gefunden wird / bekommen; Also wird sie von den Persern Schemet kaschi, die Kaschanische Beschwerung genandt / weil sie in der Stadt Kaschan am aller meisten regieret«. Hinweis von Lappenberg in DG 2, 844. Diesen Hinweis verdanke ich Frau Professor Kristi Viiding (Talinn), der ich an dieser Stelle ganz herzlich für Auskunft und Literaturhinweise danken möchte. Schon im 16. Jahrhundert grassierten die »Pocken« in Reval derart, »dass man sich genötigt sah, ein Hospital speziell für diese Kranken einzurichten«, welches jedoch schon 1570 wieder zerstört wurde. A. Spindler: Geschichte der Syphilis in Reval. In: Archiv für Dermatologie und Syphilis 128 (1921), S. 79–99, hier S. 81. Seitdem existierte in Reval kein spezielles Krankenhaus für Syphilitiker mehr, obwohl die Syphilis – den Berichten des 17. Jahrhunderts zufolge – durchaus blühte (ebd. S. 89). Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2005, Bd. 1, besonders S. 462f. Feis (Anm. 13), S. 196. Entner (Anm. 1), S. 115.
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9. Unterarten 10.–11. Symptome 12. Paracelsus und Paracelsisten 13. Prognosen II. Teil (14–27): Therapie 14. Methodik: »Empiria & Analogismus« 15.–16. Purgativa 17. »Chymici« 18–19. Spezifische Mittel 20. Quecksilber 21. Anregung des Speichelflusses 22. Harntreibende Mittel (Diuretica) 23–24. Behandlung im frühen bzw. entwickelten Stadium 25. Palliativa 26. Diätetik 27. Rückfälle
Eine Auswertung der Quellenverweise belegt, dass nicht die »alten« Autoritäten (Galen und Hippokrates), sondern die rezenten die Argumentation bestimmen. Dabei spielen Vertreter des Paracelsismus, den Fleming in Leipzig kennenlernte,46 eine bedeutende Rolle: Dreimal werden Daniel Sennert und Johann Hartmann zitiert, je einmal Fracastoro, Croll, Joseph Duchesne (Quercetanus) und Laurent Joubert, einmal auch Paracelsus selbst.47 Flemings wichtigste Bezugsquelle mit sechs Erwähnungen ist jedoch eine andere: es handelt sich um den italieni46
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Ebd., S. 105. Für den prosopographischen Nachweis des paracelsischen ›Milieus‹ in Leipzig, das sich mit Figuren wie Sennert, Croll oder Johann Michaelis verbindet, siehe eingehend den Artikel von Stefanie Arend in diesem Band. Entscheidend für die Dissertation ist die Tatsache, dass sich Fleming in ihren Thesen nicht entschieden als Paracelsist zu erkennen gibt – aber auch nicht als entschiedener Paracelsus-Gegner. Der paracelsistische Standpunkt wird als ›exzentrisch‹ gegenüber der Schulmeinung markiert, jedoch nicht ausdrücklich als irrig abgetan – hier knüpfte sicher die mündliche Verteidigung der Thesen im Promotionsverfahren an. Es scheint, als versuche Fleming in der Dissertation, den »empirischen« Standpunkt der Paracelsisten auf die induktiv-klinische Orientierung der Leidener Fakultät zu beziehen, von der weiter unten (Anm. 59) noch die Rede sein wird. Überhaupt ist es nicht ganz leicht, Fleming eine Geringschätzung paracelsischer Lehre anzulasten. In Epigramm V, 8 etwa feiert er Paracelsus als Heilsbringer und »Europae decus« (V, 8, 4). Stefanie Arends Analyse des Gedichts an Hartmann Grahmann (PW IV, 31), in dem Elemente der Lehre des »hohe(n) Theophrast« (PW IV, 31, V. 69) referiert werden, betont dagegen – mit guten textimmanenten Gründen – dass Fleming den Heilsanspruch des Paracelsismus »bereits im Ansatz dekonstruiert«. Nach Entner (Anm. 1), S. 115. Es ist hier nicht der Ort, die Genese und Entwicklung des Paracelsismus zusammenzufassend darzustellen. Einen brillanten Überblick über die neuere Forschung bieten die Einleitungen von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle zu: Corpus Paracelsisticum. Der Frühparacelsismus. Hg. v. dens. Bd. 1. Tübingen 2001, S. 1–39, u. Bd. 2, Tübingen 2004, S. 1–39; weiterhin Udo Benzenhöfer: Paracelsus. Reinbek b. Hamburg 32003; ders.: Studien zum Frühwerk des Paracelsus im Bereich Medizin und Naturkunde. Münster 2005; Dietrich von Engelhardt: Paracelsus im Urteil der Naturwissenschaften und Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2001. Zur Rolle des Paracelsismus in der Literatur vgl. Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi/Nachahmung der Natur.
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schen Anatom und Chirurgen Gabriele Falloppio (Fallopius, 1523–1562), dessen Schrift De morbo Gallico (Venedig 1564, dann Padua 1574) schon Karl Sudhoff als »eine der wertvollsten des 16. Jahrhunderts«48 einstufte; dies vielleicht auch, weil Falloppio in Kapitel 88 seiner Schrift eine wegweisende Erfindung vorstellt, ein »mit Arzneien getränktes Stück Tuch«, das der Mann vor bzw. nach dem Geschlechtsakt über sein Glied streifen soll.49 Fleming hat diese Form der Syphilis-»praeservatio« geflissentlich verschwiegen; im übrigen aber repräsentiert Falloppios De morbo Gallico in der Ökonomie von Flemings Traktat die wissenschaftliche Normalerwartung, an der sich seine eigenen Thesen und Positionen messen lassen. Die Ausrichtung auf neue, empirische Quellen und Gewährsleute erklärt sich aus der novitas der Krankheit, die Fleming gleich eingangs betont: »Die Lustseuche, die den Alten völlig unbekannt war«.50 Fleming schließt sich der allgemeinen Überzeugung an, dass die Syphilis zur Zeit der französischen Besatzung Neapels aufgetreten sei und fasst mit den wichtigsten Bezeichnungen die unterschiedlichen Positionen in der Frage ihrer Ätiologie zusammen: Morbus Gallicus und Italicus verweisen auf den Ort des erstmaligen Ausbruchs, morbus Indicus auf die Hypothese von der amerikanischen Herkunft der Krankheit. In diesem Zusammenhang wird auch Fracastoros Lehrgedicht genannt, das zuerst die Bezeichnung »Syphilis« ins Spiel gebracht hatte, die sich jedoch erst im 18. Jahrhundert bei William Cullen durchsetzt. In medizinhistorischer Sicht war die »Venerea lues« alias Syphilis eine interessante Wahl. An ihr kristallisierte sich der Gegensatz zwischen auctoritas veterum und recentium, aber auch der zwischen theoretisch-philologischer und empirisch-klinischer Heilkunde in besonders dringlicher Form. Insistierte man wie Fleming und sein Gewährsmann Falloppio auf der novitas morbi, so war der Griff zu den antiken Gewährsleuten von vornherein abgeschnitten. Der rinascimentale Diskurs um novitas und Modernität erschien hier unter negativen Vorzeichen, eine querelle des médecins, bei der einmal mehr die skeptischen Töne im Umgang mit dem Neuen und schlechthin Modernen überwogen. Jedenfalls zwang das rezente Übel zu einem provisorischen, hantierenden Umgang mit der Krankheit, beförderte in der Theorie Hypothesen, in der Praxis »eine ausgesprochne Polypragmasie«,51 die von der Diätetik bis zu chirurgischen Verfahren reichte, von der Quecksilber- und Guajak-Kur, die Hutten populär gemacht hatte, bis zu physikalisch-therapeutischen Verfahren wie der Hyperthermie.
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Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007. Nach Entner (Anm. 1), S. 115. Gabrielis Fallopii Mutinensis […] De morbo Gallico liber absolutissimus. Venedig 1564, S. 150. Fleming: Disputatio (Anm. 13), A 2r: »Venerea lues, veteribus planè ignota«. Gundolf Keil/Willem F. Daems: Paracelsus und die ›Franzosen‹. Beobachtungen zur Venerologie. Tl. 1: Pathologie und nosologisches Konzept. In: Nova acta Paracelsica 9 (1977), S. 99–151, S. 106.
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Diese Polypragmasie verfolgt auch Fleming im zweiten, therapeutischen Teil seiner disputatio (Kap. 14–27). In Kapitel 14 wird sie ausdrücklich gerechtfertigt. Die Syphilis sei ein »morbus novus«, dessen Heilmittel sich allein durch ›Erfahrung und Analogieschluss‹ (»Empiria & analogismus«) finden ließen; die empirischen Daten müssten durch »methodus« und »ratio« durchdrungen und systematisiert werden.52 Fleming wiederholt damit einen Grundsatz, der fünf Jahre zuvor im Carmen an Hartmann Grahmann ausgesprochen wurde: »Erfahrung und Vernunft, die sind mit ihr vermählt, / die Beine der Arznei«.53 Mit diesem Lob einer methodisch reflektierten Empirie steht Fleming um 1640 keineswegs allein – eher im Gegenteil. Nur ein Jahr später wird sie der niederländische Arzt und Anatom Nicolaes Tulp (1593–1674) in seinen einflussreichen, immer wieder aufgelegten Observationes medicae (zuerst 1641) wiederholen, wenn er die medizinische Methodik auf die Dualität von »ratio et usus« verpflichten wird.54 Die Parallelen zwischen den Observationes und dem Gedicht an Grahmann schärfen den Blick für Flemings Stellung innerhalb der Geschichte der Medizin. Wie Fleming im Gedicht an Grahmann artikuliert auch Tulp ein baconsches Wissenschaftsideal, das emphatisch die ›neue‹ empirische Wissenschaft jener »alte[n] Phantasei«55 entgegensetzt, die fern jeden (natur-)philosophischen Anspruchs auf reines Hantieren mit Rezepturen (»Zettel fast einer Ellen lang«) setzt.56 Die ›neuen‹ Ärzte sind »Kinder der Natur«, weil sie philosophische (»weisern Weg«) und praktische Bildung mit der Kenntnis der Tradition verbinden (»der Arzeneien Väter«; V. 56), die der medicus philosophus »wol durchlesen« (V. 63) hat. Der gute Arzt inkorporiert die Traditionen des Faches von den mythischen Zeiten bis in die Gegenwart: »Machaon wohnt in dir« (V. 58). Das Altersargument verweist wiederum auf Bartholins De poetis medicis, das mit dem Ziel antritt, ein solches Bewusstsein für Traditionen und wissenshaltige ›alte‹ Texte zu schärfen und dieses Wissen systematisch zusammenzustellen. Abgelehnt wird auch von Fleming die alte, praxisferne akademische Medizin mit ihren »erfundenen Hirngespinsten« (»imaginaria inventa«) und ihrem »Schulbuchwissen« (»scientia umbratilis«),57 wie es etwa in Tulps Observationes medicae – beinahe gleichlautend mit Fleming – heißt. Dies bedeutet gerade nicht den Ausschluss philologischer Kenntnis52
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Fleming: Disputatio (Anm. 13), B (1)r: »Cùm verò morbus hic sit occultus, & Epati imprimis, facultatique nutritivae malignus, utique requirit specifica, & singulari proprietate adversantia sibi remedia; quae sola primùm, ut pote in morbo novo, Empiria & analogismus invenit, methodus verò & ratio digerere, & administrare debet«. PW IV, 31, V. 6f. Zit. n. Observationes medicae. Amsterdam 1652, S. 3: »Nihil enim potest esse solidum, cui non subest ratio. Multo minùs ulla artis decreta firma, que non comprobat usus, qui omnium Magistrorum superat praecepta«. PW IV, 31, V. 11f. Die neue Gattung der »Observationes« betont den empirischen Augenschein und die Konzentration auf – oft kuriose, seltene, monströse – Individualfälle schon im Titel, während die Lehrbuchliteratur (die sog. practicae) eher das Grundsätzliche und Allgemeine in den Blick nahm. Tulp (Anm. 54), Vorrede (unpaginiert): »Noli itaque o Medice diffugere quam peritissimi demonstrant Callem, sed fuge potius umbratilem illorum scientiam, qui nihil non in controversiam trahunt«.
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se und Tradition: »Wie die Bienen von den Blüten den duftenden Honig saugen, so sammle auch du aus den besten Autoren, was, besprengt mit dem Tau der Weisheit sich am besten zum Wohl der Menschen schickt.«58 Diese Art von Eklektizismus, der praktische und philologische Tradition, naturphilosophische Spekulation und medizinisch-»chymische« Empirie im Zeichen des topischen Bienengleichnisses verband, war mithin ein Standpunkt, der im Jahre 1640 längst mehrheits- und universitätsfähig schien – zumal in Leiden, wo nicht nur Nicolaes Tulp studiert und promoviert hatte (30. September 1614), sondern nur drei Jahre zuvor (1637) ein Text wie Descartes’ Discours de la méthode erschienen war, jenes Descartes, dessen Mechanistik den iatrophysikalischen Unterricht der leidenschen medizinischen Fakultät zutiefst beeinflussen sollte.59 Derselbe rationalistische Geist also, der die Observationes medicae bestimmt, durchzieht auch Flemings medizinische Parerga. Diese Haltung war es, die den Paracelsismus als eine zugleich (natur-)philosophische und empirisch-praktische Disziplin über die obsolete, notorisch erfolglose akademische Medizin alter Prägung heben musste. Damit ein abschließender Blick auf die Therapeutik. Auch hier zeigt sich, dass Fleming sich ganz im Horizont eines schulmedizinischen, iatrochemisch erweiterten Galenismus bewegt; schon die Ätiologie der Krankheit deutet dies an: Die Syphilis ist eine Krankheit, heißt es in These 3, »weil sie die Säfte und (Nerven-) Geister affiziert, freilich kann sie nicht – hier wird auf Falloppio rekurriert60 – auf ein Ungleichgewicht der Säfte (»intemperies«), also Dyskrasie, zurückgeführt werden; sie ist vielmehr eine »Krankheit der gesamten Substanz«61). Man sieht: angesichts der »verborgenen« Ursache der Syphilis (»occulta & maligna qualitas«; Fol. A 2r) nimmt Fleming einen Standpunkt ein, der skeptisch zwischen traditionellem Galenismus und neuen, etwa paracelsischen Ansätzen verharrt. Entsprechend neutral und lakonisch fällt der Hinweis auf die Theorien der Para58 59
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Tulp (Anm. 54), 3r: »Sic selige tibi, ex optimis auctoribus, quod sapientiae rore adspersum, potissimùm facit ad hominis salutem«. Die Geschichte und Bedeutung der Universität Leiden für das 17. und 18. Jahrhundert können hier nicht rekapituliert werden, sind jedoch für das Verständnis der speziellen Tendenz von Flemings Dissertation von entscheidender Bedeutung. Zunächst einmal war Leiden zu dieser Zeit für Medizinstudenten aus ganz Europa eine führende Adresse, nicht nur wegen des berühmten, 1610 eingerichteten, anatomischen Theaters. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte Otto van Heurne (1577–1652) dort den klinischen Unterricht eingeführt, der seit 1636 in einem collegium medicopracticum stattfand, das auch Fleming kennengelernt haben wird. Hier wurde programmatisch der Austausch mit den Stadtärzten, den »Empirikern«, propagiert, von denen ja auch bei Fleming immer wieder – und durchaus anerkennend – die Rede ist (z. B. Fol. B2r). Bedeutende Mediziner wie Franciscus de la Boë Sylvius (1616–1672) und schließlich Hermann Boerhaave (1668–1738) vertiefen bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein die entschieden klinisch-praktische Ausrichtung der Leidener Medizin. Vgl. knapp Wolfgang U. Eckart: Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen. Heidelberg 52005, S. 148f. Ausführlicher die ältere Studie von J.E. Kroon: Bijdragen tot de geschiedenis van het geneeskundig onderwijs aan de Leidsche Universiteit 1575–1625. Leiden 1911; Katalog zur Ausstellung: Leidse Universiteit 400. Stichting en eerste bloei 1575–ca. 1650. Rijksmuseum Amsterdam. Amsterdam 1975. Falloppio (Anm. 49), S. 29–32 (Kap. XVII). Fleming: Disputatio (Anm. 13), A 2r: »Lues venerea est morbus totius substantiae«; vgl. Falloppio (Anm. 49), S. 49: »praeterea morbus est in substantia«.
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celsisten – »Paracelsus, & qui eum sequuntur« ([A 4]r) – aus. Mit Zurückhaltung, im übrigen aber unkommentiert, wird deren »chymische« Auffassung referiert, wonach die Syphilis auf die Verflüchtigung des Quecksilbers (»Merkur«) im Körper zurückgehe;62 diese treibe Salz und Schwefel an die Oberfläche des Körpers, woraus die vielfältige Symptomatik entstehe. Das Quecksilber selbst durchdringe schließlich Fleisch und Knochen, mit den bekannten, widrigen Effekten.63 »Salz, Schwefel und Merkur / sind euer fester Grund«, hatte Fleming im Gedicht an Hartmann Grahmann geschrieben, aber auch der »Brunnen alles Bösen«.64 Diese epochè zeigt sich in gleicher Weise bei den Therapieansätzen, ob es sich um »allgemeine« oder »spezifische« Remedia handelt. Hier setzt Fleming zunächst als Galeniker und Humoralpathologe auf die Restitution des humoralen Gleichgewichtes durch Verfahren, welche die »materia maligna« bzw. »materia peccans« aus dem Körper entfernen (Purgativa, Aderlass, Schwitzkur / Thermokur). Unter den »spezifischen Antisyphilitica« (B 1v) spielt das Quecksilber (»hydrargyrus«) eine wichtige Rolle. In These 17 wird ausgeführt, dass die »Chymici die gesamte Therapie der Syphilis auf das sachgemäß verabreichte Quecksilber stützten«,65 in Kapitel 20 wird dies aufgegriffen mit einem Hinweis, der erneut auf die Spannung zwischen praktischer und theoretischer, »gelehrter« Medizin hinweist, diese Spannung jedoch sogleich aufhebt in der Bemerkung, dass nicht nur die »Empyrici« – also die Praktiker, d. h. wohl die Paracelsisten – sondern auch die »angesehenen Mediziner« (»magni quoque nominis Medici«) auf das Quecksilber zurückgriffen. Wunderbar sei seine heilende Wirkung bei kundiger Zubereitung, bei fehlerhafter komme es jedoch zu »atrocia symptomata«. Fleming schließt sich der Meinung Gabriele Falloppios an, die Verabreichung von Quecksilber sei aufgrund der erheblichen Nebenwirkungen nicht die via regia der Therapie; sie ist zunächst zurückzustellen, wenn sich andere Therapiewege anbieten (B 2r).
4. Die Nachtseite des Petrarkisten Von der Therapie noch einmal zurück zur Ätiologie der Venerea lues und damit auch zur initialen Frage nach ihrer Deutung und kulturellen Konstruktion. Wie also verhält sich der Petrarkist zur Pathologie, das contagium der Syphilis zum 62
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Entner (Anm. 1), S. 118 mutmaßt, dass Fleming, »wenn die Umstände es erlaubten, auch praktische Chemie trieb«. Darauf deutet, dass sich unter seinen Büchern solche Titel finden wie: Johannis Beguini Tyrocinium Chymicum. Königsberg 1619 und Oswald Croll: Basilica Chymica. Frankfurt 1620. Fleming: Disputatio (Anm. 13), [A4]r – [A4]v (Kap. 12): »Paracelsus, & qui eum sequuntur, Chimici luis hujus ([A4]v) generationem & curationem adscribunt Mercurio, qui à calore in corpore sublimatus adeo volatilis fiat, ut ei nihil resistere possit. Hinc sal & sulphur microcosmi, quae illum ipsum coërcere velint, repellat ad exteriora, unde affectus isti varii & mirabiles. Ipse verò per nisum hunc vehementissimum adhuc subtilior factus carnes & ossa penetret, horrendaque & foeda symptomata caussetur.« PW IV, 31, V. 22f. und 29. Fleming: Disputatio (Anm. 13), A 1v.
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tactus des literarischen Liebesspiels? Besteht mithin zwischen dem morbus amoris des Petrarkismus und dem manifesten morbus amoris der Syphilis eine Beziehung jenseits topisch-metaphorischer Konventionen, die darauf schließen ließe, dass sich im 17. Jahrhundert medizinisch-medikale Kultur und poetischer Diskurs vor dem fundierenden Hintergrund einer sozialen oder epistemologischen Praxis verschränken und neu konfigurieren? Die Dissertation gibt auf diese Frage nur teilweise Auskunft. Zunächst einmal führt auch Fleming, wie die Mehrheit der Mediziner seit dem 16. Jahrhundert, die Ansteckung primär – wenn auch nicht ausschließlich66 – auf sexuellen Verkehr zurück: »[E]x impuro plerumque per venerem concubitu contrahatur«,67 eine Formulierung, in der medizinischer Befund und moralisches Verdikt erkennbar zusammenfallen. Dieser Tendenz folgt die disputatio durchgehend. In Kapitel 8 betont Fleming den Einfluss »von Leidenschaften, leichteren und stärkeren«, auf die Entstehung und Entwicklung der Krankheit. Dies gibt Anlass zur Kritik an der Hauptquelle Falloppio, der im 22. Kapitel eine aparte Erklärung geliefert hatte, warum nicht jeglicher Geschlechtsverkehr in gleichem Maß eine Ansteckung mit der Syphilis nach sich ziehe. Unter den vielen Gründen für diese individuellen Unterschiede bemerkt Falloppio: »Hinzu kommen schließlich die Affekte: denn es kann kein Zweifel bestehen, dass einer, der mit heftiger Leidenschaft den Beischlaf vollzieht, und von exzessiver Liebe getrieben wird, nicht infiziert wird«.68 Fleming widerspricht dieser Hypothese explizit und betont, »gerade das Gegenteil ließe sich leichter beweisen«. Immer wieder wird der Kontakt zu Prostituierten (»patrati cum scorto concubitûs«69), überhaupt »ein unreiner Beischlaf oder anderer Kontakt« für die Übertragung der Krankheit verantwortlich gemacht. Später heißt es: »Wer mit einer Verunreinigten sich vereinigt, zieht das Gift aus ihrer Scham«.70 Flemings Wahrnehmung der Krankheit entspricht also ganz jener Sicht, die sein Freund Adam Olearius, immerhin der Widmungsträger der Dissertation, bei seiner Beschreibung der Krankheit »Schemet kaschi« an den Tag legt. Auch für Fleming ist die Syphilis eine »schändliche« Krankheit, die sich einer »hitzige(n) Natur und Begierden«71 sowie »unzüchtigen Mitteln« verdankt, wenngleich er nicht die kolonialistische Gebärde und Zuschreibung seines Freundes erkennen lässt. In dieser sozialen, ethischen und theologischen Konfiguration ist die lues Venerea ein Komplex, der zu Themen und Tendenzen des literarischen Werkes in mancher Hinsicht quer steht. Beide Sphären, der physiologische und der petrarkistische Liebesdiskurs, scheinen sich kaum zu berühren. Beide bedienen zu unterschiedliche Register, die sich auf die zwei platonischen Phänotypen der 66
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Fleming: Disputatio (Anm. 13), A2r, schlägt Falloppio folgend auch eine Ansteckung z. B. von Ammen durch Kontakt mit infizierten Müttern, durch gemeinsames Benutzen von Latrinen oder Tragen infektiöser Kleidung vor. Ebd., A 3 r. Falloppio (Anm. 49), S. 48: »Addatis vltimò animi affectionem, nam non est dubium, quòd si quis affectione intensa, coiuerit cum muliere, & agatur amore nimio non inficiatur.« Fleming: Disputatio (Anm. 13). Ebd., A3r: »sic qui cum inquinata amplexu jungitur, venenum á pudendis contrahit«. Vgl. Anm. 42.
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Liebe – die »gemeine« und die »himmlische« – beziehen lassen. Die Krankheit des Petrarkisten war nicht die Syphilis sondern – die Melancholie. Die eine, die »schändliche Krankheit der Franzosen«, war mithin eine Krankheit des Körpers, die andere eine Krankheit der Seele. Beide zeugten jedoch von einem Übermaß, einem Verletzen der galenisch-aristotelischen Temperanz der Säfte und Kräfte. Beide wurden daher gleichermaßen medizinisch-therapeutisch ernst genommen.72 In diesem Punkt ist Niklas Luhmann entschieden zu widersprechen, der die Rede von der Liebe als Krankheit in der Frühen Neuzeit auf dem Rückzug in die metaphorische Unverbindlichkeit sieht (im Gegensatz zum Mittelalter): »Im 17. Jahrhundert ist davon nur die Metapher geblieben, die rhetorische Floskel; aber man geht deswegen nicht zum Arzt.«73 In dieser saloppen Entschiedenheit ist dies schlicht falsch. Gerade an dem von ihm zitierten Traité de l’essence et guérison de l’amour ou de la Méloncolie [sic!] érotique (Toulouse 1610; ND Paris 2001) des Jacques Ferrand ließe sich das fortgesetzte medizinische Beim-Wort-Nehmen der vermeintlich toten Metapher Liebeskrankheit ablesen.74 Der traité steht damit in einer langen neuzeitlichen Reihe medizinisch-therapeutischer Annäherungen an den Liebesaffekt, die von Marsilio Ficinos Symposion-Kommentar De amore bis zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts reichen (für die Wielands Musarion oder Goethes Werther neben vielen anderen stehen können). Schon Ficino kann dabei belegen, wie sich poetisches und medizinisches Wissen zu einer Synthese verbinden, bei der petrarkistische casus und Symptomatiken zu Beweiszwecken medizinisch intepretiert werden. Der Topos von der Liebe als Wahnsinn wird hier physiologisch-›literal‹ genommen, indem etwa die »gemeine Liebe« als eine 72
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Simone de Angelis: Die Liebeskrankheit und der Eros-Mythos. Zur Beziehung von medizinischen und poetischen Texten in der Renaissance. In: Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Hg. v. Nicolaus Pethes. Tübingen 2008, S. 73–97. Hier der Hinweis auf weitere Literatur: Adelheid Giedke: Die Liebeskrankheit in der Geschichte der Medizin. Diss. med. Düsseldorf 1983, hier S. 73– 105 (zur medizinischen Diskussion im 17. Jahrhundert); Massimo Peri: Malato d’amore. La medicina dei poeti e la poesia dei medici. Soveria Mannelli 1996. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, S. 63. Die ausführlichste Erörterung der Liebesmelancholie im medizinischen Kontext dürfte Robert Burton im Rahmen seiner Anatomie der Melancholie (1621) vorgelegt haben. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy. Oxford 1621. ND Amsterdam 1971, hier S. 495–705 (Third Partition). Auch Fleming war diese medizinisch grundierte Topik der Liebesmelancholie natürlich geläufig. Er zieht dieses Register etwa in einer Abschiedsode »An die baltischen Sirenen« (Oden V, 25), die Entner (Anm. 1), S. 441 als Adresse an Elsabe bei der Abreise aus Reval deutet. Fleming dekliniert hier in bemerkenswerter Vollständigkeit die Symptomatik der Liebesmelancholie durch. Die folgenden Worte lassen sich nicht nur auf die Liebeserfahrung, sondern auch auf den dichtenden Arzt beziehen: »Ich weiß es, wie und was es sei / um ewige Melancholei, / weil nichts in meinem Herzen / regiert als bittre Schmerzen« (V. 13–16). Natürlich kennt Fleming auch die remedia der Liebe. Im Gedicht »An Anemonen, nachdem er von ihr gereiset war« (Oden V, 40) spricht er die Geliebte als »Ärztin meiner Seelen« (V. 18) an, die allein fähig sei, »des Brandes Glut« (V. 7) durch Gewähren zu stillen. Die Haltung der »theologia medicinalis«, die sich auf den Christus medicus richtet, scheint hier zur »Erotologia medicinalis« säkularisiert. Der Text verharrt jedoch ebenso in der petrarkistischen Attitüde der dolendi voluptas wie Sonn. IV, 9, 12 (»Umfang mich stets also, o Ärztin meiner Seelen«).
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»Verderbnis des Blutes« angesehen wird. Der Sitz des Liebesfiebers wird im »schwarzgalligen Blute« (»in sanguine videlicet melancholico«) ausgemacht, aus dem das »starre und tiefe Grübeln« der Liebesmelancholie hervorgehe.75 Philosophie, Poesie und Medizin tragen gleichermaßen zur Konturierung dieses Liebesdiskurses bei, der in sich schon ›plural‹ verfasst ist, einheitlich ›platonisch‹ nur insofern, als sich im Zeichen des amor turpis die gleichsam toxischen Effekte, die Nachtseiten der Liebe, fassen lassen: sei es als »Bezauberung‹ (»fascinatio quaedam«) oder als »Infektion« des Liebenden durch die »Pfeile« und Augenstrahlen, die die Geliebte dem Liebenden zuwirft.76 Von der Syphilis war zu dieser Zeit, also im Jahr 1484, noch nicht die Rede, und so blieb die Physiologisierung des »amor ferinus« im Bezirk der alten Humoralpathologie (Liebe und Melancholie) einerseits, der Magie und des Hexenglaubens andererseits (Liebeszauber und Liebestrank, böser Blick usw.).77 Wie gesagt, die Vorstellung, dass die Dichter als poetae medici empirisches Material, gleichsam »Fallgeschichten« böten, bleibt das ganze 17. Jahrhundert hindurch in Kraft – nicht nur bei Thomas Bartholin.78 Diese medizinische Diskursivierung der Liebespassion in ihren beiden, d. h. physisch (Syphilis) oder psychisch (Melancholie) induzierten Formen, fand Fleming bereits in seinen wichtigsten Quellen vor. So beschäftigte sich Daniel Sennert in seiner einflussreichen Practica medicinae nicht nur eingehend mit der Syphilis (im Buch VI79), sondern auch mit dem ›Liebeswahnsinn‹ (De amore insano; Buch I).80 Nicht die Liebe schlechthin, sondern die ›maßlose Liebe‹ (»immoderatus amor«) kann zum Liebeswahnsinn, zur Liebesmelancholie (»delirium melancholicum«) führen.81 75 76
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Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Übers. von Karl Paul Hasse. Hg. u. eingel. v. Paul Richard Blum. Hamburg 31994, S. 336 bzw. 337. »Virulentus aculeus«; Ficino (Anm. 75), S. 324. So etwa auch bei François Valleriola: Observationum Medicinalium lib. vj. Lyon 1605, S. 144 bzw. 146: »Ergo dua amorum genera Plato facit […] nec solum in animum impetum facit amor, verùm & in corpus saepenumero tyrannidem exercet: vigiliis, curis, macie, dolore, tabitudine, & mille aliis affectibus lethalem noxam inferentibus, corpus vexans«. Kronzeuge dieser Liebesmelancholie ist von Anfang an der römische Lehrdichter Lukrez, der sich – so die Legende – als melancholicus aus Liebeskummer selbst getötet haben soll. Ficino (Anm. 75), S. 342. Beispiele für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den psychosomatischen Effekten der Liebe erscheinen zeitgenössisch in großer Zahl. Aus dem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Umfeld Flemings zitiere ich noch einmal Nicolaes Tulps Observationes medicae, die Buch I, Kap. 22 (S. 46f.) den kuriosen Fall einer »Catalepsis ex amore« bieten: »IUvenis Britanuus, impensiùs (ut solet illa aetas) amori indulgens, perculsus fuit adeò vehementer ex inopinatâ matrimonii repulsa: ut obriguerit instar stipitis«. Als ihm zugerufen wird, seine Geliebte solle ihm zuteil werden, löst sich spontan die Lähmung. Ganz ähnlich bietet Pieter van Forest (1521–1597) in seinen Observationes einen Fall von Liebeskrankheit bei einem jungen Mann, vgl. de Angelis (Anm. 72), S. 83, der auch weitere Beispiele für medizinisch-poetische Austauschprozesse im Fall der Liebeskrankheit (für den Zeitraum 1300–1600) bietet. Daniel Sennert: Opera. Bd. 3. Leiden 1650, S. 567–604. Daniel Sennert: Liber primus Practicae Medicinae, de Capitis, Cerebri, ac sensuum externorum morbis & symptomatibus. Wittenberg 1636, S. 354–363. Auf diesen Abschnitt weist de Angelis (Anm. 72), S. 82 hin. Sennert (Anm. 80), S. 354 bzw. 355.
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Als empirischer Beleg dienen ihm die Dichter – »de quibus multum passim apud Poetas«, heißt es lapidar.82 Zitiert werden Stellen aus Plautus, Terenz und Seneca, die Sennert alle als poetae medici gelten. Im Abschnitt über Liebestränke (»philtra«) darf dann auch Lukrez nicht fehlen.83 Für Sennert war die Liebesdichtung (d. h. vor allem: die antike) ein Reservoir von empirischen Berichten, aber auch von diagnostischem und therapeutischem Wissen, auf das sich zurückgreifen ließ, vor allem auf Ovids remedia amoris.84 Liest man den Abschnitt zur Symptomatik und Diagnostik, fällt auf, wie die soziale und literarische Topik der passionierten Liebe (wechselnder Gesichtsausdruck, Reaktion auf Liebesdichtung oder Liebeslieder) hier als Grundlage medizinischer Auseinandersetzung ernst genommen wird. Galen dient ebenso als Beleg für die »effectûs amoris« wie Terenz oder die anderen Fallbeispiele, »wie sie sich überall bei den Geschichtsschreibern und Dichtern finden«.85 Auch der Petrarkist Fleming trägt in seiner Lyrik dazu bei, den Vorrat derartiger Fall- und Krankengeschichten weiter zu vermehren. Dies betrifft durchaus beide Spielarten der Liebeskrankheit. Als Fleming 1638 ein Epithalamion auf Niklas von Höveln und Elsabe Niehusen, die Schwester seiner späteren Verlobten Anna, verfasst, eröffnet er es mit einem Topos, dessen schockierende Ambivalenz sich vor dem Hintergrund der nur zwei Jahre später entstehenden Dissertation und ihrer Untersuchung des »venenum pestilens« der Syphilis offenbart: Sagts nun öffentlich und frei, Liebe sei eine Sucht, die an kan stecken! Sagts, sie sei ein starker Gift! Wen sie trifft, der muß Ander’ auch beflecken.86
Wo der Dichter mit der Topik der Liebeskrankheit, mit dem morbus amoris also, spielt, leistet der Arzt seine Hilfestellung. Fleming setzt die von Ficino bis Sennert greifbare medizinische Deutung der »Liebe als Passion« auf seine Weise fort, er bringt sie geradezu medizinisch auf den neuesten Stand. Dass der morbus amoris eine zentrale Rolle in Flemings petrarkistischer Topologie einnimmt, kann daher nicht verwundern. Im auffälligen Ausspielen physiologischer Effekte des Liebesaffekts gibt sich der poeta medicus zu erkennen,87 der auch über die medizinische Literatur zum Thema insania amoris verfügt. Die »Selbstverständigung
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Ebd., S. 355. Ebd., S. 358f.: »Lucretius, Poëta, philtro ab uxore, Lucilla, accepto in furorem conjectus sibi ipsi manus violentas intulit.« Er ist die wichtigste Einzelautorität im Abschnitt curatio. Sennert (Anm. 80), S. 360–362. Sennert (Anm. 80), S. 360. Oden III, 20, 1–6. Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963, S. 216–218.
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im Leiden«, die Fleming im Gedichttyp De se aegrotante vornahm, war von hier aus zugleich medizinisch wie poetologisch begründet: Ich fühle noch den Tod durch alle meine Glieder, Die Wangen wurden blaß, die Augen suncken nieder, Das Herze ward mir Blei.88
Eher noch drastischer wird die Symptomatik in der lateinischen Dichtung entfaltet: En mortuali tincta rubigine Mihi ora livent, ruga secat cutem, Ut mortualis larva oberro. Intolerabile te carere.89 [Schau nur: Blass ist mein Gesicht, überzogen mit roten Todesflecken, die Haut von Falten durchfurcht, dass ich wie ein Gespenst herumirre – denn unerträglich ist es, dich zu entbehren.]
Sonett IV, 24 erteilt dem Liebesgott detaillierte Anweisungen, »wie er wolle von ihm abgebildet sein« – d. h. als Liebeskranker: Lauf, Amor, suche bald dein Reißzeug zu der Hand, bild’ Augen, welche stets mit blassen Tränen quellen, mal’ Wangen, die der Tod heißt seine Mitgesellen, mach’ einen bleichen Mund und truckner noch als Sand.90
Sonett IV, 93 wiederum zeichnet ein Bild des Liebenden ›in letzten Zügen‹; breit entfaltet es die physiologischen Folgen des Liebesleids: »Das Blut ist ausgedorrt, das heiße Mark versiegen«.91 Gewiss: Liebespein und »Todesnot« (Sonn. IV, 93, V. 12) sind habituelle Verfassungen des Liebenden, zumal in petrarkistischer Tradition. Dass sie bei Fleming ein »Äußerstes an hyperbolischer Auftreibung« erreichen,92 dürfte kein Zufall sein, sind doch dem Mediziner die physischen Symptome körperlichen Verfalls als Folge jener anderen Liebeskrankheit nur zu vertraut.93 Liebe in den Zeiten der Syphilis rückt in neue Kontexte ein, weckt neue und andere Assoziationen jenseits topologischer Routinen. Eine Aussage wie: »von Liebe kommt mir alles Leid« entfaltet jenseits der vertrauten »oxymorischen« Rede vom »erfreute[n] Leid« (Oden V, 11, V. 20) einen unheilvollen, sehr aktuellen (Doppel-)Sinn, die Topik des morbus amoris hat eine unheimliche Legitimität gewonnen – sei es aufgrund der realen Liebesseuche oder als deren artistisch-metaphorische Eindämmung, Tröstung oder Sublimation. 88 89 90 91 92 93
Sonn. IV, 63, V. 3–6. Vgl. Kühlmann (Anm. 24). Sylv. VIII, Suavium 15, V. 49–52. Sonn. IV, 23, V. 1–4. Sonn. IV, 93, V. 3. Pyritz (Anm. 87), S. 218. Vgl. Fleming: Disputatio (Anm. 13), S. [A 4]v: »Defluvium capillitii, cutis color vitiatus, bubones, praesertim subinde evanescentes, scabies […].«
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Das Beispiel Flemings zeigt, dass die von Klaus W. Hempfer vorgeschlagene »Pluralisierung der Liebesdiskurse« in der Frühen Neuzeit, also die bewusst ausgestellte Spannung zwischen einem petrarkistischen, einem (sog.) hedonistischen (libertinen) und einem platonischen Liebeskonzept, mindestens um den Liebesdiskurs der Medizin (wenn nicht um den der Theologie, Philosophie usw.) ergänzt werden muss – sofern diese Diskurse im 17. Jahrhundert nicht immer schon in einer Weise korreliert und ›verfilzt‹ sind, die eine Trennung künstlich und anachronistisch erscheinen lässt. Der Befund der Dichtung und der Medizin zum Thema Liebespassion zeigt, dass zumal im 17. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einer neuerlichen Synthese beider Felder, einem Abgleich zwischen empirischen Befunden und antiken Texten eher wieder zugenommen hat. Thomas Bartholins Apologie der Dichtermedizin ist für diese Tendenz, alte Autoritäten und Autoren mit dem empirischen Ideal der neuen Wissenschaft abzugleichen, ein signifikantes Beispiel, weil es die teleologischen Kurzschlüsse der großen Ausdifferenzierungserzählung widerlegt. Liebe ist in der frühen Neuzeit immer schon ein transdiskursives Phänomen, der lusus Veneris steht daher immer auch in Relation zur lues Venerea, wie die eingangs genannten Beispiele, angefangen mit Conrad Celtis, zeigen. Im Falle Flemings ergeben sich Schnittmengen vor allem dort, wo die psychophysischen Folgen der insania amoris thematisiert werden, also in der petrarkistischen Lyrik im weiteren Sinne. Da Fleming das antipetrarkistische Register weitgehend fehlt (aus welchen Gründen auch immer), fehlen auch antipetrarkistische Formen und Topologien, in denen sich Verfall und Krankheit – wie bei Grimmelshausen, Gryphius oder Hoffmannswaldau – im satirischen Gegenlicht zeigen ließen. Petrarkist und (Syphilis-)Pathologe verhalten sich daher ebenso komplementär wie die Exzesse körperlicher Liebe zum Ideal platonischer Liebe. Der Mediziner betrachtet in der Tradition der humanistischen Arzt-Dichter von Ficino bis Fracastoro die physiologischen Effekte jener »gemeinen« Liebe, die aus dem Kosmos der Liebesdichtung geflissentlich ausgespart bleibt. Hier begegnet man sich »in reiner Keuschheit« (Sonn. IV, 88, V. 10), will mit »Maß« geküsst sein, schreitet also im System der »quinque lineae amoris« gerade nicht zum finalen »coitus« fort, sondern bleibt beim ›sicheren‹ osculum stehen. Immerhin: Falloppio hatte darauf hingewiesen, dass manch einer sich »per intromissam ori linguam, per oscula, & suauia«, oder auch nur »per contactus, & amplexus« angesteckt habe,94 ein Ansteckungsweg, den der poetische »Oskulologe«95 und Autor literarischer suavia nun auch in seiner Dissertation geflissentlich verschweigt. Skeptisch steht Fleming immerhin jenen theologischen Deutungen gegenüber, die seit dem frühesten Auftreten der Krankheit angeführt werden und die noch in Oskar Panizzas skandalösem Liebeskonzil (1894), das die Syphilis als göttliche Strafe für eine verkommene Menschheit inszeniert, ironisch aufgenommen sind.96 Diese Deutung ist so alt wie die Krankheit selbst. Schon das Wormser 94 95 96
Falloppio (Anm. 49), S. 21f. Elsbeth Dangel-Pelloquin: ›You kiss by th’ book‹. Plädoyer für eine literarische Osculologie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 359–379. Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen. Faksimile-Ausgabe der Handschrift, eine Transkription derselben, des Weiteren die Erstausgabe des »Liebeskonzils« als
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Edikt Maximilians I. vom 7. August 1495 interpretiert die »swer kranckheiten und plagen der menschen genant die pösen plattern«97 als Strafe für »Gotteslästerei«. Krankheiten, schreibt Sebastian Brant 1496 (De pestilentiali scorra sive Impetigine) »sind Pfeile der Götter, mit denen Verderben Bringendes gesühnt und gegeißelt wird«.98 Die theologische Deutung der Krankheit als »Geißel« Gottes war die geltende Meinung in Sachen Syphilis – auch etwa bei Falloppio, der seine Schrift von Anfang an in diese Perspektive einrückt: »Das ist unverrückbarer und ewiger Grundsatz, dass der Tod wegen der Sünde erfolgt, die Strafe wegen des Fehltritts.«99 Da unsere Zeiten, so heißt es weiter, »über die Maßen große Sünden aufweisen, hat Gott mit vollem Recht versucht, uns mit neuen Geißeln und neuen Arten von Leiden zu züchtigen«.100 Man müsse daher annehmen, »dass diese Krankheit von Gott geschickt wurde, damit wir vorsichtiger werden, übermäßigen Liebesgenuss aufgeben, und uns nicht nur den Wissenschaften, sondern auch den guten Künsten [sc. der Religion] widmen«.101 Fleming war diese höhere Ätiologie der Krankheit wohl vertraut; in der Reihe der näheren und weiteren Ursachen, die in den Kapiteln V bis VII aufgeführt werden, erscheint neben der medizinischen Ätiologie der Infektionswege (Vererbung, Berührung, Geschlechtsverkehr) auch – abschließend – die »Meinung der Theologen«. Fleming bezieht sich dabei offensichtlich auf Falloppios oben zitiertes Verdikt: »Nach Meinung der Theologen muss man [die Krankheit] an erster Stelle als gerechte Strafe Gottes ansehen, mit der er zweifellos die schweifenden und schmutzigen Begierden der Menschen zähmen und geißeln wollte.«102 Fleming markiert die Meinung damit als Meinung, ohne sie weiter zu kommentieren – was dann wohl Sache der mündlichen Aussprache war, der Unterschied zwischen Thesendruck und Traktat bleibt wohl zu bedenken. Dennoch: Wie gegenüber den Paracelsisten verbleibt Fleming auch gegenüber den Theologen bei einer skeptischen Urteilsenthaltung, die Funktionsbereiche trennt und Unterscheidungen trifft zwischen medizinischem, poetischem und theologischem Wissen über Liebe und angrenzende Phänomene. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese differenten Sektoren gleichwertig und gleichgewichtig sind. Eher scheint es so, dass der Medizin ihr relatives Recht eingeräumt wird, während sie als ganzes doch hinter der ersten Medizin (der »theologia medicinalis«) und dem einen Arzt zurücktreten muss:
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Faksimile sowie Meine Verteidigung in Sachen ›Das Liebeskonzil‹ und Materialien. Hg. u. komm. von Peter D. G. Brown. München 2005. Nach Flood (Anm. 23), S. 225. Nach ebd., S. 234, V. 43. Falloppio (Anm. 49), S. 2: »Hoc est perpetuum, & aeternum dogma; quod propter peccatum aduenit mors, & propter errorem poena.« Ebd., S. 3. Ebd. Fleming: Disputatio (Anm. 13), A2v »Et sanè ad opinionem Theologorum justa Dei vindicta primo loco apponenda, quâ vagas obscoenasque hominum libidines coërcere procul dubio, & flagellare voluit.«
Der Petrarkist als Pathologe […] Es trifft was Höhers an, als ein naturlichs Weh, die Glieder zu entbinden, ja mehr auch als den Tod. Der Staar der blinden Sünden, das Band der tauben Lust, der Hoffart stummer Wahn wird sonst durch Keinen nicht, als diesen, abgetan. Kein Leibarzt wird sich so zu heilen unterwinden die Seele, die ist krank […].103
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»Denn mein Erlöser trug mich allzeit auf den Armen« Nachdenken über Paul Flemings geistliche Lyrik Im Juli 1993 schrieb mir Albrecht Goes, Paul Flemings Ode In allen meinen Taten habe »den Rang eines Schlusssteins im Gewölbe der Zeit« gehabt. Er fügte hinzu: »So etwas hört nicht auf zu leuchten.« Tatsächlich: Dieses im November 1633 in Riga verfasste Apopemptikon, entstanden vor einer Reise ins Ungewisse, ist ein Schlüssel nicht nur zu Flemings geistlicher Lyrik, sondern darüber hinaus zu seinem gesamten poetischen Werk. Und es ist zudem ein großes »Dennoch« in einer Welt vielfältigster Bedrohungen, das Credo eines jungen Poeten, der vor dem Krieg geflohen war und nach Alternativen für ein sinnerfülltes Leben im Frieden suchte. Sehr rasch wurde die Ode weithin bekannt; davon zeugen die zahlreichen Vertonungen. Ein Höhepunkt ist die 1734 von Johann Sebastian Bach komponierte Kantate, für die der Thomaskantor neun der insgesamt 15 Strophen auswählte. Das 1960 veröffentliche Evangelische Gesangbuch enthielt den gesamten Text; für die Ausgabe von 1994 wurden sieben Strophen ausgewählt. 1982 erschien im Union Verlag Berlin ein Fleming-Roman des Schriftstellers Werner Legère – bezeichnenderweise unter dem Titel In allen meinen Taten. Kein Zweifel also, diese Ode gehört zu Flemings bekanntesten Texten. Zu Recht finden wir sie in Anthologien der Barocklyrik neben dem meisterhaften Sonett An sich und der nicht minder berühmten Grabschrifft, drei Gedichten, die in der Motivik und in ihrem Ideengehalt bemerkenswerte Übereinstimmungen aufweisen. Wenn wir hingegen Flemings geistliche Lyrik in ihrer Gesamtheit betrachten, wird sich erweisen, dass sie weit weniger bekannt ist als seine Liebes- und Freundschaftslyrik und die Gedichte, die er der Russland- und Persienreise gewidmet hat. Auch in der Forschung wurde sie im Vergleich zu diesen Themenkreisen eher stiefmütterlich behandelt. Das darf freilich den Blick nicht verschließen für die Ergebnisse, an die es sich anzuknüpfen lohnt. Bereits 1908 erschien eine gründliche Abhandlung Hermann von Stadens.1 Liselotte BeckSupersaxo2 untersuchte in ihrer 1956 erschienenen Dissertation die Formen- und Bildwelt der geistlichen Sonette. Aber auch die Vielzahl der Beiträge, in denen punktuell auf Besonderheiten von Flemings geistlicher Lyrik eingegangen wird, sind der Beachtung wert; hier sei lediglich auf die Arbeiten von Bo Andersson,3
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Hermann von Staden: Paul Fleming als religiöser Lyriker. Stade 1908. Liselotte Beck-Supersaxo: Die Sonette Paul Flemings. Chronologie und Entwicklung. Phil. Diss. Singen 1956. Bo Andersson: Ein titelloses Begräbnisgedicht auf Anna Bach. Zu Paul Flemings »Gedankken über die Zeit«. In: Text und Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 15 (1987), S. 7–42.
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Heinz Entner,4 Klaus Garber,5 Hans-Georg Kemper,6 Wilhelm Kühlmann7 und Marian R. Sperberg-McQueen8 verwiesen. Künftig wird es darauf ankommen, unter Einbeziehung der Ergebnisse der neueren Barockforschung – insbesondere zur Spezifik der Gelegenheitsdichtung und der Funktion von Rhetorik und Emblematik – die Themen und Motive und die Bildwelt der geistlichen Dichtungen Flemings sorgfältig zu erschließen. Dies ermöglicht es, Korrespondenzen mit der Liebes-, Freundschafts- und Reiselyrik aufzudecken und die Frage zu beantworten, inwieweit es sich auch bei den »geistlichen Sachen« um Casuallyrik handelt. Das Beachten der Zusammenhänge mit anderen Themenkreisen vermag den Blick zu schärfen für die für Flemings Œuvre so kennzeichnende Synthese von christlichem und stoizistischem Gedankengut und die Funktion der antiken Mythologie; kaum untersucht wurde bisher der Einfluss des Neuplatonismus. Kontrovers diskutiert wurde die Wirkung der Mystik auf den Lutheraner Fleming; hier gilt es besonders der Vermittlung mystischen Gedankengutes durch Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum Aufmerksamkeit zu schenken. Viel zu wenig wurde bisher der Einfluss der Dichtungen Johann Hermann Scheins9 – insbesondere auch der Lieder des von ihm herausgegebenen Gesangbuches Cantional – auf Flemings geistliche Gedichte beachtet; auch die Beziehungen zu Texten von Valerius Herberger, Johann Heermann und Martin Opitz verdienen eine tiefergehende Untersuchung. Noch klarer erkennbar werden die Besonderheiten der geistlichen Lyrik Flemings werden, wenn wir sie in Bezug zu thematisch und formal vergleichbaren Texten anderer deutscher Poeten des 17. Jahrhunderts setzen. Es sei hier – um nur die wichtigsten zu nennen – an Friedrich Spee von Langenfeld, Simon Dach, Paul Gerhardt, Johann Rist, Georg Philipp Harsdörffer, Andreas Gryphius, Johann Klaj, Angelus Silesius, Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg gedacht. Es ist eine Fülle von Fragen, die zeigen, wie viel auch auf diesem Gebiet der Fleming-Forschung noch zu tun bleibt.
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Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989. Klaus Garber: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch. In: »Daß eine Nation die ander verstehen möge«. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Norbert Honsza u. Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 255–308. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 4/II: Barock-Humanismus: Liebeslyrik. Tübingen 2006, S. 110f. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings »Grabschrifft«. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 168–175. Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill und London 1990 (University of North Carolina studies in the Germanic languages and literatures 110). Vgl. Dietmar Schubert: Johann Hermann Schein als Dichter. In: Beiträge zur Musikgeschichte des Bezirkes Karl-Marx-Stadt (Teil 5). Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) 1987, S. 21– 26. Neuerdings: Indra Frey: Paul Flemings deutsche Lyrik der Leipziger Zeit. Frankfurt a. M. 2009 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1987), S. 38–63.
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Hermann von Staden hat einen Überblick über die in der Lappenberg-Ausgabe enthaltenen geistlichen Gedichte gegeben.10 Es sind 18 Alexandrinergedichte in den Poetischen Wäldern, neun Oden und 20 Sonette; hinzu kommen 13 Überschriften, bei denen es sich aber vorwiegend um Übersetzungen handelt. Insgesamt sind dies etwa ein Zehntel der deutschsprachigen Gedichte. Hinzu kommen die lateinischen Dichtungen: das großangelegte Jesu Christo S. Natalitium und 75 geistliche Epigramme. Bei ihrer Interpretation gilt es, eines im Voraus zu bedenken: Zweifelsohne muss als prägend angesehen werden, dass sich Flemings Entwicklung im Kernland des Protestantismus vollzog: der schönburgische Landesherr war der evangelischen Sache zugetan; Elternhaus, Schule und Universität vermittelten die »reine Lehre«.11 Das stimulierende Vorbild Luthers erwähnt der Dichter nur einmal, in seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung Auf Herrn Johann Casimir, Herzoge zu Sachsen, Namenstag (PW IV, 2). In diesem im März 1631 geschriebenen Gedicht findet sich das eindeutige Bekenntnis: Wir stehen noch bei dem, was Kaiser Carl der Fünfte, was König Ferdinand, was vieler Völker Zünfte nicht kunten stoßen umb, wir stimmen einig ein und sagen, daß wir noch gut evangelisch sein und wollens bleiben auch. Des Sachsens Schwert und Raute nahm sich des Wortes an, das Gott ihm anvertraute durch Luthers werten Dienst. (V. 15–21)
Dieser trotzig-herausfordernden Sprache steht freilich in dem ebenfalls 1631 entstandenen Alexandrinergedicht Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne, oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschlande (PW IV, 1) die Klage Germaniens gegenüber: »Mich schmerzt auf allen Seiten | der dreigespaltne Riß in der Religion.« (V. 123f.) Bereits der junge Fleming erweist sich hier – wie Opitz, Grimmelshausen und eine Vielzahl anderer Poeten – als Ireniker; dies ist wohl die Ursache dafür, dass er sich in seinen »geistlichen Sachen« jeglicher konfessioneller Polemik enthielt. Im Folgenden soll an einigen ausgewählten Texten aus den Poetischen Wäldern, den Oden und Sonetten versucht werden, anhand der Themen, Motive und der Bildwelt Besonderheiten der geistlichen Lyrik Flemings zu erschließen, wobei das Augenmerk auf gedankliche Korrespondenzen der Gedichte untereinander, aber auch mit Texten anderer Themenkreise gerichtet werden soll.
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Staden (Anm. 1), S. 9. Vgl. Conrad Müller: Paul Fleming und das Haus Schönburg. Waldenburg 1939 (Mitteilungen des Fürstlich Schönburg-Waldenburgschen Familienvereins Schloß Waldenburg 6); Frey (Anm. 9), S. 130–140.
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I. 1631 erschien der sechste Druck Flemings bei Elias Rehefeld in Leipzig: Davids, des hebreischen Königs und Propheten Buszpsalme und Manasse des Königs Juda Gebet, als er zu Babel gefangen war (PW I). Der Leipziger Student widmete die Publikation seiner Hartensteiner Patin, der Gräfin Katharina von Schönburg. In dem den Texten vorangestellten Widmungssonett gelingt es dem jungen Poeten in beeindruckender, auch in der sprachlichen Gestaltung dem großen Anliegen angemessener Weise, die Thematik seiner Nachdichtungen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen zu stellen: Was uns den Himmel sperrt, die Welt zu enge macht, die lasse Seele zwängt, den kranken Leib verzehret, was uns bei Freuden Lust, bei Lachen Lachen wehret, den langen Tag entfärbt, erschreckt bei Mitternacht, was mit uns geht zur Kost, steht, sitzt, entschläft, erwacht, das erste lange Leid, das Eva auf uns kehret, und was das arge Fleisch noch täglich üben lehret, auch wie wir armes Volk zu Rechte werden bracht: das klagt und lehrt diß Buch. (V. 1–9)
Klage und Belehrung also, Reflexion über den Sündenfall und die menschliche Verworfenheit, aber auch die Suche nach Wegen zur Erlösung werden demnach im Mittelpunkt stehen: Ausdrücklich wird betont, dass es dabei nicht um »der Wörter schönen Schein« (V. 11) gehen könne, wobei diese strikte Ablehnung des Scheins und das Bestreben, das Wesentliche ausfindig zu machen, allerorts in Flemings Dichtungen zu finden sind. Dem Widmungssonett schließt sich die Vorrede An den Leser an, in der der Poet darauf verweist, dass der Anlass für sein Vorhaben, »die Bußpsalme in deutsche Poesie zu richten«, »Herrn Opitzen sein schöner fleiß, den Er vnter andern bei vbersetzung der Klagelieder Jeremias in ebenselbige nicht ohne rühmlichen Abgang angewendet«,12 gewesen sei. Und über seine Vorgehensweise vermerkt Fleming: »Die Worte, so viel aus zulassung der Verse Eigenschafften möglichen, hab ich nicht geendert, im widrigen mich an den wahren Verstand auffs kürzeste gehalten«.13 Auch wenn damit der Spielraum für Eigenes klein bleiben muss, finden sich doch eine Reihe bemerkenswerter Verse, die über den gedanklichen Gehalt der lutherschen Übersetzung des Urtextes hinausgehen. Luther übersetzte den sechsten Vers des sechsten Psalms: »Denn im tode gedenckt man dein nicht/ Wer wil dir jnn der Helle dancken?«14 Fleming prägt in seiner Nachdichtung die Verse:
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DG 2, 837. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Ebd., S. 838. Biblia/ das ist/ die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittemberg […] M.D. XXXIIII. Der Psalter. S. XX.
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Wer wird dir, wenn du mich nun wirst getötet haben, für deine Hülf’ und Treu’ erlegen solche Gaben, wie ich bißher getan? Wer will dir danken doch und denken deiner Ehr’ in jenem finstern Loch, in welches du mich wirfst? (PW I, 1, V. 13–17; Hervorh. d. Verf..)
Der Dichter stellt hier sein »Ich« Gott gegenüber; er erscheint als Partner, der bisher einen durchaus anerkennenswerten Dienst versehen hat. Ganz offensichtlich wird diese Partnerbeziehung zu Gott auch, wenn wir die Nachdichtung des siebten Verses des 32. Psalms betrachten. Luther übersetzte: »Du bist mein schirm/ du woltest mich fur angst behüten/ das ich errettet gantz frölich rhümen künde.«15 Flemings Nachdichtung: […] Herr, du bist mein Erretter, behüte mich für Angst, vertilge meine Spötter! Ich pfände dir mich ein zu sagen werthen Dank, zu rühmen deine Kraft durch einen Lobgesang. (PW I, 2, V. 25–28; Hervorh. d. Verf.)
Bereits die Wortwahl lässt deutlich werden, dass Fleming – wie Liselotte BeckSupersaxo in Bezug auf eine ähnliche Textstelle treffend vermerkte – einen »Vergleich, einen gegenseitigen Vertrag«16 vorschlägt: Errettet ihn Gott, so wird er ihn mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln loben. Wie dies geschehen kann, erschließt die »ausufernde« Nachdichtung von Psalm 102, V. 19. Luther hatte übersetzt: »Das werde geschrieben auff die nachkomenen/ Und das volck das geschaffen sol werden/ wird den HErrn loben.«17 In Flemings Nachdichtung liest sich das so: Das werd’ in ewige Demanten eingegraben, was wir für einen Gott an unserm Gotte haben! In Bücher müsse diß geschrieben werden ein, die keine Zeit befrißt, daß auch, die nach uns sein, das ungeborne Volk, den Herren loben mügen. (PW I, 5, V. 53–57; Hervorh. d. Verf.)
Hier wird das horazische »Exegi monumentum aere perennius« in höchst eigenwilliger Weise variiert.18 Dem Dichter kommt die Aufgabe zu, mittels seiner Kunst ein Bild von der Größe Gottes zu entwerfen, das die Zeiten überdauern und die Nachgeborenen zum Lob inspirieren soll. So ist Beck-Supersaxo zuzustimmen, wenn sie vermerkt: »Das Bündnis Luthers, errichtet auf Glauben und
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Ebd., S.XXVI. Beck-Supersaxo (Anm. 2), S. 33. Biblia (Anm. 14), S. XLVII. Vgl. die deutsche Übertragung der Horaz-Ode (Drittes Buch, 30) von Manfred Simon. In: Horaz: Werke in einem Band. Hg. v. Manfred Simon. Berlin/Weimar 1983, S. 92.
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Vertrauen, setzt sich hier fort in einem poetisch wirksamen Vertrag von Leistung und Gegenleistung.«19 Um diese These zu erhärten, sei bereits an dieser Stelle ein Sonett in die Betrachtung einbezogen: O ewigs Licht, machs gleich wunderlich, nur selig (Sonn. I, 15). In den beiden Quartetten betont das Ich seine Schuld; dem schließt sich in den Terzetten die Forderung nach Gnade an: Zumitten dieses Zorns so denk auch deiner Gnaden, daß, wenn du mich bringst um, du dir nicht selbst tust Schaden, schau meinen Zaler an, denn salb du deinen Sohn. Tu Recht, Gerechtigkeit! Was willst du an mein Leben? Er hat für mich an dich mehr, als ich soll, gegeben, daß auch für meine Schuld der Himmel sei mein Lohn. (V. 9–14)
Hier wird auf eine sehr rationale Weise mit einem Partner verhandelt. »Zaler«, »Recht«, »Schuld«, »Lohn« – der Leser fühlt sich in ökonomisch-juristische Bereiche versetzt. Schuld wird in diesem Text nicht als innere Qual und Zerrissenheit empfunden, wie dies in vielen Liedern Gerhardts und Heermanns, aber auch in anderen Texten Flemings in bewegender Weise geschieht; sie ist keine Herzensangelegenheit, sondern eine selbstverständliche Hypothek, über deren Tilgung sich kühl-distanziert verhandeln lässt. Mehr noch: Das Ich fühlt sich berechtigt, fordernd aufzutreten, weil es die Schuld durch die Erlösungstat Christi – der hier wie überall in den Dichtungen Flemings als Mittler auftritt – bereits als getilgt ansieht. So lassen sich auch die Verszeilen »so denk auch deiner Gnaden, | daß, wenn du mich bringst um, du dir nicht selbst tust Schaden«, nicht so verstehen, dass sich der Dichter »sogar zu der Frechheit einer Warnung«20 versteige. Der gelehrte Poet, der sich seines Wertes bewusst ist, weiß sich an eine Stelle gesetzt, wo er genau umrissene Pflichten zu erfüllen hat – »zu nützen einem Stande«21 (Oden I, 4, V.32), wird er nur wenige Monate später die große Reise antreten. Daraus resultiert die Überzeugung, dass er, wenn er sich um eine gewissenhafte Erfüllung der an ihn gestellten Forderungen bemüht, auch durchaus fordernd auftreten darf. »Daß, wenn du mich bringst um, | du dir nicht selbst tust Schaden« – unwillkürlich drängt sich eine Assoziation zu dem berühmten Epigramm des Angelus Silesius auf: »Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben, | werd’ ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben.«22 Nur war dem Lutheraner
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Beck-Supersaxo (Anm. 2), S. 33 (Hervorh. d. Verf.). Ebd., S. 32. Flemings Ode »Nach des VI. Psalmens Weise« (»In allen meinen Taten«) entstand 1633 in Riga. Vgl. dazu Dietmar Schubert: Paul Flemings poetische Chronik seiner Rußlandreise. In: Karlheinz Hengst/Dietmar Schubert: Paul Fleming in Rußland. Forschungsinformation. Pädagogische Hochschule Zwickau 1990, S. 5–20, hier S. 6f. Angelus Silesius: GOtt lebt nicht ohne mich. Erstes Buch. 8. In: Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hg. v. Louise Gnädiger. Stuttgart 1985, S. 28.
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Fleming die »mystische Aktivität«23 des Johannes Scheffler fremd. Vielmehr gewannen für sein Weltbild und damit auch für sein Dichten – durch das Studium von Paracelsus-Schriften inspiriert – die Beziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos an Bedeutung.24 So steht in den Bußpsalmen das trostbedürftige Ich vor Gott – »Durch die Gewissensqual entgieng mir meine Kraft« (Ps XXXII; PW I, 2, V. 11) – und wendet sich mit »Jammerseufzen« (Ps VI; PW I, 1, V. 30) an den »Erretter« (Ps XXXII; PW I, 2, V. 25), sieht er in ihm doch – ein von ihm auch späterhin häufig gebrauchtes Bild – den hilfreichen »Arzt« (Ps VI; PW I, 1, V. 4): Verbirg den Antlitz nicht, du Sonne meiner Seelen, sonst werd ich denen gleich, so in die schwarzen Hölen des Todes fahren ab, als wie in einen Schacht, ohn alle Wiederkunft, und sind in langer Nacht.« (Ps CXLIII; PW I, V. 31–34)
Bemerkenswert ist hier das Streben nach Anschaulichkeit: Dem auch von Paul Gerhardt gern gebrauchtem Bild der Sonne wird ein geradezu danteskes Bild entgegengestellt: das aller Hoffnung bare Hinabfahren in das Reich des Todes, das mit dem Einfahren in einen Schacht verglichen wird. Ganz im Sinne der lutherschen Rechtfertigungslehre wird auf die Gnade Gottes vertraut: »Du bist die Gnade selbst« (V. 23,) heißt es in der Nachdichtung des CXXX. Psalms (PW I, 6). Und der Weg, um diese Gnade zu erfahren, ist das Vertrauen auf Gottes Wort: »Der frische Saft und Kern, den sein Wort in sich hat« (V. 14f.). Zwar wird das Schuldbekenntnis wiederholt: »Ach, Herr, ich bin gefallen! Gefallen bin ich, Herr.« (PW I, 8, V. 41f.) heißt es in der beigefügten Nachdichtung des Gebetes Manasses. Dennoch dominiert die Zuversicht, Gott könne »der offnen Schuld […] einen Durchstrich tun und wieder werden huld« (V. 23f.). Mehr noch: Er ist sich gewiss, »Gott zum Freunde« (Ps VI; PW I, V. 33) gewinnen zu können, ein Urvertrauen, das an eine ganz ähnliche Haltung des alternden Hoffmannswaldau denken lässt. Er ist sicher, dass sein »Jammerseufzen […] die blaue Burg« erreicht habe (V. 30) – ein schönes, einprägsames Bild! – und kann voll Erleichterung vermerken: »Das Wetter ist vorbei, nun hab’ ich Sonnenschein« (V. 32) – ein Bild, das auch von Johann Hermann Schein gebraucht wurde25 und das wir modifiziert und inspiriert von der Philosophie der Stoiker in dem großen Alexandrinergedicht »In Groß Neugart der Reußen, M.Dc.XXXIV« (PW IV, 20) wiederfinden:
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Knut Kiesant: Funktion und Entwicklungstendenzen der deutschsprachigen Lyrik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Diss. Potsdam 1982, S. 183. Vgl. Dietmar Schubert: Paul Fleming. Monographische Studie unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte nach 1945. Diss. Potsdam 1984, S. 80f. Zum Paracelsismus vgl. auch Entner (Anm. 4), S. 105f. Johann Hermann Schein: Venus Kräntzlein […], Lied 10 (»Einsmals ich ein Jungfräulein«), Strophe 7. In: Ders.: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. v. Adam Adrio. Bd. 6. Kassel u. a. 1970. Vgl. auch Schubert (Anm. 9), S. 22f.
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[…] Du auch, machs, wie sichs fügt und hülle dich in dich, bis daß sich Sturm und Regen, nachdem sich Phöbus zeigt, hin wieder werde legen. (V. 28–30)
Bereits in den Nachdichtungen der Psalmen finden sich auch die für Flemings Gesamtwerk charakteristischen Reflexionen über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, ein bekanntlich auch in der Lyrik des Andreas Gryphius prägendes Thema. »Du bist der Zeit Verwalter, | doch außer aller Zeit« (Ps CII; PW I, 5, V. 73f.). Und: […] Dein weisheitreicher Sinn gab alle Himmel an. Jedoch die festen Werke und was zusammenzwingt der Elementen Stärke, daß nichts nicht leer muß sein, die werden untergehn, und du wirst unbewegt in deinen Kräften stehn. (V. 76–80)
Angesichts der »böse[n] Zeit« (V. 88) bleibt die Gewissheit: »Die Ewigkeit, Herr, ist | bloß deines Endes Ziel.« (V. 84f.). So erweisen sich die Nachdichtungen der Bußpsalmen und des Gebetes Manasses nicht als die Werke eines Schülers, dem das »stolze Bewußtsein dichterischer Souveränität noch nicht aufgegangen« sei.26 Vielmehr finden wir eine Vielzahl einprägsamer Bilder und zudem Themen und Motive, die für Flemings geistliche Dichtungen und darüber hinaus für sein gesamtes poetisches Werk bedeutsam bleiben werden: das Vertrauen in die Gnade Gottes, die Suche nach Wegen, die aus schuldhaften Verstrickungen führen können, Bewährung angesichts des Ewigen, das Bestimmen der Möglichkeiten, die einem Poeten zum Lob Gottes offenstehen.
II. Aus den anderen geistlichen Gedichten, die Fleming in die Poetischen Wälder aufgenommen hat, seien drei Texte ausgewählt, die in ihrem gedanklichen Gehalt in bemerkenswerter Weise korrespondieren: Über ein Kleines, Andacht und Christum lieben ist beßer als Alles wissen. In Über ein Kleines (PW I, 11) wird Gott gebeten, angesichts des von »Angst« (V. 3) gepeinigten Menschen sein »Absein« (V. 5) zu beenden: »Erzeige dich, mein Arzt!« (V. 7). Dies sei vonnöten, weil sich die Seele bereits auf die Suche begeben habe: »Itzt fleugt sie selbst dir nach.« (V. 12) Dies aber habe eine bittere Konsequenz: »Ich bin nun nicht mehr ich.« (V. 13) Da er »schon itzt vorhin | ein lebendiger Tod und totes Leben« (V. 15f.) sei, bleiben die bangen Fragen: »wie? wo? was werd’ ich sein?« (V. 15).
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Staden (Anm. 1), S. 18.
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Die Flucht der Seele bewirkt: »Ich bin nun nicht mehr ich.« (V. 13) Dieses Motiv der Selbstaufgabe steht auch im Mittelpunkt des bedeutsamen Textes Andacht (PW I, 15), in dem – wie zwei kontrastierende Stimmen in einem Musikstück – »Tod« und »Leben« einander gegenübergestellt werden. Ich lebe, doch nicht ich; derselbe lebt in mir, der mir durch seinen Tod das Leben bringt herfür. Mein Leben war sein Tod, sein Tod war mir mein Leben, nun geb’ ich wieder ihm, was er mir hat gegeben. Er lebt durch meinen Tod, mir sterb’ ich täglich ab. Der Leib, mein irdnes Teil, der ist der Seelen Grab, er lebt nur auf den Schein (V. 1–7)
Somit erscheint – hier wie vielerorts – die Seele als das Wesentliche und der Körper als das Scheinhafte, mithin Unwesentliche: »Wer ewig nicht will sterben, | der muß hier in der Zeit verwesen und verderben, | weil er noch sterben kann.« (V. 7–9) Dieser Gedanke ist grundlegend für Flemings Haltung zum Leben wie zum Tod: Hieraus erklärt sich die stete Todesbereitschaft, die wir in vielfältigen Variationen in seinen Gedichten entdecken und die schließlich die endgültige Formulierung im Schlussvers der Grabschrifft finden wird: »An mir ist minder Nichts, das lebet, als mein Leben.« (Sonn. II, 14, V. 14) Und der Dichter schlussfolgert: Mein Alles und mein Nichts, mein Leben, meinen Tod, das hab’ ich bei mir selbst. Hilfst du, so hats nicht Not. Ich wil, ich mag, ich sol, ich kann mir selbst nicht raten, dich wil ichs lassen tun, du hast bei dir die Taten. (V. 13–16)
Es ist offensichtlich: Hier werden die berühmten Verse des Reisegedichtes »In allen meinen Taten | laß ich den Höchsten raten, | der Alles kan und hat« (Oden I, 4, V. 1–3) präludiert. Diese prononciert vorgetragene Einsicht mündet in den Schlussvers: »Ich wil nicht meine sein. Nim mich nur, gieb dich mir!« (V. 18). »Ich lebe, doch nicht ich« (V. 1) – hier geht Fleming von den bedeutungsschweren Sätzen aus dem Brief des Paulus an die Galater aus: »ich lebe aber/ doch nu nicht ich/ sondern Christus lebet jnn mir. Denn was ich itzt lebe im fleisch/ das lebe ich jnn dem glauben des Sons Gottes/ der mich geliebet hat/ und sich selbs für mich dar gegeben.« (Gal 2,20)27 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang – darauf hat bereits Entner verwiesen28 – Flemings offensichtliche Kenntnis von Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, wo sich im ersten Kapitel – Was das Bild Gottes im Menschen sei – die Sätze finden: »Und das heißt, Gott ganz gelassen sein; nämlich wenn der Mensch ein bloß lauter, reines, heiliges Werkzeug Gottes und seines heiligen Willens ist […] Also sollte nichts in ihm sein, leben und wirken, denn Gott lauter allein […] Denn dieses 27 28
Biblia (Anm. 14). Die Epistel/ Sanct Pauli/ An die Galater, S. CXXXII. Vgl. Entner (Anm. 4), S. 333–336.
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ist je die höchste Unschuld, wenn der Mensch nicht seinen eigenen Willen vollbringet, sondern lässet Gott alles in ihm wirken und vollbringen. Ja, das ist die höchste Einfalt, wie man siehet an einem einfältigen Kinde, in dem keine eigene Ehre, keine eigene Liebe ist.«29 Bemerkenswerte Korrespondenzen zu Andacht finden sich in dem Alexandrinergedicht Christum lieben ist beßer als Alles wißen (PW I, 18), das mit dem Vers »Ohn Eins ist alles nichts« (V. 1) beginnt. Die Frage stellt sich, was der Besitz von »Kunst, […] Reichtum […] der Ehren Thron« (V. 11f.) bedeute – mithin: an mir wär’ alles das, was man für Alles hält, ganz alles hätt’ ich ganz: was wäre dieses Alles? Ein Alles auf den Schein, ein Conterfet des Schalles, des Schatten leiblich Bild. Verblendung des Gesichts, ein Schlauch an Leere voll, mit einem Worte Nichts. (V. 18–22)
Christus ist »Alles über All« (V. 23), »ein Einzler an der Zahl, | doch über alle Zahl und Zeiten allzumal« (V. 25f.); er ist Menschgott, Heiland, Heil! Dem alle Dinge geben in Allem allen Preis, du alles Lebens Leben und alles Todes Tod! […] (V. 31–33)
Beeindruckend, mit welch folgerichtiger Argumentation – rhetorisch höchst geschickt – hier das scheinbar Wichtige angesichts der Allmacht Christi als unwesentlich dargestellt wird. Aus dieser Einsicht erwächst die Bitte: Ach Alles, laß mein Nichts dir darumb doch gefallen, dieweil es nichts wil ein in andern Sachen allen, gieb, Alles, mir, dem Nichts, in allem Rat und Tat, so hab’ und kan ich mehr, als Alles kan und hat! (V. 35–38)
Damit aber wird nicht nur die Notwendigkeit der Selbstaufgabe – »Ich bin nun nicht mehr ich« – bestätigt, sondern auch die Konsequenz für die Lebensgestaltung gefunden; wiederum wird die Maxime »In allen meinen Taten | laß ich den Höchsten raten« vorweggenommen. Es wäre lohnenswert, auch in der Reise- und Liebeslyrik Reflexionen aufzudecken, die aus dieser grundlegenden Lebenshaltung erwachsen. Ein Beispiel möge genügen. In dem im Frühjahr und Frühsommer 1634 in Nowgorod entstandenen groß angelegten Alexandrinergedicht In Groß-Neugart der Reußen heißt es in Bezug auf das – freilich idealisierte – Leben der Bauern in dieser Region:
29
Johann Arnd’s […] Sechs Bücher vom wahren Christentum nebst dessen Paradies-Gärtlein […]. Bielefeld 1996, S. 70.
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Kein Mensch wird mehr ein Mensch mit seiner Kunst und Witze. So gibts für Gott auch nichts. Wer den in Einfalt ehrt, nur ein rein Herze hat, der ist recht hochgelehrt. (PW IV, 20, V. 110–112)
In eben diesem Gedicht spricht sich der Dichter selbst an: »so sei ein wenig deine, | mein Fleming, weil du kanst« (V. 9f.). Und die Schlussstrophe von »In allen meinen Taten« beginnt: »So sei nun, Seele, deine« (Oden I, 4, V. 85) – dem gegenüber steht: »Ich bin nun nicht mehr ich«. Das immer wieder betonte Streben nach Selbstbehauptung, inspiriert durch die stoizistische Philosophie, hingegen der ebenso prononciert formulierte Wunsch nach Selbstaufgabe – wie ist dies zu vereinbaren? Eine bemerkenswerte Antwort, auf die bereits Entner verwiesen hat,30 findet sich in dem Sonett Neuer Vorsatz (Sonn. I, 12), das in der Tradition der Weltabsage – »Welt, gute Nacht, mit allem deinem Wesen« (V. 1) – steht. Als Folge des Genesungsprozesses wird festgestellt: »Ich bin des Himmels voll.« (V. 6); dies ermöglicht einen Neubeginn, über den es in den beiden Terzetten heißt: Hin, Welt, du Dunst; von itzt an schwing’ ich mich Frei, ledig, los, hoch über mich und dich Und Alles das, was hoch heißt und dir heißet. Das höchste Gut erfüllet mich mit sich, macht hoch, macht reich. In bin nun mehr ich. Trutz dem, das mich in mich zurücke reißet. (V. 9–14)
In den beiden prägnanten Schlussversen wird mit erstaunlicher Klarsicht formuliert, dass das Streben nach Befreiung immer wieder gehemmt wird durch das Gebundensein an die körperliche Existenz und damit eben auch an die lebensnotwendige Bewährung angesichts der Forderungen des Tages. Für dieses Standhalten in einer »böse[n] Zeit« (PW I, 5, V. 88) angesichts vielfältiger Bedrohungen ist das Streben nach Selbstbehauptung und Beständigkeit und die dafür erforderliche Selbsterkenntnis unerlässlich – »Ein Weiser dient der Zeit, | nimmt sein Verhängnüß an, wie es die Hand ihm beut« (PW IV, 20, V. 23f.), heißt es im Groß Neugart-Gedicht.
III. Im ersten Buch der Oden stehen drei Texte – sie befinden sich in den Teütschen Poemata an fünfter, sechster und siebenter Stelle – in engem Zusammenhang, in denen sich – den Anlässen entsprechend – Bilanz und Ausblick verbinden: NeuJahrs-Ode m.d.XXXIII (Oden I, 3), Dancklied (Oden I, 1) und Auff die seligmachende Geburt unsers Erlösers Jesu Christi (Oden I, 2). Sie sind im zeitlichen 30
Entner (Anm. 4), S. 333f.
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Umfeld des Weihnachtsfestes 1632 entstanden und reagieren auf die Schlacht bei Lützen im November dieses Jahres, bei der Gustav II. Adolf sein Leben verlor. Gemeinsam ist den Gedichten, dass nach dem Tod des schwedischen Königs – der in der Neu-Jahrs-Ode als »Unser Heiland, unser Held« (Oden I, 3, V. 21) apostrophiert wird – die Hoffnung auf Christus gesetzt wird. In bewegender Weise wird sowohl auf die Zerstörung der Städte und Dörfer – »Ach du liebes Meißen, du, | wie bist du gerichtet zu« (Oden I, 3, V. 3f.) – als auch die Zustände in der von der Pest gebeutelten »halb-gestorbne[n] Stadt« (Oden I, 2, V. 56) Leipzig eingegangen: »Reinige die faulen Lüfte, | die so schwanger sein mit Gifte!« (V. 59f.), wird Christus gebeten. Bemerkenswert ist in diesen Oden zudem das Endzeitbewusstsein – die Feinde werden zur Beendigung der Kämpfe aufgefordert, »daß wir bey der letzten Zeit stehn in sichrer Einigkeit« (Oden I, 3, V. 67f.) – und der bedenkenlose Wandel des Blickwinkels: Es bereitet Fleming keinerlei Skrupel, nach Christus den römischen Kriegsgott Mars anzusprechen. In Auff die seligmachende Gebuhrt unsers Erlösers Jesu Christi (Oden I, 2) geht es in den drei Eingangsstrophen um die Befruchtung der Erde durch den »gesunde[n] Regen« (V. 8): »Diß Kind ist der Thau, der Regen; | der die Erde soll bewegen.« (V. 11f.) Schon hat der Dichter die Genesung des Landes von der »Unart« (V. 15) vor Augen: »wie daß Thäler, Feld und Höhen | schon in schönerm Schmucke gehen?« (V. 17f.) Bezeichnend ist, dass der Westwind aufgefordert wird, Blumen auf das Kind in der Krippe zu streuen; Blumen spielen in der Lyrik Flemings – nicht zuletzt in den Epicedia, wo ihre Schönheit der Hässlichkeit des Todes entgegengesetzt wird31 – eine wichtige Rolle. Es gelingt dem Poeten, ein anschauliches Bild vom Inneren des Stalles zu entwerfen, wobei – wie auch in Friedrich Spees Ein kurtzer Poetisch Christgesang vom Ochß, vnd Eselein bey der krippen32 – die Tiere gebeten werden, das ihnen Mögliche zum Wohlbefinden des Kindes beizutragen: Ihr, ihr eingestallten Tiere haucht ihm warmen Atem zu daß es keine Kälte rühre. Stört es nicht aus seiner Ruh! (V. 37–40)
Die Neu-Jahrs-Ode endet mit dem dringlichen Wunsch: »Weg ihr Sorgen, weg Gefahr: | itzund komt ein neues Jahr!« (Oden I, 3, V. 87f.); in Auff die selig-machende Geburt unsers Erlösers Jesu Christi wird dem Wirken Christi anheimgestellt, »das[s] doch mit dem alten Jahre | hin auch alle Plage fahre!« (Oden I, 2, V. 53f.). Im Hinblick auf die Motivik und Bildwelt der geistlichen Dichtung ist auch die Ode Auf des VIII. Psalms Melodey (Oden I, 5) beachtenswert. Als inventio wird die Todesfurcht des Menschen gewählt; am Anfang steht die Frage. »Willst 31 32
Vgl. z. B. Auf Jungfrau Marien Schürers Begräbnüß (Oden II, 3, V. 25–32) und Auf Herren Timothei Poli neugebornen Töchterleins Christinen ihr Ableben (Oden II, 14, V. 79–84). Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift. Hg. v. Theo G. M. van Oorschot. Stuttgart 1991, S. 189f., hier S. 190 (Str. 4).
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du erst itzt, o Seele, dich beschweren, | daß deinen Leib die Erde soll verzehren?« (V. 1f.) Dem wird die Vorherbestimmtheit menschlichen Schicksals entgegengehalten, für die der Dichter in seinem Meistersonett »An sich« (Sonn. III, 26) den prägnanten Satz formulierte: »halt Alles für erkoren« (V. 5). In der Ode heißt es: »Sein Ende war ihm da schon auserkoren; | Eh als ihm noch sein Anfang war geboren« (V. 5f.); ganz ähnlich hat es Andreas Gryphius in seinem Sonett An Eugenien formuliert: »Wir sind von Mutterleib zum Vntergang erkohren«.33 Angesichts dieser Überzeugung von der Vorherbestimmtheit und Endlichkeit menschlichen Daseins wird über Wert oder Unwert des scheinbar Erstrebenswerten nachgedacht: Schau alles an, worauf ein Herze schauet, das mehr auf Schein als wahre Schönheit trauet, Kunst, Ehre, Lust, Vermögen und fortan: ist alles diß auch mehr als nur ein Wahn? (V. 21–24).
Ganz ähnliche Verse finden sich in einem Epicedium, das Fleming von Astrachan nach Moskau sandte: Alles ist mehr nichts als nichts, Leben, Ehre, Kunst, Vermügen; es entgeht uns, eh’ wirs kriegen; eh’ wirs fassen, so zerbrichts; (Oden II, 17, V. 19–22).
Bemerkenswert, dass er hier in Frage stellt – wie auch Gryphius in seinem Sonett Mitternacht34 –, was er in seiner Grabschrifft (Sonn. II, 14) als das Entscheidende seiner Lebensleistung ansehen wird: »Ich war an Kunst und Gut und Stande groß und reich« (V. 1). Wie sehr Fleming diese Problematik beschäftigt, ja gequält haben muss, wird in dem gedankentiefen Sonett Daß alles eitel sei (Sonn. I, 6) offensichtlich, in dem auf originelle Weise Antwort auf den Sinn menschlichen Strebens gesucht wird: Was, sprichst du, ist es wol, darauf du dich bemühst? Kunst, Ehre, Reichtum, Lust, die Lüften gleich und Güssen mit uns selbst schießen hin? (V. 1–3)
Freilich, wird entgegnet, er selber wisse »mehr als wol, daß Alles eitel« sei (V. 5), dennoch stelle sich die Frage: »Wie aber kömmt es doch, daß wider unser Wissen | wir etwas, das nicht ist, doch schöne heißen müssen, […]?« (V. 6f.) Die Antwort: 33 34
Andreas Gryphius: Gedichte. Eine Auswahl. Hg. v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1993, S. 6. Ebd., S. 12.
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In Unvollkommenheit vollkommen werden wollen, das machet unsern Sinn auf Neues so geschwollen, erfüllet auf den Schein, […]. (V. 9–11)
Dieser Widerspruch erweist sich – wie hellsichtig erkannt wird – als unauflösbar; daher die Einsicht, die sich in vielfältigen Variationen in dem während der Russland- und Persienreise entstandenen poetischen Werk findet: […] Wer kan von Herzen sagen: Ich bin vergnügt in mir, weiß weder Lust noch Klagen. Wie eitel Alles ist, der Mensch ist eitel mehr! (V. 12–14)
Der Einsicht in die Scheinhaftigkeit aller Dinge wird in der Ode Auff des VIII. Psalms Melodey (Oden I, 5) die Gewissheit entgegengehalten, »daß meine Seele lebet« (V. 29); im Gegensatz zum Leib wird ihr Unsterblichkeit zuerkannt. Durch die Erlösungstat Christi sei ermöglicht worden, »daß, da du schon wie warst ein Hellenbrand | der Himmel dir durch Gott war zuerkant!« (V. 35f.) Daraus erwächst ein großes »Dennoch«: Hab alle Welt, hab alle Macht zu Feinde, es schadet nichts, hastu nur ihn zum Freunde; es wird dein Fall dich dennoch sehen stehn, wenn er durch sich wird einst zu Grunde gehen. (V. 41–44)
Und das Gedicht klingt mit der Ermutigung aus: »Du bist ja doch mein Gott, | und schlügst du mich mit tausent Toden tot.« (V. 51f.) »Nach des VI. Psalmens Weise« (»In allen meinen Taten«, Oden I, 4): Es wurde bereits eingangs darauf verwiesen, dass dieses Reiselied ein gedankliches Zentrum der flemingschen Lyrik und zugleich seine populärste und wirkungsmächtigste Ode ist. Angesichts des Blickes in eine ungewisse Zukunft vermittelt sie Maximen, die über den konkreten Anlass hinaus für die gesamte Lebensreise als gültig erachtet werden können. In den fünf Eingangsstrophen wird das als vorherbestimmt gesehene menschliche Handeln – »halt alles für erkoren« (Sonn. II, 26, V. 5), heißt es im Sonett »An sich« – dem Rat »des Höchsten […] | der Alles kann und hat« (Oden I, 4, V. 2f.), anheim gestellt. Es ist dies eine Entscheidung, die in dem Vertrauen in die Gnade eines alles verzeihenden Gottes wurzelt. In den Strophen sechs bis zwölf werden daraus die Schlussfolgerungen für das Verhalten während der geplanten Expedition abgeleitet. Über die bevorstehenden Belastungen und Gefahren ist sich der Poet im Klaren. Das in der Philosophie der Stoiker postulierte Streben nach Beständigkeit auch in extremen Lebenslagen wird im Vertrauen auf den Ratschluss Gottes als die angemessene Lebenshaltung gesehen.
»Denn mein Erlöser trug mich allzeit auf den Armen«
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Hat er es denn beschlossen. So will ich unverdrossen An mein Verhängniß gehn; Kein Unfall unter allen wird mir zu harte fallen, Ich will ihn überstehn. (V. 61–66)
lautet die elfte Strophe. In der zwölften Strophe wird – wie bereits in vielen anderen Texten bemerkt – die ständige Todesbereitschaft artikuliert, die den Lebenswillen in keiner Weise beeinträchtigt. Bemerkenswert ist, dass in der 13. Strophe – wie übrigens auch in dem Epicedium An Herrn Martin Christenien (Oden II, 12) – das im Falle einer geglückten Heimkehr Geplante vorweggenommen wird: Sodann werde er »Gott noch preisen | mit manchen schönen Weisen | Daheim in meiner Ruh’.« (V. 76–78) In der vorletzten Strophe wird um Segen und Schutz für die Seinen gebeten; in diesen Tagen wird er vom Tod der geliebten Stiefmutter erfahren. Und dann folgt die markante Schlussstrophe, in der christliches und stoizistisches Gedankengut eine so nahtlose Synthese eingegangen sind. So sei nun, Seele, deine Und traue dem alleine, der dich geschaffen hat! Es gehe wie es gehe, dein Vater in der Höhe weiß allen Sachen Rat. (V. 85–90)
Vertrauen in die Gnade Gottes und tapfere Selbstbehauptung, beides findet sich auch in der sowohl in ihrer gedanklichen Dichte als auch formalen Kühnheit bemerkenswerten Ode Laß dich nur nichts nicht tauren (Oden I, 9), zu der Liselotte Beck-Supersaxo ebenso sensibel wie hellsichtig vermerkt hat: »Eine so meisterhafte Führung zweier parallel komponierten Melodien ist sonst nur noch in der Musik dieser Epoche möglich.«35 Auffällig ist, dass bereits für den jungen Poeten das Hören auf den Rat Gottes nicht Fatalismus bedeutet; vielmehr ist er durchweg bemüht, daraus die Leitlinien für seine Lebensgestaltung zu gewinnen. So endet die Ode Tugend ist mein Leben (Oden I, 8) mit der Strophe: Hab’ ich Gott und Tugend, So hat meine Jugend, was sie macht wert. Diese schönen Beide, wehren allem Leide, lieben alle Freude, so man begehrt. (V. 29–35)
35
Beck-Supersaxo (Anm. 2), S. 50.
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Dietmar Schubert
IV. Die Themen und Motive, die Fleming in den Alexandrinergedichten und in den Oden variiert, spielen auch in den 20 Sonetten die entscheidende Rolle: menschliche Schuld und die Hoffnung auf göttliche Gnade, Absage an die falsche Welt und Sehnsucht nach Erlösung, Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. An vorletzter Stelle des ersten Sonettbuches steht das in der Forschung vielbeachtete Sonett S. Augustinus sein: brachia Salvatoris mei et vivere volo et mori cupio (Sonn. I, 19). Dieses lateinische Motto erscheint in deutscher Nachdichtung als vierzehnte Verszeile: »Denn mein Erlöser trug mich allzeit auf den Armen.« und bildet damit die Klammer für das gewählte Exempel: ein schreckliches, lebensbedrohendes Unwetter, das sowohl auf dem Lande als auch auf der See tobt. [D]ie Erde ward erschüttert, mein Fuß sank unter sich, der Grund war bodenlos. Die Gruft, die fiel ihr nach; schlung mich in ihren Schoß. (V. 3–5)
Und dann folgen die viel zitierten Verse: Ich gab mich in die See, in der es grausam wittert’ der Sturm flog klippenhoch, mein Schiff das ward gesplittert ward leck, ward Ancker quit, ward Mast- und Segel bloß. Vor, um und hinter mir war nichts als eine Not, von oben Untergang, von unten auff der Tod, es war kein Muttermensch, der mit mir hatt’ Erbarmen. (V. 6–11)
Eine existentielle Bedrohung zu Land und auf der See; der Dichter steht dem Toben der Elemente einsam gegenüber, dennoch: »Ich aber war mir gleich, zum Leben frisch und froh./ zum Sterben auch nicht faul, auf wenn und wie und wo.« (V. 12f.) Schließlich der berühmte vierzehnte Vers, ein Gipfelpunkt von seltener Prägnanz und Eindringlichkeit: Es ist verständlich, dass ein solcher Text, der einer von der Erlebnisästhetik geprägten Erwartungshaltung entsprach, große Aufmerksamkeit fand. Lappenberg vermerkte: »Wir dürfen in der Beschreibung des Sturmes wohl eine Erinnerung des vom Dichter auf dem Kaspischen Meere (14. November 1636) erduldeten finden.«36 Von Staden meinte, es sei »nach Gehalt und Sprache das beste von allen« und knüpfe »an Selbsterlebtes an«.37 Und Beck-Supersaxo konstatierte: »Das einsame Individuum spricht sich aus über das höchst persönliche Erlebnis.«38 Zweifellos war der Schiffbruch auf dem Kaspischen Meer für Fleming und seine Reisegefährten eine lebensbedrohende Grenzsituation gewesen. »Hier braust mein naher Tod« (V. 1), hat er es in dem für das Stammbuch des Adam Olearius verfassten Text (Sonn. III, 51) auf den 36 37 38
Lappenberg (Anm. 12), S. 766. Staden (Anm. 1), S. 38. Beck-Supersaxo (Anm. 2), S. 47.
»Denn mein Erlöser trug mich allzeit auf den Armen«
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Nenner gebracht. Dennoch ist im Hinblick auf den Erlebnisgehalt des Sonetts Vorsicht geboten. Fleming greift zurück auf Bilder aus der seit der Antike geläufigen Schifffahrtsmetaphorik. Bemerkenswert ist, dass er am 3. Oktober 1636 in Astrachan ein großes Alexandrinergedicht Auf des Hochgelehrten Herrn Olearien […] seine Rede über deroselben erlittenem Schiffbruche auf Hoheland im November des MDCXXXV. Jahrs« (PW IV, 46) verfasste, in dem es heißt: »Der Sturm flog Klippen hoch« (V. 47) – dies stimmt wörtlich mit der ersten Hälfte des 7. Verses des Sonetts überein. Und in dem auf der Rückreise am 6. September 1638 – wiederum in Astrachan – verfassten Bilanzgedicht An Herrn Hartman Grahman (PW IV, 53) findet sich – diesmal im Hinblick auf Bedrohungen seitens der Kneder und Tartaren – : »Vor, umb und hinter uns war nichts als eitel Not« (V. 354); dies ist nahezu identisch mit Vers neun des Sonetts. Entscheidend für die Wirkung dieses zweifelsohne vortrefflichen Gedichts ist nicht die Frage, ob und inwieweit der Dichter hier persönliche Erlebnisse reflektiert, sondern wie er dem Satz des Augustinus Bedeutsamkeit für das Standhalten des Menschen auch in existentiellen Notlagen abgewinnt, letztlich ein Thema, mit dem er sich auf andere und doch ganz ähnliche Weise in dem Sonett An sich (Sonn. III, 26) und der Ode Nach des VI. Psalmens Weise (»In allen meinen Taten«, Oden I, 4) auseinandersetzt. Vielleicht sind es gerade die zahlreichen Paradoxien und unbeantworteten Fragen, die oft quälende Sinnsuche und der Mut zum Beharren auch in scheinbar aussichtslosen Situationen, das Vertrauen in die Gnade Gottes und der Wille, menschliches Schicksal auch in »bösen Zeiten« zu meistern, die den Wert der eigenwilligen geistlichen Lyrik Flemings ausmachen. Hier finden sich – wie bereits erwähnt – die Leitlinien für sein gesamtes poetisches Werk. Von hier aus wird es gelingen, das Innovatorische auch in den anderen Themenbereichen aufzusuchen, beispielsweise in der Liebeslyrik die Verantwortung für die Partnerin, die sich in so unverwechselbarer Weise in der Ode Treue Pflicht (Oden V, 32) ausspricht. 1636 in Astrachan – als sich ein Ende der Reise abzeichnet und damit die Hoffnung auf künftige Lebensmöglichkeiten wieder stärker wird – gibt Fleming in einem Alexandrinergedicht An Herrn Olearien (PW IV, 44) noch einmal eine Charakteristik seines Wesens – »Mein Sin ist ohne Falsch | in stiller Einfalt klug« (V. 177) – und bekräftigt das schon bei Antritt der Reise Gesagte: »Ich traue meinem Gott und lasse mich begnügen, | der wird es alles wol nach seinem Willen fügen.« (V. 155f.) Und in berührender Bescheidenheit wendet er sich an den treuen Gefährten: Da hast du, mehr als Freund, auch mich mit dir genommen, ein Zeuge meines Tuns, das, wie gering’s auch ist, iedoch mein Deutschland itzt nicht ohne Liebe liest. Ich weiß, wie hoch ich dir für dieses bin versessen, daß ich nach meinem Tod’ auch werde nicht vergessen. Kein Dank, der stirbt mit uns. […] (V. 88–93).
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Dietmar Schubert
Deutlich klingt sie an: die Hoffnung auf ein Weiterleben seiner Dichtungen nach seinem Tod, die ihm in seiner Grabschrifft (Sonn. II, 14) zur Gewissheit werden wird: »Man wird mich nennen hören, | bis daß die letzte Glut dies Alles wird verstören.« (V. 6f.) Warum für ihn das Wissen um die Fortexistenz seiner Dichtungen von so großer Bedeutung war, wird offenbar, wenn wir deren Bewertung in dem großen Bilanzgedicht An Herrn Hartmann Grahmann (PW IV, 53) bedenken: »Diß ist mein Ebenbild. Was, Bild? Mein ganzes Wesen, | das du zwar hier noch siehst, dort weit wirst besser lesen.« (V. 443f.)39 Das für ihn Wesentliche aber hat er in besonderer Weise in seinen geistlichen Dichtungen zum Ausdruck gebracht, sind doch in ihnen die von einer Synthese von christlichem und stoizistischem Gedankengut geprägten Leitlinien zu finden: Aus seinem Wissen um die Endlichkeit und der Überzeugung von der Vorherbestimmtheit menschlichen Lebens erwächst das Vertrauen in die Gnade Gottes. Dieses befähigt ihn zur Beständigkeit auch in extremen Lebenssituationen, und aus diesem erwachsen sein Wille zur Bewältigung der ihm gestellten Aufgaben sowie das Verantwortungsbewusstsein sowohl gegenüber seinem Stand und seiner Heimat als auch ihm nahe stehender Menschen. Dabei sind Paradoxien nicht zu übersehen: Texten, in denen das Streben nach Selbstbehauptung artikuliert wird, stehen solche gegenüber, in denen die Sehnsucht nach Selbstaufgabe in der Absage an eine von Scheinhaftigkeit geprägte Welt ihren Ursprung hat. Dennoch: In seinen Dichtungen wird das vanitas-Thema überglänzt von dem der Bewährung im Zeitlichen angesichts der Ewigkeit. In seiner Ode Laß dich nur nichts nicht tauren (Oden I, 9) hat er auf den Nenner gebracht, was sein Leben und sein Dichten, die eine so bemerkenswerte Einheit bilden, bestimmte: Sei nur in allem Handel ohn’ Wandel. Steh este! f Was Gott beschleußt, das ist und heißt das este. B (V. 13–18)
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Fleming modifiziert hier Gedanken aus Ovids Tristia V, 14; V. 5f. Darauf verweist Stephan Tropsch: Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung. Graz 1895 (Grazer Studien zur deutschen Philologie 3), S. 43 (ND Hildesheim 1976).
Johann Anselm Steiger
Hephata! Ein geistliches Gedicht des Dichters und Arztes Paul Fleming und dessen auslegungshistorischer Kontext
I. In einer seiner Predigten über die Heilung des Taubstummen (Mk 7,31–37) kommt Martin Luther an, vom Duktus seines Textes her betrachtet, zentraler Stelle auf die Sprachfähigkeit der Schöpfung zu sprechen, die freilich nur dem durch den Glauben neugewordenen Menschen vernehmbar ist. Das die rhetorische inventio stiftende Moment in Luthers Auslegung der Hephata-Perikope ist auffälligerweise zunächst der Taubstumme. Er ist paradoxerweise insofern ein Redender, als er sub contrario wie jeder Taubstumme oder Blinde darauf hinweist, ein welch hohes Gut es ist, hören, sprechen und sehen zu können. »Ideo lest unser herr Gott zu weilen einen blind sein, sprachlos sein, ut videantur, quantus thesaurus sit, qui potest loqui etc. […] Augustinus. Omnes creaturae ad hoc clamant, ut deo grati simus.«1 Ausgehend von diesem augustinschen Motiv2 thematisiert Luther im Folgenden zunächst die geistliche Taubheit des sündigen Menschen (»totus mundus est surdus, quia non intelligit«3), um sodann zu zeigen, wie die Sprache der Schöpfungswerke im Sinne der analogia fidei hörbar werden kann. Ein jeglicher Mensch, der Christi Wort ›Tue dich auf‹, durch das der Taubstumme geheilt wurde, glaubend als zu ihm gesprochen annimmt, wird – so Luther – geistlich heil und hörend. Erst so bekommt er auch Ohren für die Predigt der Schöpfung. Sodann beginnt auf einmal der ganze Bauernhof zu sprechen, und das tierische Lautgewirr entflicht sich.
1 2
3
Die Weimarer Ausgabe der Werke Luthers wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle »WA« zitiert. WA 46,494,2–5 (Predigten des Jahres 1538 [8. September]). Vgl. hierzu z. B. Augustin: Enarrationes in Psalmos I–L. Turnhout 1956 (Corpus Christianorum Series Latina 38), S. 161, 10f. (zu Ps 26,6): »Circumeat animus tuus per uniuersam creaturam; undique tibi clamabit creatura: Deus me fecit.« Vgl. weiter Augustin: Confessionum libri 13. Hg. v. Lucas Verheijen. Turnhout 1990 (Corpus Christianorum Series Latina 27), S. 197, 1–4 (lib. 11, cap. 4): »Ecce sunt caelum et terra, clamant, quod facta sint; mutantur enim atque uariantur. Quidquid autem factum non est et tamen est, non est in eo quidquam, quod ante non erat: quod est mutari atque uariari. Clamant etiam, quod se ipsa non fecerint.« WA 46,493,27.
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Johann Anselm Steiger
Ideo canit ›Hephethah‹, thut dich ein mal auff. Si oculos et aures, so wurde uns das korn anreden: Sis letus in deo, es, trinck et utere me et servi proximo. Ich wil die boden fullen. Sic vaccae egrediuntur, ingrediuntur, si non mutus, audirem: Letamini, wir bringen buter, kes, esset, trincken, date aliis. Sic Gallinae: wollen eier legen. Item aves: leti sitis, wollen vogel hecken. Sic libenter audio grunnire porcos, quia afferunt braten, wurst.4
Es sind zunächst ganz alltägliche Dinge, die die animalischen Geschöpfe sprechen. Sie verweisen auf die Gaben und Lebensmittel, die aus ihnen entstehen und verbinden damit die Aufforderung an die Menschen, ihren Nächsten von diesen das Leben erhaltenden Gütern – selbst reich beschenkt – großzügig weiterzugeben. Doch schon diese erste und einfachste Lektion können die natürlichen, nicht geistlich durch das Wort Gottes neugewordenen Menschen nicht hören, »quia habent aures et non audiunt«5 (vgl. Mt 13,13) – es sei denn, das ›Hephata‹ sei zuvor erklungen. Erst dann schicken sich die geistlich hörend Gewordenen an, die Gaben des Schöpfers als solche zu erkennen, sie dankbar anzunehmen und im Alltäglichen das Wunderwirken Gottes zu sehen. Die Heilung des Taubstummen ist für Luther eine Exempelgeschichte, die für all diejenigen im Sinne des pro me relevant und wirksam wird, die sich diese exemplarische Heilung durch das Evangelium zusagen und somit applizieren lassen. ›Hephata‹ ist das Machtwort des Schöpfers selbst, dem die Geschöpfe gehorchen, ähnlich wie das ›Es werde licht‹ am Anfang ein Wort voll von efficacia war.6 Die Predigt des Wortes Gottes nun, so Luther, spricht ebenfalls ›Hephata‹ und öffnet die Ohren für die den Schöpfer verherrlichende und preisende Kreatur. »Das wolt das Euangelium gern thun, ut per istum unicum hominem faceret nos omnes audientes et loquentes. Non audimus, etiamsi totus mundus et creaturae clament et deus promittat.«7 Luther betrachtet den Taubstummen nicht als einen Einzelfall und dessen Heilung nicht als ein singuläres Wunderwerk. Vielmehr ist es dem Reformator darum zu tun, die Exemplarizität des Taubstummen in den Vordergrund zu heben und ihn als eine Figur vor Augen zu stellen, die als einzelne visualisiert, wie es um die gesamte sündige Menschheit bestellt ist. Umgekehrt bedeutet dies aber zugleich, dass in der Art und Weise, wie Christus sich des Taubstummen annimmt und ihn heilt, sinnenfällig wird, wie er an eben dieser Totalität der Sünder handelt, nämlich vergebend und alle Not auf sich nehmend. Aber man mus gleich wol Christum nicht so enge spannen, das er nur auff eine person sehe, und mus jn bas ansehen, denn das er sich allein dieses menschen hie anneme. Denn so sagt uns die gantze heilige Schrifft und sonderlich die Propheten und Psalmen, das er sey gesand dazu, das er sich hat sollen hertzlich annemen aller not des gantzen menschlichen geschlechts […], das er sich aller unser not so sol annemen, als were sie sein eigene not […].8 4 5 6
7 8
WA 46,494,15–20. WA 46,495,1. Vgl. auch WA 52,452,14–18 (Hauspostille 1544): »Die aber Gottes wort gern hören, und zu denen Christus gesaget hat, wie hie zum stummen: Ephata, Ohr, du solt offenstehen, Die sind es, den recht geholffen ist wider den Teufel, Denn Gott hat uns kein andere treppen geben noch ein andern weg gewisen, darauff wir gen hymel gehen können, denn sein liebes wort, das heylig Euangelion.« WA 46,495,4–6. WA 37,508,34–509,15.17f. (Predigten des Jahres 1534 (Nr. 53)).
Hephata!
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Die Zitation einer Reihe von Psalmenstellen (Ps 40,13; 41,5; 69,6) lässt Luther in eine Bezugnahme auf Jes 53,5f. münden und formuliert sodann ein soteriologisches Summarium: »Der HERR warff aller unser sunde auff jn.« Jtem: »Er trug unser kranckheit und lüde auff sich unsere schmertzen, Die straffe ligt auff jm, auff das wir fride hetten« etc. Und so fort an zeigen andere schrifften auch. Denn so sol der Herr Christus gemalet sein, das er sey die einige person, die nicht einer stad oder eins lands unglück auff sich neme, sondern der gantzen welt.9
In der Exemplarizität des heilenden und sündenvergebenden Handelns des Sohnes Gottes verbirgt und offenbart sich zugleich die Totalität des göttlichen Heilswillens. Wie zentral Luther diesen Gedanken stellt, zeigt sich u. a. darin, dass er ihn in der in Rede stehenden Predigt mehrfach zur Sprache bringt. In dieser konsequent soteriologisch motivierten Perspektive eröffnet sich Luther zufolge erst der tiefere Sinn von Mk 7,34, wo erwähnt wird, der Gottessohn habe vor der Artikulierung des Imperativs ›Hephata!‹ geseufzt. Der Reformator distanziert sich diesbezüglich von der traditionellen Lesart, der zufolge das Seufzen Jesu motiviert ist durch dessen Befürchtung, der Geheilte könnte »allerley jrrige und falsche lere lieber denn Gottes wort hören«,10 sein Gehör also missbrauchen. Laut Luther jedoch seufzt Christus, weil er es in seinem Handeln an dem Taubstummen eben mit nichts weniger zu tun bekommt als mit der geistlichen Stummheit und Taubheit aller Sünder, die waren, sind und noch geboren werden sollten – sogar desjenigen Sünders, »der am Jüngsten tag noch solt geborn werden«.11 Hier also wird sichtbar, so Luther, das er sich wolt hertzlich jamern lassen alles schadens des gantzen menschlichen geschlechts. Das es jst jm nicht zuthun gewest umb der einigen zungen und der ohren willen dieses armen menschen, sondern ist ein gemein seuffzen gewest uber alle zungen und ohren, ja uber aller hertz, leib und seele und alle menschen von Adam an bis auff den letzten menschen, der noch sol geborn werden, Also, das er nicht furnemlich darumb seuffzet, das dieser mensch noch viel sunde zukünfftig thun würde, sondern das ist das furnemest, das er, der Herr Christus, hat gesehen jnn den klumpen fleisch und bluts, wie der Teufel das selbe jnn mördlichen schaden im Paradis gebracht, die menschen stum und taub gemacht und also jnn den tod und hellisch feur gestecket hab.12
Indem sich Christus heilend der Zunge und den Ohren des Taubstummen zuwendet, verweist er Luther zufolge nicht lediglich auf das Medium, durch das geistlich gesund zu werden allein möglich wird, nämlich auf das Wort Gottes. Vielmehr deutet der Sohn Gottes hiermit zugleich auf die differentia specifica zwischen Nicht-Christen und Christen hin, die darin besteht, dass letztere, die Glaubenden, andere, weil neue Ohren und Zungen haben – anders also hören und
9 10 11 12
WA 37,509,24–29. WA 37,508,29f. WA 37,512,25f. WA 37,509,35–510,21.
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Johann Anselm Steiger
eine neue Sprache sprechen. So wie in der in Mk 7 erzählten Wunderheilung die Botschaft von der Errettung aller sündigen Menschen verborgen liegt und entdeckt werden will, so ist diese Perikope obendrein ein Ausweis der Tatsache, dass die durch die remissio peccatorum bedingte totale Neuwerdung des Menschen sich verbirgt in der Rekreation dieser beiden kleinen Gliedmaßen. Damit hängt aufs engste zusammen, dass auch das Christsein sich im alltäglichen Leben, mithin im Reich der Welt, zumeist eher verbirgt als offenbart. Er nimpt aber hie sonderlich die zwey gelied fur sich, Ohren und Zungen, denn jr wisset, das das Reich Christi gegründet ist auff das wort, welchs man sonst weder fassen noch begreiffen kan on durch diese zwey gliedmas, ohren und zungen, und regiret allein durch das wort und glauben im hertzen der menschen. Das wort fassen die ohren, und das hertz gleubets, Die zunge aber redets oder bekennets, wie das hertz gleubet. Darumb, wenn man die zungen und ohren hinweg thut, so bleibt kein merckliche unterscheid zwisschen dem Reich Christi und der welt. Denn ein Christ gehet jnn eusserlichem leben daher wie ein ungleubiger, er bawet, ackert, pflüget eben wie andere, nimpt kein sonder thun noch werck fur, weder jnn essen, trincken, erbeiten, schlaffen noch anderm. Allein diese zwey gliedmas machen einen unterscheid unter Christen und unchristen, das ein Christ anderst redet und höret, und hat eine zunge, die Gottes gnade preiset, die von dem Herrn Christo predigt, das er allein sey der Seligmacher etc.13
Ausschließlich daran, dass ein Mensch mit rekreierten Ohren das verbum Dei hört, dem er die Neuwerdung seines Gehörs ja zu verdanken hat, sowie daran, dass er, gleichsam responsorisch, mit Gott im Gebet spricht, wird erkennbar, dass er ein Christenmensch ist. Dass hieraus keineswegs der Umkehrschluss gezogen werden darf, es sei irrelevant, wie sich der Glaubende im Leben verhält, setzt Luther nicht nur voraus, sondern geht auf diesen Aspekt in seiner Predigt explizit ein, indem er sagt, es sei nötig, »das wir uns auch danckbar fur diese wolthat gegen seinem wort ein jglicher jnn seinem stand erzeigen, Das ein Fürst jnn seinem lande, Ein Prediger auff der Cantzel, vater und mutter im hause sein ampt recht aus richte«.14 Der Glaube bleibt mithin nicht folgenlos für das Leben, im Gegenteil. Genauso unbezweifelbar indes ist, dass es ein unzulässiger Umkehrschluss wäre, vom äußerlich sichtbaren (vielleicht nur vermeintlich christlichen) Verhalten eines Menschen auf seine innerliche Existenz und sein Gottesverhältnis schließen zu wollen, mit Hilfe von menschlich-empirischen Kriterien also eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob ein Mensch ein Glaubender ist oder nicht. Denn genauso wie sich das Christsein im Alltag verbirgt, so ist stets auch umgekehrt damit zu rechnen, dass das vor der Hand christlich erscheinende Verhalten geheuchelt ist, sich die Sünde also im vorgeblichen Gegenteil ihrer selbst verbergen kann.
13 14
WA 37,512,36–513,28. WA 37,517,35–37.
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Hephata!
II. Der Aspekt der allein durch das im Glauben ergriffene verbum Dei möglich werdenden geistlichen Eröffnung der Augen und Ohren im Hinblick auf die Wahrnehmung der in die Geschöpfe eingesenkten Verkündigung Gottes begegnet auch bei dem Nürnberger Barockdichter Sigmund von Birken (1626–1681).15 Dieser Topos steht mottoartig über einem Abendlied Birkens zum zwölften Sonntag nach Trinitatis und einer hierzu gehörigen emblematischen Erfindung. Das Gedicht (freilich mit einem anderen Emblem) kam in Dilherrs Hertz= und Seelen=Speise/ Oder Emblematische Hand- und Reispostille16 im Jahre 1663 zum Abdruck. Bild und Text gemeinsam machen deutlich, dass derjenige, der der göttlichen Eröffnung der geistlichen Augen und Ohren teilhaftig geworden ist, die des nachts am Himmel zu sehenden Sterne und den Mond als kosmisch-emblematische Versinnbildlichungen der gnädigen Wachsamkeit Gottes zu entziffern fähig ist, der Ps 121,4 zufolge weder schläft noch schlummert. Der Unterschied zu Luthers oben thematisierter Predigt besteht darin, dass sich der Mensch, dem die regeneratio zuteil geworden ist, nicht der sublunaren Welt des Bauernhofes zuwendet, um diesen geistlich zu dekodieren, sondern dem Himmelszelt und den Gestirnen. Die Manuskriptversion17 von Birkens Gedicht, von der die Druckfassung nur leicht abweicht, hat folgenden Wortlaut: Dominica XII. post Trinitatem Emblema18 Ein ligendes Herz, mit einem Antlitz und Ohren: Ein Strahl von Himmel, sich un= ten theilend, und mit 5. Striemen in Augen Ohren und Mund fallend. Hephatha. Lemma. Gott helffen muß, ohn ihn wir sind 15
16
17 18
Vgl. zu Birken Klaus Garber: Art. Birken, Sigmund von. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 1. Berlin u. a. 2008, S. 558–564; Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau 2007; Conrad Wiedemann: Sigmund von Birken 1626–1681. In: Fränkische Klassiker. Hg. v. Wolfgang Buhl. Nürnberg 1971, S. 325–336; Joachim Kröll: Sigmund von Birken (1626–1681). In: Fränkische Lebensbilder 9 (1980), S. 187–203; Ferdinand van Ingen: Sigmund von Birken. Ein Autor in Deutschlands Mitte. In: ›der Franken Rom‹. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 257–275. Johann Michael Dilherr: Hertz= und Seelen=Speise/ Oder Emblematische Haus= und Reise=Postill: in welcher Alle Sonn= und Festtägliche Evangelia gründlich erkläret/ und der heilsame Nutz/ zu Stärckung deß Glaubens/ und Besserung deß Lebens/ deutlich gezeiget/ die gantze Predigt zum Beschluß/ auf das allerkürtzeste wiederholet/ und mit einem Sinnbild geendet wird. Jtzo zum andernmal aufgeleget/ und mit vielen neuen Predigten/ auch schönen erbaulichen Liedern/ auf alle Evangelia/ vermehret. Nürnberg 1663 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (im Weiteren: HAB) Th 557), S. 764. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Archiv des Pegnesischen Blumenordens B.3.2.2, fol. 66r/v. Diese Emblemerfindung fand keine Umsetzung in Dilherrs Hertz= und Seelen=Speise. Vgl. die folgende Anmerkung.
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Johann Anselm Steiger im Herzen thumm, stumm, taub und blind. Emblema Dilherri19 Eine Weltkugel, über welcher die Sonne auf= Mond und Sternen untergehen. Jn Mond und Sonne ist der Nahme Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zusehen. Spruch. Gottes Güte, lieb und Treu wird mir alle Morgen neu. LXIV. Morgen= und AbendLied: bey Aufgang der Sonne und des Mondes. Nach der Singweiße: Jch dank dir, lieber Herre. 1. Jhr grossen Wolken liechter, ihr Augen dieser Welt, des Himmels Angesichter! eur Wachen Wechsel hält. wann eines geht zu bette, so steht das andre auf und tritt an seine stätte, mit ab= und wider-Lauff. 2. Jhr bildet, Mond und Sonne, mir Gottes Güte für: ô Sonne, Tages-wonne! ô Mond, der Nächte Zier! Mich dünkt, ich sehe stehen ob mir die Gottes-Huld, wann ich eüch sih aufgehen, wann ihr die Erd verguldt. 3. Es ist, die Gottes-Gnade, der Erde Sonnen-gold, leucht uns auf unsrem Pfade, ist uns von Herzen hold. Die Morgenröt, uns saget von Gottes Lieb und Treu, die unsrer Seele taget ist alle Morgen neu. 4. Bey Nacht, wie uns anlachet des Mondes Silber-Mund, also die Gottheit wachet, die uns erhält gesund.
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Hier nimmt Birken Bezug auf den bereits in der ersten Auflage von Dilherrs Hertz= und Seelen=Speise (1661) zu findenden Emblemkupferstich, der auch in der zweiten Auflage (Anm. 16) erneut Verwendung fand, jedoch an falscher Stelle plaziert ist (nämlich zu Beginn der Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis).
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Hephata! Der Jsrael behütet, der schläffet nimmer ein: sein’ Obsicht uns begütet, wie Sonn= und Mondes-schein. 5. So will ich dann nit zagen, es sey Tag oder Nacht: von Gottes Güt getragen, von Gottes Hut bewacht. der alles wohl kond machen, wird alles machen wohl. Jhm will ich meine Sachen befehlen, wie ich sol. Periocha. Das Gehör dem Tauben-stummen und die Sprache wiederbracht unser Jesus, dessen Allmacht allzeit alles wohl gemacht.
III. In dieser (hier freilich notwendigerweise nur exemplarisch skizzierten) Auslegungstradition zu Mk 7 als dem euangelium proprium zum zwölften Sonntag nach Trinitatis steht auch Paul Flemings20 Hephata-Gedicht.
20
Zu Paul Fleming vgl. als erste Überblicke über Leben und Werk Volker Meid/ Beate Czapla: Art. Fleming, Paul. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 15), Bd. 2, S. 474–477, sowie Dieter Lohmeier: Art. Paul Fleming. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon 3 (1974), S. 111–113. In bibliographischer Hinsicht bietet eine brauchbare Grundlage: Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1490–1513. Dass im Hinblick auf die personalbibliographische Erfassung des Werkes Flemings noch nicht das letzte Wort gesprochen ist, zeigt Dieter Martin: Fortgesetzte Trauer. Ein unbekannter Druck mit Begräbnisgedichten Paul Flemings. In: Daphnis 35 (2006), S. 695–711. Zu Fleming als geistlichem Dichter vgl. Bo Andersson: Ein titelloses Begräbnis [recte: Begräbnisgedicht] auf Anna Bach. Zu Paul Flemings ›Gedancken über der Zeit‹. In: Text und Kontext 15 (1987), S. 7–42; Konstanze Fliedl: Das Gedicht an sich. Paul Flemings Trostsonett. In: Modern Language Notes 117 (2002), S. 634–649; Hans-Jürgen Gabler: Paul Flemings Ode auf Heinrich Schütz. In: ›Nicht allein mit den Worten‹. Festschrift für Joachim Dyck. Hg. v. Thomas Müller u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 30– 38; Hubert Heinen: Paul Flemings Bußpsalmengedichte und ihre Eigenart als Paraphrasen. In: Opitz und seine Welt. Festschrift für George Schulz-Behrend zum 12. Februar 1988. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam 1990 (Chloe 10), S. 233– 250; Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings ›Grabschrifft‹. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1992, S. 168–175; Joseph Leighton: Paul Fleming’s Sonnet ›Bei einer Leichen‹. In: The Modern Language Review 71 (1976), S. 327–329; Marvin S. Schindler: A Note on Paul Fleming’s ›Grabschrift‹. In: Wege der Worte. Festschrift für Wolfgang Fleischhauer. Anläßlich seines 65. Geburtstags […]. Hg. v. Donald C. Riechel. Köln u. a. 1978, S. 234–236.
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Johann Anselm Steiger
Ach! sprich es auch zu mir/ dein kräfftigs thu dich auff/ Ach! sprich es auch zu mir. Denn mir auch sind verschlossen Ohr/ Augen/ und der Mund. Viel Zeit ist hin verflossen/ daß ich so elend bin. Die Welt hat viel zu kauff’. Ich folge/ was sie räth/ und wird nur ärger drauff. So lebt mein krancker Leib mit seinem Hauß-genossen/ zu allem Wercke laß/ zu allem Thun verdrossen. Auff ein Ding nur behertzt; zu enden seinen Lauff. Ists möglich/ daß mir noch auff dieser bösen Erden O Artzt durch deine Hand soll außgeholffen werden/ So zeuch mich nicht mehr auff. Hilff diesem übel ab. Nim mein beschweren hin/ nach dem mein Geist so wacht. Thust dus/ so soll dein Lob auch ruffen aus mein Grab: Der alles machet wol/ hat mirs auch wol gemacht!21
Flemings Gedicht beginnt mit einer doppelten, jeweils mit »Ach!« anhebenden exklamativen Klage, in der sich das betende Ich an Christus wendet, der in V. 10 (im Anschluss an Mt 9,12) als »Artzt« näherbestimmt wird. Die Dringlichkeit der dem Sohn Gottes vorgetragenen Bitte und das Insistieren des Beters werden vor allem darin sicht- und hörbar, dass nicht nur das »Ach!«, sondern auch der Imperativ in V. 1 »sprich es auch zu mir« im folgenden Vers unverändert wiederholt werden. Gegenstand des Gebetes ist die an Christus gerichtete Bitte, die dem Taubstummen geschenkte leibliche Heilung an ihm, dem Beter, der – obschon er redet – geistlich taub, blind und stumm ist, zu wiederholen, ihm also Ohren, Augen und den Mund zu öffnen. Auf diese Weise rezipiert Fleming die durch Luther vorgegebene und in der lutherisch-barocken Predigtpraxis zu Mk 7 gängige tröstliche applicatio dieser Wunderheilungsgeschichte, der zufolge sich das dem Taubstummen zuteilgewordene Heilungswunder aktuell als wirksam erweist, indem Gott durch das Medium der sein Wort promulgierenden Predigt die Hörenden zu solchen werden lässt, die nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zu hören, zu sehen und zu reden verstehen. Fleming transponiert diesen Sachzusammenhang in die geistlich-lyrische Sprache des Gebetes und lässt das lyrische Ich sogleich zu Beginn des Textes um eben diese applicatio bitten. Wie eng sich Fleming hierbei an die zeitgenössische Predigtpraxis anlehnt, wird sichtbar, wenn man eine Predigt zu Mk 7 des führenden lutherischen Barocktheologen Johann Gerhard (1582–1637) näher betrachtet. Auch Gerhard kommt auf die aktuelle Relevanz des als medicina spiritualis verstandenen verbum Dei zu sprechen, woran deutlich wird, dass Flemings Gedicht hinsichtlich der in ihm virulenten Christus medicus-Topik tief in der zeitgenössischen lutherischen Auslegungstradition verwurzelt ist: Endlich wie Christus durch sein Wort diesem Menschen Zungen vnd Ohren auffthut/ also wil er auch durch sein Wort vns helffen von vnserm geistlichen Jammer/ In verbo Dei est omnis medicina animae nostrae. Menschen Wort seyn vnkrefftige/ machtlose Wort/ wer taub ist/ kan dieselbe nicht hören/ Aber Gottes Wort ist ein mächtiges vnd krefftiges Wort/ das hören nicht allein die jenigen/ welche bekehret/ vnd welcher Hertz Gott allbereit eröffnet hat/ sondern es ist auch ein krefftiges Mittel/ dadurch Gott die Ohren eröffnen/ vnd die geistliche 21
Paul Fleming: Deutsche Gedichte. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1986, S. 109.
Hephata!
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Taubheit wil wegnehmen/ wenn man nur nicht vber die angeborne Taubheit noch weiter die Ohren verstopffet/ vnd mutwillig das Wort von sich stösset. Wie GOtt der HERR anfänglich durchs Wort den Menschen erschaffen/ jhm Leib vnd Seel/ Augen vnd Ohren/ Vernunfft vnd alle Sinne gegeben/ daß er zu einer lebendigen Seel worden/ Genes. 2. Also wil er auch durchs Wort den Menschen zum geistlichen Leben zubereiten/ sein Leib vnd Seel ernewren/ seine Zunge vnd Ohren auffthun/ daß er ein geistlicher Mensch werde. Sihe/ auff solche weise verrichtet Christus noch täglich diß Wunderwerck/ daß er nemlich durch sein Wort vnnd durch seinen Geist die Ohren vnd Zunge der Menschen auffthut/ vnd bringets wieder in den Stand/ darinnen es zuerst gewesen […].22
Die Heilung des Taubstummen, so Gerhard, ist nicht bloß eine singuläre Wundertat des Sohnes Gottes und Konkretion des Anbruchs des Reiches Gottes in der Zeit, die längst vorbei ist, nämlich der Zeit der Wirksamkeit des irdischen Jesus. Vielmehr wird anhand dieser Heilung exemplarisch deutlich, dass Gott um willen der geistlichen Heilung aller sündigen Menschen Mensch geworden ist, Christus mit seiner Tat also anzeigete/ er were darumb erschienen/ daß er die Menschen von jhrer geistlichen Taubheit erlösen/ vnd jhr Mund vnd Hertzen zu wahrem Lob GOttes eröffnen/ sihe/ da lautet es wieder/ wie es im Anfang gelautet [scil. Gen 1,31]/ Er hat alles wol gemacht.23
In dieser Perspektive sind die in den Evangelien aufgezeichneten Wunderheilungsgeschichten keineswegs wie seit dem Aufkommen der die Vernunft zum Maßstab erhebenden aufgeklärten Kritik solche, die allen voran auf ihre Historizität und vernünftige Plausibilität hin zu befragen sind. Vielmehr sind die Wundergeschichten, so Gerhard, im Sinne ihrer geistlichen Applikabilität zu interpretieren. Nur so kann fassbar werden, dass in jeder Heilungsgeschichte eine doppelte promissio steckt, nämlich erstens, dass einem jeden, der glaubt, die leibliche Heilung, von der im Evangelium die Rede ist, bereits im Hier und Jetzt geistlich zuteilwerden kann: Wie nu alle leibliche Wunderwerck/ welche Christus auff Erden verrichtet/ ein Bild sind seiner geistlichen Wolthaten/ Also sollen wir auch diß Wunderwerck ansehen. Denn von Natur seyn wir alle sämptlich für Gott dem HErrn in geistlichen göttlichen Sachen taub vnd stumm/ soll vns geholffen werden/ muß es allein durch Christum geschehen.24
Die zweite promissio, die nach lutherisch-barockem Verständnis in die evangelischen Wunderheilungsgeschichten eingesenkt ist, besteht darin, dass mit der geistlichen Heilung des Glaubenden gleichursprünglich auch die leibliche verbunden ist, die sich freilich erst am Jüngsten Tage vollenden wird. Auffällig ist, dass in Gerhards Predigt über Mk 7 nicht nur vom Wort Gottes als einer geistlichen Medizin die Rede ist, sondern – wie in Flemings Gedicht – auch der dieses medicamentum handhabende Christus explizit als Arzt bezeichnet wird. 22
23 24
Johann Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten Fest=Euangelien/ vber das gantze Jahr […]. 3 Teile und Appendix. Jena 1613 (HAB 419– 420 Theol.), II, S. 220f. Ebd., S. 221. Ebd., S. 214.
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Johann Anselm Steiger
Weil nu an diesem Menschen ein grosses Elend vnd Jammer zu sehen/ sihe/ so wil Christus seine Barmhertzigkeit lassen leuchten/ weil ein armer Patient verhanden/ wil der himlische Artzt jhn auffnehmen/ vnd heilen/ weil der Teuffel diesem armen Menschen seine Ohren verstopffet/ daß er Gottes Wort nicht hören können/ vnd seine Zung gebunden/ daß er Gottes Lob nicht können verkündigen/ Sihe/ so wil Christus/ welcher kommen war/ des Teuffels Werck zu verstören/ oder wie es eigentlich in seiner Sprache lautet/ auffzulösen/ 1. Johan. 3. Derselbe/ sage ich/ wil diesem armen Menschen seine Ohren eröffnen/ daß Gott der HERR mit jhm durch sein Wort reden möge/ Er wil das Band seiner Zungen aufflösen/ daß er mit Gott durchs Gebet vnd Dancksagung reden möge. Vnnd ob wol Christus dieses mit einem Wort hette verrichten können/ weil er derselbe ist/ von welchem Psal. 33. geschrieben stehet: Wenn er spricht/ so geschichts/ Wenn er gebeut/ so stehets da. Jedoch hat es jhm gefallen/ etliche sonderbahre Ceremonien zu gebrauchen.25
Die leibliche Taubheit und Stummheit sind somit Chiffren für die durch die Sünde und den Teufel kausierte Unfähigkeit des Menschen, im Hören auf Gottes Wort und im auf dessen Verkündigung antwortenden Gebet mit Gott zu kommunizieren. Das aber bedeutet, dass die leibliche Heilung des Taubstummen letztlich nichts anderes ist als die den Sinnen epiphan werdende Konkretion der innerlichen Heilung, nämlich der sich sola gratia vollziehenden Sündenvergebung. Gerhard zufolge hat die Wunderheilung gerade nicht ihren vornehmlichen Zweck darin, die Gottheit Jesu unter Beweis zu stellen, sondern darin, dass auf diese Weise die Bedingung der Möglichkeit einer gelingenden Kommunikation zwischen dem Taubstummen und Gott geschaffen wird. Übertragen auf die Ebene der geistlichen applicatio von Mk 7 heißt dies, dass erst die durch die Predigt des Evangeliums und den Glauben neugewordenen Menschen Gott recht zu hören und zu ihm zu beten vermögen, da in medialer Weise von Gott angesprochen zu sein die schlechthinnige Conditio sine qua non für die geistliche, rechte Nutzung der Hörfähigkeit und der Sprachbegabung ist, die, was Gott als Gesprächspartner anlangt, eine responsorische ist. Demnach/ wie dieser eusserliche Jammer dieses Menschens/ daß er taub vnd stum gewesen/ ein Werck des Sathans ist/ also auch diß innerliche vnd geistliche Vbel/ daß der Mensch von Natur in göttlichen Sachen taub vnnd stum ist/ das ist ein Werck des Teuffels/ derselbe hat den ersten Menschen verführet/ vnd in Sünden gestürtzet/ vnd mit jhm das gantze menschliche Geschlecht. HErr thue meine Lippen auff/ spricht David/ Psal. 51. daß mein Mund deinen Ruhm verkündige/ Da hörestu/ wenn wir Gottes Lob verkündigen sollen/ so muß er zuuor vnsern Mund auffthun/ vnd das Band der Zungen weg nehmen. Der HErr that das Hertz auff der Lydiae/ daß sie drauff acht hatte/ was von Paulo geredt wurde/ stehet Actor. 16. Da hörestu/ wenn wir sollen acht haben auff Gottes Wort/ vnd dasselbe mit Nutz hören/ so muß Gott der HErr die Ohren des Hertzens zuuor eröffnen.26
Erst wenn man diesen Sachverhalt beachtet, wird es möglich, der Spannung ansichtig zu werden, die Flemings Gedicht prägt. Sie besteht darin, dass der Beter zwar einerseits im Rahmen eines Sündenbekenntnisses die Unfähigkeit seiner geistlichen Ohren, Augen und des Mundes bekennt, ja beklagt. Zugleich aber ist die Tatsache, dass das sündige Ich mit seinem Gebet bereits drin ist in der Kom25 26
Ebd., S. 212f. Ebd., S. 215.
Hephata!
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munikation mit Gott, Ausweis des Umstandes, dass mit der Wahrnehmung der im Sündenbekenntnis sich konkretisierenden Mündigkeit des Christenmenschen der Heilungsprozess nicht nur begonnen hat, sondern auch bereits Wirkung zeigt. Teil des Sündenbekenntnisses des in Flemings Gedicht sprechenden lyrischen Ich ist der Hinweis darauf, dass es kat¦ s£rka lebt und den Maximen der »Welt« verpflichtet ist (V. 4f.). Die Tragweite dieser Aussage wird ebenfalls erst vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auslegungs- und Predigttradition deutlich, wie ein Blick in Gerhards besagte Predigt zeigt. Den Umstand, dass Jesus den Taubstummen beiseite nimmt, um ihn zu heilen, legt Gerhard dahingehend aus, dass ein Christ gehalten ist, sich von der sündlichen Welt zu distanzieren, woraus – ganz im Sinne der lutherschen Lehre von den zwei Regimenten – keineswegs resultiert, dass man sich grundsätzlich von der Welt abkehren muss, es vielmehr darauf ankommt, zwar in der Welt, aber nicht nach der Weise der Welt, mithin deren sündlichen Maximen befolgend, zu existieren. Denn wie Christus diesen Menschen vom Volck besonders nimpt/ da er jhn wil curiren/ Also auch sollen vnsere Ohren geöffnet werden/ das Wort Gottes mit Frucht zu hören: Soll vnsere Zunge auffgethan werden/ Gottes Lob zu verkündigen/ so müssen wir vom breiten Wege der sündlichen Welt abtreten/ vnd vns nicht mehr durch Sünden der Welt gleich stellen/ Rom. 12. Wer jmmerdar auff dem Wege der Sünden wider das Gewissen wil sicherlich fortgehen/ der mag von diesem geistlichen Jammer nicht erlöset werden. Wache auff der du schleffest/ so wird dich Christus erleuchtigen/ spricht S. Paulus zun Ephesern am 5. Daraus folget/ wer im Schlaff der Sicherheit vnd muthwilliger Sünden jmmerdar wil bleiben/ der mag von der Blindheit seines Hertzens vnd von der geistlichen Taubheit durch Christum nicht erlöset werden. Gehet aus von jhnen/ vnd sondert euch abe/ spricht der HErr/ vnd rühret kein vnreines an/ so wil ich euch annehmen/ vnd ewer Vater seyn/ vnnd jhr solt meine Söhne vnnd Töchter seyn/ spricht der allmechtige HErr Esa. 52. 2. Corinth. 6. Wer demnach nicht wil von der gottlosen Welt ausgehen/ der kan auch von Gott nicht angenommen werden. Solches Außgehen geschicht nun am allerbesten innerlich durch Verenderung des Hertzens/ dz man nemlich das gottlose sündliche Wesen der Welt jhme mißfallen lest/ Man kan wol in der Welt leben/ vnd doch nicht von der Welt seyn. Man kan mitten vnter dem vngeschlachten vnd verkehrtem Geschlecht als ein Liecht scheinen/ Philip. 3. vnd das Liecht des Glaubens herfür leuchten lassen/ daß man die guten Werck sihet/ Matth. 5.27
Bekanntermaßen hat Fleming in Leipzig Medizin studiert28 und dort im Jahre 1633 den Grad eines Magisters erworben. Zudem ist Fleming in Leiden im Januar 1640 zum Doktor der Medizin promoviert worden.29 Vor diesem biographischen Hintergrund verwundert es nicht, dass Fleming als geistlicher Dichter ein überaus vitales Interesse an der Adaptation der facettenreichen Traditionen der theologia medicinalis hatte, die sich bei Luther und im zeitgenössischen Luthertum großer Beliebtheit erfreute. In Flemings geistlichen Gedichten (sowohl in den deutschen als auch in den lateinischen) begegnen Bezugnahmen auf die Christus medicus27 28
29
Ebd., S. 216f. Hinsichtlich der medizinischen Interessenlage Flemings ist sein Buchnachlass aufschlussreich, der u. a. auch die ›Basilica Chymica‹ des Paracelsisten Oswald Crollius aufweist. Vgl. hierzu Kyra Robert: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der Estnischen Akademie der Wissenschaften. In: Daphnis 22 (1993), S. 27–39, hier S. 31f. (sowie Reproduktion d. Titelblattes S. 39). Siehe unten Anm. 36.
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Topik recht häufig, so dass mit Fug und Recht behauptet werden kann, diese erfülle die Funktion eines cantus firmus. Ähnlich wie in der barock-lutherischen Medizintheologie rekurriert auch bei Fleming der prägende Gedanke, dem zufolge im Sohn Gottes medicus und medicina dergestalt koinzidieren, dass der Heiland im Unterschied zu menschlichen Ärzten therapeutisch am sündenkranken Menschen tätig wird, indem er ein remedium zur Anwendung bringt, das nicht ein Drittes ist, sondern er selbst, nämlich sein Blut.30 Dieser Topos ist z. B. präsent in Flemings Gedicht Jesu Christo S. Natalitium – und zwar in der Passage, in der der Dichter Christus unter plerophorer kaum denkbarer Häufung von Namen, die dem Sohn Gottes gebühren, hymnisch preist. Ein Ausschnitt sei zitiert: […] Tu lucifer, ortus, stella, salus, lumen, radius, fons, gemma, columna, fax, pax, rex, dux, lux, lex, spes, res, laus, caro, cor, vir, gaza, gigas, rabbi, judex, sol, sponsus, amator, pastor, ovis, vitulus, gallina, leo, pater, autor, vinea, vitis, oliva, lapis, radix, amor, aura, Emmanuel, mediator, honor, salvator, amicus, protector, custos, vigil, induperator, asylus, anchora, praeceptor, solator, propitiator, angelus arcani pacti librique sigillum, Melchisedech, unctus, levita, propheta, sacerdos, pascha piis, aegris medicus, panacaea fideli, mors mortis primae, vitae spes una secundae, viperii medicina mali stygiique veneni unus alexicacon, verae daps vesca salutis, immarcessibilis decus immortale coronae, mas una sub fronte duplex, homodivus, A atque O […]31
Das in Flemings Sonetten auf das Hephata-Gedicht folgende Poem mit dem Titel Er hat alles wol gemacht ist mit ersterem auf das engste verwoben. Dies wird schon in der Titelformulierung sichtbar, die wie das Ende des Hephata-Gedichtes Mk 7,37 zitiert. Im Zentrum des Gedichtes Er hat alles wol gemacht steht (im Kontrast zur klagenden Bitte des vorangegangenen Gedichtes) das hymnische Lob der Gnade des »Wunder-Artzt[es]«, dessen geistliche Kur, die er allen Sündern mit der remissio peccati angedeihen lässt, die leibliche Heilung des Taubstummen bei weitem übertrifft. Ja mehr als wol gemacht! nicht tauben nur und blinden/ und was ein krancker Leib für Mangel haben kan/ hilfft dieser Wunder-Artzt. Es trifft was höhers an/ 30
31
Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte: Wilhelm Sarcerius, Der Hellische Trawer Geist (1568) – Simon Musäus, Nützlicher Bericht […] wider den Melancholischen Teuffel (1569) – Valerius Herberger, Leichenpredigt auf Flaminius Gasto (1618). Leiden/Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 121), S. 28. Vgl. auch den Beitrag von Stefanie Arend in diesem Band. LG 168. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band.
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als ein natürlichs Weh/ die Glieder zu entbinden/ Ja mehr auch als den Todt. Der Staar der blinden Sünden/ das Band der tauben Lust/ der Hoffart stummer Wahn wird sonst durch keinen nicht/ als diesen/ abgethan.32
Bemerkenswert nun ist, dass der medizinisch versierte Fleming genauso knapp wie trennscharf die Differenz zwischen der von Menschen ausgeübten Heilkunde und der zu ewigem Heil führenden Medizin, über die allein Gott verfügt, namhaft macht, indem er sagt: »Kein Leib-Artzt wird sich so zu heilen unterwinden« (V. 8). Auf diese Weise respektiert und befolgt Fleming die im Rahmen der barocken theologia medicinalis häufig anzutreffende admonitio, der gemäß die medizinische Wissenschaft und Praxis als von Gott gegebene Künste zwar hochzuschätzen sind, zugleich aber nicht überschätzt werden dürfen,33 da nur der Christus medicus über die Arzneien verfügt, die Tod, Sünde und Hölle ein für allemal überwinden. Die Seele die ist kranck. Dem Geiste wird vergeben. Er trinckt den Kelch für uns. Stirbt selbst für unser Leben. Zerbricht der Höllen Burg/ und was den Todt verwacht. Schleust unser Gräber auff/ wird selbst die Himmel-Leiter/ Ja/ selbst der Himmel gar. Rufft läuter/ ruffet weiter: Er/ Er hat alles wol/ und mehr als wol gemacht.34
In diesem Zusammenhang ist auch Flemings Stammbucheintrag für einen (ungenannten) Arzt relevant, in dem freilich Christus als derjenige Arzt, bei dem das remedium gegen den Tod zu finden ist, nicht genannt wird, sondern es nur negativ heißt: »Für alles kan der Arzt, doch Eines fehlt ihm nur:/ daß er für seinen Tod weiß selbsten keine Kur.«35 Klar aber ist: Flemings Gedicht Er hat alles wol gemacht enthält eine implizite Selbstreflexion im Hinblick auf den von ihm erlernten Beruf des Arztes. Umgekehrt aber ist die Klärung hinsichtlich der Begrenztheit der allein auf den Leib des Menschen bezogenen Kompetenzen des leiblichen Arztes die unabdingbare Voraussetzung für Flemings Ausübung des Amtes des geistlichen Dichters. Im Rahmen dieser Tätigkeit nämlich nimmt Fleming teil an der Verabreichung der durch Christus erworbenen geistlichen Medikamente durch das Medium der Predigt – nur mit dem Unterschied, dass Fleming seinem Verkündigungsauftrag nicht in Form des Haltens von Kanzelreden nachkommt, sondern in der literarischen Gattung der geistlichen Lyrik. Dass wir hier Fleming als dichtendem Prediger begegnen, zeigt sich u. a. an der sachlichen Nähe seiner Texte zur zeitgenössischen Predigttradition, die Fleming häufig meisterhaft und kontrakt auf den Punkt bringt. Wer Flemings geistliche Dichtung historisch-theologisch angemessen zu interpretieren bestrebt ist, kommt um die komparatistische Analyse der zeitgenössischen homiletischen und artverwandten Quellen nicht her32 33 34 35
Fleming: Deutsche Gedichte 1986 (Anm. 21), S. 109. Vgl. Steiger: Medizinische Theologie (Anm. 30), S. 55f., 129 u.ö. Fleming: Deutsche Gedichte 1986 (Anm. 21), S. 110. Überschr., 22.
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um. Diese Faktizität gilt es zu beherzigen – nicht nur, wenn man sich vornimmt, Flemings geistliche Gedichte zu interpretieren, sondern auch, wenn man plant, eine dringlich notwendige kritische und kommentierte Neuedition dieser Texte zu veranstalten.
IV. Nach seiner aufgrund einer Disputation über Geschlechtskrankheiten36 vollzogenen Promotion zum Doktor der Medizin in Leiden am 23. Januar 1640 trat Fleming am 7. März 1640 die Rückreise nach Reval an.37 Am 20. März erreichte Fleming die Freie Reichs- und Hansestadt Hamburg, erkrankte am 27. März schwer und bereitete sich im Hause der Familie seiner Braut Anna Niehusen auf den nahenden Tod vor.38 Auch veranlasste Fleming die neuerliche Drucklegung seines erstmals im Jahre 1632 in Leipzig publizierten Klagegedichte[s] Vber das vnschüldigste Leiden vnsers Erlösers vnd Todt JESV CHRJSTJ.39 Den Neudruck, der auf der Rückseite des Titelblattes ein lateinisches Epicedium aus der Feder des seit 1630 an St. Katharinen tätigen Pastors Heinrich Jannich (1595–1655)40 aufweist, besorgte die in Hamburg ansässige Offizin Heinrich Werners.41 Eine gedruckte Leichenpredigt auf Fleming ist dem derzeitigen Kenntnisstand zufolge nicht überliefert. Es erschien allerdings ein von Johann Georg Richter verfasstes Klag= vnd Trost=Gedicht.42 Diesen Gelegenheitsdruck produzierte der Hamburger Drucker Jacob Rebenlein. 36
37 38 39
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41
42
Vgl. hierzu Marian R. Sperberg-McQueen: Paul Fleming’s Inaugural Disputation in Medicine. A ›Lost‹ Work Found. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), S. 6–9, sowie Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1511 (Nr. 73). Vgl. auch den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band. Vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 528. Zu diesen Daten vgl. die in Anm. 42 genannte Gelegenheitsschrift Richters. Paul Fleming: Klagegedichte Vber das vnschüldigste Leiden vnsers Erlösers vnd Todt JESV CHRJSTJ. Leipzig 1632 (HAB 65.6 Poet. [2]). Vgl. Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1501 (Nr. 33.1). Zu einem im selben Jahr erschienenen Wiederabdruck vgl. ebd., Nr. 33.2. Er trägt den varianten Titel: Klagegedichte Vber das vnschüldigste Leiden vnd Todt vnsers Erlösers JESV CHRJSTJ (Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 8° Poet. Germ. II 5254). Vgl. Wilhelm Jensen: Die hamburgische Kirche und ihre Geistlichen seit der Reformation. Hamburg 1958, S. 110. Friedrich Hammer/Herwarth von Schade (Bearb.): Die Hamburger Pastorinnen und Pastoren seit der Reformation, ein Verzeichnis. 2 Teile. Hamburg 1995, S. 83. SANCTIS, Viri admodum Clarißimi ac Excellentißimi Dn. PAULI FLEMINGI, Hartensteinensis Misnici, Phil. & Med. Doctoris, nec non Poetae Coronati Laureati eminentissimi, MANIBUS. Hamburg 1640 (Commerzbibliothek Hamburg Hamburgische Teutsche Leichen-Gedichte I H 297/3 4°, S 281). Vgl. Klaus Garber: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Norbert Honsza u. Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 255–308, hier S. 298–300, sowie Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1501 (Nr. 33.3). Johann Georg Richter: Klag= vnd Trost=Gedicht Zu letztem Ehrn=Gedechtnis in dieser Welt Dem Weiland/ Wol=Ehrenvesten/ Vor=Achtbaren/ vnd Hochgelahrten/ Herren PAULO FLEMMINGO Med. D. vnd Poët. L. C. Welcher im Jahr nach vnsers Erlösers heilwertigen
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Im Jahre 1682 wurde in der Druckerei des Akademischen Gymnasiums zu Hamburg ein Wiederabdruck von Flemings Passionsgedicht produziert.43 Den Text hatte Rudolph Capelli, Professor für Beredsamkeit am Akademischen Gymnasium, zum Teil tiefgreifend umgearbeitet.44 Das Titelblatt dieses abermaligen Abdrucks unterrichtet uns darüber, dass Fleming dieses Gedicht »bey seiner Beerdigung […] außzutheilen befohlen« habe. Nicht von ungefähr nimmt der Arzt Fleming – auch hierin einen festgeprägten Topos lutherisch-barocker Theologie verarbeitend45 – in seinem sehr umfangrei-
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Geburt/ Anno 1609. den 12. Octobr. zu Hartten=Stein in Meissen gelegen/ in diese Welt gebohren/ vnd nach vieljährigen beschwer= vnd gefährlichen Reisen von hier in Holland nach Leyden sich begeben/ ist er den 7. Martii dieses jetztlauffenden 1640. Jahres wieder von dannen/ den 20. ejusd. hier in Hamburg angelanget/ sich wegen außgestandener Kälte/ jetziger ZeitJahrs vngestümmen Wetters vnd anderer discommoditeten halber beklagend/ den 27. kranck vnd Bettlagerig worden/ vnd nach dem die Schwachheit vberhand genommen/ den 2. Aprilis am Grünen Donnerstage 4. Vhr vor Mittag in festem Glauben an Jesum Christum vnd hertzlicher Anruffung zu Gott sanfft vnd seeliglich entschlaffen. Dessen seelig verblichener Cörper den 6. ejusd. am H. Ostermontag in S. Cathrinen Kirche/ mit hochansehnlichem Comitat, vnd allen Christ=üblichen Ceremonien beygelegt worden. Auß schüldiger Condolentz verfertiget Durch Johannem Georgium Richterum Pirnâ-Misnic. Artis Machaoniae Cultorem. Hamburg 1640 (Commerzbibliothek Hamburg Hamburgische Teutsche Leichen-Gedichte II H 297/3 4°, S 281). Vgl. Garber (Anm. 41), S. 300f. Paul Flemming eines gebohrnen Meisners/ der Philosophi und Medicin Doctoris, Des berühmten Teutschen Poëten, Jn der/ von der Christlichen Kirche wiederholeten Leidenszeit Christi/ vorgestelletes Thun und Leiden des Heylandes und Erlösers des Menschlichen Geschlechtes/ in nachdenckliche langere Reime beschlossen. Welche Er nach vielen in seiner Jugend volbrachten schwehren Reisen, in Asiâ und Europâ, auff seinem Kranken- und Todt=Bette/ in der Marterwoche/ verfertiget/ seiner Verlobeten Braut eingehändiget/ bey seiner Beerdigung/ (welche am Ostermontage geschehen ist) außzutheilen befohlen/ und solches auch seinem Beichtvater angezeiget hat. Anjetzo geendert/ gebessert/ und in 444. Reimsatzen außgefertiget: männiglich dadurch zur Andacht auffzumunteren […]. Hamburg 1682 (HAB 249.1 Theol. 2° [2]). Vgl. Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1502 (Nr. 33.4). Vgl. Garber (Anm. 41), S. 301–304 sowie Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1502 (Nr. 33.4). Vgl. ähnlich Christophorus Gaudichius: Grundfest der Seelen Seligkeit/ Das ist: Gründliche Erklerung des 53. Capitels Esaiae/ darinnen der Grund vnd Fundament vnser Seligkeit angezeiget wird/ welcher ist Christus Jesus/ das vnschuldige Lämblein […]. Leipzig 1625 (HAB Th 883), S. 125. Hier findet sich der Topos von der Heilung der Sündenwunden der Menschen durch die Wunden Christi, wobei Gaudichius recht intensiv auf Bernhard von Clairvaux zurückgreift und mitunter folgende Passage zitiert: »Omnia quae de Christo Servatore legimus, medicamina sunt animarum nostrarum.« Der Beleg findet sich bei Bernhard von Clairvaux: Opera. 8 Bde. Hg. v. Jean Leclercq, Charles H. Talbot u. Henry M. Rochais (Bde. 1–2); hg. v. Jean Leclercq u. Henry M. Rochais (Bde. 3–8). Rom 1957–1977, hier Bd. 5, S. 110,4f. Vgl. ferner Johann Conrad Dannhauer: CATECHJSMVS MJLCH Oder der Erklärung deß Christlichen Catechismi Erster [– Zehender und letzter] Theil, hier Teil VIII. Straßburg 1666 (HAB Th 511), S. 11. Christi Wunden sind die einzigen Wunden, die als geistliche Wundarznei fungieren können, da Gott selbst an ihnen gelitten hat, wie Dannhauer im Anschluss an Röm 5,12 und unter Zitation eines Teils der zweiten Strophe von Lazarus Spenglers Choral ›Durch Adams Fall ist ganz verderbt‹ ausführt: »wie uns ein frembde Schuld in Adam all verhönet/ also auch ein frembde Huld in Christo all versöhnet; Daß Christi Wunden unserige Wunden heilen und uns zur Gesundheit verhelffen«. Insofern ist die Seitenwunde Christi nicht eine solche, die nach Heilung verlangt, sondern paradoxerweise selbst das Heilmittel, womit Dannhauer an die schon altkirchliche sakramentstheologische Interpretation von Joh 19,34 anknüpft. Die Seitenwunde
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chen Passionsgedicht mehrfach den Arzt Christus in den Blick und thematisiert die dem leidenden Gottessohn durch die Sündenwunden der Menschen geschlagenen Wunden, die allein das gewissermaßen homöopathische Mittel zur Heilung der ersteren sein können:46 O Qual/ O höchste Qual! O Marter aller Plagen/ Die Du/ O Bruder/ must für vns jetzunder tragen! Du bist Emanuel, von vnsern Wunden wund/ Durch welche Wunden du die vnsern machst gesund.47
Unter Bezugnahme auf Jes 53,4 (»Fvrwar er trug vnser kranckheit/ vnd lud auff sich vnser Schmertzen«) spinnt Fleming die paradox-christologische Rede von Christus als dem wunden Wundarzt fort, indem er sie im Oxymoron des kranken Arztes Christus zuspitzt, der nur darum zu heilen fähig ist, weil er es vermag, die Krankheit aller auf sich zu nehmen: »Hier krancket vnser Artz/ durch den wir Heil erlangen«.48 Im weiteren Verlaufe des Gedichtes greift Fleming zudem den seit der christlichen Antike geläufigen49 und im barocken Luthertum häufig begegnenden50 Pelikan-Topos auf, dem zufolge dieses Tier sich selbst um willen seiner getöteten Jungen die Seite öffnet und den Nachwuchs durch sein Blut zu neuem Leben erweckt. Diese Traditionslinie verknüpft Fleming mit der in Joh 3,14f. typologisch im Hinblick auf Christus fruchtbar gemachten Erzählung von der in der Wüste durch Mose erhöhten ehernen Schlange, in der die von Schlangenbissen heimgesuchten Israeliten Heilung fanden, so sie diese anblickten (Num 21,8f.).
46 47 48 49
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ist »Vulnus medicinale, es ist ein heilsame Wunder=Wund […] eine Heyl=Wunde Esa. 53/6.« (ebd., S. 9). Vgl. Steiger: Medizinische Theologie (Anm. 30), S. 79. Fleming: Sanctis (Anm. 41), fol. B 1v. Ebd., fol. B 2v. Vgl. Physiologus latinus. Éditions préliminaires versio B. Hg. v. Francis J. Carmody. Paris 1939, cap. 6, S. 17: »Physiologus dicit de pelicano quoniam amator est filiorum nimis; cum autem genuerit natos et coeperint crescere, percutiunt parentes suos in faciem; parentes autem eorum repercutiunt eos et occidunt. Tertia uero die mater eorum percutiens costam suam aperit latus suum, et incumbit super pullos, et effundit sanguinem suum super corpora filiorum mortuorum; et sic sanguine suo suscitat eos a mortuis.« Vgl. Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten. Kritisch hg. und komm. v. Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Doctrina et Pietas I, 6), S. 330f.: »Wir alle sämptlich sind numehr nach dem Fall für Gott dem HERRN eitel Mörder/ als die wir von dem ersten Ertzmörder dem Adam herkommen/ darumb sind wir für Gott verworffene verdorrete Todenköpffe/ aber da kompt Christus zu vns/ stellet sein Creutz auff/ vnd lesset am Creutz sein heiliges Blut auff vns herab röhren/ auff daß die verdorreten Todenköpffe wiederumb lebendig gemacht würden/ wie dann daher die Väter den HErrn Christum dem Vogel Pelican vergleichen/ welcher mit Besprengung seines Bluts seine ertödtete Jungen sol wiederumb lebendig machen.« Vgl. weiter Hermann Heinrich Frey: Therobiblia. Biblisch Thier-, Vogel- und Fischbuch (Leipzig 1595). Hg. v. Heimo Reinitzer. Graz 1978 (Naturalis historia bibliae 1), hier Vogelbuch, fol. 144. Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne. Stuttgart 1987 (11967), Sp. 811–813 sowie Lexikon der christlichen Ikonographie 3 (1971), Sp. 390–392.
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Hephata! O wahrer Pelican/ der seine todten Jungen Durch sein selbst Blut belebt. vns ists durch dich gelungen/ Du Ehrne Schlange du/ du edle Medicin/ Die Leviathans Gifft vnd Bisse nimmet hin.51
Weswegen Fleming ausgerechnet sein ausführliches Passionsgedicht auserkor, um es den ihn Betrauernden im Neudruck an die Hand geben zu lassen? Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Flemings letzte Leidensphase in die Passionszeit fiel. Es dürfte jedoch nicht völlig abwegig sein, anzunehmen, dass Fleming, der auf den Tod erkrankte Arzt, selbst Trost suchte bei dem von ihm in seinem Passionsgedicht besungenen Christus, als dem Arzt, der durch sein Sterben den Tod in Leben und die Krankheit zur ewigen Gesundheit verwandelt hat, indem er jegliche Krankheit auf sich nahm. Diese Sehnsucht des kranken Arztes nach dem Christus medicus regiert im übrigen auch das Gedicht, das Fleming an den Anfang seiner Sammlung von Sonetten gestellt hat. Hier heißt es im Anschluss an Hld 2,5 und 5,8: »Artzt/ Jch bin kranck nach dir.«52
V. Fleming verstarb am 2. April, dem Gründonnerstag des Jahres 1640 »nach 14tägiger Krankheit« im Alter von 30 Jahren und wurde am 6. April in der Kirche St. Katharinen (wohl im Erbbegräbnis der Familie seiner Braut »unter dem Gestühl des südlichen […] Chorseitenschiffes«53 in Hamburg beigesetzt. Nichts deutet darauf hin, dass der memoria des Verstorbenen ein Epitaph gewidmet worden wäre. Am 28. März hatte Fleming sich selbst eine Grabschrifft54 verfasst und setzte sich mit diesem Text, der erstmals in den von Adam Olearius (1599–1671) herausgegebenen Teütschen Poemata55 zum Abdruck kam, ein Denkmal. Im stärker kaum denkbaren Kontrast zu seinem Passionsgedicht stehend, verzichtet Flemings Grabschrift auf jegliches christlich motiviertes consolatio-Argument und inszeniert das »Sterben als heroische[n] Akt«.56 Herrn Pauli FlemingI der Med. Doct. Grabschrifft/ so er ihm selbst gemacht in Ham= burg/ den xxiix. Tag des Mertzens m.dc.xl. auff seinem Todtbette drey Tage vor seinem seel: Absterben.
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Fleming: Sanctis (Anm. 41), fol. B 3r. TP 546. Entner (Anm. 37), S. 529. Vgl. hierzu Kühlmann: Sterben (Anm. 20), Schindler (Anm. 20) sowie Jochen Schmidt: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische Grabschrift ›auf sich selbst‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 123 (2004), S. 161–182. TP (Ausg. 1646) 670. Fleming: Deutsche Gedichte 1986 (Anm. 21), S. 460. Kühlmann: Sterben (Anm. 20), S. 168.
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JCh war an Kunst/ und Gut/ und Stande groß und reich. Deß Glückes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren. Frey/ Meine. Kunte mich aus meinen Mitteln nehren. Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann sang mir gleich. Von reisen hochgepreist/ für keiner Mühe bleich. Jung/ wachsam/ unbesorgt. Man wird mich nennen hören. Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören. Diß/ Deütsche Klarien/ diß gantze danck’ ich Euch. Verzeiht mir/ bin ichs werth/ Gott/ Vater/ Liebste/ Freunde. Jch sag’ Euch gute Nacht/ und trette willig ab. Sonst alles ist gethan/ biß an das schwartze Grab. Was frey dem Todt steht/ das thu er seinem Feinde. Was bin ich viel besorgt/ den Othem auffzugeben? An mir ist minder nichts/ das lebet/ als mein Leben.
Heute befindet sich in der St. Katharinen-Kirche in Hamburg an der Stelle des Begräbnisses Flemings eine 1959 geschaffene bronzene Gedenktafel (Abb. 1). Im Evangelischen Gesangbuch ist Fleming mit einem einzigen Lied vertreten, nämlich mit In allen meinen Taten laß ich den Höchsten raten (Nr. 368). Die (von dem Hamburger Hauptpastor Johann Balthasar Schupp (1610–1661) erstmals im Jahre 1655 veröffentlichte57) Urfassung des Liedes umfasst 15 Strophen (im Evangelischen Gesangbuch sind nur sechs abgedruckt). Es handelt sich um ein Reiselied, das doppelbödig insofern ist, als es nicht nur verstanden werden will als Konkretion der praxis pietatis eines Reisenden, der sich hienieden auf einer Reise von A nach B befindet. Vielmehr nimmt das Gedicht das Leben eines Christenmenschen, der ein viator ist (Hebr 13,14), insgesamt in den Blick und analogisiert es mit einer Reise. In der ursprünglich 13. Strophe des Reiseliedes (nicht im Evangelischen Gesangbuch) blickt das lyrische Ich auf die Rückkehr in die (ewige) Heimat voraus: Gefällt es seiner Güte und sagt mir mein Gemühte nicht was vergeblichs zu/ So werd’ ich Gott noch preisen mit manchen schönen Weisen/ daheim in meiner Ruh.58
Dass Fleming in der ewigen Heimat noch manches zu singen und zu dichten hat, liegt (nicht nur barockem Musik- und Dichtungsverständnis zufolge) auf der Hand. Solange wir auf Erden wallen, d. h. bevor wir integriert werden in die himmlische schola musico-poetica, ist es uns als Theologen und Philologen aufgegeben, für eine ebenso historisch wie theologisch angemessene Entzifferung des literarischen Erbes Flemings zu sorgen, das zu den prominentesten Kulturwirkungen reformatorischer Mentalität im Zeitalter des Barock zählt. Was Fleming (und nicht nur ihn) betrifft, mag manches verschüttet, nicht weniges an Quellen durch die im letzten Jahrhundert durch nationalsozialistisch-deutsche 57 58
Vgl. Dünnhaupt (Anm. 20), S. 1512 (Nr. 74). Fleming: Deutsche Gedichte 1986 (Anm. 21), S. 56.
Hephata!
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Irrtümer kausierte Kulturbarbarei unwiederbringlich verloren sein. Und doch: Es gibt Dinge, die vergessen sich nicht. Das gilt für Paul Fleming. Und das gilt für St. Katharinen in Hamburg, in der er begraben liegt – einen Bau, der die Menschen daran erinnert, dass auch in einer Stadt, in der man (selbst noch nach den verheerenden Bombennächten des Zweiten Weltkrieges) mit der Spitzhacke allzu oft zu rasch bei der Hand war, unbequemer- und zugleich auch glücklicherweise genötigt ist, sich seiner Herkunft zu erinnern, um eine Zukunft zu haben, die um ihre wahre Basis weiß.
Abb. 1: Gedenk-Plakette für Paul Fleming an der Hamburger St.-Katharinen-Kirche (1959)
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Textanhang Johann Gerhard: Postilla (1613),59 Teil 2, Predigt auf den zwölften Sonntag nach Trinitatis
Euangelium am zwölfften Sontage nach Trinitatis/ Marci 7.
VNnd da der HErr Jesus wieder ausgieng von den Grentzen Tyri vnnd Sidon/ kam er an das Galileische Meer/ mitten vnter die Grentze der zehen Stedte. Vnd sie brachten zu jhm einen Tauben der stum war/ vnd sie baten jn/ daß er die Hand auff jhn legete: Vnd er nam jhn von dem Volck besonders/ vnnd leget jhm die Finger in die Ohren vnd sprützet/ vnd rühret seine Zungen/ vnnd sahe auff gen Himmel/ seufftzet vnd sprach zu jhm: Hephata/ das ist/ thue dich auff. Vnd alsbald thaten sich die Ohren auff/ vnd das Band seiner Zungen ward los/ vnd redet recht. Vnd er verbot jhnen/ sie soltens niemand | sagen. Je mehr er aber verbot/ je mehr sie es ausbreiteten/ vnd wunderten sich vber die maß/ vnnd sprachen: Er hat alles wol gemacht/ die Tauben machet er hörend/ vnnd die Sprachlosen redend.
Erklärung.
W
Jr lesen Num. 22. Da Bileam wider GOttes Befehl zu dem König Balak ziehen wolte/ das Volck Jsrael zu verfluchen/ daß Gott der HErr den Mund der Eselin/ auff welcher Bileam geritten/ auffgethan60/ vnd hat also das stumme lastbare Thier geredet mit Menschen Stimme/ vnnd des Propheten Thorheit gewehret/ wie Petrus spricht 2. Epist. am 2. Solches ist geschehen vmb die Gegend der Stadt Arbela, welche gewesen ist vnter den zehen Stedten/ wie es etliche dafür halten. Dieses ist gewißlich ein grosses Wunderwerck61 gewesen der göttlichen Allmacht/ aber nicht geringer ist dieses/ dauon im Evangelio wird vermeldet62/ welches gleichfals mitten vnter den Grentzen der zehen Stedte geschehen/ daß nemlich Christus einem stummen Menschen/ welcher ohne zweiffel also gebohren gewesen/ seinen Mund eröffnet/ daß er recht geredet. Denn weil dieser armer Mensch zu gleich taub vnd stum gewesen/ vnnd dahero seines Hertzens Gedancken nicht können andern offenbaren/ oder 59
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Siehe oben Anm. 20. Die Darbietung des Textes folgt den für die Edition von Texten Gerhards gültigen Editionsprinzipien. Vgl. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7). Lat.dt. Hg. u. komm. v. Johann Anselm Steiger. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Doctrina et Pietas I,3), S. 627–630. Marginal: 1. Miraculosa asinae locutio. Marginal: 2. Ejusdem ad hoc miraculum applicatio. Marginal: Hoc est illo majus.
Hephata!
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anderer | Sinn vnd Meynung vernehmen/ so ist er ja einem vnvernünfftigen Thier nicht sehr vnehnlich. Dort geschicht nur ein Wunderwerck63/ daß nemlich das stumme Thier mit Menschenstimme redet/ aber allhie geschehen zugleich viel Wunderwerck/ dem gebornen Stummen wird das Band der Zungen gelöset/ dem Tauben wird das Gehör gegeben/ vnd weil er vorher nie gehört/ wie man diß oder jenes pflege außzusprechen/ gleichwol aber auff das Wunderwerck Christi recht redet/ als kömpt darzu das dritte Wunderwerck/ daß er mit den Leuten reden können in einer solchen Sprache/ die er niemals gelernet hatte/ vnd die jhm doch auch nicht angebohren war/ denn auch die Muttersprache wird nicht angebohren/ sondern man lernet sie/ wie man andere höret reden. Dort redet die Eselin nur einmal/ aber dieser gebohrne Stumme hat hernachmals die gantze Zeit des Lebens recht geredet.64 Dort redet das stumme Thier Wort/ welche es selber nicht verstanden65/ aber allhier dieser gebohrne Stumme redet verstendige Wort/ kan auch anderer verstendliche Reden vernehmen/ vnd preiset Gott wegen solcher Wolthat. Weil nu diß Wunderwerck Christi so groß ist/ vnd bey demselben viel Lehren vns vorgehalten werden/ als wollen wir dasselbe in zweyen Stücken66 erkleren/ Vnd erstlich anhören
Vom Wunderwerck an jhme selber/ wie es Christus verrichte.67 Denn auch was darauff erfolget.68 | ANfänglich meldet der Euangelist/ an welchem Ort diss Wunderwerck geschehen.69 Es hatte Christus jhme eine Reise in die heidnische Grentzen vorgenommen/ auch daselbsten zu lehren vnd zu predigen/ Damit er angedeutet/ es sey numehr die Zeit vorhanden/ daß der Zaun zwischen Jüden vnnd Heyden soll abgebrochen/ Ephes. 2. vnd sein Euangelium in aller Welt beydes Jüden vnd Heyden geprediget werden/ Marc. 16. Da er nun wieder außgieng aus den Grentzen Tyri vnd Sidon/ kam er an das Galileische Meer/ mitten vnter die Grentze der zehen Städte/ welches Land daher Decapolis vnnd vorzeiten Gilead genennet worden/ daselbst brachten sie zu jhm einen Tauben/ der stum war/ vnnd baten jhn/ daß er die Hände auff jhn legte/ das ist/ er solte jhn gesund machen/ jhm sein Gehöre vnd Rede geben/ denn sie wusten/ daß Christus solche Ceremoni in seinen Wunderwercken zu gebrauchen pflegte. Weil nu an diesem Menschen ein grosses Elend vnd Jammer zu sehen70/ sihe/ so wil Christus seine Barmhertzigkeit lassen leuchten/ weil ein armer Patient verhanden/ wil der himlische Artzt jhn auffnehmen/ vnd heilen/ weil der Teuffel diesem armen Menschen seine Ohren verstopffet/ daß er Gottes Wort nicht hören können/ vnd seine Zung gebunden/ daß er Gottes Lob nicht können verkündigen/ Sihe/ so wil Christus/ welcher kommen war/ des Teuffels Werck zu verstören/ oder wie es eigentlich in seiner Sprache lautet/ auffzulösen/ 1. Johan. 3. Derselbe/ sage ich/ wil diesem armen Menschen seine Ohren eröffnen/ daß 63 64 65 66 67 68 69 70
Marginal: 1. Multiplicatione. Marginal: 2. Duratione. Marginal: 3. Cognitione. Marginal: Partes sunt duae: Marginal: 1. Miraculi circumstantiae. Marginal: 2. Ejusdem consequentia. Marginal: 1. Locus. Marginal: 2. Modus.
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Gott | der HERR mit jhm durch sein Wort reden möge/ Er wil das Band seiner Zungen aufflösen/ daß er mit Gott durchs Gebet vnd Dancksagung reden möge. Vnnd ob wol Christus dieses mit einem Wort hette verrichten können/ weil er derselbe ist/ von welchem Psal. 33. geschrieben stehet: Wenn er spricht/ so geschichts/ Wenn er gebeut/ so stehets da. Jedoch hat es jhm gefallen/ etliche sonderbahre Ceremonien zu gebrauchen.71 Denn er nimpt den armen Menschen vom Volck besonders72/ Er hatte ein ernstlich Gescheffte vor/ darumb wolte er in demselben von männiglich vngehindert seyn. Darnach leget er jhm die Finger in die Ohren73/ weil sein angenommenes Fleisch ein lebendig machend Fleisch ist/ vnd ein seliges Werckzeug/ durch welches er seine Wunder verrichtet. Fürs dritte sprützet er aus/ vnnd rühret seine Zunge mit dem Speichel74/ wie er auch Johan. 9. auff die Erden sprützet/ vnnd einen Koth aus dem Speichel machet/ vnd des Blinden Augen damit schmieret. Vors vierdte sihet er auff gen Himmel75/ wie er auch Johan. 11. seine Augen empor hebet/ vnnd seinem himlischen Vater dancket/ denn alle Hülffe vnd alle gute Gaben kommen von oben herab/ Jac. 1. Fürs fünffte seufftzet er/ weil er nicht ohne hertzliches Mitleiden köndte anschawen/ wie der Teuffel diesen Menschen/ die edle Creatur Gottes so jämmerlich zugerichtet hatte. |
Endlich spricht er ein allmächtiges wort76/ Ephata/ das ist/ Thue dich auff/ denn er kan nicht allein den vernünfftigen Creaturen/ sondern auch den vnuernünfftigen/ als Wind/ Meer/ Hagel/ etc. vnd also auch den Gliedern des menschlichen Leibes gebieten/ durch solch krefftiges Wort wird diesem armen Menschen beydes Zungen vnd Ohren geöffnet. Wie nu alle leibliche Wunderwerck/ welche Christus auff Erden verrichtet/ ein Bild sind seiner geistlichen Wolthaten/ Also sollen wir auch diß Wunderwerck ansehen.77 Denn von Natur seyn wir alle sämptlich für Gott dem HErrn in geistlichen göttlichen Sachen taub vnd stumm/ soll vns geholffen werden/ muß es allein durch Christum geschehen.78 Es hatte zwar Gott der HErr den ersten Menschen in vollkommener Gerechtigkeit vnd Heiligkeit erschaffen79/ daß er recht reden vnd wol hören kondte/ Gott der HErr redete mit jhm/ wie ein Mann mit seinem Freunde redete/ alle Creaturen predigten jhm von Gottes Liebe/ von Gottes Weißheit/ von Gottes Gütigkeit/ er lobete Gott mit frewdigem Hertzen/ alles was in jhm war/ das war zum Preiß Gottes willig vnnd lustig/ daß also eine liebliche Gemeinschafft war zwischen Gott vnd dem Menschen/ Gott vnd seine heiligen Engel redten mit dem Menschen freundlich/ der Mensch redet mit Gott vnd den Engeln vertrawlich/ were nun der Mensch in solchem seligen Stande blieben/ so were solches auch auff die Nachkommen fortgepflantzet/ daß sie alle sämptlich Gott zu hören willig/ vnd jhn zu loben frewdig gewesen weren/ aber weil der | Mensch sich von Gott abgewendet/ des 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Marginal: qui fit. Marginal: 1. Separando. Marginal: 2. Tangendo. Marginal: 3. Exspuendo. Marginal: 4. Suspiciendo. Marginal: 6. Dicendo. Marginal: Notanda hic allegorica miraculi explicatio. Marginal: I. Monstratur in surdo & muto. Marginal: 1. Humani generis depravatio. Quae
Hephata!
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Teuffels wort gehöret/ vnd demselben gefolget/ daher ists kommen/ daß nunmehr alle seine Nachkommen von Natur inn göttlichen Sachen taub vnd stum seyn.80 Solcher Jammer des gantzen menschlichen Geschlechts ist vns an diesem armen Menschen vorgebildet/ denselben hatte der Teuffel also jämmerlich zugerichtet/ daß er beydes taub vnd stum war/ gleich wie er Matth. 12. einen Besessenen blind vnd stum gemacht/ vnd wie Christus Luc. 13. von dem Weiblein/ welches krum war/ vnd nicht wol auffsehen kondte/ zeuget/ daß sie vom Teuffel also gebunden gewesen. Demnach/ wie dieser eusserliche Jammer dieses Menschens/ daß er taub vnd stum gewesen/ ein Werck des Sathans ist/ also auch diß innerliche vnd geistliche Vbel/ daß der Mensch von Natur in göttlichen Sachen taub vnnd stum ist/ das ist ein Werck des Teuffels/ derselbe hat den ersten Menschen verführet/ vnd in Sünden gestürtzet/ vnd mit jhm das gantze menschliche Geschlecht. HErr thue meine Lippen auff/ spricht David/ Psal. 51. daß mein Mund deinen Ruhm verkündige/ Da hörestu/ wenn wir Gottes Lob verkündigen sollen/ so muß er zuuor vnsern Mund auffthun/ vnd das Band der Zungen weg nehmen. Der HErr that das Hertz auff der Lydiae/ daß sie drauff acht hatte/ was von Paulo geredt wurde/ stehet Actor. 16. Da hörestu/ wenn wir sollen acht haben auff Gottes Wort/ vnd dasselbe mit Nutz hören/ so muß Gott der HErr die Ohren des Hertzens zuuor eröffnen. Ja es ist der Teuffel bey vielen so mächtig/ daß | sie vber diese angeborne Taubheit vnd Verstopffung der Zunge/ noch darüber selber muthwillig jhres Hertzens Ohren verstopffen81/ daß sie nicht hören wollen/ daß sie sind wie eine taube Natter/ die jhr Ohr zustopffet/ daß sie nicht höre die Stimme des Beschwerers/ der wol beschweren kan/ Psal. 58. sie seyn nicht allein vnbeschnitten an Hertzen vnd Ohren/ sondern widerstreben auch dem heiligen Geiste/ wie Stephanus den Jüden vorwirfft Act. 7. Sie wollen nicht allein Gottes Wort nicht hören/ sondern stossen es auch von sich/ vnd verlestern dasselbe/ Actor. 13. Solches alles sind Wercke des Teuffels/ welcher also mächtig ist in den Kindern82 des Vnglaubens/ Soll dem Menschen von solchem Jammer geholffen werden/ muß es durch Christum geschehen/ vnd wie solches geschehe/ ist in dieser Historien fein abgebildet. Denn wie Christus diesen Menschen vom Volck besonders nimpt83/ da er jhn wil curiren/ Also auch sollen vnsere Ohren geöffnet werden/ das Wort Gottes mit Frucht zu hören: Soll vnsere Zunge auffgethan werden/ Gottes Lob zu verkündigen/ so müssen wir vom breiten Wege der sündlichen Welt abtreten/ vnd vns nicht mehr durch Sünden der Welt gleich stellen/ Rom. 12. Wer jmmerdar auff dem Wege der Sünden wider das Gewissen wil sicherlich fortgehen/ der mag von diesem geistlichen Jammer nicht erlöset werden. Wache auff der du schleffest/ so wird dich Christus erleuchtigen/ spricht S. Paulus zun Ephesern am 5. Daraus folget/ wer im Schlaff der Sicherheit vnd muthwilliger Sünden jmmerdar wil | bleiben/ der mag von der Blindheit seines Hertzens vnd von der geistlichen Taubheit durch Christum nicht erlöset werden. Gehet aus von jhnen/ vnd sondert euch abe/ spricht der HErr/ vnd rühret kein vnreines an/ so wil ich euch annehmen/ vnd ewer Vater seyn/ vnnd jhr solt meine Söhne vnnd Töchter seyn/ spricht der allmechtige HErr Esa. 52. 2. Corinth. 6. Wer demnach nicht wil von der gottlosen Welt ausgehen/ der kan auch von 80 81 82 83
Marginal: Partim haereditaria. Marginal: Partim voluntaria. Kindern] Emendiert aus: Kndern. Marginal: II. In Christo monstratur. Divina ejusdem humani generis sanatio. Sanat enim illud Christus. 1. à via mundi abducendo.
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Johann Anselm Steiger
Gott nicht angenommen werden. Solches Außgehen geschicht nun am allerbesten innerlich durch Verenderung des Hertzens/ dz man nemlich das gottlose sündliche Wesen der Welt jhme mißfallen lest/ Man kan wol in der Welt leben/ vnd doch nicht von der Welt seyn. Man kan mitten vnter dem vngeschlachten vnd verkehrtem Geschlecht als ein Liecht scheinen/ Philip. 3. vnd das Liecht des Glaubens herfür leuchten lassen/ daß man die guten Werck sihet/ Matth. 5. Darnach wie Christus seinen Finger in dieses gebornen Stummen vnd Tauben Ohren leget84/ Also/ soll vns von vnserer angebornen geistlichen Taubheit vnnd Verstopffung der Zungen geholffen werden/ so muß solches geschehen durch Krafft des heiligen Geistes/ welcher Luc. am 11. Gottes Finger genennet wird. Niemand kan Christum einen HErrn heissen/ spricht S. Paul 1. Cor. 12. ohn durch den heiligen Geist. Da hören wir/ daß so man Christum von grund des Hertzens für einen HErrn vnnd Seligmacher soll bekennen/ so muß der heilige Geist zuuor den Mund öffnen. So wenig als dieser Mensche | darzu helffen kondte/ daß jhm durch Christi Finger die Ohren auffgethan werden/ Also wenig können wir aus natürlichen Krefften dem heiligen Geist in vnsers Hertzens Eröffnung helffen/ nur allein sollen wir zusehen/ daß wir jhm sein Werck lassen/ vnd diesen Finger Gottes nicht wegstossen/ das ist/ wir sollen dem Geist Gottes nicht widerstreben. Vors dritte/ gleich wie Christus aussprützet85/ vnd dem armen Menschen seine Zunge rühret mit dem Speichel/ Also müssen von Christo als dem Häupt der Christlichen Kirchen/ Ephes. 1. alle gute Gaben entspringen/ vnd auff vns kommen. Gleich wie sonsten der Speichel vom Häupt herab in den Mund fleust/ vnd die Zunge zur Sprache genge vnd bequem machet. Die Krafft zu hören vnd zu reden/ vnd zu bewegen im Menschen/ wird vom Häupt den Ohren/ Augen/ vnd andern Gliedern mitgetheilet: Also von Christo muß es alles auff vns kommen/ sollen wir mit Nutz Gottes Wort hören/ sollen wir GOtt ein angenehmes Lob verkündigen/ vnnd vnsere Glieder zu Waffen der Gerechtigkeit dargeben/ Rom. 6. Von Christi Fülle müssen wir alles nehmen/ Johan. am 1. Gleich wie der köstliche Balsam vom Häupt Aaron herab fleusst in sein gantzes Kleid/ Psal. 133. Also müssen alle Gaben des Geistes von dem einigen Häupt der Kirchen/ von dem einigen Hohenpriester des newen Testaments von Christo/ auff vns seine wahre Glieder kommen/ sollen wir anders einen süssen Geruch/ ein angenehm Opffer/ Gott gefellig durch | wolthun leisten/ Phil. 4. Wie der Thaw vom Berge Hermon herab felt auff die Berge Zion/ Psal. 133. Also mus der liebliche Thaw göttlicher Gnaden von Christo auff vns kommen/ sonst seyn wir vnfruchtbare Gebirge/ bleiben taub vnd verstummet zu GOttes Lob ewiglich. Vors vierdte/ als Christus diesem Menschen helffen wil/ sihet er gen Himmel/ damit er anzeiget/ daß die Hülffe von oben herab komme86/ Also sollen wir auch erkennen/ daß wir von vnserer geistlichen Taubheit vnd Verstopffung der Zungen nicht anderst mögen errettet werden/ ohne allein durch Gottes Gnade/ welche vns von oben herab kommen mus. Vnsere Hülffe kömpt her von dem HErrn der Himmel vnd Erden gemacht hat/ Psalm 121. Ein Mensch kan nichts nehmen/ es werde jhm denn gegeben vom Himmel/ Johan. 3. Darumb sollen wir mit embsigem Gebet diese Gnade Gottes suchen/ vnd bitten/ Ach HErr eröffne durch den heiligen Geist mein Hertz/ daß ich dein Wort mit Nutz höre/ vnd mit David aus dem 51. Psalm: HErr thue meine Lippen auff/ das mein Mund deinen Ruhm verkündige. 84 85 86
Marginal: 2. Linguam per S. S. solvendo. Marginal: 3. Rore & sputo donorum irrigando. Marginal: 4. Auxilium à coelo mittendo.
Hephata!
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Fürs fünffte/ wie Christus diesem armen Menschen helffen wil87/ vnd jhm seine Ohren vnnd Mund auffthun/ da seufftzet er/ vnnd lest jhm diß grosse Jammer zu Hertzen gehen/ wie viel mehr sollen wir erkennen vnnd mit tieffen seufftzen beklagen denselben grossen Jammer/ das von Natur vnsere Ohren vnd Zunge verstopfft seyn/ Ach ich elender Mensch/ spricht S. Paul Rom. 7. wer wil mich doch erretten von dem Leibe dieses Todes/ bin ich doch dem Fleisch | nach/ zu allem guten erstorben/ wil er sagen/ vnnd in meinem Fleisch wohnet nichts guts? Wer aber diesen Jammer/ darinnen wir gebohren/ nicht hertzlich erkennet vnd beklaget/ der mag dauon nicht erlöset werden. Wer die Kranckheit nicht wil erkennen/ mag der Hülffe des Artztes nicht theilhafftig werden. Endlich wie Christus durch sein Wort diesem Menschen Zungen vnd Ohren auffthut88/ also wil er auch durch sein Wort vns helffen von vnserm geistlichen Jammer/ In verbo Dei est omnis medicina animae nostrae. Menschen Wort seyn vnkrefftige/ machtlose Wort/ wer taub ist/ kan dieselbe nicht hören/ Aber Gottes Wort ist ein mächtiges vnd krefftiges Wort/ das hören nicht allein die jenigen/ welche bekehret/ vnd welcher Hertz Gott allbereit eröffnet hat/ sondern es ist auch ein krefftiges Mittel/ dadurch Gott die Ohren eröffnen/ vnd die geistliche Taubheit wil wegnehmen/ wenn man nur nicht vber die angeborne Taubheit noch weiter die Ohren verstopffet/ vnd mutwillig das Wort von sich stösset. Wie GOtt der HERR anfänglich durchs Wort den Menschen erschaffen/ jhm Leib vnd Seel/ Augen vnd Ohren/ Vernunfft vnd alle Sinne gegeben/ daß er zu einer lebendigen Seel worden/ Genes. 2. Also wil er auch durchs Wort den Menschen zum geistlichen Leben zubereiten/ sein Leib vnd Seel ernewren/ seine Zunge vnd Ohren auffthun/ daß er ein geistlicher Mensch werde. Sihe/ auff solche weise verrichtet Christus noch täglich diß Wunderwerck/ daß er nemlich durch sein Wort vnnd durch seinen Geist die Ohren vnd Zunge der Menschen | auffthut/ vnd bringets wieder in den Stand/ darinnen es zuerst gewesen/ Jm anfang/ da Gott alles erschaffen/ setzt Moses den gemeinen Schluß hinan/ Gott sahe an alles was er gemacht hatte/ vnd sihe da/ es war alles sehr gut/ Gen. 1. es werete aber nicht lang/ es ließ sich der Mensch durch den Teuffel verführen/ daß er durch die Sünde sampt seinen Nachkommen in geistliche Taubheit vnd Blindheit des Hertzens geriehte/ da sahe der HErr abermal von Himmel/ vnd fand/ daß der Menschen Bosheit gros war auff Erden/ vnd alles Tichten vnnd Trachten jhres Hertzens nur böse von Jugend auff jmmerdar/ Gen. 6. das lautet viel anders/ als es vorher im Anfang der Schöpffung gelautet/ darumb folgen auch daselbst die nachdencklichen Wort/ Es rewet den HErrn/ daß er die Menschen gemacht auff Erden/ vnd es bekümmert jhn in seinem Hertzen. Diß war alles ein Werck des Teuffels/ damit er das edle Geschöpff vnd Werck Gottes den Menschen verderbet hatte/ als aber Christus auff Erden kam/ vnd diß Werck des Teuffels zu zerstören anfieng/ 1. Joh. 3. vnd mit diesem Wunderwercke/ daß er den Tauben vnd Stummen geholffen/ anzeigete/ er were darumb erschienen/ daß er die Menschen von jhrer geistlichen Taubheit erlösen/ vnd jhr Mund vnd Hertzen zu wahrem Lob GOttes eröffnen/ sihe/ da lautet es wieder/ wie es im Anfang gelautet/ Er hat alles wol gemacht. Wenn vns nu also von vnserm geistlichen Jammer geholffen89/ so sollen wir auch recht reden/ ein jeglicher in seinem Stande/ Wir sollen recht reden zu Gott vnd zu vnserm Nechsten/ Lehrer sollen das Wort der | ewigen Warheit recht theilen/ 2. Tim. am 2. Ob87 88 89
Marginal: 5. Miseriam & morbum manifestando. Marginal: 6. Per verbum divinum efficaciter operando. Marginal: III. In homine sanato monstratur.
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Johann Anselm Steiger
rigkeit sol ein gerecht Gericht vnd Vrtheil sprechen90/ daß man nicht zu jhnen sage aus dem 58. Psalm/ Seyd jhr denn stumm/ daß jhr nicht reden wollet was recht ist/ vnd richten was gleich ist/ jhr Menschenkinder. Jn gemein sol ein jeglicher mit seinem Nechsten die Warheit reden/ Eph. 4. Denn auch wie diese guthertzige Leute den Stummen vnnd Tauben zu Christo bringen/ Also sollen wir auch dahin trachten/ daß die jenigen/ welche noch geistlicher weise taub vnnd stumm seyn/ zu Christo mögen gebracht werden/ solches geschicht durch fleissige Vnterweisung/ durch eyfferig Gebet/ vnd durch Christlichen Wandel. Was ist denn auff diß Wunderwerck erfolget? Christus zwar verbot den Zusehern/ sie soltens niemand sagen91/ denn weil es noch die Zeit seiner Ernidrigung war/ wolte er die öffentliche allgemeine Ausbreitung seiner Wunder biß nach seiner Himmelfarth gesparet haben/ daneben auch hiemit allen Schein des Ehrgeitzes ablehnen. Aber je mehr er verbot/ je mehr sie es ausbreiteten92/ vnnd verwunderten sich vber die masse/ es were zwar besser gewesen/ sie hetten Christi Befehl folge gethan/ jedoch ists zu loben/ daß sie diß Wunderwerck nicht verlestern wie die Phariseer theten/ sondern sie verwundern sich darüber/ vnd geben Christo das Lob der Weißheit/ Gütigkeit vnd Allmacht/ Er hat alles wol gemacht/ die Tauben macht er hörend/ vnd die Sprachlosen redend. Diß sollen wir nun auch von diesem Völcklein lernen/ daß wir Gottes Werck preisen93/ | vnd seine Schickung vnd Ordnung vns allzeit lassen wolgefallen. Es begegne vns was da wolle/ es sey gutes oder böses94/ sollen wir doch mit Mund vnd Hertzen sagen/ Er hat alles wol gemacht. So that der fromme Job/ da jhm seine Rinder/ Kameel vnd Eselinne genommen waren/ seine Schafe vom Fewer/ welches vom Himmel fiel/ verzehret/ vnd seine Kinder durch den Fall des Hauses/ darinnen sie waren/ erschlagen/ da sprach er/ Der HErr hats gegeben/ der HErr hats genommen/ der Name des HErrn sey gebenedeyet/ Job. 1. Wenns wolgehet/ so kan man ja noch sagen/ Er hat alles wol gemacht/ wenn aber das Creutz vnnd Vnglück einen vberfallen/ daß man alsdann auch aus Grund des Hertzens sage/ Er hat alles wol gemacht/ das ist eine Kunst der rechten wahren Christen/ ja es gehet bißweilen auch mit den rechten wahren Christen so schwechlich zu/ daß manchmal die Trübsal jhnen so gros vnd schwer scheinet/ daß sie kaum erkennen können/ daß es GOtt auch alsdenn wol gemacht habe/ wenn aber die Angst vnnd das Creutz vberhin ist/ so vberzeugt sie jhr eigen Hertz/ daß sie sagen müssen mit Dauid im 119. Psalm: Es ist mir lieb/ oder wie es eigentlich lautet/ es ist mir gut/ daß du mich gedemütiget hast. Dazu dienet sonderlich/ wenn man in Creutz nicht auff die eusserliche Züchtigung/ sondern auff GOttes liebreiches Hertz sihet/ wen GOtt lieb hat/ den züchtiget er/ so spricht die Schrifft/ vnd der Geist Gottes/ vnd die Warheit: Wer diesem Zeugnis gleubet/ vnnd in allen eusserlichen Fellen auff GOTtes liebreiches Hertz sihet/ der | wird auch jederzeit sagen können/ Er hat alles wol gemacht/ Das verleihe vns Gott durch Christum/ Amen.
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Marginal: Recta linguae usurpatio. Marginal: I. Textus. In quo 1. Prohibetur facti divulgatio. Marginal: 2. Sed nihilominus fit ejus à populo praedicatio. Marginal: II. Usus. Deo sunt gratiae agendae, & ejus beneficia praedicanda: Marginal: Tàm in re prospera, quàm adversa.
Franz Fromholzer / Jörg Wesche
»Ich bin nicht itzo ich.« Flemings Psalmenübersetzung im Kontext der frühneuzeitlichen Bußpraxis Flemings Psalmendichtung führt in das Jahr 1631, also seine Leipziger Zeit zurück.1 Das literaturwissenschaftlich immer noch wenig gewürdigte Projekt stellt einen frühen Versuch des jungen Medizinstudenten dar, sich auf einem anspruchsvollen Gebiet geistlicher Dichtkunst in der Muttersprache zu bewähren.2 Entsprechend geht es im Folgenden um eine Verortung der Psalmen zwischen biblischer Vorlage, geistlicher Dichtungstradition und musikalischer Prägung des Genres, die schließlich zur besonderen theologischen Begründung und bußpraktischen Ausrichtung der Psalmen bei Fleming hinführt.
1. Poetische Eigenständigkeit zwischen Vorlagentreue und musikalischer Dichtungstradition Äußerlich versammelt das schmale Textkonvolut von zehn Blatt im Quartformat jene sieben Bußpsalmen, die auf die Zusammenstellung von Augustinus zurückgehen.3 Ihnen stellt Fleming ein Widmungssonett an die Gräfin Katharina von Schönburg sowie eine kurze Vorrede voran. Den Schluss bildet ein Gebet Manasses in Alexandrinern, das Fleming, wie er in der Vorrede hervorhebt, aufgrund seiner thematischen Verwandtschaft hinzufügt. Der Erstdruck von 1631 bietet also nicht nur die Psalmengedichte selbst. Stattdessen handelt es sich um ein kleines Textensemble, das die Psalmen funktional in einen poetisch gestalteten Textrahmen einbindet. Mit diesem Textensemble schreibt Fleming sich in die seit der Reformation äußerst produktive Bußpsalmendichtung ein. Für sie stehen 1
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Davids/ Des Hebreischen Königs vnd Propheten Bußpsalme/ Vnd Manasse/ des Königs Juda Gebet/ als er zu Babel gefangen war. Durch Paull Flemingen in deutsche Reyme gebracht. [Leipzig 1631]. Dem Erstdruck von 1631 folgt 1635 ein unveränderter Nachdruck in Helmstedt. Insgesamt handelt es sich um ein sehr produktives Jahr, dem Heinz Entner (Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989) ein gut 120 Seiten langes Kapitel widmet (vgl. S. 179–307). Gerhard Dünnhaupt (Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1495–1500) verzeichnet neben einer Sammlung von 41 lateinischen Dichtungen nicht weniger als 24 nahezu monatlich erscheinende Einzelveröffentlichungen, die Fleming publiziert. Darunter Leichabdankungen, die Disputation über Hustentherapie, Gratulationsdichtungen oder die Friedensdichtung Germaniae Exsulis in deutschen und lateinischen Versen. Nach der Zählung Luthers die Psalmen Nr. 6, 32, 38, 51, 102, 130 u. 143.
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klangvolle Namen wie Francesco Petrarca (Septem Psalmi poenitentiales) oder Pietro Aretino (Sette Salmi de la Penitentia di David). Aretino bindet die Psalmenreihe z. B. kunstvoll in eine narrative Rahmenhandlung ein, die in Aufsehen erregender Weise Ehebruch und königlichen Mord als thematischen Bezugspunkt ins Zentrum rückt.4 Unter Flemings Zeitgenossen nehmen sich dem Textkorpus u. a. an: Dietrich von dem Werder (Die BuszPsalmen/ in Poesie gesetzt, 1632), Jacobus Fabricius (Geistlicher BußKrantz, 1636), Daniel Czepko (Siebengestirn Königlicher Buße, 1671) und nicht zuletzt Andreas Gryphius mit einer deutschen Übersetzung von Richard Bakers Meditations and Disquisitions Vpon The Seven Psalmes of David (1687). Die unterschiedlichen Gattungen und lyrischen Formen deuten die intensive Auseinandersetzung mit den praxisorientierten Bußtexten an. Als entscheidend für die deutsche Rezeptionslinie erweist sich dabei zunächst die reformatorische Beseitigung der lateinischen Liturgie im Gottesdienst, durch die in der Frühen Neuzeit ein großer Bedarf an deutschen Psalmenübertragungen entsteht.5 Begleitet wird dieser Übersetzungsprozess durch die Auflösung der Bußpsalmenreihe, die als feststehender Textkorpus in der evangelischen Liturgie keine Verwendung mehr findet.6 Bereits Luther, dessen Bibelübersetzung im 16. und 17. Jahrhundert auch im Bereich der Psalmendichtung den entscheidenden Bezugstext darstellt, arbeitet die (insgesamt 150) Psalmen zu Kirchenliedern für den Gottesdienst um. In dieser Linie entstehen im 16. Jahrhundert zahlreiche Psalmenliedübertragungen, die in gesangbuchartigen Anthologien erscheinen. Darüber hinaus kursieren Kompendien, in denen größere Teile der Psalmenliteratur aus einer Hand in die Liedform übertragen sind.7 Neben der dezidierten Vorlagentreue gegenüber der lutherischen Übersetzung lassen solche Sammlungen dabei eine starke Ausrichtung auf die liturgische und musikalische Praxis erkennen, während der poetische Anspruch der Texte insgesamt im Hintergrund steht.8 Besonders wirkungsmächtig, auch über den calvinistischen Gebrauchshorizont hinaus, ist in diesem Kontext der Genfer Hugenotten-Psalter, für dessen Ausstrahlungskraft in Deutschland die Übersetzungen von Paul Schede Melissus (1572) und Ambrosius Lobwasser (1573) maßgeblich sind. Wiederum steht hier die Sangbarkeit der Texte im Vordergrund, wobei auch die Melodien durch das französischsprachige Vorbild festgelegt sind. Eine erfolgreiche, musikalisch eigenständige Alternative zum Psalter Lobwassers stellt in der lutherischen Gemeindepraxis beispielsweise Cornelius Beckers Der Psalter Davids Gesangweis
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Zur Rezeption Brian Cummings: The Literary Culture of the Reformation. Grammar and Grace. Oxford 2007, S. 223–231. Vgl. Arthur Hübner: Art. Psalmendichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Bd. 3. Berlin/New York 21977, S. 283–287, hier S. 284. Dazu Erich Hertzsch: Bußpsalmen. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 1. Tübingen 3 1957, Sp. 1538f. So etwa Der gantz Psalter Davids von Jacob Dachser (Augsburg 1538). Diesen Typus vertritt um 1600 beispielsweise die Himlische Cantorey Franciscus Algermanns von 1604.
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(1602) dar, den auch Heinrich Schütz seiner Vertonung zu Grunde legt.9 Sind solche Bearbeitungsformen durch die Sangbarkeit und volkssprachliche Orientierung an der Gemeinde geprägt, zeichnet sich im 17. Jahrhundert eine Akademisierung der Psalmendichtung ab. Einerseits erweitert sich dabei die philologische Basis (neben der Luther-Übersetzung gewinnt der hebräische Text an Bedeutung), andererseits steigen auch die ästhetischen Ansprüche an das Genre. Im Bereich der Musik muss man sich nur eine komplexe fugale Komposition wie Bachs Kantate Aus der Tieffen ruffe ich Herr zu dir von 1707 ins Gedächtnis rufen, die mit dem 130. Psalm wiederum einen Bußpsalm künstlerisch erprobt. Ähnlich ist bereits die Vertonung des beckerschen Psalters von Heinrich Schütz (1619) auf die tragende, das Bußelement gezielt verstärkende Funktion der Musik ausgerichtet. Solche Psalmenvertonungen gewinnen ihre »individuelle Werkkonzeption« – wie von musikwissenschaftlicher Seite etwa für Schütz hervorgehoben – wesentlich aus ihrer Mehrchörigkeit.10 Durch die polyphone Überlagerung der Einzelstimme ist das büßende Ich dabei in die Einheit des chorischen Gesangs eingebunden. Aber auch in der poetisch-rhetorischen Dimension sind die Psalmenlieder der Barockzeit gegenüber dem 16. Jahrhundert stärker durchgearbeitet, wobei vor allem das gelehrte Rüstzeug der opitzschen Reform den Bereich erobert, und das noch bevor Opitz seine eigene Bearbeitung der Davidspsalmen 1637 vorlegt. Hierfür sind nun Flemings »Psalmenparaphrasen«11 ein einschlägiges Beispiel. Gleich in der Vorrede stellt Fleming den Opitz-Bezug her: Gunstiger Leser, die Bußpsalmen in deutsche Poësie zu richten, hat mich veranlasset Herrn Opitzen sein schöner fleiß, den Er unter andern bey vbersetzung der Klagelieder Jeremias in ebenselbige nicht ohne rühmlichen Abgang angewendet.12
Nach dem Vorbild der Klagelieder Jeremias von Opitz (1626) setzt Fleming seine Versparaphrasen dabei eben nicht – was nahe gelegen hätte – in die Odenform, sondern durchgehend in den Alexandriner, den er im streng regulierten Wechsel von klingenden und stumpfen Reimpaarversen schulgerecht gebraucht. Gegen die Sangbarkeit des Bußpsalmenlieds positioniert Fleming also den astrophisch durchlaufenden Sprechvers.13 Dabei handelt es sich durchaus um eine formale 9 10
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Vergleichbar ist z. B. die, allerdings weniger erfolgreiche, Psalmenbearbeitung von Johannes Wüstholz: Lutherischer Lobwasser (1617). Werner Breig: Mehrchörigkeit und individuelle Werkkonzeptionen bei Heinrich Schütz. In: Schütz-Jahrbuch 3 (1981), S. 24–38, sowie Michael Zywietz: Affektdarstellung und Affektkontrolle in den ›Bußpsalmen‹ des Orlando di Lasso. In: Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance. Hg. v. Joachim Poeschke, Thomas Weigel u. Britta Kusch. Münster 2002 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 1), S. 95–108, bes. S. 105f. So die neutrale Bezeichnung Dünnhaupts (Anm. 2), S. 1498. DG 2, 837 (Kommentar des Herausgebers). – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Die Sangbarkeit bestreitet daher auch Hubert Heinen: Paul Flemings Bußpsalmengedichte und ihre Eigenart als Paraphrasen. In: Opitz und seine Welt. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam/Atlanta 1990 (Chloe 10), S. 233–250, hier S. 234; Inka Bach/Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung. Berlin/New York 1989 (Quellen und
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Besonderheit in der barocken Psalmendichtung,14 die deutlich Anlass zur Frage nach der poetischen Eigenständigkeit des Textensembles gibt. Ein pragmatischer Erklärungsansatz für diese formale Transformation liegt zunächst sicherlich im Übungscharakter der Versparaphrasen, die der angehende Dichter im Sinn frühneuzeitlicher exercitatio als geistliche Form erprobt. Das Maß des Alexandriners ist ihm dabei als angemessene Form der Klage nicht nur aus Opitz’ Jeremias vertraut. Vielmehr experimentiert er selbst gerade im ertragreichen Jahr 1631 verschiedentlich mit dem Metrum.15 Insofern erscheint in dieser Werkphase auch die Psalmenliteratur als geeignetes Spielfeld für die bei Opitz erlernte Dichtungsweise. Damit verbindet sich allerdings keine Abwertung im Sinn einer Säkularisierung des heiligen Wortes, bei der die Bußpsalmen schlicht als poetischer Erkundungsraum aufgefasst würden. Vielmehr kann sich die Poesiefähigkeit des Deutschen hier in einem produktiven Kernbereich geistlicher Literatur erweisen. Im Formzitat behaupten die Bußpsalmen Flemings ihre poetische Eigenständigkeit dabei nicht zuletzt gegenüber der musikalischen Bußpraxis, zumal Opitz selbst kurz darauf in seinen Psalmen Davids (1637) wieder die Oden- bzw. Liedform verwendet und sie explizit Nach Frantzösischen Weisen setzt, damit den Hugenotten-Psalter Lobwassers jedoch anders als erhofft nicht ersetzen kann.16 Dabei bleibt der Rückgriff auf den Alexandriner in der Nachfolge Flemings kein Einzelfall. Auch Dietrich von dem Werder verwendet die Versform in den BuszPsalmen/ in Poesie gesetzt, die 1632 nur wenige Monate nach Flemings Version in Leipzig erscheinen.17 Ebenso greift Andreas Heinrich Buchholtz in seinem Poetischen Psalter Davids (1640) auf das Versmaß zurück. Ernst zu nehmen sind dabei die beiläufig klingenden Titelzusätze, die ausdrücklich auf den poetischen Status solcher Bußpsalmen hinweisen (»in deutsche Reyme gebracht« bei Fleming, »in Poesie gesetzt« bei Dietrich von dem Werder, »Poetische[r] Psalter« bei Buchholtz); die Gegenprobe lässt sich wiederum mit Cornelius Becker machen,
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Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 95) bezeichnen die Form in ihrer grundlegenden Studie ausdrücklich als »Lehrgedicht« (S. 163). Kurz vor Flemings Fassung ist eine Alexandriner-Bearbeitung von 12 Psalmengedichten durch Johann Vogel (1628, als gesamter Psalter 1638) belegt (vgl. Hübner (Anm. 5), S. 286). Hierfür steht etwa das Sonett DJch/ Vater/ klaget man, aber auch längere Texte wie beispielsweise die Leichenpredigt WJr armen Sterblichen/ was ist doch unser Leben auf Martha Elisabeth Æschel oder das Epicedium Es fehlte noch an Dir anlässlich des Todes Catharina Götzens (Drucknachweise bei Dünnhaupt (Anm. 2), S. 1496 u. 1499). Zudem publiziert Fleming im Februar des Jahres eine Lobschrift auf die versammelten evangelischen Reichstände, die gleichfalls eine Alexandrinerdichtung enthält. In Alexandrinern steht im März 1631 auch die Dichtung anlässlich des 67. Namenstags des Herzogs zu Sachsen sowie ein Glückwunschgedicht in 108 Alexandrinern auf Johann Michels im Mai (vgl. ebd., S. 1496f.). Bereits um 1630 veröffentlicht Opitz außerdem eine Versfassung des sechsten Psalms in vierhebigen Trochäen, die er gleichfalls explizit in der Liedform einrichtet. Entsprechend lautet der Zusatz auf dem Titelblatt: »In der Melody deß 77. Psalms: Zu Gott in dem Himmel droben« (Martin Opitz: Der sechste Psalm/ vertiret. Thorn 1630). Hier allerdings in strophischer Gliederung. Der 102. Psalm erscheint vierhebig jambisch (vgl. Dietrich von dem Werder: Die BuszPsalmen/ in Poesie gesetzt. Sampt angehengten TrawerLied vber klägliche Zerstörung der Löblichen vnd Uhralten Stadt Magdeburg. Leipzig 1632).
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der seinen Psalter ausdrücklich »gesangweis« präsentiert.18 Angesichts solcher Gesten des bewussten Einstehens für die Poesie ist methodisch hervorzuheben, dass das Verhältnis zwischen Psalmendichtung und -lied historisch nicht einfach aufzulösen ist. Angemessener ist es demgegenüber, im 17. Jahrhundert auch mit einer medialen Konkurrenz zwischen Text und Musik zu rechnen, die in der Forschung allzu leicht zu Gunsten eines Primats der Musik als dem vermeintlich wirkungsvolleren Medium entschieden wird. So falle es aus musikwissenschaftlicher Perspektive grundsätzlich schwer, »sich den Psalter als reine Dichtung, losgelöst von seiner Vertonung zu vergegenwärtigen.«19 Auch der Literaturwissenschaftler Entner kommt zu ähnlichen Werturteilen, wenn er von der »spürbaren Befangenheit« des »Dichter[s]« spricht, der sich »an den lesenden einzelnen wandte, [und] nicht wie Psalmenliedermacher an eine singende Gemeinde«, die Folge sei ein »Verfahren rhetorisch überhöhender Umschreibung des Textes, die buchstabengläubig und unpersönlich herauskommen mußte, gleichzeitig rational unterkühlt und stilistisch überheizt«.20 Kann man mit solchen Argumenten sicherlich Großteile der opitzschen Dichtung in Frage stellen, ist an dieser Stelle auch die implizierte Künste-Hierarchie sowie der daraus resultierende Vorwurf der Unpersönlichkeit problematisch. Dagegen lassen sich Flemings Versparaphrasen – bei aller Affinität des Thomasschülers zur Musik – mit Blick auf die Verwendung des Alexandriners und die explizite Ausweisung als poetische Textsorte auch in ihrer medialen Eigenständigkeit wahrnehmen.21 Diese Eigenständigkeit im Poetischen gilt es sodann, auf ihre funktionalen Möglichkeiten hin zu befragen. Untersucht man dazu das Verhältnis zwischen der Textvorlage Luthers und der literarischen Übersetzung, bestätigt sich, dass Fleming den Luthertext möglichst vorlagentreu übernimmt.22 Nur an einigen Stellen steht die Vulgata im Hin18
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DG 2, 837 sowie die Titelblätter bei Werder (Anm. 17); Andreas Heinrich Buchholtz: Teutscher Poetischer Psalter Davids. Rinteln 1640 und Cornelius Becker: Der Psalter Davids gesangweis. Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet. Leipzig 1602. Einzelnen Psalmen vorangestellte Zusätze wie »vorzusingen auf acht Saiten« (zum sechsten Psalm) oder »Ein Lied im höhern Chor« (zum 130. Psalm) sind bei Fleming dagegen dem Prinzip der Vorlagentreue gegenüber der Lutherbibel geschuldet (PW I, 1 u. 6). August Gerstmeier: Die Deutung der Psalmen im Spiegel der Musik. Vertonungen des »De Profundis« (Ps 130) von der frühchristlichen Psalmodie bis zu Arnold Schönberg. In: Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium. Interdisziplinäre Reflexion. Hg. v. Hansjakob Becker u. Reiner Kaczynski. St. Ottilien 1983 (Pietas Liturgica 2), S. 91–137, hier S. 91. Entner (Anm. 2), S. 212f. Heinen (Anm. 13) dagegen versäumt, das Verhältnis von Psalmenlied und -gedicht näher in den Blick zu nehmen (vgl. S. 237, Anm. 8). Literaturgeschichtlich stehen sie im Kontext einer Poetisierungstendenz des Genres im 17. Jahrhundert, in dem sich etwa auch die Psalmengedichte Weckherlins als Lesetexte bewegen. Diese Tendenz – gewissermaßen eine poetische Emanzipationstendenz – weist dabei der musikunabhängigen Psalmendichtung des 18. Jahrhunderts den Weg (vgl. z. B. Samuel Gotthold Lange: Oden Davids (1746), Johann Andreas Cramer: Poetische Übersetzung der Psalmen (1755) oder Johann Caspar Lavater: Auserlesene Psalmen Davids (1765); dazu Hübner (Anm. 5) mit weiterführenden Hinweisen (vgl. S. 287)). Nach Heinen (Anm. 13) beschränkt sich Fleming auf die Bibelübersetzung, während er für Rückgriffe auf Luthers Psalmenkommentare und -lieder keine Anhaltspunkte findet (vgl. S. 236).
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tergrund.23 Beispielsweise ersetzt Fleming im 102. Psalm die Rohrdommel in der Luther-Übersetzung durch den »traditionsreicheren« Pelikan.24 Im 130. Bußpsalm De Profundis clamavi verzichtet Fleming zudem auf Luthers Versetzung des Tempus ins Präsens und hält sich an das Perfekt der lateinischen Vorlage (»Aus diesem tiefen Schlund’ […] | hab’ ich so oft und oft, o Herr, zu dir geruft«).25 Allerdings schiebt Fleming das Prinzip der Vorlagentreue geradezu schützend vor sich, wenn er jeweils am Rand seiner Versparaphrasen die jeweilige Bibelstelle genau nachweist. Diese philologische Absicherungsstrategie greift mit Flemings Hinweis in der Vorrede zusammen: »Die Worte, so viel auß zulassung der Verse Eigenschafften müglichen, hab ich nicht geendert, im widrigen mich an den wahren Verstand auffs kürzeste gehalten.«26 Sucht man nach der poetischen Eigenständigkeit der Bearbeitung Flemings, rückt also die Paraphrasierungstechnik ins Zentrum. Auf der Sprachebene fallen dabei neben Doppelungen zahlreiche Versfüllsel ins Gewicht,27 die Fleming nach Maßgabe der metrica necessitas des Alexandriners an vielen Stellen einfügt. Auch thematisch springen Verstärkungen als Intensivierung »physische[r] Angst« oder »Betonung des Ich« ins Auge.28 Enthält letztere Formulierung aus Sicht der Frühneuzeit- und insbesondere der Fleming-Forschung freilich ein Reizwort, ist es im Folgenden angezeigt, den genauen Status dieses Ichs im Kontext des zugrunde gelegten Bußverständnisses zu bedenken,29 um diesen abschließend noch einmal zum poetischen Status der Versparaphrasen in Beziehung zu setzen.
2. Das Ich des Psalmisten. Orthodoxie und Heterodoxie der Buße Zunächst überrascht es auf den ersten Blick sehr, dass moderne Exegeten (etwa im Kontext der meditatio mortis-Forschung) an Flemings Bußpsalmen das Insistieren auf Individualität und Besonderheit des Beters hervorheben.30 In Flemings Bußpsalmen reihe sich zwar das Ich in den Kreis der alle Zeiten hindurch Psalmen übersetzenden und betenden Autoren ein, bestehe jedoch auf eigenem Schmerz und eigenes Leid, verweise so auf die individuelle Innerlichkeit und das 23 24 25 26 27 28 29
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Vgl. Entner (Anm. 2), S. 212. Heinen (Anm. 13), S. 243. PW I, 6, V. 1 f.. Dazu Heinen (Anm. 13), S. 247f. Weitere Abweichungen stellen im Detail auch Bach/Galle (Anm. 13), S. 164–166, zusammen. DG 2, 838. Heinen (Anm. 13), S. 238f. Ebd., S. 239 u. 240. Zu jüngeren Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen Buße vgl. Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2007, S. 287–317, bes. S. 309f., oder zuletzt auch das fragwürdige Konzept einer »Anthropotechnik« bei Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a. M. 2009, der wohl von Bußübungen als »psycho-immunologischen Praktiken« sprechen würde (S. 22). Vgl. Stefanie Wodianka: Mitleid, inwendige Höllenpein, Selbstentfremdung und Anspruch an sich selbst. In: Sprache und Literatur 30 (1999), S. 16–27, hier S. 25f.
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eigene Selbst. »Das Gefühl der Selbstentfremdung wird hier lyrisch und sprachschöpferisch gestaltet und bis zum Erreichen der Selbstfindung durch meditatives Engagement durchgespielt.«31 Als Entfremdung und Selbstfindung, Engagement und Spiel fasst Wodianka Flemings Bußverständnis in entsprechende Termini des 20. Jahrhunderts. Damit zeigt sich die Fleming-Forschung – nicht zum ersten Mal – an vermeintlichen Frühformen von »Subjektivität« fasziniert, ohne auf den schon durch den Titel vorgegebenen Kontext von Flemings Psalmenparaphrasierung einzugehen.32 Stephen Greenblatt hat für die Bußpsalmenübersetzung von Thomas Wyatt auf ihren zeitgenössischen objektiven Kontext verwiesen, der die vermeintlich subjektive Dimension diskursiv einbindet: Inwardness is a psychological state (and hence subjective) and a spiritual condition (and hence objective); it bespeaks withdrawal and yet is insistently public, for we may only encounter a discursive inwardness, one dependent not only upon language but upon an audience.33
Die intensive, länderübergreifende Auseinandersetzung mit den äußerst populären Bußpsalmen wird häufig mit ihrer konsolatorischen Bedeutung erklärt, die sich aus der Bewegung der Psalmen von verzweifeltem Bitten hin zur befreienden Hoffnung auf Gott ergebe.34 Das Ich des Psalmisten und Beters ist dabei aufgespalten: zum einen in König David, zum anderen in den Leser. Die Bewegung von der Verzweiflung des Beters hin zur Hoffnung auf Vergebung und Gnade durch Gott machten die Bußpsalmen zu exempla-Texten reformatorischer Bußtheologie, die gemäß Luther katholischen Heiligenviten entgegengestellt werden sollten.35 Ein zentraler Kritikpunkt Luthers an der herkömmlichen Bußpraxis der Kirche war dabei, dass sie auf eine Selbstvervollkommnung abziele. Sowohl in der Beichtpraxis als auch in den satisfaktorischen Leistungen der Buße stünden Selbsterforschung, das eigene Gutsein, die eigenen Werke, das Gebet um das eigene Seelenheil im Zentrum. Der Büßer verbleibe in restloser Selbstbezogenheit, er sei »incurvatus in se«36 und damit nicht von sich selbst auf 31 32
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Ebd., S. 24. Dass es sich bei den Bußpsalmen um Gebrauchstexte handelt, um deren spezifische Auslegung auch im 17. Jahrhundert intensiv gerungen wurde, bleibt von Wodianka unerwähnt. Allein die Disparität zwischen der großen Anzahl von Psalmenübersetzungen im Vergleich mit Übersetzungen aus anderen Büchern der Bibel zeigt den hohen ›Gebrauchswert‹ des Psalters an und legt es nahe, dass (konfessionelle) Tradition und kirchliche Autorität den Gebrauch des Psalters vorgaben, Lektüre und Vortrag in bestimmte Kontexte einbanden und reglementierten. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago/ London 1980, S. 126. Vgl. Johannes A. Gaertner: Latin verse translations of the psalms 1500–1620. In: The Harvard Theological Review XLIX (1956), S. 271–292, hier S. 278. Wilhelm Kühlmann: Trost im Schatten der Macht. Zur lutherischen Psalterlektüre und Psalmdichtung des 16. Jahrhunderts. In: Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation. Hg. v. Enno Bünz, Stefan Rhein u. Günther Wartenberg. Leipzig 2005, S. 219–232, hier S. 225. »Et hoc consonat Scripturę, Quę hominem describit incuruatum in se adeo, vt non tantum corporalia, Sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus querat.« D. Martin Luthers
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Gott hin befreit, sondern in sündhafter Selbstreflexion gefangen.37 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist es an prominentester Stelle die in orthodoxen Kreisen umstrittene Bußtheologie Johann Arndts, die den Sünder zur täglichen Reue auffordert.38 Blickt man etwa in das erste der Vier Bücher vom wahren Christenthumb (1605), so gelten die Bußpsalmen als exemplarisch: da der Mensch absterben solle/ der Hoffart/ dem Geitz/ der Wollust/ sich selbst verleugnen/ hassen/ […] vnnd [ein] erschrocken Hertz/ vnnd weynende Seele im Leibe tragen/ wie in den Bußpsalmen solche jnnigliche Hertzen buße beschrieben ist.39
Das Selbstverhältnis bei Arndt ist ganz klar als Selbsthass und Selbstdistanzierung beschrieben. Ein Insistieren auf der eigenen Individualität in der Buße könnte hier nur als Verharren in der Sündhaftigkeit verstanden werden. Arndts Erbauungsbuch, das aus der reichhaltigen mystischen Tradition des Mittelalters (etwa Thomas von Kempen und Johannes Tauler), aber auch aus katholischen Quellen schöpft,40 hatte sich nichtsdestotrotz dem Bedenken auszusetzen, das eigene Vermögen in der Bußleistung gegenüber göttlicher Gnade und Gerechtigkeit in den Vordergrund zu rücken. Der unter Heterodoxie-Verdacht Stehende wehrt sich in seiner Vorrede zur vierten Auflage von 1607 gegen diese Vorwürfe: Es sind aber in demselben/ sonderlich im Franckfurtischen Druck/ etliche Reden nach Art der alten Scribenten/ Tauleri, Kempisii, vnd anderer/ mit eingemischt/ die das Ansehen haben/ als wenn sie menschlichen Vermügen vnd Wercken zu viel tribuiren, (darwider doch mein gantz Büchlein streitet) […].41
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Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1938. Bd. 56, S. 356, Z. 4–6 (Die Weimarer Luther-Ausgabe von 1883ff. wird im Folgenden unter der Sigle »WA« zitiert). Zum Sündenverständnis Luthers vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem historischen Zusammenhang. Göttingen 1999, S. 82–90. Vgl. Susi Hausammann: Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft. Eine theologische Studie zu einer Theologie der Buße. Zürich 1974, S. 49. Brecht weist auf das unklare Verhältnis von menschlichem Umkehrverlangen und göttlicher Rechtfertigung bei Arndt hin: »Die Erneuerung beginnt durch die von Gottes Wort bewirkte wahre Buße. Die Arznei hilft jedoch nur dem, der vom Alten ablässt. Diese Notwendigkeit der Verleugnung der Welt wird breit ausgeführt, sie machte das akute Problem aus. Dabei kann wie in den übernommenen mittelalterlichen Traditionen die aktive Umkehr als menschliche Voraussetzung und Vorleistung zur Erneuerung erscheinen. Das brennende ethische Interesse tangiert somit möglicherweise den Vorrang Gottes in der Rechtfertigung oder macht ihn zumindest unklar. Hier bleibt eine Unschärfe. Das Wertlegen auf die Buße und ihre Praxis ist von Arndt dann bleibend auf den Pietismus übergegangen.« Martin Brecht: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus 1), S. 136. Johann Arndt: Von wahrem Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch hg. und mit Bemerkungen vers. v. Johann Anselm Steiger. Hildesheim/Zürich/New York 2005, S. 49f. Vgl. hierzu Hans Schneider: Johann Arndt als Lutheraner? In: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 48), S. 61–82. Ferner Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte 4, O 1), O 18. Zit. n. Johann Anselm Steiger: Bemerkungen des Herausgebers. In: Arndt (Anm. 39), S. 351– 401, hier S. 367.
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Aus den Kontroversen um das Bußverständnis in Von wahrem Christenthumb wird deutlich, dass Fleming seine Bußpsalmen-Übersetzung in einem theologisch hochsensiblen Umfeld platzierte – zumal man aus dem Briefwechsel Johann Gerhards mit Johann Arndt weiß, dass auch aus Leipzig gegen Arndt protestiert wurde.42 Wenn moderne Exegeten im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Lyrik im 18. Jahrhundert die Selbstthematisierung bei Flemings Bußpsalmen in den Mittelpunkt rücken, attestieren sie Fleming damit nicht zugleich auch einen Rückfall in selbstbezogene Bußpraktiken, die das Misstrauen der kirchlichen Obrigkeit auf sich ziehen mussten? Ist das vermeintlich Innovative an Flemings Texten sein irriges, gar säkularisierendes Bußverständnis? Von kirchlichem Einspruch gegen Flemings Bußpsalmen ist jedoch nichts bekannt, der unveränderte Nachdruck 1635 deutet nicht darauf hin. Entner hat in seiner Monographie auf die zahlreichen fürstlichen Bußmandate im Sachsen der 1620er Jahre hingewiesen, die das von Krieg und Inflation hervorgerufene Elend lindern sollten, und in diesem Zusammenhang einen (kollektiv) hohen Bedarf an Bußtexten nahegelegt.43 Wahrhafte Buße jener Zeit darf nicht als akademisch-theologische Spitzfindigkeit missverstanden werden, sie vermag vielmehr einen Beitrag zur baldigen Befriedung des Reichs zu leisten und betraf unmittelbar die soziale Wirklichkeit der Bevölkerung. Buße konnte dabei keinesfalls primär vor dem Hintergrund individueller Schuld verstanden werden, vielmehr galt generell jeder als Sünder und die kollektive Bußbereitschaft stand unter dem Druck obrigkeitlich-konfessioneller Sozialdisziplinierung und gesellschaftlicher Ächtung: »Für das Konfliktverlaufsmuster Buße ist es unerheblich, wie jemand schuldig geworden ist. Es bietet jedoch eine Reintegrationsmöglichkeit um den Preis der Anerkennung der eigenen Schuld, um den Preis der Demütigung.«44 Zu einem adäquaten Verständnis von Flemings Bußpsalmen-Bearbeitung muss also die zeitgenössische Bußtheologie erläutert werden, um die immer wieder an die Texte herangetragenen Fragen nach Selbstbild, Selbstentfremdung und -findung präziser deuten zu können. Im Spätmittelalter hatte sich eine Drei-Gliedrigkeit des Bußgeschehens selbst herauskristallisiert: Der contritio cordis, der Zerknirschung des Herzens, folgte die confessio oris, das Sündenbekenntnis, dem sich eine Genugtuungsleistung (satisfactio operis) anschloss.45 Luther hatte bereits in seiner ersten Auslegung der Bußpsalmen von 1517, die im Jahr der Ablassthesen formuliert wurde, die contritio als inneren Vorgang postuliert, denn es muss »zu eynem undergang kummen mit eynem iglichen menschen.«46 Dieser Untergang, die mortificatio 42
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Vgl. Wilhelm Koepp: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Neudruck der Ausgabe Berlin 1912. Aalen 1973 (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 13), S. 97. Vgl. Entner (Anm. 2), S. 210f. Ursula Kundert: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jahrhunderts. Berlin, New York 2004 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 33), S. 211. Vgl. Hausammann (Anm. 37), S. 40. WA I, S. 160, Z. 14f. (aus der Auslegung zu Ps 6 von 1517). Zur Bußpsalmenauslegung Luthers vgl. v. a. Mario Florin: Ein haß uber den alten menschen und eyn suchen des lebens yn dem newen menschen. Luthers Auslegung der Sieben Bußpsalmen (1517 und 1525), mit ei-
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carnis, durchzieht Luthers Bußpsalmenauslegung wie ein roter Faden und stellt die Bedingung dar für die vivificatio spiritus. In der Auslegung zu Psalm 51 formuliert Luther: dan Adam der muß sterben und vorweßen, ee dan Christus gantz erstee, und das hebet an das bußfertige leben, und volbrenget wirt durch das sterben. darumb ist der todt ein heylsams ding allen den, die yn Christum glauben. dan er thut nit anders, dan vorweßet und zupulvert als, was auß Adam geborn ist, auff das Christus allein yn unß sey.47
Der orthodoxe Johann Gerhard deutet mortificatio und vivificatio in seinen Loci Theologici (1610–1622) als Reue und Glauben.48 Auch der umstrittene Arndt überschreibt sein erstes Buch von Buße und Reue »Wie ein wahrer Christ in Adam teglich sterben: Jn Christo aber leben/ nach dem Bilde Gottes ernewrt werden/ vnd in der newen Geburt leben müsse«.49 Die Deutung des Bußgeschehens als Sterben des alten Adam und Verlebendigung Christi ist im protestantischen Kontext kanonisch präsent. Vor diesem theologischen Hintergrund muss unweigerlich auch Flemings vermeintliche Selbstentfremdung und ebenso fragwürdige Selbstfindung gedeutet werden. Mortificatio carnis und Absterben des alten Adam werden von Fleming wie folgt paraphrasiert: Die Augen dunkeln mich, die ausgefleischte Haut wird schlaff und runzelt sich, daß mir selbst für mir graut. Ich bin bei Leben tot.50
Die ausführlichen Krankheitsbeschreibungen in den Bußpsalmen veranschaulichen einen Sterbeprozess, der keine physischen Ursachen hat. Vielmehr erkennt das Ich des Beters die eigene Sündhaftigkeit als Krankheit an, die des Arztes
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nem Exkurs über Luther und die Theologia Deutsch. Bern u. a. 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 9); Jonathan R. Seiling: The ›radical‹ revisions of the commentary on the seven penitential psalms: Luther and his ›enemies‹ (1517–1525). In: Reformation & Renaissance Review 8 (2006), S. 28–47; Michèle Monteil: Les sept psaumes de la pénitence de Luther: théologie des profondeurs et rhétorique du cœur. In: Positions luthériennes 54 (2006), S. 193–223; Otto Rodenberg: Gottes Gnade unter seinem Zorn. Anmerkungen zu den Bußpsalmen im Anschluß an Martin Luthers Auslegung. In: Theologische Beiträge 21 (1990), S. 307–318; Heinz einz Bluhm: The Evolution of Luther’s Translation of the first penitential psalm. In: Daphnis 12 (1983), S. 529–544; Theobald Süss: Über Luthers »Sieben Bußpsalmen«. In: Vierhundertfünfzig Jahre Lutherische Reformation 1517–1967. Festschrift für Franz Lau zum 60. Geburtstag. Hg. v. Helmar Junghans, Ingetraut Ludolphy u. Kurt Meier. Göttingen 1967, S. 367–383. WA 1, S. 188, Z. 18–22. Vgl. Johann Gerhard: Locorum Theologicorum cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervosè, solidè et copiosè explicatorum tomus I – 9. Gamone. Genf 1639, Bd. VI, S. 239 (§ 44). Im Gesamtplan von 1606 zit. n. Steiger: Bemerkungen des Herausgebers. In: Arndt (Anm. 39), S. 359. PW I, 1, V. 23–25 (im Folgenden durch einfache Seiten- und Versangabe im Haupttext zitiert).
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bedarf.51 Die Bedürftigkeit nach dem göttlichen Arzt erfordert die Erkenntnis der eigenen Krankheit, Christus als Arzt, der durch Sündenvergebung und Heil die Genesung und das Leben schenkt, wird im Sinne Luthers evoziert.52 Fleming paraphrasiert die Krankheit des Beters denn auch als »Sündenschmerz« (S. 6, V. 11), womit der affektive Charakter der contritio sprechend zum Ausdruck kommt. Da aber alle der Erbsünde verfallen sind, jeder also des Arztes bedarf, ist die contritio als Sündenerkenntnis Gnade. Letztlich steht im Hintergrund die protestantische Kreuzestheologie: »Deum non inveniri nisi in passionibus et cruce.«53 Nur im Leiden und Kreuz kann Gott gefunden werden, Gott verbirgt sich immer unter seinem Gegenteil, Krankheit ist Gnade.54 Wenn dem Beter-Ich Flemings vor sich selbst graut, er sich selbst lebend tot weiß, ist nicht primär ein (gar individuelles) Selbstverhältnis versprachlicht, sondern exemplarisch die Gottferne des sündhaften Menschen, die Furcht vor dem ewigen Tod im diesseitigen Leben vorweggenommen. Ein orthodox-protestantischer Psalmübersetzer wie Nicolaus Selnecer, der über jegliche Subjektivitätsvermutungen erhaben ist und dessen 1581 in Leipzig erschienenen Psalter Fleming mit großer Wahrscheinlichkeit kannte, formuliert zu Bußpsalm 143: »Und mein Geist ist in mir geengstet/ Mein hertz ist mir in meinem leibe verzeret.«55 Auch in diesen den Hausvätern zur Unterweisung ihrer Kinder an die Hand gegebenen Psalmübertragungen lassen sich Phänomene wie nervöse Angst und pathologische Ich-Fixierung aufspüren. Ein auf sich selbst verwiesenes Ich ist der Verzweiflung und dem Tod ausgesetzt; in den theologischen Termini der Zeit: Die contritio weiß um die Gefahr des prekären »incurvatus in se«. In geradezu absteigender Linie paraphrasiert Fleming zu Psalm 38 »Ich muß, ich muß erliegen« (S. 6, V 14) und führt weiter aus: »Ich bin nicht itzo ich. Ich muß für Unruh heulen, die mir mein Leben frißt« (S. 6, V. 22f.). Die paradoxe Formulierung konstatiert die mortificatio und kann zugleich kein neues Selbstbild entwerfen. Denn die vivificatio spiritus ist kein vom Menschen 51
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Primäre Ursache dieser sündigen Selbsterkenntnis ist der Zorn Gottes: »Herr, züchtige mich nicht, wenn dir die Grimmesglut aus Mund und Augen bricht« paraphrasiert Fleming zu Beginn von Psalm 6 (ebd., S. 3, V. 3f.) Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte. Leiden/Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions CXXI), S. 3–15. WA 1, S. 362, Z. 28f. »Thus stripped, the Christian was simply to embrace suffering as God’s alien work to conform her more closely to Christ, a sign of the divine fatherly goodness that was abundantly attested in Scripture. This Christian art of suffering required considerable faith.« Ronald K. Rittgers: Embracing the »true relic« of Christ: Suffering, penance, and private confession in the thought of Martin Luther. In: A New History of Penance. Hg. v. Abigail Firey. Leiden/ Boston 2008 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 14), S. 377–393, hier S. 393. Nicolaus Selnecer: Der Psalter mit kurtzen Summarien/ vnd Gebetlein für die Hausvaeter vnd ihre Kinder. Leipzig 1581, o.S. (Der CXLIII. Psalm). Zum Autor: Nikolaus Selnecker 1530–1592. Hg. im Gedenkjahr zum 450. Geburtstag v. Erich Beyreuther u. Alfred Eckert. Hersbruck 1980; Guido Fuchs: Psalmdeutung im Lied. Die Interpretation der »Feinde« bei Nikolaus Selnecker (1530–1592). Göttingen 1992 (Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung 25).
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entworfenes neues Selbstbild, die iustificatio secundam hominem novum kann nur durch den Glauben an Gott und seine Gnade erfolgen. La pénitence engendre de fait une existence »entre-deux«. entre-deux«. «.. En effet, elle est en tant que moyen terme, la coexistence ou juxtaposition en l’homme (simul) de deux états contradictoires: pécheur en tant que vieil homme, juste en tant que nouvel homme […].56
Mit großem Sprachaufwand, der wie sich Fleming bewusst war, durchaus unter dem Verdacht eines der Thematik unangebrachten »angeschminkte[n] Glanz[es]« (S. 3, V. 13) stehen könne, prägt Fleming Metaphern der mortificatio »bei Leben tot« (S. 4, V. 25), abgeseelte Seel« (S. 7, V. 35), »halberlegne Seel« (S. 13, V. 48) oder »den Todten gleich« (S. 13, V. 16). Luthers Diktum »Qui enim mortuus est, iustificatus est«57 darf Flemings sprachmächtigen Bildern vom Absterben des alten Adam zugrunde gelegt werden. Denn die in der mortificatio scheinbar vorgeführte Selbstaufgabe weist den Weg zum vor Gott Gerechtfertigten. So kann »ich bin nicht itzo ich« in den geistlichen Sonetten auch rückblickend euphorisch postuliert werden und eben nicht als Krankenbericht (vgl. aus dem Sonett Neuer Vorsatz): Das höchste Gut erfüllet mich mit sich, macht hoch, macht reich. Ich bin nun nicht mehr ich. Trutz dem, das mich in mich zurücke reißet! (S. 449, V. 12–14)
Es wurde bereits deutlich, dass Flemings Paraphrasen die contritio innerhalb des Bußgeschehens als Bilder von geistiger Krankheit zeichnen, einen Sterbeprozess veranschaulichen, der im Untergang des alten Adam den Sünder vor Gott rechtfertigt. Wenden wir uns dem zweiten Teil des Bußgeschehens zu, der confessio. Zwar galten auch hierfür die Bußpsalmen als exemplarische Texte, wie wahrhafte Sündenbekenntnis zu erfolgen habe, doch hat Fleming mit der Aufnahme des Gebets Manasses, das als geradezu vorbildliches confessio-Exempel aus dem Alten Testament galt,58 die Verwendung seiner ersten deutschsprachigen Publikation als privates Bußbüchlein noch verstärkt. Die confessio ist geprägt von einer Gerichtsmetaphorik, die das Sündenbekenntnis als accusatio sui im inneren Gerichtshof des Gewissens versteht.59 Im Gewissen stellt sich der Bekennende und Beichtende zugleich unmittelbar vor Gott. In der Paraphrase Flemings: Gott »erläßt ihm Straf’ und Schuld, der nur bekennet frei« (S. 5, V. 7). Im Gegensatz zum iudicium passivum, das Gott über den Menschen verhängt, stellt die confessio ein iudicium activum dar, in dem der Bekennende sich selbst richtet und straft.60 Fleming im Gebet Manasse: »Ich aber habe, Herr, vor dir gesündigt sehr, 56 57 58 59 60
Monteil (Anm. 46), S. 221. WA 3, S. 465, Z. 12f. (aus den Dicta super Psalterium von 1513–1516). In Luthers Schrift confitendi ratio von 1520 ist sie als mustergültig ans Ende des Textes gerückt. Vgl. WA 6, S. 169, Z. 18–37. Vgl. Reinhard Schwarz: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie. Berlin 1968, S. 228–258. Vgl. ebd., S. 200.
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[…] Ich muß gekrümmet gehen in schweren eisern Banden« (S. 15, V. 9–11). Das Gericht des Beters über sich selbst nimmt das göttliche Gericht vorweg, erübrigt es: »Ich spreche: Sihe Herr, das ist der Sünden Knecht! Alsbald vergiebst du mir und machest mich gerecht« (S. 5, V. 19f.). Gegenüber den Bildern von Krankheit und Selbstverlust der mortificatio bleibt Flemings poetische Gerichtsmetaphorik blass bis vorsichtig zurückhaltend, denn theologisch-orthodox galt: »Das Bußgeschehen ist […] kein richterliches Urteil, zumal Gott nach Luther nicht nur die Sünden vergibt, sondern auch die Strafen völlig erlässt, da der Sünder ja nichts ableisten oder sich von den Strafen freikaufen kann.«61 Confessio ist in erster Linie Selbstdemütigung (humiliatio) und Selbstverachtung. Fleming lässt den Beter fast wie noch Kleist »die Knie des Gemüts« (S. 15, V. 39) beugen, das Herz vor Gott neigen (im Hintergrund steht eine Formulierung aus der Vulgata). Er entleiht lediglich der Gerichtspraxis die Schuld-Metaphorik, wenn vom Durchstreichen der Handschrift (S. 5, V. 21; S. 14, V. 24) unter dem Schuldbekenntnis die Rede ist oder sich der Beter Gott als »Geisel« und Pfand gibt (S. 5, V. 18 u. 27). Dietrich von dem Werder lässt in seinem 51. Psalm dabei David als confessor deutlicher hervortreten und konkretisiert die Sünde: Urias/ den ich hab bleich todt ins Blut geleget Jn mir Furcht/ Schrecken/ Angst zu Tag vnd Nacht erreget Mich dünckt auff jeden Blick/ wie er erscheine mir/ Alsdann bild’ ich mir ein bey solcher SeelenPlage/ Wie mich an jedem Ort die gantze Welt anklage/ Da nirgend meine Schuld doch ist bekand/ als dir.62
Solch direkte Bezugnahmen auf David (die auch bei von dem Werder die Ausnahme bilden), findet sich bei Fleming stark zurückgenommen. In Psalm 51, der schon in der Überschrift unmittelbar auf Davids Ehebruch mit Bethseba anspielt und zu dem der König ja durch den Anblick der badenden Schönen verführt wurde, paraphrasiert Fleming in Umkehr der Badeszene: »du hast für meinen Kot bei dir das rechte Bad« (S. 7, V. 4) und »Du kanst alleine mir die rechte Lauge geben« (S. 8, V. 18). Auch hier macht der junge Autor und Pastorensohn seine Vertrautheit mit der reformatorischen Bußlehre kenntlich, hatte doch die lutherische Sakramentenlehre die confessio in der Beichte dem Sakrament der Taufe untergeordnet, ist Sündenvergebung nichts anderes als Erneuerung des Taufsakraments. »Es ergibt sich eine wesenhafte Gleichheit von Taufe und Beichte. Der Hauptunterschied liegt nur in der Unwiederholbarkeit der Taufe und der Wiederholbarkeit der Buße und Beichte.«63 Deutlich wird auch wiederum an der confessio-Paraphrasierung, 61
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Robert Lendi: Die Wandelbarkeit der Buße. Hermeneutische Prinzipien und Kriterien für eine heutige Theorie und Praxis der Buße und der Sakramente allgemein erhellt am Beispiel der Bußgeschichte. Bern/Frankfurt a. M./New York 1983 (Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII Theologie 218), S. 445. Werder (Anm. 17), S. 9 (Der LI. Psalm). Laurentius Klein: Evangelisch-lutherische Beichte. Lehre und Praxis. Paderborn 1961 (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien V), S. 59. Vgl. auch Jos E. Vercruysse: Schlüsselgewalt und Beichte bei Luther. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis
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dass der büßende Beter nicht anders denn als »transiliens«,64 als einer, der hinüberspringt, verstanden werden kann. Der Büßer erfährt eine Verwandlung an Geist und Gemüt (transmutatio mentis et affectus).65 Damit kann der Status des Büßers im Bußgeschehen nicht fixiert werden. Exemplarisch hat der wahrhaft Büßende das alte Ich hinter sich zu lassen und kann eine Verwandlung nur im Glauben an Gott erhoffen. Gemäß der paulinischen Theologie, die Luther in die Bußpsalmenexegese implementierte, erfährt das Selbst einen »Subjektwechsel«66 (vgl. Röm 8,9ff.; Gal 2,20). Der Psalmist der Bußpsalmen ist als Voraussetzung dieses angestrebten Subjektwechsels dabei sowohl sozial isoliert – ob als aus der Gruft Rufender oder in der Wüste Vereinsamter – als auch seiner Sinne beraubt (Tauber, Stummer), seiner Körperbeherrschung nicht mehr mächtig. Die Selbstthematisierung in den Bußpsalmen kann immer nur die Mangelhaftigkeit des Ichs konstatieren und seine prinzipielle Verwiesenheit auf das Göttliche, um in dieser Erneuerung erst zum wahrhaften Ich in Christus zu werden. Zweifelsohne bildet Gott den Skopus der Bußpsalmen. »Dass Gott und nicht die Menschen geehrt werde, darauf zielt letztlich die ganze Auslegung der Sieben Bußpsalmen«.67 Ob gerade am Schwellenzustand des Büßers, der sich als Umkehrender und auf Gott hin Erneuernder versteht, ein individuelles Selbst festgemacht werden kann – das der Büßer als defizient verwirft – wird hier bezweifelt. Nicht zuletzt erfährt sich der Psalmist ja zwischen Gott als dem »Printz der Ewigkeit« in seinem unwandelbaren Wesen und der eigenen körperlichen Vergänglichkeit im »ietzo«, das weder dem abgestorbenen Sündenkörper noch der Ewigkeit angehört. Die quälende Zeiterfahrung und Zeitbewusstwerdung in der Buße kann aber gar nicht anders denn als zu überwindend begriffen werden.68 Wenden wir uns Flemings Paraphrasen des neuen Menschen zu. Die Metaphorik, die Flemings Paraphrasen im Hinblick auf die vivificatio entwerfen, erscheint wiederum ambitioniert. Völlig losgelöst von Vulgata und Luther entfaltet Fleming zu Psalm 6 eine Gewittertheophanie: Mein Jammerseufzen hat die blaue Burg erreichet und ihren Prinz bewegt zu müssen gnädig sein. Das Wetter ist vorbei, nun hab’ ich Sonnenschein […]. (S. 4, V. 30–32)
64 65 66 67 68
1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Hg. v. Helmar Junghans. Bd. I. Göttingen 1983, S. 153–169, hier S. 164. So bezeichnet Luther den Psalmbeter und -sänger in einer Widmungsvorrede an Staupitz von 1518 (WA 1, S. 526, Z. 9). Vgl. Schwarz (Anm. 59), S. 300. Wiard Popkes: Wiedergeburt II. In: Theologische Realienenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller. Bd. 36. Berlin/New York 2004, S. 9–14, hier S. 11. Florin (Anm. 46), S. 53. Dies sei mit Verweis auf die traditionelle Verwendung der Bußpsalmen im katholischen Sakrament der Krankensalbung auf dem Sterbebett unterstrichen, der Priester betete hier zusammen mit den Angehörigen die Bußpsalmen, um den Sterbenden in die Ewigkeit zu begleiten. Vgl. Georg Langgartner: Bußpsalmen. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. II. München/Zürich 1983, Sp. 1153; ferner: László Dobszay: Art. Offizium. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Ludwig Fischer. Bd. 7. Kassel u. a. 21997, Sp. 593–609, hier Sp. 604–607.
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Finden sich zwar in anderen Psalmen Erscheinungen Gottes im Gewitter,69 Burg und Prinz können als konventionelle Psalmen-Bildfelder benannt werden, so sind diese doch nie internalisiert gedacht. Wie Heinz Kittsteiner gezeigt hat, besteht zwischen Gewittererfahrung und Gewissenserweckung in der Andachtsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts ein enger Zusammenhang.70 Bei Fleming wird der Ablauf eines Gewitters verinnerlicht und mit dem Bußgeschehen parallel gesetzt. Der Skopus des Psalms ist die Versöhnung mit Gott »als Freund«. Noch einen Schritt weiter geht Fleming in der Paraphrasierung zu Psalm 143: […] nach dir, Herr, durstet mich in diesem dürren Harme, wie ein entsaftet Land, das sich zum Himmel neigt, und der erzürnten Burg die tiefen Risse zeigt […]. (S. 13, V. 24–26).
Das sich dem verschlossenen Himmel entgegenneigende Land ist zugleich von tiefen Rissen gezeichnet. Die geradezu körperliche Öffnung des Psalmisten gegenüber dem zornigen Gott wird von Fleming auf das ganze Land übertragen. Charakteristischerweise und ganz der zeitgenössischen Bußtheologie entsprechend steht der neue Mensch und die Versöhnung mit Gott zwar als Zielpunkt der Bußpsalmen fest, das Bußgeschehen selbst kennt im Gegensatz zum institutionell fixierten Bußverfahren des Spätmittelalters und der katholischen Kirche keine feste Reihenfolge mehr. Buße, Verwandlung und neues Leben sind ineinander verwoben, die mortificatio carnis ist »täglich« (S. 3, V. 7) zu üben, wie Fleming im Widmungsgedicht konstatiert.
3. Fazit Setzt man die Rekonstruktion des Bußverständnisses in Flemings Paraphrasen abschließend noch einmal in Bezug zum poetischen Status des Textes, lassen sich folgende Punkte hervorheben: Die liturgisch ortlos gewordene Reihung der Bußpsalmen wird in der poetischen Lesefassung Flemings in die Verantwortung des Einzelnen übergeben. Mit Blick auf den Entstehungskontext des Leipziger Konvents gibt Fleming die Bußpsalmen nicht zuletzt als Bußwerkzeug in der Kriegssituation an die Hand. Insofern sind sie auch als Friedensdichtung lesbar.71 Ein wichtiger Punkt ist dabei die Vorstellung, dass sich in den Texten ein inneres Bußgeschehen abbildet. Formgeschichtlich ist der Griff zum Alexandriner daher nicht unplausibel, indem seine Möglichkeiten, Geschehen darzustellen, zum Tragen kommen. Im Modus des Alexandriners führt Fleming das Bußgeschehen prozessual vor, sei es, dass Psalm 38 von der contritio zur confessio führt, oder Psalm 51 von der von confessio über die Bitte um Erneuerung zur contritio. In 69 70 71
Vgl. Severin Grill: Die Gewittertheophanie im Alten Testament. Wien 21943, S. 21–24. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Darmstadt 21992, S. 31–65. 1631 ist zugleich das Publikationsjahr der Germaniae Exsulis Flemings.
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Franz Fromholzer / Jörg Wesche
dieser Richtung deutet Greenblatt auch die Bußpsalmen Wyatts als prozessuale poetische Entfaltung prinzipiell nicht unterscheidbarer innerer Zustände: The overreaching effect of the penitential psalms as poetry (insofar as they succeed at all) is to insist upon the interdependence of categories which, in ordinary discourse, have an illusory distinctness. The poems express a single, unified process which we may describe in religious terms as penitence or in psychological terms as loving submission to domination.72
Bereits Ende des 16. Jahrhunderts hatte Christoph Corner im Psalter »exempla omnis generis orationum«73 erkannt und die Psalmen als »illustria epigrammata«74 oder auch hervorragende Oden gedeutet, damit den Weg zur produktiven Aneignung im Sinne des sich erweiternden Regelkanons gewiesen.75 Bei Fleming wird der Unterschied zur sangbaren geistlichen Lyrik vollends deutlich. Denn die zu lesende »Verserzählung«76 erscheint als ausgezeichnetes Medium der Psychagogik. Typologisch rekurriert Fleming auf den meditierenden David (Ps 1,2)77 und nicht auf den nach wie vor dominierenden König als »Gottes Capellmeister und Sänger-Fürst«.78 Der geschlossene Textkorpus der Bußpsalmen erhielt im 16. und frühen 17. Jahrhundert vor allem auf dem Gebiet der musikalischen Komposition seine Bedeutung. Allein aus der Zeit von 1564 bis 1615 sind 19 Vertonungen bekannt.79 Hatte die Vertonung der Bußpsalmen für den Komponisten immer die mu72 73
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Greenblatt (Anm. 33), S. 126. Christoph Corner: Psalterium latinum Davidis Prophetae et regis cum familiari et pia expositione, ac brevi notatione artificii Rhetorici pertinentis ad rationem inventionis, dispositionis et elocutionis. Leipzig 1578, fol. B 5v–B 6r. Ebd., S. 78. Vgl. hierzu Joachim Dyck: »König David, der liebliche Poet«. Die Konkurrenz zwischen Antike und Christentum im deutschen Barock. In: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Hg. v. Walter Dietrich u. Hubert Herkommer. Freiburg i. Br./ Stuttgart 2003, S. 795–807, hier S. 804f. So die treffende Zuschreibung im VD 17 (online unter http://gso.gbv.de/DB=1.28/SET=1/ TTL=1/SHW?FRST=1). »Nun gilt David traditionell als Typus des meditierenden Frommen, ebenso wie Psalm 1,2 eine Kernstelle zur Betonung der Pflicht täglicher Meditation ist.« Udo Sträter: »Wie bringen wir den Kopff in das Hertz?«. Meditation in der Lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 2), S. 11–35, hier S. 27. Hier finden sich weitere einschlägige Belege zur Berufung auf David in der Meditationsliteratur aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Zur Bühnenkarriere des David poenitens auf dem Jesuitentheater vgl. Heinz Meyer: David poenitens als Exempelfigur des Jesuitentheaters. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hg. v. Nine Miedema u. Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 841–862. Zur Bandbreite des David-Bildes in Literatur und Drama vgl. Martin O’Kane: The Biblical King David and His Artistic and Literary Afterlives. In: Biblical Interpretation. A Journal of Contemporary Approaches 6 (1998), S. 313–347, sowie Gisela Urbanek: Die Gestalt König Davids in der deutschen dramatischen Dichtung. Untersuchungen zu den geistlichen Spielen des Mittelalters und zum Drama des 16. Jahrhunderts. Diss. Wien 1964, S. 9–31 u. 227–264. Gotthilf Treuer: Deutscher Dädalus/ Oder Poetisches Lexicon. 2 Bde. Berlin 1675. Bd. 1. Zit. n. Dyck (Anm. 75), S. 802. Vgl. Stefan Schulz: Die Tonarten in Lassos »Bußpsalmen« mit einem Vergleich von Alexander Utendals und Jacob Reiners »Bußpsalmen«. Neuhausen/Stuttgart 1984, S. 11f.; ferner:
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sikalische Umsetzung der Reuegefühle als Zielsetzung – Herzog Albrecht V. von Bayern etwa spricht lobend von der »schönen Mahlerei der Affekte«80 bei Orlando di Lasso –, wählt Fleming im geschehensdarstellenden Alexandriner einen poetischen Modus der Affektschilderung, der auf musikalische Unterstützung verzichtet. Entgegen der Vielstimmigkeit des Psalmisten im instrumentierten chorischen Gesang wird das Rollen-Ich im Bußgeschehen gewissermaßen in der Linearität der Schrift eingeebnet. Die Lektüresituation spiegelt dabei die soziale Isolation des Büßenden und zielt konsequent auf den Moment des Selbstverlusts hin. Nicht die Teilhabe im Chor der Gemeinde, sondern das gebetsartige Zwiegespräch des Einzelnen mit Gott bestimmt den Sprechgestus des Texts. Wiederkehrende Motive der Isolation sind dabei ebenso das Rufen aus der Tiefe wie das Versagen der Sinne, das Fleming als Weltentfremdung des Ichs amplifiziert. Fällt die Bußpsalmenbearbeitung zwar mit der kontroversen Aufnahme der frühpietistischen Positionen Johann Arndts zeitlich zusammen, so gibt es dennoch keine Anhaltspunkte dafür, Fleming für ein avanciertes, subjektiv-individuelles Bußverständnis in Anspruch zu nehmen.81 »In sich zu gehen und nach dem Gewissen zu leben, war eine starke Forderung des Protestantismus. Eine spezifische Individualisierung erfolgte damit aber nicht.«82 Erst mit den autobiographischen Notizen der Pietisten, die ihr Leben täglich minutiös bilanzierten, werden die ›objektiven‹ theologischen Deutungsmuster von Buße, Reue und Wiedergeburt mit individueller Erfahrung angereichert und sprachlich artikuliert. Vor dem Hintergrund der dargelegten Verbindungsmöglichkeiten zwischen Bußpraxis und poetischer Praxis ist Flemings Psalmen-Projekt schließlich doch spannender als man es wahrnimmt, wenn es nur im Windschatten der Textautorität Luthers oder der mit wirkungsmächtiger Instrumentierung lockenden Liedtradition gesehen wird. Allein die Affektbegeisterung, die der Text im Bußgeschehen poetisch entfaltet, setzt einen faszinierenden Gegenakzent zu jener stoischen Selbstbeherrschung, die das Bild des Autors weithin geprägt hat. Eindrucksvoll scheint dabei Flemings Versuch, sich um die medialen Chancen zu bemühen, die sich mit einer dezidierten Poetisierung der Bußpsalmen bieten. Hier behauptet sich ein junger Dichter mit opitzschem Rüstzeug nicht zuletzt gegen die Wirkungsmacht der Musik.
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Rüdiger Bartelmus: Die David-Psalmen in der Musikgeschichte. In: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Hg. v. Walter Dietrich u. Hubert Herkommer. Freiburg i. Br./Stuttgart 2003, S. 631–660, hier v. a. S. 640–649. Zit. n. Zywietz (Anm. 10), S. 97. Zu einer Inanspruchnahme Flemings für den Frühpietismus vgl. dagegen Anna Maria Carpi: Paul Fleming. Mailand 1973 (Collana di letteratura straniere 12), S. 16. Zu spiritualistischheterodoxen Bußauffassungen etwa bei Christian Hoburg vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3 Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 57–61. Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt a. M. 1997, S. 51.
Beate Hintzen
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens Zur Interferenz der Diskurse in Paul Flemings Dichtung Für einen Schalk
Dichter, von denen nur wenige Lebensdaten überliefert sind, haben es schwer. Sie sind hilflos dem Treiben von Wissenschaftlern und anderen Schreiberlingen ausgesetzt, die jede Ich-Aussage in Ermangelung anderer Daten als biographisches Zeugnis werten. Da Lyriker häufiger »ich« sagen, trifft es sie besonders hart. Klassische Beispiele hierfür sind in der Antike die Griechin Sappho und der Römer Catull. Beide haben das zweifelhafte Schicksal erlitten, dass aus ihren Dichtungen selbst in heutiger Zeit noch Romane, selbstverständlich Liebesromane, extrapoliert wurden.1 Besser ist es dem italianisierten Griechen Michele Marullo ergangen. Seine Gedichte sind in so offensichtlicher Auseinandersetzung vor allem mit antiker Literatur, u. a. mit Catull komponiert, dass sich die Diskrepanz zwischen lyrischem und empirischen Ich geradezu aufdrängt. Marullos Biographin Carol Kidwell begegnet dementsprechend dem Mangel an Daten mit einem anderen Extrem, indem sie den Lebenslauf des Dichters mit einer detaillierten Zeitgeschichte verknüpft.2 Fleming ist beides widerfahren. Wir besitzen ebenso einige Romane und Novellen3 wie Heinz Entners Biographie, die den Leser beispielsweise in aller Ausführlichkeit an der minutiös rekonstruierten Schlacht bei Breitenfeld (7./17. September 1631) teilnehmen lässt, obwohl Fleming nicht zu dem Kämpfern gezählt hat.4 Konstruieren nun die Roman-Autoren eine Figur Fleming in loser und mehr oder weniger fantasievoller fiktionaler Anknüpfung an überlieferte Fakten und Poesie und vereinnahmen sie nicht selten, um eine 1
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Z. B. Raven Wega (Anagramm für Eva Wagner): Der Nymphengarten. Ein Sappho-Roman, Münster: Book on Demand des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat, 2005; Cornelius Hartz: Excrucior. Mainz 2008. Carol Kidwell: Marullus. Soldier Poet of the Renaissance. London 1989. Eduard Boas: Paul Flemmings Reise nach Isphahan. In: Deutsche Dichter. Novellen. Berlin, Leipzig 1837, S. 99–236, wiederabgedruckt in: Literaturgeschichte im Salon. Bd. 3. Leipzig 1846, S. 167–237; Franz Theodor Wangenheim: Paul Fleming oder die Gesandtschaftsreise nach Persien. Historischer Roman. Leipzig 1842; Clara Gerhard, eigentlich C. Gerlach: Ein getreues Herz wissen. In: Dies.: Aus dem Herzensleben berühmter Dichter. Novellen und Skizzen. Halle 1911; Wilhelm Ernst Asbeck: Die Brücke nach Isphahan. Leipzig 1937; Kurt Arnold Findeisen: Der östliche Traum. Ein Roman von Freundschaft, Liebe und großer Fahrt. Leipzig 1940; Werner Legère: In allen meinen Taten. Ein Paul-Fleming-Roman. Berlin 1982; Uwe Berger: Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming. Berlin/Weimar 1983. Vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 250–255.
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Beate Hintzen
pädagogische Intention zu verfolgen, eine politische Ideologie zu übermitteln o. ä.,5 so sieht sich der moderne wissenschaftliche Biograph über die spärliche Datenlage hinaus mit dem Problem konfrontiert, dass der Autor selbst in Paratexten wie dem Widmungsbrief seines Liebesgedichtzyklus Suavia einen literarischen Fleming konstruiert und eine biographische Situation inszeniert, die nachweislich nicht den Tatsachen entspricht, aber die Rezeption der Gedichte maßgeblich gelenkt hat.6 Wie man nun in der Klassischen Philologie seit einiger Zeit damit beschäftigt ist, Catull vom Image des Erlebnis-Lyrikers zu befreien, indem man die Artifizialität seiner Dichtung ebenso offenlegt wie seine Verarbeitung von griechischer und lateinischer Vorgängerliteratur, beschreitet man für Fleming denselben Weg. So hat Jochen Schmidt in einer rezenten Studie gezeigt, wie die an die real fassbare Elsabe Niehusen gerichteten deutschen antipetrarkistischen Gedichte Ein getreues Hertze wissen und Es ist umsonst/ das klagen sich einer Verschmelzung und gegenseitigen Aufhebung und Entgrenzung des petrarkistischen Diskurses von Liebesunglück und Selbstverlust und des entgegengesetzten neostoizistischen Diskurses von Selbstfindung und constantia verdanken und wie die Themenkreise der Liebe und der constantia sich im Begriff der Treue zusammenschließen.7 Ich möchte nun eine ähnliche Richtung einschlagen, indem ich zu zeigen versuche, dass Flemings Diskurse der Liebe, der Freundschaft und des Glaubens mehr Identitäten und Interferenzen als Differenzen aufweisen, und dies sogar über die Grenzen zwischen lateinischer und deutscher Sprache hinweg, und sich überdies in hohem Maße aus dem Reservoir der Vorgängerliteratur speisen. Mit diesem intertextuellen Ansatz bin ich freilich weit davon entfernt, den Tod des Autors zu proklamieren. Denn das angestrebte Verfahren nimmt ihn schon insofern in den Blick, als es an ein biographisches Faktum anknüpft, das über äußere Daten und Zahlen hinausgeht, das aus den Texten zu gewinnen ist, über das wir aber sichere Aussagen machen können: Paul Fleming ist ein unglaublich eifriger Leser gewesen, und zwar der antiken lateinischen Literatur ebenso wie der zeitgenössischen. Diese Belesenheit wird leider durch ein Verzeichnis seiner in der Revaler Bibliothek aufbewahrten Bücher nicht einmal ansatzweise gespiegelt. Neben einigen medizinischen Werken sind dort nur Gedichtbücher von Johann Meursius, Conrad Bachmann, Salomon Codomann, Guillaume de Sallust Du Bartas (in lateinischer Übersetzung), Tobias Coberus und Caspar Cunradus 5
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Zu den in Anm. 3 genannten Romanen, ihrem Verhältnis zu Flemings Dichtung und Olearius’ Reisebericht sowie zur ideologischen Vereinnahmung der Fleming-Figur sowohl für die nationalsozialistische als auch für die kommunistische Ideologie vgl. Wilhelm Kühlmanns umfassenden Beitrag Erinnerung als Roman – Fleming in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in diesem Band. Zur literarischen Konstruktion eines Selbst in autobiographischen Texten der Frühen Neuzeit vgl. Karl Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin/New York 2008, S. 1–39. Vgl. Jochen Schmidt: Petrarkismus und Stoizismus. Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Hg. v. Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann. Berlin/ New York 2008, Bd. 1, S. 771–785.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens
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vermerkt sowie Sammlungen von parodiae Horatianae verschiedener Autoren.8 Wenn auch zu vermuten ist, dass er von den 16 zeitgenössischen Dichtern, die er im 13. Suavium aufzählt, einige wie z. B. George Buchanan nur flüchtig aus Sammlungen wie den Veneres Blyenburgicae gekannt hat, ist unschwer nachzuweisen, dass er die niederländischen Kuss-Dichter Janus Secundus, Janus Lernutius und Janus Dousa sorgfältig gelesen hat, außerdem Daniel Heinsius, den Franzosen Nicolas Bourbon, den hochverehrten Martin Opitz, dann John Owen, nicht zuletzt aber Julius Caesar Scaliger und den litauischen Jesuiten Maciej Kasimierz Sarbiewski. Von den antiken Autoren hat Fleming als Anhänger Caspar von Barths und Verehrer Dousas nicht nur die Klassiker Catull, Vergil, Horaz, Tibull, Properz und Ovid rezipiert sowie auch sicherlich einige Prosaiker, u. a. Cicero, sondern hatte eine spezielle Vorliebe für den archaischen Plautus und den Archaisten Apuleius. Viele Wörter, die er benutzt, sind nur bei Varro, Nonius, Festus und Paulus Diakonus zu finden oder aber in der Naturkunde des älteren Plinius. Außerdem kennt er die Kirchenschriftsteller genauso wie den Namenschristen Ausonius.9 Dies lässt sich nicht nur durch sprachliche und motivische Übernahmen belegen, sondern Fleming bekennt sich in deutlicher Abgrenzung vom universitären Ciceronianismus in einer Satura (Sylv. I, 4) besonders zum Sprachgebrauch des Plautus und Apuleius. Während also die Liebesgedichte aus Flemings Revaler Zeit ihren festen Sitz im Leben durch die Beziehung zur Familie Niehusen haben, auch wenn die Heirat der anscheinend angebeteten Elsabe mit einem anderen rätselhaft bleibt, konnte Rubella, die Adressatin der erwähnten Suavia, eines umfangreichen Zyklus von lateinischen Liebesgedichten aus der Studienzeit, nicht identifiziert werden und wird wohl auch nie identifiziert werden. Vielmehr handelt es sich wahrscheinlich um eine fiktive Geliebte, da in einem Autographen des Zyklus zwei Namen auftauchen, eben Rubella, der Name der poetischen Geliebten Bourbons, und Rosilla, der Name der poetischen Geliebten Dousas. Um jedoch auch dem Zyklus der Suavia einen Sitz im Leben zu geben, nahm Hans Pyritz in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Flemings Liebe zu einem unbekannten Mädchen aus der Ferne an, Heinz Entner interpretierte den Teil der Gedichte, die in besonderem Maße einer petrarkistischen Schmerzliebe verhaftet seien, als sublimierte Reaktion auf den Tod von Flemings engem älteren Studienfreund Georg Gloger, wobei er den erwähnten rezeptionssteuernden Aussagen des Dichters im Widmungsbrief Glauben schenkte, und versuchte überhaupt das Verhältnis der beiden geradezu als eine emotionale Abhängigkeit des jüngeren Fleming von dem älteren Gloger zu bestimmen. Abgesehen davon, dass Entner seine Argumentation teilweise auf ungenaue Paraphrasen lateinischer Gedichte aufbaut, im wesentlichen ohne Beachtung von Zwängen der Gattungskonventionen oder der Verwendung literarischer Topoi, steht und fällt seine Interpretation der Suavia mit Flemings 8 9
Vgl. Kyra Robert: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der estnischen Akademie der Wissenschaften. In: Daphnis 22 (1993), S. 27–37, hier S. 30–37. Zu Flemings Kenntnis und Imitation antiker Autoren vgl. Stephan Tropsch: Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung. Graz 1895 und Paul Rave: Paul Flemings Lateinische Lyrik. I. Teil: Technik der imitatio antiker Autoren. Diss. Heidelberg 1925.
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Beate Hintzen
Behauptung, ein Teil sei nach Glogers Tod im Oktober entstanden, – und fällt mit der Erkenntnis, die sich aus dem Autographen der Sammlung ergibt, dass Fleming nämlich offensichtlich nicht die Wahrheit gesagt hat und alle Gedichte bereits im September geschrieben waren.10 Außerdem ist unübersehbar, dass die Zahl der Freundschaftsgedichte, die Fleming zu Glogers Lebzeiten an ihn gerichtet hat, recht überschaubar ist, kleiner als die der Gedichte Glogers an Fleming, und dass Fleming erst nach dem Tod des Freundes beginnt, in extensiver Weise an und auf ihn zu dichten. Die lateinischen Gedichte aus diesem Umfeld sind im wesentlichen in den sieben Büchern der Manes Glogeriani versammelt und zum Großteil vor Flemings großer Reise entstanden. Natürlich stehen diese Manes in direkter Tradition von Scaligers Manes Catulliani und Heinsius’ Manes Scaligeri, Lipsiaci und Dousici, nur dass Fleming nicht wie Scaliger und Heinsius hoffen durfte, dass der Ruhmesglanz des verstorbenen Adressaten auf ihn abfärben würde. Vielmehr wäre Gloger ohne die poetische Verewigung sicherlich der damnatio memoriae anheimgefallen. Ich möchte nun einige Gedichte aus der Zeit vor der Reise analysieren, mehrheitlich lateinische und mehrheitlich Gedichte aus den Manes Glogeriani. Dabei sollte zunächst deutlich werden, dass das, was wie der unvermittelte Ausdruck von Gefühl und Erleben wirkt, sich manches Mal der geschickten Montage von Topoi verdankt und dass Entners Interpretation von Flemings Verhältnis zu seinem Studienfreund Gloger als quasi Liebesverhältnis – wie immer die Realität ausgesehen haben mag – erst einmal dadurch gestützt wird, dass diese Gedichte kaum ignorierbare diskursive Affinitäten zu eigener und zeitgenössischer Liebesdichtung zeigen. Abgesehen davon, dass diese These bereits ins Wanken gerät, wenn man die früh sich manifestierenden Ähnlichkeiten von religiösem und Liebesdiskurs berücksichtigt oder, dass bereits Catull den Begriff »amores« zur Bezeichnung von Freundschaft verwendet (38,6) und den freundschaftlichen Umgang mit Licinius, den er als »ocelle« (19) anredet, in carmen 50 in einer scherzhaften, doch deutlich erotisch konnotierten Art beschreibt, soll in der Zusammenfassung eine literarhistorische Deutung der Diskursverschmelzungen und -verschiebungen versucht werden. Damit ist der Übergang zu reiner trockener Philologie nicht mehr aufschiebbar. Zunächst einige kurze Bemerkungen zum antiken und christlichen Freundschaftsbegriff. Maßgeblich ist Aristoteles’ ausführliche Auseinandersetzung mit
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Vgl. Beate Czapla: Parentatio Adonidis. Edition und Interpretation eines bislang wenig beachteten Gedichtes von Paul Fleming. In: Neulateinisches Jahrbuch 4 (2002), S. 31–53, hier S. 34; dies.: Erlebnispoesie oder erlebte Poesie? Paul Flemings Suavia und die Tradition der zyklusbildenden lateinischen Kußgedichte [mit Edition und Übersetzung von Johannes Secundus, Basium I; Janus Douza, Carmen I. Genium Secundi invocat; Paul Fleming, Ad Genium I. Douzae Invocatio, Fabula Suaviorum; Janus Lernutius, Basium I; Albertus Eufrenius Georgiades, Ad Lectorem]. In: Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. 1. Arbeitsgespräch der Deutschen Neulateinischen Gesellschaft in Verbindung mit der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Hg. v. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tübingen 2003, S. 356–397, hier S. 368.
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der Freundschaft im achten und neunten Buch seiner Nikomachischen Ethik.11 Dort entwickelt er mit dem Konzept der vollkommenen Freundschaft, die nur zwischen guten und an Tugend sich ähnlichen Menschen möglich ist (8, 4), ein auf Gegenseitigkeit beruhendes aristokratisch-elitäres Freundschaftsverständnis und definiert den Freund als ein »zweites Selbst«, als ¥lloj aÙtÒj (9, 4, 1166a32).12 Dieses Konzept übernimmt Cicero im Laelius, und Seneca entwirft in ähnlicher Weise das Bild des selbstgenügsamen stoischen Weisen, der ohne auf irgendeinen Nutzen zu spekulieren, ohne Bedürfnis nach einem Freund, dennoch als menschliches Wesen zur Freundschaft geneigt ist (Ep 1, 9). Von Cicero wird der wahre Freund latinisiert zum is qui est tamquam alter idem (80), woraus der Topos des Alter Ego entstanden ist. Doch während Aristoteles das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe im Rahmen seiner Freundschaftstheorie als eine Art der Freundschaft (φιλία) bestimmt (8, 12, 1162a17–33), wird im Alten Testament die Freundschaft unter Männern, diejenige zwischen dem idealen Freundschaftspaar David und Jonathan,13 der Liebe zwischen Mann und Frau übergeordnet, da David diese Freundschaft mehr gilt als Frauenliebe: [D]oleo super te frater mi Jonathan decore nimis et amabilis super amorem mulierum [›Mir ist weh um dich, mein Bruder Jonathan, den ich wegen seines Anstands mehr liebte als die Liebe zu Frauen‹ (2 Sam 1,26)]. In offensichtlichem Anschluss an dieses Bibelzitat stellt auch Fleming seine Freundschaft zu dem toten Gloger über die Frauenliebe und charakterisiert die Liebe nicht nur in topischer Weise als Krankheit, sondern sogar mit den physiologischen Symptomen einer Verdauungsstörung: Manes Glogeriani IV, Desideria 32 Ad Virgines Non mihi vester Amor blandis arrisit ocellis, nec gratus poterat Cypridis esse favor. Quem Jonathaneo modo complexabar amore, Dulcior hic vobis omnibus unus erat. Hunc Charites junxere mihi, rapuere vicissim illeque post raptum durat Amoris amor. Durat et aeternis non immutabitur annis, prae quo putris erat nausea vester amor.14
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Zu Aspekten der Freundschaft in der paganen Antike vgl. Kurt Treu: Art. Freundschaft. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 8. Stuttgart 1972, Sp. 418–434, hier Sp. 418– 423, zur Bedeutung des Aristoteles vgl. Sp. 420. Diese Bedeutung wird nicht deutlich in den von Barbara Sturzenegger (Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming. Topoi der Freundschaftsdichtung im 17. Jahrhundert. Zürich 1997, S. 40–65) dargestellten Konzepten der Freundschaft. Zur Gegenseitigkeit im aristotelischen φιλία–Konzept vgl. Martha C. Nussbaum: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 22001, S. 354–361. Vgl. Treu (Anm. 11), Sp. 424. Zit. n. LG 256f. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band.
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Beate Hintzen
[An die jungen Mädchen Nicht fand eure Liebe mit schmeichelnden Augen mein Gefallen, nicht konnte mir die Gunst der Venus willkommen sein. Er, den ich mit der Liebe eines Jonathan umfing, war mir allein willkommener als ihr alle. (5) Ihn führten die Gratien mir zu und raubten ihn wieder, und diese Liebe überdauert nach dem Verlust der Liebe. Sie überdauert und wird sich in ewigen Jahren nicht wandeln. Im Vergleich zu ihr war die Liebe zu euch widerwärtige Übelkeit.15]
In einem zu Lebzeiten Glogers entstandenen, aber seinerzeit unpublizierten Gedicht benutzt Fleming den aristotelisch-ciceronischen Topos des Alter Ego: Alter ego, Glogere, mihi creberrimus audis, nec tamen es, fando proprius, alter ego. Nonné forent duo sic nostrûm, qui nolumus esse. Esse Duo nequeunt, quos alit unus amor.16 Alter ego, poteris tamen et mihi ritè vocari, Quom hanc mentem in mentem cerno migrasse17 tuam. Non tamen hac duplicor, nec tu duplicabere mente. Quos geminat praeter, nil nisi, schema duplex. Nec quoque schema potest nosmet disiungere binum.18 Mens unum ex duplici schemate schema facit.
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Putris nausea ist eine schwer wiederzugebende Junktur. In medizinischen Kontextes findet sich das Adjektiv puter im Zusammenhang mit faulendem Fleisch als putre ulcus ›eitriges Geschwür‹ (Celsus 5, 26, 33) oder vomicae putres ›faulige Eiterbeule‹ (Iuvenal 13, 95). Die Verbindung mit nausea erklärt vielleicht folgende Stelle bei Celsus (4, 12, 10): Supprimendus autem vomitus est, qui per se venit. Sed si nausia est aut si coacuit intus cibus aut computruit, quorum utrumlibet ructus ostendit, eiciendus est. [Spontanes Erbrechen sollte gestoppt werden. Aber wenn Übelkeit besteht oder Nahrung im Magen gesäuert hat oder gefault ist, was sich beides durch Rülpsen äußert, sollte sie ausgeworfen werden.] Putris nausea kann also als Übelkeit, die durch Gärungsprozesse im Magen entsteht, verstanden werden, sicherlich nicht als ›ranziger Ekel‹, wie Entner (Anm. 4, S. 280) vorschlägt. Die vorgeschlagene Übersetzung wird gestützt durch Flemings Übersetzung »fauler Sinn« für Scaligers Putris animus in Gütiger Jesu dein Verdienst (s. u. Anm. 33). Die Metapher der Liebeskrankheit ist hier jedenfalls auf eine recht unappetitliche Weise physiologisch beschrieben; zur Darstellung der Liebeskrankheit als epidemische Syphilis vgl. Jörg Roberts Beitrag Der Petrarkist als Pathologe – Bemerkungen zu Paul Flemings De lue Venerea in diesem Band. In der Handschrift stehen die beiden Pentameterhälften in umgekehrter Reihenfolge. Die hier befolgte Anordnung wird, wie auch an anderen Stellen des Manuskripts, durch die über die Vershälften geschriebenen Zahlen 1 und 2 angezeigt. Vgl. Marian R. Sperberg-McQueen: An Autograph Manuscript of Early Poems by Paul Fleming in the Ratsschulbibliothek in Zwickau. In: Humanistica Lovaniensia (1993), S. 402–450, hier S. 422. Für die Umstellung spricht die betonte Endstellung von »unus amor«, die derjenigen im letzen Vers entspricht. – Eine Edition und deutsche Übersetzung findet sich auch bei Tino Licht: Alter ego. Chiffre der Freundschaft bei Paul Fleming und Georg Gloger. In: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Hg. v. Boris Körkel, Tino Licht u. Jolanta Wiendlocha. Heidelberg 2001, S. 243–251, hier S. 247 mit einigen Textvarianten. Migrasse ist über die Zeile geschrieben, die ursprüngliche Fassung lautete »abijsse«. Vgl. Sperberg-McQueen (Anm. 16), S. 422; Licht (Anm. 16), S. 251, Anm. 24. Das letzte Wort des 9. Verses ist schlecht lesbar. Sicher ist nur die Endung -um. Ein d am Beginn ist zusammen mit einem oder mehreren folgenden Buchstaben durchgestrichen bzw. unleserlich durch einen Tintenfleck, bi- ist über die Zeile geschrieben. Vgl. Sperberg-McQueen (Anm. 16), S. 422.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens Unimur socii19 cognato glutine, cordis, Nil, quod nos unos inficietur,20 habes. Nolumus esse duo, nequibimus esse, Georgi, Hoc vetat ingenuum foedus, et istud amor. Nolumus esse duo, semperque manebimus unum, donec erit Phaethon21 unus, et unus Amor.22
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[Zweites Ich, Gloger, wirst du ganz oft von mir genannt, bist jedoch, genauer gesagt, kein zweites Ich. Wären nicht zwei von uns so, wie wir nicht sein wollen? Zwei können die nicht sein, die eine Liebe erhält. (5) Zweites Ich kannst Du dennoch mit Recht von mir genannt werden, da, wie ich sehe, meine Seele in deine übergetreten ist. Doch werde ich nicht zwei und auch du wirst nicht zwei durch meine Seele. Uns verdoppelt nichts als eine verdoppelte Gestalt. Aber auch eine zweifache Gestalt kann uns letztendlich nicht trennen. (10) Die Seele macht eine aus zwei Gestalten. Wir werden geeint durch die unauflösliche Bindung eines gemeinsamen Herzens, nichts kannst du sagen, was unsere Einheit in Frage stellt. Wir wollen und können nicht zwei sein, Georg, das zweite verhindert ein ehrliches Bündnis, das erste die Liebe. Wir wollen nicht zwei und werden immer eins sein, solange es eine Sonne gibt und eine Liebe.]
Dieses Gedicht wird getragen von der Antithese zwei und eins und dem Paradoxon, dass Fleming und Gloger zwar in zwei Gestalten sichtbar sind, jedoch als Einheit existieren. Das wesentliche Charakteristikum des antiken Freundschaftskonzeptes aber bildet die Ähnlichkeit, idealerweise die Identität der Freunde, nicht die Verschmelzung der Zweiheit zur Einheit. Eine Seelenverbindung finden wir immerhin zwischen David und Jonathan: [E]t factum est cum complesset [sc. David] loqui ad Saul anima Ionathan conligata est animae David et dilexit eum Ionathan quasi animam suam. [Es geschah, als David seine Unterredung mit Saul beendet hatte, dass sich die Seele Jonathans mit der Davids verband und Jonathan ihn liebgewann wie seine eigene Seele (1 Sam 18,1)]. Doch auch diese beiden bleiben zwei, selbst wenn Jonathan David liebt wie sich selbst.23 Das Übertreten einer Seele in die andere ist vielmehr ein aus dem berühmten pseudo-platonischen Seelenübergang (Anthologia Graeca 5, 78) entwickeltes und häufig – ernst- wie
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Die Handschrift zeigt socio als ursprünglichen Text, doch ist das o der Endung durch einen kräftigen senkrechten Strich korrigiert. Zu dieser schwer lesbaren Stelle vgl. Sperberg-McQueen (Anm. 16), S. 423 sowie ihre Übersetzung ebd. Die Lesart des Genetivs folgt üblichem lateinischem Sprachgebrauch der Poesie und schärft die Aussage des Gedichtes. Auch Sperberg-McQueen (Anm. 16, S. 423) und Licht (Anm. 16, S. 248 u. 251, Anm. 26) lesen »inficietur« für die zeittypische Variante zu »infitietur«. Entner (Anm. 4, S. 237) und Sperberg-McQueen (Anm. 16, S. 423) lesen – sicherlich korrekt – phaethon, Licht (Anm. 16, S. 248; vgl. auch S. 251, Anm. 27), »haether«. Der Text folgt der diplomatischen Wiedergabe bei Sperberg-McQueen (Anm. 16), S. 408, wurde aber an einer Kopie der Handschrift abgeglichen. Vgl. dementsprechend Thomas M. Krügers Auseinandersetzung mit dem Freundschaftsbegriff bei christlichen Autoren wie Augustinus, besonders aber Anselm von Canterbury (Persönlichkeitsausdruck und Persönlichkeitswahrnehmung im Zeitalter der Investiturkonflikte. Studien zu den Briefsammlungen des Anselm von Canterbury. Hildesheim 2002 (Spolia Berolinensia. Berliner Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit 22), S. 153–162).
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scherzhaft – variiertes Motiv der Liebesdichtung.24 Flemings ursprüngliche Formulierung »abijsse« statt des über die sechste Zeile geschriebenen »migrasse«25 steht sogar der Liebesdichtung insofern noch näher, als die Dichter häufig den Fortgang der eigenen Seele beklagen. Fleming hat das Motiv vor allem im dritten Suavium verwendet, wo er einen Seelentausch von Dichter-Ich und Geliebter zu einem Bild gegenseitiger Liebe gestaltet, während in diesem alter-ego-Gedicht nur vom üblichen Übergang der Seele des Dichter-Ichs in den anderen die Rede ist. Fraglich ist freilich, wie ernst es ihm mit dieser übersteigerten Deklination von Einheit und Zweiheit ist. Schließlich wird in acht Distichen die Einheit in nicht weniger als sieben Formen von »unus« bzw. »unire« exerziert (V. 4, 10, 11, 12, 15, 16 (2 x)), die Zweiheit durchaus variantenreicher in vier Wiederholungen von »duo« (V. 3, 4, 13 u. 15), in vier Formen von »duplex« bzw. »duplicare« (V. 7 (2 x), 8 u. 10) sowie je einmal mit »geminare« (V. 8) und »binum« (V. 9). Publiziert hat Fleming das Gedicht, wie gesagt, nicht. Es kann nur spekuliert werden, ob er es vergessen hatte, es ihm bei der Sammlung und Anordnung der lateinischen Gedichte nicht vorlag oder er es schlicht nicht für gelungen hielt. Eine assoziative Gedankenreihe in unmittelbarer Reaktion auf den Tod scheint das Epicedium auf Gloger im zweiten Buch der Poetischen Wälder zu bilden, tatsächlich aber hat Fleming Topoi verschiedener Provenienz wie z. B. die Metapher der Schiffs- oder Bootsfahrt für das eigene Leben montiert. Der Eindruck des Unmittelbaren wird u. a. dadurch erweckt, dass ein neuer Gedanke nie nach einem Verseinschnitt, sondern immer in der Versmitte angefügt wird (V. 5, 13, 25, 32 u. 41). Auch mehrere Motive der Liebesdichtung lassen sich ausmachen. Poetischer Wälder II. Buch Von Leichgedichten, 7. auf H. Georg Gloger Med. Cand. seliges Ableben 1631 October 16. O Liebster, was bedeutet das ungewohnte Röcheln, die Furcht der heißen Brust, der matten Lunge Fecheln, das so geschwinde keicht? Ach! wo, wo läßt du dich, dein’ Augen, deinen Mund, und was noch mehr, wo mich? mich, deinen andern Dich? So bistu nun geflogen, du schöne Seele du, und läßt unnachgezogen
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Z. B. Marullo, Epigramm 2, 4. In: Michaelis Marulli Carmina. Hg. v. Alessandro Perosa. Zürich [1951] (Thesaurus Mundi 3), S. 30f.; Secundus, Basia 10, 11–16; 13; Elegien 1, 3, 31– 36; 5, 85–90. In: Ioannis Secundi Hagiensis Opera. Nunc primum edita. Quorum catalogum proxima facies enumerabit. Cum Gratia et Privilegio Caesario. Traiecti Batavorum Harmannus Borculous excudebat Anno [MD]XLI, S. L5v, A5r, A57r–v; Dousa, Basia 10, 11f. u. 14. In: Iani Douzae a Noortwyck Poemata pleraque selecta. Petrus Scriverius Ex Auctoris schedis et liturariis magnam partem descripsit, sparsa collegit, ac iunctim edidit. Accedunt Iosephi Scaligeri, Iusti Lipsii, aliorumque ad Douzam Carmina. Lugduni Batavorum, Ex officina Thomae Basson. MDCIX, S. 590f. u. 596f.; Lernutius, Basia 1, 15–22. In: Iani Lernutii Initia, Basia, Ocelli, et alia Poëmata; Quorum seriem pagina proxima indicabit. Ab ipso auctore publicata. Lugduni Batavorum, Apud Ludovicum Elzevirium. MDCXIIII, S. 305; 4; 6, 41–48; 8; Heinsius, Erotopaegnium. In: Danielis Heinsii Poemata emendatis locis infinitis et aucta. Indicem singulorum aversa indicat pagina. Editio quarta. Lugd[uni] Batavorum Apud Joh[annem] Orlers et Joha[nnem] Maire [1613], S. 289f. S. o. Anm. 17.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens den Leib, dein schönes Kleid, das mit so schöner Pracht der Tugend war gestückt und sauber ausgemacht! Du Mund, den Venus selbst in ihre Nectar tauchet, und dem die Gratien ihr Holdsein eingehauchet, ihr Augen, die ihr mich durch euer freundlich Sehn zur Gegenliebe zwingt, nun ists um euch geschehn und auch um euren mich! Vor hab’ ich finden können noch meinen Landsmann, dich, du Labsal meiner Sinnen! Ein Freund zwar, hoff’ ich wol, mir anzutreffen ist: so einer nimmer mehr, wie du gewesen bist. An dir hab’ ich gehabt, ach! ach! Gehabt den Zeugen von meiner Poesie, wie sehr sie umzubeugen der hagre Neid erkühnt, wie schlimm er auf sie sieht! Durch dich verlacht’ ich ihn: du hubst mir das Gemüt’ ie mehr zum Ewigsein. Apollo war mir günstig, der Musicant’ und Arzt, weil du mich machtest brünstig zu seiner doppeln Kunst. Die freie Meditrin verweiste mich durch dich zu ihrem Tempel hin und hieß mich ihren Freund. Wo werd’ ich nun gelassen, weil du mich so verläßt? Wie auf den rauhen Gassen des bösen Oceans ein schwacher Nachen wankt, der keinen Bootsknecht hat, daß er den Port erlangt, schöpft Wasser, tauchet ein: also geht’s meinem Kahne, der nun Kunst holen soll. Ich bin auf wilder Bahne, mein Ruder ist entzwei, mein Anker bleibt im Stich’, im bodenlosen Grund’. O du mein selber ich! Mein Alles und mein Nichts, ach Liebster! war dein Name, der’s wohl auch bleiben wird, so lang’ ein Körnlein Same der Seelen in mir bleibt! Die Faust erstarret mir, die Tränen schwemmen aus die Dinte vom Papier’. Ich kan, ich kann nicht mehr! So nim doch hin, mein Leben, den Kuß, den letzten Kuß, den ohne Widergeben (ach wärs auch vor geschehn!) ich setz’ auf deinen Mund, auf deinen kalten Mund! Diß ist der letzte Bund: So bleib’ ich dir vermählt! So ewig Flemings Buhlen, die zarte Poesie, wird sein in Phöbus Schulen, so soll dein herzer Nam’ an allen Wänden stehn, und mit der Ewigkeit mein Gloger untergehn!26
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Zunächst einmal wird der tote Gloger äußerlich nicht in seiner Ganzheit wahrgenommen, sondern der üblichen Zergliederung der Geliebten entsprechend nur als Augen und Mund (V. 4–12), denjenigen Körperteilen, die in der Liebesdichtung eine herausragende Rolle spielen. Wie die Augen der Geliebten häufig der Ausgangspunkt der Liebe sind (Suavia 4, 22), erzwingen auch diejenigen Glogers Gegenliebe. Sein Mund ist durch Venus und die Gratien ausgezeichnet, was sicherlich als Metapher der poetischen Begabung zu lesen ist, doch ebenso an den Preis des Mundes der Geliebten erinnert, den das Dichter-Ich küssen möchte (z. B. Suavia 8, 24, 36). Wenn nun auch am Ende des Epicediums geküsst wird (V. 38–41), so steht dies zweifellos in der Tradition der antiken Sitte, einen vertrauten Menschen im Sterben zu küssen. Solch ein Kuss bedeutete Abschied und 26
TP 144f. (3. Buch, 11. Gedicht); PW II, 7.
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Trost, erklärt sich möglicherweise auch als Versuch einer Wiederbelebung.27 Es drängt sich aber überdies die Assoziation an Aphrodite auf, wie sie den toten Adonis küsst, der diesen Kuss wie Gloger nicht mehr erwidert. Dieser Kuss wurde im Hellenismus von Bion ausführlich in seinem Epitaphios auf Adonis gestaltet, ein im 16. und 17. Jahrhundert recht beliebter Text, der u. a. von Janus Dousa ins Lateinische übersetzt wurde. Dass Fleming Dousas Übersetzung gekannt und in seiner eigenen Parentatio Adonidis verarbeitet hat, ist mehr als wahrscheinlich.28 Eine ganz wörtliche Übersetzung aus der Liebesdichtung aber ist die Anrede des Verstorbenen in Vers 33 als »Mein Alles und mein Nichts«. Sie findet sich in der zweiten Pentameterhälfte des 20. Suavium. Suavium XX. Nil ego sum sine te, cum te mox omnia fio. ilicet es, mea Lux, omne nihilque meum.29 [20. Kuss Nichts bin ich ohne dich, mit dir bin ich gleich alles. Ohne Zweifel bist du, mein Licht, mein Alles und Nichts.]
Dieses antithetische Spiel mit omnia und nihil fand Fleming von Julius Caesar Scaliger vorgebildet,30 der besonders in seiner epigrammatischen Dichtung, und zwar hier wiederum insbesondere in der abschließenden Pointe häufiger eine derartige rhetorische Antithetik pflegt. Diese verwendet er in zwei aus der nach dem Namen seiner fiktiven Geliebten Thaumantia betitelten Liebesgedichtssammlung. Scaliger, Omnia fio et nihil sum. Si fugio quis me sequitur? si cedo, quis urget? Si fleo, quis caedit? si patior quis agit? Quin morior: neque sic scio, qui me interficit. ergo Omnia sit ne aliquis, fiat ut ille nihil?31
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Vgl. Cicero, In Verrem 2, 5, 118: postremum spiritum ore excipere; Vergil, Aeneis 4, 684f.: extremus si quis super halitus errat, ore legam; Seneca, ad Marciam 3,2: ultima … oscula … haurire; Klaus Thraede: Art. Kuß. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 22, Stuttgart 2007, Sp. 546–576, hier Sp. 256f. Opitz benutzt dieses Motiv in zwei seiner Leichenreden, in derjenigen für Barabara Agnes Schaffgotsch (1631) und derjenigen für Prinz Ulrich von Dänemark (1633). Vgl. Czapla: Parentatio (Anm. 10), S. 35f. LG 125. Vgl. Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963 (Palaestra 234), S. 62. Julius Caesar Scaliger: Iulii Caesaris Scaligeri viri clarissimi poemata in duas partes divisa. Pleraque omnia in publicum iam primum prodeunt: reliqua vero quam ante emendatius edita sint. Sophoclis Aiax Lorarius stylo Tragico à Iosepho Scaligero Iulij F. translatus. Eiusdem epigrammta quaedam, tam Graeca tum Latina, cum quibusdam è Graeco versis. Apud Petrum Santandreanum. M. D. XCI., S. 235.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens
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[Scaliger, ich werde alles und bin nichts. Wenn ich fliehe, wer verfolgt mich? Wenn ich weiche, wer bedrängt mich? Wenn ich weine, wer schlägt mich? Wenn ich leide, wer quält mich? Ja ich sterbe sogar, doch auch da weiß ich nicht, wer mich tötet. Damit also keiner alles ist, soll jener nichts sein?] Scaliger, Ab ea fio et omnia et nihil. Si mihi lauricomi es decus immortale furoris: Quique ex te numeros ambit, habetque suos: Quare vbi nostra oculis ardescunt lumina vestris, Muta precum primo limine lingua silet? Solvitur in tenues liquefactus spiritus auras: Atque abs te factus omnia, fio nihil?32
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[Scaliger, durch sie werde ich sowohl alles als auch nichts. Wenn du für mich der unsterbliche Ruhm poetischer Begeisterung bist, die von dir ausgehend ihre Verse sucht und gewinnt, weshalb schweigt dann, sobald meine Augen von den deinen Feuer fangen, meine Zunge stumm gleich zu Beginn meiner Bitten, entschwebt mein Geist dahingeschwunden in die lauen Lüfte und werde ich, nachdem ich durch dich alles wurde, ein Nichts?]
Die Junktur »mein Alles und Nichts« verbindet jedoch nicht nur Freundschaftsund Liebesdichtung, sondern findet auch Eingang in Flemings religiösen Diskurs. In dem deutschen Gedicht Andacht bildet sie eine Apostrophe des göttlichen Du.33 So möchte ich nun Epigramme vorstellen, in denen sich religiöses Sprechen, Liebessprache und Sprechen über und Erinnerung an den toten Freund verschlingen. Ausdruck religiösen Empfindens in der Sprache der Liebe ist freilich nicht Flemings Erfindung, sondern bereits Augustinus formulierte die Sehnsucht nach Gottesnähe in Worten sinnlichen Begehrens (Confessiones 10, 27: […] fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam. [›… du hast Duft verbreitet und ich habe ihn eingesogen und lechze nun nach dir, ich habe gekostet und hungere nun und dürste, du hast mich berührt, und ich bin entbrannt nach dem Frieden in dir.‹])34 In Flemings Zeit zeichnet sich besonders die Epigrammatik des Jesuiten Sarbiewski durch eben diese (neu-)platonisch getönte Verbindung aus.35 Schließlich wird die Verbindung schon durch die allegorische Auslegung des Hohelieds nahegelegt. Überdies sind die Sprache der Liebesdichtung, namentlich die petrarkistische, und die Sprache, der sich der christliche Mystizismus bedient, um die Unsagbarkeit und Unbeschreibbarkeit der Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott abzubilden, die 32 33
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Ebd., S. 239. PW I, 8, V. 13. In: TP 32, 1, 15, 13. In: PW I, 15. Das Gedicht Andacht folgt auf zwei Übersetzungen von lateinischen Gedichten Julius Caesar Scaligers (Gütiger Jesu dein Verdienst = Epidorpides, 6 Jesu bone tua merita; Der holdselige Name Jesus =, Epidorpides, 6 Jesu nomen dulcissimum. In: Iulii Caesaris Scaligeri Viri Clarissimi Poematum Pars altera. In bibliopolio Commeliano 1600, S. 232 u. 243). Vgl. Martha C. Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions. Cambridge 2003,, S. 528–531; nach Nussbaum (vgl. S. 547) unterscheiden sich überdies irdische/sinnliche und himmlische/christliche Liebe nur durch das Objekt (Geliebte[r] und Gott). Entner (Anm. 4, S. 572, Anm. 204f.) verzeichnete bereits eine Reihe von Gedichten, die sicherlich von Epigrammen Sarbiewskis inspiriert sind.
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unio mystica, durch die gleichen Mittel geprägt, vor allem durch Antithese und Paradox. Genauso benutzt Augustinus Antithese und Paradox, verstärkt durch Alliterationen, zur Beschreibung des quälenden Zwischenzustands zwischen seinem alten irdischen und seinem neuen Leben in Gott (Confessiones 10, 40: Hic esse valeo nec volo, illic volo nec valeo. [›Hier vermag ich zu leben, will es aber nicht, dort will ich leben, vermag es aber nicht.‹]) Das Paradox aber bildet die Basis des von Sarbiewski in seiner Lehre vom Epigramm vertretenen ingeniösen Konzeptualismus, dem acutum, der verblüffenden ›sinnreichen‹ Zusammenschau von (scheinbar) Dissonantem oder der concordia discors, der auch Fleming nacheifert.36 Im Sinne dieses Konzeptualismus finden wir immer wieder eine personifizierte göttliche Liebe, die alle Züge und Attribute des pagan-hellenistischen spielenden und kindlichen irdischen Eros/Amor trägt. Typisches Beispiel hierfür ist Sarbiewskis Epigramm 15 Ad omnia versatilis: Sarbievius, Epigr. 15 Ad omnia versatilis Castus Amor ramo commendat et arcum. Arma valete: novum me vocat, inquit, opus. Plena per aequales se straverat area campos, in glacie qualem Daedala fingit hiems. Hic Amor, adducto ludentis more flagello, ludendi locus est, sed trochus, inquit, abest. Eia, cor, huc prodi, clamo: cor prodit, et inde Dum putat esse trochum, cor mihi versat Amor.37
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[Für alles einsetzbar Die keusche Liebe hängt den Bogen an einen Ast und sagt: »Gehabt euch wohl, Waffen, mich ruft eine neue Aufgabe.« Ein perfekter Tummelplatz hatte sich über die ebenen Felder ausgebreitet, wie ihn der kunstreiche Winter in Eis bildet. (5) Wie ein Spieler nimmt die Liebe eine Peitsche und sagt: »Hier ist ein Platz zum Spielen, aber es fehlt ein Kreisel.« »Eh, Herz, komm hierher«, rufe ich. Das Herz kommt hervor und, weil sie es für einen Kreisel hält, lässt die Liebe das Herz sich mir drehen.]
In diesem Bild des Amor, der den Menschen nicht mit seinen Liebespfeilen verfolgt, sondern mit einer Peitsche einen Kreisel, das menschliche Herz, über eine glatte Eisfläche treibt, manifestiert sich ebenso die freiwillige Unterwerfung des Menschen unter den göttlichen Willen wie die schwindelerregende, ja ekstatisierende Macht der göttlichen Liebe. In einem Epigramm mit evidenten inhaltlichen und sprachlichen Analogien zu dem eben diskutierten Sarbiewskis lässt Fleming Gloger von der Liebe in seinem Herzen begraben.
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Vgl. Beate Czapla: Petrarkistischer Diskurs, christliche Mystik und die Umsetzung der eigenen acutum-Lehre in Sarbiewskis Aloysius-Epigrammen. In: Sarbiewski. Der polnische Horaz. Hg. v. Eckart Schäfer. Tübingen 2006, S. 177–193, hier S. 185–191. Maciej Kasimierz Sarbiewski: Matth. Casimiri Sarbievii Poemata omnia. Ad editiones optimas. Hg. v. Traugott Friedemann. Leipzig 1840, S. 266.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens
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Manes Glogeriani I Amores 19 Beati Glogeri Bustum Lustrat Amor totum, tamen uno nomine, mundum, (quid non omnipotens fingere possit Amor!) canniferam vacuo pharetram suspenderat unco proque suo palam tendine38 dextra tulit. Frigida dum gelidi juvenis tumulabimus ossa, di, monstrate locum, quo tumulemus, ait. Audiit et celeri mihi prosiliit cor hiatu. Dumque putaret humum, cor mihi fodit Amor.39
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[Des seligen Gloger Grab Die Liebe durchmustert, jedoch auf einmal, die ganze Welt (was könnte die allmächtige Liebe sich nicht vorstellen!), den pfeiltragenden Köcher hatte sie an einen freien Haken gehängt und anstelle ihres Bogens trug ihre Hand einen Spaten. (5) »Wenn wir die kalten Gebeine des toten Jünglings begraben, zeigt, Götter«, sagte sie, »den Ort, an dem wir ihn begraben sollen.« Das hörte mein Herz und sprang mir fort durch einen plötzlichen Spalt. Da die Liebe glaubte, den Boden aufzugraben, grub sie mein Herz auf.]
Zusätzlich zu der beschriebenen Amalgamierung des paganen Gottes der sinnlichen Liebe und der christlichen Gottesliebe kommt es insofern wiederum zu einer Verschmelzung der Liebes- und der Freundschaftsdichtung, als der Freund erneut an die Stelle der Geliebten tritt. Denn da Flemings Herz der Ort von Glogers Grab, gewissermaßen der liebenden Erinnerung wird, variiert dieses Epigramm das Motiv vom Bild der Geliebten im Herzen, das Fleming im 17. Suavium De Rubellae effigie verarbeitet hat und noch einmal in Poetische Wälder V, 6, wo er Heinsius’ Emblem Imaginem eius mecum gesto40 übersetzt.41 Die Behauptung, dass der Liebhaber ein deutliches und ähnliches Abbild des Geliebten in seiner Seele trägt, wird antik zwar schon in Xenophons Symposion (4, 21) aufgestellt, doch es ist ein Distichon des hellenistischen Dichters Meleager (Anthologia Graeca 5, 155), in dem ausdrücklich Eros im Herzen des Dichters ein lebendiges Bild der Geliebten Heliodora als Seele seiner Seele schafft. Häufig wird die skizzierte Amor-Figuration in der geistlichen Dichtung für Poetisierungen des Hohelied-Verses »Stark wie der Tod ist die Liebe« ausgebeutet, Tod und Liebe, mors und amor, mit gleichen oder zumindest ähnlichen
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Nach Hadrianus Junius (Nomenclator, omnium rerum propria nomina variis linguis explicata indicans. Antwerpen 1567 (ND Hildesheim 1976), S. 22b) ist »tendo« gleichbedeutend mit »corda« (›Sehne‹), d. h. hier wohl eine Metonymie für Bogen. Vgl. LG 539. LG 220. Emblema amatorium 5: Imaginem eius mecum gesto. In: Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1616. Hg. u. eingel. von Barbara Becker-Cantarino. Bern/Frankfurt a. M. 1983 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 13), S. 71. Vgl. TP 177; DG 1, 211; zum Verhältnis von Flemings Suavium 17 und Heinsius’ Emblem vgl. LG 521. Zur Übersetzung des Emblems in PW V, 6; vgl. DG 2, 726; Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster/Hamburg 1993 (Zeit und Text 1), S. 126f.
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Waffen ausgerüstet und mit Identitäten und Oppositionen gespielt.42 Auch hier bietet Sarbiewski ein typisches Beispiel: Sarbievius, Epigr. 34 Salom. Cant. 8,6 [fortis est ut mors dilectio] Mors et Amor gemini pugnant de laude triumphi, Mors pharetra, pharetra conspiciendus Amor. Mors ait, Expugno certis ego corpora telis: Expugno flammis pectora, dixit Amor. Maior, ait, mihi, Mors, victoria cedit Amore. At mihi maior, ait, gloria cedit, Amor. Tentarent et tela, pares nisi diceret esse Victor utroque deus, victus utroque deus.43
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[Hohelied 8,6 [Stark wie der Tod ist die Liebe] Tod und Liebe, die beiden kämpfen um den Siegesruhm. Den Tod sieht man mit dem Köcher, mit dem Köcher auch die Liebe. Der Tod sagte: »Ich erobere die Leiber mit sicher treffenden Geschossen.« »Ich erobere die Herzen durch Flammen«, sagte die Liebe. (5) »Ein bedeutenderer Sieg fiel mir zu als der Liebe«, sagte der Tod. »Nein, mir«, sagte die Liebe, »fiel ein bedeutenderer Sieg zu.« Sie schössen die Waffen auch ab, wenn nicht Gott sagte, dass sie gleichwertig seien, Gott, der Sieger über beide und von beiden Besiegte.]
Fleming schließt sich im folgenden Gedicht erneut lexikalisch und strukturell eng an Sarbiewski an, verbindet aber Religion und Freundschaft, indem er den Tod an sich zum Fiebertod des Gloger individualisiert, und lässt die Liebe über den Tod den Sieg davontragen. Die Konkretisierung des Todes bringt im Lateinischen den formalen Vorteil mit sich, dass Amor und Caldor, die ›Hitze‹, die an Stelle des gewöhnlichen febris für ›Fieber‹ benutzt wird, ein Homoioteleuton bilden. Manes Glogeriani I Amores 16 Beati Glogeri Febris Caldor Amorque paris certant de munere palmae, morbidus ille Calor, ille polaris Amor. Caldor ait: fixis expugno corpora flammis, expugno facibus corpora, reddit Amor. Plus, ait, evaleo vestris, Calor, acrior armis, perdit et ignitis cor juvenile globis. Ast ego plus, ait almus Amor, juvenem sublimans mentem ego, tu cineres corporis, inquit habes.44
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[Des seligen Gloger Fieber Hitze und Liebe streiten um den gleichen Siegespreis, jene tödliche Hitze, jene himmlische Liebe. Die Hitze sagt: »Ich erobere die Leiber durch Flammengeschosse.« »Ich erobere die Leiber durch Fackeln«, erwidert die Liebe. (5) »Ich vermag mehr«, sagt die Hitze, da ich heftiger bin als eure Waffen«, und vernichtet das Herz des Jünglings mit Feuerkugeln. »Aber 42
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Vgl. z. B. das Emblem De Morte et Amore (Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1978, Sp. 1581f.), in dem Tod und Liebe mit vertauschten Waffen kämpfen. Sarbiewski (Anm. 37), S. 272. LG 219.
Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens
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ich vermag mehr«, sagt die holde Liebe, »da ich die jugendliche Seele emporhebe. Du«, sagt sie, »hast die Asche des Körpers.«]
Mit den gleichen Mitteln der geistlichen Dichtung gestaltet und erneuert Fleming im Suavia-Zyklus den konventionellen Gegensatz der Liebesdichtung, den Gegensatz von Krieg und Liebe, Mars und Amor. Mars, ohnehin nur durch einen Buchstaben von mors unterschieden, steht für den Tod, Amor für das Leben. Außerdem gibt Fleming der Gegenüberstellung der beiden formal durch die Verwendung des etwas monoton leiernden Adoniers und refrainartige Wiederholungen ein meditativ-religiöses Gepräge: Suavium XLIII. Marspiter omni saevit in orbe; saevit in orbe Cypripor omni. Ille sarissis, iste sagittis, fulminis ambo igne potentes, ille tonitru, hic oculorum. Fare, Rubella, cui damus horum nomina nostra? Usque triumfat vulnere crudus ille mucronis; hic labiorum vulnere mitis usque triumfat. Fare, Rubella, cui damus horum nomina nostra? Trux scatet atra morte Gradivus: sorte Cupido dux fluit ampla. Mors ibi certa; heic mera vita. Fare, Rubella, cui damus horum nomina nostra? Anne Gradivo? Fare, Rubella!45
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[43. Kuss. Vater Mars wütet auf der ganzen Erde, auf der ganzen Erde wütet der Cyprissohn, (5) der eine mit Lanzen, der andere mit Pfeilen, beide mächtig durch das Feuer des Blitzes, der eine 45
Ebd., 135f.
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durch donnernden Blitz, (10) der andere durch den der Augen. Sage, Rubella, wem von den beiden sollen wir unsere Namen geben? Immer triumphiert (15) der eine blutig mit der Wunde des Schwertes. Mit der Wunde der Lippe triumphiert sanft immer der andere. (20) Sage, Rubella, wem von den beiden sollen wir unsere Namen geben? Der grausame Gradivus ist reich an grässlichem Tod. (25) Von herrlichem Leben fließt über der Führer Cupido. Dort ist sicherer Tod, hier aber reines Leben. Sage, Rubella, (30) wem von den beiden sollen wir unsere Namen geben? Doch nicht dem Gradivus? Sag’ es, Rubella!]
Ein letztes Gedicht lässt die gegenseitige Überlagerung der Diskurse von Liebe, Freundschaft und Glauben in besonderer Deutlichkeit aufscheinen. Schon in der Antike werden der Geliebten Gedichte als Blumensträuße oder -kränze überreicht. Diese Tradition wird in der Neuzeit mit zahlreichen Kränzen fortgeführt.46 Allein Flemings Suavia enthalten drei sogenannte Kranzgedichte (Suavia 12, 14, 32), aber auch dem toten Gloger widmet Fleming einen Kranz. Manes Glogeriani II Amores 12 Beati Glogeri Corona Fulvus inauratis qui splendet crinibus orbis, concolor et dominae flammat in igne comae, hunc tibi, flos juvenum, pietas pertexere jussit, nectit cum digitis gratia blanda suis. Carpsit Apollo rosas et fila dedere sorores, imposuit meritis jam Decor ipse comis. Flos ornamen erat juvenis, sed majus iisdem ornamen juvenis floribus ipse fuit.47
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[Des seligen Gloger Kranz Diesen goldenen Kranz, der auf goldfarbenem Haar glänzt und der gleichfarbig leuchtet im Feuer seines Besitzers, des Haares, den befahl, Blüte der Jugend, das Pflichtgefühl für dich zu binden, während das freundliche Einvernehmen ihn mit seinen Fingern flocht. (5) Apoll pflückte die Rosen und die Musen gaben die Fäden, schon setzte der Anstand ihn aufs Haar. Die Blume war Schmuck des Jünglings, aber größerer Schmuck war der Jüngling selbst für die Blumen.]
Ungewöhnlich ist die goldene Farbe des Kranzes, die eher an den Lorbeerkranz eines Dichters als einen Blumen-, speziell, wie es sich aus Vers 5 ergibt, einen Rosenkranz denken lässt. Wäre es nicht ungewöhnlich, dass die Gratien einen Kranz für die Geliebte flechten, übernehmen hier die personifizierten pietas und gratia diese Aufgabe. Dass Apoll und die Musen das Material liefern, lässt sich sowohl 46
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Die Metapher von Blumen für Gedichte lässt sich bereits aus den Bezeichnungen für Gedichtsammlungen als Blütenlesen, Florilegien oder Anthologien ablesen. In einem typischen Kranz- oder Blumengedicht wird üblicherweise der Geliebten ein Kranz oder eine einzelne Blume als Sinnbild ihrer Schönheit und gleichzeitig deren Vergänglichkeit überreicht, wie z. B. in Anthologia Graeca 5, 74; Borbonius, Ad puellam. In: Nicolaus Borbonius: Nicolai Borbonii Vandorperani Nvgae. Eivsdem Ferraria. Basileae per And. Cratandrvm, mense Septembri, Anno M. D. XXXIII., S. M5v; Girolamo Angeriano, Erotopaegnium 102, 138. In: Girolamo Angeriano: The Erotopaegnion. A Trifling Book of Love. Ed. and transl. with Commentary By Allan M. Wilson. Nieukoop 1995, S. 149, 179. LG 227.
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als Ausdruck dafür lesen, dass Gloger von Fleming ein poetischer Kranz gewunden wird, als auch als Anspielung auf Glogers eigenes poetisches Vermögen, wozu der goldene Kranz gut passt. Eine direkte Verbindung von diesem Kranzgedicht zu einem der Suavia lässt sich jedoch von dem letzten Distichon aus ziehen, in dem Fleming feststellt, dass Gloger eher dem Kranz zur Ehre dient als umgekehrt. Denn im 32. Suavium hatte er genau die gleiche Feststellung für den Rosenkranz einer Charis getroffen, und diese Verbindung erklärt auch die Herkunft der Rosen, die im Widerspruch zur goldenen Farbe des Kranzes stehen. Suavium XXXII. De serto Rubellae. Ex Sarbievio. Ipsa Corona rosa est Chariti? charis anné Coronae ipsa Rosa est? Charis est ipsa Corona Rosae.48 [32. Kuss: Über den Kranz der Rubella, aus dem Sarbiewski Ist nun wirklich der Kranz die Rose für die Charis? Oder ist tatsächlich die Charis für den Kranz die Rose? Die Charis selbst ist der Kranz für die Rose.]
Da Fleming selbst in der Überschrift den Hinweis auf sein Vorbild Sarbiewski gibt, lässt sich die Linie von der Dichtung auf den Freund über die Liebesdichtung leicht weiter zur religiösen Dichtung ziehen. Er hat nämlich nur ein Epigramm Sarbiewskis auf den Kranz des seinerzeit bereits selig gesprochenen Aloysius umgeschrieben und schlicht Sarbiewskis puer durch seine Charis ersetzt. Gloger, den Fleming in Manes Glogeriani I Amores, 20 De Symbolo Christenii, 7f.49 sogar seinen Jesus nennt, tritt damit auch an die Stelle des Aloysius, der für Sarbiewski als leidenende Christusfiguration das Medium für den Aufstieg zu Gott und zur eigenen Erlösung darstellt, wie es Dantes Geliebte Beatrice und Petrarcas Geliebte Laura jeweils für ihre Dichter waren. Sarbievius, Epigr. 45 De eodem serto Ipsa corona rosa est puero? Puer anne coronae Ipse rosa est? puer est ipse corona, rosae.50 [Über denselben Kranz Ist nun wirklich der Kranz die Rose für den Knaben? Oder ist tatsächlich der Knabe für den Kranz die Rose? Der Knabe ist selbst der Kranz – für die Rose.]
Von Sarbiewski wiederum lässt sich der Bogen zur Liebesdichtung zurückschlagen und damit der Kreis schließen, weil seinem lateinischen religiösen ein antikes griechisches, ein homoerotisches Gedicht zugrunde liegt.
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Ebd., S. 131. Vgl. LG 220. Sarbiewski (Anm. 37), S. 275. Zu Text, Übersetzung und Interpretation vgl. Czapla: Parentatio (Anm. 10), S. 44; Petrarkistischer Diskurs (Anm. 36), S. 185.
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Anthologia Graeca 5, 143: Τίς, ῥόδον ὁ στέφανος Διονυσίου ἢ ῥόδον αὐτὸς τοῦ στεφάνου; δοκέω, λείπεται ὁ στέφανος. [Wie ist es? Bildet der Kranz die Rose des Dionysios oder ist er selbst die Rose des Kranzes? Ich glaube, der Kranz wird besiegt.]
Für Paul Fleming lässt sich also auf den ersten Blick das berühmte ovidische quidquid temptabam mit einer Erweiterung geltend machen, dass ihm nämlich nicht nur alles zum Gedicht, sondern auch reichlich Vieles zum Liebesgedicht geriet. Genauer besehen aber scheint der petrarkistisch-platonische Diskurs, der sich für die Liebesdichtung mittlerweile abgenutzt hatte, in seiner ernsthaften Variante in die Freundschaftsdichtung, genauer gesagt in die Dichtung auf den toten Gloger, und in die religöse Dichtung verschoben. Hier ist die ursprüngliche Konstellation des Petrarkismus gegeben, dass das Dichter-Ich seiner Sehnsucht nach einem unerreichbaren oder nur in der Transzendenz erreichbaren Objekt Ausdruck verleiht. Diese Konzeption verleiht den Gedichten, namentlich dem deutschen Epicedium auf Gloger, ungeachtet ihrer starken Traditionsbindung natürlich ein erheblich emphatischeres Gepräge, als es Ralf Georg Bogner für zeitgenössische lyrische Nachrufe als typisch ausgemacht hat,51 und vermittelt den Eindruck einer tiefen persönlichen Betroffenheit des Autors. Umgekehrt wird die Liebesdichtung auf verschiedene, den Diskurs erweiternde Weisen antipetrakistisch. Dies kann durch Hyperbolik und Ironisierung geschehen, wie es hier nicht vorgeführt wurde. Als Beispiel für Hyperbolik aber kann das 37. Suavium dienen, in dem Fleming unter dem süßen Gesang seiner Göttin unmäßige Höllenqualen leidet und sich zur Beschreibung dieser Qualen obendrein einer auffälligen plautinischen Diktion bedient.52 Kaum ernsthaft kann z. B. auch das Spiel mit dem typischen Augenmotiv in dem deutschen Sonett Auf den Sonnenschirm (V. 4,83[48])53 gelesen werden, in dem die Funktion des Sonnenschirms der Geliebten abweichend von der üblichen, sie oder besser: ihren Teint vor der Sonne zu schützen bestimmt wird. Hier soll vielmehr zum einen die Sonne, zum anderen das Dichter-Ich vor dem Glanz der Geliebten geschützt werden.54 Ebenso antipetrarkistisch ist der optimistische Glaube an eine Verbindung bis ins hohe Alter, die freudige Erwartung einer Wiedervereinigung nach einer Trennung, der Preis der Treue u.ä., wobei sich diese Motive nicht nur einer Verschmelzung von Petrarkismus und Stoizismus verdanken müssen, sondern auch der Hochzeitsdichtung entlehnt sein können.
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Vgl. Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarrischen Memorialkultur von der Reformation bis zum Vormärz. Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 111), S. 155f. V. 7: »cruciabilitatibus« (Cistellaria 205); V. 8: »carnificina« (Cistellaria 203). Vgl. TP, 653; DG 1, 512. Zu diesem Gedicht vgl. ausführlich den Beitrag Thomas Borgstedts in diesem Band.
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Anhang Flemings Lyrik gehört nicht zum bekanntesten Teil deutscher Literatur, aber wenn ein einzelnes Gedicht Berühmtheit erlangt hat, so ist es sein deutsches KussGedicht Wie er wolle geküsset sein. Es fehlt in beinahe keiner Sammlung von Liebesgedichten, und, als der Hör-Conrady im Radio vorgestellt und jeden Morgen ein Gedicht aus dieser Lyrik-Anthologie präsentiert wurde, eröffnete man den Reigen mit diesem Text. Einige kurze Bemerkungen dazu möchte ich mir, obwohl dieses Liebesgedicht streng genommen nicht zu meinem Thema gehört, zum Abschluss nicht versagen, weil dieses Gedicht sich nicht nur Traditionen anschließt – um sich wieder von ihnen zu distanzieren –, sondern meines Erachtens auch auf ein bestimmtes zeitgenössisches Kuss-Epigramm Bezug nimmt. Wie Er wolle geküsset sein Nirgend hin, als auf den Mund: da sinkts in deß Herzen Grund; nicht zu frei, nicht zu gezwungen, nicht mit gar zu fauler Zungen. Nicht zu wenig, nicht zuviel: beides wird sonst Kinderspiel. Nicht zu laut und nicht zu leise: bei der Maß’ ist rechte Weise. Nicht zu nahe, nicht zu weit: diß macht Kummer, jenes Leid. Nicht zu trucken, nicht zu feuchte, wie Adonis Venus reichte. Nicht zu harte, nicht zu weich, bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, nicht ohn’ Unterscheid der Stelle. Halb gebissen, halb gehaucht, halb die Lippen eingetaucht, nicht ohn Unterscheid der Zeiten, mehr alleine denn bei Leuten. Küsse nun ein Iedermann, wie er weiß, will, soll, und kan. Ich nur und die Liebste wissen, wie wir uns recht sollen küssen.55
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Abgesehen davon, dass sich diese sechs Strophen der mittlerweile langen Kette von Kuss-Gedichten anreihen, verweisen sie einerseits über Thema und Vorschriftcharakter auf die ovidische Liebesdidaxe, andererseits durch die Beschreibung des Kusses zwischen Zuviel und Zuwenig auf die aristotelische Mitte. Mutet es nun ohnehin absurd an, das Küssen durch die eine Tätigkeit des Mundes, das Sprechen, zu theoretisieren, statt es – mündlich – zu praktizieren, amüsiert auch die Verbindung von erotischer Flirtschule und der Lehre ethischer 55
TP 535; DG 1, 406; Paul Fleming. In: Gedichte des Barock. Hg. v. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 56–70, hier S. 62f.
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mesotes. Dementsprechend lesen u. a. Wilhelm Kühlmann und Thorsten Unger die Kuss-Didaxe als vordergründig und scherzhaft und sehen sie in der letzten Strophe durch die Individualität des Kusses von Dichter-Ich und Geliebter konterkariert, mithin durch die Unmöglichkeit, den Kuss einer Vorschrift und überhaupt den Intimbereich der Liebe moralischen oder gesellschaftlichen Normen zu unterwerfen.56 Hingegen beschreibt Joachim Rickes eine ernsthafte Didaxe als seinen »unmittelbaren Lektüreeindruck« im staigerschen Sinne.57 Diesen sucht er durch eine philologische Analyse der letzten Strophe zu verifizieren, und zwar belegt er die »durchaus ernsthafte[n] Liebeslehre« mit dem das Wollen der Überschrift einschränkende »sollen« des letzten Verses,58 ohne zu erwägen, dass sich dieses »sollen« aus den Wünschen des jeweils anderen ergeben könnte. Diese Lehre nimmt, so Rickes, das Liebespaar von Konventionen und Normen ausdrücklich nicht aus, sondern bindet es in diese ein. Aus dem Beispiel von Venus und Adonis leitet er die Möglichkeit eines idealen Kusses ab, »der für Sterbliche bestenfalls annäherungsweise verwirklicht werden kann«.59 Rickes plädiert nun außerdem dagegen, das Nebeneinander unterschiedlicher Interpretationen zu tolerieren, und dafür, den auf Erkenntnisfortschritt zielenden Streit für die plausiblere Lesart zu führen.60 Dieser Aufforderung folgend möchte ich einen neuen zwar wohl überflüssigen, doch literaturgeschichtlich spannenden Beleg für die evidente scherzhafte Lesart liefern. Zunächst einmal aber vergisst Rickes, dass Adonis allzu sterblich ist. Dass überdies ausgerechnet die Liebesgöttin mit aristotelischer mesotes küsste,61 darf zumindest bezweifelt werden. Von dezidiert philologischem Interesse ist es natürlich, ob es ähnliche literarische Diskussionen von Kuss-Qualitäten gab, auf die Fleming hätte reagieren können. Kühlmann schlägt durchaus plausibel ein Epigramm des Paulus Silentiarius aus der Anthologia Graeca vor (5, 244 [243]),62 doch ist es nicht nötig, sich chronologisch in solche Ferne zu begeben. Denn genau die von Fleming gestellte Frage, »wie er wolle geküsset seyn«, hatte bereits der Niederländer Janus Dousa seiner Geliebten im 15. Basium beantwortet.
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Vgl. Wilhelm Kühlmann: Ausgeklammerte Askese. Zur Tradition heiterer erotischer Dichtung in Paul Flemings Kußgedicht. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 1: Renaisance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 177–186, hier S. 177–179; Thorsten Unger: Barocke Kußgedichte. Weltliche und geistliche Oskulologie bei Paul Fleming und Angelus Silesius. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 123 (2004), S. 183–205, hier S. 189–191. Joachim Rickes: Die Kunst des Küssens. Überlegungen zu Paul Flemings Gedicht »Wie er wolle geküsset seyn«. In: Übersetzung als Paradigma der Geistes- und Sozialwissenschaften. Hg. v. Vittoria Borsò u. Christine Schwarzer. Oberhausen 2006, S. 159–168, hier S. 161. Ebd., S. 166. Ebd., S. 162; vgl. Joachim Rickes: »Man wird mich nennen hören«. Gedanken über Zeit, Sterben und Küssen bei Paul Fleming. In: Wirkendes Wort 59 (2009), S. 177–187, hier S. 183. Vgl. Rickes (Anm. 57), S. 167. Der Verzicht auf Artikel in Vers 13 lässt die Subjekt-Objekt-Beziehung – wohl bewusst – offen. Da aber im Zweifel das Dichter-Ich von der Liebsten geküsst werden möchte, ist wahrscheinlich anzunehmen, dass Venus die Küssende, Adonis der Geküsste ist. Vgl. Kühlmann (Anm. 56), S. 181.
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Janus Dousa, Basium XV. Postquam nil aliud misero proponis amanti, pange mihi saltem, lux mea, basiolum. Quale velim, quaeris? Vdum, tremulumque, tenaxque, mellitum, et dulci murmure dulce sonans: quale pares rostro iungit mordente columbas: quale salax socio cortice concha capit: quale suo Veneris miscet Venus improba Marti: quale mihi demum tu dare sola potes. 63
5
[Janus Dousa, 15. Kuss Da du mir unglücklichen Liebenden nichts Weiteres in Aussicht stellst, gib mir wenigstens, mein Licht, ein Küsschen. Was für eins ich haben möchte, fragst du? Ein feuchtes, das mich erzittern lässt und mich festhält, ein honigsüßes und eines das süß klingt von wohligem Schnurren, eines, wie es Taubenpaare mit beißendem Schnabel vereint, wie es die liebestolle Muschel durch die Vereinigung der Schalen bekommt, wie es an Sinnlichkeit die unanständige Venus ihrem Mars gibt, wie es schließlich du allein mir geben kannst.]
Dousa fordert keinen Kuss der Mitte oder einen durch irgendwelche Normen eingeschränkten, sondern, wenn er schon mit einem Kuss abgespeist werden soll, einen Venuskuss von höchstmöglicher Sinnlichkeit, der bewusst an der Grenze des Übergangs zum Koitus angesiedelt ist und der wie bei Fleming durch die Geliebte bestimmt ist.64 Auch wenn in Flemings Gedicht die Liebste nicht als das angesprochene Du erscheint, liegt nahe, dass in Analogie zu dem Epigramm Dousas imaginiert werden soll, dass die Frage nach der Art des Kusses nicht von einem anonymen fictus interlocutor, sondern von der Liebsten gestellt wurde. Die Antwort verläuft in zwei Bögen von jeweils drei Strophen. Diese Bögen propagieren beide zunächst gegenüber dem Kuss der reinen Sinnlichkeit den der goldenen Mitte. Der erste Bogen endet mit dem ersten individuellen, doch mythischen und daher sicher fiktiven Kuss von Venus und Adonis. Auch wenn dieser Kuss sich weit harmloser ausnimmt als derjenige von Venus und Mars bei Dousa,65 stellt er 63 64
65
Dousa, Poemata (Anm. 24), S. 597. Vgl. Unger (Anm. 56, S. 186f. u. 194–196), der Flemings Wie er wolle geküsset sein auch vor dem Hintergrund des Schemas der quinque lineae amoris diskutiert und zu diesem Zweck in Beziehung zu Janus Secundus’ 1. Basium setzt. Während dort feuchte Küsse von Rosen der Venus die Küsse der Adonis ersetzten und der Kuss überhaupt – hier schließt sich Unger der These von Thomas Borgstedt (Kuß, Schoß und Altar. Zur Dialogizität und Geschichtlichkeit erotischer Dichtung (Giovanni Pontano, Joannes Secundus, Giambattista Marino und Christian Hoffmann von Hoffmanswaldau). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 75 = N.F. 44 (1994), S. 288–323, hier S. 295–301) an – als Maßnahme der Vermeidung, des Ersatzes der geschlechtlichen Vereinigung diene, wie in Secundus’ Zyklus explizit nur geküsst werde, verwiesen die ebenfalls feuchten, aber natürlich nicht zu feuchten Küsse des Adonis bei Fleming im Zusammenhang mit der expliziten Verlegung der Küsse in die Privatsphäre auf eine mögliche Fortsetzung des Liebesspiels. Diese Schlussfolgerung wird durch den Bezug Flemings auf Dousas Epigramm bestätigt. Aber auch in den Kuss-Gedichten des Secundus wird immer wieder mit der Möglichkeit des Übergangs zum Koitus gespielt (vgl. Czapla: Erlebnispoesie (Anm. 10), S. 365f.). Die Ersetzung des Kriegsgottes durch den sterblichen Jüngling Adonis mag mehrere Gründe haben. So gelten Venus und Adonis als das Liebespaar schlechthin, auch hätte die Verwen-
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doch schon die zuvor geforderte Mitte augenzwinkernd in Frage. In der letzten Strophe steht gegen die Norm der Mitte das Übereinkommen der individuellen Liebenden, welche die Art und Weise festlegen, die der Kuss haben soll, und allein um diese individuelle Art und Weise wissen. Die Didaxe des maßvollen Kusses, das vordergründige Nein zu Dousas Kuss, wird durch die Hintertüre zum Ja. Warum schließlich sollte Fleming, der sich in seinen lateinischen Kuss-Gedichten – wie erwähnt – auch als Optimist und Schalk präsentiert, plötzlich die Rolle des ernsthaften Liebeslehrers übernehmen wollen?
dung des einsilbigen Mars statt des dreisilbigen Adonis die Verwendung der Artikel gefordert und die Subjekt-Objekt-Beziehung eindeutig gemacht (s. o. Anm. 61).
Peter J. Burgard
Flemings verdrehte Osculo-Logik und die Ästhetik des Barock* Es geht ums Küssen. Genauer gesagt: um barockes Küssen, so wie wir es bei Paul Fleming vorfinden, und somit um das Barock selbst und um Fleming als barocken Dichter. Aber was heißt das, barocker Dichter? barocke Dichtung? überhaupt: barock? Hier umreiße ich meine Position zur Ästhetik des Barock, um dann die verdrehte Osculo-Logik von Flemings berühmtestem Kuss-Gedicht diskutieren zu können, wobei zu erkennen sein wird, dass letztere auch konstitutiv zur ersteren beiträgt. Mir geht es darum, das Barock unabhängig von nationalen und Medien-Grenzen zu erörtern. Zeigen möchte ich, was es mit dem Barock auf sich hat, das dem Terminus für das Verständnis sowohl italienischer, spanischer und flämischer Kunst als auch deutscher Literatur des langen 17. Jahrhunderts Aussagekraft verleiht. Meine Behauptung, klipp und klar: Das Barock ist zuallererst und vor allem ein ästhetisches Phänomen, das heftigst von der Renaissance abweicht und dessen Impuls in der Kritik am System liegt.1 Diese Kritik bestimmt Werke, die sonst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, etwa Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey, Caravaggios Ungläubigen Thomas, Gryphius’ Leo Armenius, Berninis Cornaro-Kapelle, Grimmelshausens Simplicissimus und die Asamkirche in München. Und auch Flemings Kuss-Gedicht. Damit die Subversion der Systematik, von der ich rede, besser zu erkennen ist, und weil das literarische Barock nicht von der Barockkunst abgesondert werden kann, wenn der Begriff Barock überhaupt noch Bedeutung und Nutzen haben soll – denn ohne diese Kunst gäbe es noch nicht einmal den Begriff –, werde ich als Erstes kurz die Architektur, Skulptur und Malerei der Renaissance und des Barock vergleichen. In einem zweiten Schritt, als spezifischere Vorbereitung auf die Lektüre von Flemings Gedicht und dessen Kritik am System, deute ich darauf hin, wie die Komponenten systematischen Denkens und Gestaltens, die in der Barockkunst in Frage gestellt werden, auch in einigen kanonischen Texten deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts unterminiert werden. Dann kann ich mich schließlich Fleming widmen. In einem der wesentlichen und wohl bekanntesten Werke der Renaissance, Leonardos Vitruvianischem Menschen, sehen wir nicht nur den Fokus dieses Zeitalters auf regelmäßige, unverzerrte Formen, sondern auch das Begehren, die Na* 1
Öffentlicher Abendvortrag am 24. September 2009 im Stadtmuseum Erlangen. Eine frühere, englische Version dieser Ausführungen zur Ästhetik des Barock, die dem ersten Kapitel meines in Vorbereitung befindlichen Buches Figures of Excess. Toward an Aesthetic of the Baroque entstammen, erschien als Teil eines Aufsatzes zum Buch von der deutschen Poeterey: Peter J. Burgard: The Poetics of Irony. Opitz and the (Un)Grounding of German Literature. In: History and Literature: Essays in Honor of Karl S. Guthke. Hg. v. William Donahue u. Scott Denham. Tübingen 2001, S. 47–71 u. 501–504.
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Peter J. Burgard
tur, in Form eines Menschen, und auch Kunst, in Form einer künstlerischen Wiedergabe des menschlichen Körpers, in ein System zu zwingen, das durch Grenzen, Zentrum und Kohärenz gekennzeichnet ist (Abb. 1). Solche Studien, und derer gibt es mehrere, zeigen den Willen, den menschlichen Körper als Beispiel des sogenannten Goldenen Schnitts zu verstehen, aber auch oft, wieviel Zwang ihm dabei angetan werden muss. Aufgrund solcher Systematisierungszwänge der Renaissance kann man dann in den drei Hauptkünsten die Kritik des Barock an der Renaissance erkennen. Wenden wir uns erst der Architektur zu, so zeigen uns die Grundrisse beliebig vieler Kirchen – man denke zum Beispiel an Bramantes Pläne für den Petersdom oder seinen Tempietto – sowie die vielen Studien von Alberti, Serlio und anderen, das Renaissance-Interesse an der perfekten Proportion, den insistenten Gebrauch von Kreisen und Quadraten (ein Faszinosum, dem wir auch bei den vitruvianischen Studien begegnen), das Bekenntnis zur Symmetrie und vor allem zur Idee des Zentrums, zur zentrierten Struktur.2 Wie diese abstrakten begrifflichen Grundlagen der Renaissance-Architektur dann in der Wirklichkeit aussehen, entdecken wir etwa bei Albertis San Sebastiano in Mantua. In dieser freistehenden Zentralplan-Kirche verwirklicht sich seine Theorie der Architektur, die in der Symmetrie und dem Prinzip der sich entsprechenden Breite und Höhe den Willen zur Kohärenz betont. Bei seiner Fassade von Santa Maria Novella in Florenz erkennen wir diesen Willen dann auch in der Kontinuität, die zwischen Fassade und Innenraum geschaffen wird, wo es keine Überraschungen beim Eintritt in die Kirche gibt, wo Fassade als Vorschau des Innenraums dient. Betrachten wir im Vergleich dazu eine barocke Fassade wie Borrominis San Carlo alle Quattro Fontane (Abb. 2), dann erleben wir eine radikale Abweichung von und, so behaupte ich, direkte Kritik an der Ausdrucksweise der Renaissance-Architektur. Hier finden wir eine Fassade vor, die auf eine Art mit ihrer Umgebung verschmilzt, die in der Renaissance nicht stattfindet und die die Abgrenzung der Struktur von angrenzenden abschwächt – sie integriert sich ja und wird damit Teil der vier Fontänen an den vier Straßenecken. Eine Fassade, die kopflastig ist, die beträchtlich höher als breit ist und die seltsame Kurven und rhythmische Undulationen aufweist, welche eine spielerische Subversion der flachen Fassaden der Renaissance darstellen. Diese Verschmelzung von Kurven, Falten und Wellen darf als Unterminierung jener Art von Klarheit angesehen werden, die die früheren Bauten an den Tag legen: Statt denen zu behagen, die an die Kirche herangehen, verwirrt sie sie.3 Diese Verwirrung gehört zum Wesen der Barockfassade, besonders in ihrem 2
3
Wegen der begrenzten Anzahl von Abbildungen, auch weil die Renaissance-Werke wohlbekannt sind, werden nach dem Vitruvianischen Menschen hier nur noch ausgewählte barocke Werke abgebildet. Die Funktion des Zentrums in systematischen Strukturen und Diskursen wird ausführlich erörtert bei: Jacques Derrida: Structure, Sign, and Play in the Discourse of the Human Sciences. In: Ders.: Writing and Difference. Chicago 1978, S. 278–293. Siehe auch Peter J. Burgard: Idioms of Uncertainty. Goethe and the Essay. University Park 1992. Die Kopflastigkeit scheint aus einer Erweiterung von Borrominis Entwurf durch seinen Neffen Bernardo resultiert zu haben. Siehe Joseph Connors: Un teorema sacro. San Carlo alle Quattro Fontane. In: Il giovane Borromini. Dagli esordi a San Carlo alle Quattro Fontane. Hg. v. Manuela Kahn-Rossi u. Marco Franciolli. Mailand 1999, S. 459–495.
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Abb. 1: Leonardo da Vinci: Der Vitruvianische Mensch (ca. 1490)
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Abb. 2: Francesco Borromini: San Carlo alle Quattro Fontane, Rom (1638–1641 u. 1665–1682)
Verhältnis zum Innenraum. Sie unterminiert, wie schon Deleuze argumentiert hat, die Klarheit in dieser Beziehung zwischen Außen und Innen.4 Das ergibt Desorientierung beim Betreten des Kirchinnenraums, eine Desorientierung, die auch die Wahrnehmung des Innenraums selbst kennzeichnet (Abb. 3). Denn außer dem Spiel mit versteckten Lichtquellen (eine gängige Art der wirklichen und auch figurativen Verdunkelung im Barock), konfrontiert uns Borromini mit wiederholten, beunruhigenden Linienverschiebungen und einer Orgie von Ovalen und unregelmäßigen Formen. Borrominis Grundriss zeigt die Verzerrung der Renaissancesystematik und deren üblicher Vereinigung von Leonardos durchschnei4
Gilles Deleuze: The Fold. Leibniz and the Baroque. Minneapolis 1993, S. 28–30.
Flemings verdrehte Osculo-Logik und die Ästhetik des Barock
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Abb. 3: Francesco Borromini: San Carlo alle Quattro Fontane, Rom Innenraum mit Blick in die Kuppel
denden perfekten Formen, Kreis und Quadrat, in einer runden, von vier Pfeilern im Viereck gestützten Kuppel – einem klar geordneten und leicht zu begreifenden Raum. Hier aber wird der Raum erst in ein für das Barock charakteristisches Oval verformt und dann weiter verzerrt, indem das Oval zusammengedrückt und gestreckt wird – eine deformierte Perle, wenn man so will. Solche Unterscheidungen von Renaissance und Barock gelten nicht nur für die Architektur, sondern für alle bildenden Künste. In dem klassischen Vergleich schlechthin, nämlich der David-Figuren Michelangelos und Berninis, stellen wir einen ähnlichen Wandel von statischen zu bewegten Formen fest. Michelangelos David steht uns in statischem Contrapposto gegenüber und scheint eine Verkörperung der klassischen winckelmannschen ›edlen Einfalt und stillen Größe‹ zu sein. Bei Berninis David hingegen (Abb. 4) haben wir es mit einem sich wendenden, handelnden Körper zu tun, auf der Höhe der Anspannung, unbalanciert,
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kurz vor dem Zerbersten. Jenes Werk vermittelt eine ruhige Sicherheit sowie die Zuversicht, dass die implizierte Handlung ihr Ziel – Davids Sieg – erreichen wird, während dieses seine Figur im Prozess des Handelns und ohne Gewissheit bezüglich des Ausgangs suspendiert.5 Soll Michelangelos Statue aus einer Perspektive betrachtet werden und konstruiert sie auf diese Weise eine recht unkomplizierte Relation zwischen Werk und Rezipienten, so muss Berninis David aus verschiedenen Winkeln wahrgenommen werden (pace Panofsky und Wittkower) und zwingt den Rezipienten, um ihn herum zu gehen und aus jeder neuen Perspektive auch ein neues Werk zu entdecken.6 Multiplikation der Perspektiven ergibt also Multiplikation der Identitäten, eine Unterminierung der Einheit und der singulären Identität. In Apollo und Daphne sollte Bernini dann, sowohl in der Themenwahl als auch in dessen Behandlung, diese Multiplikation der Identitäten und die dadurch instanziierte Nicht-Einheit und Nicht-Identität literalisieren. Müsste man ein einziges Gemälde aussuchen, vielleicht sogar ein einziges Werk überhaupt, das als Inbegriff der Renaissance-Kunst gelten könnte, so dürfte es Raffaels Schule von Athen sein. Dort erleben wir systematische Rationalität thematisch – die Philosophen, die sich um Plato und Aristoteles gruppieren – und formal: das offensichtliche Interesse an der richtigen Zentralperspektive, die klassische Architektur, die klar definierten Ebenen, die gleichmäßige Beleuchtung (gegenüber der tenebristischen Radikalität eines Caravaggio), die Klarheit der Komposition, das Gleichgewicht, die Harmonie, die relative Bewegungslosigkeit. Dieses Statische des Bildes wird sogar paradoxerweise durch die Figuren betont, die sich auf uns zu bewegen sollen, deren implizierte Bewegung aber seltsam bewegungslos erscheint. Sogar die zwei Figuren, die man als die Grenzen der klar definierten Ebenen überschreitend betrachten könnte – die halbliegende in Blau und die uns den Rücken zukehrende in Weiß –, betonen eher die Trennung der Ebenen, als dass sie deren Grenzen überschreiten. Als Kontrast dazu betrachte man ein barockes Gruppenbild, etwa Rubens’ Apotheose Heinrichs IV. und die Verkündigung der Regentschaft von Maria de’ Medici, das auch einen (allerdings subtilen) Halbkreis bildet und sogar annähernd Raffaels klassischen Bogen mit blauem Himmel zitiert, diesen aber nach rechts aus dem Zentrum rückt (Abb. 5). Die extremen und konkurrierenden diagonalen Kompositionslinien lassen den Eindruck von dramatischer, exzessiver, sogar chaotischer Bewegung entstehen, womit das Gemälde praktisch zu einer Verspottung jener Unbeweglichkeit und Ruhe, jener getrennten Ebenen der Renaissance-Malerei wird. Auf typisch barocke Weise meidet Rubens einen klaren Mittelpunkt, der das Werk strukturieren
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Siehe auch Giancarlo Maiorino: The Cornucopian Mind and the Baroque Unity of the Arts. University Park 1990, S. 84. Diese Deutung von Berninis David als multiperspektivisch bestreiten z. B. Erwin Panofsky: What is Baroque? In: Ders.: Three Essays on Style. Hg. v. Irving Lavin. Cambridge (MA) 1995, S. 45, und Rudolf Wittkower: Art and Architecture in Italy: 1600–1750. New Haven 5 1982, S. 152–155. Ein ausführlicheres Gegenargument befindet sich in Burgard: Figures of Excess (Anm. 1).
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Abb. 4: Gian Lorenzo Bernini: David (1623–1624)
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Abb. 5: Peter Paul Rubens: Apotheose Heinrichs IV. und Verkündigung der Regentschaft von Maria de’ Medici (1621–1625)
Abb. 6: Annibale Carracci: Deckenfresko in der Galleria Farnese, Palazzo Farnese, Rom Ausschnitt (1597–1600)
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und ihm die Kohärenz verleihen würde, die die zentralen Figuren in der Schule von Athen begründen. Ja, schon das doppelte Thema des Bildes führt zur Verdoppelung von dessen Zentrum und somit zur Dezentrierung. Diese unterstreicht Rubens mit dem leeren Harnisch in der Mitte, der aus der Präsenz eines vermuteten Zentrums eine Absenz macht. Damit hat man aber die Subversionen der Systematik in der Malerei des Barock noch längst nicht erschöpft, denn es geht dabei wie bei Berninis David auch um die Nichtidentität und deren Implikationen. Die extremen Grenzüberschreitungen im Trompe-l’Œil barocker Deckenfresken zum Beispiel bestehen in dem Versuch, alle Künste in die eigene, in die Malerei, einzubeziehen (Abb. 6). Statt damit aber eine Einheit zu bilden, wird die Selbstidentität der Malerei (und tendenziell auch die der einbezogenen Künste) in Frage gestellt.7 In den Decken sehen wir Malerei, Bilderrahmen, Architektur und Skulptur, aber in Wirklichkeit ist ja alles Malerei. Solche Gemälde schaffen Grenzen, indem sie die anderen Künste imitieren, aber weil alles Malerei ist, werden diese Grenzen überschritten und als Illusionen entlarvt. Die Kunst trügt hier, konzentriert sich auf die eigenen illusionistischen Fähigkeiten und unterminiert naturalistische Wahrheit in einem Fest des Exzesses. Eine Tour durch die subversive Barockkunst, auch eine sehr kurze wie diese, wäre zu abrupt zu Ende, würde man die vermeintlichen ›Gesamtkunstwerke‹ des Barock auslassen, die solche Grenzüberschreitungen und De-Identifizierungen im Dienste der Veruneinheitlichung vervielfachen. Im Ideal der Einheit fließen viele Aspekte des Systematischen zusammen, und jene ›Gesamtkunstwerke‹ werden gemeinhin als höchste Verwirklichungen der Einheit angesehen, nicht nur sakraler sondern auch und vor allem der der Künste. So verhält es sich mit Berninis Cornaro-Kapelle (Abb. 7). Die Cornaro-Kapelle mag den Betrachter auf kompositioneller Ebene im Glauben stärken, es handele sich um eine Einheit, denn die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten sind gefallen: Im Deckenfresko verschmelzen Malerei und Skulptur und überschreiten außerdem die Grenze sowohl zu den Reliefskulpturen als auch zum Fensterrahmen, ja zum Fenster selbst. In den perspektivischen Nischen an den Seiten der Kapelle ist Skulptur selbst zur Architektur geworden, und im Altarbild – mit den unmöglich wirkenden Falten vom Gewand Theresiens, mit dem Engel, der die Heilige mit nur Finger und Daumen emporhält, während beide Figuren auf einer Wolke schweben und Theresiens Fuß und Arm herunterhängen – ist Skulptur ins Malerische übergegangen. Zudem ist die Architektur des Altars, welchen Lavin »einen mit Giebel versehenen Altartabernakel« nennt, in der Undulation des Tabernakels ins Bildhauerische umgeschlagen. In der Verwendung schließlich von so vielen verschiedenen Marmorsorten, insgesamt 17 Farben, wirkt die Architektur malerisch. Diese Grenzüberschreitungen der einzelnen Künste scheinen eine Verschmelzung zur Einheit der Künste in der Kapelle herbeizuführen, die Kapelle in ein 7
Lavins Magnum Opus bemüht sich, das Gegenteil zu beweisen, nämlich dass sich das Werk Berninis, insbesondere die Cornaro-Kapelle, gerade darauf konzentriert, Einheit zustande zu bringen: Irving Lavin: Bernini and the Unity of the Visual Arts. 2 Bde. New York 1980, z. B. Bd. 1, S. 143–145.
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Abb. 7: Gian Lorenzo Bernini: Cornaro-Kapelle, Santa Maria della Vittoria, Rom (1647–1652)
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Abb. 8: Egid Quirin und Cosmas Damian Asam: St. Johann Nepomuk, München Innenraum (1733–1750)
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einheitliches Kunstwerk zu verwandeln. Dem ist aber nicht so. Denn schon im Zusammenschluss jeder einzelnen Kunst in andere begegnen uns Ungeschlossenheit und Devolution der Einheit. Bernini spielt auf subversive Weise mit unserem Verlangen nach Einheit. Beim Ineinanderfließen der Künste hört eigentlich eine jede Kunst auf, sie selbst zu sein. Ist also Malerei auch bildhauerisch und architektonisch, dann ist die Malerei nicht Malerei, nicht mit sich selbst identisch. Ist Skulptur malerisch, dann ist sie nicht als Skulptur mit sich selbst identisch. Ist schließlich Architektur bildhauerisch geworden, in diesem Fall sogar malerisch, so ist die Architektur nicht mehr bloß Architektur, sondern gleichzeitig etwas anderes. (Ich füge hier eine Abbildung vom Innenraum der Asamkirche St. Johann Nepomuk hinzu, damit man sehe, dass das, was hier von Berninis vermeintlichem Gesamtkunstwerk in Santa Maria della Vittoria behauptet wird, auch für das spätere süddeutsche Barock zutrifft (Abb. 8) – man mag den Vergleich nachvollziehen.8) Keine der drei Künste leidet bei Bernini oder bei den Asams an einem Mangel, der dadurch ergänzt werden könnte, dass man sie alle in der Kapelle oder Kirche zusammenbringt, wo sie einander etwa vervollständigen würden und man dann vielleicht von irgendeiner Art Einheit sprechen dürfte. Nein, jede der drei Künste ist hier, und dort, schon an sich mannigfaltig und komplex, durch Differenz gekennzeichnet, Differenz zu sich selbst. Ihr Zusammenkommen ergibt die Konglomeration von Mannigfaltigkeiten und Komplexitäten, die Anhäufung von Unterschiedlichkeiten. Triumphiert irgendetwas in der Cornaro-Kapelle, in formal-kompositioneller Hinsicht, dann ist es die Differenz, und solch grundlegende, endgültige Differenz schließt Einheit aus. Stets ist zu erkennen, wie Grundprinzipien der Renaissance-Kunst – Vollendung, Übereinstimmung, Folgerichtigkeit, Kohärenz, Ordnung, Klarheit, Deutlichkeit, Selbstidentität, Zentriertheit, Gewissheit, Geschlossenheit, Einheit – in der dynamisch bewegten, exzessiven und transgressiven Kunst des Barock untergraben werden. In einem breiteren historischen Zusammenhang betrachtet, dürfte diese Entwicklung unseren Erwartungen entweder ent- oder radikal widersprechen. Einerseits sollte sie nicht erstaunen, insofern als sie dicht auf den Fersen der Sprengung des geschlossenen ptolemäischen Systems durch die kopernikanische Revolution kommt und sich zeitlich mit Keplers Dezentrierung des wissenschaftlichen Weltbildes im Ersetzen des Kreises durch die Ellipse deckt.9 Andererseits fällt diese Subversion mit dem Anstieg des systematischen Denkens und dem Aufkommen des Diskurses vom System bei Descartes zusammen und ist in diesem Sinne höchst überraschend. Zu gerade jener Zeit also, als systematisches Denken und systematische Methode theoretisiert und als Grundlage der Philosophie und Wissenschaft etabliert werden, werden solches Denken und solche Methode in den Künsten und in der Literatur auf spielerische Weise unterminiert. 8 9
Siehe auch das Kapitel zu Bernini und der Asamkirche in Burgard: Figures of Excess (Anm. 1). Zu Kepler und zur Bedeutung der Ellipse siehe Arthur Koestler: The Sleepwalkers. A History of Man’s Changing Vision of the Universe. London 1964, S. 227–427, und das Kapitel Thinking the Ellipse in Fernand Hallyn: The Poetic Structure of the World. Copernicus and Kepler. New York 1993, S. 203–230.
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Am Anfang von Nicola Kaminskis Buch zum Ursprung der »Deutschen Poeterey« lesen wir, dass »keine Darstellung zur deutschen Barockliteratur den faktisch diskursivitätsbegründenden Status von Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey ernstlich in Abrede stellen [wird]«.10 Mir geht es auch um den Status von Opitz’ Poetik, aber was für einen Diskurs und was für eine Literatur begründet diese Poetik? Ich kann hier nur das Resultat meiner eigenen eingehenden Analyse vom Buch von der deutschen Poeterey und von einigen literarischen Werken der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts berichten, um anzudeuten, dass es sich wirklich um barocke Literatur handelt und zwar in dem Sinne, wie ich es eben in der Kunst aufgezeigt habe. Das Buch von der Deutschen Poeterey wird so gut wie universell als systematische Regelpoetik verstanden, von Borinski im 19. Jahrhundert über Drux, Steinhagen und Newman bis Robert im 21. Jahrhundert, bei dem es als »statisches und ideales System von Regeln« mit einem »unerreichte[n] Maß an Ordnung, Regularität und Systemkonformität« gilt.11 In diesem Regelsystem erkenne ich Opitz nicht wieder, denn was ich da sehe, ist die Ironisierung des gesamten Projekts einer systematischen Poetik.12 Opitz spricht wohl die Anliegen einer solchen Poetik an, doch in seiner Poetik wird auf Schritt und Tritt jede Tendenz zur Systematisierung durch die rhetorischen Strategien seines Textes Lügen gestraft. Die Poeterey ist höchst inkonsistent. Regeln werden in einem Atemzug aufgestellt und im nächsten gebrochen. Dichtungstypen werden kategorisiert, aber die Beispiele sprengen die Grenzen der Kategorien. An einer Stelle zeigt Opitz sogar, wie das Befolgen der Regeln zu poetischem Unsinn führt. Deren Willkür und Unbestimmtheit, also die Nichtidentität der Regeln als Regeln, betont er mit seinem fast zauberformelhaft wiederholten Ausdruck »wiewol auch«. Auch das Buch als Ganzes ist mit sich selbst nicht identisch, indem Opitz eine extreme Form der Intertextualität praktiziert. Es handelt sich nicht nur um die äußerst zahlreichen und teilweise überlangen Zitate aus Quellen, sondern auch um das verschwiegene Zitieren. Schon seine Ironie in der Behandlung der Regeln und Kategorien multipliziert, so wie Ironie dies unweigerlich tut, die Stimmen, mit denen er gleichzeitig spricht, und unterminiert so die Selbstidentität seiner Aussagen. Die Intertextualität aber multipliziert die Autoren der Poeterey, und zwar so, durch die Mischung von markiert und unmarkiert zitierten Passagen, dass nicht mehr unbedingt zu erkennen ist, wer schreibt. Die aus diesem Exzess an 10 11
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Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004, S. 10. Jörg Robert: Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik. Norm, Tradition und Kontinuität zwischen Aristarch und Buch von der Deutschen Poeterey. In: Euphorion 98 (2004), S. 281–322, hier S. 303 u. 306; Carl Borinski: Die Kunstlehre der Renaissance in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey. München 1883; Rudolf Drux: Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem. Bonn 1976; Harald Steinhagen: Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert. Versuch über die objektiven Bedingungen der Barockliteratur. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. dems. u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 9–48, hier S. 31; Jane O. Newman: Marriages of Convenience. Patterns of Alliance in Heidelberg Politics and Opitz’s Poetics. In: Modern Language Notes 100 (1985), S. 537–576, hier S. 567. Siehe Burgard: The Poetics of Irony (Anm. 1).
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Identitäten resultierende Nichtidentität und Uneinheitlichkeit des Textes impliziert die Nichtidentität und Uneinheitlichkeit des schreibenden Subjekts. Somit wird die scheinbare Systematik dieser Poetik untergraben: Das Buch von der Deutschen Poeterey entpuppt sich wider Erwarten als ironisch, regelbrechend, inkonsistent, unbestimmt, grenzüberschreitend, ungeschlossen, exzessiv … eben als barock. Haben wir die Entgründung des Systems bei Opitz erkannt, so sind wir in der Lage zu entdecken, wie seine ironisierte Poetik eine deutsche Barockliteratur ironisch begründete – wie etwa Gryphius, Hoffmannswaldau, Opitz selbst oder Fleming eher dem subversiv ironischen Beispiel der Poeterey folgten, als deren vorgebliche Regeln befolgten. Gryphius, Meister des Sonetts und der vanitas, d. h. der zentralen Form- und Themensystematik des Zeitalters schlechthin, war mehr als Meister, er war auch Kritiker des Gemeisterten. Das vanitas-Sonett, in dem alles schön in seinen Grenzen geschlossen bleibt – 14 Verse, zwei Vierzeiler und zwei Dreizeiler, regelmäßige Alexandriner und symmetrische Reimschemata –, soll Ordnung und Beständigkeit in eine von Krieg und Eitelkeit geprägte, verkehrte und vergängliche Welt bringen, den Exzess des Weltlichen und der Weltbesessenheit durch sein System eindämmen und konterkarieren. In einem seiner prominentesten Sonette jedoch, im letzten der Tageszeitensonette, untergräbt Gryphius jene formale Geschlossenheit und legt dabei die Vanitas der vanitas offen: Mitternacht. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
SChrecken / und Stille / und dunckeles Grausen / finstere Kälte bedecket das Land Itzt schläfft was Arbeit und Schmertzen ermüdet / diß sind der traurigen Einsamkeit Stunden. Nunmehr ist / was durch die Lüffte sich reget / nunmehr sind Menschen und Thire verschwunden. Ob zwar die immerdar schimmernde Lichter / der ewig schitternden Sternen entbrant! Suchet ein fleissiger Sinn noch zu wachen? der durch Bemühung der künstlichen Hand / Ihm / die auch nach uns ankommende Seelen / Ihm / die an itzt sich hir finden verbunden? Wetzet ein bluttiger Mörder die Klinge? wil er unschuldiger Hertzen verwunden? Sorget ein Ehren-begehrend Gemütte / wie zu erlangen ein höherer Stand? Sterbliche! Sterbliche! lasset diß dichten! Morgen! Ach Morgen! Ach muß man hinzihn! Ach wir verschwinden gleich als die Gespenste / die umb die Stund uns erscheinen und flihn. Wenn uns die finstere Gruben bedecket / wird / was wir wündschen und suchen zu nichte. Doch / wie der gläntzende Morgen eröffnet / was weder Monde noch Fackel bescheint: So / wenn der plötzliche Tag wird anbrechen / wird was geredet /gewürcket / gemeynt.
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Sonder vermänteln eröffnet sich finden vor des erschrecklichen GOttes Gerichte.13
Hätte ich hier die Zeilen nicht nummeriert, wäre es überhaupt sehr schwer zu erkennen, dass es sich bei Mitternacht um ein Sonett oder eine Art Sonett handelt. Nur die Anzahl der Zeilen und das das Gedicht in Vierzeiler und Dreizeiler strukturierende Reimschema verraten, vielleicht auch die Zäsuren, dass wir hier ein Sonett vor Augen haben. Es ist also ein Sonett, aber aufgrund des reinen Exzesses an Metrum (der unerhörte Oktameter statt des vorgeschriebenen Hexameters), aufgrund des Gebrauchs der verbotenen Daktylen und der fast unaussprechlichen Masse von Silben (21 bis 22 statt zwölf bis 13 pro Vers) ist es auch kein Sonett und daher mit sich selbst nicht identisch. Der systematische Rahmen der Sonettform ist da, aber der Rahmen, das System wird von innerhalb dieses Rahmens, in Versform und Versinhalt, gesprengt.14 Es ist auch ein vanitas-Gedicht, das von Vergänglichkeit, Eitelkeit und passend zur späten Stunde von Tod und Verzweiflung handelt, aber kein einfaches, sondern mindestens ein zweifaches und auch deshalb nicht selbstidentisch, denn es ist selbstreflexiv, indem es zusätzlich vom Schreiben der vanitas-Dichtung handelt – »Bemühung der künstlichen Hand«, »geredet«, »gemeint« –, einem Schreiben, das auch in den zwei Schlussversen als Eitelkeit enttarnt wird. Die Thematisierung des Dichtens mit der »Bemühung der künstlichen Hand« findet gerade dort statt, nämlich in Zeilen 5 und 6, wo diesem sonst unaufhaltsam galoppierenden Gedicht abrupt und gewaltsam die Zügel angezogen werden. Sie bringen das Gedicht gleichsam zum Stillstand, denn sie sind schier unlesbar.15 Unlesbarkeit ergibt Inkohärenz, Inkommensurabilität, Uneinheitlichkeit, Unklarheit, Ungewissheit und stellt, besonders wo Schreiben selbst das Thema ist, das System der Dichtung, das System der Sprache – der Syntax, der Grammatik – radikal in Frage. Systemsprengende Nichtidentität, ob im Thema, in der Komposition oder in beiden zugleich, finden wir immer wieder in der Dichtung der Zeit, auch in Dramen und Romanen – man denke bloß an das multiplizierte Ich, die vielen Identitäten des Simplicissimus, dessen Nichtidentität als Roman und als Person schon im Titelkupfer und auf dem Titelblatt antizipiert und inszeniert wird.16 Man kann es aber etwas schneller in Gedichten erkennen, etwa Hoffmannswaldaus Auff ihre schultern: Auff ihre schultern. Ist dieses schnee? nein / nein / schnee kan nicht flammen führen. Ist dieses helffenbein? bein weiß nicht weis zu seyn. Ist hier ein glatter schwan? mehr als der schwanen schein /
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Gedichte des Barock. Hg. v. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 119. Gryphius’ Die Hölle bietet eine viel offensichtlichere Subversion der Sonettform: Gedichte des Barock (Anm. 13), S. 122. Ich behaupte das hier, beweise es in Figures of Excess (Anm. 1). Siehe Peter J. Burgard: The Trouble with Saying I. Simplicissimus and Its Emblem. In: Daphnis 36 (2007), S. 565–592.
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Ist weiche woll allhier? wie kan sich wolle rühren? Ist alabaster hie? er wächst nicht bey saphiren / Ist hier ein liljen-feld? der acker ist zu rein. Was bist du endlich doch? weil schnee und helffenbein / Weil alabaster / schwan / und liljen sich verlieren. Du schaust nun Lesbie / wie mein geringer mund Vor deine schultern weiß kein rechtes wort zu finden / Doch daß ich nicht zu sehr darf häufen meine sünden / So macht ein kurtzer reim dir mein gemüthe kund: Muß Atlas und sein hals sich vor dem himmel biegen / So müssen götter nur auf deinen schultern liegen.17
Das Gedicht greift eine Tradition der Anwendung und gleichzeitigen Kritik des petrarkistischen Systems von Opitz’ Sonnet über die augen der Astree über Zesens Auf die Augen seiner Liben auf und treibt deren Kritik am petrarkistischen Formelschatz auf die Spitze, indem Hoffmannswaldau insistent dessen Metaphern (»schnee«, »helffenbein«, »schwan«, »woll«, »alabaster«, »liljen«) befragt und verwirft, sie für unpassend und unbrauchbar, implizit für abgegriffen, für tot erklärt. Durch die Befragung schafft er aber einen Raum der Differenz zwischen Metapher und angeblich richtiger Beschreibung »ihrer« Schultern, auch zwischen Metapher und Metapher (»schnee« und »flammen«, »alabaster« und »saphiren«): einen Raum, der die Metaphorik wiederbelebt, indem gerade die Nichtidentität, die allen Metaphern zugrundeliegen muss, an den Tag gelegt wird.18 In Ach Liebste / laß uns eilen widerspricht Opitz schon im zweiten Vers der Identität seines carpe-diem-Gedichts und verfasst seinen Text somit im Zeichen der Nichtidentität: Ach Liebste / laß uns eilen / Wir haben Zeit: Es schadet das verweilen Uns beyderseit. Der edlen Schönheit Gaben Fliehn fuß für fuß: Das alles was wir haben Verschwinden muß. Der Wangen Ziehr verbleichet / Das Haar wird greiß / Der Augen Fewer weichet / Die Brunst wird Eiß. Das Mündlein von Corallen Wird ungestalt / Die Händ’ als Schnee verfallen / Und du wirst alt. Drumb laß uns jetzt geniessen Der Jugend Frucht / Eh’ als wir folgen müssen Der Jahre Flucht. 17 18
Gedichte des Barock (Anm. 13), S. 279–280. Zu diesem Gedicht und Ach Liebste / laß uns eilen siehe Peter J. Burgard: Dead Metaphor Society? From Opitz to Hoffmannswaldau. In: Neophilologus 93 (2009), S. 295–310.
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Wo du dich selber liebest / So liebe mich / Gieb mir / das / wann du giebest / Verlier auch ich.19
Dieser radikale Widerspruch zum carpe diem, »Wir haben Zeit«, ist allseits als etwa »zunächst widersprüchlich scheinend«20 oder »vermeintliches Paradox«21 wegerklärt worden. Man will natürlich, dass alles schön zusammenpasst, man will System, aber das gibt es nicht immer, und erst recht nicht im Barock. Andernorts argumentiere ich, hier behaupte ich nur, dass nicht demonstriert werden kann, dass die Aussage »wir haben Zeit« irgendetwas anderes bedeutet als »wir haben Zeit«.22 Diese ›Zweiigkeit‹ führt Opitz in der poetischen Selbstreflexivität des Gedichts weiter, die die »fuß für fuß« fliehenden Gaben der Schönheit anzeigen. Danach ironisiert er leicht und spielerisch den Petrarkismus seiner Concetti in den Versen 9 bis 16, indem das lyrische Ich erst das Verschwinden von allem, »was wir haben«, beklagt, dies Verschwinden dann netterweise auf die Gaben der Liebsten allein einschränkt: »Und du wirst alt«! In den letzten vier Versen kommt das Gedicht zur Nichtidentität zurück und betont sie, indem so wie bei Gryphius und beim Widerspruch des zweiten Verses die Zügel angezogen werden. Hier müssen wir plötzlich anhalten, denn wir brauchen mehr Zeit zum Analysieren und Fassen, als uns die kurzen Verse lassen. Was aber dabei klar wird, ist, dass es um das Verschmelzen zweier Identitäten – »du« und »ich« – geht, so dass deren Selbstidentität, wie die der verschiedenen Künste in der Cornaro-Kapelle, verloren geht. Das passt zu diesen letzten vier Versen des Gedichts, weil sie ja nicht zum Gedicht selbst passen, außer darin, dass sie dessen mehrfache Inszenierung der Nichtidentität eindringlich wiederholen und bestätigen. Die »vollkommene Einheit von Inhalt, Form und Klang«, die dem Gedicht zugeschrieben worden ist, wird ihm spätestens hier endgültig abgesprochen.23 Auch Paul Fleming beschäftigte sich mit der Nichtidentität. Man denke an die Vervielfachung der Identität in der Selbstanrede von An sich – das lyrische Ich ist eine dritte und eine zweite Person, aber keine erste – oder an Auf ihr Abwesen, wo er die Devolution der Selbstidentität in jenen letzten Zeilen von Opitz gleichsam elaboriert und zum Exzess treibt: »Ich irrte hin und her und suchte mich in mir, | und wuste dieses nicht, daß ich ganz war in dir« am Anfang des Gedichts und dann am Ende – »Ich sei auch, wo ich sei, bin ich, Schatz, nicht bei dir, | so bin ich nimmermehr selbest in und bei mir«.24
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Gedichte des Barock (Anm. 13), S. 23. Wulf Segebrecht: Rede über die rechte Zeit zu lieben. Zu Opitz’ Gedicht »Ach Liebste / laß uns eilen«. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 137–147, hier S. 139. Ursula Friedrich: Liebesgedichte; online unter http://www.erlangerliste.de/barock/opitzgoe. html [Dezember 2011]. Siehe Anm. 18. Janice Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern 1973, S. 98. PW V, 18, V. 1 f. u. 9 f. – Siehe das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Siehe auch Gedichte des Barock (Anm. 13), S. 66.
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Über Systemzersetzung, Devolutionen der Identität und Exzess gelangen wir nun zu Flemings Wie er wolle geküsset sein: Wie er wolle geküsset sein. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Nirgends hin als auf den Mund: da sinkts in des Herzen Grund; nicht zu frei, nicht zu gezwungen nicht mit gar zu fauler Zungen. Nicht zu wenig, nicht zu viel: beides wird sonst Kinderspiel. Nicht zu laut und nicht zu leise: bei der Maß’ ist rechte Weise. Nicht zu nahe, nicht zu weit: diß macht Kummer, jenes Leid. Nicht zu trucken, nicht zu feuchte, wie Adonis Venus eichte. r Nicht zu harte, nicht zu weich, bald zugleich, bald nicht zugleich. Nicht zu langsam, nicht zu schnelle, nicht ohn’ Unterscheid der Stelle. Halb gebissen, halb gehaucht, halb die Lippen eingetaucht, nicht ohn’ Unterscheid der Zeiten, mehr alleine denn bei Leuten. Küsse nun ein Iederman, wie er weiß, will, soll und kan! Ich nur und die Liebste wissen, wie wir uns recht sollen küssen.25
Ein fröhliches Gedicht, ein leicht erotisches Gedicht, ein außerhalb der literaturhistorischen Kontextualisierung schwer ernstzunehmendes Gedicht. Aber, auch passend zur subversiven Verspieltheit des Barock, ein lyrisches Gegenstück zum Buch von der Deutschen Poeterey und ein weiterer Beweis für dessen Begründung einer deutschen Barockliteratur in der Entgründung des Systematischen. Eine Belanglosigkeit von Belang also. Während Opitz eine theoretische und praktische Anleitung zur Dichtkunst vorlegte, bietet Fleming eine theoretische und praktische Anleitung zur Kuss-Kunst, die schon im Titel die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Subsystem der Dichtung mit langer Tradition markiert. So wie Opitz eine systematische Poetik formuliert, nur um sie einer Kritik zu unterziehen, artikuliert Fleming ein System des Küssens bloß zwecks dessen Unterminierung. Wie er es unterminiert aber, ist der Rede wert. Es ist ein amüsantes Gedicht – nicht nur wegen seiner Fokussierung auf Genuss, den Genuss an der Beschreibung von Genuss und den Genuss, den der Leser bei dem Gedanken an sein oder ihr Küssen genießt (oder an die Aussicht auf dessen Verbesserung), sondern auch wegen seiner weniger offensichtlichen Exzesse und weil es sich über die eigenen Regeln, die eigene Struktur und das eigene scheinbar systematische Ideal lustig macht. 25
Oden V, 15. Siehe auch Gedichte des Barock (Anm. 13), S. 62 f.
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Es ist nicht gerade ein großes Geheimnis, dass nach fünf Strophen, in denen ausgeführt wird, wie »er« geküsst werden möchte, der Sprecher kehrtmacht und in der sechsten Strophe erklärt, jeder müsse für sich selbst entscheiden, wie er am liebsten geküsst wird, er habe nicht vor zu verraten, wie er und seine Liebste sich gerne küssen. Genügend Tinte ist darüber vergossen worden, diese offenkundige Schlussfolgerung zu ziehen, meines Wissens aber kaum über die dramatische Verschiebung bei den Pronomen und damit das Untergraben der Sprecheridentität in der letzten Strophe. Der Titel schreibt sie, diese Identität, emphatisch als »er« fest. Lesen wir das im Titel eines Gedichts, so nehmen wir automatisch an, dass diese dritte Person der Sprecher ist. In der sechsten Strophe jedoch entdecken wir, dass es die ganze Zeit doch nicht der Sprecher war, weil Vers 23 mit der emphatischen Einführung eines »Ich« beginnt, das dann der Sprecher sein und gewesen sein muss. Wir denken, dass wir entweder düpiert worden sind oder möglicherweise dass die systematischen Kuss-Anleitungen den Sprecher irgendwie dazu gebracht haben, sich davon distanzieren zu wollen. Zudem wird dieses »Ich« einem »Iederman« gegenübergestellt. Alle sollen also nach ihrem Gutdünken küssen, dem Sprecher ist das gleichgültig, denn nur er (oder »ich«…) und die Liebste wissen, wie sie sich recht sollen küssen. So unterscheidet sich das »Ich« von, gehört nicht etwa als exemplarisches Mitglied zu, der Kollektivität des »Iederman«.26 Man könnte das aber auch anders auffassen und behaupten, dass uns die sechste Strophe mit einer erheblichen Ambiguität konfrontiert, nicht mit der einfachen Zurückweisung der Kuss-Richtlinien, da wir, wenn wir die Strophe gelesen haben, nicht mehr wissen, ob die vorangehenden fünf Strophen anzeigen sollen, wie alle, d. h. »Iederman«, sich küssen dürften, wie sich der Sprecher und seine Geliebte küssen dürften oder keines von beiden. Es wäre ja auch berechtigt anzunehmen, dass der Sprecher die geäußerten Richtlinien als sein und seiner Geliebten exklusives Recht behauptet, eben nicht jedermann verfügbar. Wenn dem so ist, im Gegensatz zu einer Distanzierung des Sprechers von den Richtlinien, dann begegnet uns die Nichtidentität des Sprechers, denn dann ist er sowohl das »er« des Titels als auch das »Ich« des 23. Verses. Wir haben aber auch Grund zu der Annahme, dass die Richtlinien »Iederman« gelten, nicht nur dem Sprecher und seiner Geliebten: Das »Ich« ist auch nicht das »er« des Titels, insofern als letzteres im »er« des 22. Verses wiederholt wird; dieses »er« bezieht sich auf das »Iederman« des 21. Verses und setzt »Iederman« somit dem »er« des Titels gleich. Andererseits könnte man argumentieren, dass das »er« in Vers 22 das »Ich« mit dem »Iederman« über das »er« des Titels verbindet, welches man ja sowieso als Bezeichnung des Sprechers verstanden hat. Man könnte lange rings um diese möglichen Pronominalidentitäten herum diskutieren. Hauptsache ist, dass, egal wie wir es sehen, die letzte Strophe die ersten fünf nicht einfach negiert, sondern eine Ambiguität und Vervielfachung von Identitäten mit sich bringt, die die Selbstidentität des sprechenden Subjekts und damit die Selbstidentität, die Kohärenz, des vom Gedicht etablierten Systems radikal in Frage stellen. 26
Vgl. Thorsten Unger: Barocke Kussgedichte. Weltliche und geistliche Osculologie bei Paul Fleming und Angelus Silesius. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 183– 205, hier S. 192.
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Das Gedicht jedoch, obwohl es den Anschein einer Systematisierung des Küssens hat, führt so etwas eigentlich gar nicht auf zuverlässige Weise durch, so dass deren Preisgabe in der letzten Strophe und deren Subversion mittels der Devolution der Identität viel weniger eine Pointe am Ende des Gedichts sind, als dass sie das attestieren, was von Anfang an der Fall ist. Die erste Unregelmäßigkeit, die uns im Kuss-System auffällt, besteht darin, dass fast alle Regeln Nichtregeln sind, insofern als sie negativ ausgesprochen werden: Das Gedicht, das uns darüber aufklären sollte, »Wie er wolle geküsset sein«, konzentriert sich überwiegend darauf, wie er nicht wolle geküsset sein. Dieser eklatante Widerspruch zwischen Titel und Text neigt dazu, aus dem System einen Witz zu machen. »Nirgends hin als auf den Mund« (V. 1) ist die einzige wahrhaft unzweideutige Regel und erweckt als solche die Erwartung – eine Erwartung, die enttäuscht wird –, in den folgenden Ähnliches vorzufinden, obwohl mit solcher Keuschheit das Küssen auf den Mund einzuschränken in einem Gedicht überrascht, das sich als Teil einer bis Catull zurückreichenden Tradition der erotischen Dichtung präsentiert. Die Definition des regelgerechten Kusses wird hier als Differenz formuliert und konstituiert daher eine Nicht-Definition. Diese Differenz macht sich im wiederholten Ausdruck »nicht ohn’ Unterscheid« (V. 16 u. 19) besonders bemerkbar; auch bemerkenswert ist gleichsam die Allgemeinheit der Differenz, die sich als Differenz sowohl der Zeit als auch des Raumes behauptet. Unter den ex-negativo-Regeln, den Nicht-Definitionen, entdekken wir auch eine, die keiner Unterwerfung unter die Kontingenzen der Negation oder unter die Differenz bedarf, um sich selbst zu unterminieren: »Nicht zu nahe, nicht zu weit« (V. 9) ist als Definition des ordnungsgemäßen Kusses, ja überhaupt irgendeines Kusses, einfach sinnlos, denn ein Kuss kann dem oder der Geküssten nicht zu nahe kommen – Kontakt ist Kontakt – und sollte es zu weit weg sein, dann bliebe die Voraussetzung des Berührens unerfüllt und man würde gar nicht küssen (an Luftküsse ist hier wohl nicht gedacht…). Wenden wir uns den drei Fällen zu, in denen die Regeln positiv ausgedrückt werden (V. 14, 17f. u. 20), so stellen wir fest, dass die Äußerung entweder eine Anti-Regel ergibt, indem sie alles erlaubt, oder systematische Geschlossenheit und Vollkommenheit direkt in Frage stellt: »bald zugleich, bald nicht zugleich« heißt in einer x-beliebigen Aufeinanderfolge, denn zusammen und nicht zusammen, simultan und nicht simultan sind absolute Alternativen ohne Abstufungen, wie das der Fall bei den »nicht / nicht«-Paarungen ist. Das gleiche kann man von »mehr alleine denn bei Leuten« sagen: man ist entweder allein oder nicht, was »mehr« ausmacht, bleibt den Küssenden überlassen. Verse 17 und 18 schließlich zielen doch nicht auf »das rechte Maß«, wie behauptet worden ist,27 ganz im Gegenteil: Sie erzeugen, gerade in dieser antithetischen, zweiteilenden Textmasse, ein unmögliches Maß (d. h. Menge) – »Halb«, »halb« und »halb« macht drei Hälften! –, das die bloße Vorstellung des Maßes (d. h. Maßstab, Verhältnis) verspottet, sowie die systematische Geschlossenheit, die solches Maß begründen würde. Passenderweise bildet die Differenz in Versen 16 und 19 den Rahmen für diese Inszenierung des Exzesses. 27
Ebd., S. 191.
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Maß ist das Maß dieses Gedichts, der Grund seines mutmaßlichen Systems, sowohl in seiner, des Maßes, Bedeutung als auch in seiner Funktion im Regelgefüge des Gedichts. Es ist kein textexterner Maßstab, den der Leser setzt, sondern Objekt der einzigen ideologischen Behauptung des Gedichts und dessen maßgeblichste: »bei der Maß’ ist rechte weise« (V. 8). Mäßigung und die ausgeglichene Einschränkung auf Handeln innerhalb gesetzter Grenzen, die sie impliziert, militieren gegen Exzess, den grenzsprengenden Feind des Systems. Maß errichtet mit anderen Worten ein systematisches Ideal im Gedicht. Die Evokation von System intensiviert sich durch die Stellung von Maß im Zusammenhang eines jeden antithetischen Paares, denn es liegt nicht bloß irgendwo zwischen den inakzeptablen Extremen »zu frei … zu gezwungen«, »zu wenig … zu viel«, »zu laut … zu leise«, »zu nahe … zu weit«, »zu trucken … zu feuchte«, »zu harte … zu weich« und »zu langsam … zu schnelle«, sondern, indem es die »rechte Weise« sein muss, an der Stelle, wo die zwei Extreme ideal ausbalanciert sind, das heißt in der Mitte. Allerdings kommt diese den Exzess zu präkludierende Zentrierung eigentlich nie zur Geltung. Die »rechte Weise« des Maßes mag eine Fokussierung auf ein Zentrum beschreiben, indes erwähnt das Gedicht nie etwas Anderes als ein Zwischen-den-Extremen-Bleiben. Die durch die Negationen entstandenen antithetischen Paarungen beschreiben also doch ein Kontinuum, auf dem außer den zwei Endpunkten, den zwei Extremen, ein jeder Punkt als akzeptabel zu gelten hat. Maß als das angemessene, tugendhafte Gleichgewicht konstituiert letzten Endes nicht das systemgründende Zentrum, für das wir es zunächst gehalten haben mögen. Noch weniger, sollten wir »bei der Maß’« in Vers 8 anders lesen, und zwar als »beider Maß’«, wozu uns das »beides« des sechsten Verses ermutigt, sowie die recht ungeregelte Orthographie jener Zeit und die Tatsache, dass »bei« und »der« zusammen einen trochäischen Versfuß bilden und daher förmlich zusammengehören. »beider Maß’« oder sogar, verunapostrophiert, »beidermaßen« würde dann eben nicht die Mäßigung eines Zentrums oder des Gleichgewichts suggerieren, sondern geradezu Exzess instanziieren, indem »beidermaßen« beide Maße – »laut« und »leise«, aber auch implizit alle anderen – zulässt oder sogar verlangt. Das widerspricht den expliziten »nicht / nicht«-Verboten und untergräbt die Mäßigung, die ein jeweiliges Maß herbeiführen sollte. Auch in Abwesenheit eines Zentrums dürfte Maß noch immer systemerhaltenden Widerstand gegen Exzess zu leisten scheinen, doch macht es in Wirklichkeit auf sein eigenes Nichtvorhandensein aufmerksam. Denn obgleich es das Gesetz der Mäßigung verkündet, erweist sich das Gedicht selbst als Ausdruck und Aufführung des Exzesses. Am offensichtlichsten widerspricht die sechste Strophe der Regel der Mäßigung, die die ersten fünf aussprechen, und tut das überdies eben durch Exzess: thematisch, indem betont wird, dass alle, inklusive des Sprechers und seiner Liebsten, nach eigenem Gutdünken küssen dürfen, also nicht unbedingt (und nicht wahrscheinlich!) innerhalb der von den Regeln gesetzten Grenzen; formal, indem den verb-armen ersten fünf Strophen ein plötzlicher Exzess an Verben in der sechsten krass gegenübergestellt wird (acht insgesamt, alleine vier in V. 22). Die ersten fünf Strophen bestehen, außer den fünf kurzen Satzteilen, die durch Verben im Aktiv entstehen, aus elliptischen Wendungen, die
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ein Verzeichnis deskriptiver Richtlinien bilden. Mit ihren vielen Verben und zwei ganzen Sätzen unterstreicht die letzte Strophe dann ein Umschalten von einem deskriptiven auf einen diskursiven Modus, wo letzterer die ihm vorangehende systematische Beschreibung unterminiert. Die letzte Strophe unterminiert Maß schließlich auch dadurch, dass die Verkündung des Maß-Ideals zum Inhalt der ersten fünf, von der sechsten in Frage gestellten Strophen gehört. Wir wissen aber inzwischen schon, dass das System des Gedichts nicht nur in der Konfrontation mit dessen sechster Strophe, sondern auch in sich zu zerbröckeln begonnen hatte. Systemlähmende Wirkungen des Exzesses machen sich wiederholt bemerkbar. Das Gedicht ›sagt‹ Mäßigung, ›macht‹ indessen Exzess: den Exzess der Beschreibung und der Regeln, die in ihrer Aufdringlichkeit eine gewisse Freude oder Genuss seitens des Sprechers im Auflisten der verbotenen Extreme erkennen lassen. Die Zauberformelhaftigkeit seines wiederholten »nicht« suggeriert zudem Verleugnung, wo das ›Nein Nein Nein‹ eigentlich ›Ja Ja Ja‹ bedeutet. Man bedenke auch den fast unbegrenzten Exzess der möglichen Kussweisen, der nicht nur in der letzten Strophe zum Ausdruck kommt, sondern in all die möglichen Abstufungen und Schattierungen im Kontinuum zwischen den jeweiligen Extremen, den antithetischen Paarungen, eingeschrieben ist (auch in den emphatischen und wiederholten Aufruf zur Differenz, »nicht ohn’ Unterscheid«). An dieser Stelle dürften wir auch endlich einsehen, dass jene Extreme nicht wirklich Extreme im Sinne von Endpunkten eines Spektrums darstellen, denn wer sonst als jeder einzelne Liebhaber sollte in diesen Zusammenhängen entscheiden können, was »zu« bedeutet. Auch wenn wir darauf bestehen würden, dass in den ersten fünf Strophen der Sprecher entscheidet, was »zu« ausmacht, sagt er nie, was »zu frei«, »zu gezwungen«, »zu wenig«, »zu viel« usw. sei, und außerdem ist oder wäre irgendeine Bestimmung seinerseits notwendigerweise relativ. In die Grenzen selbst ist also die eigene potenzielle Überschreitung immer schon eingeschrieben. Die Grenzen selbst sind Figuren des Exzesses. Auf eine weitere Weise leistet das Gedicht Exzess, derweil es Mäßigung behauptet. Ich meine damit die Leidenschaft, die es nicht nur schildert, indem es das Küssen beschreibt und die von der Mäßigung vorgegebenen Grenzen übersteigt, sondern auch vorführt. Die Inszenierung der Leidenschaft ist in Flemings Gedicht eine Angelegenheit des Metrums und des Reims, denn wir dürfen wohl vom Aufruf zur Mäßigung eine Retardierung erwarten, werden aber stattdessen in einem schnellen Tempo fortbewegt. Das drückt die Leidenschaft aus, die die Mäßigung sonst zu dämpfen suchen sollte, und schafft das sowohl mittels der Trochäen, über die wir trippeln (einige Male stolpern statt trippeln wir, gleich mehr dazu), als auch der Reimpaare, die uns unaufhaltsam und ohne Möglichkeit der Rückkehr weiter treiben – aa bb cc dd ee usw. Hätte Fleming das vorgebliche Ideal der Mäßigung in Metrum und Reim widerspiegeln wollen, so hätte er ja schließlich ein jambisches Gedicht schreiben und dabei etwa Kreuzreim oder eben umarmenden Reim verwenden können. Das Metrum zeigt auch die Interaktion des sich küssenden Paars an, insofern als jede Strophe aus zwei Verspaaren besteht, einmal mit männlichen, einmal mit weiblichen Versen. Im Hin und Her zwischen männlichen und weiblichen Verspaaren setzt das Gedicht metrisch eben
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die Reziprozität im Kuss zwischen Mann und Frau in Szene, die die Schlusszeile mit den Worten »wir uns« formuliert. Dieses Aufschließen von Grenzen zwischen Mann und Frau ist in gewissem Sinne das eigentliche Fazit des Gedichts sowie die eigentliche Wirkung seiner thematischen und formalen Leidenschaft. Es hätte aber auch anders ausgehen können, denn zunächst scheint das Metrum eine systematische Hierarchie aufzustellen, genauer gesagt eine hierarchisch organisierte Opposition von männlichen und weiblichen Versen in jeder Strophe, wo die männlichen die privilegierte erste Position einnehmen. Wie bricht denn diese beständigste und konventionellste aller hierarchischen Organisationen zusammen, um dann wahre Reziprozität zu ermöglichen, ohne Privilegierung des oder der einen gegenüber der oder dem anderen? Im zwölften Vers, d. h. fast in der Mitte des Gedichts (bei einer geraden Anzahl von Versen und gleichlangen Strophen gibt es eben kein Zentrum, oder höchstens ein leeres), lesen wir, »wie Adonis Venus reichte«, und haben unsere Antwort. Hier können wir nämlich nicht feststellen, was Subjekt und was Objekt ist. Adonis könnte im Nominativ oder Dativ stehen, Venus aber auch. Es ist ja ein Gedicht, wo Metrum oft den Vorrang vor anderen sprachlichen Vorschriften oder Gewohnheiten hat. »wie Adonis Venus reichte« – die Reihenfolge nur metrisch erforderlich – leistet grammatikalisch die Reziprozität im Kuss zwischen Mann und Frau und antizipiert dadurch das »wir uns« des Schlussverses. Eine hierarchisch organisierte binäre Opposition wird also durch eine grammatikalische Unbestimmtheit wiedereingeschrieben, die den zuvor privilegierten Bestandteil der Opposition deprivilegiert, ohne die Opposition einfach auf den Kopf zu stellen und den zuvor unprivilegierten Bestandteil nun zu privilegieren. Insofern als Adonis Venus vorangeht, repliziert der Vers die männlich-weibliche metrische Struktur der Strophen, tut dies aber – in der durch dessen grammatikalische Unbestimmtheit bewirkten Enthierarchisierung – so, dass das metrische Verhältnis nichthierarchisch wird. War indessen diese Struktur überhaupt erst hierarchisch? Ist sie überhaupt eine Stuktur, in der weibliche Reimpaare auf männliche folgen? Weil das Metrum trochäisch ist, sind die männlichen Zeilen eigentlich diejenigen mit einer ungeraden Anzahl von Silben, wo die letzte Silbe fehlt und der Trochäus unterbrochen wird. Auch der schnelle Rhythmus des trochäischen Versmaßes wird unterbrochen (Maß leidet also schon wieder), weil diese Zeilen, obschon zu männlichen Versen passend, mit einer Hebung enden und direkt von einer Hebung am Anfang des nächsten Verses gefolgt sind, über die wir dann in den nächsten Vers eher stolpern als trippeln. Die weiblichen Zeilen andererseits enden mit der Senkung, die den Trochäus abschließt und diese Zeilen dem Gedicht metrisch angemessener macht als die männlichen. Konventionell sind es ja die weiblichen Verse, die die nicht ganz zum Metrum passende letzte Senkung aufweisen. Hier aber ist das nicht der Fall, was eine metrische Privilegierung des Männlichen in Zweifel zieht. In diesem Passen und Nichtpassen entlarvt sich die Konvention der männlichen und weiblichen Verse als eine Konvention der Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Die Konvention der nicht völlig passenden weiblichen Verse ist die des Jambus, besonders des Alexandriners in der deutschen Barockdichtung. In
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nahezu allen Erörterungen zum Metrum gilt als männlich die Zeile, die mit einer Hebung endet, als weiblich der Vers, der mit einer Senkung endet. Das reicht aber nicht ganz. Es basiert mindestens zum Teil auf der Konvention jambischen Metrums,28 so dass eine weitere Differenzierung männlicher und weiblicher Verse nahe liegt, nämlich das Kriterium der zusätzlichen Silbe für die weiblichen. Was passiert dann in einem trochäischen Gedicht wie diesem von Fleming, wo im zweiten Verspaar jeder Strophe die Zeilen mit einer Senkung enden? Diese Zeilen werden allseits für weiblich gehalten,29 die Annahme erweist sich jedoch als nachprüfungsbedürftig. In Wie er wolle geküsset sein weisen in der Tat die weiblichen Verse keine Extra-Silbe auf, sondern genau die richtige Anzahl von Silben, um das trochäische Versmaß vollkommen zu machen. Hinsichtlich der Vervollkommnung des Metrums also fungieren die weiblichen Verse – mit einer Senkung aber keiner zusätzlichen Silbe endend – eher als männliche. Freilich sind sie keine, wegen der Senkung, weibliche sind sie aber auch nicht gänzlich. Sie sind, wie es scheint, sowohl weiblich als auch männlich, oder weder noch, ebenso wie die ›männlichen‹, die mit einer Hebung enden aber eine Silbe zu wenig oder vielleicht sogar zu viel haben, sowohl männlich als auch weiblich oder keines von beiden sind – eine gewisse metrische Reziprozität. Fest steht aber, dass das Gedicht sein metrisches Potenzial im Dienste einer differenzierten Wiedereinschreibung der hierarchisch organisierten Opposition männlicher und weiblicher Verse einsetzt. Das Ergebnis lautet Nichtidentität der Verse, Nichtidentität des Versmaßes, Nichtidentität der Strophen, Nichtidentität des Gedichts selbst. In der problematischen Identität des lyrischen Ichs, in den als Nicht- oder Anti-Regeln aufgeführten Regeln, im leidenschaftlichen formalen und thematischen Sprengen der angeordneten Mäßigung, im formalen Exzess und in der Auflösung hierarchischer Struktur, einschließlich der vergeschlechtlichten metrischen Struktur seiner vermeintlich männlichen und weiblichen Verse, baut Flemings Gedicht auf dem diskursiven Fundament der opitzschen Poeterey, die aber eine selbstironisierende Grundlage ist. In nahezu jeder erdenklichen thematischen und formalen Hinsicht errichtet Flemings Kuss-Gedicht, so wie die Poeterey, anscheinend ein System, das es dann als unhaltbar bloßlegt und Stück für Stück zerlegt. Das kan ein Poëte!, um den Titelspruch dieses Symposiums zu zitieren. Das kann Fleming. Das kann ein barocker Dichter.
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Explizit wird das in verschiedenen Literaturlexika, z. B. M. H. Abrams/Geoffrey Galt Harpham: A Glossary of Literary Terms. Boston 82005, S. 170. Siehe z. B. Unger (Anm. 26), S. 189, und Wilhelm Kühlmann: Ausgeklammerte Askese. Zur Tradition heiterer erotischer Dichtung in Paul Flemings Kußgedicht. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1 (Anm. 20), S. 179 (Horst Joachim Frank – Handbuch der deutschen Strophenformen. München 1980 – zitierend).
Claudius Sittig
›Der Zeuge von meiner Poesie‹ Männlich-homosoziales Begehren in Paul Flemings Freundschaftsdichtung In einer lateinischen Elegie aus dem Sommer des Jahres 1631 hat der junge Paul Fleming seinem Leipziger Studienfreund Georg Gloger ein Versprechen gegeben: »So lange Fleming noch in der Gelehrtenwelt bekannt ist«, so heißt es dort, »werden die kommenden Zeiten Dich mir verbunden wissen.« (»Donec erit docto notus Flemingus in orbe, | te mihi coniunctum postera saecla scient.«)1 Und tatsächlich ist Gloger den Gelehrten durch seine Verbindung mit Fleming bis heute bekannt: als Verfasser einiger Gedichte, von denen der Freund eine Reihe zum Druck bringen wollte und wieder andere dem Korpus der eigenen Texte einverleibt hat.2 Mehr noch als derjenige, der den jungen Studenten Fleming mit der eben entstehenden deutschsprachigen Kunstdichtung bekannt gemacht und den Kontakt zu Martin Opitz hergestellt hat. Vor allem aber kennt man ihn – ganz so wie es die Verse der lateinischen Elegie versprechen – als Flemings Freund.3 Der beglückende Freundschaftsbund mit dem jungen Kommilitonen, um dessen Zuneigung Flemings Verse im Sommer des Jahres 1631 werben, war nur von kurzer Dauer. Er zerbrach jäh mit Glogers frühem Tod im folgenden Herbst, wenige Monate nach Entstehung der lateinischen Elegie. Abrupt wechselt der Ton in Flemings Gedichten vom euphorischen Jubel über den gefundenen Freund zur untröstlichen Klage über seinen unwiederbringlichen Verlust. In rascher Folge entsteht eine Flut von Texten, die wieder und wieder einen existenziellen Mangel artikulieren und zugleich ein unerfüllbares Begehren nach der verlorenen Nähe des Freundes. Die Arbeit an dieser Form der Totenmemoria beginnt unmittelbar nach Glogers Tod mit dem bekannten Epicedium Auf H. Georg Glogers, Med. Cand., seliges Ableben. Es nimmt seinen Ausgang von einer Beschreibung der physiologischen Symptome der tödlichen Krankheit, um anschließend in emphatischen Formulierungen nicht nur die geistigen Qualitäten des Verstorbenen zu loben, sondern auch in Anlehnung an die Regeln des petrarkistischen Schönheitspreises durch eine fragmentierende Blasonierung des Körpers ein Bild von seiner 1 2
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Sylv. II, 3, V. 214 f. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Vgl. Heinz Entner: Die Paul-Fleming-Werkhandschrift der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 17 (1990), S. 73–82, hier S. 81 mit Anm. 24. Vgl. zuletzt Indra Frey: Paul Flemings deutsche Lyrik der Leipziger Zeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 64ff. mit neuen Hinweisen u. a. auf die benachbarten Zimmer von Fleming und Gloger im Leipziger Pauliner-Kollegium; die umfangreichste Zusammenstellung des Materials findet sich bei Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Stuttgart 1989, S.173–301.
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bezwingenden körperlichen Anziehungskraft zu Lebzeiten zu entwerfen.4 Das Epicedium betont die Unersetzlichkeit des Freundes für den Hinterbliebenen, der seine erschütterte Klage schließlich, überwältigt vom Schmerz über den Verlust, in einer topischen Geste des Verstummens abbricht und den Freundschaftsbund imaginativ ein letztes Mal durch einen, notwendig unerwiderten, Kuss auf den kalten Mund des Toten erneuert. Die abschließenden Verse formulieren, in erkennbarer Anlehnung an die lateinische Elegie, noch einmal das zu Lebzeiten bereits gegebene Versprechen, das Andenken des Freundes nach dessen Tod lebendig zu halten: Ich kan, ich kann nicht mehr! So nim doch hin, mein Leben, den Kuß, den letzten Kuß, den ohne Widergeben (ach wärs auch vor geschehn!) ich setz’ auf deinen Mund, auf deinen kalten Mund! Dis ist der letzte Bund. So bleib’ ich dir vermählt. So ewig Flemings Buhlen Die zarte Poesie wird sein in Phoebus Schulen, So sol dein herzer Nam’ an allen Wänden stehn Und mit der Ewigkeit, mein Gloger, untergehn.5
Deutlich sind hier noch Resonanzen der Rede von der coniunctio aus der älteren lateinischen Elegie hörbar. Im Vergleich mit ihr ist dieses endgültige Versprechen aber zum einen, dem Anlass gemäß, stärker noch auf die Stiftung von Nachruhm im dauerhaften Medium der Dichtung verschoben; zum anderen ist der Horizont der Aussage weniger die Welt der lateinischen Gelehrsamkeit, sondern die Formulierungen sind als Artikulationen eines unstillbaren Begehrens nach Nähe in ein erotisches Register transponiert. So werden der Freundschaftsbund, der durch den aussichtslos werbenden Kuss besiegelt werden soll, und Flemings Bund mit der umworbenen »zarten Poesie« miteinander verknüpft.6 Fleming hat sein Versprechen schließlich in vollem Umfang eingelöst: 1639/40, acht Jahre nach Glogers Tod, schließt er das Manuskript seiner Manes Glogeriani ab, einer Gedächtnisschrift für den Freund, in der fast 200 lateinische Trauergedichte, zyklisch geordnet in sieben Bücher, versammelt sind.7 Fleming 4 5 6
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Vgl. zu den Konstellationen von Petrarkismus und Pathologie im Werk des Mediziners Fleming den Beitrag von Jörg Robert im vorliegenden Band. PW II, 7, V. 37–44. Die Bedeutung des Kusses changiert zwischen einem Ritual der Freundschaft und einer Handlung aus dem Kontext der Bestattungsriten. Vgl. Klaus Thraede: Kuss. In: Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 22. Stuttgart 2008, Sp. 545–576, hier Sp. 556f.; Dieter Martin: Der Freundschaftskuß im 18. Jahrhundert. In: Rituale der Freundschaft. Hg. v. Klaus Manger u. Ute Pott. Heidelberg 2007 (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen 7), S. 51–67. Zur Qualität dieses Versprechens auf Nachruhm, das sich von anderen Formulierungsoptionen unterscheidet, vgl. etwa die eröffnenden Verse im Abschiedsgedicht An Herrn Hartmann Grahmannen […] als derselbe […] sich nach Deutschland umb Doctor zu werden begabe: »Ich werde förderhin auf nichts nicht sein bedacht, | als wie dein großes Lob werd’ unter leute bracht, | du mehr als mein Achat! Ich will den Menschen weisen, | die noch nicht Menschen sind, wie sie dich sollen preisen | für deine weise Kunst, die dir noch nie gefehlt.« (PW IV, 31, V. 1–5) Zu den Manes Glogeriani vgl. die überblickshafte Darstellung von Blake Lee Spahr: Fleming’s Friendship. In: Ars et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte,
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hat also an Glogers memoria kontinuierlich weiter gearbeitet, allerdings hat es den Anschein, als sei die erinnerte Person des Verstorbenen, umstellt von einer Überfülle der Texte, immer weiter in den Hintergrund gerückt. Der Eindruck wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass Flemings Manes Glogeriani durch ihre Titelformulierung einen Platz in einer Reihe mit Dousas Manes Juniani, Gruters Manes Gulielmiani, Scaligers Manes Catulliani oder den Manes Scaligeri, Lipsiaci und Dousici des Daniel Heinsius beanspruchen: Es sind allesamt Schriften, die auf den Gedanken der Sorge für den Nachruhm eines Verstorbenen verpflichtet sind und die zugleich darauf bauen, dass der Glanz der illustren Adressaten auf den Dichter zurückstrahlt, der sie besingt. In diesem Sinne ist der jung verstorbene Student Gloger kaum ein geeignetes Objekt der Dichtung;8 dennoch verweist Fleming in seinen Manes explizit auf die fama als Logik seiner Sammlung, allerdings in einer expliziten Umkehrung. Nachdem der vorzeitig Verstorbene, so heißt es in einem Gedicht, durch eigene Dichtung für sein poetisches Nachleben nicht mehr Sorge tragen konnte, habe er Fleming im Sterben gebeten, er möge ihn in seiner Dichtung verewigen (»Ergo tuam produc tua per tibi carmina vitam, | hoc tibi præcipitis sed negat hora necis.«). Und dieser quittiert die Aufforderung posthum, indem er die Rollenverteilung umkehrt: »Du stirbst. Und wünschst, daß Fama durch mich von dir rede; | aber tatsächlich wird die fromme Göttin mir das nur um deinetwillen gestatten.« (»Immoreris. Quod aves, per me te Fama loquetur, | rectius at per te me pia diva feret.«)9 Die Aussage ist natürlich als topische Formel der Bescheidenheit und als rühmendes Lob des Verstorbenen zu verstehen. Aber vor dem Hintergrund der selbstbewussten Formulierungen, mit denen Fleming immer wieder sein eigenes poetisches Vermögen auch gegenüber dem Freund behauptet hat, und zumal im Kontext der Manes Glogeriani, die dieses poetische Vermögen eindrucksvoll in einer Unzahl von Gedichten auf den Verstorbenen unter Beweis stellen, ist auch eine weitere Bedeutungsdimension eröffnet: So wie Fleming in seinem Epicedium im Moment des Todes den Bund mit dem Freund und den Bund mit der Poesie untrennbar verknüpft, so wird die Freundschaft mit Gloger, nach dessen Tod in gesteigertem Maße, zur produktiven Voraussetzung von Flemings Poesie. Im Folgenden soll die Bedeutung des Freundschaftsbundes zwischen Fleming und Gloger, so wie er in den poetischen Texten entworfen wird, ganz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Fünf Abschnitte strukturieren die Überlegungen: Es soll (1.) diskutiert werden, wie die Intensität der poetischen Formulierungen dieser ›Männerfreundschaft‹ angemessen zur Geltung kommen kann. Dabei ist zunächst der biographische Deutungshorizont der ›Homosexualität‹ zu problematisieren, den einige moderne Lesarten der Texte entwerfen. Demgegenüber erscheint es (2.) plausibler, ›Freundschaft‹ nach ihren diskursiven Be-
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Kunst und Literatur. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. Christian Juranek. Amsterdam 1998, S. 271–293, bes. S. 282–291. Vgl. auch den Hinweis im Beitrag von Beate Hintzen im vorliegenden Band. Zusätzlich ist auf die Widmungen an prominente Adressaten zu verweisen, die Fleming über die einzelnen Bücher der Manes Glogeriani setzt. Man. Glog. II, 25, V. 5–8.
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stimmungen als paradigmatische homosoziale Form der mann-männlichen Bindung in der Frühen Neuzeit zu verstehen. Vor dem Hintergrund der männlichen Semantisierung von ›Freundschaft‹ wird (3.) ein zeitgenössisches Irritationspotenzial von Flemings Freundschaftsdichtung sichtbar, denn die Texte auf Gloger und seinen Tod stehen mit ihren Repräsentationsformen einer obsessiven Trauer und eines korrespondierenden vehementen homosozialen Begehrens in latentem Widerspruch zu einem frühneuzeitlichen Ideal männlicher ›Mäßigung‹, das auch in Flemings Texten präsent ist. Der exzessive Zug in der poetischen Inszenierung des Freundschaftsbundes lässt sich (4.) auch außerhalb der Gruppe derjenigen Texte verfolgen, die explizit auf den Verstorbenen fokussiert sind. Auch in einer Reihe von weiteren Texten wird der Freund zum Zentrum einer semantischen ›Gravitation‹ der poetischen Rede. Abschließend soll (5.) auf eine Formulierung in Flemings Gedichten hingewiesen werden, die diese Bedeutung des Freundes für Flemings Poesie auf einen Begriff bringt.
1. Zur poetischen Rede von der ›Männerfreundschaft‹ Der zentrale Stellenwert, den Fleming seiner Freundschaft mit Gloger beigemessen hat, ist im Laufe der Zeit immer wieder registriert worden – selten ohne Irritation über die Intensität der formulierten Zuneigung und immer wieder ratlos angesichts des Problems, wie sie angemessenen beschrieben werden könne. Dass der Freund häufig in einer Sprache adressiert wird, die sonst dem erotischen Diskurs vorbehalten scheint, hat schon Hermann Palm 1877 mit Blick auf die Manes Glogeriani bemerkt. Dort spreche »sich Flemings zärtlichkeit in ganzen dutzenden von lateinischen gedichten in einer weise aus, daß man nicht einen freund, sondern die geliebte besungen glaubt.«10 Die umfangreichste Zusammenstellung der irritierenden Wendungen und Passagen findet man ein gutes Jahrhundert später in Heinz Entners Biographie aus dem Jahr 1989. Die große Zahl der mehr oder weniger expliziten Formulierungen maßloser Zuneigung machen ihm schließlich die Frage »unabweislich«, was »für ein Verhältnis […] sich da und auf solche Weise Luft macht?«11 Der Verdacht scheint nahezuliegen, »es könnte Homosexualität im Spiel gewesen sein«, aber Entner versucht umgehend, diesen Verdacht zu entkräften. Als Argument verweist er auf das Verbot der sexuellen Praxis und auf die drakonischen Strafen, mit denen die Übertretung des Verbots in der Frühen Neuzeit bewehrt gewesen sei. Angesichts dessen seien die Gedichte fast zu deutlich, und »wer so naiv und offen zu sprechen wagte wie Fleming […], der 10
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Hermann Palm: Paul Fleming und Georg Gloger. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Breslau 1877, S. 103–112, Zitat S. 106. Vgl. auch Konrad Unger: Studien über Paul Flemings Lyrik. Greifswald 1907, S. 9; Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle/Saale 1936, S. 18; Heinz Wilms: Das Thema der Freundschaft in der deutschen Barocklyrik und seine Herkunft aus der neulateinischen Dichtung des 16. Jahrhunderts. Kiel 1962, S. 37. Entner (Anm. 2), S. 270.
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war sich keiner Sünde bewusst […].«12 So werden die zunächst als verdächtig gewerteten Aussagen (vor dem Hintergrund der impliziten Annahme, dass sich eine homosexuelle Neigung unter den genannten Bedingungen nur in camouflierten Formulierungen artikulieren könne) paradox umgedeutet vom Geständnis zum Indiz für Flemings ›Unschuld‹. Im selben juristischen Duktus der Zurückweisung eines Verdachts kommentiert auch Blake Lee Spahr beschwichtigend ein lateinisches Gedicht aus Flemings Manes Glogeriani, in dem dieser seine Zuneigung zu Gloger als »amor Jonathaneus« bezeichnet, während im selben Atemzug die Liebe der Frauen als »putris nausea« zurückgewiesen wird: »Strong words, but they do not constitute an adequate warrant for the suspicion or accusation of homosexuality.«13 Solche Argumentationsfiguren sind zunächst vor allem aus zwei Gründen interessant: Auf der einen Seite lässt sich die Beobachtung generalisieren, dass Formulierungen von großer emotionaler Intensität in Männerfreundschaften regelmäßig von argwöhnischen Vermutungen umstellt sind, dahinter verberge sich mehr oder weniger deutlich erkennbar eine mindestens latent homoerotische oder eine tatsächlich ausgelebte homosexuelle Beziehung.14 Auf der anderen Seite lassen sich die Versuche der Entkräftung von entsprechenden Verdachtsmomenten zu einem guten Teil als routinierte Reflexe verstehen, mit denen die unumstößliche Gültigkeit einer heteronormativen Ordnung versichert wird.15 In den Kontext der Strategien, die in Flemings Fall dazu dienen, die Irritation stillzustellen, die seine Zuneigungsbekundungen beim modernen Leser auslösen, gehört insbesondere der geistesgeschichtlich historisierende Einwand, dass sich seine Formulierungen der Zuneigung gänzlich im Rahmen von zeitgenössischen emphatischen Konzepten der ›Freundschaft‹ auf der Grundlage antiker Traditionen bewegten, so dass auch die ausgestellte Affektivität – möglicherweise gesteigert im jugendlichen Überschwang – semantisch im Rahmen einer vorausgesetzten freundschaftlichen ›Normalität‹ bleibe.16 Ein zweiter, literaturgeschichtlich historisierender 12
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Ebd., S. 272. In der Tat hat Fleming auch Aufnahme in den Kanon der ›schwulen Literatur‹ gefunden, vgl. etwa Andere Lieben. Homosexualität in der deutschen Literatur. Ein Lesebuch. Hg. v. Joachim Campe. Frankfurt a. M. 1987, S. 94; Helmut Blazek: Rosa Zeiten für rosa Liebe. Zur Geschichte der Homosexualität. Frankfurt a. M. 1999, S. 56. Spahr (Anm. 7), S. 288. Die lateinischen Zitate, die Spahr kommentiert, stammen aus Flemings Gedicht Ad Virgines, Man. Glog. IV, 32 (vgl. dazu unten). Vgl. die Beobachtung bei Andreas Kraß: Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 29 (1999), S. 66–98, hier S. 90. Vgl. stellvertretend für die Vielzahl von Publikationen aus dem anglophonen Raum die Beiträge in Queering the Renaissance. Hg. v. Jonathan Goldberg. Durham 1994; Queer Masculinities, 1550–1800. Siting Same-Sex Desire in the Early Modern World. Hg. v. Katherine O’Donnell u. Michael O’Rourke. Houndsmilles/Basingstoke 2006. Vgl. Ferdinand van Ingen: Freundschaftskonzepte und literarische Wirkungsstrategien im 17. Jahrhundert. In: Ars et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Hg. v. dems. u. Christian Juranek. Amsterdam 1998, S. 173–222, zur Lizenz jugendlicher Rede dort S. 180f. – Zu jugendlichen Exzessen als Abweichungen von einer normativen Männlichkeit vgl. Alexandra Shepard: Meanings of Manhood in Early Modern England. Oxford 2006, S. 93–127; zum Kontext der frühneuzeitlichen deutschen Stadt vgl. Lyndal Roper: Blood and codpieces: maculinity in the early modern German Town. In:
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Einwand lautet, dass den formelhaften Texten nach den Konventionen barocker Poesie grundsätzlich keine authentische affektive Ausdrucksfunktion zugesprochen werden könne. Die Gedichte schöpfen vielmehr, unbestreitbar so wie die gesamte rhetorisch fundierte Dichtung des Barock, im Dialog mit anderen Schriften nach dem Grundsatz der imitatio aus dem großen Reservoir der zeitgenössischen Redeformen und antiken Topoi. Die Regeln der Bedeutung, die ihnen zu Grunde liegen, lassen sich darum primär als Strukturen der Intertextualität beschreiben. Die Texte scheinen darum kaum über die Grenzen einer solchen poetischen Zitat- und Verweisstruktur hinaus referenzialiserbar zu sein.17 Mit Blick auf die erotischen Passagen könnte man zugespitzt auch formulieren: Die ›Literarizität‹ der Texte hält die sexuellen Konnotationen im Zaum.18 Es gibt also gute Argumente, die dagegen sprechen, Flemings Gedichte als Ausdrucksformen einer latent homoerotischen Männerfreundschaft oder gar als Dokumente einer gelebten homosexuellen Verbindung zu verstehen. Es gibt aber ebenso gute Argumente, die dagegen sprechen, dem irritierenden Befund beim Blick auf die Texte a priori jede Bedeutsamkeit so gründlich abzusprechen. Um zu einer angemesseren Einschätzung zu kommen, die auch die erotisch getönten Formulierungen des Begehrens erfassen kann, scheint es nicht zielführend, sich auf die skizzierte argumentative dialektische Logik von Verdacht und Zurückweisung einzulassen. Damit die Analyse nicht zu kurz greift, ist es stattdessen zunächst nötig, die anachronistische Verwendung des modernen Begriffs von ›Homosexualität‹ zu problematisieren und seine geschlechterpolitische Funktion offenzulegen; zugleich gehört in diesen Zusammenhang anschließend auch
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Dies.: Oedipus and the Devil. Witchcraft, sexuality and religion in early modern Europe. London, New York 1994, S. 107–125. Zur Begründung der petrarkistischen Diktion im Gedicht auf den verstorbenen Freund hat etwa Eva Dürrenfeld darauf verwiesen, »daß Fleming sich gerade in dieser Zeit die Ausdrucksmittel der petrarkistischen Formenwelt aneignete«, so dass man die Formulierungen als Stilübungen einschätzen könne (Paul Fleming und Johann Christian Günther. Motive, Themen, Formen. Tübingen 1964, S. 170 f.). Ganz ähnlich hat man etwa die Lizenz für die Formulierungen der affektiven Zuneigung in den Briefen des Erasmus an Servatius Rogerus argumentiert, sie seien auch als rhetorische Übung in epistolarischer Komposition zu verstehen, vgl. Forrest Tyler Stevens: Erasmus’s »Tigress«: The Language of Friendship, Pleasure, and the Renaissance Letter. In: Queering the Renaissance (Anm. 15), S. 124–140, hier S. 128 f. Vgl. etwa Wilhelm Kühlmanns Kommentare zu einem Freundschaftsgedicht von Simon Dach (Der Mensch hat nichts so eigen), in denen ein intertextueller Verweis auf eine erotische Konstellation im Prätext zurückgeholt wird in den semantischen Rahmen der ›Freundschaft‹: »Der Vers ähnelt dem Schluß eines aus drei Distichen bestehenden Poems, das Catull an eine ungenannte Geliebte, wohl an Lesbia, richtete und in dem er den lebenslangen Fortbestand der gegenseitigen Liebe beschwor (Catull 109, hier V. 5 f.): ›ut liceat nobis tota perducere vita | aeternum hoc sanctae foedus amicitiae.‹ Dach wird es jedoch ferngelegen haben, so wie Catull den erotischen ›amor‹ mit dem Freundschaftsbegriff verschmelzen zu lassen. Eher wollte er gewiß die Rede vom ›venerabile foedus‹ in jener Perspektive erneuert wissen, in der sie sich auf das gern heroisierte Bündnis bekannter Freundespaare bezog.« (Wilhelm Kühlmann: »Amicitiae venerabile foedus« – Zum diskursiven Kontext und diätetischen Gehalt von Simon Dachs großem Freundschaftsgedicht. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. v. Axel Walter. Berlin/New York 2008 (Frühe Neuzeit 126), S. 211–224, hier S. 218 f.)
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die Problematisierung der latenten Annahme einer Ausdrucksfunktion der Texte, denn Entners Frage danach, was sich in ihnen ›Luft mache‹,19 tendiert nach den Regeln des Diskurses zur Unterstellung einer homosexuellen Identität. Problematisch scheint der Begriff der ›Homosexualität‹ im Kontext der Diskussionen über Flemings Freundschaftsdichtung aus verschiedenen Gründen: Er ist historisch problematisch vor allem deshalb, weil das Konzept einer homosexuellen Identität, die durch ein spezifisches Begehren geformt wird, kaum weiter als bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückzuverfolgen ist. Vor diesem Zeitpunkt war das, was man in der Moderne unter dem Begriff der ›Sexualität‹ fasst, nicht eine Frage der personalen Identität, sondern primär eine Frage äußerer Handlungen. Ihre Interpretation und Bewertung gehörte in den Bereich der Moraltheologie und des Rechts, nicht in den Bereich der Medizin oder Psycho(patho)logie. Praktiken gleichgeschlechtlicher Sexualität bildeten zudem keine eigene Klasse unter den zeitgenössisch als deviant markierten und verbotenen sexuellen Praktiken. Sie wurden stattdessen gemeinsam unter einem weiten Begriff der Sünde ›Sodomie‹ zusammengefasst, der als universale Formel im Kontext von sozialen Diffamierungsstrategien zur Verfügung stand. In ihrer klassischen Formulierung durch Michel Foucault liest sich die Beschreibung des historischen Wandels zur Moderne so: »Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem entrinnt seiner Sexualität. […] Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.«20 – Für den vorliegenden Diskussionszusammenhang heißt das mit anderen Worten: Das trennscharfe Konzept einer ›homosexuellen Identität‹ gehört zum geschlechterpolitischen Regime der Moderne, und seine unreflektierte Verwendung bei der Analyse frühneuzeitlicher Dichtung führt dazu, dass eine tatsächlich sehr viel weniger ›diskrete‹ frühneuzeitliche Ordnung der Geschlechter überlagert wird.21 19 20
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Vgl. auch die problematische Interpretationsmaxime, »nichts außer seinem Gefühl konnte den Dichter zwingen, sich so zu äußern.« (Entner (Anm. 2), S. 280). Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1998, S. 58. Damit wird ein möglicher genealogischer Einsatzpunkt für eine Geschichte der ›Homosexualität‹ markiert, vgl. etwa den pointierten Titel der Sammlung von David Halperin: One Hundred Years of Homosexuality and other essays on Greek Love. New York 1990. Zur Diskussion über die Konsequenzen solcher historisierenden Behauptungen von Alterität (mit Blick auch auf die Konsequenzen für die Möglichkeiten einer ›Geschichte der Homosexualität‹, deren identitätspolitische Funktion durchaus im Nachweis von Kontinuitäten bestehen kann) vgl. für das 17. Jahrhundert etwa den Überblick von Jeremy W. Webster: Queering the Seventeenth Century: Historicism, Queer Theory, and Early Modern Literature. In: Literature Compass 5/2 (2008), S. 376–393. Vgl. in diesem Zusammenhang Thomas Laqueurs Untersuchungen zu historisch älteren Konzeptionen der körperlichen Kategorie ›Geschlecht‹, basierend etwa auf Modellen der
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Die Verwendung des modernen Begriffs der ›Homosexualität‹ in Untersuchungen von Flemings Freundschaftsdichtung ist darüber hinaus auch noch in anderer Hinsicht problematisch. Denn er ist, im Sinne der skizzierten Logik, häufig gekoppelt mit Lesarten, nach denen die Gedichte einem individualisierten historischen Sprechersubjekt als Ausdruck der persönlichen Neigung zugeschrieben werden. Eine solche Annahme, die in älteren Forschungsbeiträgen Flemings Texte literaturgeschichtlich als frühe Vorläufer einem modernen Paradigma der ›Erlebnislyrik‹ zugeordnet hat,22 steht allerdings im Widerspruch zu Forschungstraditionen, die vornehmlich auf die rhetorische Gestaltung der Texte abheben.23 Damit wird der Blick auf den grundlegend artifiziellen Charakter der regelhaften und exempelgeleiteten frühneuzeitlichen Poesie gerichtet. Wenn man unter diesen Prämissen allerdings nach Formen der Soziabilität fragt – sowohl nach dem Diskurs als auch nach der sozialen Praxis der ›Freundschaft‹, in die diese poetischen Texte eingebunden sind – bleibt kaum eine andere Lesart als diejenige, dass man es mit formelhaften, weitgehend unverbindlichen Redensarten zu tun hat.24 Zugleich muss man allerdings auch darauf verweisen, dass die häufig anlassgebundenen Texte nicht vollkommen losgelöst von ihrer lebensweltlichen Situierung gelesen werden können, denn immer wieder lassen sich verbindliche personale Interaktionen als kommunikative Kontexte rekonstruieren. Auf engstem Raum zeigt das etwa der kurze poetische Schriftwechsel zwischen Fleming und Gloger, noch zu Lebzeiten des letzteren im Sommer des Jahres 1631.25 Auf den 12. und 13. Juni ist die eingangs bereits zitierte große lateini-
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Humoralpathologie, die von der binären Geschlechterordnung der Moderne abweichen (Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a.M., New York 1992); zur kritischen Präzisierung seines ›Ein-Geschlecht‹-Modells in Richtung eines Modells der vielfach ›relativen Geschlechterdifferenz‹ (in Abgrenzung von einer modernen ›absoluten Geschlechterdifferenz‹) vgl. z. B. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 272–275. Vgl. Etwa Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig. Berlin 1909 S. 120f.; zur Forschungstradition vgl. Kurt Kiesant: Erlebnis- oder Gelegenheitsdichtung? Zur Problematik der literaturhistorischen Einordnung der Lyrik Flemings. In: Forschungsinformation: Paul Fleming. Werk und Wirkung. Zwickau 1986, S. 21–26; Peter Krahé: Persönlicher Ausdruck in der literarischen Konvention: Paul Fleming als Wegbereiter der Erlebnislyrik? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987), S. 481–513. Vgl. grundlegend Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. Über die Beteuerungen der Zuneigung, die im Briefverkehr unter den Humanisten ausgetauscht wurden, heißt es etwa bei Ernst Robert Curtius im Jahr 1863: »Es waren aufgewärmte Empfindungen, denen die innere Wahrheit fehlte; man studirte sich die alten Tugenden ein und liebte sich nach Cicero’s Lälius.« (Die Bedeutung der Freundschaft im Alterthum für Sittlichkeit, Wissenschaft und öffentliches Leben. In: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 22 (1863), S. 1–16, Zitat S. 13 f.) Richard Alewyn hat 1932 allgemeiner noch von einer generellen ›Kultur der Äußerlichkeit‹ im Barock gesprochen: »An menschlichen Verhältnissen, die weder auf materiellem Interesse noch auf ethischem Prinzip noch auf sozialer Sitte, sondern auf persönlicher Zuneigung beruhen, muß [diese Zeit] außerordentlich arm gewesen sein.« (Johann Beer. Leipzig 1932 (Palaestra 181), S. 169) Vgl. dazu Tino Licht: Alter ego. Chiffre der Freundschaft bei Paul Fleming und Georg Gloger. In: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft
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sche Elegie datiert, mit der Fleming den Freund zur gemeinsamen Reise in sein Elternhaus nach Wechselburg einlädt. Die Begleitung durch den Freund will er als Freundschaftspfand (»pignus amicitiae«26) verstanden wissen, aber obwohl Fleming die Reise in den annehmlichsten idyllischen Bildern in über 100 elegischen Distichen ausmalt und so mit allem poetischen Nachdruck um Glogers Begleitung wirbt, erhält er postwendend zwei Tage später eine Absage. Die Gründe dafür sind letztlich nicht sicher zu bestimmen, aber der Ton des poetischen Antwortschreibens ist eindeutig: Nur acht Verse umfasst Glogers Responsio, in der er Fleming seine Sorge mitteilt, dass dieser den Freundschaftsbund aufgekündigt habe. Die traditionsreiche Metapher von der Wohnung im Herzen des anderen, die Fleming und Gloger in ihren Freundschaftsgedichten verwenden, hat keine Gültigkeit mehr: »Ob ich mich in Dir fände? Du hast das Dir anvertraute Herz verlassen«, so lautet Glogers Klage in der Übersetzung von Heinz Entner, »mir Elendem erlaubst Du nicht Heimstatt bei Dir« (»In te me inveniam? tibi credita corda fugasti; | Meque tuum civem non pateris miserum«).27 – Fleming antwortet darauf seinerseits mit einem Gedicht, in dem er ebenfalls den gemeinsam erprobten ›Code der Intimität‹ bemüht und versucht, die alten Formeln der freundschaftlichen Vertrautheit wieder in Kraft zu setzen. Zu diesem Zweck überbietet er die topische Denkfigur vom Freund als »Alter ego«, indem er dem Gedanken der ›Alterität‹, der sprachlich entzweiend scheinen könnte, die ›Vereinigung‹ als Steigerungsform der Innigkeit entgegensetzt: »›Zweites Ich‹, wirst Du, Gloger, wieder und wieder von mir genannt, | und dennoch bist Du, genauer gesagt, kein ›zweites Ich‹.« (»Alter ego, Glogere, mihi creberrimus audis, | nec tamen es, fando proprius, alter ego.«) Die Formel soll unangemessen sein, denn der Übergang seiner Seele in die Seele des Freundes führt zu einer Einheit, die alle körperliche Trennung übertrifft. »Nichts kannst Du vorbringen, das in Frage stellen könnte, daß wir eins sind«, lautet die Formulierung, und gleich zwei Mal beschwört Fleming den Freund: »Wir wollen nicht zwei sein […].« (»Mens unum ex duplici schemate schema facit. | Unimur socii cognato glutine, cordis,| Nil, quod nos unos inficietur, habes. | Nolumus esse duo, nequibimus esse, Georgi, | Hoc vetat ingenuum foedus, et istud amor.| Nolumus esse duo, semperque manebimus unum […].«)28
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in Mittelalter und Neuzeit. Hg. v. Boris Körkel, Tino Licht u. Jolanta Wiendlocha. Heidelberg 2001, S. 243–251; Entner (Anm. 2), S. 233–242. Sylv. II, 3, V. 8. DG 2, Beilage IV, 25, V. 3f.; Übersetzung durch Entner (Anm. 2), S. 236. Zum Vergleich etwa die Formulierungen in Glogers Gedicht Eidem [Ad Suum Dilectissimum]: »Doch, gib mich nicht mir zurück, halt mich nur lieber verborgen. In Dir mich Verlornen zu suchen ist mir ja so süß. Hier find ich mein Königreich nach langem Umherirrn, hier ist meine Heimat, meine Zuflucht, hier darf ich daheim sein.« (»Sed ne restituas mihi me, quin occule semper: | In te me amissum quærere dulce mihi est. | Hic post errores longos mihi dulcia regna, | Hîc patria, hîc portus, hîc juvat esse domi.« (DG 2, Beilage IV, 28, V. 7–10; die Übersetzung bei Entner (Anm. 2), S. 236) Die erste Edition des Gedichts findet sich bei Marian R. Sperberg-McQueen: An autograph Manuscript of Early Poems by Paul Fleming in the Ratsschulbibliothek in Zwickau. In: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neolatin Studies 42 (1993), S. 402–450, hier S. 408 u. 422f.; die Übersetzung zit. n. Licht (Anm. 25), S. 247f. Vgl. zu Flemings Gedicht auch den
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Viele Gedichte aus dem Kontext der Freundschaftsdichtung lassen sich also als persönlich adressierte Aussagen in realen Kommunikationssituationen verstehen, und dabei zeigt sich, dass die formelhaften Zitate aus dem Reservoir der Topoi freundschaftlicher Rede nicht nur regelgeleitete Akte intertextueller Traditionsanbindung sind, sondern sie können zugleich auch pragmatische Verbindlichkeiten etablieren29 und emotional persuasive kommunikative Funktionen erfüllen.30 Die Bedeutung der Aussagen ist darum nur in Lesarten zu erschließen, die zugleich sowohl mit der hochgradigen Intertextualität und rhetorischen Konventionalisierung des literarischen Diskurses rechnen als auch mit der Situierung der Texte in spezifischen Kommunikationssituationen.31
2. Freundschaftsdichtung als Diskurs männlicher Homosozialität Wenn man die beiden Einwände gegen den unreflektierten Gebrauch des modernen Begriffs der ›Homosexualität‹ zusammen nimmt – sowohl den Hinweis auf seine historische Unangemessenenheit als auch den Hinweis auf die fundamen-
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Beitrag von Beate Hintzen im vorliegenden Band. Als weitere quasi-ritualisierte Momente der freundschaftlichen Kommunikation vgl. auch die beiden Anbinde-Gedichte, die Gloger aus Anlass von Flemings Namenstag am 29. Juni 1630 und 1631 schickt (Fleming: Deutsche Gedichte, Beilage V, 1 u. 8): »Kan ich denn außer mir was Festes auch wol finden, | Wormit ich, du mein Ich, dich heute möge binden?« (V, 8, V. 1 f.) fragt Gloger im zweiten Gedicht und verzichtet anschließend auf ein materiales Pfand der Freundschaft, weil der Bund der Herzen und das gegenseitige Vertrauen ein dauerhafteres Band stiften. Die Formulierung ist auch deshalb signifikant, weil sie ältere Konventionen der materialen Liebesgaben zurückweist (Auf Herren Paull Flemings Namenstag, begangen in Leipzig den 29. Juli 1630, DG 2, Beilage V, 1); zum diesem grundsätzlichen Wandel in freundschaftlicher Kommunikation vgl. Lorna Hutson: The Userer’s Daughter. Male Friendship and Fictions of Women in Sixteenth-Century England. London 1994, S. 2 f. Das gilt auch für Flemings eingangs zitiertes Versprechen an Gloger, es sollten die »kommenden Zeiten Dich mir verbunden wissen.« (»te mihi coniunctum postera saecla scient.«, vgl. Anm. 1), das möglicherweise auf ähnlich lautende Textstellen bei Catull und Ovid verweist (vgl. Stephan Tropsch: Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung. Graz 1895, S. 40 f.), das aber auch ein Programm der Dichtung formuliert, dessen pragmatische Verbindlichkeit für Fleming ganz offensichtlich außer Zweifel steht. Damit ist nicht gesagt, dass Dichtung in der Frühen Neuzeit auch als authentischer Ausdruck subjektiver Empfindungen im oben skizzierten Sinn verstanden werden können. Allenfalls könnte man noch argumentieren, dass ›Liebe‹ und ›Freundschaft‹ und die zugehörigen Gesten und Redeformen als »symbolischer Code« dazu ermutigen, »entsprechende Gefühle zu bilden« (Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt a. M. 1994, S. 9). Aber auch in dieser Perspektive sind Emotionen nicht unabhängig von ihrer symbolischen Kodierung zu beobachten. Dann wird sichtbar, wie viele Aussagen durch eine Reihe von topischen Mustern überhaupt erst möglich werden. Diese Muster eröffnen und begrenzen gleichzeitig die Spielräume, innerhalb derer Sprecherrollen modelliert und Interaktionen in Bahnen gelenkt werden können. Zu diesen produktiven Aspekten der Topik in der Freundschaftsdichtung der Frühen Neuzeit vgl. auch die Überlegungen von Barbara Sturzenegger: Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming. Topoi der Freundschaft im 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 24).
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tale Rhetorizität der frühneuzeitlichen Dichtung – dann lassen sich manche der bereits angedeuteten diskursiven Ausschlussmechanismen vermeiden, die durch die Artikulation des Verdachts in Gang gesetzt werden. Erst dann können einige signifikante Charakteristika von Flemings Freundschaftsdichtung überhaupt zur Geltung kommen. Dazu gehört der Befund, dass der Kommunikationsraum, in dem die Gedichte an und auf Georg Gloger zu situieren sind, als männlich kodiert wird. Das zeigt etwa ein lateinisches Trauergedicht aus den Manes Glogeriani, das an seine Schwester adressiert ist und kommunikativ paradox auf ihre Unkenntnis der verwendeten Sprache baut: Ad Sororem Meam Non tibi sit tanti fraternos spernere fletus, ut numquam nobis aggemuisse velis. Ac, quamvis Romana tuos hæc litera sensus de nostro nequeat commonuisse malo, nostra tamen coram si non tibi fata reclusi, hæc tibi jam poterit explicuisse parens. […]32 [An meine Schwester Du hast kein Recht, die Tränen des Bruders so ganz zu verachten, daß Du Dich weigerst, mit ihm zu weinen. Und wenn Du schon mangels Sprachkenntnis aus meinen Versen nicht ersehen kannst, was mir widerfahren ist, so wird, weil ich Dir nicht direkt mündlich davon berichten kann, der Vater sicher bereit sein, Dir das Geschehene zu erläutern.33]
Die Wahl der lateinischen Sprache als Medium der Kommunikation verbürgt, mit anderen Worten, die Exklusivität eines männlichen Kommunikationsraums, der weiblichen Teilnehmerinnen in der Regel verschlossen ist.34 Innerhalb dieses männlichen Kommunikationsraums wird zudem auch die formulierte freundschaftliche Zuneigung geschlechtlich semantisiert. Das wird besonders deutlich an einem zweiten Gedicht, ebenfalls aus den Manes Glogeriani, in dem die Freundesliebe unter Männern explizit vor der Frauenliebe favorisiert wird: Ad Virgines Non mihi vester Amor blandis arrisit ocellis, nec gratus poterat Cypridis esse favor.
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Man. Glog. III, 9. Entner (Anm. 2), S. 270. Zur Lehre der lateinischen Sprache als Initiation in einen Kode der Kommunikation unter Männern in der Frühen Neuzeit vgl. Walter J. Ong: Latin Language Study as a Renaissance Puberty Rite. In: Studies in Philology 56 (1959), S. 103–124; zu geschlechtlichen Kodierungen von Kommunikationsräumen in der Frühen Neuzeit allgemein vgl. Lyndal Roper: Gendered Exchanges: Women and Communication in Sixteenth Century Germany. In: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Wien 1992 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 15), S. 199–217.
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Quem Jonathaneo modo complexabar amore, Dulcior hic vobis omnibus unus erat. Hunc Charites junxere mihi, rapuere vicissim illeque post raptum durat Amoris amor. Durat et aeternis non immutabitur annis, prae quo putris erat nausea vester amor. 35 [An die Mädchen Nicht fand eure Liebe mit schmeichelnden Augen mein Gefallen, nicht konnte mir die Gunst der Venus willkommen sein. Er, den ich mit der Liebe eines Jonathan umfing, war mir allein willkommener als ihr alle. Ihn führten die Grazien mir zu und raubten ihn wieder, und diese Liebe überdauert nach dem Verlust der Liebe. Sie überdauert und wird sich in ewigen Jahren nicht wandeln. Im Vergleich zu ihr war mir Eure Liebe widerwärtige Übelkeit.36]
Fleming nimmt hier Davids Klage um den gefallenen Freund Jonathan aus dem zweiten biblischen Buch Samuel auf: »[D]oleo super te frater mi Jonathan decore nimis et amabilis super amorem mulierum« (2 Sam 1,26); die Luther-Übersetzung lautet: »Es ist mir Leid um dich, mein Bruder Jonathan: ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist.« Flemings Verweis auf das emblematische biblische Freundespaar lässt die Aussage unverändert: Der ideale freundschaftliche »amor Jonathaneus« übertrifft die widerwärtige »putris nausea« der weiblichen Liebe. Die exakte Bedeutung der Aussage lässt sich je nach Übersetzung verschieden akzentuieren,37 bemerkenswert bleibt aber in jedem Fall, dass der Text des Gedichts die Gegenüberstellung der geschlechtlich kodierten Formen der Bindung, die im Bibelzitat vorgeprägt ist, ausschreibt und dabei die Innigkeit der mann-männlichen Freundesliebe im selben Maß bekräftigt wie der Abscheu vor der Frauenliebe betont wird.38 35 36 37
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Man. Glog. IV, 32. So lautet die Übersetzung von Beate Hintzen im vorliegenden Band, vgl. S. 164. Vgl. Beate Hintzens Überlegungen zur Übersetzung von »putris nausea« im vorliegenden Band (S. 163 f. mit Anm. 15) in Abgrenzung von Entners Vorschlag: »Vor ihr [der Freundesliebe] aber war mir all eure Liebe ranziger Ekel.« (Entner (Anm. 2), S. 280) Hintzens Formulierung »widerwärtige Übelkeit« ersetzt einen älteren Vorschlag »zersetzende Krankheit«, der stärker noch eine petrarkistische Lesart als ›Liebeskrankheit‹ akzentuiert, die den Liebenden befällt (Beate Czapla: Erlebnispoesie oder erlebte Poesie. Paul Flemings »Suavia« und die Tradition des zyklusbildenden Kußgedichtes. In: Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. Hg. v. ders., Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 77), S. 356–397, hier S. 369). Dann wäre hier an den Topos der ›temperierten‹ Freundschaft zwischen Männern im Gegensatz zur ›hitzigen‹ Liebe zwischen den Geschlechtern zu denken, vgl. etwa Ingen (Anm. 16), S. 180 mit einem Verweis auf ein Lied aus Zesens Dichterischen Jugendflammen. Die Relation der Überbietung anderer Formen der Bindung durch die ›Freundesliebe‹ gilt nicht nur für die entgegengesetzte ›Frauenliebe‹, sondern Fleming stellt die Freundschaft in der Widmungsepistel der Manes Glogeriani an August Buchner auch der Blutsverwandtschaft und der brüderlichen Liebe gegenüber: »Hoc cum tam arctam necessitudinem iniveram, quæ consangvineorum vel fratrum facile superare poterat.« (DG 2, Beilage II, 9, 580)
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Ohne Zweifel lassen sich Flemings Freundschaftsgedichte, die hier zur Diskussion stehen, also als Schriftverkehr unter Männern verstehen. Sie sind Medien eines gleichgeschlechtlichen Bundes, dessen Intensität sich am treffendsten mit dem Begriff der ›Homosozialität‹ beschreiben lässt, den Eve Kosofsky Sedgwick in ihrer klassischen Studie Between Men prominent gemacht hat. Ihre grundlegende Annahme lautet, dass zwischen ›homosozialen‹ und ›homosexuellen‹ mann-männlichen Bindungen ein ungebrochenes Kontinuum besteht, das in vielfältigen Ausprägungen eines gemeinsamen fundamentalen ›Begehrens‹ ansprechbar wird. Dabei ist gleichgeschlechtliche Sexualität nicht notwendig als Ursprung vorausgesetzt oder als letztgültige Vollzugsform dieses Begehrens zu verstehen; zugleich soll die potenziell erotische Dynamik in mann-männlichen Bindungen zur Geltung kommen können, ohne dass die üblichen Ausschlussmechanismen der Homophobie ihre Wirkung entfalten, die gerade in homosozialen Zusammenhängen besonders ausgeprägt sind.39 Homosoziale Bindungen zwischen Männern sind oft triangulär strukturiert, vorstellbar etwa im Modell eines männlichen ›traffic in women‹, bei dem Frauen als verbindende Objekte in einer erotischen Tauschökonomie zwischen Männern fungieren.40 Als paradigmatische Form einer binären homosozialen Bindung unter Männern erscheint dagegen die ›Freundschaft‹, und dieser Befund gilt insbesondere für die Frühe Neuzeit: Die zeitgenössischen diskursiven Bestimmungen schließen an Traditionslinien an, die insbesondere auf das 8. und 9. Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles und auf Ciceros Laelius zurückgehen.41 Dort ist nicht nur der Gedanke von der ›Tugendhaftigkeit‹ zu finden, die als Bedingung wahrer Freundschaft die gegenseitige Anziehungskraft zwischen den Freunden begründet, sondern auch das fundierende Ideal der ›Ähnlichkeit‹. In Anschluss heißt es etwa bei Erasmus in seiner Schrift De ratione studii, nur unter Ähnlichen könne Freundschaft entstehen, denn das sei die Voraussetzung für das nötige Wohlwollen, Unähnlichkeit erzeuge dagegen Uneinigkeit. »Um so größer, wahrer und festgefügter die Ähnlichkeit ist, desto dauerhafter und fester wird die Freundschaft sein.«42 Maximal gesteigert erscheint das Ideal der Ähnlichkeit
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Vgl. Eve Kosofky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985, S. 1 f. Vgl. Sedgwick, S. 16; zum Begriff des ›traffic in women‹ Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes Toward a Political Economy of Sex. In: Toward an Anthropology of Women. Hg. v. Rayna Reiter. New York 1975, S. 157–210. Für einen den weitgespannten Überblick mit vielen Fundstellen aus der frühneuzeitlichen deutschsprachigen Literatur vgl. Ingen (Anm. 16); Helmut Puff: Von Freunden und Freundinnen. Freundschaftsdiskurs und -literatur im 16. Jahrhundert. In: Werkstatt Geschichte 28 (2001), S. 5–22; Reginald Hyatte: The Arts of Friendship. The Idealization of Friendship in Medieval and Early Renaissance Literature. Leiden 1994. »[…] amicitiam non coire nisi inter similes, similitudinem enim esse beniuolentiae mutuae conciliatricem, contra dissimilitudinem odi issidiique parentem. Quoque maior ac verior stabiliorque similitudo ferit, hoc firmior atque arctior est amicitia.« (Erasmus: De ratione studii. Ed. Jean-Claude Margolin. In: Opera omnia Desiderii. Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata I/2. Amsterdam 1971, S. 79–151, Zitat S. 139). Die Übersetzung durch Puff (Anm. 41), S. 5.
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in der topischen Formel vom Freund als einem ›zweiten selbst‹ (¥lloj aÙtÒj43 oder alter idem44). In dieser geistesgeschichtlichen Tradition steht auch Fleming, wenn er Gloger wieder und wieder in wechselnden Formulierungen als alter ego oder »meinen Andern Mich« adressiert.45 Wenn der ideale Freund »mir ähnlich ganz«46 sein soll, dann ist zunächst an ein umfassendes Ideal von Freundschaft als einer mit »Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in allen menschlichen und göttlichen Dingen« zu denken,47 aber die ›Ähnlichkeit‹ der Freunde konkretisiert sich darüber hinaus in verschiedenen Aspekten: Vorausgestzt ist die am jeweils anderen beobachtete gleiche Tugendhaftigkeit. Diese Tugendhaftigkeit begründet die Attraktivität der Freunde füreinander, sie wird außerdem durch die Freundschaft zusätzlich stabilisiert, weil der jeweils andere für den Freund zum Korrektiv einer guten Lebensführung wird. Der Grundgedanke der ›Ähnlichkeit‹ gilt darüber hinaus aber auch sozial mit Blick auf Stand oder Alter, weil Momente der Über- und Unterlegenheit sowohl der freien Wahl des Freundes als auch echter Symmetrie und uneingeschränkter Reziprozität zwischen den Freunden potenziell im Wege stehen. In diesen sozialen Zusammenhang gehört auch eine dezidierte Markierung idealer Freundschaft als spezifische Form der Soziabilität unter Männern: »Das geistige Vermögen der Frauen [ist] gewöhnlich den Anforderungen des engen Gedankenaustauschs und Umgangs nicht gewachsen […], aus denen der heilige Bund der Freundschaft hervorgeht; auch scheint ihre Seele nicht stark genug, den Druck eines so fest geknüpften und dauerhaften Bandes zu ertragen. […] [E]s findet sich kein einziges Beispiel, daß das weibliche Geschlecht bisher so weit zu gelangen vermocht hätte, und nach einhelligem Urteil der antiken Philosophenschulen bleibt ihm der Zugang hierzu verwehrt.«48 So formuliert Montaigne pointiert in seinem prominenten Essai De l’amitié und gibt damit zugleich einen Hinweis auf mögliche anthropologische Fundierungen der Annahme, dass wahre Freundschaft nur eine ›Männerfreundschaft‹ sein könne, und einen Hinweis darauf, dass der Diskurs keine Formulierungsoptionen 43 44 45
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Aristoteles: Nikomachische Ethik 9, 4, 1166a32. Cicero: Laelius 80. Zur Adressierung als alter ego vgl. das oben zitierte Gedicht an Georg Gloger; die deutsche Formulierung stammt aus einem Epicedium auf Michael Thomas, zit. nach Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill, London 1990, S. 44, V. 39; vgl. dazu unten. PW IV, 50, V. 82. So lautet Ciceros umfassende Definiton der idealen Freundschaft: »Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio […].« (Cicero: Laelius 20); die Übersetzung nach Cicero: Laelius de amicitia. Laelius über die Freundschaft. Übers., Anm. u. Nachw. v. Robert Feger. Stuttgart 1970, S. 11. »Joint qu’à dire vray, la suffisance ordinaire des femmes, n’est pas pour respondre à cette conference et communication, nourrisse de cette saincte cousture: ny leur ame ne semble assez ferme pour soustenir l’estreinte d’un neud si pressé, et si durable. […] Ce sexe par nul exemple n’y est encore peu arriver, et par les escholes anciennes en est rejetté.« (Michel de Montaigne: De l’amitié. In: Ders.: Les Essais. Hg. v. Jean Balsamo, Michel Magnien u. Cathérine Magnien-Simonin. Paris 2007 (Bibliothèque de la Pleiade 14), S. 193). Die deutsche Fassung nach Michel de Montaigne: Essais. Übers. v. Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998, S. 100.
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für gleichwertige Formen der Freundschaft zwischen Frauen oder zwischen den Geschlechtern zur Verfügung stellt.49
3. Das Ideal männlicher ›Mäßigung‹ und der Exzess des homosozialen Begehrens Flemings poetische Rede von seinem idealen Freundschaftsbund mit Gloger ist also durch den zeitgenössischen Diskurs der ›Freundschaft‹ geprägt, der geschlechtlich mindestens latent als ›männlich‹ markiert ist. Wenn man allerdings diese geschlechtliche Semantisierung der freundschaftlichen Rede akzentuiert, dann wird sichtbar, dass sich die spezifische Ordnung des Diskurses der ›Männlichkeit‹ nicht immer mit derjenigen des Freundschaftsdiskurses deckt. Aus der Überlagerung der differierenden Ordnungen können auch Momente der Irritation entstehen. Eine solche potenzielle Irritation antizipiert Fleming im Geleitgedicht zu seinen Manes Glogeriani: »Die ungerechte Menge«, so heißt es dort, »wird böswillig die ungestüme Liebe | und das zarte Werk der maßlos leidenschaftlichen Zuneigung verurteilen.« (»Improbus audaces vulgus male scindet amores | et nimis effusi molle favoris opus.«50) Fleming nimmt hier eine mögliche Kritik vorweg, die sich an der ausgestellten exzessiven Zuneigung entzündet. Die Aussage ist nicht nur eine konventionelle captatio benevolentiae, sie dient nicht nur der vorsorglichen Disqualifikation einer unangemessenen Rezeptionshaltung des ungebildeten vulgus – sondern sie liefert zugleich auch einen Hinweis auf die mögliche Verfehlung eines frühneuzeitlichen Ideals von ›Männlichkeit‹. Insofern sind diese Texte offenbar nicht nur »für unsere Begriffe überschwengliche Gedichte«,51 sondern sie besaßen auch für die Zeitgenossen ein Irritationspotenzial: Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Beriffe von ›Männlichkeit‹, die weniger auf anatomische Zeichen als auf Fragen des sozialen Status und ein kulturelles System von stabilisierenden symbolischen Auszeichnungen fokussieren,52 49
50 51 52
Flemings Gedichte kennen auch die Figur der ›Freundin‹, aber das darin entworfene Konzept der Freundschaft ist nicht so umfassend wie die Vorstellung vom idealen Freund als alter ego (vgl. die Sonette An seine erste Freundin (Sonn. IV, 72), Über Gedächtnüß seiner ersten Freundin (Sonn. IV, 73), vgl. dazu und zur männlichen Semantisierung von ›Freundschaft‹ auch Cornelia Niekus Moore: »Wer innig Freundschaft kennt«. Declarations of Friendship among German Women Authors in the Seventeenth Century. In: Ars et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. Christian Juranek. Amsterdam 1998, S. 223–243, bes. S. 225–228). Für einen Überblick über jüngere Forschungsbeiträge vgl. Penelope Anderson: The Absent Female Friend. Recent Studies in Early Modern Women’s Friendship. In: Literature Compass 7 (2010), S. 243–253 mit Hinweisen auf neue Ansätze, die Möglichkeiten der Teilnahme von Frauen am frühneuzeitlichen Diskurs der Freundschaft zu identifizieren. Man. Glog. I, 1, V. 5 f. Czapla (Anm. 37), S. 366. Vgl. Heide Wunder: What made a man a man? Sixteenth- and seventeenth century fi findndings. In: Gender in Early Modern German History. Hg. v. Ulinka Rublack. Cambridge 2002, S. 21–48; Roper (Anm. 16).
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zeigt sich, dass Flemings Evokationen des ungestümen freundschaftlichen amor mit einem Ideal der männlichen ›Mäßigung‹ der Affekte kollidieren.53 Vorrangig hat man Flemings Dichtung (und zugleich auch seine Person) allerdings affirmativ auf dieses Ideal von ›Männlichkeit‹ bezogen. Insbesondere die ältere Forschungsliteratur ist durchsetzt mit bewundernden Hinweisen auf seine »männliche und kühne Natur«,54 auf seinen »männlichen und mutigen Charakter«55 oder auf seine »stolze Männlichkeit«.56 Und auch konkrete Texte oder Textpassagen werden mit dem Begriff belegt. Es sind Verse wie der »männlich feste Spruch«57 Laß dich nur nichts nicht dauren oder Flemings Sonett An sich und seine Grabschrifft. In diesen Texten, so heißt es, breche Flemings »klare, sympathische Männlichkeit« durch;58 sie seien »männlich fest und von einer christlich-stoischen Haltung«.59 Man könnte die Reihe der Zitate leicht verlängern, aber der Hinweis auf die grundlegende Annahme ist bereits formuliert: Im Fokus auf ›Männlichkeit‹ kommen vor allem diejenigen Texte von Fleming in den Blick, in denen ein stoischer Habitus der Standhaftigkeit und Unanfechtbarkeit exponiert wird.60 53
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Zur grundlegenden Bedeutung des Ideals der Mäßigung für frühneuzeitliche Konzepte von Männlichkeit vgl. Todd W. Reeser: Moderating Masculinity in Early Modern Culture. Chapel Hill (NC) 2006. John George Robertson u. Edna Purdie: Geschichte der deutschen Literatur. Göttingen 1968, S. 186. Eugen Honsberg: Studien über den barocken Stil in Paul Flemings deutscher Lyrik. Würzburg 1938, S. 92 f. Erich Trunz: Die Erforschung der deutschen Barockdichtung. Ein Bericht über Ergebnisse und Aufgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 18 (1940) Referatenheft, S. 1–100, hier S. 47. Vgl. auch die spätere Vermutung, Flemings »männliche Frische und Freude an allem Schönen« sei »auch aus dem Kupferstich [in den Teütschen Poemata] zu erkennen.« (Erich Trunz: Deutsche Schriftsteller des Barock und ihr Umkreis in zeitgenössischen Kupferstichen. In: Ders.: Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. Sechs Studien. München 1992, S. 118–160, hier S. 151) Es könnte aufschlussreich sein, ›Männlichkeit‹ insgesamt als Bewertungskategorie im Diskurs der Literaturwissenschaft in den Fokus zu rücken. Grimmelshausen, so lautet eine Formulierung von Herbert Cysarz, »gattet die Männlichkeit Logaus mit der Strenge des Moscherosch und der Klarheit eines Weise.« (Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924, S. 157) – Wilhelm Kahle nennt Logaus »unverstellte Männlichkeit« (Geschichte der deutschen Dichtung. Münster 1949, S. 132); Andreas Gryphius »[überragt] seine weltlichen poetischen Zeitgenossen an Männlichkeit um einen Kopf« (J. G. Seidl: [Rezension von:] Alois Egger: Deutsches Lehrund Lesebuch für Obergymnasien. II. Teil, 1. Band Wien 1869. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 1870, S. 61–72, Zitat S. 68); die Reihe der Zitate ließe sich leicht erweitern. Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur Berlin 141920, S. 321. Philipp Witkop: Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik. Leipzig 1908, S. 19. Vgl. z. B. auch die Bemerkung von Liselotte Beck-Supersaxo, Flemings »selbstvertrauende Männlichkeit verlangt nach keinem göttlichen Beistand« (Die Sonette Paul Flemings. Chronologie und Entwicklung. Hg. v. Liselotte Beck-Supersaxo. Zürich 1956, S. 69). Wilhelm Kahle: Geschichte der deutschen Dichtung. Münster 31958, S. 111. Vgl. auch Georg Braungart: Poetische Selbstbehauptung. Zur ästhetischen Krisenbewältigung in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. In: Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven. Hg. v. Manfred Jakubowski-Thiessen. Göttingen 1999, S. 43–57. Es liegt nahe, die Konjunkturen des Begriffs in der Literaturwissenschaft auch mit den je-
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Diese Assoziation von Stoizismus und ›Männlichkeit‹ hat auch historisch eine strukturelle Grundlage, denn beide Konzepte stimmen im Imperativ der selbstdisziplinierenden Mäßigung der Affekte überein.61 »Zwar es ist menschlich das man sein vbel fühle;« heißt es etwa in Opitzens Trostschrift an David Müller, »aber auch männlich das man es ertrage. […] Ein mann stehet unbeweget: es ist allzeit hell/ allzeit heimlichs wetter in seinem gemüte. Seine tugendt erscheinet auß der prüfung des vnglücks. Wo nicht geschlagen wirdt/ da kan auch nicht gesieget werden. Ein schiffmann wirdt im vngewitter/ ein soldat im treffen erkandt.«62 Und auch bei Fleming findet man mehrfach explizite Markierungen einer solchen stoischen Haltung als ›männlich‹. Als etwa der Freund Gloger um das Jahr 1630 im Zuge konfessioneller Wirren das Recht auf sein elterliches Erbe verliert, schreibt Fleming ein Gedicht, das ihn in der standhaften Haltung gegenüber der Widerwärtigkeit der Welt bestärken soll: »Ein sicheres Selbstvertrauen befestigt Dir den ganzen Geist, | du widerstehst solch harten Schicksalsschlägen mit männlicher Gesinnnung.« (»Una tibi totum fulcit fiducia pectus, | opponis tantis mascula sensa malis.«) So lautet die Aufforderung zur Mannhaftigkeit in Zeiten der Not, die nur wenige Verse später gleich noch einmal wiederholt wird: »den standhaften Mann befällt keine Verzweiflung« (»in fortem non cadit illa [i. e. frigida desperatio] virum«).63 Zwischen der Forderung nach stoischer Unerschütterlichkeit und Beständigkeit auf der einen Seite und der Forderung nach männlicher Standhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Affektdisziplinierung auf der anderen Seite besteht also eine grundsätzliche Homologie. Der Begriff der ›Mäßigung‹, der ihr zugrunde liegt, konkretisiert sich vor allem in der Distanzierung von allen heftigen Affekten. Er bezeichnet ein medium per abnegationem, einen Zustand zwischen den Extremen des ›zu wenig‹ und ›zu viel‹, der beständig neu hergestellt und stabi-
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weiligen zeitgenössischen Valenzen des bezeichneten Habitus zu erklären, zum stabilisierende virilen Ethos der ›kalten Persona‹ in der gesellschaftlichen Krise der Zwischenkriegszeit vgl. etwa Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Frankfurt a. M. 1994. Der Hinweis auf die Berührungspunkte zwischen dem Diskurs der ›Männlichkeit‹ und dem Diskurs des Stoizismus fehlt bei Reeser (Anm. 53). Martin Opitz: Trostschrift. In: Spiegel aller Christlichen Matronen/ oder Ehrengedächtnüsz Der VielEhrentugentreichen Frawen Marien geborner Rhenischin/ Herren David Müllers geliebten Haußfrawen: Von gelehrten gutten Freunden geschrieben / Maria Müller. Brieg 1628, S. 7r–17v, Zitat S. 14v. Zur Konstruktionen einer martialischen Männlichkeit in Flemings Texten vgl. auch Flemings ›Loblieder‹ eines Soldaten zu Fuße und zu Rosse (PW IV, 3 u. 4, vgl. dazu den Beitrag von Dirk Niefanger im vorliegenden Band). Die Krise der ›Nation‹ wird zeitgenössisch oft auch als Krise der ›Männlichkeit‹ ins Bild gesetzt. Das ist zu verfolgen etwa in Flemings Klage über die Enderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen, die im Angesicht der kriegerischen Bedrohung den »ausgestälten Sinn« vermissen lassen und nur noch wehrhaft scheinen, obwohl sie es tatsächlich nicht mehr sind: »Wir Männer ohne Man | Wir Starken auf den Schein« (Sonn. I, 20, V. 3 u. 12f.), so lauten kurz und bündig zwei knappe Formulierungen für einen Mangel, den der Sprecher explizit auch bei sich selbst diagnostiziert. Die komplementäre Position dazu führt das Schreiben vertriebener Frau Germanien vor. »Ich zwar bin nur ein Weib«, heißt es dort, »doch war ich so beherzet, | als wol kein Man nicht ist. An mir als die Gestalt | war sonsten weibisch nichts.« (PW IV, 1, V. 53–55) Sylv. II, 1, V. 15f. u. 22f.
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lisiert werden muss.64 In diesem Moment der Performativität liegt eine weitere strukturelle Homologie, denn weder das stoische Ideal der Autarkie, der Gedanke der vollständigen Verfügung über sich selbst, noch ›Männlichkeit‹ sind unmittelbar gegeben. Beide müssen vielmehr in beständiger Übung erworben und immer neu versichert werden. Ein zuverlässiger Indikator für das Gelingen der ›Übung in Manheit‹65 ist erst das Verhalten im Moment der Bewährung. Flemings Vers »Unfall ists, der auf uns wacht, | und die Männer männlich macht«,66 verweist auf diesen Moment der Bewährung, und er lässt sich als charakteristischer Aufruf zur ›Ermannung‹ durch Abhärtung verstehen. Neben diesen Homologien gibt es zwischen dem stoischen und dem männlichen Habitus aber auch eine wichtige Differenz, die sich in verschiedenen Imperativen konkretisiert: Während das ›stoische Subjekt‹ seine Konturen im Medium der Reflexion als der dominanten Technik der Selbstaffirmation gewinnen soll, muss sich das ›männliche Subjekt‹ stärker noch in der sozialen Interaktion bewähren. Es ist aufgefordert, einem sozial regulierten Rollenentwurf zu entsprechen – und es ist dabei beständig in Gefahr, an diesem Anspruch zu scheitern.67 Die Möglichkeit eines solchen Scheiterns am Ideal männlicher ›Mäßigung‹ und Selbstbeherrschung ist dem Freundschaftsdiskurs von Anfang an eingeschrieben, und Flemings Freundschaftsdichtung ist ein paradigmatisches Beispiel dafür. Als ein erstes Indiz kann der bereits zitierte poetische Schriftwechsel zwischen Fleming und Gloger gelten, in dem Flemings nachdrückliches Werben um umfassende freundschaftliche Zuneigung implizit auch ein Leiden an der potenziellen Labilität des Freundschaftsbundes sichtbar macht. Insbesondere in Momenten ihrer Gefährdung wird in emphatischen Beschwörungen intimer Nähe die Beständigkeit der ›Freundschaft‹ als einer exklusiven Bindung an den einen, einzigen idealen Freund bekräftigt. Die stärksten Formulierungen der ›Freundschaft‹ sind darum auch traditionell mit der Situation der Abwesenheit und des Verlusts des Freundes verbunden. Schon die Aussagen von Ciceros Laelius kreisen um das Bild des verstorbenen idealen Freundes Scipio und betonen dessen Unersetzlichkeit: »Ich werde […] schmerzlich bewegt, da ich eines Freundes beraubt bin, wie es, wie ich glaube, keinen mehr geben wird und wie ich versichern kann, bestimmt auch keinen zweiten gegeben hat.«68 Und auch Fleming betont in dieser Tradition in seinem Epicedium die Einzigartigkeit seines Bundes mit dem Verstorbenen: »Ein Freund zwar, hoff’ ich wol, mir anzutreffen ist: | so einer nimmermehr, wie du 64 65 66 67
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Vgl. Reeser (Anm. 53), S. 25–27. Vgl. die Formulierung PW IV, 44, V. 36f. PW III, 6, V. 134f. Diese strukturelle Krise in Permanenz und die Angst vor einem Statusverlust sind darum inzwischen in neueren Forschungen zu einer konstitutiven Zug von ›Männlichkeit‹ in der Frühen Neuzeit erklärt worden, so dass auch die Behauptung eines stabilen hegemonialen Charakters von ›Männlichkeit‹ dazu in ein neues Verhältnis gesetzt werden muss. Vgl. etwa Mark Breitenberg: Anxious Masculinity in Early Modern England. Cambridge 1996; Kathleen Long: High Anxiety. Masculinity in Crisis in Early Modern France. Kirksville 2002. »Moveor enim tali amico orbatus qualis, ut arbitror, nemo umquam erit, ut confirmare possum.« (Cicero: Laelius 10)
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gewesen bist.«69 Der Tod des einen Freundes begründet auch die Lizenz für ein gesteigertes Pathos der freundschaftlichen Rede.70 »Nie, so scheint es, ist der verlorene Freund präsenter als in der Trauer um seinen Tod, nie ist die Intimität und Intensität der Freundesliebe größer als in der Situation des Verlusts.«71 Und das gilt umso mehr als der zuvor intakte Freundschaftsbund in ein gemeinsames Programm der gegenseitigen Stabilisierung der Lebensführung eingebunden ist. Vor diesem Hintergrund erscheint der Tod des Freundes häufig als Grund, warum sich die artikulierten Gefühle überschlagen. Die evozierte emotionale Ökonomie der Situation kann daher dazu führen, dass die entsprechenden Formulierungen der Trauer und des Begehrens in ein erotisches Register hinübergleiten.72 Eine ähnliche affektive Dynamik fasst auch Fleming einen Monat nach Glogers Tod in Worte: Wie sehr ihm die Seele krampfartig zusammengezogen sei und wie er sein ganzes Glück habe sinken sehen, so schreibt er an Johann Michaelis, könne niemand empfinden, als er allein, der diesen Schiffbruch erlitten habe. »Aus der Liebe und der Wertschätzung zum Verlorenen erwächst großer Schmerz und die hohe Art der Liebe und Sehnsucht geht über in heftige Leidenschaft.« (»Quod cum qua animi mei convulsione quantaque fælicitatis iactura factum sit, nemo persentit ac, qui naufragatus sum, ego. Ex amore et æstimatione amissi grandescit dolor dilectionisque generositas desiderii vehementiam intendit.«73) Über die Aufrichtigkeit der mitgeteilten Empfindung lässt sich nicht urteilen, aber auf der Ebene der Texte entfaltet sie ihre Wirksamkeit. Mit der formulierten Affektstruktur, der exzessiven emotionalen Ökonomie der obsessiven Trauer und des unbändigen Begehrens korrespondieren tatsächlich die Repräsentationen der Affekte in Flemings Gedichten. In diese Struktur lassen sich insbesondere auch die stärker erotisch getönten Texte einordnen, die Fleming auf den Freund verfasst, 69 70
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PW II, 7, V. 15f. Vgl. Andreas Kraß: Männerfreundschaft. Bündnis und Begehren in Michel de Montaignes Essay De l’amitié. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. v. dems. u. Alexandra Tischel. Berlin 2002 (Geschlechterdifferenz und Literatur 14), S. 127–141, hier S. 129. Kraß: Achill und Patroclus (Anm. 14), S. 90, vgl. auch ebd. S. 82: »Die Trauer über den toten Freund bietet diskursiven Freiraum für eine affektiv aufgeladene, von Intimität und Identifikation getragene Rede über das Wesen der verlorenen Freundschaft. Tod und Trauer gewähren dem Klagenden Distanz und Lizenz zugleich. Er darf über die Beziehung zum verstorbenen Freund sprechen, ohne daß dieser widersprechen könnte, ohne daß ein Dritter Einwände, Vorwürfe, Verdächtigungen zur Sprache bringen könnte: de mortuis nil nisi bene.« »The living man‹s relation to the deceased friend risks articulating desire like the emotional excess of the elegiac for the lost friend, which threatens to express homoerotic instead of homosocial affection.« (Reeser (Anm. 53), S. 209). Vgl. dazu allgemein Stephen Guy-Bray: Homoerotic Space: The Poetics Of Loss in Renaissance Literature. Toronto 2002; komplexe Fallstudien bieten außerdem Ulrich Pfisterer: Lysippus und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance oder: Das erste Jahrhundert der Medaille. Berlin 2008 (über den homosozialen Freundschaftskult um den 16-jährig verstorbenen Alessandro Cinuzzi) sowie Kraß: Männerfreundschaft (Anm. 70) und Reeser (Anm. 53), S. 187–214, über Montaignes emphatischen Entwurf seines Freundschaftsbundes mit Étienne de la Boétie. So die Formulierung im Widmungsbrief zu seinen Suavia, LG 104.
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im deutschsprachigen Epicedium etwa seine petrarkistisch inspirierte Rede über den Mund des Freundes, »den Venus selbst in ihre Nectar tauchet« oder über die Augen, »die ihr mich, durch euer freundliche Sehn | zur Gegenliebe zwingt«,74 aber auch pertrarkistische Texte aus den Manes Glogeriani auf Glogeri Frons, Oculi, Manus oder Crines.75
4. ›Ausweitungen‹ der Trauer und des Begehrens Die beschriebene affektive Dynamik gilt zunächst für diejenigen Texte, die explizit auf den Tod des Freundes perspektiviert sind: Der Tod führt nicht zu einem Vestummen der poetischen Rede – das homosziale Begehren nach der Nähe des Freundes, das bereits in Flemings Beschwörung des gemeinsamen Bundes mit seinem alter ego Gloger zu Lebzeiten hörbar ist, spricht sich nur umso deutlicher in der obsessiven Trauer aus.76 Es wird in einer Flut von Texten formuliert, allerdings bleiben die Referenzen auf Glogers Tod nicht auf diejenigen Gedichte beschränkt, die ausdrücklich den Freund adressieren, sondern die Klage greift auch in anderen Texten ungehindert Raum. Diese Tendenz führt mitunter auch zu Brüchen mit geltenden literarischen Konventionen. Das lässt sich etwa an den Epicedien auf Gedeon Hanemann und Michael Thomas beobachten, die Fleming später vermutlich auch darum nicht in das Manuskript seiner Teütschen Poemata aufgenommen hat, weil der Verstoß gegen die Gattungskonventionen zu deutlich war.77 Die Klage über den persönlich erlittenen Verlust und die eigene Trostlosigkeit besetzt hier den gesamten Text. Für Passagen der laudatio auf den Verstorbenen und für die consolatio der Hinterbliebenen, die nach den Konventionen der Gattung obligatorisch sind,78 ist dagegen offenbar kein Platz. Im Gedicht auf Gedeon Hanemann, der nur wenige Tage nach Gloger gestorben war, tritt die gemäßigte Trauer um einen lebenssatten alten Mann schnell hinter der maßlosen Trauer über das Sterben des jugendlichen Freundes zurück. »Jch wein’ vmb einen Freund […]«, und mehr noch um diesen Freund, so heißt es explizit, als um den betrauerten alten Mann: »Nun/ ob dein sanffter Fall die deinen schmertzt vnd mich«, wird konzediert, »Doch wein ich billicher vmb meinen / als vmb dich |
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PW II, 7, V. 9 u. 11f. Man. Glog. II, 3, 5, 7 u. 11. Vgl. auch den Beitrag von Beate Hintzen im vorliegenden Band. Von »disproportionate grief« und »obsessive and inconsolable reference to Gloger‹s death« spricht auch Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming (Anm. 45), S. 45. Vgl. dazu ebd.,, S. 42–46 mit. Anm. 66; Braungart (Anm. 60), S. 47 f.; zum Fundort der ungedruckten Gedichte vgl. Marian R. Sperberg-McQueen: Gedichte von Paul Fleming in der Stolbergschen Leichenpredigten-Sammlung. In: Schiller-Jahrbuch 26 (1982), S. 1–8, bes. S. 3f. Zu den Konventionen des Epicediums vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147.
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Die deinen thun/ vnd ich […].«79 Auch wenn sich der Sprecher damit als Mitglied der Trauergemeinde positioniert, bleibt neben dem überwältigenden und isolierenden Schmerz über den eigenen Verlust kein Raum für echte Anteilnahme. Von einem brauchbaren Trost, den das Gedicht spenden würde, kann darum keine Rede sein. Die gleiche Disposition zeigt das Gedicht auf den Tod des Leipziger Juristen Michael Thomas, der noch einmal weitere drei Wochen später gestorben ist. Nach einer grimmen Klage über die desolaten Zustände in Leipzig wechselt das Gedicht abrupt wieder zur Klage über den persönlich erlittenen Verlust. Den Verstorbenen übergeht es dabei fast vollständig, der eigentlich betrauerte Jurist ist nur noch schemenhaft präsent: Heut’ ist es an dem Deinen/ Nechst traff die Reye Meinen/ Ach! meinen Andern Mich. Wer weis was jnner heute Vnd morgen gehn für Leute/ Wo Du must hin vnd ich. Dir solt’ ich zwar verbieten/ Das vbermachte wüten Vnd thun vmb diesen Mann. Doch könt’ ich andre lehren/ Was ich mir selbst nicht wehren Vnd angebieten kan. Vielleichte wird dein grämen Ab mit den Tagen nemen/ Vnd lernen nicht mehr sey[n]; Nur mein Harm/ mein Betrawren Wird ewig müssen tawren/ Vnd keine Zeit gehn ein.80
So besetzt die eigene untröstliche Trauer das Zentrum des Gedichts, und man wird solchen Verstößen gegen die Gattungskonventionen hier wie im vorangehenden Epicedium kein Kalkül unterstellen können. Die Texte verfehlen ihre soziale Funktion, sie leisten lediglich die Inszenierung einer isolierenden individuellen Untröstlichkeit, die notwendig mit den Forderungen des aptum in Konflikt geraten muss.81 79 80 81
Zit. n. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming (Anm. 45), S. 45, V. 5, 9–11. Zit. n. ebd., S. 42–46, V. 37–54. Die egozentrische Qualität der Trauer, die den verstorbenen Freund unweigerlich ins Zentrum aller Epicedien rückt, lässt sich unter anderen Vorzeichen auch an Flemings zweitem Epicedium ablesen, das er selbst auf Glogers Tod verfasst hat: Es ist unter eines Anderen Namen geschrieben, und vermutlich steht hier darum weniger die Evokation freundschaftlich-intimer Nähe (wie in Flemings selbstverantwortetem Gedicht auf Glogers Ableben) im Mittelpunkt, sondern stattdessen der konventionelle Gedanke von der Nützlichkeit der Freundschaft und ein sozial perspektiviertes Lob von Glogers medizinischen Kenntnissen. Aber obwohl er
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Den Trauergedichten lassen sich zwei Gedichte auf Geburtstage an die Seite stellen, von denen das erste nur wenige Monate später entstanden ist. In beiden Texten ist wiederum auf signifikante Weise von Freundschaft die Rede, während sie das im Titel formulierte Thema genau genommen ebenfalls verfehlen. Auf eines guten Freundes Geburtstag lautet der Titel des ersten Gedichtes, dessen Adressat nicht eindeutig zu identifizieren ist. Ein Name wird dennoch genannt, denn nach der ersten Strophe, in der die Liebe für die Bekanntschaft mit den Musen verantwortlich gemacht wird, heißt es: Dafnis, Dafnis, durch die Liebe Ward ich anfangs dir vermählt, Sie, sie hat vns so vmpfählt Daß uns nichts vonsammen triebe, Was sich treu und standhaft nennet Wird durchaus durch Nichts getrennet.82
Der Name aus der Schäferpoesie steht nach den Konventionen der Leipziger Freunde für Gloger, der hier im Gedicht wiederum präsenter ist als der angeredete Freund. Auf eine Klage darüber, dass der enge Bund durch den Tod zerstört worden sei, folgt die Versicherung, die Freundschaft in der Dichtung zu verewigen und dem Freund dauerhaftes Leben auch über den Tod hinaus in den eigenen Texten zu geben. »Ach, daß nun doch Einer käme, | der mich so, wie Dafnis meint!«, lautet im Anschluss daran der Wunsch nach einer neuen Bindung, die nicht hinter der Qualität des alten Bündnisses zurückstehen soll: »Her, wo ist ein solcher Freund, | dem ich mich, wie ihm, bequeme?« Und es scheint, als besitze der »gute Freund« von dem im Titel die Rede ist, die nötigen anziehenden Eigenschaften: »Deiner Tugend weise Gaben, | locken Lieber, mich zu dir«, heißt es in Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Begründungen der Freundschaft. Und die Bitte, der Freund möge den Sprecher zum Objekt der Treue machen (»Bruder, meine mich mit Treuen«), wird vom Gegenüber schließlich gewährt: »Nun so komm! Du solst an mir | was die Liebe wündschet, haben«, antwortet der Freund.83 Die vermessene sehnliche Hoffnung auf ein neues alter ego scheint also nicht vergeblich zu sein, und die anfängliche Klage schlägt schließlich um in Jubel: Sonst hab’ ich auch über Hoffen Einen, der sich mir und dir, der sich Dafnis gleicht, allhier durch die Götter angetroffen. Ach wie selten kan erreichen ein treu Herze seinesgleichen!
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nicht für sich selbst spricht, nutzt Fleming die Gelegenheit, um auch hier seine eigene Trauer wieder zur Sprache zu bringen: Bereits ab dem dritten Vers ist es nicht mehr nur der Sprecher allein, sondern wieder zwei, die trauern, nämlich »dein Fleming und dein Ich, | wie seufzen wir doch gnung und trauren recht um dich […].« (PW II, 8, V. 3f.) Oden IV, 4, V. 7–12. Oden IV, 4, V. 25–28 u., 37–40.
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Er mein Leben, du mein Leben, euer beider Leben ich, ich durch euch und ihr durch mich, wollen bis ans Blaue schweben.84
Tatsächlich feiert das Gedicht also einen neu geschlossenen Freundschaftsbund, aber in diesem Bund bleibt der erinnerte verstorbene Freund immer noch präsent; die ideale Relation der ›Ähnlichkeit‹ unter den Freunden kann darum nicht nur zweistellig sein, sondern sie muss um eine dritte Position erweitert werden.85 Das zweite Geburtstagsgedicht, acht Monate nach Glogers Tod entstanden,86 liest sich wie eine augmentierende Überbietung des ersten. Nicht mehr Auf eines guten Freundes Geburtstag, sondern Auf Eines seiner besten Freunde Geburtstag lautet der Titel. Und auch dieses Gedicht verfehlt zunächst seinen deklarierten Anlass, denn hier ist nicht vom angekündigten freudigen Anlass die Rede, sondern von Überdruss und Trauer über den Verlust des alten Freundes und vom zögernden Knüpfen eines neuen Freundschaftsbundes. Anders als im ersten Gedicht sind die Anfangsverse, die wiederum die Leistung der Dichtung diskutieren, nicht zuversichtlich gestimmt. Stattdessen erteilen sie eine Absage an alle eitel-vergeblichen Bemühungen um poetisch vermittelten Nachruhm: »Und was ists, das nach uns bleibet?«, lautet die Frage, und die Antwort: »Ein vergebliches Geschrei, | das derselbe doch nicht höret, | der darmitte wird geehret.«87 Der Sprecher fordert den angeredeten Freund darum auf, sich konsequent von der Welt der Bücher und der Schriftlichkeit abzuwenden und sich ins Leben zu stürzen. Nach einem therapeutischen Spaziergang durch die liebliche Natur und nach ausreichendem Genuss dieser Annehmlichkeit folgt die Aufforderung, sich gemeinsam unter eine Linde zu legen und zu rasten. Was wir hier für Reden führen das verschweigt die stille Luft. Und da werd’ ich melden viel das ich itzt nur denken will. Dafnis werd’ ich erstlich klagen, Dafnis, meinen andern Mich, und was er mir macht für Plagen, seit er mir entrissen sich.
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Oden IV, 4, V. 43–52. So sind – vermutlich – auch die Verse zu verstehen, die auf die formularartige Bestätigung des neuen Freundschaftsbundes folgen: »Komme, so du ihn zu sehen | Lust und ein Verlangen hast! | Doch er muß sein unser Gast, | wenn die Lösung soll geschehen. | Besser ist nicht treuen Flammen, | als im Fall‹ sie sind beisammen.« (Oden IV, 4, V. 55–60; »Lösung« hier vermutlich nicht im Sinne der ›Auflösung‹ des alten Bundes, sondern als »gegengeschenk eines geburtstagkindes auf das angebinde«, Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 12, Sp. 1202). »Achtmal hat nun, als ich zähle, | Phöbe volle Hörner kriegt, daß zoh’ hin die fromme Seele, | daß der liebe Leib erliegt […].« (Oden IV, 10, V. 169–173) Oden IV, 10, V. 33–36.
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Seit er sich von mir gewandt, Bin ich selbst mir unbekannt.88
Wortreich werden wieder Schmerz und Untröstlichkeit artikuliert und zugleich das Begehren nach einem neuen Freund, der an seine Stelle treten könnte: »Will mir Gott denn Keinen geben, | der sich, Liebster, gleiche dir«, klagt der Sprecher, »nun so muß ich einsam leben | und mich immer halten mir […].«89 Auch hier spielt, wie im ersten Gedicht, das präsente Bild des verstorbenen Freundes für die Möglichkeit eines neuen Freundschaftsbundes eine entscheidende Rolle. Die aussichtslose Suche geht nicht nur nach einem alter ego, sondern nach einem, der auch dem Toten ähnlich ist. Und so könnte die Klage »fort und fort« gehen. Stattdessen wird sie abgebrochen, um tatsächlich dem emphatischen Entwurf einer zukünftigen neuen Freundschaft Platz zu machen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Moment geschenkt, in dem die anfängliche Distanz in die ersehnte intime Nähe umschlagen soll: Dieses Alles wirstu hören und mich ansehn unverwandt, drauf dich sehnlich zu mir kehren, dar mir bieten deine Hand und mit feuriger Begier diese Worte sagen mir: ›Hastu etwas vor verloren, Suche selbigs nur in mir!’ Ich, als wär’ ich neugeboren, werde wenden mich zu dir, sprechend: ›Lieber, geh’ es ein! Du, du solst mein Dafnis sein!’90
Und der neue Bund, der zugleich eine Wiedergeburt des Sprechers ist (und im übertragenen Sinn möglicherweise auch der Geburtstag eines seiner besten Freunde, von dem im Titel des Gedichts die Rede ist), wird anschließend euphorisch publik gemacht und die umgebende Natur zum Zeugen angerufen, »daß ich diesen Meinen, diesen | gleich als meinen Dafnis mein’! | Ich bin deine, meine du! | Ganze Gegend höre zu!«91 In der Homonymie von transitivem Verb und Possessivpronomen kulminiert sprachlich Realisierung der neuen Bindung: Der neue Freund wird in die Position des Dafnis gerückt, und er geht damit zugleich eine feste Bindung mit dem Sprecher ein. Die Referenzen solch emphatischer Freundschaftsbekundungen lassen sich ebenso wie die Aussagen in den Epicedien nicht auf einen abgeschlossenen Bezirk der poetischen Texte beschränken, sondern sie reichen darüber hinaus und situieren den Sprecher zugleich in verbindlichen sozialen Kontexten. Das kann 88 89 90 91
Oden IV, 10, V. 159–168. Oden IV, 10, V. 187–190. Oden IV, 10, V. 193–204. Oden IV, 10, V. 207–210.
›Der Zeuge von meiner Poesie‹
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man – noch einmal – exemplarisch an zwei Gedichten aus dem Leipziger Freundeskreis zeigen, etwa an Flemings konsolatorischem Gedicht An Herrn Martin Christenien über Ableben dessen Vatern, Mutter und Schwester im Jahr 1633.92 »Liebster nach dem Liebsten du«, lautet seine Anrede zu Beginn seines konsolatorischen Freundschaftsgedichts, mit der markiert wird, dass die Position des eigentlichen ›Liebsten‹, gut zwei Jahre nach dem Tod des Freundes, noch immer für Gloger reserviert ist. Und Christenius seinerseits erkennt das Gewicht von Flemings Freundschaftsbund mit Gloger an, indem er selbst ein Gedicht an Fleming, in dem die zeitgenössischen Formulierungen idealer Freundschaft katalogartig referiert werden, an der Stelle abbricht, an der die Rede auf die ›Dauer des Bundes über den Tod hinaus‹ kommen muss: »Geschweigen will ich itzt der Freundschaft in der Not«, schreibt Christenius, »die du den Unsrigen [also dem Schlesier Gloger] erwiesen bis in Tod, | auch nach demselben sie mit sonderbarem Loben | durch deinen hohen Sinn bis ans Gestirn’ erhoben.«93
5. ›Der Zeuge von meiner Poesie‹ Es ist deutlich geworden, wie viele von Flemings Texten kontinuierlich um den abwesenden Freund als ein semantisches ›Gravitationszentrum‹ kreisen:94 »Was ich sinne, was ich denke | das ist Dafnis für und für«,95 heißt es in diesem Sinne in 92 93
94
95
Oden II, 12, V. 1. ABPW 6. Vgl. im Zusammenhang mit Markierungen der Exklusivität von Freundschaften auch Flemings Eintrag in das Stammbuch von Christoph Lachnitz am 2. August 1631: »Sim tuus, ut meus est fecundum pectus Amoris | Glogerides, animae portio prima meae. | Sim tuus, ut meus es. tuus ast ero, si mihi primum | Post istum dederis temet amare locum.« (Marian R. Sperberg-McQueen: An Autograph Manuscript of Early Poems by Paul Fleming in the Ratsschulbibliothek in Zwickau. In: Humanistica Lovaniensia 42 (1993) , S. 402–450, hier S. 410, V. 13–16, vgl. die englischsprachige Übersetzung und den Kommentar ebd., S. 426f.) Man könnte leicht weitere Belege anführen, etwa auf die enge Kopplung von Christologie und Freundschaft im Klaggedichte über das unschuldigste Leiden und Tod unsers Erlösers Jesu Christi verweisen (PW I, 9), das ebenfalls erkennbar auf Gloger perspektiviert ist (Flemings begleitender Brief an Buchner löst den impliziten Verweis auf, vgl. Fleming: Deutsche Gedichte, Beilage II, 9); in diesen Zusammenhang gehört auch eine Reihe von Texten aus den Manes Glogeriani, in denen der verstorbene Freund – etwa durch die Parallelisierung seiner Krankheit mit der Passion Christi oder auch durch explizite Gleichsetzung (Man. Glog. I, 20) – ebenfalls an die Stelle des Heilands am Kreuz tritt. Mit Blick auf Glogers Omnipräsenz in Flemings Gedichten verweist Sperberg-McQueen auch auf Flemings deutsche Ode und das lateinische Epigramm auf den Besuch Marie Eleonores von Schwedens in Leipzig (Dezember 1631), den er zum Anlass nimmt, seine zurückgezogene Trauer gegenüber der allgemeinen freudigen Schaulust zu profilieren (Oden IV, 3; Sylv. IX, 11); außerdem auf Flemings Propempticon für Salomon Steyer (November 1631), in dem er dessen Verlobte mit dem Gedanken zu trösten versucht, Steyer werde – anders als Gloger – wieder zurückkehren: »Ibit et, et tua vita pia cum sorte redibit;| ivit, at aeternum non mea vita redit.« (Man. Glog. V, 21, V. 7f.; Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming (Anm. 45), S. 45f.) Oden IV, 10, V. 181f.
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Claudius Sittig
Flemings Gedicht Auf Eines seiner besten Freunde Geburtstag. Und so bleibt der Bund auch über den Tod hinaus in den Gedichten präsent. Die leidenschaftliche Sehnsucht nach einem alter ego, das nicht nur dem Sprecher, sondern auch dem verstorbenen Freund gleichen muss, wird nicht stillgestellt. Die exzessive emotionale Ökonomie von obsessiver Trauer und leidenschaftlichem Begehren findet in einer Flut von Texten auf den verstorbenen Freund, und die affektive Dynamik durchkreuzt auch die Logik einer Reihe von weiteren Texten, die ursprünglich an andere Adressaten gerichtet sind. Dabei geht es um mehr als nur um das Wachhalten der Erinnerung und um die Stiftung von Nachruhm: Das zeitgenössische Konzept von ›Freundschaft‹ in ihren idealen Bestimmungen als einer paradigmatischen Form männlich-homosozialer Bindung wird zur produktiven Voraussetzung von Flemings Dichtung. Es gibt in Flemings Texten auf Gloger eine Formulierung, die diese Bedeutung des Freundes für die Poesie auf einen Begriff bringt. Sie findet sich etwa im eingangs zitierten Epicedium Auf H. Georg Glogers, Med. Cand., seliges Ableben. Dort heißt es: An dir hab’ ich gehabt, ach! ach gehabt! den Zeugen von meiner Poesie, wie sehr sie ümmzubeugen der hagre Neid erkühnt/ wie schlim er auff sie sieht! Durch dich verlacht’ ich ihn. Du hubst mir das Gemüht’ je mehr zum Ewigsein. Apollo war mir günstig, der Musicant’ und Artzt, weil du mich machtest brünstig zu seiner doppeln Kunst. […]96
Auch in diesem Fall sind im deutschsprachigen Epicedium (wie schon in der eigentümlichen Formulierung des Versprechens auf Stiftung von Nachruhm) Resonanzen der vorangegangenen lateinischen Elegie zu hören. Dort hatte Fleming um Glogers Reisebegleitung nach Wechselburg geworben und in einer langen idyllischen Passage die Erinnerung an einen früheren Besuch der beiden mit einem Entwurf der prospektiven Reise überblendet. Ins Zentrum allerdings rückt nicht die gemeinsame Reise, sondern eine detaillierte Imagination der göttlichen Berufung Flemings zum Poeten und der Krönung mit dem Dichterlorbeer durch Apoll. »Esto poeta«, lautet die Aufforderung des Gottes an Fleming, und dieser bittet den mitgereisten Freund, nachdem er Flemings Entwicklung zum Poeten gefördert habe, nun auch der Krönung als Zeuge beizuwohnen: »cuius eras autor, iam quoque testis eris.«97 Der Freund wird so zu einer umfassenden Beglaubigungsfigur für die poetische Selbstverständigung des Dichters.98 Damit wird im Rahmen des Freundschaftsdiskurses ein stoisches Verhaltensmodell reformuliert, das die Wahl einer 96 97 98
PW II 7, V. 17–25. Sylv. II 3, V. 134. Entner (Anm. 2, S. 174) übersetzt frei: »wen du angestiftet hast, für den mußt Du auch zeugen.« Von »Formen poetischer Zeugenschaft« im Kontext der frühneuzeitlichen Freundschaftsdichtung spricht (ohne Hinweis auf die stoische Fundierung der Denkfigur) auch van Ingen: »Der Der spezifische spezifische Interaktionsrahmen der barocken Freundschaftspoesie erweist sich als geeignete Form zur Artikulierung des dichterischen Selbstbewußtseins. In einer imaginären
›Der Zeuge von meiner Poesie‹
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geachteten und vorbildlichen Person zur Regulierung des eigenen Verhaltens propagiert. In Senecas Epistolae morales ad Lucilium heißt es, man solle sich diese Person als beobachtende und bewertende Instanz beständig vor Augen halten, so dass auch ohne die reale Gegenwart des Beobachters jedes Fehlverhalten von Anfang an ausgeschlossen sei.99 Der ideale Freund, bewundert für seine Tugendhaftigkeit, kann diese Funktion als ›custos‹, ›paedagogus‹ und ›testis‹ durchaus erfüllen. Die strukturelle Verwandtschaft der Erinnerung an den verstorbenen idealen Freund mit der stoischen Figur des internalisierten Zeugen begünstigt die Kopplung der beiden Modelle. »Wach ich, schlaf’ ich, was ich tu’, | so dünkt mich, er sieht mir zu«,100 heißt es über den Freund Dafnis in diesem Sinne in Flemings Gedicht Auf Eines seiner besten Freunde Geburtstag. Aber die Repräsentationen obsessiver Trauer über den Verlust und des Begehrens nach neuer Bindung stören in Flemings Gedichten die potenziell stabilisierende Funktion des erinnerten Freundes. Während das stoische Verhaltensmodell vorsieht, dass an die Stelle des imaginierten Beobachters schließlich die ›Selbstachtung‹ als ethische Haltung tritt, betonen Flemings Texte nach dem Tod des Freundes nur die eigene Verlassenheit. Später, in seiner ›poetischen Epistel‹ Nach seinem Traume an seinen vertrautesten Freund, greift Fleming den Gedanken der ›Zeugenschaft‹ noch einmal auf. Weder ist die Datierung dieses Textes sicher, noch ist der Adressat zweifelsfrei zu identifizieren, und auch die Situation, über die gesprochen wird, ist nicht klar zu benennen (Fleming formuliert konkret und verschwiegen zugleich):101 Du weißt, um was ich traure, was auf die Tränen auch ich oft bei dir betaure, du weist es neben mir. Heut’ ist der vierte Tag, daß ich für Leide nicht für Leute gehen mag. Ich zwinge mich in mir und kan mich doch nicht beugen, wie sehr ich wider mich mich führe selbst zum Zeugen.102
Es geht – das wird im Laufe des Gedichtes deutlich – um Zweifel über die Richtigkeit von Lebensentscheidungen (die ebenfalls nicht prägnant benannt werden) und um die Schwierigkeit, die Zumutungen des eigenen Schicksals in stoisch-
99
100 101 102
Gesprächssituation konfrontiert der Dichter den Freund mit seinem Dichtertum, das dieser gefördert habe.« (Ingen (Anm. 16), S. 215; vgl. auch ebd., S. 204–207.) »Hoc, mi Lucili, Epicurus praecepit. Custodem nobis et paedagogum dedit, nec immerito: Magna pars peccatorum tollitur, si peccaturis testis assistit. Aliquem habeat animus quem vereatur, cuius auctoritate etiam secretum suum sanctius faciat. O felicem illum, qui non praesens tantum, sed etiam cogitatus emendat! O felicem, qui sic aliquem vereri potest, ut ad memoriam quoque eius se componat atque ordinet! Qui sic aliquem vereri potest, cito erit verendus. […] Elige eum cuius tibi placuit et vita et oratio et ipse animum ante se ferens vultus! Illum tibi semper ostende vel custodem vel exemplum. Opus est, inquam, aliquo ad quem mores nostri se ipsi exigant: Nisi ad regulam prava non corriges.« (Seneca: Epistulae morales Ad Lucilium I, 11, 9 f.) Oden IV, 10, V. 185f. Zu Flemings ›poetischer Epistel‹ vgl. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming (Anm. 45), S. 143–150; Sturzenegger (Anm. 31), S. 36–40 u. 67–69. PW IV, 50, V. 9–14.
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gleichmütiger Haltung anzunehmen. Im Zustand seiner Trauer isoliert ist der Sprecher nicht in der Lage, für sich selbst zur unproblematischen Figur des affirmativen ›Zeugen‹ zu werden. Eine solche Beglaubigung gelingt erst durch die Figur des idealen Freundes, an den das Gedicht gerichtet ist: […] Du kennst mein ganzes Herze, weist, wie ich mich stell’ an, bei Ernst und auch bei Scherze, bist Zeuge meines Tuns, voraus der edlen Kunst, die mir zuerste hat erworben deine Gunst. Mein Bund soll mit dir sein, so lange man wird wissen, daß sich ein Fleming hab’ auf solch ein Tun beflissen, das seine Deutschen rühmt und ihre Sprach erhebt, das mit der Ewigkeit auch in die Wette lebt.103
Das ist – für den Bereich der Dichtung – eine Selbstversicherung durch ein Gegenüber, dem der Sprecher, im Sinne idealer ›Freundschaft‹, vollkommen transparent ist. Dichtung ist das kommunikative Medium dieser freundschaftlichen Bindung und sie hält ihn intakt: vom Moment der Anknüpfung des Bundes über das Datum der poetischen Epistel bis in eine Zukunft, deren zeitlicher Horizont mit demjenigen der potenziell ewigen Dauer des literarischen Ruhms ineins fällt. Damit wird schließlich ein neuer Bund geschlossen und ein Versprechen gegeben, dessen poetisches Formular Fleming zuvor bereits verwendet hat. – Von Dafnis aber ist hier nicht mehr die Rede.
103
PW IV, 50, V. 109–116.
Barbara Becker-Cantarino
PaulF lemings Schreiben vertriebener Frauen Germanien Zu Ikonographie und Konzept von ›Germania‹ im 17. Jahrhundert Die Gelegenheitsdichtung von Paul Fleming hat verhältnismäßig wenig Beachtung in der Forschung erfahren, was wohl der seit der Frühaufklärung kritischen Wertung der Kasuallyrik des vorausgehenden Jahrhunderts und der raschen Diskreditierung der Gattung Gelegenheitsgedicht am Ende des 18. Jahrhunderts geschuldet ist, sowie der Tatsache, dass für den modernen Leser Flemings Liebeslyrik und seine reflexiven Zeitgedichte weitaus interessanter erscheinen. Dennoch lohnt sich ein Blick auf Flemings frühes Gelegenheitsgedicht mit realpolitischen Referenzen Schreiben vertriebener Frauen Germanien von 1631, das ich im Folgenden im Zusammenhang mit der Ikonographie der Germania und dem imaginären politischen Konzept von ›Germania‹ im 17. Jahrhundert betrachten möchte. Dabei können die Hinweise zu diesem Gedicht von Heinz Entner und Marian R. Sperberg-McQueen auf die Irenik und den politisch-patriotischen Kontext erweitert und differenziert werden.1 Das Gelegenheitsgedicht gehört in die ›patriotische‹ Strömung des 17. Jahrhunderts, in der Deutschland in der Personifizierung als Germania der zentrale Begriff ist, eine Metapher, der hier ebenfalls weiter nachzugehen ist.
1. Zum Text Hybridität des Gelegenheitsgedichtes Im Frühjahr 1631 publizierte Fleming eine zehnseitige Flugschrift, die zwei Gelegenheitsgedichte in elegischen Distichen enthielt: ein lateinisches mit dem Titel Germaniae Exsulis ad suos filios sive proceres regni epistola und im Anschluss daran eine deutsche, etwas erweiterten Parallelversion Schreiben vertriebener Fr. Germanien an ihre Söhne / Oder die Churf. Fürsten vnd Stände im TeutschLande. Fast nach dem Lateinischen. Der recht schmucklose Einzeldruck hat keine weitere Widmung an einen persönlich genannten Adressaten oder Auftragge1
Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 193–200; Marian R. Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Dreißigjährigen Krieg: Paul Flemings Schreiben vertriebener Frauen Germanien. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 151– 171, und dies.: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Gender and History. Chapel Hill, London 1990, S. 53–72; Indra Frey (Paul Flemings deutsche Lyrik der Leipziger Zeit. Frankfurt a. M. 2009) beleuchtet Flemings Kasualdichtung in ihrer Beziehung zu seinen Leipziger Lehrern und Kommilitonen, geht jedoch auf das Schreiben vertriebener Frauen Germanien nur mit einem kurzen Hinweis (S. 94) ein.
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ber, jedoch endet das deutsche Gedicht mit der Autorangabe: »aller vnterthänigst vnd demütigst vbergeben von Paull Flemingen«, gefolgt von der Druckerangabe: »Friedrich Lanckischs Sel. Erben 1631«.2 Diese Flugschrift könnte eine Auftragsarbeit (aber von wem?) gewesen sein oder auch von Fleming (auf eigene Kosten) in Auftrag gegeben, um verkauft zu werden und auch eventuellen Gönnern überreicht zu werden – die Anrede an Kurfürsten und Stände Deutschlands lässt auf ein öffentliches Interesse schließen. Ich gehe im Folgenden besonders auf die etwas detailliertere und »fast nach dem Lateinischen« bezeichnete deutsche Version, das Schreiben, ein und beziehe mich nur gelegentlich auf die lateinische Fassung (die unten zusammen mit einer deutschen Übersetzung angefügt ist). Das Schreiben beginnt (statt mit einem Musenanruf) mit der advocatio, einem Bittruf der als Mutter personifizierten Germania an ihre Kinder: Ihr meine Kinder, ihr! So ihr mich noch könnt kennen, so euch der Mutter Nam’ erhitzet euren Sinn, ihr Söhne, so ihr noch mich könnet Mutter nennen, so nehmt von meiner Hand diß kurze Büchlein hin! (V. 1–4)3
Darauf folgt die narratio in der Form einer lamentatio über ihren beklagenswerten Zustand, die recordatio ihrer vergangenen Größe, geht dann in eine supplicatio um Beistand und Hilfe über, um mit einer consolatio als »Hoffnung ist mein Trost« (V. 298) zu enden. Das plastisch gezeichnete Bild der in äußerster Not schreibenden Germania ist theatralisch inszeniert, Germania befindet sich im fernen Norden im Sturm an der Küste, hat weder Tinte noch Feder: Ich must’ ein schwarzes Kloß in meine Tränen reiben, die Feder war ein Rohr: diß ist mein Schreibgerüst’. Ich kunte kümmerlich von einer Buche schälen die zache Rinde weg, und diß ist mein Papir. Ich satzte mich alsbald zu einer liechten Höhlen, mein Schreibpult war das Knie. Solch Armsein ist bei mir. (V. 11–16)
Verjagt aus ihrem Reich hat sie sich ein Haus aus schlichtem Schilf gebaut, um sich gegen Wind, Regen und Sturm zu schützen; sie ist verlassen, hat keine Bedienung von Zofen (V. 27), einen Geflickten Rock, nährt sich von Wurzeln des 2
3
Genaue Beschreibung bei Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1498, Nr. 18; das Exemplar in Halle findet sich online unter http://vd17.bibliothek.uni-halle.de/pict/2001/3:611119H [Dezember 2011]. Fleming ließ bei dem Leipziger Drucker Friedrich Lanckisch S. Erben im selben Jahr auch das Gelegenheitsgedicht Ode / Der Durchlauchtigsten / […] Marien Eleonoren / Der Schweden / Gothen / und Wenden Königin zur Begrüßung in Leipzig und noch ein Hochzeitsgedicht für Damian Gläser drucken, für vier weitere Einzeldrucke (deutscher Gelegenheitsgedichte) von 1631 beauftragte Fleming den Drucker Elias Rehefeld. Gedicht-Zitate (mit Verszählung) nach PW IV, 1 (S. 102–110). – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band.
Paul Flemings Schreiben vertriebener Frauen Germanien
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Waldes, von Moos statt Zitronensaft, schöpft Wasser mit der Hand. Fleming konzipiert seine Germania als hässliche, verlassene, arme alte Frau (V. 17–40) und thematisiert dann ihren tiefen Fall: […] wie bin ich so verjagt, so ungestalt, so bloß! Ich, königliches Kind, wie bin ich so gefallen! (V. 40–41)
Mit ihrem Fall »vom königlichen Kind« (V. 41), ihrer Erinnerung an früheren Glanz und Stärke, an die Tapferkeit gegenüber den Römern, an Arminius (V. 41– 68) appelliert Flemings Germania an die Ehre der adressierten Standespersonen und Fürsten und fordert ihre Tapferkeit heraus: Ich zwar bin nur ein Weib, doch war ich so beherzet, als wol kein Man nicht ist. An mir als die Gestalt war sonsten weibisch nichts. Wenn man zu Felde scherzet’, hielt’ ich mich, wie man weiß. Ich siegte mannigfalt. (V. 53–56) […] Das gilt auch mir zu Ehren, daß meine deutsche treu’ ein Sprichwort worden ist. (V. 67–68)
Die darauf folgende lamentatio und Beschreibung des Unglücks (V. 69–100) bringt die in Opitz’ Trostgedichte (von dem Abschriften vor der Publikation 1633 zirkulierten) und in anderen Kriegsgedichten gebrauchten Topoi wie Hungersnot, die von Blut rot gefärbte Erde, die von Körpern verstopften Flüsse usw. verbunden mit realistischen Hinweisen auf die Vertreibung, Verwüstung der Städte, Verwilderung des Landes, Pest, Seuchen (V. 130). Doch durchbrechen gezielt lancierte konkrete Nennungen von Flüssen (Mulde in V. 87; Saale in V. 89), Landschaften bzw. Ländern die lange Kette der Elendsbeschreibungen, die ein breites Publikum der unter dem Krieg leidenden Bauern und Bürger ansprechen: »So geht es meiner Welt« (V. 101). Von diesem einfühlsamen Gestus kehrt Flemings Germania wieder zur ihrer (d. h. des Reichs) Situation zurück (V. 101–136). Germania erläutert ihre Bedrohung und Verfolgung mit Tiermetaphern von Raub, Unglück und Töten und mit mythologischen Referenzen (Raub ihrer Mutter Europa als unheilvolles Omen, V. 109).4 Nach diesen Versatzstücken aus der literarischen Tradition, die recht plastisch ausgemalt werden (»Ich bin geborn, zum Räuberpreis erwählt. / Hier stößt, dort hält man mich«; V. 112f.) bringt Flemings Germania wieder vorsichtige Allusionen und lässt den zeitpolitischen Anlass des Gedichtes aufscheinen, wie etwa folgendermaßen: Ich muß zu meinem Leid’ auch Einen mir versühnen, der mich nicht Mutter heißt, der mich ohn’ Ende plagt. So vieler Herren Grim, so viel Uneinigkeiten, 4
Anspielung auf Ovid, Met. 1, 12, 17.
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die töten vollends mich, die vor ich röchle schon. Es ist kein Trauen mehr. Mich schmerzt auf allen Seiten der dreigespaltne Riß in der Religion. (V. 119–124)
Damit spielt Fleming in der Stimme der Germania aus seiner Perspektive auf die politischen Schlüsselprobleme seiner Zeit an (auf die ich im nächsten Abschnitt weiter eingehen werde): die Bedrohung durch das kaiserliche Heer unter Wallenstein, den Streit der drei Religionen, die »Pest- und Sterbensnot« (V. 130), Hungersnot (V. 133) und Verlust von »Hab und Gut und allen Vorrat« (V. 135) gebracht hat. Er macht die Uneinigkeit der deutschen Fürsten, – »nicht einig wollen sein, das tut mich so beschämen« (V. 149; dann in V. 142–150 breit ausgeführt) – und die »Zwietracht« (V. 151) verantwortlich für Elend, Untergang und Tod, und erinnert an die göttliche Fügung (und Sendung der Regenten): »Den Scepter giebet Gott und nimmt ihn, wenn er will« (V. 162). Flemings Germania argumentiert für das Gemeinsame, für »unser krankes Reich« (V. 170) mit der Geschichte als Exemplum und verweist warnend auf den Untergang großer Reiche (Rom, Troja, Syrien, Athen, Persien, Griechenland, Babel).5 Erst im letzten Drittel des Gedichtes werden die politischen Anspielungen gezielter und deutlicher: […] Doch läßt sich noch erweichen der Menschenfreund, Delphin, wenn ich am Ufer klag’; er schwimmet zu mir zu, gibt manches Trauerzeichen, und wartet bei mir aus so manchen ganzen Tag, wie auch das Federvolk. […] (V. 197–201)
Der Delfin ist wohl eher als ein Anagramm von Adolphus zu verstehen, denn Delfine gibt es bekanntlich nicht in Deutschland und auch sonst gebraucht Fleming keine ausgefallenen, exotischen Metaphern. Der Vers alludiert auf die Landung (mit Truppen – »Federvolk«) von Gustav II. Adolf und leitet mit dem Hinweis auf Böhmen als Auslöser des Krieges auf die zeitpolitische Konstellation hin: Ja, Böhmen, Böhmen selbst, die hat die ersten Funken auf mich, die Nachbarin, unschwesterlich gespeit. Von so viel Jahren her bin ich in Brand gesunken […]. (V. 209–211)
5
Fleming benutzt hier den biblischen Mythos von der welthistorischen Entwicklung der vier Weltreiche (Dan 2 u. 7,4), den er wie auch Luther typologisch auf Deutschland als letztes großes Reich anwendet. Im 16. Jahrhundert wurden unter den Weltreichen Assyrien, Babylon, Griechenland und Rom verstanden. Luther bezog den Mythos dann auch auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als das letzte vor dem kommenden Reich Gottes; s. Sperberg-McQueen (Anm. 1), S. 167f.
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Flemings Germania wünscht die Rückkehr der großen Verteidiger: »Hätt ich die Friederich’ und meinen Moritz wieder« (V. 219)6 und appelliert als »Landeskind« (V. 232) an »alte deutsche Treu« (V. 230), nennt dann direkt Sachsen, Brandenburg, Lüneburg, Anhalt, »Mechelburg« (V. 243), Baden und Württemberg – die protestantischen Fürstentümer –, hält ihnen das Exempel der »starken Niederländer« (V. 247) vor Augen und ermahnt sie: […] Klagt auch von meinetwegen mein großes Herzeleid dem hohen Ferdinand, als dem ich anvertraut mein liebes Volk zu pflegen, ja, der beschützen soll mich, Scepter, Kron und Land! (V. 263–266)
Germania übergibt ihre »Klagschrift« (V. 271) mit »Mutterküß« (V. 275) und »Zährenbach« (V. 279) in der abschließenden, parallel zur theatralisch-emotionalen Eingangsszene gebauten Schlusspassage und schließt mit Hoffnung auf Hilfe: Ich hoff’ hier unterdeß den Ausgang meiner Sachen; die Hoffnung ist mein Trost und Kummerwenderin, die wird mein Elend auch in etwas leichter machen, die ich doch sonsten nichts als lauter Elend bin. (V. 297–300)
Das an Themen, literarischem Wissen, Bildern und Anspielungen reiche Gedicht sprengt den Rahmen der traditionellen Kasuallyrik des 17. Jahrhunderts, von devotem Herrscherlob ist es weit entfernt. Ähnlich wie Optiz’ sog. Lehrgedichte mit Kriegsthematik (Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Krieges, 1633; Lob des Krieges Gottes Martis, 1628; Vesuvius. Poema Germanicum, 1633)7 ist Flemings Schreiben ein reflexives, hybrides Versgebilde, das Fleming im Text selbst einmal als »Klageschrift« (V. 273) bezeichnet. In der Tat bilden Klageverse der Germania (»Hier muß ich klagen selbst, so ich will sein beklagt«, V. 20; oder: »Ach, ich, ich kranke Frau, wer wird mein Seufzen hören«, V. 219) ein vielfach wiederkehrendes, das Gedicht strukturierendes Motiv, das als Versatzstück zwischen längere Passagen eingeschaltet ist und immer wieder die Sprecherrolle der Germania als lyrisches Ich hervorhebt, die dadurch zu einer Rolle von beeindrukkender Authentizität wird. Schon Friedrich Beißner hatte von einer »politischparänetischen Elegie« gesprochen und den elegischen Zustand in der »einprägsamen Formel« ihres Eigenwertes gesehen, in dem zugleich Schmerz und Trost liege und zitiert die Verse:8 6 7
8
Gemeint sind hier der Brandenburger Kurfüst Joachim II. und sein Bruder Markgraf Johann, die die Reformation in ihren Territorien eingeführt hatten. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Martin Opitz und der Dreißigjährige Krieg. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 38–52. Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie. Berlin 1941 (Grundriß der germanischen Philologie 14), S. 70f.
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Ich muß, ich muß mich schon zum Untergange neigen und trösten, daß ich auch vor hoch gewesen bin. Gewesen und nicht sein […]. (V. 175–177)
Nun ist die Klassifizierung in eine feste Gattung heute weniger aktuell, eher interessiert die Hybridität des Gelegenheitsgedichtes zwischen politischem Appell und Ausdruck von Kriegsangst mit inhaltlichen Allusionen an Germania-Texte, mit Versatzstücken aus der Geschichte und dem zeitgenössischen Deutschland. Diese strukturelle und inhaltliche Heterogenität lässt eine eindeutige Zuordnung zur Gattung des Kasualgedichtes oder der Elegie nicht zu. Nicola Kaminski konstatiert, dass in Flemings frühen Gedichten von 1631 das »Auseinandertreten von konkret politischer Referenz und paränetischem Sprechgestus als solches reflektiert und poetisch in Szene gesetzt«9 wird. Dies ist auch im Schreiben zu beobachten, in dessen Mischung aus unterschiedlichen Bereichen und Stimmungen, aus Kriegstrauer und politischem Appell, aus Klage, Anklage und Aufruf. Es ist ebenso eine verhalten-kritische Distanzierung vom Krieg wie eine Subversion kriegerischer Politik mit poetischen Mitteln aus Rhetorik, Literatur und zeitgenössischem Wissen. Doch es ist die realistische, lebensweltlich orientierte Situierung der Germania-Allegorie, die (in der deutschen Fassung) besonders wirksam ist und das Interesse des nicht-gelehrten Lesers erweckt, für den die deutsche Version bestimmt war.
2. Zeitgeschichtlicher Kontext Der Leipziger Konvent und Flemings Karriere Das Schreiben ist, wie der sachliche Titel suggeriert, ein vorsichtiger, überparteiischer Aufruf zu Einigkeit der Fürsten »in Deutschlande« (»ihr müßt beisammen stehn«, V. 294) und Rettung der Germania, die im Namen von »Volk und Reich« (V. 106), des »freien Volkes« (V. 75), der »Untertanen« (V. 76) für »das kranke Reich« (V. 170) spricht. Mit »Reich« sind in diesem »Schreiben« die Länder und Landschaften topographisch erinnert, nicht aber patriotisch als ›deutsch‹ gezeichnet. ›Deutsch‹ erscheint im Text auch als ethische, menschliche Qualität: »deutsche Treu« (V. 68 u. 232). Es ist Flemings Fürstenappell: »Ihr deutschen Herzen müßt der deutschen Wohlfahrt selbst / Greifen unter ihren Arm, soll sie erhalten sein« (V. 259f.) im Namen der Untertanen. Der realpolitische Anlass war der Leipziger Konvent aller protestantischen (lutherischen wie reformierten) Fürsten und Städte, der von Herzog Johann Georg von Sachsen einberufen worden war und vom 10.februar bis zum 3. April 1631 in Leipzig tagte, um die drohende Gefahr von Tillys anrückendem Heer noch abzu9
Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004, S. 157. Kaminski bezieht sich auf Flemings subtile Kriegskritik in Lob eines Soldaten zu Rosse, Lob eines Soldaten zu Fuß und Er beklagt die Änderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen.
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wenden.10 Es war ein Annäherungsversuch zwischen den ebenfalls verfeindeten Lutheranern und Reformierten, um ihre Fürsten und Stände zum gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Der Konvent markiert die langsam vollzogene Wende der Neutralitätspolitik und Kaisertreue des Kurfürsten Johann Georgs von Sachsen zum Bündnis mit Schweden gegen den Kaiser und damit zum Krieg. Als Ergebnis des Konvents wurde eine Bittschrift – Schreiben – an den Kaiser aufgesetzt und auch publiziert: Copia der Evangelischen Chur=Fursten und Stände / wie auch sämtlicher protestierenden Graffen / Herrn und Bevollmächtiger zu Leipzig gewesenen Abgesandten Schreiben / An die Röm: Kayserl: Mayest: die Auffkündigung fernerer Contribution, Einquartierung für die Kaysesrl. Armada vnd andere Reichs Gravamina mehr betreffend.11 Darin wurde besonders gegen die Kriegsabgaben und Lasten für die kaiserlichen Truppen protestiert und zudem gefordert, das (vom Kaiser 1629 erlassene) Restitutionsedikt, für das Johann Georg noch die Reichsexekution gegen die mit den böhmischen Aufständischen verbündeten Schlesier und Lausitzer übernommen hatte, wieder rückgängig zu machen und die Zwangskonversionen zu unterbinden. Außerdem wurde Rüstung für den Krieg (auch im bis dahin zögerlich abwartenden Sachsen) und gegenseitiger Beistand vereinbart. Seit März 1631 ließ Johann Georg ein eigenes Söldnerheer unter dem Oberbefehl des aus Brandenburg stammenden Feldmarschall von ArnimBoitzenburg anwerben. Nachdem Johann Georg noch im Vorherbst seinen Untertanen verboten hatte, fremde Söldnerdienste anzunehmen, wurden nun in Sachsen Soldaten mit einem ›fürstlichen Handgeld‹ von zwei bis drei Talern angeworben. Der gemeinsame Rüstungsbeschluss der protestantischen Fürsten machte das vergleichsweise reiche und bis dahin vom Krieg weitgehend verschonte Sachsen für die nächsten zwei Jahrzehnte zum wiederholten Kriegsschauplatz. Flemings Schreiben gehört in die Flugschriftendebatte während und gleich nach dem Konvent;12 sein vorsichtiges Taktieren keiner Partei Schuld zuzuweisen, den Kaiser nicht anzugreifen sondern eine vermittelnde Position zu vertreten scheint die politische Haltung seines Landesherrn zu reflektieren und zu vertreten. Da Flemings Schreiben Gustav Adolfs größere Siege und auch die anderen wichtigen Ereignisse des Jahres 1631 wie die Eroberung und Zerstörung von Magdeburg am 10. Mai 1631, Tillys Einkreisung (am 30. August) von Leipzig und die Kapitulation der Stadt und der Pleißenburg (am 6./7. September), die Schlacht bei Breitenburg, in der die Sachsen mit Schweden verbündet Tilly schlagen und in die Flucht treiben (7. bis 17. September) unerwähnt lässt, so erscheint es plausibel, die Abfassung von Flemings Schreiben demnach vor diese Ereignisse und damit in die Zeit des Leipziger Konvents im Frühjahr (Februar bis etwa April) 1631 zu datieren. Der realgeschichtliche Inhalt von Flemings Schreiben findet außerdem eine Parallele in zwei wohl gleichzeitig verfassten Huldigungsgedichten vom Früh10 11 12
Ausführliche Darstellung der sächsischen Politik und Flemings vermutliche Position bei Entner (Anm. 1), S. 179–306: »Das Jahr 1631.« Zeitgenössische Beschreibung in Johann P. Rabelinus: Theatrum Europaeum. Bd. 2. Frankfurt 1646, S. 309–311. Vgl. Entner (Anm. 1), S. 187.
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jahr 1631, An den Durchlauchtigsten, Hochgebohrnen Fürsten und Herren Herren Johann Georgen Herzogen zu Sachsen (am 6.februar 1631)13 und an dessen Bruder Auf Herrn Johan Casimir, Herzoge zu Sachsen, Namenstag (am 4. März 1631).14 Hier erinnern Verse wie die folgenden an ähnliche Formulierungen im Schreiben: Wo uns das Hertze liegt, da liegt das Teutsche Reich In Fraw Europens Brust: das Reich, dem keines gleich. […] Wie mancher, mancher Ort, der jetzt ist ohne Ruh Schickt tausent heisser Wündsch auf vnser Leipzig zu.15
Diese Gelegenheitsgedichte wie auch Flemings Schreiben haben natürlich eine biographische Dimension, die des »hungrigen«, Protektion und Gönner suchenden und sich erkenntlich zeigenden Studenten. Fleming war 1622 als Internatsschüler der Thomasschule mit einem Stipendium nach Leipzig gekommen, hatte sich im Wintersemester 1623/24 zum ersten Mal an der Universität immatrikuliert (seit 1630 studierte er Medizin) und war von 1628 bis 1633 ein alumnus electoralis. Wieweit das zugesagte Stipendium überhaupt und besonders dann auch in Kriegszeiten gezahlt wurde, ist zumindest offen. Flemings Huldigungsgedichte gehen mit den dringlichen »tausend heisser Wündsch« (s. o. anders) an die Fürsten durchaus über die üblichen Geburtstagsglückwünsche hinaus. Fleming war 1631 besonders vom Krieg betroffen und musste um seine Existenz bangen. Wahrscheinlich benutzte Fleming auch den Konvent, um sich mit dem Schreiben in Hofkreisen bemerkbar zu machen und verfolgte eventuell einen Plan über Beziehungen an den Hof nach Dresden gehen zu können, wie Entner vermutet.16 In dieser frühen Phase publizierte Fleming explizite Äußerungen über den Krieg, wie das Gedicht auf die Verteidigung von Stralsund, das Gedicht auf den Tod von Gustav II. Adolph, (1632) oder die Beschreibung der Kriegseinwirkung auf Sachsen nach den Schlachten von Breitenfeld (1631) und Lützen (1632) und in der Neujahrs-Ode auf 1633, wo er die Friedenssehnsucht am stärksten thematisiert. Die reichhaltige Produktion von Gelegenheitsgedichten dürfte ihm auch die Protektion von dem zehn Jahre älteren, aus ähnlichen Verhältnissen wie der Pfarrerssohn Fleming stammenden Adam Olearius (1599–1671)17 erworben ha13
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Wendelin von Maltzahn: Ein Gedicht von Paul Fleming. In: Archiv für die Geschichte deutscher Sprache und Dichtung 1 (1874), S. 448–451, enthält das Huldigungsgedicht auf Johann Georg von Sachsen Als seyne Churf. Durchl. Bey noch wehrendem Evangel. Churfl. Fürstl vnd anderer Evan-/ gelischer Reichsstände Convent sich in Leipzig befunde. PW IV, 2 (S. 110 f.). Maltzahn (Anm. 13), S. 451. Vgl. Entner (Anm. 1), S. 209–210. Olearius konnte sich 1620 an der Universität Leipzig für das Fach Theologie immatrikulieren, nebenbei studierte er auch Philosophie und Mathematik. 1627 wurde Olearius der Titel eines Magisters der Philosophie verliehen und fünf Jahre später avancierte er zum Assistenten der philosophischen Fakultät in Leipzig. Außerdem wurde er als Kollegiat der Kleineren Fürstenstiftung gefördert. In den Jahren 1630 bis 1633 hatte er das Amt eines Konrektors
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ben, der Fleming wohl die Gelegenheit vermittelte, 1633 an der holsteinischen Gesandtschaft nach Russland und Persien teilnehmen zu können.
3. Zur Germania-Allegorie und -Ikonographie Schon Marian R. Sperberg-McQueen hat auf die ikonographische Tradition der Germania-Figur in Flugblättern des 17. Jahrhunderts hingewiesen.18 Ein (anonymes, bislang nicht weiter einer Region oder Politik zuzuweisendes) Flugblatt Hertzliches Seufftzen und Wehklagen / auch christlicher Trost und endtlich göttliche Hülff unsers viel geliebten Vatterlandes / werther Teutscher Nation; Menniglichen zum Trost in offenen Truck geben/ Durch einen Liebhaber der Göttlichen Wahrheit hatte bereits 1620 eine patriotische, allegorisierte Germania-Figur zwischen Krieg und Frieden propagiert.19 Auf der facettenreichen, mit Bibelzitaten und beschrifteten Bildbändern versehenen Illustration steht die bekrönte (und mit Germania bezeichnete) Frauenfigur in der Mitte im Vordergrund zwischen zwei Säulen (die linke mit Schwertern, die recht mit Palmzweigen geziert) und hält Zepter und Reichsapfel in den seitlich, theatralisch flehend ausgestreckten Händen, links im Hintergrund ist eine Gruppe Priester und Betende, rechts ein Ackerbauer und Soldaten. Über dem Kopf schweben zwei im Handschlag vereinte Hände an Bändern, die von auf den zwei Säulen sitzenden Friedenstauben gehalten werden. Darüber halten zwei Arme aus dem Himmel ein Band mit Symbolen der Friedfertigkeit, der Liebe, der Geduld, des Glaubens und der Hoffnung. Die Germania-Allegorie repräsentiert hier durchaus ein großes, geordnetes Reich, das zwischen Krieg und Frieden, zwischen Anti-Christ und Christ steht. Der (nur deutschsprachige) Text beginnt mit: Aach liebe Christen in gemein/ Last euch trewlich befohlen seyn. Die Gfahr der gantzen Christenheit/ Welch jetzt der Teuffel hat bereit Durch sein Werckzeug/ den Widerchrist/ Welcher zu Rom der Bapst selbst ist.
Hier wird polemisch gegenüber dem Papsttum und respektvoll gegen die weltliche Obrigkeit Gottes Hilfe erfleht. Die Anklage richtet sich gegen den Papst, den Antichrist, nicht aber gegen den katholischen Kaiser und die katholischen Reichsfürsten. Die Germania (mit offenen wallenden Haaren und entblößtem Bauch gezeichnet) ist hier (am Anfang des Krieges) noch eine heroische, starke aber bedroh-
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am Nicolai-Gymnasium in Leipzig inne, von dort wechselte er in den Dienst von Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf als Diplomat und Schriftsteller über. Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel (Anm. 1), S. 159–165. S. das Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin findet sich online unter http://www.gbv.de/ du/services/gLink/vd17/1:089667X_001,800,600 [Dezember 2011]; lediglich ein weiteres Exemplar ist bislang in Wolfenbüttel nachgewiesen.
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te Frau. Wie weit dieses Flugblatt als Medium in der politischen Auseinandersetzung wirksam war, ist (bei nur zwei erhaltenen Exemplaren) nicht abzuschätzen. Ein illustriertes Leipziger Flugblatt von 1631, das ein deutsches Klaggedicht von dem Hofpoeten am sächsischen Hof Elias Rudelius (Rüdel) enthält, kann eventuell als Anregung oder auch Vorbild für Fleming angesehen werden.20 Daneben gibt es einen Einblattdruck mit dem schmucklosen Titelblatt Querela Europae, Ad diversos Imperii Germ. Proceres, Ordines, Status, de accepto membrorum suorum Vulnere et clade diffamata (Lipsiae, excudebat Gregor Ritzsch),21 der zunächst eine lateinische Querela Europae und dann unter »Ejusdem« die deutschen Verse des Rudelius vom Flugblatt als Pendant enthält, wie auch Flemings Germania-Gedicht ebenfalls einer lateinischen Version folgt. Wieweit Fleming mit Rudelius konkurrierte, ob ihm Rudelius’ Flugblatt und Schrift als Informationsvorlage dienten, und wie überhaupt Flemings Beziehung zu Rudelius (über dessen Person nichts weiter bekannt ist) aussah, ist nicht mehr zu ermitteln. In Rudelius Gedicht beklagt die personifizierte Europa-Figur (nicht die Germania) ihren eigenen desolaten Zustand und den durch Hunger und Armut hervorgerufenen Niedergang des Landes (»Der Vorrath ist hinweg / das Vieh darvon geflogen«), doch ist die Klage über den Krieg eher gedämpft. Rudelius’ Europa-Figur rät zur guten Nachbarschaft, zur Vereinigung und Verteidigung der Güter und zu einem gerechten Frieden. Das war ganz die politische Linie des abwartend taktierenden Landesherrn. Doch spricht auch Rudelius den Friedenswunsch deutlich aus: »Den Friede wollen wir / der Krieg kein Heyl hat bracht.« Allerdings wirken seine Verse unbeholfen, die Bilder herbei gesucht und die Europa-Figur bleibt eine recht hölzerne Allegorie, die der Autor zunächst so adressiert und einführt: Wie ist Dein Angesicht / vnd Cörper so zerschlagen / Du Königs Tochter / die vorhin ohn alle Plagen / Die vor der Fürsten heyl / die jederman geliebt; So nun verwundet vnd mit schaden sehr betrübt.22
Interessanter ist da schon die von dem Leipziger Künstler Andreas Bretschneider (ca. 1758–nach 1630) angefertigte Illustration (Radierung) für das (wohl in Leipzig hergestellte und dort zirkulierende) Flugblatt, das keinen Druckervermerk trägt: In der Bildmitte steht auf einem quaderförmigen Felsblock eine barfüßige Frauenfigur mit verhärmtem Gesicht, oben aufgerissenem Kleid, aufgelösten Haaren und mit bittend ausgestreckter rechter Hand, links ein Zepter haltend. Eine aus dem Himmel reichende Hand, wohl Zeichen des göttlichen Beistandes, setzt der Frau einen Kranz auf. Sie wird mit Pfeilen beschossen; rechts im Bild sind die schießenden Soldaten unter einer Fahne mit einem Teufelskopf und ei20 21 22
Entner (Anm. 1) vermutet, dass Fleming eventuell mit Rudelius konkurriert oder ihm nachgeeifert habe (vgl. S. 198f.). S. das Exemplar der SLUB Dresden findet sich online unter http://www.gbv.de/du/services/ gLink/vd17/14:082325K_001,800,600 [Dezember 2011]. Der deutsche Text befindet sich einmal unter dem Bild des Flugblattes und dann als »Ejusdem« betitelt auf S. A 3 des Einblattdruckes, der aber keine Illustration enthält, und folgt dem lateinischen Text.
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nem Jesuiten darunter, dem Signum der katholischen Partei. Links im Bild und durch einen Graben getrennt sitzt unter Bäumen (und einem Wasserfall oder Spiel?) eine diskutierende und gestikulierende kleine Gruppe von Männern etwas erhöht auf einem Felsen in sicherem Abstand, die wohl den Konvent der Fürsten darstellen sollen. Während die Europa-Figur der Illustration und in Rudelius’ Gedicht eine Mischung aus paupertas und patientia als alte Frau darstellt,23 ist Flemings allegorische Frauenfigur eindeutig in eine Personifikation der Germania als Landesmutter gestaltet. Die Reihung der Bilder ist auffallend, die das breit ausgemalte Bildfeld der Frau Germania als leidende, trauernde Mutter, als verarmte Frau und als gefallene Königin immer im Beziehungsfeld der Familie bezeichnen. Da ist gleich das erste Bild von »der Mutter Nam […] / Ihr Söhne, so ihr noch mich könnet Mutter nennen« (V. 2); der »Mutterbrief« (V. 5); sie war ihrer »Mutter höchste Lust« (V. 44); schon ihre eigene Mutter wurde »vom falschen Stier geraubt […] / War sie gleich mit mir schwer« (V. 109); mit Anspielung auf den Kaiser: »der mich nicht Mutter heißt« (V. 120); mit Anspielung auf die anderen Länder Europas: »Itzt will mir selbsten nicht die Mutter springen bei« (V. 206); sie sehnt sich nach »ihrer Mutter Trost« (V. 216); sie erinnert an ihr »natürlich Recht, da ihr mich Mutter ehret« (V. 230). Die Mutter-Bilder werden zum eindringlichen Hilferuf gesteigert: »Ach, springt der Mutter bei! Ich lieg’ in letzten Stunden,/ ich rufe noch einmal: ach, springt der Mutter bei!« (V. 235f.) Und »der Mutter Schaden« (V. 247) wird zum Bild für die verlorene Freiheit; der Kaiser möge »als ein treuer Sohn mir Mutter gnädig sein« (V. 272); sie schickt »viel hundert Mutterküß« (V. 277) mit dem Schreiben und als »Pfand der mütterlichen Treu« (V. 279). Zu dem Reichtum an plastischen Mutter-Bildern kommen die Metaphern der verarmten Königin und ehemals schönen und nun alten Frau, die ihre Fallhöhe bezeichnen: »Ich arme Frau«(V. 17); »Ich Schöneste der allerschönsten Frauen« (V. 39); »Königliches Kind« (V. 41); »Ich arme Königin« (V. 102); »Ich müde Fraun« (V. 103); »Itzt bin ich mehr als Magd« (V. 118); »armes Weib […] die so manches Kreuz und Not bestanden hat« (V. 125f.): »arme Frau […] muß mein Schergante sein« (V. 145); »Mich reich erzogne Frau« (V. 178); »Ich kranke Frau« (V. 219). Und er benutzt geschickt die weibliche Germania und die Inversion der gender-Rolle von »Weib« und »Mann« zum Appell an die Tapferkeit, indem er auf die große Vergangenheit weist: Ich zwar bin nur ein Weib, doch war ich so beherzet, als wol kein Man nicht ist. An mir als die Gestalt war sonsten weibisch nichts. (V. 53–55)
Fleming lässt seine Germania-Figur zwischen der trauernden und der mahnenden Mutter und der beherzten aber machtlosen Königin changieren. Bei diesem 23
So die (etwas ratlose) ikonographische Einordnung der Europa-Figur in: Deutsche Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. II, 2: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Hg. v. Wolfgang Harms, Michael Schilling u. Andreas Wang. München 1980, S. 223.
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Rollenspiel trägt neben der Anschaulichkeit der Bilder vor allem das Sprechen der Germania-Figur in der ersten Person zur Lebendigkeit der Personifikation bei. Fleming hat die Germania (nicht Europa)-Allegorie konkretisiert, patriotisch theatralisiert und im Bild der Mutter vermenschlicht und feminisiert. Städte wie auch Länder waren seit der Antike (grammatisch) weiblich kodiert und heroisiert; Fleming hat das jedoch bildlich umgesetzt. Man könnte mit Aleida Assmann bemerken, dass der weibliche Körper in Staatsallegorien eingesetzt wurde, weil er politisch nicht kontaminiert war und andere Tugenden ausdrücken konnte, als der männliche.24 Die Allegorien waren der »realpolitischen Flüchtigkeit enthoben« und stellten das ganz andere, das ewige und dauerhafte des Lebens dar.25 Die Feminisierung ist auch zugleich ein Zeichen der Schwäche des Landes und seiner Bewohner gegenüber den Herrschenden. Das Mutterbild steht aber auch für etwas, was selbst des Schutzes bedarf, wie die Menschen des Landes, und es suggeriert Fürsorglichkeit für andere. Nicht zuletzt hat Fleming seine Germania auch mit religiöser Konnotation bedacht und das Bild einer mater dolorosa evoziert. Die personifizierte Germania, der die Bittschrift in den Mund gelegt ist, spricht durchgehend, ihre Stimme hat auktoriale Funktion. Sie inszeniert sich aber auch als die Stimme des ›Untertans‹, bzw. des Bürgers, steht also (oder besser: spricht) für das Volk, für die von Politik und Krieg bedrohten Menschen schlechthin. Als Bild ist die fiktive Sprecherin Germania keine von der Realität abgehobene mythologische Allegorie, sondern mit individuellen Eigenschaften, detaillierter Beschreibung von Kleidung, Schreibweise, Ort, Stimmung und Gefühlen ausgestattet – vermenschlicht, alles ist mit den Augen der Germania gesehen und beschrieben. Die Vermenschlichung zeigt sich weiterhin in dem gefühlvollen Pathos der lamentatio und vorwurfsvollen querela, spätestens seit Erasmus’ Querela Pacis eine traditionelle Form für moralisch-politischen Inhalt.26 Fleming hält die Fiktion der (an-)klagenden, Hilfe und Schutz suchenden Germania bis zum Schluss der 300 Verse durch, was dem Schreiben eine gewisse Geschlossenheit trotz der Länge und Hybridität der historisch-politischen Versatzstücke, Argumente (Informationen im Text) und auch der Bilder verleiht. Mit Flemings Schreiben vertriebener Frauen Germania wird eine aussagekräftige Bildform für politische, nationale Anliegen des Reiches eingeführt, Germania wird bedeutungstragend inszeniert. Bald darauf spricht bei Gryphius Germania/Deutschland und das unter dem Krieg leidende Deutschland erhebt klagend seine Stimme. Nicola Kaminski hat zu Gryphius’ Trawrklage des verwüsteten Deutschlands (1637, in den Lissaer Sonetten) konstatiert hat und auf die Engführung von empfindendem und sprechendem Subjekts in der klagenden per24
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Vgl. Aleida Assmann: Der Wissende und die Wahrheit – Gedanken zu einem ungleichen Paar. In: Allegorie und Geschlechterdifferenz. Literatur – Kultur – Geschlecht. Hg. v. Sigrid Schade u. a. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 11–24, hier S. 12. Esther-Beatrice Christiane von Bruchhausen: Das Zeichen im Kostümball – Marianne und Germania in der politischen Ikonographie. Diss. Halle-Wittenberg 2000, S. 20. Auch für religiöse Inhalte war querela eine Bezeichnung, wie in der Predigtsammlung von Hartmann Braun (1570–1624) aus Melsungen, Prediger in Grünberg / Hessen, Querela Ecclesiae Das ist Klag-Wort der Kirchen Gottes undt aller wahren Gliedtmaßen derselben Daß jetzo die Heiligen in allen Ständen dermal jetzo haben abgenommen/ und der Gläubigen gar wenig worden ist (Gießen: Hampelius 1608).
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sona verweist, die ebenfalls zwischen ich und wir changiert.27 Harsdörffer verfährt politisch argumentativ in seiner Streitschrift Germania deplorata sive Relatio: qua pragmatica Momenta Belli Pacisque Expenduntur (Nürnberg: Endter 1641). Das Titelkupfer für Johann Rists Drama Das Friedewünschende Deutschland (1647) zeigt noch einmal eine bedrängte, erniedrigte Germania. Sie liegt auf den Knien, das Spruchband aus ihrem Mund ruft nach Frieden während um sie herum fünf Männer (in der Kleidung charakterisiert als Türken, Landsknecht, Spanier, Franzosen und Schweden) mit Waffen drohen, im Hintergrund eine brennende Stadt. – Die national-patriotische und heroische Wende der GermaniaFigur kommt erst im 18. Jahrhundert und die Germania-Personifikation wird im 19. Jahrhundert zum Symbol für Deutschland als Nation, als Symbol nationaler Identität zur »Gallionsfigur romantisch-restaurativer Bestrebungen.«28 Bei Fleming steht die Germania-Figur noch für die Utopie einer politeia der Gelehrten und Dichter, die die deutsche Sprache und antik-christliche Wertvorstellungen verbindet. Es ist die ›anständige‹ Gelehrtenrepublik – gegenüber der von Mulsow anvisierten ›unanständigen« Gelehrtenrepublik«29 – die sich über die kriegerische Feudalpolitik (ethisch) erhebt, die die unterschiedlichen Territorien aufgrund von gemeinsamer Sprache (Deutsch/Latein) und Bildung zu vereinen sucht und somit dem Gelehrtenstand gegenüber dem Adel und Klerus Bedeutung verleiht. Es ist eine Art frühe Utopie der »Kulturnation der gemeinsamen Sprache«, eine Mischung aus Gelehrsamkeit und politischen Idealen einer politeia auf antik-christlicher Grundlage. Originell bleibt Flemings Bildlichkeit in der Germania-Personifikation als Mutter, ein Bild, das er in einem seiner letzten Gedichte noch einmal eindringlich aufgerufen hat: An Deutschland. Ja Mutter, es ist war. Ich habe diese Zeit die Jugend mehr als faul und übel angewendet. Ich hab’ es nicht gethan, wie ich mich dir verpfändet. So lange bin ich aus und dencke noch so weit. Ach Mutter zürne nicht.30
Fleming gab Deutschland nie auf, blieb der deutschen Sprache und Dichtung verbunden; Germania war ein poetisches Ideal und Reflexionsobjekt politischer Sehnsüchte für Fleming. Die Germania-Allegorie blieb ein Medium für den Zustand der Nation.
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Kaminski (Anm. 9), S. 275. Bei Flemings Schreiben fehlt jedoch die Überblendung von paganer Totenklage und sakraler Städteklage, wofür auch die Klagelieder des Jeremias ein traditionelles Vorbild waren. Hierzu u. a. Lothar Gall: Germania – eine deutsche Marianne? Une Marianne allemande? Bonn 1993; Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Göttingen 2010. Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart/Weimar 2007. Sonn. III, 31, V. 15.
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Anhang Germaniae Exulis Ad suos Filios sive Proceres Regni Epistola. 1631. Pax Romana, ipsorummet Romanorum iudicio, nullo vinculo fortius connectebatur, quam Germanorum inter se odio; ut Tacitus solenne votum in haec verba conceperit (in de morib. Germanor.): Maneat, quaeso, duretque gentibus si non amor nostri, at certe odium sui, quando urgentibus imperii fatis nihil iam praestare Fortuna maius potest, quam hostium discordiam. (Lansius Orat. pro Germania p. 140.) Si qua mei vobis cura est et gratia, nati, pignora, si genitrix iam quoque vestra vocor, sumite non grandem sperata fronte tabellam, sumite materna paucula scripta manu. Qua vomit horrisonos spumanti gurgite fluctus oceanus, de me qui sibi nomen habet, heic, procul a vestro cogebar limine, moesta plangere flebilibus tristia verba modis. Non ego communi pingebam elementa madore, non erat ex caesa penna volucre mihi. Penna levis mihi canna fuit lacrimaeque fluores, quos gleba in rorem miscuit atra nigrum. Haec pinxi curvata genu cortexque papyri scripturae potuit fageus esse vicem. Hei! regnis expulsa meis. heic erro misella, in patriae iacior extima puncta meae. Nubilar ex veteri compactum carice parvum incolo, luxuries imbribus atque Nothis. Nec secura tamen, sed circumfusa periclis millibus, hinc terror me ferit, inde ferae. Sola vagor, famulabus egens ignaraque mundi, scissa comas, lacera veste, squalore nigra. Daps mihi radices et tractus ab arbore muscus curvaque turbatam palma ministrat aquam. Pendula carnivoro flaccescunt membra marasmo curaque tabividam me fera fecit anum. Horreo, strigosos dum specto corporis artus, ruga ut callosum plurima corpus aret. Frons senuit, densis horrescunt tempora canis, nec, quo condatur, dens gelasinus habet.
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Übersetzung Brief der vertriebenen Germania an ihre Söhne und an die Nachkommen ihres Reiches (1631) Die Pax Romana wurde nach Meinung der Römer selbst durch nichts stärker erhalten als durch den Hass der Germanen untereinander; so hat Tacitus dieses Wunschdenken in De moribus Germanorum formuliert: Es möge doch, bitte, bei den Völkern ewig erhalten bleiben, wenn schon nicht die Liebe zu uns, so doch gewiss der Hass untereinander. Wenn ein Reich nämlich schwere Schicksalsschläge zu verkraften hat, kann Fortuna nichts Besseres tun als die unter den Feinden herrschende Zwietracht zu schüren. [1–4] Wenn, liebe Söhne, Euer Herz noch von etwas Sorge und Liebe erfüllt ist; ja, wenn ich mich noch eure Mutter nennen darf, so beherzigt dieses unbedeutende, aber mit großer Hoffnung und Sehnsucht von Mutterhand verfasste Schreiben. [5–14] Dort, wo der nach mir benannte Ozean mit schäumender Gischt die schaurig brausenden Fluten strömen lässt, werde ich – fern von Eurem schützenden Haus – gezwungen voller Trauer und unter Tränen meine Klagen in Worte zu fassen. Die Worte schrieb ich nicht mit der jedermann zugänglichen Tinte, auch stand mir kein Federkiel zur Verfügung. Als Schreibutensil diente mir eine dünnes Schilfrohr sowie das Nass der Tränen, die vermischt mit ein wenig dunkler Erde in schwarze Flüssigkeit sich wandelten. Vornübergebeugt habe ich dies auf meinen Knien geschrieben, wobei mir Buchenrinde als Schreibpapier dienen musste. [15–30] Wehe! Verbannt aus meinen Reichen irre ich todunglücklich umher und werde an die äußersten Grenzen meines Vaterlandes getrieben. Meine Behausung ist eine kleine, aus altem Riedgras gefügte Hütte, ein Spiel für Regen und Stürme. Dennoch keineswegs sicher, vielmehr umgeben von tausend Gefahren, treiben mich Furcht und Schrecken von hier, von dort aber wilde Tiere. Einsam, weltfremd und unerfahren streife ich umher, ohne hilfreiche Diener, mit zerzaustem Haar und zerrissenen Kleidern, schwarz vor Schmutz. Als Nahrung dienen mir Wurzeln sowie von Bäumen herabgezogene Flechten und mit hohler Hand schöpfe ich trübes Wasser. Durch den allgemeinen Kräfteverfall ermüden die matt herabhängenden Glieder mehr und mehr, quälende Sorgen machen mich, die Schwindsüchtige, zur alten Frau, ich schaudre, wenn ich den ausgemergelten Körper betrachte, und, wie unzähliche Runzeln und Falten den schwieligen Leib entstellen. Die Stirn altert, dichtes, graues Haar bedeckt die Schläfen, auch die Zähne verlieren ihren Halt.
248 Ah mihi, qualis eram! Sed qualis, heu mihi, nunc sum! Hei! cecidi miseris regia nata modis! Illa ego bis senas inter pulcerrima nymfas, illa ego delicium matris amorque meae, quot reges invicta tuli, quot Caesaras armis reppuli et a nostris finibus esse dedi. Non ego bellicrepae metuebam classica turmae. Tunc levis Ausonii militis ira mihi. Non animum fregere meum, quae Caesar habebat praemia, blanditiis non ego falsa fui. Foemina sum, sed quoque viro mage fortior adsto, foemina foemineum nil nisi schema tuli. Non timui vario stipatas Marte phalangas, cuncta putans gestis inferiora meis. Roma nihil, nil Caius erat, cui paruit orbis, hunc stravi meritis, Arioveste, tuis. Trina mihi legio Varo cum principe capta est. Terruit Arminius hostica lata meus. Libertatis amor famaeque cupido tuendae me facit aeternos vivere posse dies. Sed cecidi! cecidi lenta, regina, ruina! Hostibus ah! cecidi vel miseranda meis. Ecce! meis me iam subduxi sedibus ipsa. Non poteram in tantis longius esse clathris. Momine quoque meas lassabat subditus aureis, funestis ululans querquera verba sonis. Iam Ligius, iam Saxo suos mihi lacrimat aestus et sua Marchiacus, quae queritetur, habet. Vidimus infectas liventi sanguine ripas fluminaque innumeri rubra cruore viri. Vidimus, ut viridem rubeo macularit abollam alma madore parens. quam gemat omnis ager. Commutant elementa viceis, non unica humandis par fuit aut nunc est terra cadaveribus. Quot mea lethatos absorpsit Mulda volones! Quot satura evomuit, quam Sala sallit, aqua! Parva queror, totae pereunt cum moenibus urbes. Fumat ab hesterno plurima terra rogo. Deserit excoctus vastatos incola pagos. Nec vacua antiquum iam casa novit herum. Aegre neglectis otiantur iugera dorsis et dolet invitum seguia rutra solum. Heic ubi prima novis stabant viridaria sulcis, floruit et variis area plena rosis, horrida iam rigido crevit labrusca racemo et premit antiquum spina vepresque decus.
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[31–40] Weh mir! Was war ich einst! Was bin ich nun? Wehe, ich, die Königstochter, bin in tiefes Unglück gefallen. Ich, jenes schönste Mädchen unter den zwölf; ich, jener bevorzugte Liebling meiner Mutter, wie viele Könige habe ich unbesiegt erlebt, wie viele Kaiser habe ich mit Waffengewalt zurückgetrieben und von unseren Grenzen ferngehalten. Niemals fürchtete ich die dröhnenden Kriegstrompeten der heranbrausenden Heerscharen. Deshalb machte mir die Wut des römischen Soldaten nichts aus. Man konnte meinen Willen nicht brechen, welche Geschenke der Kaiser auch anbot; durch Schmeicheleien bin ich nicht zur Verräterin geworden. [41–50] Ich bin eine Frau, aber ich behaupte mich auch – weit tapferer als mancher Mann; zur Frau macht mich nur die äußere Gestalt. Fest überzeugt, dass alles meinen Kriegstaten unterlegen sei, habe ich die dicht gedrängten Schlachtreihen in verschiedenen Kriegen nie gefürchtet. Rom konnte mir nichts anhaben, auch Gaius nicht, dem der Erdkreis gehorchte; diesen zwang ich durch deine Verdienste, Ariost! Drei Legionen wurden zusammen mit ihrem Anführer Varus für mich vernichtet, wodurch Arminius das weite Feindesland in Angst und Schrecken versetzte. Die Liebe zur Freiheit sowie der dringende Wunsch, den Ruhm zu erhalten, machen es möglich, dass ich ewige Zeiten überdauern kann. [51–58] Aber ich bin tief gefallen! Mir, der Königin wurde schleichender Verfall zum Verhängnis! Wehe, sogar meinen Feinden erscheint mein Sturz bedauernswert! Seht, ich selbst habe mich schon lange von meinem angestammten Platz entfernt; ich konnte nicht länger in solchen bewegten Verhältnissen leben. Auch raubten mir mit der Zeit die unheilvollen Worte sowie das traurige Klagen der Untertanen mehr und mehr die Lebenskraft. Schon bringen unter Tränen der Schlesier und der Sachse ihre ängstliche Besorgnis vor mir zum Ausdruck und auch die Mark beklagt ihre Probleme. [59–76] Was habe ich nicht alles gesehen! Von Blut dunkel gefärbte Ufer und die Flüsse rot von Blut unzähliger Männer; wie die segenspendende Mutter Erde, die jedes Stück Land beweint, ihr grünes Nass verschandelt hat! Die Elemente ändern den Kreislauf, die Erde allein war und ist auch jetzt nicht der Menge der Leichen gewachsen, die noch zu begraben sind. Wie viele tote Soldaten hat meine Mulde verschlungen, wie viele hat das sprudelnde Wasser der Saale ausgespien! Doch meine Klage erfasst damit nur einen kleinen Teil des Elends; so viele Städte sind bis auf die Grundmauern zerstört, für immer ausgelöscht. Ein Großteil des Landes raucht noch vom gestrigen Feuer. Völlig verarmt und mutlos verlässt der Einwohner die verwüstete Landschaft. Schon kennt die leere Hütte den alten Besitzer nicht mehr. Die Äcker bleiben unbestellt und liegen brach, so dass der Boden gegen seinen Willen unter dem Verlust des Pfluges leidet. Dort, wo einst das erste Grün in frischen Furchen spross und der ganze Garten mit vielen verschiedenen Rosen sich schmückte, wuchert nun wilder Wein und saure Trauben und undurchdringliches Dorngestrüpp macht die alte Schönheit zunichte.
250 Fatato sum plena odio, quo lumina flecto, exitiis video cuncta parata meis. Me mea non fausto concepit mater olympo. Jurarunt omnes in mea damna dei. Omen erat, falso raperetur ut a grege, tauro mater (et hoc retulit saepius.) Omen erat. Mole mea tunc foeta fuit. Sic protinus haeres fatalis miserae conditionis eram. Diripior, quatior, vellor, hinc iactitor, illinc. Invideor populis ludificorque meis. Agna lupo, milvo pullus lanioque columba, orbi ego carnifici praeda cupita sumus. Inscia servitii quondam iam servio serva. Quos ego non genui, dant mihi iura duces. Tot iuga me lapsam procerum dissensio truncat rimaque de triplici relligione triplex. Non unis sum flenda modis, tot passa furores sortis et in tantis territa facta minis. Pestilitate meis totiens viduabar amicis. Quam crepuit feretris trux Libitina nigris! Hinc et emendarum graviora incendia rerum vastarunt miseris horrea nostra pyris. Per toties tot ducta vices modo defuit unum: iam quoque debebam Martia iussa sequi. Hei! sequor, hei! rapior, sed non quo bellica virtus me vocat, ad (miserum!) civica bella trahor. Sic, nullis devicta viris, iam concido victa per me, per tenias concido vincta meas. Ut ruerem graviore modo, tollebar in altum. Sic ego lusuris sum pila facta deis. Sic sua non fractam fregit discordia Romam. Confundunt totum dissona sensa solum. Sic fuit in fatis; quorum vi fracta fatisco. Vindicibus solia stantque caduntque deis. Temporis invidia celebres cecidistis Athenae; postque tot infestos Pergama celsa dies. Corruit Assyrici robur regnumque tyranni et meminit lapsus Persia victa sui. Graecia prostratos luget subversa monarchas. Forsitan et nostrae intenta ruina rei est. Celsa manent. Sua fata, suae stant omnibus horae. Quis dubitat? Pereo, sed quoque celsa fui. Fortis eram, non iugis eram. Iam foemina princeps associor brutis profuga facta feris. Sic quoque de patriae proles Nimrodia sede pulsus in insuetum dicitur esse nemus.
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[77–84] Das Schicksal verfolgt mich mit Hass, wohin ich meine Augen wende, alles sehe ich zu meinem Untergang bereitet. Meine Mutter hat mich nicht auf dem glückverheißenden Olymp empfangen, denn alle Götter haben sich zu meinem Unheil verschworen. Es war ein schlimmes Vorzeichen, dass die Mutter vom falschen Stier aus der Schaar geraubt wurde: Sie hat das immer wieder erzählt. Es war ein Vorzeichen! Sie war damals gleich schwanger mit mir: So war ich von Anfang an die unglückliche Erbin von verhängnisvoller Herkunft. [85–92] Ich wurde ausgeraubt und geplündert, geschlagen und gestoßen, verspottet und beleidigt, von hier und dort verjagt, um meine Volksstämme beneidet und geschmäht. Wie das Lamm den Wolf, das Küken den Falken, so war und bin ich begehrenswerte Beute der Welt, ohne zu wissen, was Sklavendienst bedeutet, diente ich einst schon als Sklavin: Regenten, die ich nicht hervorgebracht hatte, bestimmten meine Rechte. Mich, die elend Versklavte, foltern der gehässige Streit so vieler Fürsten sowie der dreifache Riss der Religion. [93–100] Aus vielen Gründen bin ich zu beklagen, da ich so übermäßiges Wüten des Schicksals erduldete und wegen so gewaltiger Bedrohung vor Schreck erstarrte, wie oft raubte mir die Pest gute Freunde! Wie oft versah die grausige Libitina unter lautem Getöse mittels vieler schwarzer Bahren ihren traurigen Dienst! Dann haben gewaltige Feuer unsere Vorräte an käuflich erworbenen Waren in Schutt und Asche gelegt. Durch so viele Wechselfälle des Schicksals getrieben, fehlte mir nur noch das eine: Auch ich musste den Befehlen des Kriegsgottes Mars folgen. [101–109] Wehe, ich folgte, wurde mitgerissen, aber nicht wohin mich kriegerische Tapferkeit rief, sondern ich wurde in einen Bürgerkrieg gezwungen – was für ein Elend! Von keinem Feldherrn niedergerungen, stürzte ich durch mich selbst, durch eigene Fesseln gebunden, kam ich zu Fall. Um auf grausame Weise zu fallen, wurde ich einst in große Höhe gehoben: Auf diese Weise bin und war ich ein Spielball der Götter. So hat innere Zwietracht das unbesiegte Rom zerstört. Unvereinbare Vorstellungen und Meinungen stürzen das ganze Reich in Verwirrung. Das Schicksal bestimmte es so: Durch seine Macht gebrochen, bin ich zu Tode erschöpft. [110–115] Durch die Rache der Götter stehen und fallen Königreiche. Du, berühmtes Athen, bist durch die Missgunst der Zeit zugrunde gegangen; und auch nach vielen Kriegstagen fiel auch die hohe Burg in Troja. Auch das mächtige Reich des syrischen Tyrannen brach zusammen und Persien besiegt erinnert sich gut seiner Niederlagen. Griechenland betrauert nach der Unterwerfung die gefallenen Fürsten. [116–122] Vielleicht ist auch unserem Reich der Untergang bestimmt. Das Erhabene bleibt erhalten. Unverbrüchlich steht für alle das eigene Schicksal sowie die eigens zugewiesene Lebenszeit. Wer könnte zweifeln? Ich gehe zugrunde, aber auch ich bin einst erhaben gewesen. Tapfer war ich, niemals unterwürfig; eine weibliche Herrscherin, werde ich – zum Flüchtling gemacht – den stummen, wilden Tieren zugesellt. So auch soll der Nachkomme Nimrods vom Thron gestoßen, in ungewohnter Wildnis gelebt zu haben.
252 Heic mea millenis vario lamenta figuris. Heic soli, heic miserae iam licet esse mihi. Rupibus in nigris, inter spelaea ferarum vagio luctificis foemina mcesta modis. Me lepus audaci ludit per gramina saltu, provocat et lacrimas impia pica meas. Invida contractis spernit me frondibus arbor, odit et adventus arctior umbra meos. Scilicet est aliquid lacrimis habuisse sodales. Nae! gemitus socii molle levamen habent. Quis mihi collacrimat? Toto iam deseror orbe. O quam sum patriis invidiosa deis! Delphini nostrum miserati saepe dolorem, quod mihi condoleant, signa diserta ferunt. Quin mea compassae modulantur fata volucres. Quaevis et hoc loquitur tilia caesa malum. O quot ego quondam felix stipabar amicis! Ipsa nec auxilio iam mihi mater erit. Non mea Germanas angunt tormenta sorores. Forte quid auxilii condoluisse fuit. Ignibus ipsa suis me prima Bohemia adussit. Inde fuit tantae prima favilla pyrae. Tot menses combusta flagro, tot concremor annos perque vices nostrum crescere cerno rogum. Hei! cur dives eram, nitido cur splendida vultu? Cur placui dominis regia nymfa procis? Iam vitiata meae sum nausea facta parenti. Deseror ingratis pulsa marita viris. Cur regina fui? cur has diademate fulvo, Europe, decuit praeradiasse comas? Cur sceptris onerasse manus, si fama nepotum non erat in cunctas continuanda dies? Me miseram! miseram! Quis me solabitur Hector? Quae bona praesenti stat medicina neci? Quis mihi Mauritium, Fridericos quis mihi reddet, queis stetit infractum stantibus imperium? Quis dabit Albertum, Tarpeii dextram regni? Quis mihi, quis reddet Hectora Teutonicum? Jane redi! Joachime redi, redi o inclyte sanguis, nomine qui merito dignus Achillis eras! Quid facitis, nostri carissima pignora lecti, quae genui cruciis acta puerperiis? Quid facitis? Nil dira movent vos tormina matris? Sic licet in tantis segnibus esse malis? Per patrios vos iuro deos, per libera regna,
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[123–130] Hier klage ich auf tausendfach verschiedene Weise; hier muss ich einsam und unglücklich verweilen. Zwischen dunklem Gestein in den Höhlen wilder Tiere weine ich, eine verzweifelte Frau, erfüllt von tiefer Trauer. Mich verspottet der verspielte Hase, wenn er in kühnen Sprüngen durchs Gras hetzt und die freche Elster reizt mich zu Tränen. Voller Missgunst rollt sogar der Baum seine Blätter zusammen und weist mich ab, so dass der allzu kleine Schatten meine Gegenwart hasst. [131–138] Freilich wäre es gut, Gefährten im Unglück zu haben. Ja, die Seufzer eines Freundes könnten den Schmerz erheblich lindern. Aber wer weint mit mir? Ich bin ja von der ganzen Welt verlassen. O, wie muss ich den heimischen Göttern verhasst sein! Doch die Delphine, die meinen Schmerz oft bejammern, geben damit ein deutliches Zeichen, dass sie mit mir leiden; ja sogar die Vögel gestalten ihren Gesang voller Mitgefühl mit meinem Schicksal; auch jede Linde kündet von diesem Unglück auf geritzter Rinde. [139–154] O, wie viele Freunde umringten mich einst in glücklichen Zeiten! Selbst meine Mutter wird mir nicht mehr helfen; meine Qualen bedrücken auch nicht meine germanischen Schwestern: Mitgefühl hätte vielleicht ein wenig geholfen. Zuerst hat Böhmen mich durch sein Zündeln in Brand gesteckt, das war der erste Funke einer übermächtigen Feuersbrunst. So viele Monate stehe ich nun schon in Flammen, so viele Jahre werde ich durch Feuer vernichtet und sehe unseren Scheiterhaufen mal mehr, mal weniger wachsen. Wehe! Warum war ich reich und strahlte durch äußeren Glanz? Warum musste ich jugendliche Herrscherin zudringlichen Herren gefallen? Schon erfasst meine Mutter vor mir, der Entstellten, das Grauen. Ich, die Braut, werde geschlagen von undankbaren Herren im Stich gelassen. Warum bin ich Königin gewesen? Wozu sollte es gut sein, Europa, dass dieses Haar von meinem goldenen Diadem überstrahlt wurde? Zu welchem Zweck mussten meine Hände mit Zeptern belastet werden, wenn der Ruhm der Enkel nicht auf ewig bestehen durfte?
[155–162] O ich elende, Todunglückliche! Welcher Hektor wird mich trösten? Welche wirksame Medizin gibt es gegen das allgegenwärtige Sterben? Wer gibt mir Moritz und die Friedrichs zurück, unter deren Herrschaft das Reich ungebrochen standhielt? Wer bringt mir Albert, die Rechte des Tarpeischen Heerführers, und den teutonischen Hektor zurück? Johannes und auch du, Joachim, kehre zurück, ruhmreicher Spross, der du verdientermaßen als Achill bezeichnet wurdest. [163–182] Was macht ihr, liebste Kinder, die ich unter großen Schmerzen geboren habe? Was tut ihr? Rühren euch die grausamen Qualen der Mutter nicht? Darf man angesichts einer solchen Katastrophe untätig bleiben? Ich beschwöre Euch bei den Göttern des Vaterlandes, bei der Freiheit eurer Reiche, bei dem Recht, nach dem ich als Eure Mutter gelte, bei der teutonischen Treue, die niemals ihre
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per ius, quo genitrix audio vestra, meum Teutonicamque fidem, numquam quae vota fefellit gentibus, indigenae haec iam mihi praestet opem; currite suppetias patriae matrique labanti, hei! si non casis, currite suppetias! Namque potestis enim, quos heroa entheat aura, queis quoque ceu tritavis Martia corda dedi. Saxo, tibi, tibi, Brenne, tibi, Palatine, fuerunt, queis steterunt meritis ara focusque suis. Inclyta magnanimis heroibus Hassia stabat, noster et a Guuelpho sanguine crevit honos. Stirpis Anhaldinae cara est mihi bellica virtus. Ex Heneto clari germine dantur avi. Quot Badena dabat, quot Wurttenberga celebres Hectoras! His celebris Teutona mater eram. Cernite concordes bene nexo federe Belgas. Erubet immensum terra pusilla solum. Divitis exspoliant aeraria fulva Philippi, quas et opeis geminus miserat Indus, habent. His invicta cadunt et tanto principe vinci laudibus apponunt moenia tanta suis. Hos imitabimini, si libertatis avitae pectora, si patriae vestra subibit amor. Vos uni spes una mihi, spes una salutis, pignora, credimini, Teutona, Teutonicae. Numina per vestras mihi propitiantur acerras. Restitui patriae sic quoque quibo meae. Dicite Caesario, Feruando dicite nostro, cui dedimus patrii regia sceptra soli, quas patiar non digna cruces, quas irruo mortes. Sit, precor, in matrem mitior ille suam. Has vobis lacrimas, haec moesto carmine vota misimus, o decoris clara decora mei! Misimus et fidae libavimus ultima fago oscula, maternae symbola certa spei. Ordine nil, nil arte dedi; mihi praepedit angor mentem animi, calamum conflua verba suum. Rumpite, quaeso, moras, mora mors sperantibus ipsa est, nec patitur nostrum pharmaca lenta malum. Praestolor auxia opem, venturae forte salutis mitigat exsilium spes sibi fisa meum. (LG
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Versprechen den Völkern gegenüber gebrochen hat, diese Treue sollte mir, einer Landsmännin schon zugute kommen. Eilt zu Hilfe dem untergehenden Vaterland und eurer Mutter! Eilt zu Hilfe! Ihr, die ein heldenhaftes Wesen und Begeisterung erfüllt, seid fähig dazu, weil ich den Urahnen kriegerische Herzen eingepflanzt habe. Du Sachse und auch du Brandenburger und du Pfälzer seid im Besitz solcher, dass durch ihre Verdienste Altar und Herd erhalten bleiben. Das berühmte Hessen behauptete sich mit Hilfe hochherziger Herren und unsere Ehre wuchs durch das Blut der Welfen. Die kriegerische Tüchtigkeit des Nachkommens aus Anhalt ist mir teuer und lieb, berühmte Vorfahren sind auch venezianischer Herkunft. Wie viele ruhmreiche Hektors wurden von Baden und Württemberg beigesteuert: Auf alle diese gründet sich mein Ruhm als Mutter Deutschlands.
[183–190] Schaut auf die Niederländer, die durch ein festes Bündnis vereinigt, in Eintracht leben. Das winzige Land macht die ganze Welt erröten. Sie plünderten die von Schätzen strotzende Staatskasse Philipps und besitzen nun Gold, dessen Verlust auch der zweifache Indus beklagt. Durch diese fallen unbesiegte Städte und sie fügen ihren Lobeshymnen hinzu, dass auch Großstädte durch den bedeutenden Heerführer eingenommen werden. Ihr sollt diesen nacheifern, wenn euer Herz von Liebe zur angestammten Freiheit und zum Vaterland erfüllt ist. [191–198] Ihr, deutsche Söhne, glaubt mir, seid für mich die einzige Hoffnung auf die Rettung Deutschlands. Bei allem, was euch heilig ist, die Götter mögen mir gnädig sein! Auf diese Weise werde ich euch für mein Vaterland wieder hergestellt werden können. Sagt unserem Kaiser Ferdinand, dem allein wir die Herrschaft über das Vaterland verliehen haben, welche unwürdigen Foltern ich erdulden muss, gegen welche Todesarten ich anrenne. Es möge jener, bitte, milde gegenüber seiner Mutter sein! [199–208] Ich habe euch diese tränenreichen Klagen und Wünsche in Form einer traurigen Weise gesandt, oh berühmter Glanz meines Glanzes! Der treuen Buchenrinde habe ich die letzten Küsse anvertraut und sende sie als sicheres Zeichen mütterlicher Hoffnung. Nichts habe ich der Reihe nach und kunstvoll ausgeführt dargestellt: Angst schnürt mir das Herz ab und lähmt meinen Geist; das Fließen der Worte hemmt das Schreibrohr. Werdet endlich tätig, ich bitte euch inständig, Aufschub und Verzögerung ist für die Hoffnung der Tod selbst, und unser Unglück bedarf einer rasch wirkenden Medizin! Voller Angst warte ich auf Hilfe und das feste Vertrauen auf baldige, mutige Rettung lässt mich das Exil noch ertragen. Übersetzt von Ingrid Seidler, Coburg
Dirk Niefanger
»Ich sags auch mir zum Hohne.« Paul Flemings Kriegslyrik Kriegszeiten lassen nicht selten eingeübte und philosophisch wohl begründete Verhaltensweisen vergessen, obwohl sie eigentlich gerade in Extremsituationen Stütze und Orientierung bieten sollten. Das Problem, dass gerade in Fällen, wo ein Festhalten an ethischen Prinzipien verlangt wird, diese gerade besonders schwer einzuhalten sind, hat man auch im 17. Jahrhundert bemerkt. Paul Fleming setzt sich damit in seiner Kriegslyrik intensiv auseinander; das macht sie auch heute noch lesenswert. So befasst sich eines seiner eindrücklichsten Sonette Er beklagt die Aenderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen mit der seit der Germania von Tacitus geradezu sprichwörtlich gewordenen Tapferkeit der Deutschen im Krieg. Sie komme nicht nur den vorbildlich kämpfenden Heerführern, sondern ganz besonders auch den einfachen Soldaten zu, die sich für ihre Anführer aufopfern würden: Cum ventum in aciem, turpe principi virtute vinci, turpe comitatui virtutem principis non adaequare. Iam vero infame in omnem vitam ac probrosum superstitem principi suo ex acie recessisse.1
In Flemings Sonett wird im ersten Quartett nach dem Verbleib der ›germanischen‹ Kriegstugenden Mut und Tapferkeit in Zeiten des Krieges gefragt: »[…] Wo ist nun unser Mut, der ausgestälte Sinn, das kriegerische Blut?« (V. 2f.)2 Um seine Glaubwürdigkeit zu stärken, verwendet das Gedicht die erste Person Plural, bezieht den Sprecher der Verse also ausdrücklich in eine kollektive Klage über den Verlust der Kriegstugenden mit ein: »Wir feigsten Krieger wir [...], was ängsten wir uns doch [...]?« (V. 8f.) Diese Perspektive gipfelt in der rhetorischen Reduktion des ›Wir‹ durch die explizite Nennung des lyrischen Ichs und einer ausdrücklichen Anklage des eigenen Selbst im traditionell pointierten Schlussvers des Sonetts: »Ich sags auch mir zum Hohne.« (V. 14) »Hohn« meint hier vermutlich noch nicht ›Spott‹, sondern, wie damals eher üblich, lediglich Schmach oder Schande.3 Die Pointe bezieht sich also nicht auf einen Wechsel 1
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Tacitus: Germania. Lateinisch und Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1972, Kap. 14, S. 22f.: »Kommt es zur Schlacht, ist es schimpflich für den Gefolgsherrn, an Tapferkeit zurückzustehen, schimpflich für das Gefolge, es dem Herrn an Tapferkeit nicht gleichzutun.« Zit. n. DG 1, 452. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. So etwa: Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Tübingen 91992, S. 416, sowie Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1838ff., Bd. 10, Sp. 1722–1725. Im grimmschen Wörterbuch wird als Beleg für die ältere Bedeutung von ›Hohn‹ (im Sinn von
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im Modus der Selbstanrede, wie es unser heutiger Gebrauch von »Hohn« nahelegen würde, sondern auf der nun expliziten Einbeziehung des Sprechers. Von »beißendem Spott«,4 den Nicola Kaminski in ihrer Monographie Ex bello ars in diesem Sonett sieht, möchte ich insofern aufgrund der historischen Semantik von »Hohn« nicht sprechen. Auch kann ich hier tatsächlich keine »Hohnrede«5 sehen, sondern eine eher ernste Auseinandersetzung mit den militärischen Vorstellungen der Zeit, insbesondere mit den ethischen und beruflichen Grundlagen des Soldatenwesens. Diesen Gedanken verfolgt der vorliegende Beitrag auch anhand anderer Beispiele der Kriegslyrik Flemings, die insofern etwas Ratlosigkeit erzeugt, als sie keine klare, eindeutige und durchgängige Position des Autors in Bezug auf den Krieg erkennen lassen. Die Sonderstellung Paul Flemings in der Kriegsdichtung des 17. Jahrhunderts hat Kaminski aber ganz zu Recht betont. In ihrer Studie Ex Bello Ars, die die Ursprünge der deutschen Dichtung aus der »politischen und militärischen Wirklichkeit des Dreißigjährigen Krieges«6 ableitet, konstatiert sie, dass »drei frühe Gedichte des erklärten Opitzianers Paul Fleming, die im Leipzig des Jahres 1631 geschrieben wurden«,7 eine Ausnahme unter den damals üblichen paränetischen Kriegsgedichten darstellen würden. Unter paränetischer Lyrik sind mahnende Gedichte zu verstehen, die zur Stärkung der Kampfkraft eingesetzt werden. Sie begleiten und fördern oft recht konkrete militärische Aktionen. Als klassischer Text dieser Gattung im frühen 17. Jahrhundert kann Zincgrefs Vermanung zur Dapfferkeit aus dem Jahre 1619 gelten, der mit den eindringlichen Versen beginnt: »Kein Tod ist löblicher / kein Tod wird mehr geehret / Als der / durch den das Heil deß Vatterlands sich nehret«.8
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›Schande‹ und ›Schmach‹) Paul Flemings Klagegedicht über das unschuldigste Leiden und Tod des Erlösers Jesu Christi (1632) genannt, wo »Spott« (PW I, 9, V. 132) und »Gespötte« (ebd., V. 204) deutlich anders verwendet werden als Hohn: »Herodes tobte sehr, er furchte seiner Krone, beginge Kindermord. Die List ward doch zu Hohne« (ebd., V. 81f.). Erst im späteren 17. Jahrhunderts scheint sich die neuere Bedeutung von ›Hohn‹ (im Sinne von ›Spott‹) etwa bei Stieler und Logau zu etablieren. Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004, S. 160. Zur aktuellen Diskussion zum Verhältnis von Kultur und Krieg in der Frühen Neuzeit vgl. u. a. die einschlägigen Sammelbände der letzten Jahre: Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hg. v. Klaus Garber. München 2001; »Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen«. Das Bild vom Krieg und die Utopie des Friedens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hans Peterse unter Mitarb. v. Veronika Marschall. Göttingen 2006; »Mars und die Musen«. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Rogg u. Jutta Nowosadko. Berlin 2008 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 5); Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Birgit Emich u. Gabriela Signori. Berlin 2009 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 42). Kaminski (Anm. 4), S. 167. Ebd., S. 9. Ebd., S. 157. Julius Wilhelm Zincgref: Vermanung zur Dapfferkeit […], im Anhang zu: Martini Opicii Teutsche Pöemata […]. Straßburg 1624 (ND Hildesheim u. a. 1975), S. 220.
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Schon Lappenbergs Ausgabe der Gedichte Flemings9 von 1865 betont, dass die hier zur Diskussion stehenden Texte »durch ihre Gesinnung und Ausdrucksweise an Zincgrefs Vermanung« erinnern würden, »wenn gleich einige genauere Übereinstimmungen sehr zufällig sein dürften.«10 Anders als die paränetischen Gedichte Flemings erscheint Weckherlins martialische Ode Wie die Soldaten man vor zeitten / Laut mit dem mund: / So sie jetzund / Ermahnet der Poet zustreitten von 1641 als würdige Nachfolgerin der Elegie Zincgrefs. Zur Illustration sei die erste Strophe zitiert: Frisch auff / Jhr dapfere Soldaten/ Jhr / die jhr noch mit Teutschem blut / Jhr / die Jhr noch mit frischem muht / Belebet / suchet grosse thaten! Jhr Landsleut / jhr Landsknecht frisch auff / Das Land / die freyheit sich verlieret Wan jhr nicht mutig schlaget drauf / Vund überwindend triumfieret.11
Nicht unüblich für diese Art von Gedichten, der möglicherweise auch das eingangs zitierte Sonett Flemings zugerechnet werden kann, ist die Erinnerung an nationale Tugenden und die Mahnung an den überindividuellen Sinn des Krieges. Der Kampfeinsatz dient dem Schutz und der Unabhängigkeit des eigenen Vaterlandes. In diese Reihe könnte man wohl relativ mühelos auch Flemings ermunternde Stammbuchverse auf Martin Christenius einordnen, die neben einer Abbildung der Stadt Stralsund zu lesen sind: Und dennoch stehst du noch, ob Mars, der Wüterich, noch zweimal mehr so arg gesetzet hätt’ an dich, du unbezwungner Sund! Was wolt’ er doch erlangen, wenn du in Ketten erst am Himmel wärst gehangen? Diß schändet ihn vielmehr, daß deine Niedrigkeit den wilden Zorn zerbricht und dich von ihm befreit. Wen nicht erschrecken soll das blutige Vermessen, der lerne Furcht und Trutz ein wenig hier vergessen!12
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Laut Lappenberg zitiert Fleming im vierten Vers Wallenstein, der 1628 seine Belagerung Strahlsunds aufgeben musste, obwohl er geschworen hatte, es einzunehmen, selbst wenn es mit Ketten an den Himmel gebunden wäre.13 Das so alludierte historische Exempel mahnt zu Beharrlichkeit, Standhaftigkeit und Tapferkeit der Verteidiger. Die Gefahr der kriegerischen Belagerung soll nicht erschrecken, vielmehr die eigene Furcht und der Widerstand des Gegners (»Trutz«) überwunden werden. 9 10 11 12 13
Vgl. die Angaben zum Nachdruck der Fleming-Ausgabe von Lappenberg (DG). Vgl. den Kommentar des Herausgebers Lappenberg in DG 2, 701. Georg Ruodolf Weckherlin: Gedichte. Ausgewählt und hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1972, S. 133–135, hier S. 133 (nach der Fassung 1647). DG 1, 121. Zum Kontext vgl. den Aufsatz von Gunter E. Grimm im vorliegenden Band. DG 2, 703 (Kommentar).
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Leicht lässt sich dabei ein konkreter Bezug zur drohenden Zerstörung Leipzigs im Sommer und zur Belagerung im September 1631 herstellen, die Fleming selbst erlebte; das gleiche Jahr ist ja im Titel des Stammbuchgedichts ausdrücklich vermerkt. Der sächsische Kurfürst hatte schon im März 1631 ein eigenes Söldnerheer anwerben lassen und unter den Befehl des Feldmarschalls von Arnim-Boitzenburg gestellt. Dieser hatte »zuletzt unter Wallenstein vor dem belagerten Stralsund 1628« gedient.14 Hier war der zitierte Schwur gefallen. Die Stralsund-Anspielung erinnert also zwar an einen erfahrenen Kriegsmann; doch dieser hat die Partei gewechselt und kämpft nun an der Seite der mit dem Schwedenkönig verbündeten Sachsen. Auch wenn insofern das historische Exempel nicht unbedingt für den erfahrenen Heerführer spricht, so mahnt allein das Beispiel des später von den Schweden geschützten Stralsund doch zu städtischer Wehrhaftigkeit. Zwei Gedichte Flemings aus dem Jahr 1631 weichen von dieser Art paränetischer Kriegsdichtung ab. Sie verwirren jene Interpreten, die eine klare Position suchen, und reizen nicht selten zu einebnenden Kapriolen. Es handelt sich um die beiden Alexandrinergedichte Lob eines Soldaten zu Rosse und Lob eines Soldaten zu Fuße.15 Heinz Entner diskutiert die Texte als ernsthafte Beteiligung Flemings an »Werbeaktivitäten« des sächsischen Kurfürsten. Die Gedichte seien vermutlich auf Flugblättern bzw. illustrierten Einblattdrucken erschienen.16 Einen anderen Akzent macht Nicola Kaminski stark; sie vertritt die These, hier würde das »Auseinandertreten von konkret politischer Referenz und paränetischem Sprechgestus als solches reflektiert und poetisch in Szene gesetzt.«17 Selbstreferentiell würden die Texte an den paränetischen Sprechakt erinnern, also nicht wirklich zur Tapferkeit im Krieg ermahnen, sondern diese Geste in erster Linie als poetische, also gattungsmäßig geschuldete, reflektieren und dadurch in Bezug auf die Realität außerhalb des Textes wohl auch entwerten. Eine solche komplex anmutende Rhetorik sind wir in der Literaturwissenschaft geneigt, als besondere poetische Qualität eines Textes zu würdigen, weil dadurch seine literarische Dimension gestärkt wird. Die Gefahr einer solchen Lektüre liegt erstens in der Erwartungshaltung des Interpreten oder der Interpretin. Denn die literaturtheoretische Aufwertung der Selbstreferenz in den letzten Jahrzehnten verleitet zweifellos dazu, bei Problemen mit der Text- oder Werkeinheit eine anspruchsvolle poetologische Selbstbezüglichkeit und dadurch eine Art Konsistenz zweiter Ordnung anzunehmen, wo doch besser Differenzen und je unterschiedliche Referenzen gelesen werden müssten. Meist erscheint es deshalb sinnvoller eine weniger komplexe Vielstimmigkeit zu konstatieren. Möglicherweise liegt ein solcher Fall bei der Kriegslyrik Flemings vor. Zweitens traut eine solche selbstreferentielle Lektüre den Texten ein quasi autonomes Agieren im Bereich des Poetischen zu, das im 17. Jahrhundert eher die Ausnahme gewesen sein dürfte und vom historischen Leser kaum wahrgenommen werden konnte. 14 15 16 17
Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 213. DG 1, 111–114. Entner (Anm. 14), S. 214ff. Kaminski (Anm. 4), S. 157.
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»Ich sags auch mir zum Hohne.«
Da solche eher methodischen Einwände viel zu allgemein formuliert sind, kontextualisiere ich im Folgenden die drei genannten Kriegsgedichte mit einigen weiteren Dichtungen Flemings und seiner Leipziger Zeitgenossen. Auffällig ist dabei, dass andere Texte Flemings die heute übliche und durch Opitz und Gryphius geprägte Erwartung an ein dem christlichen Pazifismus verpflichtetes Kriegsgedicht des 17. Jahrhunderts durchaus entsprechen. Wenn wir vor der Folie dieser Texte uns dann den drei schwer einzuordnenden Gedichten erneut zuwenden, erhöht das zwar zuerst die Konfusion, kann aber am Ende doch vielleicht zu einer (wenn auch vielleicht etwas trivialen) Neudeutung eines zentralen Werkkomplexes bei Fleming führen. Beginnen wir in diesem Sinn mit Flemings Neujahrsode von 1633 darinnen über zweimalige Verwüstung des Landes, denn auch über Köngl. Majest. aus Schweden Todesfall geklaget und der endliche Friede erseufzet wird: O Du zweimahl wüstes Land, von der Feinde bösen Hand, Ach du liebes Meissen, du, wie bist du gerichtet zu! Deine Felder liegen bloß, deine Flüsse werden groß, groß von Tränen, die man geußt, und als Ströme fließen heißt. Deine Dörfer sind verbrant, deine Mauren ümbgerant, deine Bürger sind verzagt, deine Bauren außgejagt.18
5
10
Im hier diskutierten Kontext erscheint es unnötig, die ganze Ode zu zieren. Sie kann im Kontext eines Danklieds an den Schweden-König Gustav II. Adolf (I, 230ff.), der am 16. November 1632 in der Schlacht bei Lützen gefallen war, gelesen werden. Auch hier wird der Tod des Schwedenkönigs, die protestantische Hoffnung in der Frühphase des Dreißigjährigen Kriegs, betrauert. Ihm war es gelungen, Sachsen zweimal von den kaiserlichen Truppen zu befreien; der Tod in der Schlacht erscheint hier als Drohung eines erzürnten Gottes. Auch wenn das protestantische Heer schließlich siegt, ruft das Gedicht, wie schon in den ersten Strophen sichtbar, die schweren Folgen des Kriegs auf. Meissen, Residenzstadt der Markgrafen und Grablege der Wettiner, steht in diesem Gedicht für das ganze Sachsen, das dadurch über seine protestantischen Herrscher charakterisiert wird. Fleming selbst verbindet, so weit ich sehe, keine persönliche Beziehung mit dieser Stadt, die eine Sonderstellung im Gedicht gerechtfertigt hätte. Er hat ja nicht die hiesige Fürstenschule, sondern die Thomasschule in Leipzig besucht und später an der dortigen Universität studiert.
18
DG 1, 233.
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Am Ende des Gedichts finden sich dann die üblichen Hoffnungsbilder, die mit Micha 4, 3 den Frieden und nicht den Krieg als eigentliche christliche Angelegenheit ausweisen: Und der prachen Erden Bauch darf der Spieß’ und Degen auch, doch daß sie sehen anders aus: Pflug und Spaden werden draus.19
Eine ähnliche Verbindung von Kriegsleid und Friedenshoffnung findet sich in dem Alexandrinergedicht In Groß-Neugart der Reußen (1634), das schon deshalb bemerkenswert ist, weil es den vorgeblich ›barbarischen‹ Russen in einigen Punkten mehr Kultur zubilligt als den ›zivilisierten‹ Mitteleuropäern. Denn diese sind, wie man den Eingangsversen entnehmen kann, in einen grausamen und chaotischen Krieg verwickelt. Bis in die Wortwahl ähnliche Zustandsbeschreibungen des verheerten Vaterlandes finden wir später bei Gryphius.20 Indessen daß der Mars bei zweimal sieben Jahren annoch nicht grausam satt berennt und angefahren mein wertes Vaterland, vor aller Länder Kron’, izt ihr verdammter Haß und angepfiffner Hohn, – er geht noch täglich fort, Gradivus, der Verheerer, Mit seiner bösen Schaar der geizigen Verzehrer; Verderbt, was er nicht mag, äscht Städt’ und Dörfer ein […].21
5
Die Zeitangabe wirkt etwas kurios: Meid kommentiert, dass Flemming die ersten beiden, auf Böhmen beschränkten Kriegsjahre nicht mitrechnet.22 Das Gedicht konstatiert eine ähnliche Kriegsverheerung wie die Neujahrsode. Eindeutig erscheint der Krieg negativ konnotiert; vom lyrischen Sprecher wird ihm in den nächsten Versen das stoizistische Selbst Flemings entgegengestellt. Der Dichtername wird nicht nur ausdrücklich genannt, sondern auch mit einem Possessivpronomen versehen; so dass in der Selbstansprache das Beisichsein in der Fremde Russlands und in Bezug auf ein fremd gewordenes, weil kriegerisch verheertes Vaterland, zusätzlich betont wird. Aus diesem habe ihn ja – heißt es in Flemings Elegie an sein Vaterland – der Kriegsgott Mars heraus getrieben.23 Gerade deshalb fordert der Sprecher des Gedichts: […] – so sei ein wenig deine, mein Fleming, weil du kannst. Du hast noch dieses Eine von allem, was du hattst: dich, den dir niemand nimmt […].24
19 20 21 22 23 24
10
Ebd., S. 235. Etwa im bekannten Sonett Thränen des Vaterlandes (1636) oder in der Vorrede zum Trauerspiel Leo Armenius (1650). DG 1, 128. Vgl. Paul Fleming: Deutsche Gedichte. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1986, S. 148. DG 1, 173, V. 22. Ebd., S. 128.
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Der Besinnung auf ein unerschütterliches Selbst als Instanz, das den Trost allein durch die eigene Stärkung finden kann, folgen am Ende des Gedichts erneut Verse über den Krieg, so dass eine Kreisstruktur sichtbar wird, in dessen Zentrum das stoizistische Ich steht. Die räumliche Statik des Gedichts verortet das Ich so zwar in der Welt, weist ihm aber als Modus des Aushaltens eine eigene Welt zu: »Du selbst bist dir die Welt« (V. 129), heißt es, die Autarkie des Ichs betonend, ehe die Perspektive der Verse erneut den Blick auf die äußere Welt freigibt, zuerst auf das im Verhältnis zu Deutschland ruhige Russland und dann in Erinnerung an das eigene, sich im Krieg befindende Vaterland und seine Kultur: Krieg kömmt von Kriegen her. Hast du dich hier verhalten, o Einfalt, heilge Zier, von erster Zeit der Alten, bis auf die Hefen uns? Ist hier dasselbe Land, da Ehr’ und Redlichkeit von uns sich hingewandt?25
130
Indem Krieg von Neid und Missgunst her abgeleitet wird, bleibt er auf den Einzelnen, der ja im Zentrum des Gedichts steht, stets bezogen. Die Gesellschaft Russlands verharrt quasi noch im goldenen Zeitalter der Einfalt, die von den Menschen zwar Bescheidenheit verlange, aber Ruhe und Sicherheit dafür biete. Russland sei möglicherweise das Land, wo sie allein – als Hefe, als zur Neige gehender Rest – noch zu finden seien, während sie, etwa in der zivilisatorisch weiter entwickelten Heimat schon durch den Krieg verdrängt worden sind. Bei den angeblichen ›Barbaren‹ finde man aber noch Ehre und Redlichkeit, die ursprünglichen Tugenden, die im jetzigen Deutschland fehlen würden. Im Bild der Hefe, die wieder aufgehen und auch woanders eingesetzt noch wachsen kann, scheint indes noch eine Hoffnungsperspektive angelegt zu sein. Die Verhinderung des Krieges, so lässt sich dieser Schluss verstehen, fängt bei den Tugenden der Einzelnen an. Zwar ist die Einfalt, durch eine Parallele im gleichen Gedicht auf die Frömmigkeit beziehbar, doch bleibt die Verhinderung des Kriegs dem gläubigen Menschen aufgegeben. In seinem konkreten gottfernen Handeln, nicht in einer überindividuellen und deshalb leicht entschuldbaren providentia dei liegt die Ursache des Krieges. Dies gilt, obwohl der Argumentation zumindest implizit eine kollektiv ansetzende Dekadenzthese und damit die Vorstellung einer Gesellschaftsentwicklung zugrunde liegen.26 Wie passen nun zu solchen kriegskritischen Versen die paränetischen Gedichte mit ihren unverhohlen martialischen Kriegspassagen? Wo ist jene »innere Geschlossenheit«27 des dichterischen Werks, die Gerhart Hoffmeister für Paul Fleming behauptet hat? Zur Plausibilisierung des hermeneutischen Problems bie25 26
27
Ebd., S. 131. Ergänzend könnte man auch eine lateinisch-deutsche Friedensdichtung Flemings aus dem Jahre 1631 heranziehen: Germaniae exsulis ad suos filios sive Proceres regni epistola, das Schreiben der vertriebenen Frau Germanien an ihre Söhne (vgl. den Beitrag von Barbara Becker-Cantarino in diesem Band). Gerhart Hoffmeister: Paul Fleming. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 2. Stuttgart 2000, S. 217.
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ten sich kleine Kostproben aus den genannten Gedichten an; zuerst aus dem Lob eines Soldaten zu Fuße: […] Wol ber terben a eißt, s h wenn man mit Lust, ohn’ Schmerz und bald sein Blut vergeust, gleich wie es hier geschicht. Die ritterlichen Wunden empfängt man ins Gesicht’. An mir wird keine funden, die auf dem Rücken sei. Das Stürmen und die Schlacht die gestern noch geschah / sind unser’ Zier und Pracht; die Tugend sieht so aus.28
20
25
Ganz ähnliche Töne hören wir auch im Kavallerie-Gedicht; […] Man schlägt mit Fäusten drein, mit Degen und Pistol, wenn man nicht Freund will sein. Und das heißt recht geherrscht. Wir sterben, wie wir leben, frisch, dapfer, ritterlich. Wir sind dem Tod ergeben, Wir wuchern auf das Blut. Das teure Gut, der Tod, ist keines Ieden Kauf. Uns ist es täglich Brot […].29
65
Der grobe Ton der beiden Lob-Gedichte könnte zum einen an der Sprechperspektive liegen; die Texte sind ganz oder in wesentlichen Passagen als Rollengedichte der Soldaten gestaltet. Zum anderen spielt hier sicher auch der mutmaßliche Veröffentlichungsort – vermutlich illustrierte Einblattdrucke – mit hinein.30 Schließlich sei auch noch mal das Sonett Er beklagt die Aenderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen zitiert: […] Wo ist nun unser Mut? der ausgestälte Sinn, das kriegerische Blut? Es fällt kein Unger nicht von unserm eitlen Pralen.31
Die Ungarn, gemeint ist die jahrhundertealte Bedrohung durch die Osmanen, schlägt man nur mit Kampfeswille, Kampfkraft und Mut, nicht mit Gerede, Zauderei und, wie das Sonett später deutlich macht, übertriebenem Sicherheitsdenken. Man könnte die Differenz zwischen den beiden Gedichtgruppen, den paränetischen und den kriegskritischen, vielleicht mit biographischen und/oder historischen Ereignissen erklären. Denn sie sind wenige Jahre vor oder kurz nach der Abreise Flemings nach Russland geschrieben worden. Die beiden martialischen Alexandrinergedichte wurden wohl 1631 verfasst,32 das Sonett vermutlich 1632, die beiden Gustav-Adolf-Oden 1633, das Neugart-Gedicht 1634. Wenn die Russland-Erlebnisse ausschlaggebend gewesen wären, müsste Fleming nicht durch die Schrecken des Krieges geläutert worden sein, wie man es bei ähnlichen Texten 28 29 30 31 32
DG 1, 114. Ebd., S. 113. Vgl. Entner (Anm. 14), S. 214. DG 1, 452. So Kaminski (Anm. 4), S. 157.
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von Opitz, Gryphius und anderen Zeitgenossen vermutet, sondern durch seine Erfahrungen in der vergleichsweise ruhigen Fremde. Das aber wirkt unwahrscheinlich und gemessen an den unsicheren Entstehungsdaten auch zu spekulativ. Nicola Kaminski und Heinz Entner argumentieren zumindest in Bezug auf die beiden Lob-Gedichte mit dem konkreten historischen Kontext und ihrer publizistischen Verarbeitung vor allem in Flugblättern.33 Die furchtbare Belagerung und schließlich Zerstörung Magdeburgs durch Tilly am 20. Mai 1931 und das unermessliche Leid der Bevölkerung war ein unerhörtes Medienereignis, das die Beschäftigung mit dem Krieg nachhaltig geprägt hat. Heute wissen wir, dass die propagandistische Ausgestaltung der Erstürmung Magdeburgs von der tatsächlichen Eroberung zu differenzieren ist.34 Das soll natürlich nicht die Magdeburger Katastrophe schönreden, aber in Erinnerung rufen, wie wenig wir wirklich davon wissen. Für unsere Überlegungen spielt dies allenfalls in methodischer Hinsicht eine Rolle. Denn auch von Leipzig als Schauplatz des Kriegs in den frühen 1630er Jahren wissen wir nur über mediale Vermittlungen. Kein Zweifel besteht indes daran, dass Fleming den Krieg zu dieser Zeit recht unmittelbar miterlebt haben muss. Der Kurfürst von Sachsen hatte im Februar 1631 ein Konvent protestantischer und reformierter Fürsten einberufen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Nach dem Fall Magdeburgs entschloss er sich zu einer Allianz mit dem Schwedenkönig, deren Relevanz sich noch im gleichen Jahr nach der Belagerung Leipzigs durch die Kaiserlichen unter Tilly als glücklich erwies. Zu dieser Zeit hielt sich Fleming in der Universitätsstadt auf. Der relativ unblutige Fall Leipzigs Ende August/Anfang September 1631 und der Einnahme Merseburgs durch Tilly wenig später folgte am 17. September 1631 in der Schlacht bei Breitenfeld vor den Toren von Leipzig seine große Niederlage gegen die schwedisch-sächsischen Truppen. Sie führte zum großen Machtgewinn Gustav II. Adolfs und zur Reaktivierung Wallensteins. Welchen starken Eindruck die Leipziger Ereignisse auf Fleming und seinen Kreis machten zeigen unter anderem die Gedichte von Flemings Studienfreund Georg Gloger, die Lappenberg in seiner Fleming-Ausgabe mit abdruckt: Auf die Leipzigische Schlacht,35 Auf das Donnern und den Regenbogen, so sich nach der Schlacht begeben,36 An das erlösete Leipzig,37 Als Leipzig nicht daheime war38 usw. Überwiegend wird in diesen Gedichten des glimpflichen Ausgangs der Kämpfe für Leipzig und seine Bevölkerung gedacht. Tilly wird durchaus als anerkannter Militär respektiert, der den grandiosen Sieg Gustav II. Adolfs aber umso größer erscheinen lässt.
33 34
35 36 37 38
Vgl. Entner (Anm. 14), S. 153–158. Hierzu vgl. zuletzt: Birgit Emich: Bilder einer Hochzeit. Die Zerstörung Magdeburgs 1631 zwischen Konstruktion, (Inter-)Medialität und Performanz. In: Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Anm. 4), S. 197–235. Vgl. DG 2, 670. Vgl. ebd., S. 671. Vgl. ebd., S. 671f. Vgl. ebd., S. 672.
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Zurück zu den beiden Lob-Gedichten Flemings, die, weil das Wohl und der Schutz des Vaterlandes als Grund für den Kampfeinsatz tendenziell in den Hintergrund treten, als Kontrafakturen39 vielleicht sogar Parodien ihres Genres erscheinen könnten. Erstaunlich bleibt 1631 die fehlende patriotische Perspektive, denn die Bedrohung der sächsischen Heimat durch die kaiserlichen Truppen existiert nach Magdeburg zweifellos und in erheblichem Ausmaß. Selbst wenn die LobGedichte nach der Befreiung Leipzigs geschrieben worden wären, kann man sich eine Kritik der patriotischen Paränese kaum vorstellen. Zudem verwildern gerade in den beiden Lob-Gedichten die martialischen Passagen in moralischer Hinsicht regelrecht, weil die Soldaten ihr Handeln radikal subjektorientiert, nämlich aus ihrer eigenen kämpfenden Situation im Krieg ableiten. Dies sei kurz durch entsprechende Zitate belegt. Im Lob eines Soldaten zu Fuße heißt es am Ende über den Krieg: […] Da kriegt man Geld und Gut mehr als man haben will. Wir machen frische Beute. Das Vaterland wird froh. Wir retten Land und Leute und machen sie auch arm, nach dem das Glücke fällt. Die Herren sind uns gleich: wir stehen feil um Geld.40
Im Vergleich zu Lob eines Soldaten zu Rosse wird beim Infanterie-Gedicht, gemäß der Kriegsrolle und des Standes ein kollektives Ich, ein Wir, hervorgehoben, das sich in der Schlacht konstituiert. Es handelt aber insofern ›subjektorientiert‹ als es sich einzig am Wohl des Einzelnen dieser Gruppe ausrichtet; dieser steht »feil« für ein besseres Angebot anderer Herren. Eine vergleichbare Konzentration auf den eigenen Vorteil findet sich im Lob eines Soldaten zu Rosse. Nachdem das Gedicht die Perspektive des Soldaten angenommen hat, heißt es: Dem Kriege zieh’ ich nach nun bei so vielen Jahren, ich weiß des Krieges Brauch. Ich gebe kein Quartier, und käm’ ein General und König selbst mir für. Ich achte dessen nicht, daß er von höherm Stamme als ich geboren bin. Diß eben macht die Flamme, daß ich mehr siegen will, in dem er größer ist an Ahnen, nicht an Mut.41
39
40 41
40
Verweyen/Witting erweitern die literaturwissenschaftliche Bedeutung des ursprünglichen Begriffs ›Kontrafaktur‹ – die Umschreibung eines weltlichen Textes in einen geistlichen – ohne auf klare Kriterien zu verzichten: Eine Kontrafaktur arbeitet mit analogen Verfahren des Ausgangstextes, verändert aber radikal seine Ausrichtung. Er entspricht deshalb durchaus der Parodie, kann aber auf Komik verzichten und dient vor allem gerade nicht – wie die Parodie – der Herabsetzung des Ausgangstextes. Vgl. hierzu als Überblick: Theodor Verweyen/Gunther Witting: Kontrafaktur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke u. a., S. 337–340, und ausführlich dies.: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987. DG 1, 114. Ebd., S. 112.
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Pardon wird nicht gegeben: eine geradezu prekäre Mischung aus martialischem Drohen und dem biblischen Motiv des David gegen Goliath. Immerhin überwindet dieser Habitus ostentativ das stratifikatorische Denken. Die Selbstmotivation des Soldaten zu Ross – die Schlacht bei Breitenfeld wurde übrigens durch die schwedische Kavallerie entschieden – zeugt, wenn sie tatsächlich nicht parodistisch gemeint sein sollte, von einem hohen Selbstbewusstsein, das sich geradezu in einen Solipsismus steigert. Denn die Verse gipfeln am Ende in eine Apotheose des starken Selbst, das weniger die paränetische Gattung als die stoizistische Lyrik Flemings zu parodieren scheint. Es sei Hieb oder Stich; wenn wir nur kommen um, so ist es wol geschehn. Lob’ Einer nun das Seine, sein Leben, wie es sei: ich lobe stets das Meine. Du lebest nicht für mich: ich sterbe nicht für dich. Ein Ander’ bleibe sein’. ich bleibe so für mich.42
80
Den Grundgestus der radikalen Rückbesinnung auf sich selbst kennt man bei Fleming allzu gut: »Sein Unglück und sein Glück ist ihm ein jeder selbst.«43 Dieses radikal-stoizistische Programm von An sich oder die selbstbewusste Grabschrift zu Lebzeiten44 kommen einem unweigerlich in den Sinn. Dass diese stoizistisch geprägten Texte im nämlichen Gedichtband der Teütschen Poemata von 1641 postum veröffentlicht wurden, spricht wohl gegen ein parodistisches Verständnis der beiden Soldatenlob-Texte. Auch im 17. Jahrhundert verlören damit die ernsthaften Positionsgedichte im stoizistischen Geist doch an Glaubwürdigkeit. Dies muss man konstatieren, nicht weil man von einem starken Autor ausgeht,45 wohl aber, weil man die Texte eines Buches von einem Autor auch im 17. Jahrhundert mit einem analogen Erwartungshorizont lesen muss, der durch die Paratexte gesteuert wird.46 Während Kaminski konstatiert, die Lob-Gedichte würden aus der »diskursiven Reihe« paränetischer Gedichte in Zincgrefs Manier »tanzen«,47 neige ich dazu, sie gar nicht erst in diesen Reigen aufzunehmen, und dass, obwohl der Heidelberger Späthumanist anzitiert wird. In der Tat handelt es sich doch hier um eine recht realistische Standortbestimmung des modernen Soldaten, des Söldners, der gut daran tut, seine Tätigkeit als bloßes Handwerk zu sehen.48 Und diese gilt es besonders effizient, also auch im Zweifel rücksichtslos zu beherrschen – 42 43 44 45
46
47 48
Ebd., S. 113. Ebd., S. 472 (An sich, V. 9f.). Vgl. ebd., S. 460. Hierzu vgl. Britta Hermann: »So könnte ja dies am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?« Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaft. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2002, S. 479– 500. Auch in der Barockzeit gibt es so etwas wie ›Werkpolitik‹, zumal bei posthum erschienenen Editionen; hierzu allgemein vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2007. Kaminski (Anm. 4), S. 157. Hier stimme ich Kaminski zu: vgl. Kaminski (Anm. 4), S. 160.
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egal auf welcher Seite man steht. Grimmelshausens Simplicissimus zeigt ja wie verbreitet eine solche Haltung im Dreißigjährigen Krieg war. Man könnte in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass Fleming die gleichen Merkmale des Söldnerheeres sieht wie Niccolo Machiavelli in seinem »berühmten Buch«49 Kunst des Krieges/Arte della guerra (1520), das – glaubt man Gerhard Oestreich – ein wichtiger Referenztext für den Neustoizisten Justus Lipsius und die von ihm angestoßenen Heeresreformen des 16. und 17. Jahrhunderts war. Grundansatz der Kritik Machiavellis ist, dass die Söldner den »Soldatenstand als ihr eigens Handwerk« ausüben50 und entsprechend nur an ihr eigenes Wohl und nicht an das des Staates denken. Zudem fördere der Krieg Fertigkeiten, die im Frieden nicht gebraucht würden: »Diebstähle, Gewalttaten, Meuchelmord«.51 Allerdings denkt Machiavelli von der Stabilität des Staates und der Konsolidierung der Fürstenmacht her, während Fleming, wie gezeigt, dem einzelnen Soldaten, der an den Rahmenbedingungen nichts ändern kann, ins Zentrum seiner Gedichte stellt. Dieser kann zwar durchaus im stoizistischen Sinn an sich selbst denken, sollte aber im Militärdienst – so jedenfalls die Position von Lipsius – sich selbst, um die Kraft des Heeres zu stärken, disziplinieren. Deshalb gehört die Kriegsdisziplin zu den zentralen Anliegen der sogenannten oranischen Heeresreform, die Fleming vielleicht aber erst bei seinem Aufenthalt in Leiden 1639/40 kennengelernt hat. Nach Lipsius soll, so führt Oestreich mit vielen Belegen aus, die stoizistisch gedeutete virtù ordinata Machiavellis zu einem neuen soldatischen Ethos führen, das die »Zügellosigkeit und Maßlosigkeit überschäumenden Söldnertums« nachhaltig bändigt.52 Auch oder gerade im Krieg müsse die stoizistische Kunst der Lebensführung gelten. Diese aber setzt letztlich beim einzelnen und nicht bei der effizienten Kriegsführung oder einer auf soziale Rücksichtnahme zielenden Verhaltensweise an. Diese professionelle Sicht auf den Söldnerberuf scheint ein möglicher Zugang zu sein, um die scheinbare Werkinkonsistenz Flemings zu erklären: Man kann eben den Krieg als Geißel der Menschheit sehen, ohne das Handwerk des einzelnen Soldaten gering zu schätzen. Das mag uns heute schwer fallen, aber genau das könnte doch hier gemeint sein: Der Krieg und seine Folgen ist das eine, die perfekte Beherrschung des Kriegshandwerks das andere. Und gerade bei letzterem wirkt sich ein radikaler Stoizismus gepaart mit einer gehörigen Portion Egoismus, Überlebenswillen und Rücksichtslosigkeit durchaus effizient, will sagen: positiv aus. Als dritten möglicherweise paränetischen Text haben wir das schon eingangs zitierte Sonett Er beklagt die Aenderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen nun
49
50 51 52
Gerhard Oestreich: Der römische Staat und die oranische Heersreform (1953). In: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 11–34, hier S. 15. Vgl. auch Oestreichs Beitrag im gleichen Band: Zur Heeresverfassung der deutschen Territorien von 1500–1800, S. 290–310. Niccolò Machiavelli: Gesammelte Werke in einem Band. Übers. v. Johann Ziegler u. Franz Nicolaus Baur. Hg. v. Alexander Ulfig. Frankfurt a. M. 2006, S. 719. Ebd., S. 718. Oestreich (Anm. 49), S. 21; vgl. besonders S. 19–22.
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erneut zu überprüfen. Die beiden Terzette fassen die fehlenden deutschen Eigenschaften Mut, Ehre und Redlichkeit zusammen: […] was ängsten wir uns doch und legen Rüstung an, die doch der weiche Leib nicht um sich leiden kan? Des großen Vatern Helm ist viel zu weit dem Sohne, der Degen schändet ihn. Wir Männer ohne Man, Wir Starken auf den Schein, so ists um uns getan, uns Nahmensdeutsche nur! Ich sags auch mir zum Hohne.53
10
Im Sonett werden nicht nur militärische Tugenden thematisiert; es zeigen sich auch frühneuzeitliche Männlichkeitsideale. Tapferkeit und Wehrhaftigkeit gelten zwar als erstrebenswert, erscheinen dem Sprecher in seiner Generation aber nicht als Normalfall. Es würde sich gewiss lohnen, auf diese Männlichkeitskritik näher einzugehen, aber es würde uns auch vom eigentlichen Thema wegführen. Bleiben wir also beim Soldatischen: Ein Flugblatt-Intertext des Sonetts, der sich auf die im ersten Vers verwendete Vokabel »Konfect« bezieht,54 lege es nahe, so Kaminski, das Gedicht als Reflex auf die Niederlage der kaiserlichen Truppen bei Breitenfels zu lesen.55 Leipzig erscheine zwar zuerst als Konfekt, erweise sich bei den konkreten Kampfhandlungen aber als harte Nuss. Durch den intertextuellen Bezug entstehe eine ›Kontrafaktur‹ der Paränese,56 die zwar den fehlenden Mut und die Kampfkraft kritisiert, die durch die jedem bekannte Hintergrundgeschichte des schwedisch-sächsischen Siegs über Tilly aber klar macht, dass es offensichtlich auch anders gehen kann. Der kritische Ton mit dem die Soldaten hier bedacht werden, passt indes besser zur angstbesetzten Vorgeschichte der praktisch kampflosen Übergabe Leipzigs an die Truppen Tillys. Denn auch wenn man akzeptiert, dass das Sonett auf das ›sächsische Konfekt‹ Leipzig anspielt, ergeben sich Probleme, hier einen kontrafaktischen Bezug zur Paränese zu sehen, der »in beißendem Spott« den jungen Helden der Stadt »den Spiegel vorhält.«57 Verwendet man den in der Literaturwissenschaft gängigen Begriff der Kontrafaktur, wäre dieser, anders als die Parodie etwa, gerade nicht an eine komisierende Herabsetzung der Vorlage gebunden. Gegenstand des Spottes könnte in diesem Sinn also nicht die Paränese sein, sondern allenfalls diejenigen, denen die kontrafaktische Paränese gilt. Diese, so Kaminski, werden mit der »Hohnrede« des Gedichts bedacht.58 Doch kann man eine Sprechhandlung wie die Paränese umdrehen, ohne sie selbst zu treffen? Eine Ermahnung, die eigentlich Hohn und Spott ist, wirkt tatsächlich eher als Parodie der Paränese denn als ernste Kontrafaktur.59 Hinzu kommt ein weiteres 53 54 55 56 57 58 59
DG 1, 452. Ebd. Vgl. Kaminski (Anm. 4), S. 161. Vgl. ebd., S. 164. Ebd., S. 160. Ebd., S. 167. Meine Unterscheidung bezieht sich auf Verweyen/Witting: Die Kontrafaktur (Anm. 39), S. 34–53.
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Argument: Das Sonett findet sich in der postumen Ausgabe unter den Sonetten, die von ›geistlichen Sachen‹ handeln.60 In diesen Rahmen gehören gewiss nicht Hohn und Spott, sehr wohl aber eine ernsthafte Ermahnung an die christliche Verantwortung. Zumindest haben das die Zeitgenossen so gesehen. Denn in einem ›geistlichen Sonett‹ kann unmöglich der hohle Klang kriegstreibender Polemik ausgestellt werden. Das zu ernsthafte und selbstkritische Ende des Sonetts und seine wieder einmal herausgehobene selbstbezügliche Volte sprechen – auch im Hinblick auf den Werkkontext – eher dagegen. Ich vertrete die These, dass es bei den martialisch wirkenden Kriegsgedichten keineswegs um poetologische Selbstreferentialität geht, so schön das für eine versteckte Qualität der Texte zweifellos wäre, sondern um das mühevolle Erschreiben möglicher oder wahrscheinlicher Positionen zum herrschenden Krieg in Bezug auf seine je andere Realität. Das hieße aber, hier handele es sich keinesfalls um poetologische Lyrik, sondern um gewissermaßen schlichte mimetische Texte. Dabei geht es natürlich nicht um eine genaue Wiedergabe von Kriegshandlungen, sondern um eine geradezu genrehafte Darstellung des Soldatenwesens, wie wir es auf den entsprechenden Gemälden niederländischer Maler der Zeit oder in den zeitgenössischen graphischen Druckfolgen zum Soldatenberuf finden.61 Die Gedichte Flemings fokussieren in diesem Sinne den Einzelnen und seine Affekte im kollektiven Erlebnis des Krieges. Insofern haben praktisch alle hier diskutierten Texte, so verschieden sie in der jeweiligen Bewertung des Krieges auch sein mögen, immerhin ein gemeinsames Thema und einige vergleichbare Denkstrukturen: 1. Dem unmenschlichen und anonymisierenden Kriegsmechanismus, seiner Zerstörung und Bedrohung häuslichen Glücks, seiner Nivellierung des Einzelnen in der Schlacht und den massenhaften Heerbewegungen – vor Leipzig standen auf jeder Seite etwa 25 000 Soldaten – stellt Fleming die Präsenz des Subjekts entgegen: Dem Soldaten zu Fuß und zu Ross gibt er jeweils eine eigene, eigensinnig und nicht kollektiv argumentierende Stimme. Sich selbst oder jedenfalls das lyrische Ich positioniert er im Sonett in Bezug auf die patriotischen Anforderungen des Krieges. Und im Neugart-Gedicht rechtfertigt er durch die ausdrückliche Namensnennung geradezu die Flucht aus Sachsen: Bei allem Unglück um dich herum, hast du dich selbst noch. Die Parole ›Sei dir selbst genug‹ ist hier durchaus im materiellen Sinne radikalisiert. 2. Diese ostentative Setzung des Ichs, die natürlich von moderner Subjektivität zu unterscheiden ist, lässt eine für das 17. Jahrhundert durchaus bemerkenswerte Perspektive erkennen: Der Krieg erscheint – wenn man von der 60 61
Schon Lappenberg sähe dieses »herrliche Sonnet« lieber in der gemischten Abteilung der ›Glückwünsche‹: vgl. DG 2, 766. Vgl. hierzu zum Beispiel: Martin Knauer: Krieg, Gewalt und Erbauung. Zur Funktion der Todesmahnung in druckgraphischen Bildfolgen des Dreißigjährigen Krieges. In: Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. v. Markus Meumann u. Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S. 83–104.
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Dank- und der Neujahrsode einmal absieht – wesentlich säkular gedacht. Er wird, wie die beiden Lob-Gedichte, das Sonett und das Neugart-Gedicht zeigen, von Menschen gemacht, von Soldaten vollzogen und von »frommen Bürger[n]«, wie es im Danklied von 1632 heißt,62 erlitten. Als ethische Instanz erscheint deshalb in diesen Gedichten vor allem der Mensch selbst. Ihm bleibt es überlassen, Position zu beziehen. Die Gedichte führen solche Positionen nur paradigmatisch vor. Das erscheint vielleicht als das eigentlich Ungeheure der Gedichte. 3. Die jeweilige Subjektbezogenheit erzeugt die ominöse Bewertungsdifferenz hinsichtlich des Krieges. Ein Student reagiert eben anders auf den Krieg als ein Söldner. Insofern müssen die Gedichte nach Stimme, Anlass und gesetzter Redeweise bewertet werden und lassen – vor allem als Rollengedichte – natürliche keine Werkkonsistenz im modernen Sinn erwarten. Das Kunstvolle der Kriegsgedichte Flemings liegt in seiner Fähigkeit Stimmen zum Krieg zu erzeugen und diese insofern sehr suggestiv zu bezeugen. Die Gedichte dokumentieren die Unsicherheit gegenüber dem Krieg als zentralem Zeitereignis zwischen 1631 und 1634. Deutlich wird sie schließlich in einem Stammbuch-Eintrag des Fleming-Freundes Georg Gloger in das Album des Herrn Mylius von Berenburg. Zitiert wird der kurze Text freilich mehr als historisches Dokument, denn als dichterisches Monument. Es trägt die bezeichnende Zeitangabe »1631 in der Leipsigschen Belägerung«. Hat man das grausame Ende der Magdeburger Belagerung am 20. Mai 1631 im Kopf, das sich wie ein Lauffeuer verbreitete, kann man ahnen, in welcher Stimmung die Leipziger Studenten verharrten: Wenn nicht die Hülfe selbst in Angst- vnd Bangeseyn Vns an die Mannheit denkt, vnd Herz vnd Muth redt ein, So sind wir, wie ein Blatt, das auch der schwächste Wind Von seinem Äthmen nur in stetem Zittern findt. Vnd strauchelt nur der Trost, so liegt der Mann schon gar, Der so beherzet stund vnd Held vnd Riese war. So geht es mit vns zu. Des Glückes Stiefblick kan Ohn’ Hand vnd ohne Streit eröbern einen Mann.63
5
Solche Verse vermitteln die tiefe Erkenntnis, dass es nicht unerheblich ist, ob man selbst belagert oder belagert wird, ob man kämpfen gelernt hat oder nicht und schließlich ob man in einer solchen Situation Mut zu demonstrieren hat wie ein zincgrefscher Soldat oder sich mit kleinlauter Geste eingestehen muss, eben nur mutloser »Namensdeutsche[r]« zu sein.64 Letzteres erscheint heute jedenfalls nicht unbedingt unsympathisch.
62 63 64
DG 1, 231 ( V. 49). DG 2, 661. DG 1, 452.
Gunter E. Grimm
Zwischen Propaganda und Distanz Gustav II. Adolf von Schweden in der politischen Lyrik Paul Flemings Das Restitutionsedikt vom 6. März 1630 sollte die alten Machtverhältnisse in Deutschland wiederherstellen. Nach den militärischen Erfolgen Tillys und Wallensteins war die Lage der Protestanten im Reich einigermaßen verzweifelt. Daher erschien ihnen der Schwedenkönig Gustav II. Adolf, der am 6. Juli 1630 auf Usedom in Pommern gelandet war, als gottgesandter Retter in der Not. In der Schlacht von Breitenfeld am 17. September 1631 konnte er zwar Tilly entscheidend schlagen, doch endete sein beispielloser Siegeszug bereits am 6. November in der Schlacht von Lützen, in der er den Tod fand. Dennoch: Seine Siege hatten das protestantische Lager vom Schock der katholischen Militärstrategie befreit. Kein Wunder, dass Gustav II. Adolf zu Lebzeiten als »Leu aus Mitternacht« gefeiert wurde, als Retter und Vorstreiter des deutschen Protestantismus.1 Der Tod auf dem Schlachtfeld leistete den Parteigängern Vorschub, die ihn zum Märtyrer der evangelischen Sache erhoben. Paul Fleming, Sohn eines protestantischen Pfarrers, war sächsischer Untertan. Insofern war er durch das politische Schicksal Sachsens im Dreißigjährigen Krieg in besonderer Weise betroffen. Kurfürst Johann Georg I. (reg. 1611–1656) stand zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges auf kaiserlicher Seite, wechselte aber 1631 auf die Seite des Schwedenkönigs, der gemäß dem am 11. September 1631 geschlossenen Vertrag von Coswig/ Anhalt über die kursächsische Armee verfügen und das Kurfürstentum Sachsen als militärische Operationsbasis benutzen durfte.2 Nach der Eroberung und Schleifung Magdeburgs durch Tilly hätte Sachsen der Einmarsch kaiserlicher Truppen gedroht; er wurde jedoch durch Gustav II. Adolfs Sieg über Tilly bei Breitenfeld verhindert. Nach der Niederlage der protestantischen Truppen bei Nördlingen im Jahr 1634 wechselte Johann Georg abermals ins kaiserliche Lager – Kaiser Ferdinand II. be1
2
Zur Apostrophierung Gustav II. Adolfs als »Löwe aus Mitternacht« vgl. Silvia Serena Tschopp: Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635. Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 229–247; 1648. Krieg und Frieden in Europa. Hg. v. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling. 2 Bde. München 1998. Im ersten Bd. vgl. die Kap. X.5. Der »Löwe aus Mitternacht«, X.6. Gustav Adolf – Verehrung und Kult, X.7. Tod bei Lützen, S. 360–375. Heribert Smolinsky: Albertinisches Sachsen. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Hg. v. Anton Schindling. Münster 1990. Bd. 2: Der Nordosten, S. 9–33, hier S. 28; Christoph Kampmann: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart 2008, S. 78; Axel Gotthard: Johann Georg I. 1611–1656. In: Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige. 1089–1918. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. München 2007, S. 137–147, hier S. 144f.
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lohnte im Prager Frieden vom Mai 1635 diesen Verrat durch Vergabe der Ober- und Niederlausitz als böhmisches Lehen; Kurfürst Johann Georg I. erhielt obendrein die erbliche Stellung eines Reichsfeldherrn. Freilich die sächsische Bevölkerung musste den Wankelmut ihres Herrschers büßen, denn seit 1636 verheerten die Schweden das Land mit roher Gewalt. So stürmten sie 1637 die Stadt Meißen, eine Feuersbrunst zerstörte große Teile der Stadt, 1639 eroberten sie Zwickau und Pirna, 1642 Zittau und Leipzig. Insbesondere Meißen erlitt furchtbare Verluste. Dresden blieb zwar von Zerstörungen verschont, doch wurde durch die Pest von 1632/33 und die anschließende Hungersnot ein großer Teil der Bevölkerung hinweggerafft.3 Fleming musste die fortwährende Verwüstung Sachsens miterleben. Seine große Moskau-Reise zwischen Oktober 1633 und Februar 1635 und die anschließende Reise nach Persien zwischen Oktober 1635 und April 1639 darf als Flucht vor dieser Misere gewertet werden. Er hat sie selbst durchaus reflektiert, etwa in seinem Gedicht Elegie an sein Vaterland vom 9. November 1636 – »Ich sang der Deutschen Ruhm und ihrer teuren Prinzen, / bis Mars mich da treib’ aus, der Unhold aller Kunst«4 – oder in einem an den Fürstlich Holsteinischen Leibarzt Hartmann Grahmann gerichteten Gedicht, in dem er die Motive für seinen Reiseentschluss offen legt: Als aber gleich der Krieg, erbarm’ es Gott, der Krieg, mit welchem wir uns Deutschen von so viel Jahren her nun ganz zu Tode peitschen, mein Meißen drittens traf, so gab ich mich der Flucht, die niemand schelten kan und ich mir oft gesucht.5
In einem an die »Holsteinischen Herren Abgesandten« gerichteten Gedicht vom November 1633 betrachtet Fleming seine Reise als »Gunst« des Himmels, weil sie ihn in die glückliche Lage versetze, »unser Kriegsgetümmel« »von fernen« zu sehen. Gleichwohl wünscht er Deutschland die Beendigung der »langen Kriege«. »So du bist des Schlagens müde, / so ergreife doch den Friede!«6 Fleming hat, wie so viele andere Gedichteschreiber seiner Zeit, auch zu der politischen Konstellation Stellung bezogen. Als Protestant war er Parteigänger und verfocht die evangelischen Interessen in Gedichten, die man im engeren Sinn als politische Gedichte charakterisieren kann. In dem nach einem lateinischen Original verfassten Schreiben vertriebener Frau Germania an ihre Söhne oder die Churfürsten von 16317 gibt er einen Abriss der deutschen Geschichte und beklagt die konfessionelle Uneinigkeit, den »Riß in der Religion«, die Pest-, die Sterbens- und die Hungersnot. Nachdem er den Niedergang des einst mächtigen 3
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Zu der von Fleming erlebten Zeitgeschichte der Jahre 1631 bis 1633 vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 179–359. Einen Einblick gewährt auch Golo Manns monumentale Wallenstein-Biographie: Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann. Frankfurt a. M. 1971, S. 712f. Zit. n. DG; sowie ergänzend nach TP. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. – PW IV, 48, V. 21f. (S. 173). PW IV, 53, V. 50–54 (S. 186); nicht in TP. Oden IV, 22, V. 65f. (S. 362); TP 483. PW IV, 1 (S. 102–110); TP 112–121.
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Reiches konstatiert hat, schwingt er sich zu einem Hilferuf an die verschiedenen deutschen Stämme auf: Erst Eintracht mache stark. Das Gedicht Auf Herrn Johann Casimir, Herzoge zu Sachsen, Namenstag (4. März 1631) ist eher ein Appell an den Herzog von Sachsen, der evangelischen Sache zum Sieg zu verhelfen und das deutsche Reich zum Frieden zu führen.8 Sind diese Gedichte bereits aus protestantischer Perspektive geschrieben, so wird diese Parteigängerschaft eindeutiger in den »heftigen«, gegen den vergeblich die Festung Stralsund bestürmenden Wallenstein polemisierenden Stammbuchversen Neben dem Conterfet der Stadt Stralsund,9 und in dem nach Gustav II. Adolfs Sieg in der Schlacht von Leipzig am 7. September 1631 an dessen Gattin Maria Eleonora gerichteten Gedicht, das sie im Namen der Leipziger Bürger begrüßt.10 Den Schwedenkönig rühmt Fleming in drei Gedichten. Im Danklied, einer Ode in zehn Strophen, dankt der Dichter Gott, dass er die »stolzen Feinde« gebeugt habe. Der Dichter feiert Gustav II. Adolf als unseren »Held August«,11 ein Anagramm, das sich – wenn man, wie im Barock üblich, »u« und »v« mit demselben Buchstaben wiedergibt – durch Umstellung des Namens »Gust – av« ergibt und das zugleich auf die Kaiserwürde anspielt. Obwohl das Gedicht vom November 1632 stammt, gilt der besungene Held nach Ausweis der letzten Strophe noch als lebendig. Sie spricht die Hoffnung aus: Ist schon unser Heiland blieben, Gott hat Einen schon verschrieben, der ihn rächen kan und soll, ihn und uns und alle Frommen. Kommt er? Ja, er ist schon kommen. Luthrische, gehabt euch wol!12
Makaber, dass zu diesem Zeitpunkt Gustav II. Adolf bereits nicht mehr am Leben war.13 Jedenfalls hat sich die Kunde von seinem Tod – trotz anfänglicher Geheimhaltung – rasch verbreitet, und Fleming widmete seinem Andenken zwei Gedichte, die beide zuerst als Flugblätter erschienen sind, also quasi-offiziellen Charakter hatten und insofern als Instrument der schwedischen Propaganda bezeichnet werden können. 8 9
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PW IV, 2 (S. 110f.); nicht in TP. Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Bd. 45. Leipzig 1847, S. 186. »Neben dem Conterfet der Stadt Stralsund in Christeniussens seinem Stambuche.« (PW IV, 13 (S. 121); TP 56) »Auf der Durchläuchtigsten Frauen, Frauen Marien Eleonoren, der Schweden, Gothen und Wenden Königin u.s.w. Ihrer Majestät Ankunft in Leipzig. MDCCXXXI« (Oden IV, 3 (S. 326–328); TP 432–435). »Billich ists, daß wir uns freuen und mit lautem Jauchzen schreien: Lob sei Gott und seiner Macht, der die stolzen Feinde beuget, und mit seiner Allmacht zeuget, daß er uns noch nimmt in Acht!« (Oden I, 1, V. 55–66 (S. 230f.); TP 293) Oden I, 1 (S. 231); TP 295, wo der letzte Vers eine Variante aufweist: »Gläubige/ gehabt euch woll.« Jörg-Peter Findeisen: Gustav II. Adolf von Schweden. Der Eroberer aus dem Norden. Graz/ Wien/Köln 1996, S. 215–223. Zum Dreißigjährigen Krieg ist immer noch gut lesbar die Darstellung von C. V. Wedgwood: Der Dreißigjährige Krieg. München 1967, darin das Kap. Der König von Schweden, S. 233–292.
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Die 22-strophige Neujahrsode MDCXXXIII, darinnen über zweimalige Verwüstung des Landes, denn auch über Königl. Majest. aus Schweden Todesfall geklaget und der endliche Friede erseufzet wird ist ein Klage- und Bittgedicht zugleich, das von der Verwüstung Meißens und vom Tod Gustav II. Adolfs in der Schlacht von Lützen handelt.14 Unter Bezugnahme auf das Danklied wird die zweimalige Befreiung Meißens genannt. Gustav II. Adolf wird als »unser Heiland« apostrophiert (V. 21), sein Tod wird als allzu teurer Preis für den Sieg in der Schlacht von Lützen gewertet. Der zweite Teil des Gedichts wendet sich an Jesus Christus mit der Bitte, die Feinde zu versöhnen und Sachsen zu beschützen. Die letzten sieben Strophen entwerfen das Wunschbild einer der Sinnlosigkeit des Mordens bewusst gewordenen, zum Frieden gelangten Zeit. Das zweite Gedicht ist ein Nekrolog des bei Lützen gefallenen Schwedenkönigs: Auf ihrer Königl. Majestät in Schweden christseligster Gedächtnüß Todesfall. Es steht in der nach Gegenstandsbereichen geordneten Sammlung der Poetischen Wälder im zweiten Buch Von Leichengedichten.15 Insgesamt besteht es aus 164 paarig und zwar wechselnd männlich und weiblich reimenden Alexandrinern, die rein äußerlich keine Gliederung aufweisen. Lappenberg kommentiert den Druck: »In den Edd. sind den in diesem Gedichte vorkommenden allegorischen und anderen Personen Nummern von 1–67 beigefügt, welche sich ohne Zweifel auf ein beifolgendes Bild bezogen, welches aber nicht aufzufinden war.«16 Weil er dieses Bild nicht aufzufinden vermochte, hat er konsequenterweise in seiner Ausgabe von 1865 das Gedicht ohne die Nummern abgedruckt. Lappenberg hat das »Triumph- und Leichgepränge« genannte Flugblatt zwar nicht gekannt, jedoch vermutet, dass es ursprünglich in dem Sammeldruck Königisches Klaglied, Oder Auffgerichtete Ehrenport enthalten gewesen sei. Als Fundorte nennt er die Königliche Bibliothek in Berlin, die Großherzogliche Bibliothek in Weimar und die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel.17
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Oden I, 2 (S. 233–235); TP 290–293. Zuerst als Flugblatt in Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling– Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1504, Nr. 45.1 u. 45.3. PW IV, 9 (S. 44–48); TP 138–143, hier im dritten Buch. Die Nummerierung der Figuren findet sich in TP. Das Gedicht wird zitiert nach Nicola Kaminskis Textherstellung in ihrem Aufsatz: Ars moriendi. Paul Flemings »Leichengedicht« Auf Jhrer Königl. Majest. In Schweden Christseeligster Gedächtnüß Todes-Fall (in: Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute. Hg. v. Andrea von Hülsen-Esch u. Hiltrud WestermannAngerhausen in Zusammenarbeit mit Stefanie Knöll. Regensburg 2006, S. 250–265; Textabdruck auf S. 250–254). DG 2, S. 688. DG 2, S. 840f. »Vielleicht dürfen wir jedoch annehmen, dass der vermisste Bogen A des Weimar’schen Exemplars Flemings Gedicht auf S. K. Majestät in Schweden Todesfall (Poet. Wälder II, 9) enthalten habe, nebst einer Abbildung der Ehrenpforte v. 41 ff. und des Leichgepränges, welches dort auf ›diesem schmalen Blatte‹ v. 154 beschrieben war. Ein Abdruck dieses Gedichtes mit dem Holzschnitte, auf welchen die in die Ausgaben von Fl.’s Gedichten übergegangenen Zahlen sich bezogen, ist nicht aufzufinden gewesen.«
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Allerdings fehle im Weimarer Exemplar ausgerechnet das fragliche Gedicht. Auch in der Wolfenbütteler Sammelschrift ist dieses Gedicht nicht enthalten.18 Auf der Suche nach dem illustrierten Einzeldruck hat 1984 John Roger Paas drei Fundorte des Trauergedichts über den Tod von Gustav Adolf ausfindig gemacht: die British Library in London, die Landesbibliothek Darmstadt und die Universitätsbibliothek Uppsala.19 Diese drei Fundorte nennt auch Gerhard Dünnhaupt in der zweiten Auflage der Personalbibliographien zu den Drucken des Barock.20 Das Exemplar der Landesbibliothek Darmstadt hat Wolfgang Harms im vierten Band der von ihm herausgegebenen Flugblätter-Sammlung abgedruckt und kommentiert, allerdings ohne es als ein Gedicht von Paul Fleming zu identifizieren. Das Flugblatt (Abb. 1) präsentiert sich zweiteilig: Bild und Text sind getrennt; das Bildblatt hat am linken Blattrand einen Bildverlust. Darüber hinaus hält Harms auch den Verlust des Titels für denkbar.21 Das Exemplar der Universitätsbibliothek Uppsala (Abb. 2) enthält den Titel und den Text des Gedichtes auf einem Blatt; das Bild befand sich entweder auf einem separaten mittlerweile verlorenen Blatt oder es fehlte von vornherein. Text und Layout des Gedichtes sind völlig identisch mit dem Darmstädter Exemplar. Der Titel lautet Triumph vnd Leichgepränge Zu Ehren dem Großmächtigsten vnd vnvberwindlichsten Herrn Herrn/ Gustav Aldolhen [!]/ Der Schweden/ Gothen vnd Wenden Könige/ etc. Aus schuldiger Danckbarkeit/ zu hochrühmlichsten Andencken fürgebildet.22 Das dritte Exemplar (Abb. 3) befindet sich im Print Room des British Museum. Eventuell ist es mit dem früheren Berliner Exemplar identisch, das bereits Goedeke 1887 im Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung nennt23 und dessen Titel laut Goedeke und Dünnhaupt dem Titel des Exemplars von Uppsala entspricht. Der Berliner Privatgelehrte Wendelin von Maltzahn hatte das komplette Flugblatt erworben und es beschrieben. Nach Maltzahn handelte es sich um ein offenes, aus zwei Bogen zusammengesetztes Blatt in Folio; der obere Bogen habe »die Abbildung des Leichenzuges in Kupferstich mit dem angefügten Titel« enthalten; der 18 19 20 21
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Die Sammelschrift ist mittlerweile digital erfasst und lässt sich online abrufen unter http:// diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/65-1-pol-19 [Dezember 2011]. John Roger Paas: Ergänzende Einzelheiten zu Paul Flemings deutschen Einblattdrucken. In: Wolfenbütteler Nachrichten 11 (1984), S. 14f., hier S. 15. Dünnhaupt 2 (Anm. 14), S. 1503. Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Die Sammlungen der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. Komm. Ausg. Hg. v. Wolfgang Harms u. Cornelia Kemp. Tübingen 1987, S. 295, Nr. IV, 229. Freundlicherweise hat die UB Uppsala eine Tif-Datei des fraglichen Flugblatts zur Verfügung gestellt. Die Signatur des Exemplars heißt Planer III, 52a. Dünnhaupt 2 (Anm. 14), S. 1503. Nr. 44.3. Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen von Karl Goedeke. Zweite ganz neu bearbeitete Aufl. Dritter Band. Vom dreissigjährigen bis zum siebenjährigen Kriege. Dresden 1887, S. 61, Nr. 15. Nach geradezu kriminalistischer Suche ist es gelungen, im Print Room des British Museum das von Paas in der British Library geortete Exemplar aufzutreiben. Es hat (anders als von Paas angegeben) die Inventarnummer: 1880,0710.454 – PPA76766. Besonderer Dank gilt Frau Sabine Dassow-Stadler von der UB Duisburg-Essen, die mich bei meiner Suche tatkräftig unterstützt hat.
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untere das Gedicht.24 Nach von Maltzahns Tod im Jahre 1889 wurde ein großer Teil seiner von einem Berliner Antiquar angebotenen Sammlung von der British Library gekauft. Paas vermutet jedoch, dass es sich bei dem Londoner Exemplar nicht um das maltzahnsche Exemplar handle, da es neun Jahre vor Maltzahns Tod erworben wurde. Wenn dies zuträfe, müsste das maltzahnsche Exemplar als verschollen gelten.25 Das Exemplar des British Museum ist jedenfalls das einzige komplette Exemplar, weil es alle drei Teile: den Titel, das Bild und das Gedicht enthält und zwar in einer bedeutsamen, von der schwedischen Reduktionsversion abweichenden Form. Flugschriften bestanden üblicherweise aus einem Bogen im Quartformat, gefaltet in ein Heft aus vier Blättern; Flugblätter aus einem einseitig bedruckten Bogen im Folioformat.26 Die Illustration des vorliegenden Flugblatts orientiert sich an dem historischen Leichenzug Gustav II. Adolfs, von dem sowohl eine literarische Beschreibung als auch eine bildliche Darstellung überliefert ist.27 Flemings Gedicht liefert die Beschreibung des »Leichen-« bzw. Trauerzugs. Im Übrigen ist die Darstellung auf dem Flugblatt erheblich reicher an symbolisch-allegorischen Figuren als der reale Trauerzug.28 Harms hat das Bild ausführlich beschrieben.29 Berücksichtigt man den Titel des Einblattdrucks, so zeichnet sich eine EmblemStruktur ab, die für viele Einblattdrucke charakteristisch ist und auch bei anderen dem Andenken Gustav II. Adolfs gewidmeten Flugblättern begegnet.30 Das Flugblatt Der Mitternächtische Lewe / welcher in vollem Lauff durch die PfaffenGasse rennet von 1631/32 (Abb. 4) zeigt diese Struktur in aller Deutlichkeit.31 Auch Flemings Nekrolog-Gedicht ist nach diesem Prinzip gebaut. Legt man das vollständige Londoner Exemplar der Analyse zugrunde, so entspricht der Titel des Gedichts der inscriptio, die Abbildung der pictura, das Gedicht selbst der subscriptio. Diese ist in sich ebenfalls dreiteilig gegliedert: Demnach bildet die Einführung (Vers 1–30) die inscriptio, die umfangreiche in sich mehrfach unterteilte 24
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Wendelin von Maltzahn: Ein Gedicht von Paul Fleming. In: Archiv für die Geschichte deutscher Sprache und Dichtung. Hg. v. Joseph Maria Wagner. 1. Bd. Wien 1874, S. 448–451, hier S. 449. Die kleinen Abweichungen in der Titel-Wiedergabe sind gewiss einem Versehen geschuldet. Paas (Anm. 19), S. 15. Werner Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700). Göttingen 1998, S. 117–126; Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990. Zu den Flugblättern im Dreißigjährigen Krieg vgl. S. 177–185. Die quantitativen Höhepunkte der Flugblattproduktion liegen in den Jahren 1619/20 und 1631/32. Harms/Kemp (Anm. 21), S. 294 mit Verweis auf B. Kitzig: Der Leichenzug Gustav Adolfs. Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 51 (1939), S. 41–82. Zur Illustration vgl. ebd., Blatt IV, 230. Harms/Kemp (Anm. 21), S. 294: »Der reale Trauerzug Gustav Adolfs war weitaus ärmer an sinngebenden Figuren und Zeichen als der fiktive dieses Blattes.« Zum Weg des Trauerzuges vgl. Findeisen (Anm. 13), S. 225f. Harms/Kemp (Anm. 21), S. 294. Dazu vgl. Harms/Kemp (Anm. 21), S. 286ff. Vgl. etwa das Flugblatt der »Querela Europae« oder das proschwedische Flugblatt »Ettliche Schau-Essen/ So dem Sächsischen Confect gefolgt vnd vffgetragen sind worden.« Entner (Anm. 3), S. 199, 245. 1648. Krieg und Frieden in Europa (Anm. 1), hier Bd. 1, S. 373, Nr. 1082. Radierung und Typendruck, Bl. 28,8 x 27,1 cm. Bild 10,3 x 18,4 cm. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inv. IH 216.
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Abb. 1: Wenn vnsrer Zeiten Lauff der Alten sich noch gliche Landesbibliothek Darmstadt
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Abb. 2: Triumph vnd Leichgepränge Zu Ehren dem Großmächtigsten vnd vnvberwindlichsten Herrn Herrn/ Gustav Aldolhen […] Universitätsbibliothek Uppsala
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Abb. 3: Triumph vnd Leichgepränge Zu Ehren dem Großmächtigsten vnd vnvberwindlichsten Herrn Herrn/ Gustav Aldolhen […] British Museum
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Abb. 4: Der Mitternächtische Lewe / welcher in vollen Lauff durch die PfaffenGasse rennet
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Beschreibung des Trauerzugs (V. 31–152) die pictura, der Beschluss bzw. das Fazit (V. 153–164) bildet die subscriptio, die Deutung in Form einer emblematischen Allegorese. Die Bild-Text-Kombination des Nekrologs spiegelt sich mithin im Gedicht selbst. Gesamtstruktur des Gedichts: Doppeltes Emblem inscriptio Titel des Gedichts pictura Abbildung der Ruhmespforte und des Leichenzugs subscriptio Dreiteilig gegliedertes Gedicht 1. Präludium, V. 1–30 (= inscriptio) 2. Beschreibung des Zugs V. 31–152 (= pictura) 3. Deutung, Allegorese V. 153–164 (= subscriptio)
Das Gedicht, das hier in der Fassung der Flugschrift zitiert wird,32 gliedert sich inhaltlich in drei Abschnitte, die drucktechnisch allerdings nicht voneinander abgesetzt sind. V. 1–30 Der Eingangsteil, das Prooemion, verkündet, dass, wenn heute noch die Tugend der Dankbarkeit vorhanden wäre, »dem hochgeliebten Helden« (V. 6) ein Turm errichtet werden würde, größer als der Turmbau von Babel, größer als Rom je einen Turm hatte usw. Vor allem die Stadt Meißen würde ein solches Bauwerk errichten! Wenn schon die antiken Bürger (»die frommen Alten«) für ihre Vaterlandskämpfer Denkmäler errichtet hätten, so seien die Lebenden umso mehr verpflichtet, dem Helden, der ihnen die Freiheit gebracht habe, ein solches Werk aufzuführen. V. 31–96 Der Hauptteil des Gedichts präsentiert sich als Ekphrasis, als Bildbeschreibung des Kupferstichs. Das Emblem muss nicht ein verrätseltes Bild sein, wohl aber »ein Bild mit Darstellung eines im Hinblick auf einen sensus spiritualis auslegungsfähigen Sachverhalts bzw. eines oder mehrerer Gegenstände«.33 Da die Illustration aber eine solche Fülle von Figuren enthält, ist eine Beschreibung und Erläuterung unbedingt notwendig. Die Identifikation der Figuren ist in der Illustration nur teilweise möglich; diese Aufgabe erfüllt der erläuternde Text. Der Dichter beschreibt zunächst die Ehrenpforte – die »auffgethane Pforte / Jn der Vnsterbligkeit«. Das Triumphtor ist eine architektonisch-bildnerische Form des Denkmals – wie man es aus antiken oder modernen Triumphbögen kennt, aber auch aus abbildenden Kunstwerken, etwa der Ehrenpforte, die Kaiser Maximilian I. 1512 Albrecht Dürer in Auftrag gab und die 1518 kurz vor Maximilians Tod als monumentaler Holzschnitt gedruckt wurde. Die Idee leitet sich aus den antiken Triumphbögen der Cäsaren ab, und der Zweck des Dekorationsprogramms war 32 33
Kaminski (Anm. 15), S. 250–254. Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begr. von Günther u. Irmgard Schweikle. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. 3. völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2007, S. 186.
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die Inszenierung von Maximilians Kaiserwürde, postulierte somit seinen politischen Anspruch auf europäischen Vorrang.34 Das Fundament dieses Triumphtors besteht aus Elfenbein, die Säulen aus edelsteinverziertem Gold. Auf diesem Triumphbogen tummeln sich einige allegorische Gestalten: In der Mitte des Bogens sitzt der als »Lohn der Stärcke« apostrophierte »Sieg« (»Sitzt mitten jnnen/ gleich zu oberst an dem Wercke«). Ihm zur Seite stehen »Ehr vnd Majestet«, »Ruhm vnd Macht« folgen ihm. Zwischen und hinter diesen Frauen liegen »Viel Fahnen/ Beut vnd Raub«. Unten im Bilde steht der »blasse Menschenfras«, der einen Pfeil und »vnsers Lebens Glas« in der Hand hält – also eine Variation der Abbildung des im Allgemeinen mit Stundenglas und Hippe dargestellten Todes. Auf diese im unteren rechten Bildwinkel aufgestellte Triumphpforte zu bewegt sich von links oben in mehreren Serpentinen der Trauerzug. Ihm voran schreitet »Fraw Fama« und trompetet in einem ›ungewohnten Ton‹ die herrlichen Taten des Helden in alle Welt, eine Repräsentantin der Public relations. Ihr folgt die Schar der Musikanten in Gestalt der neun Musen, von denen Kalliope, Polyhymnia und Thalia namentlich hervorgehoben werden, und singen ein von Apollo höchstpersönlich verfasstes Lied, das den Helden lobpreist. Nach dieser Vorhut kommt die »gute Sache«, für die der Held mit dem eigenen Leben bezahlt hat; ihr zur Seite gehen Unschuld und Glück. Sie tragen »schöne Stücke« mit sich, Fahnen mit spezifischen heraldischen Wappen. Der Glaube trägt eine Fahne mit drei Kronen, die Gottesfurcht die Frucht, die Freiheit den Löwen als Sinnbild des Helden. Die Deutung wird im nächsten Vers mitgegeben: »Starck/ mächtig vnd mit frucht / Hat er die weiterung des Regiments gesucht« (V. 71f.). Fleming stellt immer eine Herrscher-Tugend zu einem Objekt der Macht: so trägt die Macht den Reichsapfel, die »Adligkeit« die Krone, die Würde das Zepter, die »ernste Gravitet« schwingt das Feld-Banner, die Stärke trägt den königlichen Kurass und die »neigende Gedult« hält die Todesfahne. Die Frömmigkeit und die Demut führen das königliche Ross Streiff,35 Weisheit, Klugheit und Einigkeit sind nicht fern. Der Friede trägt den Schild, die Redlichkeit den »ritterlichen Sporn«, die Wachsamkeit den Helm, die Gerechtigkeit den Degen. Tapferkeit und unerschrockner Mut begleiten den mit Kriegsbeute beladenen Wagen (Nr. 28). Geschwindigkeit und Kraft, das »Adeliche Blut«, führen einen anderen Wagen, auf dem »ein wolverschantzter Ort« angebracht ist. Hinterher marschiert die Militärkapelle. Nach dieser allegorischen Insignienschau kommt die Kerntruppe des königlichen Heeres, »der Außschuß / Dapffrer Helden« (V. 97), also der engere Beratungsstab; danach folgt ein Tross Frauen, die alle die Länder, die Gustav II. Adolf angeblich durch seine Taten erfreut hat, namentlich aufzeigen: allen voran Schweden, Goten und Wenden, gefolgt von den Trauer tragenden Ländern ChurSachsen, Thüringen, Meißen, Chur-Brandenburg, Böhmen, Frankreich, Pfalz, Elsass, Westfalen, Rheinlande, Holland, Franken, Württemberg, Schwaben. »Sie wollen auch tod seyn.« (V. 121) 34 35
Albrecht Dürer: Triumphtor für Kaiser Maximilian. In: Dürer. Von Peter Strieder. Augsburg 1996, Ehrenpforte auf S. 63, Triumphwagen auf den Vorsatz- und Nachsatzblättern. Das man heute ausgestopft im Königspalast von Stockholm bewundern kann.
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Danach folgt der Wagen, auf dem der tote König aufgebahrt ist (Nr. 54), umgeben von den allegorischen Figuren, die seine Charaktereigenschaften darstellen: Kühnheit, Vernunft, Vorsicht, Verstand, »Schärffe bey dem Kriegen«, Erfahrung, Wissenschaft und »Sanfftmuth in den Siegen« (V. 121–126). Die genannten Eigenschaften entsprechen den von den Zeitgenossen gerühmten Tugenden Gustav II. Adolfs.36 Man hat es hier mit einer Engführung herrscherlicher Tugenden zu tun. Ein geflügelter Bote Gottes setzt ihm den Lorbeerkranz des Siegers aufs Haupt. An dem Wagen sind zwei »starcke Ketten« angebracht, die zwei dem Wagen folgende Gruppen umschließen. Die erste Gruppe besteht aus den – von Gustav II. Adolf besiegten – Lastern, als da sind Neid, Hass, Zorn, Rachgier, Sünde, Schande, Begierde, Übermut; Betrug, Gottlosigkeit, Verzweiflung, Heuchelei, Gift, Abfall, Meineid, Not, »Verwegung«, Meuterei, Pracht und Hoffart. Die zweite in die Kette eingepferchte Gruppe besteht aus den von Gustav II. Adolf besiegten und gefangenen Kriegern, denen gleichwohl das Leben gelassen wurde. Außerhalb der Ketten folgen in loser Gruppierung »Frembdlinge« und »weggetriebne Leute« (V. 149), also Heimat-Vertriebene, schließlich das seines Feldherrn beraubte Kriegsheer. V. 153–164 Den Abschluss bildet eine nur elfeinhalb Verse umfassende Quintessenz, die in einen Lobpreis des Helden mündet. Die Lebenden müssen dem Helden Ehre erweisen. […] des Helden hoher Preis/ Wird ewig bleiben stehn. sein Ruhm, der wird nicht greis/ Sprosst jmmer jung herfür. die zeit/ die noch wird kommen/
36
Vgl. die Charakterisierung Gustav II. Adolfs in Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 11. Halle/Leipzig 1735, s. v. Gustavus Adolphus, Sp. 1441–1449, hier Sp. 1447f. »Er hatte eine breite Stirne, ein schön und röthlich Antlitz, odentliche [!] Lineamenten und funckelnde Augen, womit er aber nicht allzuscharf sehen konnte. Darneben war er lang von Statur, schmal und wohl proportioniret. Seine Gebehrden waren maiestaetisch, sein Leib starck, und zur Arbeit ausgehärtet. In seinem Wandel bezeigte er sich wachsam, freygebig und andern zum Exempel gottseelig. Er ließ jedermann leicht vor sich, und war ein Feind derer Ceremonien und Complimenten. Nebst diesem hatte er einen vortrefflichen Verstand, wuste von allen Dingen wohl zu urtheilen, eine scharffe Einbildungs-Krafft und ein unvergleichlich Gedächtniß. Solche natürliche Gaben wurden bey ihm ferner gezieret durch die Erkenntniß unterschiedlicher Wissenschafften, als der Mathematic, Politic und Historie. Insonderheit laß er Grotium de Jure belli et pacis fleißig, von welchem er sagte, er wünschte, dass Grotius bey ihm wäre, er wollte ihm zeigen, was sich für ein Unterscheid zwischen der Theorie und Praxi befände, und wie leicht sich ein Ding schreiben lasse, wie schwer es aber zu practiciren sey. Lateinisch, Italiänisch, Frantzösisch und Hoch-Teutsch redete er so gut als seine Mutter-Sprache. Er war nicht weniger ein unvergleichlicher Politicus, als Kriegs-Held. […] Im übrigen war dieser grosse König sehr kühn und verwegen, auch bisweilen ohne Noth. Er ließ sich manchmahl in Kupfer-Gruben hinab, welche in die 70. Klafftern tieff waren, da öffters die von denen Seiten herabfallende Steine die Arbeits-Leute in Stücke zerschmissen. Insonderheit achtete er sein Leben im Kriege sehr gering, und verrichtete fast noch mehr die Pflichten eines gemeinen Soldaten, als eines Generals.«
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So anders noch in jhr wird leben was von frommen/ Die wird auch danckbar seyn. Er hat es recht verdient/ Daß seines Nahmens Lob zu allen zeiten grünt.
*** Da diese Schilderung willkommene Gelegenheit gibt, von der verstorbenen Person ein rühmendes Porträt zu entwerfen, verbinden sich hier die Aufgaben des Panegyrikers, des Porträtmalers und des Nekrologisten. Worin bestehen diese drei von der Zielsetzung her unterschiedlichen Aufgaben und worin besteht Flemings Kunst der Synthese, womöglich seine Eigenart? Das kasuale Herrscherlob hat eine lange bis in die Antike zurückreichende Tradition.37 Seine literarische Technik bediente sich des schulmäßigen Systems der Topoi. Unter Flemings Zeitgenossen ist Georg Rodolph Weckherlin zu nennen, als Verfasser eines Panegyrikus auf den schwedischen König Gustav II. Adolf.38 Der zweite Typus, den Fleming aufgreift, ist das neutrale Porträtgedicht. Es begegnet aber auch in positiver Ausprägung – als Panegyricus, oder in negativer Ausprägung – als schmähendes Pasquill.39 Der dritte Typus ist der Nekrolog, der zum Bereich der Funeralrhetorik rechnet. Beim Nekrolog entfällt der finanzielle Aspekt des Lohnauftrags. Es bleibt das Abkonterfeien und das Rühmen. Während Porträtgedichte sich auch lebenden Persönlichkeiten widmen können, betrachten Nekrologgedichte ein abgeschlossenes Leben aus dem Rückblick. Bei Flemings Gedicht handelt es sich um einen positiven Nekrolog, denn der panegyrische Duktus steht außer Frage. Wenn die Simulation – nach Jean Baudrillard – das Markenzeichen zeitgenössischer Kultur ist,40 dann sind es fürs 17. Jahrhundert Verstellung und Vanitas. Bildlicher Ausdruck dieser Einstellung ist die Maske und das Denkmal – die erste in Bezug auf weltliche Belange und die zweite im Hinblick auf die metaphysische Verfasstheit menschlicher Existenz. Allegorisch sind beide eingesetzt: die Maske als Inbild der Verstellung, die der Mensch an institutionellen Schaltstellen zu praktizieren hat, um eine irdische Karriere voranzutreiben, und das Denkmal, das er anderen und damit auch sich errichtet, um das Wissen um seine Existenz 37
38
39 40
Theodor Verweyen: Barockes Herrscherlob. In: Der Deutschunterricht 28 (1976) H. 2, S. 25–45; Hans-Hendrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147; Hans Magnus Enzensberger: Poesie und Politik. In: Ders.: Einzelheiten II. Poesie und Politik. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, S. 113–137. Weckherlin hat ein 100-strophiges Gedicht verfasst: Des Grossen Gustav-Adolfen, etc. Ebenbild, Zu Glorwürdigster und unvergänglicher Gedechtnus Seines so schnellen als hellen Lebens-Laufs, Aufgerichtet Von G. R. Weckherlin. 1633. In: Georg Rudolf Weckherlins Gedichte. Hg. v. Hermann Fischer. Reprograph. ND der 1. Aufl. Tübingen 1894 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart CXCIX), Nr. 287, S. 271–295. Dazu vgl. Liemandt (Anm. 45), S. 333–352. So gegen Tilly und gegen Wallenstein, nach Ersch-Gruber: Allgemeine Encyclopädie (Anm. 9), S. 186. Jean Baudrillard: Simulacres et Simulation. Paris 1981 (dt.: Simulation und Verführung. Hg. v. Ralf Bohn. München 1994).
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im Gedächtnis zu verankern und damit (gleichsam) die Grenzen des individuellen Lebens zu überschreiten – gewissermaßen als Verlagerung von der subjektiven Lebenspraxis in die intersubjektive Erinnerung. Vom individuellen Subjekt bleibt nur das übrig, was in das kollektive Gedächtnis überführt wird. Und es manifestiert sich im Denkmal – sei es nun in architektonisch-bildnerischer Form oder in literarisch-dichterischer Weise. Die ›Gedächtnispforte‹ ist eine literarische Form des Denkmals,41 und die zugrunde gelegte Struktur ist die allegorische Figur einer emblematischen Allegorese. Deutlich wird der Widerstreit zweier Traditionen, der antiken Ruhm-Tradition und der christlichen Lohn-Tradition. Es ist aber ein Zeichen der Kunst Flemings, in seinem Gedicht beide Traditionen zu einer Synthese gebracht zu haben. Das Gedicht ist ein politisches Gedicht. Per definitionem sind politische Gedichte solche, die erstens von ihren Autoren als solche verstanden werden, zweitens von ihrem Lesepublikum als solche verstanden werden, und drittens an sich neutrale Gedichte, die aber durch eine bestimmte historische Situation in politische Gedichte verwandelt werden, die sie mit einer zusätzlichen Bedeutung belegt.42 Es handelt sich um Gedichte, die den herrschaftszentrierten Öffentlichkeitsbereich thematisieren, die das Interesse an der Polis, am Staat, explizit und nicht nur ex negativo bekunden. Die Intention des Textes gehört zum Wesen des Politischen, die Absicht, zu wirken, entweder in positiv-aktiver Hinsicht, etwa als Panegyricus oder als Propaganda, oder in negativ-polemischer Hinsicht, etwa als Pasquill oder als Klage, oder schließlich in neutral-kritischer Hinsicht, etwa als Appell oder als Meditation. Was ist nun das Politische an dem Gustav-Adolf-Nekrolog? Zur Einschätzung des Gedichts muss sein ursprünglicher Kontext berücksichtigt werden. Es war ein Einblattdruck, ein anonymes Flugblatt, das Wirkung erzielen sollte. Flugblätter und 41 42
Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988. Wolfgang Asholt: Chanson et politique: histoire d’une coexistence mouvementée. In: La chanson française contemporaine. Politique, société, medias. Édités par Ursula Mathis. Innsbruck 1996, S. 77–89, hier S. 78. Definitionen des ›Politischen Gedichts‹ finden sich bei Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur (1. Aufl. 1955). 7. verbesserte und erweiterte Aufl. Stuttgart 1989, s. v. Politische Dichtung, S. 694. In der achten Aufl. (Stuttgart 2001) findet sich eine erheblich erweiterte Definition (S. 620); Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Günther u. Irmgard Schweikle. Zweite, überarbeitete Auflage. Stuttgart 1990, s. v. Politische Dichtung, S. 357; Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. v. Dieter Burdorf u. a. Stuttgart/Weimar 2007, s. v. Politische Literatur, S. 597f.; Wolfgang Mohr/Werner Kohlschmidt: Art. Politische Dichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Band 3. Berlin 1977. S. 157–220; hier S. 157f.; Walter Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik. In: Ders.: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Stuttgart 1978. S. 9–42, hier S. 10f.; Nikolaus Wegmann: Art. Politische Dichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte […]. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Bd. III. Berlin/New York 2003. S. 120–123; vgl. Gunter E. Grimm: Politische Lyrik. Deutsche Zeitgedichte von der Französischen Revolution bis zur Wiedervereinigung. Stuttgart 2008, S.108–135.
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Flugschriften verfolgten immer einen propagandistischen Zweck. Die Publikation im Rahmen einer Werkausgabe neutralisiert diese ursprüngliche Intention eher, sie lenkt den Blick von der unmittelbaren Wirkungsabsicht auf eine langfristige Absicht. Aus der politischen Wirkungsabsicht, die protestantischen Glaubenskämpfer zu ermutigen, wird eine auf Dauer angelegte Aktion, die obendrein an den Namen eines individuellen Verfassers geknüpft ist. Im ursprünglichen Kontext widmet sich der Nekrolog der Aufgabe des Erinnerns, der Errichtung eines Denkmals. Aber nicht zum Selbstzweck, sondern für die Überlebenden, die Mitstreiter und die Nachfahren. So erwächst aus dem Gedächtnis an einen hervorragenden Glaubensstreiter ein Appell an die Lebenden, in seinem Geist für die gute Sache weiterzukämpfen. Insofern ist dem Nekrolog ein appellativer Duktus eingeschrieben und eben in seiner Normenstruktur besteht das Politische, das auf Wirkung abzielt und die Verbreitung der angezeigten Normen betreibt. Das appellative Moment manifestiert sich in den hervorgehobenen Normen und in den bildnerischen Epitheta.
1. Die Normen Betrachtet man das von europäischen Fürstenspiegeln gelehrte Herrscherideal, so steht die »Quadriga virtutum«, also die vier Kardinal-Tugenden, im Zentrum: iustitia (›Gerechtigkeit‹), fortitudo (›Tapferkeit‹), prudentia (›Klugheit‹) und temperantia (›Mäßigung‹). Hinzukommen verschiedene Unterarten wie constantia (›unerschütterliche Gesinnung‹), pietas (›Frömmigkeit‹), clementia (›Milde‹) und liberalitas (›Freiheitlichkeit‹). Bei Augustinus heißt die Trias der Herrschertugenden clementia, pietas und iustitia. Die christlichen Tugenden fides (›Glaube‹), charitas (›Liebe‹) und spes (›Hoffnung‹) spielten freilich in der Realpolitik längst nicht die Rolle wie in der Literatur vor allem des Barockzeitalters, in der auch die im Mittelalter hinzugefügte Tugend der humilitas (›Demut‹) Bedeutung erlangte.43 Gerade dass der christliche Monarch auf den Schutz der Kirche verpflichtet wurde, lieferte ein Unterscheidungsmerkmal zur nichtchristlichen und tyrannischen Herrschaft.
2. Die Epitheta In den wenigen Adjektiven spiegeln sich dieselben Werte wie in den bereits genannten Nomina. Gustav II. Adolf ist der Freiheitskämpfer, der Glaubensheld, der »allzeit werthe Sieger« (V. 146). 43
Vgl. auch Erich Kleinschmidt: Herrscherdarstellung. Zur Disposition mittelalterlichen Aussageverhaltens, untersucht an Texten über Rudolf I. von Habsburg. Bern/München 1974, S. 50ff.; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 6 1967, S. 184ff.; Annette Georgi: Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum. Berlin 1969.
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Die von Fleming Gustav II. Adolf zugeschriebenen Tugenden – Kühnheit, Vernunft, Vorsicht, Verstand, militärische Effizienz, Erfahrung, Wissenschaft und Großmut im Sieg – stehen ganz in der Tradition der antik-christlichen Herrschertugenden, wobei kriegsbedingt die militärischen Fähigkeiten hier besonders hervorgehoben sind, der heldenhafte Charakter des Königs, der sich in Tapferkeit und Mut äußert. Dies bezeugt auch der einzige Vergleich mit dem israelischen Kriegshelden Josua, dem Nachfolger des Mose und Eroberer Kanaans als des gelobten Landes.44 Mit dem Epitheton »Mehrer des Reichs« wird der tote Schwedenkönig in die Reihe der deutschen Kaiser gestellt. »Er war der recht Erretter. Der Mehrer dem diß Laub von rehte zugehört«. Das Epitheton »Erretter« ist theologisch besetzt; Gustav II. Adolf galt als Retter des lutherischen Glaubens, und Fleming hat es verstärkt durch das beigefügte Adjektiv »der recht Erretter«. »Mehrer« ist ein Epitheton aus dem Beinamenarsenal der römischen Kaiser deutscher Nation und soll die Übersetzung des altrömischen Epithetons »Augustus« sein, tatsächlich aber die Umsetzung der Substantivierung des lateinischen Verbs »augere« (›vermehren‹). Die grünen Blätter, die Gottes Bote ihm aufs Haupt setzt, sind der nie verwelkende Sieger-Lorbeer. So zeigt es sich – und dieses ist das eigentliche Paradoxon dieses Herrscherpreis-Nekrologs –, dass der so hoch gelobte Held im Tode erst das eigentliche Leben erreicht hat. Er selbst ist – und das veranschaulicht das Leichengepränge – in die Halle des Ruhmes, in die Unsterblichkeit eingezogen. Und sein Werk – das Streiten für den rechten Glauben – hat im Tod erst die wahre Krönung erfahren. Ein weiterer Aspekt scheint mir aber für Flemings Nekrolog-Gedicht wichtig zu sein: Es wäre ein Leichtes gewesen – und andere Dichter haben dies auch getan –, dem Schwedenkönig die Gloriole des Märtyrertums zu verschaffen.45 Fleming indes schließt sich gerade nicht dem Märtyrermodell an. Dadurch verzichtet er paradoxerweise auf ein christliches Denkbild, das sich gerade für diese Persönlichkeit angeboten hätte. Schon Entner hat konstatiert, dass in diesem Gedicht »die Trauer um den toten König und die Sorge vor einer nun führerlosen Zukunft« überwiegt.46 Tatsächlich stellt Fleming seinen Nekrolog des christlichen 44
45
46
Wolfgang Harms zieht Georg Greflingers Epos Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg von 1675 heran, in dem Gustav II. Adolf als Josua apostrophiert wird, der »unserm Israel als Helffer erkohren« gewesen sei. Wolfgang Harms: Gustav Adolf als christlicher Alexander und Judas Makkabaeus. Zu Formen des Wertens von Zeitgeschichte in Flugschrift und illustriertem Flugblatt um 1632. In: Wirkendes Wort 35 (1985), H. 4, S. 168–183, hier S. 177. Nicola Kaminski (Anm. 15), S. 264, Anm. 55, fragt, wieso Fleming den Vergleich mit Josua gewählt hat und nicht den mit dem israelischen König Josias, dessen Schicksal dem des Königs Gustav II. Adolf eher geglichen habe. Sicher aus dem klaren Grund, dass es Fleming nicht auf das Aufzeigen eines biographischen Parallelismus ankam, sondern auf den rühmenden Vergleich mit einer biblischen Rettergestalt. Als solche bot sich Josua an, dessen hebräischer Namen mit Jesus (Christus) identisch ist. Der messianische Auftrag schwingt insofern bei Nennung gerade dieses Namens mit. Zur Reaktion auf den Tod des Schwedenkönigs vgl. Frank Liemandt: Die zeitgenössische literarische Reaktion auf den Tod des Königs Gustav II. Adolf von Schweden. Frankfurt a. M. 1998; Harms, Gustav Adolf als christlicher Alexander und Judas Makkabaeus (Anm. 44); Findeisen (Anm. 13), S. 224–238; Tschopp (Anm. 1). Entner (Anm. 3), S. 349f.
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Glaubensstreiters in die heidnisch-antike Tradition. Nicht die Krone des Märtyrers ist dem teuren Toten verheißen, sondern der unsterbliche Ruhm – eine weltlich-antike Vorstellung, die den menschlichen Denk- und Erfahrungsraum nicht überschreitet. Von Jenseitszentriertheit keine Spur! So weist auch dieses Beispiel früher politischer Lyrik den Dichter Fleming in die neostoische Tradition, die der christlichen Transzendenz bewusst eine am Diesseits orientierte Normenwelt entgegenhält. Dass diese neostoische Normenwelt gerade am allerchristlichsten Schwedenkönig Gustav II. Adolf vorgeführt wird, ist ein von Fleming sicher bewusst gewähltes Paradoxon, das unter strengen Lutheranern auf wenig Gegenliebe gestoßen sein dürfte. Das subversiv Politische dieses Gedichts besteht in der Tatsache, dass es seine vordergründig protestantischen Positionen mit einem humanistischen Grundtext unterlegt, der in Gustav II. Adolfs Tod nicht die Gewähr für den Sieg der evangelischen Sache erblickt, sondern die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden, wie es die Neujahrsode MDCXXXIII verheißt: Stelle deine Schlachten ein, Mars, und lerne milder sein! Tu die Waffen ab und sprich: Hin, Schwert, was beschwerst du mich!47
Unter Bezugnahme auf das Darmstädter Exemplar hat 2006 Nicola Kaminski eine Untersuchung vorgelegt, in der sie der Frage nachgeht, wieso in der posthumen, 1642 erschienenen Ausgabe von Flemings Teütschen Poemata das Gedicht zwar ohne Illustration, wohl aber mit den Nummern abgedruckt worden sei und erwägt zwei Antworten: Entweder handle es sich um das Versehen eines eiligen Setzers, der den Text von der Druckvorlage unbesehen übernommen habe, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass die Nummern ohne das mit Nummern versehene Bild wenig Sinn machten, oder die Nummern seien, gewissermaßen nach der Disposition Flemings selbst, bewusst aufgenommen worden, weil sie – unabhängig von dem nicht wiedergegebenen Bild – jeden Leser zu einer individuellen Bild-Imagination anregten. Da Kaminski das Gedicht als poetologisches Programm interpretiert, das im ›Wettstreit der Künste‹ der Dichtung gegenüber der Bildkunst den Vorrang einräumt, gipfeln ihre Ausführungen im Statement, das Denkmal, das der Poet dem Schwedenkönig in Worten errichtet, würde »wircklich auch vollbracht«, also ausgeführt »in einer andern Welt«, einer »in der Einbildungskraft jedes einzelnen Lesers sich gestaltenden Welt«. Flemings in der Gedichtausgabe von 1646 sich bietende Version sei »nichts weniger als der Eintritt in eine andere Welt, herbeigeführt durch eine rezeptionsästhetische Wende von der Bildkunst, der Kunst der imagines, zur poetisch evozierten Imagination«.48 Für einen barocken Setzer wäre dies eine ungewöhnlich zukunftsweisende rezeptionsästhetische Betrachtungsweise. Außerdem lässt sich die Imagination des Lesers nicht von seiner realen Existenz abkoppeln! Die fragliche Wendung von der ›anderen Welt‹ 47 48
Oden I, 3, V. 73–76 (S. 233–235, hier S. 235); TP 290–293, hier 292. Kaminski (Anm. 15), S. 263.
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Zwischen Propaganda und Distanz diß ist das Leichgepränge/ […] Daß jhm die Tugenden zu Ehren angestellt/ Vnd wircklich auch vollbracht in einer andern Welt/ Als wo wir Menschen sind.
bezieht sich nicht auf eine Welt poetischer Imagination, die sich der individuellen Vorstellungskraft einzelner Rezipienten verdankt, sondern sie bezieht sich auf eine hypostasierte Welt der Idealität. Und diese Hypostasierung des Idealen ist nichts anderes als die Welt des Gedenkens – die Erinnerung, die auch die Taten des gerühmten Verstorbenen verklärt und einer Nachwelt erhält. Erkennt man die emblematische Struktur der Flugblätter, so ist es abwegig, von einer Wettkampfsituation zwischen Bild und Text auszugehen. Vielmehr ist der Status der Künste im Rahmen der Embleme bzw. Flugblätter ein komplementärer: Der Text der subscriptio soll das Bild erklären, nicht im Sinne einer »Deutungshoheit«,49 sondern im Sinne einer explicatio. Der Grund für die Beibehaltung der Nummerierung ist sicherlich ein anderer, nämlich ein politischer! Dass Flemings Name auf dem Flugblatt nicht erscheint, mochte bereits ein Indiz dafür sein, dass er sich nicht vor den Karren schwedischer Machtpolitik spannen lassen wollte, vielleicht auch, dass dieses Gedicht nicht seine eigentlich politische Meinung zum Ausdruck brachte. Die Nummern in der Werkausgabe indizieren, dass es sich ursprünglich um einen Einzeldruck auf einem Flugblatt gehandelt hat und dass das Gedicht somit propagandistische Zwecke zu erfüllen hatte. Der kundige Leser wusste damit, dass er bei der Rühmung Abstriche zu machen hatte – eben weil es sich um die offiziöse Meinung einer Partei handelte. Diese Deutung wird durch ein anderes, später verfasstes Gedicht erhärtet.
*** Die subversive Lesart verstärkt sich nämlich in einem Sonett, das unter der Schutzbehauptung »Aus dem Französischen« erstmals in der Werkausgabe abgedruckt wurde. Können die beiden Flugblatt-Epicedien, die Neujahrsode und das Leichengepräng-Gedicht, als Auftragsarbeiten im Dienst der schwedischen Propaganda gewertet werden, so hat Fleming in diesem Sonett seine eigentliche Absicht deutlicher gemacht. Auf des lobwürdigsten Königs der Schweden Gustaf Adolfs des Großen seinen Todesfall.50 Aus dem Französischen. Geschwinder als der Plitz, mit mehr als Donnerschrecken brach ich, ein wahrer Mars, aus Norden stark herfür. Mit mir kam Furcht und Tod, man hieß mich da und hier Gerechtigkeit und Krieg. Ich schlug an allen Ecken
49 50
So Kaminski, ebd., S. 260. Sonn. II, 3 ( S. 455); TP 669f.
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wie Glas die Kraft entzwei, die wider mich sich strecken und trutzig durfte sein. Gesteh’ es, Deutschland, mir, daß ich zu Dienste steif mich unterstützte dir, da nirgends müglich war dergleichen zu erwecken, der erste bei der Schlacht, der Klügste vor Gerichte. Der Glanz der Kaiser stirbt vor meiner Tugend Lichte, die ganze Welt erstarrt vor meiner Ehren Schein. Wenn hat man vor der Zeit so einen Held gespüret? Ich habe lebend stets, ja tot auch triumfiret. Das Feld, da ich gesiegt, das sol mein Grabmal sein.
Der Titel des Sonetts nennt scheinbar unverfänglich den Adressaten und die Absicht. Nicht nur dass der Schwedenkönig als »lobwürdigst« apostrophiert wird, er erhält auch noch das Epitheton »der Große« zugeteilt. Beides weist auf die Absicht des Rühmens hin und ordnet das Gedicht der Gruppe der Panegyrici zu. Das Gedicht selbst ist ein Rollengedicht, als dessen Sprecher sich der tote Schwedenkönig selbst erweist. Wenn sich der Sprecher selbst als Mars bezeichnet, so konnotierte der zeitgenössische Leser das satirische Lobgedicht Lob des Krieges Gottes Martis von Martin Opitz, in dem auf 32 Seiten mit bewundernswerter Gelehrsamkeit ein ironisches Loblied auf den Kriegsgott gesungen wurde. Opitz preist alle die fragwürdigen Eigenschaften des Mars, mit der offenkundigen Absicht, das Positive, das man am Krieg finden könnte, ad absurdum zu führen. Der negativen Wertigkeit schließt sich Fleming an. Was einigen Betrachtern als »Gerechtigkeit und Krieg« gelten mag, hält der Sprecher selbst für »Furcht und Tod«. Die aufs erste schwer verständliche Zeile »daß ich zu Dienste steif mich unterstützte dir« gewinnt Sinn, wenn man das Verb in seine Einzelteile zerlegt: »zu Dienste steif« meint so viel wie »unerschütterlich«, aber auch »eifrig«, »beharrlich« und »kraftvoll«.51 Der Sinn der Satzes ist dann: der im Dienst unerschütterliche König habe das in Wanken geratene Deutschland quasi von unten gestützt – »dass ich, zu solchem Dienst standhaft und fest, mich dir unter-stütze, dir von unten als Stütze fungiere, dich von unten abstütze«.52 In freier Umschreibung: »Dass ich dir unbeirrbar Hilfe leistete«. Freilich, was der protestantischen Partei nützlich sein konnte, das reklamiert der Sprecher für das gesamte Deutschland. In denselben großsprecherischen Ton fällt seine Selbstcharakterisierung im ersten der Terzette. Zu Recht charakterisiert Liemandt den Tenor als »überheblich bis prahlerisch«, das »Eigenlob« erreiche »das Gegenteil der eigentlichen Intention«, ziehe den Heldentod ins Lächerliche.53 Die letzte Zeile des Gedichts »Das Feld, da ich gesiegt, das sol mein Grabmal sein« begründet die Memoria auch hier ganz innerweltlich, allerdings nicht zum Zweck einer Herabwürdigung. Die innerweltliche Begründung 51 52 53
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 18. München 1984. ND der Erstausg. von 1941, Sp. 1796 (Zehnter Band, II. Abteilung II. Teil). Deutsches Wörterbuch (Anm. 51), Bd. 24 (ND der Erstausg. von 1936 (Elfter Band, III. Abteilung)), Sp. 1849, mit ebendiesem Beleg. Liemandt (Anm. 45), S. 366.
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steht vielmehr ganz auf der von Fleming auch sonst vertretenen Linie. Fleming übt in diesem Sonett Kritik an Gustav II. Adolfs alles anderer als interesseloser Politik.54 Im Unterschied zu den tatsächlich proschwedischen und verherrlichenden Trauergedichten Georg Rodolph Weckherlins und Johann Rists55 hält Fleming in seinem späteren Sonett deutlich auf Distanz. Gemäß schwedischer Propaganda stellte sich der König in den Dienst der evangelischen Sache; wie aber das tatsächliche Kriegshandeln erweist, hausten die Schweden kein bisschen rücksichtsvoller als die kaiserlichen Truppen. Im Gegenteil, ihre Grausamkeit und Requirierungswut übertraf die der Gegner oft. In Wahrheit verfolgte Gustav II. Adolf schwedische Machtpolitik. Seine Einmischung in die Kämpfe geschah zu einem Zeitpunkt, als Wallenstein entlassen und die kaiserliche Macht entscheidend geschwächt war. Es versteht sich, dass Fleming in ganz anderem Maß als der in England lebende Weckherlin oder der Hamburger Pastor Rist die verheerenden Auswirkungen der schwedischen Kriegszüge kannte. Wenn Fleming gleichwohl in den frühen deutschen und lateinischen Gedichten56 den schwedischen König feierte, so darf darüber nicht die Rangfolge seiner Interessen verkannt werden. Bei aller Parteinahme für den ›Retter des Protestantismus‹ erweist sich Fleming als sächsischer Patriot, der die Propaganda der ausländischen Macht zunehmend durchschaute. Ein frühes, in der Werkausgabe Lappenbergs nicht abgedrucktes Zeugnis seiner politischen Parteinahme ist die »patriotische Huldigung«, die er dem Kurfürsten Johann Georg von Sachsen anlässlich des Kirchentags vom 6. Februar 1631 in Leipzig darbrachte, das Gedicht An den Durchlauchtigsten Hochgebohrnen Fürsten und Herzog Johann Georgen […].57 Darin beklagte Fleming, ganz ähnlich wie im Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne, den Verlust der deutschen Macht und die unselige Selbstzerfleischung der Deutschen. Und er setzte seine Hoffnung auf den sächsischen Kurfürsten: Nechst Gott, HERR, seyd noch Ihrs, auff den der ADLER sihet; Vor Euch, was niedrig ist im Teutschen Kreyse, kniet. Vielleicht’ ist noch ein Weg, der vns zum Frieden führt, Ob man jhn gleich bißher noch niemals hat erspürt.58
54 55
56 57 58
Ebd., S. 368. Zu Weckherlin vgl. Anm. 38; Johann Rists Gedicht heißt: »Als der Durchleuchtigster/ vnd Vnüberwindtlichster Fürst vnd Außerwehlter Heldt GOTTES/ GUSTAVUS ADOLPHUS MAGNUS, der Schweden/ Gothen vnd Wenden König/ in der berühmten vnd gewaltigen Schlacht vor Lützen/ gantz Ritterlich vor die Evangelische Warheit vnd Teütsche Freyheit streitendt/ war umbkommen/ vnd auß dem Vergänglichen in die Ewigkeit auffgenommen. Klag Gedicht«. Vgl. Liemandt, S. 352–362. Zu diesen vgl. Entner (Anm. 3), S. 257–260. Maltzahn (Anm. 24), S. 448–451. Dazu Entner (Anm. 3), S 192f. Maltzahn (Anm. 24), S. 451. Maltzahns Umschrift weist gegenüber dem in der British Library London befindlichen Original des Flugblatts keine Abweichungen auf, außer dass Maltzahn Wirgeln durch Kommata ersetzt. Die Inventarnummer des Gedichts lautet: 1875.d.6.(92.)
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Abb. 5: An den Durchlauchtigsten Hochgebohrnen Fürsten vnd Herren Herren Johann Georgen […]
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Fleming sieht im Kurfürsten den »Trost der Teutschen Welt«, der »jhrer Freyheit Würden« schützt, den Schmerz lindert und die »schweren Bürden« abwirft. Sollte – dazu versteigen sich die Schlussverse – »der große Ferdinand«, also der Kaiser zu Wien, diesem löblichen Ansatz nicht entgegenkommen, sondern beim Krieg beharren, so möge Gott der guten Sache den Sieg gönnen: »Schlägt man vns vmb sein Wort, so bleibt vns wohl das Feld, / Vnd zöge wider vns gleich Teuffel, Höll’ vnd Welt.« Man erkennt aus diesen emphatischen Worten: Kurfürst Johann Georg I. war Flemings erste Instanz. Erst als sich in den nächsten Jahren zeigte, dass der schwankenden Politik des Kurfürsten kein Erfolg beschieden war, dass er insbesondere die fremden Heere nicht von Sachsen fernzuhalten vermochte, avancierte die fremde Macht zur Schutzmacht und der König von Schweden rückte in die Rolle des Beschützers. Nach des Königs Tod gilt folgerichtig Flemings besondere Bitte an Gott dem Schutz seiner Heimat Sachsen: Zeuch vor unsern Rittern aus und beschütz des S a c h s e n s Haus, der für deinen Ruhm und sich Alles waget williglich.59
Deutlich wird, dass Flemings Sonett auf Gustav II. Adolf im Lichte seiner persönlichen Erfahrungen – wie die Klagen über die Verwüstung Meißens und die Friedenswünsche belegen – Ausdruck einer durchaus kritischen Haltung gegenüber dem Schwedenkönig zu sein scheint, und dass die früheren beiden quasioffiziellen Gedichte weniger positiv erscheinen, als dies eine kontextlose Lektüre erkennen lässt. Für die zeitgenössischen Leser musste dies durchaus verständlich sein. Die Friedenssehnsucht und das Streben nach Frieden ist daher die eigentliche, die konfessionellen Lager übersteigende politische Botschaft Flemings.
59
Neujahrsode 1633 (Oden I, 3, V. 57–60 (S. 235); TP 292).
Martin Klöker
Ein Dichter kommt in die Stadt Flemings literarische Kontaktaufnahme in Riga Jedes Mal, wenn Paul Fleming auf seiner berühmten Reise nach Moskau und Persien in eine neue Stadt bzw. an einen neuen Ort gelangte, scheint er zur Feder gegriffen zu haben, um aus der Begegnung mit der Ortschaft und den dort befindlichen Personen poetischen Gewinn zu ziehen. So könnte es auf den ersten Blick scheinen. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich schnell, dass sowohl über den gesamten Reiseverlauf hin als auch im Blick auf die einzelnen Orte durchaus abweichende Befunde zu tätigen sind. Natürlich muss die ganz unterschiedliche Aufenthaltsdauer berücksichtigt werden; und auch die Größe des jeweiligen Ortes, wie überhaupt seine Physiognomie, dürften eine Rolle gespielt haben, besonders im Hinblick auf die dort ansässigen oder verweilenden Personen, die für Fleming von Interesse waren.1 Doch damit ist bereits eine der zentralen Fragen berührt: Wer war denn für den Dichter interessant – so interessant, dass er diese Person im Gedicht verewigen und damit höchste Achtung erweisen wollte? Dieses ›Interesse‹ ist also unmittelbar mit der Produktionsmotivation verbunden, die auf die Frage verweist, ob Fleming aus eigenem Antrieb oder aus einem mehr oder weniger offiziellen Auftrag heraus, quasi als ›Hofdichter‹ der Gesandtschaft, seine Gedichte verfasste.2 Dabei geht es nicht um die bereits von Heinz Entner thematisierte Verarbeitung von Reiseeindrücken, sondern ganz konkret um die reflektive oder initiative poetische Gestaltung von persönlichen Kontakten.3 Weiter ist fraglich, in welcher Funktion dann die Gedichte zu sehen sind: handelt es sich um Anreden (Prosphonemata), mit denen Fleming den sozialen Kontakt zu diesen Personen herstellen wollte, 1
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Grundlegend und unverzichtbar zur Reise noch immer Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse. (Reprogr. Nachdruck der Ausgabe) Schleswig 1656. Hg. v. Dieter Lohmeier. Tübingen 1971 mit dem ausführlichen Nachwort des Herausgebers. Zwar wird zuweilen vermutet, dass Fleming aufgrund seines in Leipzig schon erworbenen Rufes als Dichter die Anstellung auf der Gesandtschaftsreise erhalten habe und somit zwar offiziell Truchsess, aber eigentlich ›Gesandtschaftsdichter‹ sein sollte. Es gibt jedoch keinen Nachweis hierüber, so dass es allein die in den Gedichten zu findende Haltung Flemings ist, die nahe legt, dass er selbst sich in dieser Rolle sah. Vgl. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 370; Hans-Georg Kemper: »Denkt, dass in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei!« Zur Muscowitischen vnd Persischen Reise von Adam Olearius und Paul Fleming. In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. v. Xenja von Ertzdorff. Amsterdam/Atlanta 2000 (Chloe 31), S. 315–344, hier S. 335. Entner (Anm. 2), S. 377, hat den insgesamt geringen poetischen Ertrag auf der Reise festgestellt und spricht vom Reisen wie »mit verbundenen Augen«. Ob dies auch für die personalen Kontakte gelten kann, soll hier kontrolliert werden.
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oder vielmehr um eine Dokumentation der vollzogenen Kontaktaufnahmen, die einer tagebuchähnlichen Aufzeichnung des Reiseverlaufs auf der Ebene menschlicher Kontakte gleichkäme?4 Neben dem rhetorischen und dem gesellschaftsethischen Aspekt, die hier als Wirkungskräfte der »sozialen Kontaktaufnahme« zu bestimmen sind, wie Manfred Beetz 1991 treffend darlegte,5 können also auch die kommunikativen Grundsituationen zum Tragen kommen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen Flemings Kontakte beim Aufenthalt in Riga. Dabei wird sowohl die dichterische Produktion vorgestellt und analysiert als auch eine Einordnung in die nachweisbaren Kontakte der gesamten Gesandtschaft vorgenommen, um den Stellenwert von Flemings Gedichten im umfassenden situativen Kontext ermessen zu können. Schließlich wird ein kurzer vergleichender Blick auf die nächsten Reiseziele Dorpat und Narva geworfen, für die deutliche Abweichungen zu markieren und zu deuten sind. Für die Konzentration auf die livländischen Stationen der sogenannten ersten Gesandtschaftsreise (1633–1635) gibt es zwei Gründe: die ›Fremdheit‹ dieser Orte und die zugleich feststellbare Vertrautheit der Gäste mit vielen Dingen, so dass Alterität und Identität als kulturelle Deutungsmuster eine Rolle spielen können.6 Zum einen handelt es sich um die ersten Stationen, die nach der Seereise von Travemünde aus als echte Reiseziele der Gesandtschaft gelten können. Sie liegen fern der Heimat, am Rande des deutschen Sprachraums und weisen insofern etwas Fremdes auf. Riga als erste, nach mühevoller Seereise erreichte Stadt setzt gewissermaßen den ersten Kontaktpunkt. Vier Wochen hielten sich die Teilnehmer der Gesandtschaft in der Metropole auf, um dann über Dorpat, wo man lediglich sechs Tage verbrachte, nach Narva weiter zu reisen. Von hier aus reiste Fleming nach achtwöchigem Aufenthalt mit dem Comitat nach Novgorod voraus, während die Gesandten mit den meisten Begleitern erst in Narva, dann in Reval auf eine schwedische Gesandtschaft warteten. Fleming betrat Reval erst auf der Rückreise von Moskau am 10. Januar 1635. Insofern besitzt diese Stadt für den Dichter eine ganz andere Bedeutung als Riga, Dorpat und Narva, denn bei seinem Eintreffen in Reval war die Gesandtschaft insgesamt nicht mehr fremd. Es bestanden bereits Kontakte zu den Revalern, und Fleming war als Dichter schon eingeführt, wie anhand des Revaler Schrifttums zu sehen ist.7 An das erste 4 5
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In LG 481 bezeichnet Lappenberg Flemings Werke als »poetisches Tagebuch«. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Manfred Beetz: Soziale Kontaktaufnahme. Ein Kapitel aus der Rhetorik des Alltags in der frühen Neuzeit. In: Rhetorik 10 (1991), S. 30–44. Groß ausgeschmückte Komplimente in galanter Manier freilich, wie Beetz sie aus den Komplimentierbüchern und Briefstellern um 1700 anführt, sind weit entfernt von der Sprache Flemings in seinen Gedichten. Hier könnte allenfalls ein Titel oder eine Überschrift solche Formeln aufnehmen, die sich jedoch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch noch nicht so überbordend geben, wie es dann im manieristischen Hochbarock Anfang des 18. Jahrhunderts der Fall ist. Vgl. Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert. Hg. v. Sandra Kersten u. Manfred Frank Schenke. Berlin 2005. Vgl. Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Teil 1: Darstellung, Teil 2: Bibliographie der Revaler Literatur. Drucke von den Anfängen bis 1657. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 112), Teil 1, S. 455.
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Betreten der Stadt Reval schließt sich dann ein mehr als ein Jahr währender Aufenthalt Flemings an, so dass die Vergleichbarkeit mit den anderen livländischen Städten im Hinblick auf die Kontaktaufnahme erschwert wird. Selbstverständlich gibt es hier ungleich mehr Gedichte und Informationen, die man heranziehen könnte. Sie sind jedoch oft nicht zeitlich genau zu fixieren, so dass der gesamte Aufenthalt betrachtet werden müsste. Nicht zuletzt ist es allerdings die über das Jahr entstandene Qualität der Verbindung zu Reval und den Revalern, die diesem Ort eine deutlich abweichende Funktion für den Dichter zuweist. Insofern bildet Reval eher den Gegenpol zu Riga, Dorpat und Narva, die bloße Stationen auf der Reise blieben.8 Trotz aller Fremdheit, die diese Orte für den reisenden Dichter ausstrahlten, ist auf der anderen Seite die grundsätzliche Übereinstimmung mit der Lebenswelt Flemings festzuhalten. Wenn auch in Einzelheiten Differenzen zu Flemings sächsischer Heimat festzustellen sind, so ist die gemeinsame Kultur, angefangen bei der deutschen Sprache und der lutherischen Konfession, über Kirchen- und Bildungswesen bis hin zur städtischen und zur Landesverfassung doch im Kern die gleiche. Insofern geht es nicht um die Begegnung mit einer ›fremden Kultur‹ – ganz im Gegensatz zu den Erfahrungen auf der Weiterreise durch Russland und Persien, wo die Frage der Alterität eine ganz wesentliche Rolle für die Dichtung spielt, und sei es durch Ausblendung, wie beispielsweise im Gedicht In grooß Neugart der Reussen.9 Nicht zuletzt ist es der gemeinsame Horizont der späthumanistischen Literatur, der Fleming den Kontakt in den altlivländischen Städten erleichterte, denn er konnte voraussetzen, dass seine poetischen Äußerungen hier richtig verstanden und gedeutet wurden.
1. Vier Wochen in Riga Am 14. November 1633 gelangte das Schiff der holstein-gottorfschen Gesandtschaft in der Frühe an die Schanze Dünamünde. Nach der Durchsuchung auf Zollwaren und der Aufnahme eines Lotsen erreichte man spät am Abend die Stadt Riga, wie Olearius in seiner Reisebeschreibung berichtet.10 Die Erleichterung über die Ankunft ist bei ihm deutlich, hatte man doch auf der Reise einen schweren Sturm zu ertragen. Auch Fleming thematisiert dieses Unwetter in seinem Gedicht auf die Ankunft der Gesandten. Der Dichter begrüßt in acht lateinischen 8 9
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Über Flemings Aufenthalt in Reval informiert ebd., Teil 1, S. 453–466. Zum Gedicht vgl. Jochen Schmidt: »Du selbst bist dir die Welt«. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht »In grooß Neugart der Reussen«. In: Daphnis 31 (2002), S. 215–233. Den allgemeinen Hintergrund zeigen Detlef Haberland: Paul Fleming – Reise, Rhetorik und poetische ›ratio‹. In: Kersten/Schenke (Anm. 6), S. 413– 431, und Dietmar Schubert: »Zeuch in die Mitternacht, in das entlegne Land«: Russlandbilder in den Gedichten Paul Flemings und in der Reisebeschreibung des Adam Olearius. In: ebd., S. 433–452. Olearius (Anm. 1), S. 7: »[…] den Abend gar spät vor der Stadt Riga/ Gottlob/ glücklich angelanget«.
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Distichen und in einer getreuen Übersetzung von 16 deutschen Alexandrinern die Ankunft mit mythologischen Anspielungen auf die stürmische See, die sich angeblich beruhigte, um die Gesandten zu schützen und ihren Auftrag zu befördern.11 Die Stadt Riga tritt im Gedicht nicht in Erscheinung. Wie beängstigend der Sturm gewesen sein muss, zeigt sich übrigens in einem drei Jahre später entstandenen lateinischen Epigramm, in dem Fleming den Monat November wegen seiner feindlichen Gesinnung anklagt, denn er habe ihnen nun schon drei Mal auf See Todesangst bereitet.12 Dies steht der Einschätzung Heinz Entners, man habe Riga »ziemlich rasch und problemlos« erreicht, klar entgegen.13 Vor diesem Hintergrund ist auch die Entstehung der berühmten Ode In allen meinen Thaten14 in Riga weniger aus »beruhigter Dankbarkeit« – wie Entner meint – als vielmehr aus dem Bewusstsein überstandener schwerer Gefahr zu deuten. Es gab also allen Grund, sich für die nun begonnene Reise ganz unter den Schutz Gottes zu stellen, da Fleming doch gerade am eigenen Leib erfahren hatte, wie gefährlich die Reise war und dass er als gläubiger Christ letztlich nur in Gottes Hand war. Vielleicht war es gerade diese existentielle Erfahrung, die Flemings in der Ode meditativ-selbstbeschwörend formulierte Einstellung zu dem vor ihm liegenden Weg ganz im stoizistischen Geist bestimmte: Hat er es denn beschlossen, so will ich unverdrossen an mein Verhängnüß gehn; kein Unfall unter allen wird mir zu harte fallen, ich will ihn überstehn. Ihm hab’ ich mich ergeben zu sterben und zu leben, so bald er mir gebeut. Es sei heut’ oder morgen, dafür laß ich ihn sorgen, er weiß die rechte Zeit.15 11
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»Ad Legatos Holsatiae, quum Rigam Livonum appulissent« 1633. Nov. 22 (Sylv. II, 13, 34 u. Kommentar S. 495) und »Als die Gesandten zu Rige angelanget« 1633 Nov. 14. Aus dem Lateinischen (PW IV, 18, 127 u. Kommentar S. 704). Prima procellosis desperatissima nimbis nos agit in Rigias praecipitanter aquas, […] [Triebst du zuerst doch, verbündet mit Wellen und Sturm, im November, Daß wir verzagten am Heil, uns in die Rigaer Bucht]. »November classi Cimbricae infestus.« 1636. Nov. 14. (Epigr. IX, 36, S. 429 u. Kommentar S. 587). Hier V. 3f. Die (sehr freie!) Übersetzung in: Ausgewählte lateinische Gedichte von Paul Fleming. Übersetzt und mit einer Einleitung vers. v. C. Kirchner. Halle a. d. Saale 1901, Nr. 127. Entner (Anm. 2), S. 369 »Nach des VI. Psalmens Weise.« 1633 November (Oden I, 4, S. 236–238 u. Kommentar S. 732f.). Ebd., V. 61–72 (= Strophe 11f.). – Zu Flemings Stoizismus jetzt Thomas Borgstedt: Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 279–295; Jochen Schmidt: Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung zweier Diskurse in Paul Flemings Lyrik. In: Francesco Petrarca
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Die von Lappenberg vorgenommene Datierung der Ode auf den Riga-Aufenthalt erscheint in diesem Kontext durchaus schlüssig, denn das Gedicht liest sich wie ein Programm zur Bewältigung aller noch zu erwarteten Unbilden, nachdem nun schon ein Stück des Weges zurückgelegt wurde.16 Doch abermals spielt der Aufenthaltsort selbst, also Riga, im Gedicht keine Rolle. Die vier Wochen in Riga sind in der zweiten Auflage der Reisebeschreibung von Adam Olearius nur sehr kurz auf nicht einmal einer halben Seite skizziert und können schnell zusammengefasst werden: Bei der Ankunft schickte der Gouverneur etliche Kriegsoffiziere mit einer Kutsche für die Gesandten, doch man ging dann gemeinsam zu Fuß in das Gasthaus, weil es in so geringer Entfernung lag. Am 21. November folgte eine »Ehrenerweisung« durch den Rat der Stadt, von dem man einen Ochsen und zahlreiche kleinere Tiere sowie verschiedene Brote erhielt. Drei Tage darauf veranstalteten die Gesandten ein Gastmahl, zu dem der Gouverneur Andreas Erichson, der gesamte Magistrat, der Superintendent Hermann Samson und einige Kriegsoffiziere eingeladen waren. Dann heißt es lediglich: »Wir seynd in der Stadt fünff Wochen stille gelegen/ biß der Frost und Schnee über die der Orter herumb liegende Moraste uns gute Bahn zur Schlittenfahrt gemachet.«17 Am 14. Dezember wurde das Gepäck vorausgeschickt, tags darauf verließ die Gesandtschaft Riga in Richtung Dorpat. Mehr erfährt der Leser hier zunächst nicht. Allerdings verweilte Olearius mit den beiden Gesandten Philipp Crusius und Otto Brüggemann auf der ersten Rückreise nach Gottorf im Februar 1635 erneut für eine Woche in Riga, während Fleming in Reval wartete. Jetzt heißt es: Den 6. dieses seynd wir in Riga eingefahren und von guten Freunden wol empfangen worden. Den folgenden Tag kam der Herr Gubernator die Gesandten zu besuchen/ stellete auch den 10. dieses ein groß Gastboth an/ lude uns neben den vornehmbsten der Stadt darzu/ und tractirte uns sehr köstlich. Diese Tage wurden wir von unterschiedlichen guten Freunden zum Willkommen auff Gastereyen gebeten/ und mit allerhand Lust begabet.18
Diese Äußerung lässt ahnen, dass es schon während des ersten Aufenthalts durchaus noch weitere gute Kontakte zu Rigensern gab, doch bleibt völlig unverständlich, warum die Stadt und ihre Bewohner in der Reisebeschreibung so wenig präsentiert werden. Schon die Namensnennungen sind mehr als dürftig; und zur institutionellen Struktur wie auch zum kulturellen Profil des Ortes wird kein Wort verloren. Die traditionsreiche Domschule und das zwei Jahre zuvor gegründete Gymnasium sind keiner Erwähnung wert, keiner der Gelehrten wird genannt, abgesehen von Samson, der allerdings als die zentrale Gelehrtengestalt Rigas
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in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. v. Achim Aurnhammer. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118), S. 211–222. So heißt es in V. 52–54: »Durch seinen Zug, den frommen, | sind wir so weit nun kommen | und wissen fast nicht wie.« Olearius (Anm. 1), S. 8. Ebd., S. 53. »Gastboth« ist laut Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. (DWB). 16 in 32 Bdn. Leipzig 1854–1960, ein Gastgebot, d. i. Einladung. Diese Passage ist gegenüber der ersten Auflage kaum verändert.
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zu jener Zeit gelten kann und ja immerhin zum offiziellen Anlass geladen war. Doch enthält der Text keine weiteren Informationen über ihn. Es ist schon bemerkenswert, wie knapp Olearius die livländische Metropole hier behandelt. Den nächsten Stationen im alten Livland ergeht es immerhin etwas anders, wie noch zu sehen sein wird. Ein Blick in die erste Auflage der Reisebeschreibung (1647) zeigt, dass Olearius dort durchaus eine kurze Beschreibung Rigas geboten hat. Doch dieser Passus, versehen mit der Marginalie »Der Stadt Riga Gelegenheit«, ist für die zweite Auflage komplett gestrichen worden. Es handelt sich um eine der typischen Angaben, wie Olearius sie immer wieder bei den besuchten Orten gibt: Riga ist eine feine wolgebawete Stadt/ lieget in ebenem Felde/ nach der Südwesten seiten nahe an den grossen Strom Duna. Ist mit Mawren/ Graben vnd Wällen wol verwahret/ vnd wurde zu vnser zeit mit mehren Bollwercken stärcker befestiget/ sehr Volckreich vnd Gewerbsam: Neben den grossen Handlungen so des Sommers auß Deutschland/ Holland vnd Engeland über See/ vnd des Winters aus Mußcow auff Schlitten geschehen/ findet man sehr viel kleine Kramereyen/ dann fast alle Gassen voll Buden sind. Es ist wegen menge des Getreidigs/ Viehs/ kleinen Wild vnd andern Victualien ein wolfeiler Orth/ daß man mit wenigen Vnkosten daselbst wol leben kan. Die Einwohner gebrauchen neben der Deutschen die Churländische vnd Lettische Sprache/ haben einen wolbestelten Rath/ Ministerium vnd Gymnasium, treiben die reine Evangelische Lehre nach der Augspurgischen Confession, sampt guter Policey Ordnung vnd feinen Gebräuchen bey öffentlichen Conventen vnd Solenniteten. Riga ist vor diesem vnter dem Könige in Pohlen gewesen/ Aber vom Gustavo Adolpho König in Schweden Anno Christi 1621. den 16. Septembris nach harter Belägerung/ mit accord eingenommen worden. Den verlauff solcher Belägerung Eröberung vnd Apologiam, so die Stadt an den Fürsten Cristoph Radziwil, Feldherrn des Großfürstenthumbs Littawen gesandt/ in Lateinischer vnd Deutscher Sprache beschrieben/ sampt den Abriß der Belägerung/ schickte E.E. Rath damals vnsern Gesandten zu.19
Ist schon das Fehlen einer solchen Beschreibung an sich in der zweiten Auflage erstaunlich, so überrascht die Tilgung dieser Zeilen in der insgesamt ja beträchtlich erweiterten Neuauflage noch mehr. Doch damit wird der schon gewonnene Eindruck einer sehr reservierten Haltung von Olearius gegenüber Riga noch verstärkt. Denn die Beschreibung aus der ersten Auflage bleibt äußerst schwach. Sie zeichnet das Bild einer nur mäßig interessanten Stadt, in der man das Wichtige vorfindet und immerhin günstig leben kann. Aber wie das Gymnasium völlig ohne Konturen bleibt, so erscheinen die sonst ja so wichtigen Gelehrten überhaupt nicht. Ein kulturelles gelehrt-literarisches Leben ist nicht erkennbar.20 19
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Adam Olearius: Offt begehrte Beschreibung Der Newen orientalischen Reise. Schleswig 1647, S. 5 (HAB Wolfenbüttel, Sign. A: 263.1 Hist. 2°; online unter http://diglib.hab.de/ wdb.php?dir=drucke/263-1-hist-2f [Dezember 2011]). Olearius tat wohl gut daran, diese Schilderung nicht in die zweite Auflage zu übernehmen, denn sie ist in ihrer Schwäche im Kern funktionslos und liefert eine Angriffsfläche. Die gebotenen Informationen sind zu gering und zu allgemein, als dass sie ein angemessenes Bild ergeben. Wer aber auch nur ein bisschen über Riga informiert war, dem musste sogleich das Fehlen wichtiger Daten, wie etwa zu den bedeutenden Kirchen und zum Schloss, auffallen. Eine Erweiterung der Darstellung konnte oder wollte Olearius aber offensichtlich nicht leisten. Hier zeigt sich wohl auch die eigenartige Spannung von Identität und Alterität
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Und Fleming? Es scheint, als habe dieser in gleicher Weise in Riga nur wenig Bemerkenswertes vorgefunden. Lediglich zwei Gedichte lassen sich auf Rigaer Personen nachweisen: ein lateinisches Epigramm auf den Superintendenten Samson und ein deutsches Sonett auf den Arzt und Dichter Johann von Höveln. Hinzu kommt ein Sonett auf den Tod seiner Stiefmutter, von dem Fleming in Riga erfahren haben dürfte.21 Der Aufenthaltsort des Dichters wird in diesem Sonett erneut nicht thematisiert; lediglich das Faktum, dass er die Reise gegen den Wunsch der Stiefmutter angetreten hat, nimmt einigen Raum ein. Doch es ist keine Verzweiflung sichtbar, dass Fleming etwa meinte, sein Entschluss sei falsch gewesen. Seine Schlussfolgerung lautet vielmehr, sich ganz in Gottes Hand zu geben. Und das ist wohl nicht zufällig genau die Haltung, die in der genannten Ode zu sehen war. An die verstorbene Stiefmutter gerichtet heißt es: Was Gott beschlossen hat, ist mir und euch geschehen, was nun ist hinter euch, das hab’ ich noch vor mir. Will er, so will auch ich noch heute mit Begier euch in der Ewigkeit mit diesen Augen sehen.22
Mit Flemings Epigramm an Hermann Samson liegt endlich ein Gedicht vor, das die Stadt Riga und eine dort ansässige Person zum Thema hat: Der 1579 geborene – also bei Flemings Aufenthalt 54-jährige – Samson galt als bedeutendste Gelehrtengestalt im damaligen Riga.23 Durch seine öffentlichen Disputationen, Predigten und Streitschriften gegen die Jesuiten hatte er sich in ganz Norddeutschland bekannt gemacht und Rufe als Professor und Pastor nach Rostock, Hamburg und Danzig erhalten, die er jedoch sämtlich ablehnte. Die schwedische Eroberung Rigas 1621 rettete ihn vor der polnischen Verfolgung und sicherte zugleich das lutherische Bekenntnis in der Stadt. Dank der Protektion Axel Oxenstiernas, den er vom gemeinsamen Studium in Wittenberg kannte, wurde Samson 1622 zum Superintendenten Livlands ernannt. In seinen Predigten, Reden und Traktaten polemisierte und argumentierte er gegen die Jesuiten und deren Theologie, aber auch gegen die Calvinisten, deren Lehre vom Abendmahl er zu widerlegen versuchte. Deutsche und lateinische Predigten zu verschiedenen Anlässen, deutsche Evangelienauslegungen sowie Handreichungen zur Predigerausbildung und die fünfte Auflage des Rigaer Gesangbuches (1631) gehören zu seinen Schriften.
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hinsichtlich der livländischen Orte, die ja als zum eigenen Kulturkreis gehörig noch nicht eigentlich beschrieben werden mussten. Sonn. II, 4, 455 u. Kommentar S. 767. Die Stiefmutter starb während Flemings Aufenthalt in Riga; sie wurde begraben am 2. Dezember 1633. Ebd., V. 11–14. Die umfangreichste Einführung zu Leben und Werk von Samson bietet noch immer Christian August Berkholz: M. Hermann Samson, Rigascher Oberpastor, Superintendent von Livland etc. Eine kirchenhistorische Skizze aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Riga 1856. Vgl. zusätzlich jetzt Vivian Siirman: Der literarische Nachlass des Superintendenten von Livland Hermann Samson. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 5 (2010), S. 36–58.
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Auch in der städtischen Gelegenheitsdichtung ist er mit lateinischen Gedichten regelmäßig zu finden.24 Flemings Epigramm von acht Distichen verbindet aus der Perspektive der Besucher deskriptive Elemente mit der Anrede an Samson: Summe cathedrarum, quibus inclyta Riga beatur, Riga, salutiferi curaque corque Dei, vidimus in facie, scriptis quem legimus ante, audiimusque tuo fulmen ab ore potens. Vidimus, audiimus. Quo non felicior alter, seu doceat, doctum, seu quoque scribat, agit. Quando doces, uni duntaxat consulis urbi, quod scribis, curam totius orbis habes. [Du Höchster aller Katheder, dessen sich das berühmte Riga erfreut; Riga – Sorge und Herz des heilbringenden Gottes, wir selbst haben dich gesehen, dessen Schriften wir vorher gelesen hatten, und haben aus deinem Mund den mächtigen Blitzschlag gehört. Wir haben gesehen, gehört. Kein anderer ist erfolgreicher als du in der Lehrtätigkeit; sei es dass er unterrichtet oder dass er schreibt, wenn du unterrichtest, sorgst du lediglich für eine einzige Stadt; mit deinen Schriften sorgst du für die ganze Welt.]25
Die wenigen Zeilen sind im Kern eine Beschreibung, wie die Gäste in der Stadt den Superintendenten gesehen und gehört hatten. Man hatte Samson in Rede und Schrift ›erlebt‹ und fand bestätigt, dass es sich um einen wortgewaltigen Streiter für die Sache Gottes – meint natürlich: die eigene Konfession – handelte.26 Während man hier in Riga sich überzeugen konnte, wie der Superintendent in unmittelbarer Umgebung durch sein kirchliches Lehramt tätig wirkte, zielt das Lob schließlich auf die überregionale Bedeutung Samsons durch gedruckte Schriften.
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Vgl. James Dobreff: Hermannus Samsonius to Axel Oxenstierna. Latin Correspondence from 1621 to 1630 with Linguistic and Historical Commentaries. Lund 2006 mit einer Einführung in den biographischen und historischen Hintergrund sowie der bisher ausführlichsten Bibliographie von Samsons Schriften. »Hermanno Samsonio« 1633. Epigr. V, 24, S. 360 u. Kommentar S. 570. Für Übersetzungshilfe danke ich Kristi Viiding (Tartu) und Roswitha Papenhausen (Osnabrück). – In V. 5 übrigens eine Vergil-Anleihe (Aeneis IX, V. 772): Dort bezieht sich das »quo non felicior alter« auf Amykus, den Vernichter des Wildes, der wie kein anderer die Pfeile bestreichen und die Spitzen vergiften konnte. So wird Samson in Verbindung gebracht mit dem Jäger, der das Wild (d. h. seine Gegner, die Jesuiten) mit vergifteten Pfeilen (scharfen Worten) zur Strecke bringt. Das ›Erlebnis‹ hier ist freilich – weit entfernt von den Dimensionen einer Diltheyschen Erlebnisdichtung – auf die Evidenz als Beweis gerichtet. Was vorher (aufgrund der Schriften) gedacht wurde, konnte mit eigenen Augen und Ohren jetzt gesehen und gehört und damit bestätigt werden. Vgl. auch Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007; Wolfgang Struck: Evidenz und evidentia. Die Suche nach einem dokumentarischen Stil in Adam Olearius’ »Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse« (1656). In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 30 (2007), S. 61–77,
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Zugleich wird damit der Stadt Lob zuteil, in der, für die und aus der heraus Samson in die Welt hinein wirkt.27 Mit seiner Mischung von Anrede und Panegyrik könnte das Gedicht einer persönlichen Kontaktaufnahme dienen, drückt jedoch in erster Linie Anerkennung und Ehrerbietung aus. Mindestens ein allgemeiner Kontakt hatte insofern bereits stattgefunden, als man Samson schon hören und sehen konnte. Freilich bleibt offen, ob eine persönliche Begegnung oder ein Gespräch irgendwann stattgefunden haben. Eine persönliche Beziehung ist hier nicht sichtbar, denn aus der Perspektive des Gedichtes werden lediglich Sinneseindrücke (vidimus, audiimus) wiedergegeben. Aus der Beschreibung Samsons ergibt sich ein relativ allgemeines Profil, denn der Informationsgehalt zur Person ist nicht groß und gänzlich ohne persönliche Reminiszenzen Flemings. So ist der Dichter selbst hier auch nicht als einzelner sichtbar. Er scheint sich vielmehr zum Sprecher einer Besuchergruppe, der Gesandtschaft insgesamt, zu machen. Das Epigramm passt genau zu dem Bericht von Olearius und setzt diesen gewissermaßen im StädtelobGedicht fort: Samson als geladener Ehrengast und oberster Kirchenlehrer, den man aufgrund seiner Gelehrsamkeit bewundert. Samsons Eintrag im Stammbuch des Olearius ist denn auch der einzige Beweis für einen direkten Kontakt, doch auch dieser zeigt keine nähere persönliche Beziehung, handelt es sich doch um Samsons Wahlspruch (»Symbolum«), der mit dem Wunsch zu einer glücklichen Reise verbunden wird. Symbolum meum Deo duce Fidei luce Unico sub Cruce I pede felici quo te fata trahunt.28
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Die »cathedra« kann sich hier nicht auf den Dom beziehen, da Samson Pastor an St. Petri war. Gleichwohl klingt im verknappten Städtelob der Wechsel vom einst katholischen Bischofsstuhl zur protestantischen Superintendentur mit, infolgedessen die Stadt »cura« und »cor« Gottes ist. Ich danke Klaus Garber für diesen Hinweis. Übersetzung: »Unter Gottes Führung | im Licht des Vertrauens | unter dem einen Kreuz | Gehe glücklichen Fußes wohin dich das Schicksal führt!« Eintrag von Samson im Stammbuch Olearius vom 6. Dezember 1633. – A. Schiefner: Ueber das Stammbuch von Adam Olearius. In: Das Inland 16 (1851), Sp. 767–772, hier Sp. 768. Der Eintrag von Hermann Samson im Stammbuch Andreas Mylius (f. 81) am 14. Dezember 1631 (vgl. Leonid Arbusow: Ueber einige Stammbücher in der Stadtbibliothek zu Königsberg. In: Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik 1895 (1896), S. 157–162, hier S. 159) deutet darauf hin, dass statt »Unico« auch die wohl bessere Lesart »Vinco« entziffert werden könnte. Denn dort heißt es (laut Arbusow): »DEO duce/ Fidei luce/ Vinco sub cruce« [›Ich siege unter Gottes Führung im Licht des Vertrauens unter dem Kreuz‹]. Das Stammbuch von Olearius befindet sich in Privatbesitz, eine Kopie in der Handschriftenabt. der KB Kopenhagen. Jetzt einschlägig Jan Drees: Stammbuch/ Adam Olearii/ Fürstl. Holstein Gott. Gesandtschafts/ Raths und Secretarii der Gesandtschaft an d. Muscowitischen/ und Persischen Hof. Das Stammbuch des Gottorfer Hofgelehrten Adam Olearius (1599–1671). In: Jahrbuch des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, Schloß Gottorf. N.F. 10 (2005/06), S. 12–23.
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Weitere Stammbucheinträge aus der Rigaer Zeit sind bei Olearius vom königlichen Burggrafen Nikolaus Barneken (7. Dezember), vom Gouverneur Andreas Erichson (Hästehufvud) und vom königlichen Sekretär David Wieck (beide 11. Dezember) zu finden, schließlich auch am 12./22. Dezember 1633 vom Arzt und Gymnasialprofessor Johann von Höveln. Dessen Eintrag belegt die persönliche Bekanntschaft mit Olearius, obwohl dieser ihn erstaunlicherweise in der Reisebeschreibung nicht erwähnte. Paul Fleming aber verfasste ein deutsches Gedicht an Höveln, so dass diesem Rigaschen Gelehrten offensichtlich etwas Besonderes anhaftete.29 1601 in Riga geboren, war Höveln nach dem Studium in Königsberg, Rostock und Leiden als Doktor der Medizin gerade erst in die Heimat zurückgekehrt. Hier übernahm er 1631 die Professur für Naturwissenschaften, Physik und Ethik am neu gegründeten Gymnasium; nach Flemings Aufenthalt folgten die Anstellungen als Stadtmedicus in Riga und zusätzlich als Leibarzt des Herzogs Jakob von Kurland. Schon früh machte Höveln sich mit lateinischen und vor allem deutschen Gedichten einen Namen.30 Flemings Sonett zielt gerade auf diesen letzten Sachverhalt ab. Dabei ist das Gedicht Höveln zwar gewidmet, es enthält jedoch keine Anrede an diesen, sondern an die »deutschen Kastalinnen«, die Musen: Ich hab’ euch Leid getan, ihr deutschen Kastalinnen, o ihr mein andrer Ruhm, als ich mir bildet ein, man ehr’ euch weiter nicht, als was der weise Rhein, der Elb- und Donaustrom in sich bearmen können.31
Fleming entschuldigt sich bei den deutschen Musen als seinem »anderen Ruhm« im Gegensatz zu seiner lateinischen Dichtkunst. Er entschuldigt sich bei ihnen – nicht etwa bei Höveln – dafür, dass er geglaubt hatte, die deutsche Poesie würde hier in Riga nicht geehrt. Folglich gab es in Riga also sehr wohl Verehrer der deutschen Dichtkunst (und d. h.: im Gefolge von Opitz).
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Eintrag von Höveln im Stammbuch Olearius, fol. 403. Vgl. DG 2, 771 (Anm. zu Sonn. II, 10) und Schiefner (Anm. 28). An beiden Stellen lediglich ein Hinweis ohne Abdruck des Eintrags von Höveln. Der Eintrag selbst lag mir bisher leider noch nicht vor. Über Höveln vgl. Johann Friedrich von Recke/Karl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. 4 Bde. Mitau 1827–1832, Bd. II (1829), S. 325; dass.: Nachträge und Fortsetzungen. Unter Mitwirkung von C.E. Napiersky bearb. v. Theodor Beise. 2 Bde. Mitau 1859–1861, Bd. I (1859), S. 278. – Ein deutscher Hochzeitsscherz von 1632 ist nachgewiesen in: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück hg. v. Klaus Garber. Bd. 12–15 (Riga). Mit einer bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer kommentierten Bibliographie von Martin Klöker. Hg. v. Sabine Beckmann u. Martin Klöker unter Mitarb. v. Stefan Anders. Hildesheim/Zürich/New York 2004, Bd. 12, Nr. 0708. »Herrn D. Höveln zu Rige, MDCXXXIII November.« – Sonn. III, 10, S. 466 u. Kommentar S. 771, V. 1–4.
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Im zweiten Quartett wird die Entschuldigung erneut an die Musen gerichtet, jetzt unter dem Namen der Pierinnen,32 und die künftige Unterlassung zugesichert. Denn ihnen wird vorausgesagt, sie würden diese Dichtung in kurzer Zeit ruhmvoll besitzen. Ich hab’ euch Leid getan, ihr edlen Pierinnen; verzeiht mir meiner Fehl. Itzt laß ich’s gar wohl sein, das, was nur Phöbus nimmt in seinen Augenschein, das werdet ihr mit Ruhm’ in kurzem haben innen.33
Der parallele Beginn beider Quartette mit der identischen Anrede »Ich hab’ euch Leid getan« fällt gleich ins Auge und kann wohl nur als zugleich an den Gedichtempfänger Höveln gerichtete – somit indirekte – Anrede gedeutet werden. War Fleming etwa zu großspurig als der Prophet der neuen deutschen Dichtkunst in Riga aufgetreten und hatte damit die – wenn auch noch zaghaften, aber immerhin – vorhandenen Bemühungen diskreditiert? Bei Johann von Höveln zumindest scheint eine Entschuldigung angebracht. Fleming revidiert seine Einschätzung zwar, doch bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel erreicht sieht, denn erst »in kurzem« werde diese Errungenschaft »mit Ruhm« in Riga vorhanden sein. Im ersten Terzett wird dann auch die Anerkennung durch den »ungelehrten Belt«, die Ostsee mit ihrer Küste, vorausgesagt. Der ungelehrte Belt wird euch auch lernen ehren. Das Kind der Barbarei, die Duine, läßt sich lehren und fleußt mit zahmer Flut die schöne Stadt vorbei.34
Die Bezwingung der Fluten der Düna, des Rigaer Flusses, steht abschließend als allegorische Deutung für die Möglichkeit, das ursprünglich barbarische Land die Kunst zu lehren, also auch hier das poetische Regelwerk zur Formung der deutschen Dichtkunst anzuwenden. Und dann, wenn die Flut gezähmt ist, die Dichtung in den geordneten Bahnen der opitzschen Poeterey fließt, dann handelt es sich eben auch um eine wahrhaft »schöne Stadt«. Das letzte Terzett löst sich völlig vom vorangehenden Text, indem nun das heimatliche Reich angesprochen wird: Glück zu, o weites Reich! Ich fahre fort zu reisen, daß ich der Mitternacht und Morgen auch mag weisen, daß, was uns Deutsche preist, auch ihnen rühmlich sei.35 32
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Dass die Musen hier als »edel«, also geadelt auftreten, dürfte Flemings Aufwertung der deutschen Dichtkunst signalisieren und zugleich als Anspielung auf den möglichen Adel des Johann von Höveln (aus altem westfälisch-lübischem Adelsgeschlecht, die livländische Linie zurückgehend auf Hermann von Hoevell?) gedeutet werden. Der Rigaer Arzt wurde im zeitgenössischen Schrifttum allerdings nicht als adelig angesprochen oder tituliert. Sonn. III, 10, V. 5–8. Ebd., V. 9–11. Zu »Belt« vgl. DWB (Anm. 18), hier Bd. 1, Sp. 1455 mit Verweis auf Paul Fleming! Sonn. III, 10, V. 12–14.
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Der Dichter nutzt in diesen Versen die Gelegenheit, um aus seiner Verortung in Riga als Station auf der Reise den Blick in die Zukunft zu wenden. Hier in Riga spricht er dem Reich Glück zu und formuliert seinen – selbst erteilten – Auftrag, nämlich die Dichtung der Deutschen dem Norden und Osten nahe zu bringen. Fleming verabschiedet sich damit vom »weiten Reich«, das sich, wie er gerade gelernt hat, weiter als gedacht erstreckt und sogar das barbarisch vermutete Livland umfasst.36 Das ist zwar politisch nicht korrekt, denn Livland war zu dieser Zeit eine schwedische Provinz, aber der Übergang zur ersten Person Plural (»uns Deutsche«) schließt wohl die Rigaer Dichter – allen voran Höveln – mit ein. Flemings »Reich« ist eben deutsche Sprache und Dichtung, und diese fand er in Riga – wider Erwarten. Damit verschiebt Fleming den von Celtis aufgespannten Raum humanistischer Akkulturation zwischen Rhein, Elbe, Donau und Weichsel in den Osten, nämlich bis zur Düna und verweist zugleich auf die humanistische Tradition, in die er sich für die deutsche Dichtung stellt.37 Das Sonett weist ganz entscheidende Differenzen zum Epigramm auf Samson auf. Zwar sind auch über Höveln keinerlei biographische Details zu erfahren, ja sogar noch weniger als über Samson (nämlich nicht einmal eine Einschätzung des Gelehrten und seines Tuns). Aber die indirekte Entschuldigung verrät einen bedeutenden Berührungspunkt: das Interesse an der deutschen Dichtung. An diesem Punkt treffen sich Höveln und Fleming; eine persönliche Beziehung ist damit sichtbar, jedoch keine Freundschaft, wie in der Fleming-Forschung immer wieder zu lesen.38 Das Gedicht dient nicht der Aufnahme eines Kontakts, sondern reflektiert den Kontakt zu Höveln auf spezielle Weise – eben in der Bitte um
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Nicht zufällig wurde die Einrichtung des Gymnasiums bzw. der Universität Dorpat 1630/1632 in Altlivland selbst als wichtiger Schritt zur Beendigung des Barbarismus gedeutet. Vgl. die lateinische Rede des Generalgouverneurs Johan Skytte bei der Eröffnung des Dorpater Gymnasiums vom 13. Oktober 1630. In: Tartu Ülikooli ajaloo allikad/Quellen zur Geschichte der Universität Tartu (Dorpat). [Band] I Academia Gustaviana. a) Ürikuid ja dokumente/Urkunden und Dokumente. Tartu Ülikooli ülesandel koostanud ja sissejuhatusega varustanud/Im Auftrage der Universität Tartu hg. und mit einer Einl. versehen v. Juhan Vasar. Tartu 1932 (Eesti vabariigi Tartu Ülikooli toimetused/Acta et commentationes universitatis Tartuensis C XIV), S. 7–15. Genauso argumentiert der Pastor Ludwig Dunte in seiner Revaler Predigt vom 1. November 1632 zur Eröffnung der Universität Dorpat: Eine Christliche Predigt vber den Sieben vnd Achtzigsten Psalm Davids. Von Herligkeit/ Zierde/ vnd Seligkeit der Christlichen Kirchen/ vnd sonderlich der Hohen Schulen. […] Gehalten/ vnd publiciret Durch M. LVDOVICVM DVNTE […]. Gedruckt zu Dorpath/ bey Jacob Beckern. [1632]. Nachweis bei Klöker (Anm. 7), Teil 2, Nr. 70, S. 99f. Für den Hinweis auf Celtis danke ich Klaus Garber (Osnabrück). Vgl. Gernot Michael Müller: Die ›Germania generalis‹ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67); Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 76); Klaus Garber: Konrad Celtis als Ahnherr in Deutschland – mit einem Blick auf Preußen. In: Ders.: Das alte Königsberg. Erinnerungsbuch einer untergegangenen Stadt. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 16–20. So bereits bei Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek 3 Bde. Riga 1777, Bd. II, S. 88–89, und noch bei Isidor Brennsohn: Die Aerzte Livlands von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Mitau 1905, S. 206–207.
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Verzeihung für eine falsche Einschätzung – und leitet zugleich den Abschied aus Riga ein. Insofern handelt es sich durchaus um ein Fazit, das starken dokumentarischen Charakter eben für das dichtende Ich, für Fleming besitzt und in diesem Sinne als Ego-Dokument gelesen werden kann.39 Im Gegensatz zum Samson-Gedicht tritt hier das für Flemings deutsche Dichtung so auffällige und typische starke ›Ich‹ hervor, das in aller Regel vertrauenswürdig die Reisebegebenheiten reflektiert. Damit ist aber auch der zentrale Unterschied zwischen den beiden Gedichthintergründen berührt: Hermann Samson wird bewundert und bedichtet wie eine der vielen Sehenswürdigkeiten (»vidimus«!) auf der Reise. Flemings Interesse an Johann von Höveln hingegen ist ganz persönlich, weil es sein eigenes dichterisches Anliegen – die Propagierung der deutschen Dichtkunst – betrifft. Dass auch Hövelns Arbeit als Medicus Flemings Interesse hervorrief, vielleicht sogar der Anlass für den persönlichen Kontakt war, ist zwar nicht belegt, dürfte aber gewiss eine Rolle gespielt haben. Damit sind die dichterischen Zeugnisse der Rigaer Zeit erschöpft. Dass kein weiterer Dichter und insbesondere nicht das neue Gymnasium von Fleming besungen wurde, überrascht zunächst. Doch die im April 1631 eröffnete Lehranstalt war allem Anschein nach wirklich kaum der Rede wert: Bei der Gründung waren erst vier Schüler und drei Professoren zu nennen, zudem waren diese Lehrer – darunter Samson und Höveln – nur im Nebenamt am Gymnasium tätig. Die als normale Lateinschule fungierende Domschule wurde zu dieser Zeit durch das Gymnasium lediglich geringfügig erweitert. Erst 1635 wurde eine weitere Professur, die für Poesie, besetzt.40 Eine gut ausgestattete Druckerei gab es schon seit 1588 in Riga, doch im gedruckten Rigaer Schrifttum aus der Zeit der Anwesenheit Flemings waren bisher keine Hinweise auf irgendwelche Kontakte zwischen den Gesandtschaftsteilnehmern und den Rigensern zu finden.41 39
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Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Hg. v. Bea Lundt u. a. Köln u. a. 1992, S. 417–450; ders.: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996; Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: Zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2; online unter http://www.zeitenblicke.de/2002/02/ rutz/rutz.pdf [Dezember 2011]. Gotthard Schweder: Die alte Domschule und das daraus hervorgegangene Stadt-Gymnasium zu Riga. I. Teil 1211–1804 in zweiter, bedeutend erweiterter Auflage und II. Teil 1804–1896. Zur Erinnerung an die erste Begründung der Domschule vor 700 Jahren und an die Erneuerung des Stadt-Gymnasiums vor 50 Jahren. Riga/Moskau 1910, S. 19–20. Dieser durchaus überraschende Befund kann bis zum Vorliegen einer umfassenden Bibliographie des Rigaer Schrifttums lediglich als vorläufig gelten. Zur älteren Rigaer Buchproduktion nach wie vor grundlegend: Arend Buchholtz: Geschichte der Buchdruckerkunst in Riga 1588– 1888. Festschrift der Buchdrucker Rigas zur Erinnerung an die vor 300 Jahren erfolgte Einführung der Buchdruckerkunst in Riga. Riga 1890. Daneben auch: Ojārs Zanders: Tipogrāfs Mollīns un viņa laiks. Pirmās Rīgā iespiestās grāmatas1588–1625. [Mit dt. Zusammenfassung: Typograph Mollin und seine Zeit]. Ríga 1988. Speziell für die Zeit auch Meta Taube: Die Arbeiten des Rigaer Buchdruckers Gerhard Schröder (1625–1657). In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders u. Thomas Elsmann. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), S. 801–812.
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2. Sechs Tage in Dorpat Für den Aufenthalt in Dorpat, der deutlich kleineren Schwesterstadt von Riga, in der die Gesandtschaft vom 23. bis zum 29. Dezember 1633 verweilte, ist vieles anders. Zwar ist auch im dort gedruckten Schrifttum keine Spur der Gesandtschaft nachgewiesen,42 doch liegen von Fleming immerhin drei Gedichte auf Dorpater Personen aus dieser Zeit vor.43 Auch bei Olearius wird Dorpat ausführlicher vorgestellt, in der Reisebeschreibung nimmt der Text jetzt über eine dreiviertel Seite ein: Nach Lage und Aussehen der Stadt folgt ein historischer Abriss bis zur Gegenwart. Dann ist die gesamte zweite Hälfte des Textes der 1632 gegründeten Universität gewidmet. Und hier kommt nach einer Schilderung der Hintergründe auch der Kontakt zu den Dorpatern ins Spiel: Von gelehrten Leuten und berühmbten Professoren/ mit welchen wir daselbst in Kundschafft geriethen/ waren jtzt gedachter D. Virginius/ Johannes Balau von Rostock/ der Artzney Docter/ welcher hernach in die Muscaw als LeibArtzt beruffen worden. Friedrich Menius Käyserlich gekrönter Poete und Professor der Historien/ und M. Petrus Schomerus Habs: aus Schweden Mathematicus. Die Zahl aber der Studenten war zu unserer Zeit noch gar geringe/ in dem nur 10. Schweden und etliche wenig Finnen sich daselbst befunden.44
Die gesamte Passage zu Dorpat wurde gegenüber der ersten Auflage der Reisebeschreibung nicht wesentlich verändert.45 Sie bietet nicht nur mehr Informationen als bei Riga, Olearius markiert hier wohlwollend die gelehrten Kontakte. Der qualitative Unterschied ist auch an den Stammbucheinträgen bei Olearius abzulesen. Neben den drei Professoren der Universität Menius, Virginius und Schomerus haben auch ein Pastor der Stadt und ein Oberst-Quartiermeister sich eingetragen.46 Trotz der viel kürzeren Zeit sind also etwa gleich viele Kontakte nachgewiesen. Ebenso ist die Art der Kontakte – den Gedichten nach zu urteilen – ein wenig anders. Fleming dichtet lateinische Epigramme auf die Professoren Andreas
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Vgl. Ene-Lille Jaanson: Tartu Ülikooli trükikoda 1632–1710. Ajalugu ja trükiste bibliograafia/Druckerei der Universität Dorpat 1632–1710. Geschichte und Bibliographie der Druckschriften. Tartu 2000. Epigr. VII, 21 auf den Professor Laurentius Ludenius, das von Lappenberg auf diese Zeit (Dezember 1633) datiert wurde, dürfte wohl erst 1635 entstanden sein, weil Ludenius erst Ende 1635 nach Dorpat kam. Vgl. Katre Kaju: Laurentius Ludenius, Professor an den Universitäten Greifswald und Dorpat (1592–1654). In: Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums. Hg. v. Dirk Alvermann, Nils Jörn u. Jens E. Olesen. Berlin/Hamburg/Münster 2007, S. 211–229. Olearius (Anm. 1), S. 9. Olearius: Offt begehrte Beschreibung (Anm. 19), S. 6. Offensichtlich handelt es sich hier im Wesentlichen um eine sprachlich-stilistische Überarbeitung. Beispielsweise lautet der letzte Satz: »Die frequentz der Studenten aber war zu vnser Zeit noch schlecht/ in dem kaum etliche wenig Schweden vnd Finnen sich allda befunden.« Am 27. Dezember Menius, am 28., also am Tag vor der Abreise, Virginius, Pastor Erasmus Pegius und der Oberst-Quartiermeister Leonhard Basselbercht (?), am 29. Schomerus. Vgl. Schiefner (Anm. 28), Sp. 768.
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Virginius (Theologie),47 Johann Belau oder Belovius (Medizin)48 und Friedrich Menius (Geschichte),49 die hier nur kurz präsentiert werden können. Insgesamt verweisen die Gedichte stärker auf die Kontaktaufnahme, handelt es sich doch um direkte Anreden. Erklärlich ist dies wohl mit der kurzen Aufenthaltsdauer, die kaum Zeit ließ für ein längeres Kennenlernen und insofern auch die Gedichte an den Anfang des Kontakts rückte. Das Epigramm auf den aus Pommern stammenden Andreas Virginius weist zunächst Ähnlichkeiten zum Samson-Gedicht auf, indem wieder aus der PluralisPerspektive der Gesandtschaft gelobt und bewundert wird. Candida surgentis, Virgini, fama Lycei, unde potest verum discere Livo Deum, Livo, patefacti serus calcator Olympi, sed quoque iam nobis relligione prior. Fulmina sunt, non verba doces, quibus impia terres corda nec ad jussum se per itura polum. Haereses intereunt, atheismus et ethnica quaevis, Livonica radiat fax Pomerana schola.50 [Heil dir, Virginius! Leuchtender Ruhm der gedeihenden Schule! Richtig zu glauben an Gott, hast du die Liven gelehrt, Sie, die erst spät zwar steigen zum wieder eröffneten Himmel, Doch uns im Glauben dafür schon sind gekommen zuvor. Worte nicht lehrtest du, Blitze erschreckten die thörichten Herzen, Welche nicht selber den Weg suchten zur Wohnung des Herrn. Du triebst aus Ketzerei, Atheismus und heidnisches Wesen, Livlands Schule, sie strahlt hell von dem pommerschen Licht.]51
Die konsequente direkte Anrede und das weitgehende Zurücktreten der Sprecher bewirken in Verbindung mit dem Lob der von Virginus vollbrachten Taten allerdings einen deutlich stärkeren Charakter der Kontaktaufnahme; nichts deutet darauf, dass ein Kontakt bereits stattgefunden hätte. Die gebotenen Informationen über Virginius könnten Vorwissen sein, das nun als Kompliment zur Herstellung des Kontakts benutzt wird. Zugleich verharren die Sprecher im Gedicht jedoch in der Ehrerbietung und formulieren nicht etwa einen Kontaktwunsch, so dass letzten Endes keine eindeutige Entscheidung zu fällen ist. Unabhängig davon handelt es sich für Fleming dann aber eben doch wieder um ein Gedicht, das eine Person auf der Reise in der direkten lobenden Ansprache – jedoch ohne sichtbare persönliche Beziehung – dokumentiert. Anders bei Belau und Menius. Bei diesen ist die direkte Anrede wieder vom persönlichen ›Ich‹ geprägt, und auch die Dichtung wird thematisiert. Der Medizin-
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Epigr. X, 21, S. 446f. u. Kommentar S. 591f. Epigr. IV, 28, S. 342 u. Kommentar S. 565. Epigr. IV, 29, S. 342 u. Kommentar S. 565 (Verweis auf Sylv. V, 4). Epigr. X, 21, S. 446f. u. Kommentar S. 591f. Kirchner (Anm. 12), Nr. 75.
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Professor Johannes Belau,52 war offensichtlich aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse für Fleming interessant, wie bereits der Titel Joanni Belovio, Hygeae flamini signalisiert. Darin ist eine Parallele zu Johann von Höveln in Riga zu sehen. Von Belau ist bisher allerdings – abgesehen von einer Rostocker medizinischen Disputation (1628) – keine einzige Schrift und kein Gedicht bekannt. Interessanter erscheint hingegen der poetische Kontakt zum gekrönten Dichter Friedrich Menius,53 der aufgrund seines Amtes und seiner in Dorpat überwiegend in deutscher Sprache veröffentlichten historischen Schriften bisher vor allem als Historiker wahrgenommen wurde.54 Bekannt ist er jedoch ebenso aufgrund seiner 1620 in Leipzig publizierten deutschen Edition Englische Comedien und Tragedien und seiner Verdienste als erster Übersetzer Shakespeares ins Deutsche.55 Als Dichter in deutscher Sprache ist er demgegenüber kaum bekannt. Flemings lateinisches Gedicht auf Menius zeigt beim ersten Blick denn auch keine Verbindung des Geschichtsprofessors zur deutschen Dichtung.56 Hier wird jedoch auf das große deutsche Gustav-Adolf-Gedicht von Menius angespielt, das soeben in Dorpat erschienen war. Es lieferte neben älteren Gedichten von Menius den Beweis, dass
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Über Belau vgl. Recke/Napiersky (Anm. 30), Bd. I (1827), S. 101f.; Napiersky/Beise (Anm. 30), Bd. I (1859), S. 44; Brennsohn (Anm. 38), S. 94f. Sowohl in den Dorpater Drukken der Zeit als auch in den nachgewiesenen Gelegenheitsschriften aus der Region ist er nicht als Verfasser zu finden. Vgl. Jaanson (Anm. 42) und Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums (Anm. 30), Bd. 1–26. Hildesheim/Zürich/New York 2001–2009. Über sein abenteuerliches Leben vgl. neben Recke/Napiersky (Anm. 30), Bd. III (1831), S. 201–204, und Napiersky/Beise (Anm. 30), Bd. II (1861), S. 40–43, vor allem Gustav Fredén: Friedrich Menius und das Repertoire der englischen Komödianten. Stockholm 1939. Eine kurze Einordnung gibt Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006, S. 113. Vgl. auch John L. Flood: Poets laureate in the Holy Roman Empire. A bio-bibliographical handbook. 4 Bde. Berlin [u. a.] 2006, Bd. 3, S. 1312–1313, und zuletzt Stefan Donecker: Arbeiten und Projekte des Dorpater Professors Friedrich Menius in den 1630er Jahren. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 6 (2011) S. 31–60. Intrada, oder Vortrab der grossen Universal Liefflandischen Historischer Geschichten Beschreibung. Worinnen kürtzlich angedeutet wird, was einjeder in folgender Liefländischen Chronick zu erwarten. Riga 1630; Relatio von Inauguration der Universität zu Dörpat, geschehen den 15. Octobris, Im Jahr 1632, Dorpat 1632 (Jaanson 5); Historischer Prodromus des Lieffländischen Rechtens und Regiments Von Anfange der Provintz Erfindunge, biß auff Ihr Königl. Majest. von Schweden Gustavi Magni Todt. Aus Wahrhafften und Glaubwürdigen Actis und Actitatis verfertiget und zusammen gebracht, Dorpat 1633 (Jaanson 35, mit Abweichungen 36); Proba der Letzten Zeit, Von der grossen Verfolgung, restaurierunge des wahren GOttes Dienstes, Vntergange des Babsthumbs, vnd Zukunfft des Jüngsten Tages. […], Dorpat 1633 (Jaanson 37); Diatribe critica, de maris Balthici nominibus et ostiis. Ubi contra novatores nonnullos vetus Ptolomaei sentenia defenditur et rectius explicatur, Dorpat 1634 (Jaanson 70); Syntagma de origine Livonorum, Dorpat 1635 (Jaanson 89). Vgl. neben Fredén (Anm. 53) auch Johan Nordström: Friedrich Menius. En äventyrlik Dorpatprofessor och hans glömda insats i det engelska komediantdramats historia. In: Samlaren N.F. 2: 1921 (1922), S. 42–91. »Friderico Menio, Poetae, Historico, Antiquario«. Epigr. IV, 29, S. 342 u. Kommentar S. 565 (Verweis auf Sylv. V, 4). Das Gedicht erschien erstmals (mit dieser Überschrift) in den von Olearius herausgegebenen Pauli Flemingi […] Epigrammata latina ante hac non edita. Hamburg 1649.
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hier in Dorpat die deutsche Dichtkunst bereits gepflegt wurde.57 Wohl deshalb übt Fleming sich – anders als in Riga – in humanistischer Bescheidenheit und meint (V. 4), er könne nichts Gleichwertiges zurückgeben (»sed nihil ex merito reddere posse pudet.«) und wendet dies schließlich in Vers 8 mit einem gängigen Topos, indem er lieber sich selbst als Geschenk gebe (»pro donis melius me tibi dono tuis.«). Viel deutlicher ist die Affinität Menius’ zur deutschen Poesie in einem Stammbucheintrag bei Olearius zu sehen. Der Geschichtsprofessor Menius trug sich mit einem programmatischen deutschen Epigramm von zwölf holperigen Alexandrinern in das Stammbuch ein und offenbart hier den Stand der Bemühungen um die opitzsche Dichtungsreform in Livland. Die Überschrift bringt es auf den Punkt: »schwierig aber möglich« ist dieses Unterfangen nach Menius’ Einschätzung: Difficile at possibile. – Was dem gemeinen Man zue sein vnmöglich scheinet, Das kan Geschicklichkeit verrichten eh mans meinet, Was Pochen vndt Gewalt per forza lässet stehn, Damit Kunst wie mit еineг Braudt zue Bett thuet gehn. Solt’ man Opitij Geist in Lieffland können bringen? Solt’ man zue Tauris auch woll teutsche Lieder singen? Solt’ wol Mercurio der Caspische Neptun Bis an den wilden Bält sonderlich Hülfe thuen? Solten die Musae wol Parnassum hie formieren Vndt bis in Orient besser hin transportieren? Ja Ja, Vernunft vndt Kunst kan hie seer wol bestahn, Obschon Hanß Plump ins Mueß es nicht begreiffen kan. VI Cal. Januarij Boni ominis ergo apposuit Dorpeti A. MDCXXXIII.
Fr. Menius, P. S. C. Hist. et Antiq. in Athenis Livonicis Prof. P. m. p.58
Es ist schwer vorstellbar, dass diese ja schon in Riga thematisierte Frage ohne Flemings Beteiligung diskutiert wurde. Immerhin zeigen die deutlichen metrischen Unzulänglichkeiten in Menius’ Gedicht, dass es in Livland noch nicht wirklich gut bestellt war um den Geist Opitzens. Es verwundert indessen, dass Fleming angesichts dieser am Ort gerade aktuellen Bemühungen nicht aktiv und unterstützend, also mit einem eigenen Gedicht in deutscher Sprache, in den literarischen Prozess eingegriffen hat. Möglicherweise fehlte ihm in Dor57
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[Friedrich Menius]: Sehnliches Klag-Lied Vber den, wiewol tapfferen, doch trawrigen Todsfall, des Groß-Mächtigsten von GOtt erweckten Wunderhelden Gustavi Magni, Königes in Schweden, etc. […]. Dörpt 1633 (Jaanson 38). Leider in keinem Exemplar nachweisbar ist sein: Nuncius Parnassi Livonici poeticus vnd fröhlicher Lobgesang, auff die Fundation der Königlichen Schwedischen Academie zu Dörpat in Liefflandt den 15. Octobris Anno 1632, Dorpat 1632 (Jaanson 4). Ein 1632 in Riga gedrucktes deutsches Epicedium auf Caspar Mancelius weist durchaus noch metrische Unzulänglichkeiten auf. Vgl. Klöker (Anm. 7), Teil 2, S. 94, Nr. 062»3 (dt. Alexandrinergedicht). Eintrag Menius im Stammbuch Olearius, Dorpat 26. Dezember 1633. Abdruck durch Lappenberg in DG 2, 869.
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pat die Zeit, doch auch das zwei Jahre später in Reval entstandene Gedicht auf Menius (Sylv. V, 4) verfasste Fleming in lateinischer Sprache. Zudem wurde jetzt nicht mehr der Poet, sondern der Historiker Menius angesprochen.59 Gleichwohl ist der Gesamteindruck vom Kontakt in Dorpat besser als der für Riga. Die Beziehungen scheinen angesichts der kurzen Zeit intensiver und von mehr Interesse an den Dorpatern geleitet gewesen zu sein. Gut möglich, dass der Gesandtschaftsübersetzer Hans Arpenbeck durch seine Herkunft aus Dorpat die Kontakte erleichterte. Aber vor allem dürfte es die Ausstrahlung der noch neuen Universität sein, die die Gäste anzog – obwohl auch dann viele Fragen offen bleiben. Beispielsweise ist erstaunlich, dass der Griechischprofessor Peter Götschen nicht auftaucht, obwohl er doch mit umfangreichen griechischen Gedichten eine herausragende Dichterfigur gewesen sein muss. Dass der Professor der Redeund Dichtkunst, Heinrich Oldenburg, nicht in Erscheinung tritt, könnte auf eine Erkrankung zurückzuführen sein, denn er starb kurz darauf im Januar 1634.60
3. Acht Wochen in Narva Wieder ganz anders sind die Kontakte Flemings in Narva zu beurteilen. Zwar verweilte er in der estländischen Grenzstadt doppelt so lange wie in Riga, doch ist der poetische Ertrag auffallend gering. Es ist kein einziges Gedicht von Fleming aus dieser Zeit auf eine Person in Narva nachgewiesen. Und auch im Stammbuch des Olearius hat sich einzig der Pastor und Propst Martin Beer zu Narva mit einem unbedeutenden lateinischen Spruch eingetragen. Eine Druckerei gab es in der Stadt nicht. In der Reisebeschreibung ist sichtbar, dass hier praktisch keine gelehrte und noch weniger eine literarische Sphäre vorhanden war, doch wird von ›Zeitvertreib‹ mit ›allerhand Lust‹, von ›guten Tractamenten‹ und ›ordentlicher Music‹ an ›fürstlicher Tafel‹, von Gastereyen, Spazierfahrten, Reiten und Jagden und Besuchen vieler ›vornehmer Leute‹ sowie von ›guten Gesprächen‹ berichtet.61 Insofern sind die Kontakte offensichtlich nicht dichterisch umgesetzt worden. Bald nach dem Aufenthalt lieferte Fleming selbst in einer Briefelegie aus Novgorod an Olearius in Narva eine Erklärung, die auch ein knappes Urteil über die Aufenthalte in Riga, Dorpat und Narva enthält. Hier heißt es (in der Übersetzung von Entner):
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»Friderico Menio, Historiae borealis Parenti. 1635. Sept. 2.« Sylv. V, 4, S. 79 u. Kommentar S. 510. Er starb am 19. Januar 1634. Vgl. die Einladung des Rektors zum akademischen Akt bei Jaanson (Anm. 4), Nr. 66. Über ihn siehe Verzeichniss sämmtlicher Professoren der ehemaligen Universitäten zu Dorpat und Pernau und der academischen Beamten. Zusammengestellt und mit archivalischen Beilagen versehen von Aug. Buchholtz. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurland’s 7 (1853) H. 1, S. 159–273, hier S. 170– 171. Von Oldenburg ist kein deutsches Gedicht bekannt. Jaanson (Anm. 4) weist immerhin zwei lateinische nach. Olearius (Anm. 1), S. 10.
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Ich schreibe zwar, aber nicht mehr wie früher, es geht einfach nicht mehr unbeschwert von der Hand, meine Feder fließt nicht, verstopft und zerfressen wie ein Brunnenrohr, das allzu lange liegt, nur noch tröpfelt, wo es früher sprudelte. Der Weg und bis zum Überdruß mühsame Zug hat mir allen Mut genommen, seit uns das königliche Narva nach den ungläubigen Letten und dem unwirtlichen Livland Herberge bot. Dort konnten wir ausruhen und am jenseitigen Ufer die fruchtbare Gegend um Ivangorod besehen oder, wenn es beliebte, mit staunenden Augen die Wasserfälle oder was sonst den neugierigen Fremden an fernen Ländern reizt.62
Ganz offensichtlich kann Fleming den Reisestationen vor Narva nichts Gutes abgewinnen. Selbst wenn diese Äußerung in mancher Hinsicht durch Flemings Einsamkeit in Novgorod bedingt und somit zu relativieren ist, bleibt doch die Aussage, dass er in allen drei Städten unter der im Gedicht beklagten Schreibblockade litt. Dies kann immerhin erklären, warum nicht eine größere Anzahl von Gedichten an den betrachteten Orten entstanden ist und warum nicht noch mehr Kontakte ihren Weg in die Dichtung gefunden haben. Andererseits werden die nachgewiesenen Gedichte aufgewertet, weil sie trotz der Blockade angefertigt wurden, dem Dichter folglich – aus welchen Gründen auch immer – besonders wichtig waren.
4. Fazit Der poetische Ertrag Flemings zeigt sich je nach Ort zwar durchaus unterschiedlich, bleibt aber – gemessen an den Möglichkeiten – insgesamt gering. Die Gedichte lassen sich nicht als Werkzeuge zur Kontaktaufnahme verstehen, sondern sind vielmehr Begleiter des gesamten jeweiligen Kontakts und können auch den Abschied markieren. In ihnen wird der jeweilige Adressat direkt oder indirekt angesprochen, wobei auch deskriptive Elemente zur Person enthalten sein können, die dann auf eine weniger persönliche Verbindung schließen lassen. Eine Distanz wird vor allem bei den Personen beibehalten, die in der ständischen Rangordnung einen höheren Platz einnehmen. Sichtbare persönliche Nähe gründet hingegen in aller Regel auf gemeinsamen Interessen, allem voran an der deutschen Dichtung. Sowohl die persönliche Blockade als auch die ungeklärte Situation als quasi ›Hofdichter‹ der Reise prägten diese Zeit, wie Entner zu Recht meint.63 Die wenigen Gedichte belegen das, indem sie beide Positionen bedienen: Auf der einen Seite steht der Gesandtschaftsdichter, der parallel zur Berichterstattung des Olearius bemerkenswerten Standespersonen poetische memoria stiftet. Dabei handelt es sich erstaunlicherweise nicht um politische Funktionsträger, etwa Gouverneure oder Bürgermeister, denen die Gesandtschaft ja in erster Linie verpflichtet war. Selbst wenn einzelne von ihnen bei Olearius genannt werden, fehlen sie beim Dichter gänzlich. Fleming konzentriert sich stattdessen auf die herausragenden 62 63
Sylv. II, 14. – Übersetzung von Entner (Anm. 2), S. 370–372, hier S. 371. Entner (Anm. 2), S. 377.
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Martin Klöker
Gelehrten – Samson und Virginius –, um mit diesen und durch diese den jeweiligen Ort panegyrisch zu erhöhen. Diese Gedichte sind im Sinne eines Gesandtschaftsdichters aber wenig repräsentativ, weil sie als kurze Epigramme höchstens in einem größeren textlichen Umfeld präsentiert werden konnten. Insofern ist es kein Zufall, dass sie in den Orten nicht gedruckt wurden. Fleming legt mit diesen Gedichten zwar poetische Ergänzungsstücke zu Olearius’ Reisebeschreibung vor, schafft aber im Medium des Gedichts aufgrund der allzu eingeschränkten Auswahl kein echtes Gegenstück und füllt somit das Amt eines ›Hofpoeten‹ nur mangelhaft aus. Es erscheint zu diesem Zeitpunkt durchaus fraglich, ob der Dichter die Dimensionen eines solchen, ganz der Panegyrik ergebenen Amtes wirklich ausmessen wollte oder konnte. Auf der anderen Seite steht der mit eigenen Interessen ausgestattete Dichter und Mediziner Fleming, der in seinen persönlich wichtigen Kontakten ein starkes Ich mit Sendungsbewusstsein poetisch präsentiert. Festzustellen ist eine Nähe zu den Medizinern am jeweiligen Ort, die zumindest in Riga Überschneidungen mit der deutschen Dichtung aufweist. Fleming als fast fertig ausgebildeter Arzt sucht und findet – wohl gemeinsam mit seinem vertrauten Reisegefährten und Arzt Hartmann Grahmann – die Nähe der Ärzte. Seine Mission ist jedoch die Verbreitung und Etablierung der deutschen Poesie, und für diese Aufgabe werden Mitstreiter am Ort offensichtlich gezielt aufgesucht. Dabei müssen die Gedichte durchaus nicht in deutscher Sprache verfasst sein; noch steht die deutsche Dichtkunst auf dem sicheren Fundament der lateinischen Gelehrsamkeit. In den Gedichten spiegeln sich die poetische Verbindung und das jeweilige Engagement des Gegenübers. Die am Ort entdeckten Leistungen werden entsprechend markiert und mit Lob bedacht, wobei Flemings beurteilende Perspektive zugleich seine eigene Erhöhung als deutscher Dichter bewirkt. Die angeführten Beispiele von Gedichten livländischer Verfasser zeigen, dass der Entwicklungsstand der deutschen Dichtkunst in Livland diese Position jedoch durchaus sachlich rechtfertigt. Fleming sammelt auf diese Weise in seinen persönlichen Gedichten die Opitz-Jünger um sich und hält die kurzen, für die Entwicklung der deutschen Dichtung wichtigen Begegnungen im geschriebenen Wort fest. Insofern kann auf der Ebene der menschlichen Kontakte in Livland keine Rede davon sein, dass Fleming mit ›verbundenen Augen‹ gereist sei, wie Entner meint.64 Zwar ist die Anzahl der poetisch dokumentierten Kontakte gering, aber die offensichtlich sehr gezielte Auswahl der Personen deutet auf eine gute Wahrnehmung gerade des – im Sinne der persönlichen Interessen des Dichters – Wesentlichen. Fleming litt vielleicht unter einer Schreibblockade, aber er wusste sehr genau, was ihm bei der Ankunft in einer Stadt wichtig war und zu welchen Personen er Kontakt suchen wollte. Dabei war die Dichtung zugleich Medium und Gegenstand der Kommunikation und wurde schließlich zum Speichermedium, in dem Fleming für sich und die Nachwelt den flüchtigen Moment des Kontakts im Gedicht verewigte.
64
Vgl. oben Anm. 3.
Joachim Hamm
Ovid am Kaspischen Meer Imitatio und Selbststilisierung in Paul Flemings Dagestaner Epigrammen […] Bis hieher ließ sichs trauen. Von hieraus hub uns an, zwar nicht umbsonst, zu grauen. Wir rückten wachsam fort. Der Völker neue Tracht, ja selbst das neue Land, das machte sich verdacht. Wie der Komücken Grimm, die Frechheit der Usminen, der Poinacken Trutz und üppiges Erkühnen, der Tagostaner List und strenge Dieberei uns ofte blaß gemacht, das denke du hierbei! (PW V,I 53, V. 343–350)1
In einem poetischen Rückblick, verfasst im September 1638 in Astrachan, erinnert Paul Fleming an einen eher ungemütlichen Abschnitt der Persisch-Moskowitischen Reise. Als die Gottorfer Gesandtschaft im Frühjahr 1638 die Rückreise von Persien nach Russland antrat, wählte man nicht den Seeweg über das Kaspische Meer, auf dem man bei der Hinreise im Jahr 1636 Schiffbruch erlitten hatte, sondern zog entlang der Westküste durch Dagestan (Abb. 1). Die von Fleming angedeuteten Entbehrungen und Gefahren dieser Reise, die vom 14. April bis 20. Mai dauerte, dokumentiert die Beschreibung des Olearius.2
1
2
Zit. n. DG; vgl. auch LG (vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band). Zu diesen Ausgaben vgl. Rainer Postel: Johann Martin Lappenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Lübeck/ Hamburg 1972 (Historische Studien 423), S. 267–273. Vgl. Offt begehrte Beschreibung | Der Newen ORIENTALISCHEN | REISE […] | Durch | M. ADAMUM OLEARIUM […]. Schleswig [Jacob zur Glocken] 1647 (Wolfenbüttel, HAB, Sign. A: 263.1 Hist. 2°; online unter http://www.hab.de/bibliothek/wdb [Dezember 2011]). Die Rückreise durch Dagestan ist hier auf S. 503–518 beschrieben. Die überarbeitete und vermehrte Zweitausgabe liegt als Print-Faksimile vor, vgl. Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muskowitischen vnd Persischen Reise. Schleswig 1658. Hg. v. Dieter Lohmeier. Tübingen 1971 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 21). Zur Reise und ihrer Beschreibung vgl. Dieter Lohmeier: Einführung und Werkbibliographie. In: Ebd., S. 3–80, und Uwe Liszkowski: Adam Olearius’ Beschreibung des Moskauer Reiches. In: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. Hg. v. Mechthild Keller. Bd. 1: 9.–17. Jahrhundert. München 1985, S. 223–263. Vgl. darüber hinaus Friedrich von Adelung: Kritisch-Literärische Übersicht der Reisenden in Rußland bis 1700, deren Berichte bekannt sind. St. Petersburg 1846 (ND Amsterdam 1960), Bd. 2, S. 299–305; Karin Unsicker: Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974; Dirk-Gerd Erpenbeck: Eine ergänzende Quelle zur holsteinischen Gesandtschaft nach Persien 1635–1639. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 198 (1983), S. 91–99; Thomas Strack: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius, Hans Egede und Georg Forster. Paderborn 1994.
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Abb. 1: Reiseroute der Gottorfer Gesandtschaft (Lohmeier [Anm. 2], S. *19)
An der Westküste des Kaspischen Meeres, so heißt es hier in der Einleitung, wohnten kriegerische Tartaren, »von Gliedern starck / von Gesichte heßlich / wild vnd grausam«,3 mit langen kohlschwarzen Haaren, gekleidet in derbe Kleider, unzivilisiert und mit mäßigem Eifer in Glaubenssachen, ein Volk von Plünderern und Menschenhändlern, das bei jeder Gelegenheit durchreisende Kaufleute ausraube und sich selbst seinem obersten Anführer nur unwillig beuge. Dass man es 3
Olearius 1647 (Anm. 2), S. 503.
Ovid am Kaspischen Meer
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mit aggressiven Barbaren zu tun hat, bestätigt sich bereits auf den ersten Wegstationen der Gesandtschaft:4 In der dagestanischen Herrschaft Osmin müssen sich die Gottorfer nächtens in einer Wagenburg verschanzen, am 15. April fordern Streitigkeiten in Boinak das erste Todesopfer, und am folgenden Tag kann Olearius selbst, als er sich zu einem Strandspaziergang vom Comitat entfernt, nur mit Mühe den heransprengenden Tartaren entkommen. Erst am 17. April, als man in der Hauptstadt Tarku freundlich empfangen wird, scheint die Gefahr überwunden. Doch dieser Eindruck trügt: Es war aber niemals mit uns gefährlicher gestanden / als sichs allhier anließ. Und wurde die gantze Zeit der 5. Wochen / die wir noch unter den Dagesthanern Tartern zubrachten / fast täglich nichts als von Rauben / Plündern / Morden und Halßbrechen / darmit wir bedräwet wurden / geredet und gehöret.5
In Tarku erfahren die Gottorfer von einem geplanten Anschlag gegen sie und fürchten – eingekesselt zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, vor sich den Feind – um ihr Leben. Zwar lassen sich die Tartaren durch Geldgeschenke freundlich stimmen, doch die Verhandlungen und Gastmähler, zu denen sie nun einladen, sollen lediglich die Abreise der spendablen Gottorfer herauszögern. Diese sehen sich gezwungen, bei widriger Witterung im Lager auszuharren: »Lagen also in den nassen Hütten als die elendste unnd gleich von jederman verlassene Menschen in Hunger / Kummer und Furcht: Seufftzen unnd weinen war bey etlichen tägliche Speise.«6 Es häufen sich die Todesfälle, und am 27. April 1638 ist die Lage verzweifelt: »Wir hatten also immer ein Unglück nach dem andern. […] Es gieng uns in diesem Fall nicht viel besser als denen / die vorzeiten an den Flüssen Babilon in ihrer Gefängnis sassen.«7 Die babylonische Gefangenschaft in Dagestan verlängert sich immer weiter, nicht zuletzt durch das Taktieren des Fürsten Surkow Chan, der vor der Weiterreise in das Herrschaftsgebiet des Sultan Mahmud, eines hinterlistigen Erzräubers, warnt. Als dieser jedoch überraschend die Durchreise gestattet, verlässt die Gesandtschaft am 12. Mai Tarku und gelangt unbedrängt an den Fluss Koisu. Durch Brüggemanns diplomatisches Geschick erwirken die Gottorfer Geleitschutz und verlassen Dagestan am 20. Mai 1638 in Richtung Russland. Olearius gestaltet die Gefahren und Entbehrungen der Dagestanreise mit literarischen Mitteln. Schon seine ethnographisch-geographische Einleitung greift auf geläufige Barbarentopik zurück, und auch im Folgenden stellt Olearius immer wieder die Hinterlist und Aggressivität der Tartaren als charakteristisches Merkmal dieses Menschenschlags heraus. Die ubiquitäre Bedrohung veranschaulichen ausführliche Beschreibungen der Befindlichkeiten im Comitat und narrativierte Einschübe, die von tragischen Einzelschicksalen berichten. Von Beginn an, so
4 5 6 7
Zum Folgenden vgl. Olearius 1647 (Anm. 2), S. 504–507. Ebd., S. 508. Ebd., S. 513. Ebd.
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lässt sich resümieren, wird Dagestan von Olearius zu einem Raum der Angst und Gefahr semantisiert.8 Diese Literarisierung der eigenen Reiseerfahrung prägt auch jene Dichtungen, die Paul Fleming explizit auf Dagestan bezogen hat. Ihnen kommt innerhalb seiner Reisedichtungen9 in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung zu. Die Hinfahrt über das Kaspische Meer im Jahr 1636 hatte Fleming noch in deutscher und lateinischer Sprache besungen. Von der Rückreise durch Dagestan indes berichten, von zwei Namenstaggedichten für Crusius in den Sylvae abgesehen,10 ausschließlich l at e i ni sc he E pi gramme. Soweit ich sehe, existiert kein einziges deutschsprachiges Gedicht Flemings, das ausdrücklich in die Zeit in Dagestan datiert wäre oder auf diesen Reiseabschnitt explizit und ausschließlich einginge. In Dagestan verstummt Fleming als deutschsprachiger Dichter. Erst nach der Ankunft in Terki findet er die deutsche Sprache wieder und blickt in einem
8
9
10
Vgl. etwa die Beschreibung vom Umschlagen der Stimmung im Lager von Tarku oder die Erzählung vom Schicksal des von Tartaren ermordeten Soldaten (Olearius 1647 (Anm. 2), S. 509 u. 513). Das Stimmungsbild, das die Reisebeschreibung zeichnet, spiegelt sich prägnant in den Marginalien des Druckes, vgl. etwa S. 513 in marg.: »Elender Zustand in vnserm Lager« – »Ein Soldate [sic!] wird erschossen« – »Vnser Constabel erschossen«. Vgl. Albert Bornemann: Paul Fleming. Veranlassung zu seiner Reise. Seine Gelegenheitsdichtung. Programm Stettin. Stettin 1899; Hans Rodenberg: Paul Fleming und seine Russlandreise. In: Sinn und Form 5 (1953), S. 232–254; Paul Johansen: Der Dichter Paul Fleming und der Osten. In: Hamburger mittel- und ostdeutsche Forschungen 2 (1960), S. 9–46; Michaeil P. Alekseev: Ein deutscher Dichter im Nowgorod des 17. Jahrhunderts. In: Ders., Zur Geschichte russisch-europäischer Literaturtraditionen. Aufsätze aus vier Jahrzehnten. Berlin 1974 (Neuere Beiträge zur Literaturwissenschaft 35), S. 32–60; Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster, Hamburg 1983 (Zeit und Text. Münstersche Studien zur neueren Literatur 2); Dieter Lohmeier: Paul Flemings poetische Bekenntnisse zu Moskau und Rußland. In: Russen und Rußland aus deutscher Sicht (Anm. 2), S. 341–370; Klaus Garber: Paul Fleming in Riga. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki. Hg. v. Norbert Honsza. Amsterdam 1988, S. 255–308; Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989; Paul Fleming in Rußland. Forschungsinformation. Pädagogische Hochschule Zwickau. Hg. v. Karl-Heinz Hengst u. Dietmar Schubert. Zwickau 1990; Marian R. Sperberg-McQueen: The German poetry of Paul Fleming. Chapel Hill, London 1990; Barbara Sturzenegger: Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming: Topoi der Freundschaft im 17. Jahrhundert. Bern u. a. 1996; Hans-Georg Kemper: Denkt, daß in der Barbarei | alles nicht barbarisch sei. Zur Muskowitischen und Persischen Reise von Adam Olearius und Paul Fleming. In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. v. Xenja von Ertzdorff. Amsterdam 2000 (Chloe 31), S. 315–344; Jochen Schmidt: Du selbst bist Dir die Welt. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht ›In grooß Neugart der Reussen‹. In: Daphnis 31 (2002), S. 215–233; Detlef Haberland: Paul Fleming – Reise, Rhetorik und poetische ratio. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert. Hg. v. Sandra Kersten u. Manfred F. Schenke. Berlin 2005, S. 413–431; Dietmar Schubert: Zeuch in die Mitternacht | in das entlegne Land. Rußlandbilder in den Gedichten Paul Flemings und in der Reisebeschreibung des Adam Olearius. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert. Hg. v. Sandra Kersten u. Manfred F. Schenke. Berlin 2005, S. 433–452. Vgl. Sylv. IV, 7; V, 8. – Dies notiert auch Entner (Anm. 9), S. 497.
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Sonett, das Olearius später in seinen Reisebericht aufnahm, voller Erleichterung auf die überstandenen Entbehrungen zurück.11 Die lateinischen Dagestan-Dichtungen wurden erstmals in den Epigrammata Latina publiziert, die 1649 im Druck erschienen.12 Dem Herausgeber Olearius diente Flemings Handschrift als Vorlage, und er übernahm neben der Anordnung der Epigramme auch die Überschriften und Subscriptiones, die gelegentlich beigegeben sind. Mittels dieser Paratexte hat Fleming selbst insgesamt 28 Epigramme explizit auf die Zeit zwischen 14. April und 20. Mai 1638 datiert oder in Dagestan lokalisiert.13 Er legte, wie schon Heinz Entner feststellt,14 offenbar besonderen Wert darauf, den Entstehungszusammenhang gerade dieser Dagestaner Epigramme, wie ich sie nennen möchte, zu dokumentieren. Die Sonderstellung dieser Epigrammgruppe erweist sich zudem mit Blick auf ihre Anordnung in der Olearius-Ausgabe. Fleming hatte seine Epigramme auf zwölf Bücher verteilt, die jeweils thematische Einheiten darstellen, und Olearius übernahm diese Makrogliederung in die Druckausgabe. In dieser sind die Dagestaner Epigramme, offenbar abhängig von ihrem thematischen Schwerpunkt, auf sechs der zwölf Bücher verteilt. Sie formieren sich hierbei zu distinkten buch11
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Schon zum Auszug aus dem heidnischen Dagestan hatte Olearius Verse von Fleming zitiert (PW IV, 53, V. 365–368; Olearius 1647 (Anm. 2), S. 518). Anlässlich der Ankunft in Terki am 21. Mai 1638 (S. 520) schreibt er: »Der gantze Comitat erfrewete sich hertzlich / daß wir von den wilden / ungetrewen vnd feindseligen Dagesthanischen Tartern befreyet / vnd mit den Russen […] wider umbgehen kunten. Und dauchte uns daß wir schon wider in vnser Vaterland weren. Daher Paul Fleming auff eines seiner guten Freunde Namensstag / so damals einfiehl / folgendes Lied mit lustiger Feder schrieb.« Es folgt Flemings Sonett III, 57: »Auff hundert Ach und Weh / auff tausend Noht und Mühen / | Auff hundert Tausend Leid kömpt ein Tag endlich her / | Der alles Ach und Weh / Noth / Mühe / Leyd / Beschwer | Auff einmahl nimmet hin. […].« PAULI FLEMINGI | GERMANI | Medic. Doct. & Poetæ Laur. Cæsar. | EPIGRAMMATA | LATINA | ante hac non edita. Amsterdam [Johannes Christianus] 1649. Die von Olearius besorgte Ausgabe (der Titelkupfer bezeichnet sie als NOVA EPIGRAM-|MATA | Pauli Fle-|mingi D. | Edita per | M. Adam. | Olearium. | Anno 1649) wurde in Hamburg 1649 neu aufgelegt, vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1494f. Zur Entstehung der Ausgabe vgl. Entner (Anm. 9), S. 532f., und LG 476–483. Die zwölf Bücher der Epigramme wurden aus der Wolfenbütteler Handschrift, deren Inhaltsverzeichnis sie noch erwähnt, offenbar (vom Herausgeber Olearius?) herausgelöst, vgl. ebd. S. 477. Im Einzelnen wurden folgende Epigramme (in Lappenbergs Nummerierung) von Fleming selbst auf den Aufenthalt in Dagestan datiert: Epigr. I, 59, 60; Epigr. VI, 33, 35, 37, 38, 39; Epigr. VII, 30, 31; Epigr. VIII, 31, 32, 37; Epigr. IX, 58, 59, 60, 61, 62; Epigr. X, 31, 33, 34, 35, 36; Epigr. XI, 24, 25, 26, 27, 28, 29. Entner (Anm. 9) zählt »25 datierte und/oder lokalisierte Fleminggedichte« (S. 497), die sich auf Dagestan beziehen. Er unterscheidet hierbei jedoch nicht zwischen den chronologischen Angaben Flemings (die Lappenberg in lateinischen Ziffern abdruckt) und den von Lappenberg lediglich erschlossenen bzw. vermuteten Datierungen (die in arabischen Ziffern abgedruckt sind; vgl. DG 2, 896). Dass beispielsweise Epigr. VI, 32 Pro tempore am 14. April anlässlich des Übertritts über die Grenze nach Dagestan entstanden sei (so Entner, S. 497), ist lediglich eine Vermutung Lappenbergs: Fleming selbst hat das Epigramm weder datiert noch lokalisiert.
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internen Gruppen von (fast durchgehend) aufeinanderfolgenden Dichtungen, die in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang entstanden sind. Ich betone dies, da diese Sonderstellung in Lappenbergs Ausgabe nicht mehr erkennbar ist. Bekanntlich hatte Lappenberg die vermeintlich willkürliche Reihung von Flemings Dichtungen durch den Herausgeber Olearius verworfen15 und die Werke innerhalb der einzelnen Bücher nach ihrer überlieferten oder intuitiv erschlossenen Entstehungszeit neu geordnet – mit dem Ergebnis, dass möglichst alle Dichtungen mit seiner Biographie synchron gehen und sich als eine Art »poetisches Tagebuch«16 präsentieren. Die Problematik dieses Prozedere liegt auf der Hand und soll hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist, dass die chronologische Reihung der Epigramme in Lappenbergs Edition ein Konstrukt ist – ein Konstrukt, das die Sonderstellung der Dagestaner Epigramme, die ja schon in der Ausgabe von 1649 auf mehrere Bücher verteilte, zeitlich-räumlich definierte Gruppen bilden, verblassen lässt. Aufgrund ihrer verbürgten Datierung und Lokalisierung lassen sich die 28 Epigramme (und noch einige weitere undatierte Dichtungen, die zwischen ihnen stehen) auf die einzelnen Stationen der Dagestan-Reise beziehen. Sechs Epigramme thematisieren allgemein den Weg durch Dagestan, fünf sind den beiden ersten Wegstationen zugewiesen, den Herrschaften Osmin und Boinak. Dem Aufenthalt in Tarku widmen sich elf Epigramme, sechs weitere beziehen sich auf die Begegnung mit Sultan Mahmud. Der Dagestanaufenthalt wird nicht nur durch Olearius, sondern auch durch Fleming lückenlos ›dokumentiert‹. Die Fleming-Forschung hat von den lateinischen Epigrammen im Allgemeinen und von den Dagestaner Epigrammen im Besonderen nur am Rande Notiz genommen. Der hier wichtigste Beitrag ist Heinz Entner zu danken, der die Gruppe der Dagestan-Dichtungen für seine Fleming-Biographie auswertet und ihren »Tagebuchcharakter« betont, sich hierbei allerdings auf Lappenbergs Datierung und Reihung der Epigramme verlässt.17 Maria Cäcilie Pohl geht bei ihrem großangelegten motivgeschichtlichen Vergleich mit Olearius auf einzelne Epigramme der Dagestaner Zeit ein, die, so das Ergebnis, vor allem dem poetischen Ornatus dienten und die außerliterarische Wirklichkeit, auf die sie Bezug nehmen, ausschmückten.18 Dass Flemings Epigrammdichtung in überlieferungsgeschichtlicher und poetologischer Hinsicht von den deutschen Gedichten abzugrenzen ist und vor allem auf die poetische Überhöhung der Reiseerfahrungen ins Exemplarische abzielt, versuchte jüngst Detlev Haberland zu zeigen.19
15
16 17 18 19
Vgl. Lappenberg in LG 483: »Ich habe mich darauf beschränkt, bei den lateinischen Gedichten den vom Dichter selbst beabsichtigten Plan rücksichtlich der Eintheilung in Bücher beizubehalten, jedoch in jedem einzelnen derselben, sowie in den angehängten Listen der verlorenen Epigramme eine möglichst genau chronologische Reihenfolge herzustellen.« [Hervorh. d. Verf.] In den Anmerkungen zur Ausgabe wird die ursprüngliche Position des jeweiligen Epigramms in Klammern angegeben. Lappenberg in LG 481. Entner (Anm. 9), S. 497–502. Vgl. hierzu oben Anm. 14. Pohl (Anm. 9), S. 189–326. Haberland (Anm. 9).
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Wenn ich im Folgenden die Dagestaner Epigramme in ihrer Gesamtheit betrachte, so will ich, im Unterschied zur bisherigen Forschung, die erwähnten Bezüge zur außerliterarischen Wirklichkeit we i t gehend aus blenden. Ich konzentriere mich stattdessen auf Flemings Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern, die mir der eigentliche Schlüssel zu diesen Dichtungen zu sein scheint. Ich lese die Dagestaner Epigramme als ein Korpus zusammengehöriger Dichtungen, in denen es um Literarisierung und, ansatzweise, auch Fiktionalisierung der eigenen Reiseerfahrungen geht und in denen die Selbststilisierung des Dichter-Ich vor dem Horizont literarischer Vorbilder im Vordergrund steht. Dies lässt sich zunächst an einer Landschaftsbeschreibung aus Dagestan zeigen. Fertilitas terræ Usminensis Comuicorum (Epigr. VI, 33)20 Hinc diversa Ceres variis assurgit in arvis, quam rigat affusa plurima Nais aqua. Inter Hamadryadum choreas et Oreades inter mulcet oberrantes Panis arundo greges. Hei mihi! sub læta truculenti Lumina larva tristia terribili corpora more necant? Corpora tota chalybs et nil, nisi ferrea mentes! Quomodo conveniunt gens fera, mitis humus? [Über die Fruchtbarkeit des Komücken-Landes Osmin: Vielfältig wächst Ceres hier ringsum auf den Äckern, | die mit herbeiströmenden Wassern die Nais überreich benetzt. | Unter Tanz und Gesang der Hamadryaden und Oreaden | besänftigt Pans Flöte die umhertrabenden Herden. | Aber weh mir! Sinnen nicht unter solch heiterer Maske blutrünstige Fürsten darauf, | den bedrückten Männern einen schrecklichen Tod zu bringen? | Ganz von Stahl bedeckt sind ihre Körper, ihre Seelen ganz aus Eisen! | Wie passen nur wildes Volk und liebliches Land zusammen?]
Dass es hier um die dagestanische Landschaft Osmin geht, stellen lediglich der Paratext und die Erwähnung der lumina (V. 5), der komückischen Anführer, klar. Darüber hinaus fehlen Bezüge auf die außerliterarische Wirklichkeit.21 Man könnte nun die »mitis humus« und die »gens fera« mit etwas gutem Willen im Reisebericht des Olearius wiederfinden, der in einem Nebensatz über »etliche Obstgarten und fetten Acherbaw« in Osmin berichtet und dessen Bewohner, in Rückgriff auf altbekannte Topoi, als Barbaren ausweist.22 Doch was ist damit gewonnen? Entschieden weiter führt es, Flemings poetisches Spiel mit der Antithese in den Blick zu nehmen. Das acumen, die Pointe des Epigramms, ist die unaufgelöste Antithese von »mitis humus« und »gens fera«. Fleming gestaltet sie, indem er die Topik des 20
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Das Epigramm aus dem VI. Buch Flores ist in der Ausgabe von 1649 das vorletzte einer Gruppe von zehn Epigrammen, von denen sich acht direkt auf Dagestan beziehen (es folgen – in Lappenbergs Nummerierung – aufeinander: Epigr. VI, 35; VI, 36; VI, 32; VI, 9; VI, 30; VI, 37; VI, 38; VI, 39; VI, 33 u. VI, 34). Das Oberhaupt der Tartaren heißt, wie Olearius 1647 (Anm. 2), S. 504 erläutert, Schemchal oder lumen. Lappenberg (LG 577) datiert das Epigramm auf den 14. April 1638, als der Comitat in Osmin einzog. Zwingend ist dies nicht. Oleanus 1647 (Anm. 2), S. 504; vgl. Pohl (Anm. 9), S. 246f.
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locus amoenus abruft, um diesen im zweiten Teil als locus horridus zu entlarven: Das muntere Treiben der Nymphen ist nur eine »laeta larva«, hinter der sich ein auf Mord sinnendes Barbarenvolk verbirgt. Dass die bukolische Idylle nur eine Illusion ist, wird überdies ins Mythologische überhöht: Das paradiesische Osmin wird von einer »gens fera« bewohnt, die zugleich eine »gens ferrea« ist. Man wird hierin eine Anspielung auf jenes letzte Menschengeschlecht sehen dürfen, das, wie Ovid sagt, »hart ist wie Eisen«, »de duro ferro« (Ov. met. I, 127). Die Barbarentopik, die Olearius ausschreibt, wird von Fleming in die mythologische Bildlichkeit der Metamorphosen übersetzt: Im saturnischen Osmin, das an Ovids aurea aetas erinnert, ist in Wirklichkeit bereits das letzte Weltzeitalter angebrochen, hier lebt jenes eiserne Menschengeschlecht, das nichts als Betrug, List, rohe Gewalt und Tücke (Ov. met. I, 130f.) kennt. Damit nicht genug. Fleming bezieht in das Spiel mit der Antithese auch seine eigenen Reiseerfahrungen und Reisedichtungen mit ein. Die descriptio der osminischen Idylle erinnert in der Wortwahl deutlich genug an Flemings Gedichte über das paradiesische Rubar oder über Schemachas amöne Schönheit: Schamachie, die Zier der geilen Oreaden, die angenehme Lust der quellenden Najaden, da Pan zu Feld und Tal und Berge ruft und pfeift und nach der Dryas hier, dort nach der Syrinx läuft.23
In Dagestan wird diese Paradiestopik zur leeren poetischen Formel: Die idyllischen Landschaften Persiens sind nur noch Erinnerung, sie prägen anfänglich noch die Wahrnehmung Osmins, werden aber von den dortigen Erfahrungen überlagert und wandeln sich in ihr Gegenteil. Diese poetische Desillusionierung hat auch Auswirkungen auf das Dichten selbst, wie Fleming in einem Epigramm vor Augen führt, das auf den 1. Mai 1638 in Tarku datiert ist: Ad Calendas Majas, MDCXXXIIX (Epigr. VIII, 37) Non rosa, non violæ, fulvo non concolor auro caltha, nec alba rubris lilia iuncta suis; sed rubus et nullo, bene raraque vinca, corymbo hic sedet et duræ carduus hirtus humi. Inter inexcultos nihil ignoratur Iberos, quod nocet, ut scitur nil, quod oblectet agros. Maje, nihil damus hic, tibi demus ut omnia quondam, quum tibi de patria crinis olebit humo Tarcoviæ in Tagostania. [Zum 1. Mai 1638: Nicht Rose und Veilchen, nicht Ringelblumen mit goldgelben Blütenständen, | nicht weiße und rote Lilien gedeihen hier, | sondern kriechendes Gestrüpp und spärlicher Bärwurz ohne Blüten | wachsen hier auf hartem Grund, und die stachelige Distel. | 23
PW IV, 53, V. 155–158. – Vgl. auch die Beschreibung des paradiesischen Rubar (PW III, 55), die Olearius in seinem Reisebericht abdruckt (Olearius 1647 (Anm. 2), S. 475). Zum locus amoenus vgl. Pohl (Anm. 9), S. 246 Anm. 95.
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Unter rohen Hiberern weiß man nur um das, | was dem Lande Schaden bringt. Was ihm Nutzen und Freude verleiht, davon ist nichts bekannt. | Mai, nichts können wir dir hier schenken, doch dereinst wollen wir alles Dir geben, | wenn Dein Haar wieder den Duft von heimatlichem Boden tragen wird. – Tarku in Dagestan.]
Die Farben des Frühlings, die Fleming in den Poetischen Wäldern und in den Oden zu beschreiben nicht müde wird,24 verblassen im Tartarenland. Vom Mai als Jugend- und Liebeszeit der Natur ist keine Rede, ebensowenig von Cupido, der »sich zu eigen schreibt die ganze Frühlingszeit«, wie es in einem Hochzeitsgedicht heißt (PW III, 2, 83). Die Natur ist auch in Dagestan sympathetisch, jedoch nicht mit dem empfindenden Dichter, sondern mit ihren unkultivierten Bewohnern. Der Frühling eignet sich hier nicht für petrarkistische Maigedichte, und die für ihn bestimmten poetischen Gaben können erst nach Rückkehr in die Heimat ausgeliefert werden. In Dagestan muss man anders dichten. Die beiden betrachteten Epigramme zeigen, wie sich die poetische Wahrnehmung des Landes wandelt: Dagestan wird semantisiert als Raum der Entbehrung und Gefahr, in dem die mythologische Idylle zur »laeta larva« wird und in dem petrarkistische Naturbeschreibung nur noch in der Negation möglich ist. Dagestan ist eine humus dura, ein Land, hart, wie seine Bewohner, das die Sehnsucht weckt nach der Heimat und einem Dichten, wie es früher möglich war. Indes: Der Dichter verstummt in dieser Umgebung nicht, sondern findet Wege des poetischen Ausdrucks, die diesem harten Land gemäß sind. Fleming greift hierbei auf ein Modell zurück, das so naheliegend wie passend ist: Die Dagestaner Epigramme rekurrieren, wie schon Entner notiert, immer wieder auf die Exildichtungen des Ovid, auf die Elegien der Tristia und der Epistulae ex Ponto, die an einem benachbarten Meer des Ostens, am Schwarzen Meer, entstanden.25 Die imitatio Ovids in den Dagestaner Epigrammen erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Dass Ovid neben Horaz zu den wichtigsten sprachlichen Vorbildern des lateinischen Dichters Flemings zählt, wird bereits von Tropsch und Rave belegt26 und findet im Osmin-Epigramm seine Bestätigung, das Formulierungen aus den Metamorphosen, Fasti und Tristia anklingen lässt.27 Gleichwohl geht die Nach24
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Vgl. PW III, 2, 106–64; Oden III, 2, 19–34; Oden III, 3, 13–18; Oden III 6, 7–30; hierzu Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963 (Palaestra 234), S. 140ff. Dass Fleming in Dagestan ganz ähnlich wie Ovid am Schwarzen Meer empfand und dass die Dagestaner Epigramme auch auf Ovid rekurrieren, erkennt bereits Entner (Anm. 9), S. 500f. Vgl. Stephan Tropsch: Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung. Graz 1893. ND Hildesheim 1976 (Grazer Studien zur deutschen Philologie); Paul Rave: Paul Flemings lateinische Lyrik. I. Teil: Technik der imitatio antiker Autoren. Heidelberg 1925. Eine über den Nachweis sprachlicher und stilistischer Anleihen hinausgehende Betrachtung findet hier allerdings nur ansatzweise statt. Folgende Similien zu Ovid, dessen Schriften Fleming schon in der Schule kennengelernt hatte, mögen genügen: Zu Epigr. VI, 33, 3 (»Inter Hamadryadum choreas«) vgl. Ov.fast. II, 155f. (»Inter hamadryadas … pars … chori«), met. VIII, 746 (»dryades festas duxere choreas«); zu Epigr. VI, 33, 4 (»mulcet oberrantes Panis arundo greges«) vgl. Ov. trist. IV, 1, 12 (»pastor harundineo carmine mulcet oves«); zu Epigr. VI, 33, 8 (»gens fera«) vgl. Ov. trist. III, 10, 5. Lappenbergs Urteil – »Fleming hat bewunderungswürdig die hergebrach-
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ahmung in den Dagestaner Epigrammen über das Sprachliche, über die Übernahme und Anverwandlung einzelner Junkturen hinaus, wie die Beschreibung der humus dura von Tarku erweist. Ovid beschreibt in seinen Exildichtungen die Gegend von Pontus als Ort eisiger Kälte und ewigen Winters, als einen Landstrich, in dem selbst im Frühling nichts außer kargen Sträuchern gedeiht: non hic pampineis amicitur vitibus ulmus, nulla premunt ramos pondere poma suos. tristia deformes pariunt absinthia campi, terraque de fructu quam sit amara docet. [Nirgends umranken die Reben mit reichem Laube die Ulme, | Äpfel belasten nicht hier Äste mit ihrem Gewicht. | Traurig gedeihen des Wermuts Sträucher auf ödem Gefilde, | und so lässt uns die Frucht sehen, wie bitter das Land. (Übers. Wilhelm Willige)]28
Osmin ist nicht nur jene dagestanische Landschaft, die die Gesandtschaft samt Fleming durchreiste und die Olearius beschrieb. Sie ist zugleich das literarische Gegenstück zu Ovids eisigem Pontus – und wie dieser das Ergebnis poetischer imitatio: Wie Ovid in seinen Pontus-Beschreibungen auf den berühmten Scythen-Exkurs in Vergils Georgica (Verg. georg. III, 349ff.) zurückgreift, so rekurriert Flemings Tarku-descriptio ihrerseits auf Ovid. In beiden Fällen geht die poetische Landesbeschreibung auf persönliche Erfahrungen zurück, dankt ihre sprachliche Ausformung jedoch dem vorgängigen literarischen Modell: Wie bei Ovid werden in den Dagestaner Epigrammen die eigenen Erlebnisse literarisiert und, bis zu einem gewissen Grad, auch fiktionalisiert. Es wäre nun ein Leichtes, für nahezu jedes Dagestaner Epigramm eine Parallelstelle in Ovids Exildichtungen29 anzuführen. Ich beschränke mich auf wenige Beispiele.
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ten Reminiscenzen aus den classischen Dichtern zu vermeiden gewußt; nur zufällig scheinen ihm solche begegnet zu sein« (LG 481) – ist in dieser Bestimmtheit nicht zutreffend (man vergleiche nur das Register der lateinischen Autoren, auf die Fleming rekurriert, bei Rave (Anm. 26), S. 225–253). Tropsch (Anm. 26), S. 18 resümiert: »Fleming billigt Opitzens Empfehlung, die Alten auszuschreiben, und erblickt darin ein Mittel, der deutschen Dichtung auf eine höhere Stufe zu verhelfen. Er ist der lateinischen Sprache in hervorragender Weise mächtig und hat reiche Belesenheit in römischer Dichtung; er meint, gerade infolge dieser seiner Kenntnisse ein ›höheres und reineres‹ Deutsch zu schreiben. Er stellt sich also nach eigenem Bekenntnis unter den Einfluss der römischen Literatur.« Die Arbeit von Tropsch (deren Kritik durch Rave, S. 6ff., reichlich überzogen ist) ist es wert, bei der Diskussion von Flemings Dichtungen wieder stärker beachtet zu werden. Ov. Pont. III, 8,13–16, zit. n. P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque, Ibis, Ex Ponto libri quattuor, Halieutica, Fragmenta. Rec. S. G. Owen. Oxford 1915, ND Oxford 1989 (Oxford Classical Texts); Übersetzung nach Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia – Epistulae ex Ponto. Übertr. aus dem Lateinischen von Wilhelm Willige. Eingel. und erl. von Niklas Holzberg. Frankfurt a. M. 1993. Zu Ovids Exildichtungen vgl. einführend Niklas Holzberg: Ovid. Dichter und Werk. München 1997, S. 181–202; Wilfried Stroh: Tröstende Musen. Zur literarhistorischen Stellung und Bedeutung von Ovids Exilgedichten. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt 2,31,4 (1981), S. 2638–2684. Einen instruktiven Überblick über ihre Nachwirkung
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Ovids desiderium patriae etwa, die schmerzliche Erinnerung an die ferne Heimat, wird von Fleming in Epigrammen aufgegriffen, welche die Trennung von Familie, Freunde und Heimatland in Dagestan nicht nur beklagen, sondern als eigenen Fehler, als eigene Schuld, ja als eigenes Verbrechen bekennen.30 Dieses desiderium erwächst aus Vereinsamung und ständiger Bedrohung im Barbarenland: In Anlehnung an Ovid beschreibt Fleming die geradezu klaustrophobischen angustiae, als die Gesandtschaft in Tarku zwischen kriegerischen Barbaren, unwirtlichem Kaukasus und tosender Kaspischer See eingekesselt ist.31 Die in dieser Situation – tarcoviae, inter miserias campestres (Epigr. VI, 37) – entstandenen Dichtungen zeichnen das eindrückliche Bild der Entbehrungen, die Körper und Geist schwächen und Todessehnsucht wecken: Fleming kombiniert petrarkistische Motive mit denen Ovids und gestaltet das körperlichen Leiden in Rückgriff auf den Gedichttypus De se aegrotante poetisch aus.32 Die gefährdete Identität des Exildichters, der sich auf sich selbst zurückzieht und sich dabei selbst zu verlieren droht, findet in Flemings Epigrammen nur implizit eine Tröstung im Dichten. Die consolatio poetica, das sich Wiederfinden mit Hilfe der Musen und das sich Selbstvergewissern in der »Unanfechtbarkeit der eigenen musischen Existenz«,33 werden eben nicht als Ausweg aus der Krise explizit gemacht. Wenn Fleming das ovidische »Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war«, »non sum, quod ego fueram« (trist. III, 11, 25), nachbildet und in Tarku bekennt »In me nil veteris vivit ovatque mei«, »Nichts meines alten Lebens lebt mehr in mir«, so öffnet sich für den poeta exul hier eben keine Perspektive auf musische Erlösung.34 Die Transformation vom Musenfreund zum Exildichter
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in der humanistischen Lyrik gibt Jörg Robert: Exulis haec vox est. Ovids Exildichtungen in der Lyrik des 16. Jahrhunderts (Caspar Ursinus Velius, Conrad Celtis, Petrus Lotichius Secundus, Joachim Du Bellay). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (2002), S. 437–461. Zum ubiquitären Einfluss Ovids vgl. darüber hinaus Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. In Zusammenarbeit mit Christof Bodamer, Lutz Claren, Joachim Huber, Veit Probst, Wolfgang Schibel und Werner Straube ausgew., übers., erl. und hg. v. Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel u. Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 5). Zum Typus Reisedichtung vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraumes im 16. Jahrhundert. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritalia 12). Zum desiderium patriae, das Fleming in Epigr. VI, 35 u. VIII, 30 besingt, vgl. etwa Ov. trist. III, 3; III, 7; III, 8 sowie Pont. I, 8. Zu Epigr. VII, 30, X, 31 u. X, 33 vgl. etwa Ov. trist. X, 10, Pont. I, 2 u. insbes. trist. II, 1, 187–196. Epigr. VI, 37 u. 38, VII, 31 u. VIII, 35 greifen petrarkistische Motive wie das körperliche Leiden des Liebenden oder die Todestopik auf (vgl. Pyritz (Anm. 24), S. 106, 118f., 191) und rekurrieren zugleich auf Ovids desiderium mortis (vgl. etwa Ov. trist. I, 5, 6; trist. III, 8, 23–40; trist. IV, 6, 39–50; Pont. I, 2, 57f.; Pont. I, 10). Vgl. zudem Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden. Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chythraeus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Wilhelm Kühlmann. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 1–29. Kühlmann (Anm. 32), S. 11–14, hier S. 13. Zu Epigr. VII, 31, 6 In me nil veteris vivit ovatque mei vgl. das petrarkistische ›Widersich-Sein‹, auf das Pyritz (Anm. 24), S. 82f. u. 158, hinweist. Ovid gestaltet das Motiv des
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erscheint in Flemings Epigrammen vielmehr irreversibel: Der Dichter verzichtet auf ein trotziges »und dennoch dichte ich« und inszeniert die Dagestaner Krise als todesnahe Endzeit eines Dichterlebens, in der von stoischen Gelassenheit nicht einmal ansatzweise etwas zu vermerken ist. Diese Beispiele für eine Ovid-imitatio, die von einzelnen Zitaten über Motivübernahmen bis hin zu Kontrafakturen reicht und selbst bestimmte Redekonstellationen wie die Wendung an Freunde oder gegen Kritiker umfasst,35 ließen sich vermehren. Sie belegen, wie der Dichter in einen intertextuellen Dialog mit Ovid eintritt, der nicht nur die verba, sondern auch die res des Dichtens umfasst und diese in einer an tradierten literarischen Ausdrucksformen orientierten Weise zur Anschauung bringt.36 Die ovidischen Gedichte sind der lockere, stets präsente Bezugsrahmen, den Fleming nahezu durchgehend voraussetzt. Er steht hierbei in einer Tradition, die seit dem 15. Jahrhundert in verstärktem Maße Ovid als »Modellfall des Dichters in krisenhafter Gefährdung« in den Blickpunkt rückte.37 Wie Ovids Exildichtungen im 16. Jahrhundert für Poeten wie Ursinus Velius, Celtis, Lotichius oder Du Bellay vorbildlich und zum Gegenstand autobiographisch gefärbter imitatio wurden, zeigt Jörg Robert in einem luziden Überblick auf. Seine These, dass »die persona Ovidii dem frühneuzeitlichen Dichter-Ich eine Modellierung der eigenen, kontingenten Leiderfahrung am klassischen exemplum« ermögliche,38 lässt sich für Flemings Dagestaner Epigramme nur bestätigen. Dies im übrigen umso mehr, als sich Flemings Ovid-imitatio nicht nur implizit erschließen lässt. Das Dichter-Ich selbst beruft sich vielmehr, wie bereits Stephan Tropsch 1895 notiert,39 ausdrücklich und mehrfach auf Ovid. Dass es sich nicht um eine durch die genannten Ovid-Kenner des 16. Jahrhunderts vermittelte Rezeption handelt, bestätigt Flemings Epigr. VIII, 33, das in der Ausgabe von 1649 dem verhinderten Maigedicht fast unmittelbar vorausgeht: Assimilatio (Epigr. VIII, 33) Nasonem celebrant de ponto Tristia lævo, de Scythico referant me mea Dura lacu. Ille Getas inter passus sævissima planxit, inter ego rigidos vix leviora Scythas. Carmina Naso suæ fecit concordia sorti, ipse patro fatis non aliena meis. Sic canimus cadimusque simul, sed dispare fato. Ejus ovant, mecum sed mea scripta cadunt.
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»Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war« zumal in den Tristia immer wieder aus, vgl. Ov. trist. IV, 8; trist. III, 11, 25 »non sum, quod ego fueram«; trist. V, 12, 31f. »Contudit ingenium patientia longa laborum | et pars antiqui nulla uigoris adest.« Zu Ovids Elegien an Freunde und Kritiker vgl. etwa Flemings Dichtungen auf den Namenstag des Crusius (Sylv. IV, 7; Epigr. VIII, 36) oder seine Kritikerschelte in Epigr. VIII, 34 (vgl. Ov. trist. I, 8!). Zu dieser Technik in der Lyrik des 16. Jahrhunderts vgl. Robert (Anm. 29), S. 440. Robert (Anm. 29), S. 444. Ebd., S. 461. Vgl. Tropsch (Anm. 26), S. 10ff.; Rave (Anm. 26), S. 73; Entner (Anm. 9), S. 501.
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[Vergleichung: Von Ovids Ruhm künden die Trauerlieder vom unwirtlichen Pontus, | von mir sollen vom Skythischen Meer meine Dura berichten. | Jener beklagte das unsägliche Leid, das er unter Geten erduldete, | ich das kaum geringere unter rohen Scythen. | Lieder schuf Ovid, die sein Schicksal spiegelten, | und auch ich dichte, was meinem Geschick entspricht. | So singen und sinken wir beide, jedoch mit unterschiedlichem Ende: | Seine Werke feiern Triumphe, die meinen aber gehen mit mir unter.]
Schon in Nowgorod hatte sich Fleming, wie Dieter Lohmeier zeigt, als zweiter Ovid stilisiert, der von den Schönheiten Russlands, seinen Flüssen und seinen unverdorbenen Völkern künden wolle. Ovids Exildichtungen werden hier noch ›gegen den Strich‹ gelesen.40 In Dagestan jedoch dienen sie als Modell des poeta exul, an dem sich biographische Parallelen zwischen Ovid und Fleming aufzeigen lassen: Schwarzes neben Kaspischem Meer, Geten neben Scythen, gemeinsame Entbehrungen in der Fremde, Dichtungen, die gleichermaßen das eigene leidvolle Geschick besingen. Wesentlich ist, dass die Parallelisierung der vitae ausdrücklich auch das Dichten und das Selbstverständnis des Dichter-Ichs umfasst. Was für Ovid die Tristien, die »Trauergesänge«, sind für Fleming seine »Leidensdichtungen«, die Dura.41 Das Korpus der Dagestaner Epigramme, das sich aus dem räumlichen, zeitlichen und überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang einzelner Epigramme erschließen ließ, erhält hier einen eigenen Titel, gleichsam eine Buchüberschrift – und diese ist, programmatisch genug, den Exilelegien Ovids nachgebildet. Die assimilatio der Vita und der Rolle des poeta exul umfasst dabei selbst jenen Aspekt, der auf den ersten Blick das Geschick des Ovid von dem Flemings unterscheidet. Dies belegt das Epigramm, mit dem die Dagestaner Gruppe im X. Buch der Ausgabe von 1649 beginnt: Miseriæ (Epigr. X, 35) Nunc aliquem tandem consortem sortis habebas, Naso, Tomitanæ flebilis hospes humi. Pulsus ad Euxinum fueras a Cæsare pontum: trusit ad Hyrcanum me Jovis ira lacum. Exul eras. Mihi væ! titulo truciore notabor: sponte, nec ex caussa sic fugitivus eo. Fiet, ut exilium Geticis te fregit in oris, exitium Scyticos me necet inter agros. Inter Tartaros. [Entbehrungen: Nun endlich hattest du einen Schicksalsverwandten, | Ovid, du leidgeprüfter Gast in tomitanischem Land. | Vom Kaiser warst du an das Schwarze Meer vertrieben wor40
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Vgl. Lohmeier (Anm. 9), S. 348: »Er las Ovids in Tomi geschriebene Gedichte gewissermaßen gegen den Strich, indem er die Klage des Römers über seine Verbannung in die Barbarei zu einer Lobrede auf das Asyl bei unverdorbenen Völkern umdeutete.« Vgl. hierzu insbes. PW IV, 21, 33ff. Zum Bild des Ovidius alter vgl. darüber hinaus Sonn. II, 9, 9f. (an Opitz, den maro noster) sowie den Brief des Olearius an Fleming, der sich in Nowgorod aufhält (20. März 1634): »Interim Tu temporis tædia falle tereque gaudio poetico ad modum Nasonis ad Pontum relegati« (DG 2, 590). Vgl. auch Entner (Anm. 9), S. 501.
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den. | Mich verschlug Jupiters Zorn an die Kaspische See. | Du warst ein Verbannter. Weh mir! Mich zeichnet ein weit schlimmerer Makel: | Denn freiwillig, nicht aus Zwang bin ich Flüchtling. | Mag sein, dass das Exil an getischem Gestade dir das Herz brach. | Mir dürfte der freiwillige Abschied auf Scythischen Fluren den Tod bringen! – Unter Tartaren.]
Ovid hatte sich bekanntlich durch seine Liebeskunst und ein ungenannt bleibendes Vergehen den Zorn des Augustus zugezogen und wurde daher nach Tomi verbannt. Er ist ein exul ex causa. Fleming hingegen ist ein Flüchtling, der aus eigenem Antrieb, sponte, die vom Krieg verheerte Heimat verließ, in die Fremde zog und hier den Tod zu finden fürchtet. Der eine ging gezwungenermaßen, der andere freiwillig ins Barbarenland. Diese vermeintliche Abgrenzung zu Ovid wird jedoch unterlaufen, indem Fleming vor der Folie von Ovids culpa sein eigenes ›Vergehen‹ thematisiert und zu einem noch schwerer wiegenden scelus stilisiert. Explizit wird dies in einem nachfolgenden Epigramm, das im April 1638 »in castris ad Poinacum«, im Lager bei Boinak entstand: Conscientiæ latratus (Epigr. X, 32) Astra lacessivi, fraudavi jura, fefelli cum genitrice patrem, cumque sorore bonos. Hinc timor, hinc tremor hic, hinc pallor hic ora profanans, quum monet ultoris fulmen herile Dei. Dura nimis patior, tamen inferiora reatu: funere debueram deteriore mori. Omnia dum fateor, tamen eloquar omnia nunquam. O mea quam nulla crimina morte luam! Ibidem. [In castris ad Poinacum]. [Gewissensbisse: Die Sterne forderte ich heraus, betrog Recht und Gesetz, | hinterging Vater und Mutter, Schwester und Freunde. | Daher rühren meine Angst und mein Schaudern an diesem Ort, daher die Bleiche, die mein Antlitz entstellt, | wenn mich der mächtige Blitz des rächenden Gottes mahnt. | Allzu harte Entbehrungen erdulde ich, und dennoch geringeres, als meine Schuld fordert. | Längst hätte schlimmeren Tod ich sterben müssen. | Würde ich alle gestehen, so könnte ich doch niemals alles in Worte fassen. | Weh, selbst mit meinem Tod könnte nie ich meine Verbrechen sühnen! – Ebendort. Im Lager bei Boinak.]
Das Epigramm entstand, ebenso wie das Vorausgehende, in verzweifelter Lage. Fleming reflektiert diese in bitteren Selbstvorwürfen. Der Gestus der Selbstanklage, die harschen Anwürfe gegen das eigene Tun, das in diese ausweglose Lage geführt habe, das bittere Bekenntnis eigener Schuld, die Todesnähe des Verzweifelten – all dies sind Motive, die sich allenthalben in Ovids Exildichtungen wiederfinden. Flemings Epigramm erweist sich darüber hinaus gar als Kontrafaktur zu Ovids programmatischer Reflexion über die eigene culpa, die man in der Eingangselegie der Epistulae ex Ponto liest: Paenitet, o! si quid miserorum creditur ulli, paenitet, et facto torqueor ipse meo. cumque sit exilium, magis est mihi culpa dolori; estque pati poenam, quam meruisse, minus.
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ut mihi di faveant, quibus est manifestior ipse, poena potest demi, culpa perennis erit. mors faciet certe, ne sim, cum uenerit, exul; ut non peccarim mors quoque non faciet. (Ov., Pont. I, 1, 59–66) [Oh, ich bereue – wenn nur einem Elenden etwas geglaubt wird – | ja, ich bereue: auch mich peinigt es, schuldig zu sein. | Ist die Verbannung auch schmerzlich für mich, noch mehr ist’s mein Fehltritt: | Strafe erdulden ist schlimm, Strafe verdienen ist’s mehr. | Stehen die Götter mir bei und Er, sichtbarer als alle, | kann man die Strafe mir zwar nehmen, die Schuld aber bleibt. | Sicher befreit mich der Tod, wenn er kommt, aus meiner Verbannung; | doch von dem Fehltritt kann nicht der Tod mich befreien. (Übers. Wilhelm Willige)]
Die immer wieder gesuchte assimilatio zu Ovid beschränkt sich also nicht auf die parallelisierte Biographie, auf die Gemeinsamkeit im Leiden oder auf die geteilte Bedrohung im Barbarenland. Sie erschöpft sich auch nicht im desiderium patriae und geht nicht im Gestus der Klage auf, der Ovids Tristia ebenso prägt wie die Dura Flemings. Die assimilatio reicht weiter: Der Rekurs auf Ovid ist Grundlage und Medium einer Autoreflexion, die nicht vordergründig einem poetischen Modell nachgebildet ist, sondern in diesem Modell aufgehen soll. Beiden Dichtern ist das Barbarenland Ort der Leiderfahrung und Raum poetischer Selbstinszenierung zugleich. Fleming will als alter Naso verstanden werden – als ein Ovid am Kaspischen Meer. Die Dagestaner Epigramme erwiesen sich als ein Korpus zeitlich und räumlich zusammengehöriger Dichtungen, die sich durch eine weitreichende Ovid-imitatio auszeichnen. Die poetischen Referenzen zu Ovids Parallel-vita wurden von der Forschung längst bemerkt. Entscheidend ist, dass Fleming es dabei nicht bewenden ließ, sondern mindestens 28 eigene Dura verfasste, die als Gegenstück zu Tristia und Epistulae ex Ponto konzipiert sind: als ein autobiographisches und gleichermaßen autopoietisches Pendant, in dem sich vita und künstlerisches Selbstverständnis des poeta exul spiegeln. Dass Fleming die Dagestan-Reise ausschließlich in lateinischen Epigrammen gestaltete, dankt sich wohl der Tatsache, dass er in Ovids Exildichtungen ein Modell fand, das sich zur poetischen imitatio und Selbstinszenierung als poeta exul anbot und zugleich die Fortsetzung traditioneller Ausdrucksformen ermöglichte, die unter anderem in der neulateinischen Dichtung des 16. Jahrhunderts vorgebildet waren. Der bisher nicht beachtete Umstand, dass diese Epigramme innerhalb der Epigrammbücher von 1649 distinkte Gruppen bilden, bestätigt die Vermutung,42 dass Flemings wiederholte Erwähnung der Dura ernst zu nehmen ist: Es spricht einiges dafür, dass die Dagestaner Epigramme eine ursprüngliche Gruppe von ›Exildichtungen‹ bildeten, die womöglich nur deshalb nicht als eigenständiges Epigrammbuch der Dura erhalten blieben, da sie in ihrer 42
Schon Entner (Anm. 9), S. 501 vermutet, dass die Dagestaner Epigramme ursprünglich ein eigenes Buch der bilden sollten, dass dies letztlich aber womöglich aufgrund der Scheu des Dichters vor dem öffentlichen Wettbewerb mit Ovid oder vor dem Ausbreiten persönlicher Erfahrungen unterblieben sei.
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weitreichenden, gruppenkonstituierenden Ovid-imitatio einen Sonderfall unter Flemings Epigrammen darstellen. Für das Verständnis von Flemings Epigrammdichtung sind die Dagestaner Dura aufschlussreich. Dass sie weit mehr als nur ein poetisches Reisetagebuch sind, sollte deutlich geworden sein. Die poetische Gestaltung lediglich als rhetorischen ornatus zu verstehen, in den Reiseerfahrungen eingekleidet werden, und in ihr nur das Ergebnis einer artifiziell-unverbindlichen imitatio klassischer Vorbilder zu sehen, hieße, die Mehrstimmigkeit dieser Dichtungen zu überhören. Denn in ihnen avanciert die poetische Form selbst zum Bedeutungsträger. Dagestan ist nicht nur eine ungemütliche Landschaft am Kaspischen Meer, sondern vielmehr ein genuin literarischer Raum, der dem poeta exul als Kulisse dient, um das eigene Geschick und das eigene Dichten im intertextuellen Rückgriff auf das (in der Tat ›nahe liegende‹) Modell Ovid auszustellen und zu spiegeln. Flemings Dura sind in dem Maße Gelegenheitsdichtungen, wie man Ovids Exilelegien als Gelegenheitsdichtungen bezeichnen würde.43 Es handelt sich vielmehr um poetische ›Ego-Dokumente‹, die, wie Wilhelm Kühlmann es mit Blick auf die Lyrik des 16. Jahrhunderts formuliert, die literarische »Selbstverständigung im Leiden« tragen und hierzu auf ein vorbildliches Modell autobiographischer Selbstdarstellung zurückgreifen.44 Gerade vor diesem Horizont bleibt hervorzuheben, dass Fleming die thematisch flexible Gattung des lateinischen Epigramms45 der Elegie als flebile carmen annähert und deren Schlüsselbegriffe einer Semantik des Trauerns übernimmt. Der ›werbende‹ Charakter von Ovids Exilelegien allerdings, die das Werben um die Geliebte in den erotischen Elegien in ein Werben um Erleichterung des Exils verwandeln, verblasst bei Fleming: Gerade den Epigrammen, die das Leiden im Barbarenland thematisieren, fehlt der Gestus des Überzeugen-Wollens, des Argumentierens. Sie sind vielmehr zu weiten Teilen deskriptiv, konstatierend, reflektierend, pflegen den Gestus der Selbstbeschreibung, Selbstanalyse und Selbstanklage und verweisen damit vor allem zurück auf das Dichter-Ich selbst: Die Grundbefindlichkeit des Ichs, die miseria, rückt in den Mittelpunkt eines Dichtens, das in der immer wieder eingenommenen Attitüde unmittelbaren Ausdrucks die autobiographische Qualität der carmina intensiviert. Über den intertextuellen Dialog mit Ovid findet der Poet in Dagestan insofern zurück zu sich selbst. Es geht, pointiert gesagt, in seinen Dura nicht in erster Linie um »der Komücken Grimm, die Frechheit der Usminen« oder das schlechte Wetter an der Kaspischen See. Es geht vielmehr um Fleming und um sein Dichten.
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Vgl. Holzbergs (Anm. 29) Resümee zu Ovids vermeintlich ›autobiographischen‹ Exildichtungen (hier trist. IV, 1): »Das Spiel mit dem elegischen System wirkt auch auf diesen Text zu stark, als dass es gestattet wäre, ihn einfach als Datenbank zur historischen Rekonstruktion einer Vita zu benutzen.« (S. 35). Vgl. Kühlmann (Anm. 32). Dass Fleming an Vorgänger wie Velius, du Belly oder Lotichius anknüpfen konnte, wurde erwähnt. Sicherlich ließen sich weitere Belege und Parallelen aus dem 17. Jahrhundert finden. Vgl. Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979 (Germanistische Abhandlungen 49); Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 9).
Maximilian Bergengruen
Die epigrammatische Überschrift Zu einem Strukturmerkmal von Paul Flemings Reisegedichten Holstein in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts: Über den eigentlichen Grund der Reise herrscht Stillschweigen. Aber es ist doch ein offenes Geheimnis, dass Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1597–1659) im lukrativen Orienthandel eine Möglichkeit sieht, den verschuldeten Staatshaushalt seines Landes, genauer: des Gottorfer Anteils von Schleswig-Holstein, zu sanieren. Die Gelegenheit scheint günstig, den Holländern ihre Vormachtstellung auf diesem Gebiet streitig zu machen: Persien bietet seit der Regierung von Schah Abbās I. (1537–1629) die für eine Handelsbeziehung notwendigen stabilen Machtverhältnisse. Und was noch wichtiger ist: Der Transitweg scheint sicher zu sein. Seit der Thronbesteigung des Zaren Michail Fedorovič Romanov 1613 ist in Russland die Zentralgewalt neu gefestigt – und damit der Weg zum Kaspischen Meer sicher. Aus diesem Grunde schickt Friedrich, nach Vorverhandlungen in Moskau und Stockholm, im Jahre 1633 eine Gesandtschaft von 34 Personen über Russland nach Persien. An der Spitze dieses Gefolges stehen der Rechtsgelehrte Philipp Crusius, der für die der Gesandtschaft »anbetrawete fürstliche Reputation«1 verantwortlich zeichnet, und der Kaufmann Otto Brüggemann, der die eigentlichen Verhandlungen in Moskau und Isfahan führt; sehr, in den Augen der meisten Mitglieder sogar: zu eigenmächtig. Mit von der Partie sind außerdem zwei Freunde aus Leipziger Zeiten: Adam Olearius (eigentl. Oehlschlegel; 1599–1671) und der Dichter Paul Fleming (1609–1640), beide wahrscheinlich seit 1532 befreundet. Olearius, der sich der holsteinischen Reisegesellschaft als Gesandtschaftssekretär anschließt, verschafft Fleming in dieser Eigenschaft eine Anstellung als Hofjunker und Truchsess. Die Gesandtschaft beginnt ihre Reise am 8. November 1633 in Travemünde. Die Schiffsroute verläuft über die Ostsee nach Narwa, von dort auf dem Landweg über Novgorod (Groß-Neugart) nach Moskau, wo die Holsteiner am 14. August 1634 eintreffen. Hier stockt die Reise, weil sich der Zar nach durchaus erfolgreichen Verhandlungen die Pauschale von 600 000 Talern für die Transitrechte der Orientwaren vom Herzog bestätigen lassen möchte. Die Holsteiner müssen also umkehren, wobei ein Teil, darunter Fleming, in Reval verbleibt. Die nach der Rückkehr neuerlich aufgebrochene, noch einmal vergrößerte Gesandtschaft erreicht, nach einem dramatischen Schiffbruch vor Hochland, Moskau erst wieder am 29. März 1636.
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Adam Olearius: Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse. Hg. v. Dieter Lohmeier. Tübingen 1971 (ND der Ausg. Schleswig 1656), S. 86.
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Maximilian Bergengruen
Auch der zweite Abschnitt der Reise – von Moskau nach Isfahan über die Wolga und das Kaspische Meer – ist voller Widrigkeiten und Verzögerungen: Streitigkeiten mit russischen Kaufleuten (die um ihr Monopol fürchten), ein weiterer Schiffbruch sowie Irritationen in der Kommunikation mit den Persern – all dies hat zur Folge, dass die Gesandten erst am 3. August 1637 in Isfahan eintreffen, der persischen Residenzstadt und damit dem Ziel ihrer Reise. Brüggemann scheitert jedoch hier mit seinem Plan, in Verhandlungen mit Schah Sefi den Niederländern ihre Vormachtstellung im Orienthandel streitig zu machen. Und so kehrt die Gesandtschaft schlechterdings unverrichteter Dinge über Moskau nach Gottorf zurück. Die Rückreise gestaltete sich ähnlich mühsam wie die Hinreise, so dass die gesamte Delegation erst am 1. August 1639 in Gottorf eintrifft, fast volle sechs Jahre nach dem ersten Ausschiffen – und all das mit beinahe leeren Händen.2 Im Folgenden sollen mehrere Gedichte Flemings vorgestellt werden, die dieser auf der erwähnten Reise verfasst hat. Anhand ihrer möchte ich einen Gemeinplatz der Forschung diskutieren, der besagt, dass Fleming mit »verbundenen Augen gereist« sei. Damit ist gemeint, dass er seine Gedichte nur nach der literarischen Tradition ausgerichtet und dafür die Beschreibung von Natur und Menschen in Russland und Persien ausgespart habe (1.). Dagegen werde ich einwenden, dass Flemings – unbestrittene – Ausrichtung nach der literarischen Tradition die Thematisierung der eigenen Erfahrung nicht unbedingt ausschließt. In diesem Zusammenhang lege ich mein Augenmerk auf die bisher unbeachteten Titel der jeweiligen Gedichte und zeige, dass über sie – und zwar mittels eines scharfsinnigen literarischen Bezugs auf Scaligers Epigramm-Theorie – ein direkter Bezug zu den Orten und Zeitpunkten der Reise aufgebaut wird (2.). Dementsprechend sind die Gedichte aus dem kontrapunktischen Zusammenspiel von reisebezogenem Titel und (mehr oder weniger) reiseunabhängigen Versen zu lesen (3.).
1. Die Reise mit verbundenen Augen: Flemings traditionsgebundenes Schreiben Ich schrieb oben, dass die Gesandtschaft mit beinahe leeren Händen aus Persien nach Gottorf zurückgekehrt sei. Denn aus heutiger Sicht besteht der eigentliche Ertrag der Reise in dem ausführlichen Bericht, den der Gesandtschaftssekretär Adam Olearius über sie verfasst hat: die Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Rejse […], Schleswig 1647 und, in zweiter Auflage, die Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse […], Schleswig 1656.
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Vgl. die präzise Rekonstruktion der Reise bei Lohmeier: Nachwort, zu: Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 9*ff., sowie Hans Müller: Mit Olearius in Persien: Paul Fleming. In: Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hg. v. Ulrich Haarmann u. Peter Bachmann. Beirut/Wiesbaden 1979, S. 471–482, hier S. 471–476.
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Paul Fleming wiederum hat – in deutscher und lateinischer Sprache – auf dieser Reise einen großen Teil seiner Gedichte verfasst, von denen Olearius wiederum vierzehn in seine Reisebeschreibung eingerückt hat.3 Zwei von ihnen haben einen hohen Bekanntheitsgrad: »Auff deß hooch-gelährten H. Oleariens […] Reede / über dersoselben erlittenem Schifbruche auff Hoheland / im Nov: deß m.dc.xxxv. Jahrs« und, noch bekannter, das Gedicht »In grooß Neugart der Reussen / m. dc. xxxiv.«,4 das Olearius freilich so abdruckt, dass es, durchaus sinnentstellend, mitten in einem Sätze Flemings beginnt.5 Wahrscheinlich war es diese Juxtaposition zweier Textsorten, welche die Forschung dazu veranlasst hat, Olearius’ Reisebericht und Flemings Reisegedichte miteinander zu vergleichen. Und trotz des Versuchs, die Unterschiedlichkeit des Genres in Rechnung zu stellen, war die Verwunderung darüber groß, dass sich in Flemings Gedichten, der wie gesagt sechs Jahre auf Reisen war, so wenig »Landeskunde«6 von Russland und Persien findet. Die geradezu topische Haltung der Forschung lässt sich mit einer häufig wiederkehrenden Formulierung fassen: Die Gedichte Flemings wirkten so, heißt es, »als wäre er mit verbundenen Augen gereist«.7 Dieser Eindruck ist wohl auch deswegen entstanden, weil mit Olearius’ Reisebeschreibung ein Gegenexempel bereitsteht, das auf die weit geöffneten und nicht durch Tradition verklebten Augen seines Autors unmissverständlich hinweist. Olearius bekennt sich nämlich in der Leservorrede zu seiner Reisebeschreibung selbstbewusst dazu, sowohl von den antiken Autoritäten wie auch von den »newen Scribenten« abgewichen zu sein, »weil sie es gemeiniglich einer aus den andern schreiben«. Gegen diese Reiseliteratur aus zweiter Hand gilt für ihn, sozusagen als epistemische Prämisse seiner Arbeit: Was ich gleichwol selbst mit meinen Füssen betreten / mit meinen Augen gesehen (welches ob es von andern auch allezeit geschehen / ich sehr in zweiffel ziehe) vnd also ein anders erfahren / schewe ich mich nicht zu schreiben / zumahl / weil noch viel lebendige Zeugen / welche mit vns gewesen / vnd vieler Sachen mit wissend / vorhanden seynd.8
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Vgl. hierzu Detlef Haberland: Paul Fleming – Reise, Rhetorik und poetische ratio. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Hg. v. Sandra Kersten u. Manfred Frank Schenke. Berlin 2005, S. 413–482, hier S. 419. TP 79ff. u. 70ff. (vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band). – Zur Edition vgl. Klaus Garber: Paul Fleming (1609–1640). Zum 400. Geburtstag des Dichters. In: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 626–630, hier S. 627f., und den Aufsatz von Dieter Martin in diesem Band. Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 329f. Haberland: Paul Fleming (Anm. 3), S. 425. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 377. Vgl. hierzu auch Hans-Georg Kemper: ›Denkt, dass in der Barbarei / alles nicht barbarisch sei!‹ Zur ›Muscowitischen vnd Persischen Reise‹ von Adam Olearius und Paul Fleming. In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. v. Xenja von Ertzdorff u. Rudolf Schutz. Amsterdam 2000, S. 315–344, hier S. 339. Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. XIV.
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Die eigene Erfahrung9 und die Zeugen zu deren Bestätigung – das scheint dem Reiseberichterstatter Olearius wichtiger zu sein als das bisher tradierte Wissen. Diese Vorgabe, so die einmütige Meinung der neueren Forschung, gilt für Fleming nicht. Seine Gedichte aus der Zeit der Reise, welche die dort gemachten Erfahrungen thematisieren, sind sehr stark von der Tradition geprägt: von dem jeweiligen Genre, der dazu gehörigen Topik sowie der philosophischen Ausrichtung. Und wenn Fleming doch einmal über Natur und Menschen in Russland oder Persien schreibt, dann scheint es so, also ob dies »nie um ihrer selbst willen« geschehe, seine diesbezüglichen Ausführungen vielmehr nur als »Aufhänger«10 dienten für literarische Produkte aus dem Geist von Panegyrik,11 Bukolik12 oder Mythologie;13 für neustoische Betrachtungen,14 Anverwandlungen von Ovids Epistulae ex Ponto15 oder petrarkistische Liebesdichtung.16 Fleming bemüht also, in einem Wort, eine Tradition, die auch an jedem anderen Ort der Welt – und insbesondere zu Hause – aufgerufen werden könnte. Wiewohl ich andere Schlüsse aus diesem Befund ziehe, möchte ich doch zu Beginn meiner Argumentation Flemings traditionsgebundenes Schreiben auf der Reise anhand zweier literarischer Beispiele vorführen: des Sonetts An die Wolge zu Niesen und des oben bereits erwähnten Gedichts In grooß Neugart der Reussen / m. dc. xxxiv. Beginnen wir mit An die Wolge zu Niesen. Der Ort ist Niesen oder NischniNovgorod, der Zeitpunkt Juli 1636. Die Gesandtschaft plant die Weiterreise auf der Wolga nach Astrachan. Bei Olearius ist dazu zu lesen: 9
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Das entspricht der zeitgenössischen Wertschätzung der Empirie. Denn mit Harsdörffer haben wissenschaftliche Untersuchungen dann einen »unwidersprechlichen Grund«, wenn gilt: »Das Aug kan so wol und gewiß erkennen / was weiß / oder was schwartz ist / als der Verstand die Warheit von der Falschheit unterscheidet« (Georg Philipp Harsdörffer/Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden. Hg. v. Jörg Jochen Berns. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1990f. (ND der Ausg. Nürnberg 1636ff.), Bd. III, S. 16). Vgl. hierzu Maximilian Bergengruen: Die Wahrheit der Illusion. Zur literarischen Mobilisierung von Experienz in Harsdörffers ›Erquickstunden‹ und ›Frauenzimmer Gesprächspielen‹. In: ›Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‹. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Hg. v. Michael Gamper u. a. Göttingen 2009, S. 196–221. Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster/ Hamburg 1993, S. 231 u. 244. Vgl. ebd., S. 285ff. Vgl. hierzu Dieter Lohmeier: Paul Flemings poetische Bekenntnisse zu Moskau und Russland. In: West-östliche Spiegelungen. Bd. I: Russen und Russland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert. Hg. v. Lew Kopelew. München 1985, S. 341–370, hier S. 355ff. Vgl. hierzu Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. London u. a. 1990, S. 133, mit Rekurs auf Manfred Beller: Thema, Konvention und Sprache der mythologischen Ausdrucksformen in Paul Flemings Gedichten. In: Euphorion 67 (1932), S. 157–189, hier S. 177. Vgl. hierzu Jochen Schmidt: ›Du selbst bist dir die Welt‹. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht ›In groos Neugart der Reussen‹. In: Daphnis 31 (2002), S. 215–233. Vgl. hierzu Stefan Tropsch: Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung. Graz 1895, S. 11ff., und Lohmeier: Bekenntnisse (Anm. 12), S. 347f. Vgl. hierzu Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963.
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Als wir biß zu außgang des Hewmonats vor Nisen gelegen / vnd gewar wurden / daß das Wasser […] geschwinder zu fallen begunte / eilten wir auch fortzugehen. Dann die Schiffe […] / so auff der Wolga nach Astrachan wollen […] machen sich auff den Weg / wenn das Wasser noch im wachsen […] ist […] da die Ströme in Norden aufflauffen vnd sich häuffig in die Wolga ergiessen / so können sie als dann nicht alleine über die flachen Gründe / sondern auch über die niedrigen Inseln / welche tieff vnter das Wasser gesetzt werden / sicher hinfahren.17
Wie leicht zu sehen, finden sich bei Olearius sehr präzise Informationen über das Niedrigwasser-Problem der Wolga-Schifffahrt im Allgemeinen und für die Gesandtschaft im Besonderen (die in der Tat wegen ihres späten Abfahrens Probleme bekommen sollte). Eine sehr erfahrungsgesättigte Beschreibung also. Olearius fährt fort: Weil dieser Strom [die Wolga] meines erachtens einer von den grösten / längsten vnd principalsten der Welt / habe ich denselben mit Fleiß gemercket / vnd […] nicht alleine dessen Fahrt / Winckel / Ecken vnd Ufer nach den Compas geleget / sondern auch die Tieffen / durch welche die rechte Fahrt / die flachen Gründe / Inseln vnd Gegenden von Meilen zu Meilen / ja von Wersten zu Wersten auffgezeichnet / vnd entworffen.18
Deutlich zu erkennen, dass Olearius über den Bericht der eigenen Reise hinaus ein wissenschaftlich-geographisches Interesse am Flussverlauf und der Spezifik der Wolga an den Tag legt, das sich bekanntlich in einer neuen Karte niederschlägt. Gleiches gilt, wie hier am Rande vermerkt sein soll, auch für andere Regionen, z. B. seine Vermessung des Kaspischen Meeres und damit für seine geographische Bestimmung Persiens, dessen erneute Präzisierung erst den Kartographen des 18. Jahrhunderts gelingen wird.19 Aber bleiben wir bei der Wolga bzw. Niesen und vergleichen Olearius’ mit Flemings Ausführungen, die bei letzterem die Form eines Sonetts haben: An die Wolge zu Niesen.20 Seyd mehr als sehr gegrüßt / Ihr Nymfen dieser Enden / Ihr weiches Wasser-Volck; Und du auch / edler Fluß / O unser speter Trost / empfange diesen Gruß / und nim die Männer an / die dir die Zimbern senden. Die sind es / die sich dir zu nutzen nach verpfänden. Nim / Gast-freund / nim sie auff / und sicher’ ihren Fuß / Daß / was sich hat verschworn zu schaden / fallen muß; Sie an dein Astrachan mit Sicherheit anländen. diß Schiff / das Venus selbst / nach ihrer Muschel liebt / auff daß der große Mars auch selber achtung giebt / befiehlt sich deiner Gunst. Gebeut / daß kein Kossacke / kein Wilder sich erkühnt / das Volck zu fallen an.
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Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 339. Ebd., S. 340. Vgl. hierzu Detlef Haberland: Kommentar zu: Adam Olearius, Moskowitische und persische Reise. Die holsteinische Gesandtschaft beim Schah. 1633–1639. Hg. v. dems. Stuttgart 1986, S. 30ff. TP 577f.
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Daß Raub und Unheil sich von deinen Ufern packe. Wer sie betrüben wird / der hat es Gott gethan.
Der Unterschied zu Olearius könnte größer nicht sein: Hinweise auf die reale Wolga, ihre geographische Lage und die Probleme bei der Überfahrt sind bei Fleming spärlich gesät: Der Leser erfährt lediglich etwas über die bevorstehende Abfahrt nach Astrachan und die sehr allgemein gehaltenen Gefahren der Reise. Stattdessen beginnt das Gedicht mit einer Begrüßung des Flusses mittels einer Thematisierung der »Nymfen« (V. 1) als dessen Bewohnerinnen.21 Als das eigentliche Thema stellt sich das Anflehen der göttlichen Hilfe für die Fahrt heraus. Zu diesem Zweck erfolgt im ersten Terzett eine erneute Wendung in die Mythologie: Zuordnung des Schiffs zu Venus und Mars (V. 9 u. 10) als den Göttern der abendländischen Kultur, denen »Kossacke[n]« und »Wilde« (V. 11 u. 12) gegenübergestellt werden. Letztere stehen natürlich auch im Gegensatz zur christlichen Gottheit, auf die im letzten Vers mit Rekurs auf Mt 25,40 angespielt wird: »Warlich ich sage euch / Was jr gethan habt einem vnter diesen meinen geringsten Brüdern / Das habt jr mir gethan«.22 Es scheint also in diesem Falle vor allem die Mythologie und deren christliche Adaptation zu sein, welche die individuelle Erfahrung der Reise und erst recht deren wissenschaftliche Intersubjektivierung geradezu zum Verschwinden bringt. Kommen wir zum zweiten Beispiel: In grooß Neugart der Reussen / m. dc. xxxiv.23 Hierfür gilt es in der Reiseroute zwei Jahre zurückzuspringen, d. h. in die erste Moskaureise und damit von Nischni-Novgorod (Niesen) an der Wolga ins große Novgorod, d. h. Groß-Neugart, zwischen Narwa und Moskau. Fleming gehört einer Vorhut an, die dort auf die eigentliche Gesandtschaft fünf Monate wartet. Das Thema des Gedichtes ist das Lob des Neugarter Landlebens. Ich zitiere einen Ausschnitt (V. 51–65), der dies dokumentiert: […] Wer loobet nicht den Man / Der sein’ ist / weil er ist? der alles missen kann / Und alles haben auch? Er ist darzu gebohren / Daß er vergnügt kann seyn. […] […] Kein Goldt gehört zum Leeben. Aus Golde wird kein Bluut. Er sieht ihm / was ihm eben / Ein trächtigs Plätzlein aus / daß er nicht käuffen muuß / Als wie man etwan tuht. Da setzt er seinen Fuuß / Macht Feld und Gärten drauß. Fragt nichts nach hohen Bäuen Wen er nur Hitz’ und Frost / und so was / nicht darf schäuen / So ist er wohl versorgt. Geht selbst zu Wald’ / und haut Die längsten Tannen aus / bewohnet / was er baut/ Selbst Meister und selbst Wirt (V. 51–65). 21 22 23
Zur Anrufung von Naturgottheiten bei Fleming und ihrem Antike-Bezug, vgl. Tropsch: Flemings Verhältnis (Anm. 15), S. 52ff. Lohmeier: Bekenntnisse (Anm. 12), S. 347ff., verweist auf die Fluss-Thematisierungen in: Ovid: Epistulae ex Ponto IV, 10: 35–84. TP 70ff.
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Man erkennt eine deutliche Differenz zum ersten Gedicht: Keine Nymphen, keine Götter und auch keine christliche Adaptation der antiken Mythologie; stattdessen eine Beschreibung des Lebens eines Neugarter Bauern. Oder, genauer gesagt, die Darstellung eines Ursprungsszenarios: Thematisiert wird die Land- und Besitznahme von noch nicht vermessener und noch nicht besessener Natur und das positiv konnotierte Leben und Arbeiten angesichts solcher Bedingungen. Diese Zeilen haben die frühere russische Germanistik dazu bewegt, hier eine Ausnahme in der (auch damals schon behaupteten) flemingschen Reiseblindheit zu konstatieren. Es wurde behauptet, dass Fleming sehr genau die Novgoroder Lebens- und vor allem Arbeitsweise studiert habe; zugleich wird jedoch auch der nicht-empirische Impetus des Gedichts hervorgehoben, nämlich das Interesse, eine Gegenwelt zu den verheerenden deutschen Verhältnissen im Dreißigjährigen Krieg zu kreieren.24 Die spätere Forschung hat von Flemings wenigstens teilweise unverstelltem Blick auf Russland freilich nicht viel übrig gelassen. Die These von Neugart als deutscher Gegenwelt ist zwar bestätigt worden,25 nicht aber die Behauptung, dass dabei das reale Novgorod und seine Menschen selbst in irgendeiner Form eine wichtige Rolle spielen. Vielmehr wurde gezeigt, dass die scheinbar vorurteilsfreie Beschreibung der Neugarter Bauern bei näherem Hinsehen ganz in der Tradition eines Lobs des Landlebens und/oder des Neustoizismus verfasst ist: Die vorgebliche Beschreibung der Neugartschen Verhältnisse entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Adaptation von Vergils Georgica (B. II, V. 458–478).26 Dieser Rekurs könnte seinerseits im Dienste der stoischen Maxime des vivere secundum naturam, also dem Leben gemäß der Natur, und der »Ruhe deß Gemüthes«, der tranquillitas animi, stehen.27 Die Einführung stoischen Gedankenguts an dieser Stelle hätte auch den Vorteil, dass dadurch die ebenfalls im Stoizismus gepflegte Reisekritik28 entschärft würde: Die Fahrt nach Russland und Persien, die Fleming unternommen hat bzw. unternimmt und eigentlich (so Senecas Argument) die tranquillitas animi entscheidend stört, wird hier als »Fahrt zum stoisch verfassten Ich«29 umgeschrieben – und die wiederum gibt durchaus innere Ruhe trotz der störenden äußeren Unruhe des ständigen Ortswechsels. Welche Variante man auch annimmt, den direkten Bezug auf Vergil oder die stoische Adaptation; in beiden Fällen gilt – und damit bin ich wieder beim cete24
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Michail P. Alekseev: Ein deutscher Dichter im Novgorod des 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Geschichte Russisch-Europäischer Literatur-Traditionen. Aufsätze aus vier Jahrzehnten. Berlin 1974, S. 32–61; vgl. hierzu Pohl: Paul Fleming (Anm. 10), S. 312f. Lohmeier: Bekenntnisse (Anm. 12), S. 354f. Ebd., S. 355, mit Verweis auf Vergil: Georgica II, V. 458–478. Vgl. hierzu Schmidt: Du selbst (Anm. 14), S. 223ff. Schmidt zeigt, dass sich Fleming, vermittelt über Opitz’ »Zlatna oder Getichte Von Ruhe deß Gemüthes«, an Senecas 90. Epistel an Lucilius (§ 36ff.) orientiert, in der wiederum Vergil: Georgica I, V. 125ff., zitiert und thematisiert wird. Seneca: 104. Brief an Lucilius, § 8. So der Titel von Schmidt: Du selbst (Anm. 14).
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rum censeo der Forschung angelangt –, dass Fleming auch den russischen Menschen (genau wie die Natur) »nicht um seiner selbst willen« beschrieben hat, »sondern um der moralischen Belehrung willen«.30
2. Inscriptio Der Titel als Rekurs auf die Reise Zwar teile ich die Ansicht der Forschung, dass Fleming traditionsgebunden schreibt und dass unter den Anforderungen von Genre, Topik und Philosophie die Beschreibung von Landschaft und Menschen im Haupttext der Gedichte in den Hintergrund tritt. Ich möchte jedoch behaupten, dass man daraus nicht unbedingt folgern kann, dass Flemings Gedichte von einer Reise mit geschlossenen Augen zeugen. Um dies nachzuweisen, wird erstens zu zeigen sein, dass Olearius, das angeblich leuchtende Gegenbeispiel Flemings, entgegen seiner eigenen vollmundigen Behauptung sehr wohl traditionsgebunden verfährt, um nicht zu sagen: dass er auch zu denen gehört, die »gemeiniglich einer aus dem anderen schreiben« (s. o.). Zweitens möchte ich darlegen, dass Fleming jenseits seines traditionsgebundenen Schreibens durchaus die Erfahrung der Reise in seine literarische Produktion mit einfließen lässt. Beginnen wir mit dem ersten Punkt und nehmen wir als Beispiel Olearius’ Beschreibung der russischen Religion. Schon allein an der Strukturierung des Themas erkennt man, wie sehr er an sein diesbezügliches Vorgänger-Werk – Sigmund von Herbersteins rerum Moscoviticarum commentarius – gebunden bleibt: Diejenigen Kapitel bei Olearius, welche die russische Religion im Allgemeinen und die Sakramente im Besonderen thematisieren, haben, wie ein Vergleich ergeben hat,31 deutliche strukturelle und inhaltliche Entsprechungen mit ihrem Bezugstext. 30 31
Lohmeier: Bekenntnisse (Anm. 12), S. 355. Strukturell ähnlich sind: das Kap. Von der Russen Religion in gmein vnd von dero Anfang (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 275) und das Kap. Religio (Sigmund von Herberstein: Rerum Moscoviticarum commentarius. Frankfurt a. M. 1964 (ND der Ausg. Basel 1571), S. 27), bzw. das Kap. Moscouiter Religion vnnd Gottesdienst (Sigmund von Herberstein: Moscouiter wunderbare Historien […]. übers. v. Heinrich Pantaleon. Basel 1563, S. XXX); des Weiteren Von übung jhres Christenthums vnd jetzigem Gottesdienst / insbesonderheit von jhrer Tauffe (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier, S. 281) und Baptismvs (Herberstein lt., S. 37) bzw. Von dem Tauff. (Herberstein dt., S. XLII); Von der Beichte und Abendmal (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier, S. 309) und die Kap. Confessio und Commvnio (Herberstein lt., S. 40) bzw. Von der beycht und Von dem Sacrament deß Herren Nachtmaal (Herberstein dt., S. XLV); Von den Russen jhren Fest- vnd Feyrtagen / vnd wie sie Gottes Wort hören […] (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier, S. 290) und Festi dies (Herberstein lt., S. 41) bzw. Von den Festtagen (Herberstein dt., S. XLV); Von der Russen jhren vermeinten Heiligen […] (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier, S. 299) und Divorvm cvltvs (Herberstein lt., S. 41) bzw. Von der heyligen verehrung (Herberstein dt., S. XLVII); Von der Russen jhren Fasten (Olearius: Reyse, ed. Lohmeier, 308) und Ieivnivm (Herberstein lt, S. 42) bzw. Von dem fasten (Herberstein dt., S. XLVII).
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Gleiches gilt für Olearius’ »fünffte[s] Buch Der newen Persianischen Reise beschreibung / handelt vom Persischen Reiche vnd dessen Einwohnern«, das nicht zu übersehende strukturelle Ähnlichkeiten mit dem ersten Teil von Johannes de Laets Persia seu Regni Persici status besitzt: der Topographica regni Persici descriptio è variis probatis Authoribus concinnata. Schon allein Olearius’ abrupter Wechsel in der Perspektive – von der ansonsten vorherrschenden subjektiven (und damit erfahrungsgesättigten) Beschreibung der eigenen Erfahrung zur Überblicksdarstellung –, macht deutlich, dass der Autor von nun an, wie de Laet im Übrigen auch, stark literaturgestützt arbeiten wird. Und so kommt es dann auch.32 Vor diesem Hintergrund relativiert sich die behauptete Differenz zwischen Fleming und Olearius bereits ein wenig: Beide Autoren arbeiten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und in ihrem jeweiligen Genre, traditionsgebunden. Für den einen, Fleming, steht dies im Vordergrund, für den anderen, Olearius, weniger; der eine bekennt sich ausdrücklich dazu, der andere nicht, da sonst sein Ideal von Empirie und exakter Wissenschaft gefährdet wäre. Bei näherem Hinsehen lässt sich sogar nachweisen, dass nicht nur Olearius, sondern auch Fleming Rekurs auf das tatsächliche Dasein von Flüssen, Meeren, Landstrichen und Menschen auf seiner Reise nimmt. Ja, die lokale und zeitliche Bestimmung seiner Aufenthalte nimmt in seinen Gedichten einen außerordentlich prominenten Platz ein, so prominent, soweit vorne und soweit oben, dass sie bis jetzt anscheinend übersehen wurde. Die Rede ist vom Titel der Gedichte. Kommen wir zu den bisher behandelten Beispielen zurück: Das Sonett An die Wolge zu Niesen gibt im Titel eine äußerst präzise Ortsangabe, mit der, wie oben vorgestellt, das Gedicht zweifelsfrei in die Reiseroute eingeschrieben werden kann. Mithilfe von Olearius’ Reisebericht lässt sich auch ein Datum rekonstruieren: Juli (Heumonat) 1636. Eine solche zeitliche Präzisierung ist im zweiten bisher diskutierten Gedicht, neben der ebenfalls präzisen Ortsangabe, sogar bereits im Titel enthalten. Das Novgorod-Gedicht ist in den Teütschen Poemata mit Ortsund Zeitangabe überschrieben: In grooß Neugart der Reussen / m. dc. xxxiv. Eine solche lokale und bisweilen sogar zeitliche Präzisierung durch den Titel ist auch in der restlichen Reiselyrik keine Ausnahme. Man findet sie in den Anrufungen von Landschaften und Städten, z. B. »An die große Stadt Moskaw / als er schiede«.33 Gleiches, nur durch eine zeitliche Präzisierung komplettiert, gilt für die panegyrischen Gedichte: »Alls die Fürstl. Holst. Gesandten / zu Rige in Lieflande waren angelanget / im November / m. dc. xxxiii«.34 Und auch die Gedichte, die von spezifischen Ereignissen der Reise berichten, sind sehr häufig mit einer genauen Orts- und Zeitangabe im Titel versehen: »Als das Holsteinische Schiff Friedrich wieder an die Persische Flotte gelangete / von der es wegen
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Johannes de Laet: Persia seu regni persici status […]. Leiden 1633, S. 9ff. Man vergleiche nur die Beschreibung der Provinzen, ebd., S. 14–19, mit Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 539–551. TP 581. Ebd., 70.
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wiedrigen Windes in die dritte Woche abgewesen war. | m. dc. xxxvi. den iii. Sept. c l. Würste [Werste] über Zariza«.35 Auch die lateinische Lyrik, unter ihr vor allem die Epigramme, macht hier keine Ausnahme. Die meisten dieser auf der Reise entstandenen Gedichte (und interessanterweise nur sie) haben einen Titel, der den Ort und das Datum präzise anzeigt. Also z. B. valedicit eidem [=coisu flumini], XVI. Maij.36 – ›Verabschiedung des Flusses Koisu am 16. Mai [1638]‹; ein Gedicht auf der Rückreise. Auch die Titel der anderen Reiseepigramme sind ähnlich konkret. Bisweilen wird das Datum, als Variante, in einer Schlusszeile angefügt. Diese Genauigkeit in Bezug auf Ort und Zeit durch den Titel gilt auch für folgendes Epigramm, das ich mit einer Hilfsübersetzung anführe: III. August. MDC XXXVII. quae introducebat nos Isfahanam Persarum metropolim. Salve, cara dies, quatuor mihi pulcrior annis, Te propter vitae quos malè demo meae. Sera venis sed grata tamen, sed dulcis aventi, Tergis & ex oculis taedia mille meis. Tot per amara viae, vitae per acerba tot aegrae, Sistimur ad magni regia tecta Sefi. Cùm violis caream, quas in tua gaudia spargam, Sufficiat voto te celebrasse pio.37 [3. August 1637: Ankunft in der persischen Residenzstadt Isfahan Sei gegrüßt, geliebter Tag, für mich schöner als die vier Jahre, die ich deinetwegen meinem Leben schändlich entziehe. Spät kommst du, aber dennoch wohltuend und angenehm für den, der dich herbeisehnt; und tausendfachen Überdruss wischst du aus meinen Augen. Nach so vielen Widrigkeiten des Weges, nach so vielen Schmerzen der Krankheit machen wir nun am königlichen Palast des großen (Schah) Sefi halt. Da ich keine Violen habe, um sie zu deiner Freude auszustreuen, möge es genügen, dich mit einem frommen Gelübde zu feiern.]38
Auch dieses Gedicht ist nicht gerade das, was man als erfahrungsgesättigt bezeichnen könnte: Zwar begrüßt es den lang ersehnten Tag der Ankunft am Ziel der Reise. Der bei Olearius ausführlich geschilderte Kampf mit den Einheimischen, der immerhin mehrere Todesopfer fordert, wird jedoch souverän ignoriert. Und auch sonst finden sich außer der Nennung des Palastes und seines jetzigen Herrschers – Schah Sefi – keinerlei Bezüge zum Ort. Zumindest nicht in den Versen des Gedichtes. Anders sieht es aus, wenn man den Titel mitberücksichtigt, der sehr genau Ort und Zeit der Ankunft angibt: Isfahan, 3. August 1637. Wir befinden uns also, wie
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Ebd., 584. Paul Fleming: Epigrammata latina ante hac non edita. Hamburg 1649, S. p7v. Ebd., S. k3r. Mein Dank geht an Felix Maier (Freiburg i. Br.) für die Unterstützung bei der Übersetzung.
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es im Gedicht heißt, an einem Zeitpunkt »vier Jahre« nach dem ersten Einschiffen; so steht es auch bei Olearius.39 Interessant sind die letzten beiden Verse: Der Dichter gibt angesichts der erfahrenen göttlichen Gnade, das lang ersehnte Ziel erreicht zu haben, in Form dieses Epigramms ein »Votum«, ein Gelübde. Dazu gehört traditionsgemäß ein Gegenstand, den man den Göttern als Dank für diesen Tag opfert: die VotivGabe.40 In diesem Falle sind bzw. wären das die auszustreuenden Veilchen. Da der Sprecher diese jedoch nicht besitzt, bürdet er dem Gedicht, das er gerade schreibt, auch diese Last gleich mit auf. Mit dem Erfolg, dass sein Poem nicht nur die Funktion des Votums, sondern auch zugleich der Votivgabe übernimmt: »Möge es genügen, dich mit einem frommen Gelübde zu feiern«. Diese unerwartete Schlusswendung lässt sich mit der zeitgenössischen Poetik des Epigramms in Übereinstimmung bringen, wie man sie in der wichtigsten frühneuzeitlichen Poetik, den poetices libri septem des humanistischen Philosophen und Ästhetikers Julius Caesar Scaliger (1484–1558), vorfindet: »Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma« – »Die Kürze ist ein wesentliches Merkmal des Epigramms, während die geistreiche Zuspitzung seine Seele und gewissermaßen seine Form ist«.41 Eine Formulierung, die Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey von 1624 ohne nennenswerte Abweichung wiederholen wird, wenn er schreibt, dass »die kürtze« die »eigenschafft / vnd die spitzfindigkeit« die »seele vnd gestallt« des Epigramms darstellen.42 Was kurz sei, schreibt Scaliger, sei verhandelbar (»Brevitatem vero intellegemus non definitam«); wichtiger ist ihm in Bezug auf das Epigramm die »unerwartete oder […] eine der Erwartung zuwiderlaufende Schlussfolgerung« (»inexspectata aut contraria exspectationi conclusioni«): die »Argutia« oder das Acumen.43 Und genau die wird bei Fleming durch die überraschende Wendung, dass das Gedicht Votum und Votivgabe in einem sei, geliefert. Flemings Schlusswendung ist jedoch auch insofern eine »geistreiche Zuspitzung«, als Scaliger selbst die Geschichte des Epigramms aus dem Weihegeschenk oder der Votivgabe (»anathema[ ]«, »donari[um]«) herleitet, von denen er sagt, dass diese niemals ohne Aufschrift (»inscriptio«) seien: »donaria namque non sine inscriptione«. Erwähnt wird ein Beispiel aus Vergils Aeneis, in dem Aeneas – und zwar als Teil eines Votums oder Gelübdes – die Waffen, die er den siegreichen Griechen abnehmen konnte, den Göttern weiht. Auf den Waffen wird dieses
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Olearius: Reyse, ed. Lohmeier (Anm. 1), S. 499. Vgl. hierzu Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart u. a. 1977, S. 119ff.; S. 154ff. Zum Weihe-Epigramm, vgl. Walter Dietze: Abriß einer Geschichte des deutschen Epigramms. In: Ders.: Erbe und Gegenwart. Aufsätze zur vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin 1972, S. 247–392, S. 251f. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. und übers. v. Luc Deitz. 3 Bde., Stuttgart/Bad Cannstadt 1994f., Bd. III, S. 204f. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In welchem alle jhre eigenschafft vnd zugehör gründtlich erzehlet / vnd mit exemplen außgeführet wird. Hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 1966 (ND der Ausg. Breslau 1624), S. 21. Scaliger: Poetices (Anm. 41), Bd. III, S. 204–207.
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Umstandes noch einmal gedacht: »Aeneas haec de Danais victoribus arma« – »Aeneas entriß diese Waffen den siegreichen Danaern«.44 Unmittelbar danach erwähnt Scaliger eine Inschrift auf einer Grenzsäule am Isthmos von Korinth, die nach Strabons Geografica (3, 5, 5) an die Vertreibung der Ionier aus der Peleponnes erinnert: »Ταῦτ’ ἔστι Πελοπόννησος, οὐκ Ιωνία« – »Dies ist die Peleponnes, nicht Ionien«.45 Scaliger führt diese Beispiele an, da er eine genealogische Theorie des Epigramms vertritt. Für ihn war das Epigramm ursprünglich nichts anderes als eine »inscriptio«, d. h. eine Inschrift auf einer Statue oder auf einem Bild (»statuis […], imaginibus […] inscribebantur«), z. B. den erwähnten Votivgaben. Mittlerweile jedoch, so Scaliger, lesen wir Epigramme nicht mehr auf Gegenständen, sondern in Büchern. Und im Rahmen dieses Transformationsprozesses passiert etwas Merkwürdiges: In dem Augenblick, indem das Epigramm von dem Bild oder der Statue losgelöst und in ein Buch verschoben wird, wird dieser Gegenstand nun – wie in einer Art Rochade – zu seiner Inscriptio; er wandert nämlich in den (nun notwendigen) »Titulus« oder das »lemma«. Als Beispiel nennt Scaliger ein Epigramm, das – ursprünglich titellos – als inscriptio, also als Inschrift, an einer Statue für den Rhetor Rufus angebracht war. Da das Epigramm nun aber nicht mehr auf der Statue, sondern in einer Anthologie steht, finden wir die frei gewordene Statue in der inscriptio wieder, nämlich in der Überschrift: »In Rufi statuam« (»Auf die Statue von Rufus«).46 Diese genealogische Theorie des Epigramms als In- oder Überschrift macht sich die deutsche Barockpoetik zueigen; nachzulesen z. B. in August Buchners Anleitung zur Deutschen Poeterey, in der Epigramme als »kurtze Uberschriften«47 bezeichnet werden. Vor allem aber – und das ist der Kronzeuge für die hier zu entwickelnde These – findet sich die Genrebezeichnung ›Überschrift‹ bei Fleming selbst, nämlich in den Teütschen Poemata, in denen die Epigramme unter der vielsagenden Rubrik »Buch | Der Überschrifften« geführt werden.48 Um auf das in Frage stehende Isfahan-Gedicht zurückzukommen, das diesen Scaliger-Rekurs durch seine Schlusszeile evoziert hatte: Ich möchte behaupten, dass Fleming Scaligers spitzfindige Epigrammtheorie aufnimmt und stärker macht als dieser selbst. Genauer gesagt nimmt er die bei Scaliger erwähnte Rochade zu einem Teil zurück und versteht stattdessen das Epigramm, im ursprünglichen Sinne, weiterhin als In- oder Überschrift auf einer Votivgabe. Mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass diese Votivgabe, wie oben ausgeführt,
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Ebd., Bd. III, S. 204, mit Bezug auf Vergil: Aeneis, III, V. 288. Ebd., Bd. III, 204. Alle Zitate: Ebd., Bd. III, S. 202ff. Vgl. hierzu auch Gerhard Neumann: Kommentar zu: Deutsche Epigramme. Hg. v. dems. Stuttgart 1969, S. 314f., und Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007, S. 198ff. Augustus Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey. Hg. v. Marian Szyrocki. Tübingen 1966 (ND der Ausg. Wittenberg 1665), S. 10. TP 268.
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keine Säule und auch keinen anderen Gegenstand mehr darstellt, sondern das Gedicht selbst, verstanden als die Verse unter der Überschrift. Denn im Titel von Flemings Epigramm taucht ja gerade, anders als im zeitgenössischen Epigramm nach Scaliger, keine Erwähnung eines Standbildes oder Ähnliches auf. Vielmehr bezeichnet das Epigramm ganz im ursprünglichen Sinne – wie die Säule am Isthmus von Korinth – dasjenige Ereignis, dessen es sich zu erinnern gilt: »3. August 1637: Ankunft in der persischen Residenzstadt Isfahan«.49 Damit ist besagt, dass die Überschrift – in spitzfindiger Interpretation von Scaligers Genealogie und, wie gesagt, auch der deutschen Barock-Poetik – einen quasi eigenständigen, genauer: epigrammatischen Charakter bekommt. Dieses ›Gedicht im bzw. auf dem Gedicht‹, wie man mit einer gewissen Übertreibung formulieren könnte, zeigt an, was zu erinnern ist (den Einzug in Isfahan), während die Verse darunter als Träger (als literarisierte Statue oder Votivgabe) dieser Gedenk-Inschrift fungieren. Für Flemings Epigramme gilt demzufolge, dass das Verhältnis von Titel und Gedicht genau andersherum zu werten ist, als das bisher in der Forschung getan wurde:50 Statt zu monieren, dass in den Epigrammen, verstanden als die Verse unter der Überschrift, keine präzisen Angaben über den Ort und den Zeitpunkt der Reise geschrieben wurden, ist festzuhalten, dass in der »Überschrift«, der bei Fleming ein quasi-eigenständiger, epigrammatischer Charakter zugesprochen wird, der zu erinnernde Ort und der zu erinnernde Zeitpunkt genau bestimmt werden. In den Versen unter der Überschrift, die ja ›nur‹ als Träger für dieses Epigramm figurieren, finden sich diese Informationen tatsächlich nur sehr spärlich. Gemäß der hier rekonstruierten Konzeption ist dies jedoch folgerichtig. Im Gedicht selbst die genannten Informationen zu platzieren, wäre so, als ob auf einer Statue, auf die eine inscriptio angebracht werden soll, diese Inschrift bereits vorhanden wäre. Folge dieser Aufteilung ist jedoch, dass die eigentlichen Ereignisse tatsächlich nur qua bloßer Nennung in der Überschrift aufgerufen werden, nicht aber ausführlich beschrieben werden können. Mein Argument ist nun, dass diese epigrammatische Eigenschaft des Titels auch für alle anderen Gedichte Flemings gilt, sofern sie auf der Reise gemacht wurden und von ihr handeln, und zwar auch für Gedichte, die kein Epigramm im eigentlichen Sinne darstellen. Bekanntlich spielt – wie in der Forschung mehrfach gezeigt wurde51 – das Epigramm für das barocke Schreiben im Allgemeinen 49
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Die mnemotechnische Funktion der Überschrift ließe sich auch durch Wolfgang Neubers historische Rekonstruktion der Emblematiktheorie stützen, die im Motto (als Entsprechung des mnemotechnischen locus) das zentrale Moment der Emblematik sieht (Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie. In: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. dems. Tübingen 1993, S. 351–372). Zur engen historischen Verwandtschaft von Epigramm und Emblem (und mithin von Überschrift und Motto), vgl. ebd., S. 356f. Pohl: Paul Fleming (Anm. 10), moniert S. 211, dass der Orts- und Zeitbezug »nur in der Überschrift« (Hervorh. d. Verf.) erfolgt. Zuletzt Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin u. a. 1996, S. 24ff.
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Maximilian Bergengruen
und die barocke Lyrik im Besonderen die Rolle eines Leit-Genres. Die Vorgaben des Epigramms gelten, zumindest strukturell und in Anpassung an die jeweiligen Genre-Regeln, auch für andere literarische, speziell lyrische, Formen. Man denke z. B. an August Buchner, der auch die Sonnetten als »eine Art der Epigrammaten« ansieht.52 Diese Prädominanz des Epigrammatischen53 gilt für Flemings Lyrik insbesondere, da in seinem Konzept in spitzfindiger Anwendung der Argutia-Theorie, sozusagen als lebendiges Zeichen einer genealogischen Entwicklung, der Überschrift ein ursprünglich epigrammatischer Charakter zugesprochen wird. – Und diese Überschriften sind sehr leicht aus dem Genre des Epigramms im eigentlichen Sinne in andere zu importieren. Es handelt sich in diesem Falle um eine Ode oder ein Sonett mit einer Überschrift mit epigrammatischem Charakter im Sinne Scaligers. Vor diesem Hintergrund scheint es mir sehr plausibel, die herausgearbeitete Bedeutung des epigrammatischen Lemmas – d. h. den Aufruf des Ortes und der Zeit – auf Flemings andere Reisegedichte zu übertragen. Auch in diesen Texten, so meine These, hat der Titel epigrammatischen Charakter, zu verstehen als ein das Gedenken an Ort und Zeit der Reise sicherndes Moment, während die Verse darunter, welchem Genre sie auch immer angehören mögen, den quasi-materiellen Träger für dieses Epigramm in Anführungszeichen abgeben. Für die in diesem Aufsatz genannten Beispiele heißt das: Auch Grooß-Neugart und die Wolga zu Niesen sind in den Titeln der jeweiligen Gedichte nicht einfach nur genannt, sondern vielmehr durch die epigrammatische Überschrift als zu erinnernde Orte und Zeitpunkte in gedenkenswert aufgerufen: Alle mythologischen Fluss-Ansprachen, alle neustoischen Ausführungen zur tranquillitas animi im sogenannten Haupttext sind auch und besonders so zu verstehen, dass mit ihnen, fast könnte man sagen: auf ihnen, die im Titel genannten Orte und Zeitpunkte erinnert werden sollen.
3. Das Gedicht als Konfrontation von abendländischer Tradition und morgenländischer Erfahrung Flemings Gedichte sind also zweigeteilt: in einen epigrammatischen Titel, der eng mit der Reise nach Moskau und Persien verbunden ist, und in die nachfolgenden Verse, die sich davon bisweilen recht unabhängig zeigen. In meiner Lesart ist der epigrammatisch zu verstehende Titel von Flemings Reisegedichten die im literarischen Genre mögliche Entsprechung von Olearius’, vorhin bereits benannter, empirischer Prämisse seiner Arbeit: »Was ich gleichwol selbst mit meinen Füssen betreten / mit meinen Augen gesehen« (s. o.). Die Titel machen deutlich, dass auch Fleming mit offenen Augen durch Russland und Persien gereist ist und er durch seine Gedichte daran erinnern möchte. 52 53
August Buchner: Anleitung zur deutschen Poeterei. Tübingen 1966, S. 175. Vgl. Dietze: Abriß (Anm. 40), S. 288ff.
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Gleichzeitig benötigt Fleming jedoch literarisches Material, in das die Erinnerungsleistung inskribiert werden kann; das ist das traditionsgebundene Gedicht, zu verstehen als die Verse unter der Überschrift. An einer Stelle reflektiert Fleming dieses Verfahren – und zwar nicht nur im Titel, sondern in einem Gedicht selbst. In der Ode Auff der Kaspischen See/ in eines sein Stambuch (auch hier also wieder ein genaue Ortsangabe). Dort heißt es in Vers 3f.: »Auff Kastor / Pollux auff / Ihr Brüder der Helenen / die noch kein deutsches Schiff hier angeruffen hat.«54 »Hier angeruffen«. – Diese Formulierung scheint mit den innersten Kern der Reiselyrik Flemings zu bezeichnen: Mit Kastor und Pollux hat bereits das gesamte Abendland, namentlich Horaz,55 Kontakt aufgenommen, damit es das bzw. ein Schiff sicher lenke – aber eben noch nicht »hier«, auf dem Kaspischen Meer; und schon gar nicht von einem deutschen Poeten auf einem »deutschen Schiffe«. Für den Leser stellt sich dieser Gegensatz – horazische Tradition/hier in der Kaspischen See – in dem Effekt dar, dass er ein Gedicht liest, das in einem wenn nicht lokal, dann metaphysisch bestimmten Abendland situiert zu sein scheint. Und genau diese unbestimmt-abendländische Lokalisierung wird nun über den epigrammatischen Titel mit einer morgenländischen Fremdheit konfrontiert – und zwar als deren notwendige Bedingung. Diese Konfrontation scheint mir auf eine sehr genaue und poetisch fein ziselierte Weise die Erfahrung der Konfrontation der Kulturen darzustellen, die der deutsche poeta doctus Fleming in Russland und Persien gemacht hat. Diese Extreme von abendländischer Tradition und morgenländischer Erfahrung werden im Gedicht aufgehoben, aber nicht in dem Sinne, dass sie nicht mehr existierten, sondern dass sie im Modus des Literarischen an den Leser weitergegeben werden.
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TP 474. Tropsch: Flemings Verhältnis (Anm. 15), S. 25ff. weist einen Bezug auf Horaz: c. I, 3 (»Sic te diva potens Cypri«) nach.
Kristi Viiding
Die lateinischen Reisegeleitgedichte von Paul Fleming1 Die Abschieds- oder Reisegeleitgedichte (carmina valedictoria, carmina propemptica) bildeten seit der antiken Literatur eine Gattung der Gelegenheitsdichtung, in der jemandem zur Reise Glück gewünscht wurde. Eine komplette Gattungsgeschichte der Abschiedsgedichte, die sowohl theoretische als auch praktische Aspekte umfasst, gibt es bis jetzt nicht. Die antike Entwicklung der Gattung ist zwar in zwei Monographien behandelt worden,2 aber die neuzeitliche Gattungstradition ist zur Zeit noch kaum übersehbar. Die bisherigen Untersuchungen betreffen entweder die dichtungstheoretischen und -präskriptiven Schriften zu dieser Gattung3 oder die Verbreitung der Abschiedsgedichte in einzelnen europäischen Ländern in Form von Interpretationen einzelner Gedichte bzw. Gedichtsammlungen.4 Neben den speziellen Gelegenheitsschriften sind die 1
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Für die Sprachkorrektur des Aufsatzes sowie für wertvolle Hinweise auf Forschungsliteratur bin ich Prof. Walther Ludwig (Hamburg) dankbar. Alle Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, stammen von mir. Die Vorbereitung des Aufsatzes wurde von der Estonian Science Foundation (Projekt 7861) finanziell unterstützt. Felix Jäger: Das antike Propemptikon und das 17. Gedicht des Paulinus von Nola. Diss. München. Rosenheim 1913; John Neil Rauk: The lover’s farewell. A study of the propemptikon in Greek and Latin literature. Michigan 1987. Kurz bespricht die antiken Propemptika auch Francis Cairns: Generic Composition in Greek and Roman Poetry. Edinburgh 1972, passim. Francis Cairns: The Poetices Libri Septem of Julius Caesar Scaliger. An Unexplored Source. In: Res publica litterarum IX. Studies in the classical tradition (1986), S. 49–57; Pernille Harsting: The Golden Method of Menander Rhetor. The Translations and the Reception of the περὶ ἐπιδεικτικῶν in the Italian Renaissance. In: Analecta Romana Instituti Danici 15. Hg. v. Otto Steen Due, Karen Ascani u. Jasper Carlsen. Rom 1992, S. 139–157; Kristi Viiding: Daniel Georg Morhof und die Gattung des Propemptikon. In: Frühneuzeitliche Bildungsreisen im Spiegel lateinischer Texte. Hg. v. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Weimar 2007, S. 113–136. Eine kurze Erklärung der Reisegeleitgedichte mit den Einzelbeispielen geben Josef IJsewijn,/Dirk Sacré: Companion to Neo-Latin Studies. Part II. Literary, linguistic, philological and editorial questions. Second entirely rewritten edition. Leuven 1998, S. 100f. Bemerkungen zum rhetorischen Hintergrund der Propemptika sind in der Monographie von Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 44f., zu finden. Einige Sammlungen der Abschiedsgedichte, die in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert von Humanisten an verschiedenen europäischen Orten geschrieben wurden, untersuchte Walther Ludwig: Das Studium der holstenischen Prinzen in Straßburg (1583/1584) und Nicolaus Reusners Abschiedsgedichte. In: Zeitschrift für Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 119 (1994), S. 111–147 (ND in: Walther Ludwig: Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003. Edenda curavit Astrid Steiner-Weber. Hildesheim/Zürich/New York 2004/05, Bd. 2, S. 293–332); Pernille Harsting: Latin valedictory poems of the 16th century. Tradition and topicality of a classical genre. In: History of Nordic Neo-Latin Literature. Hg. v. Minna Skafte Jensen. Odense 1995, S. 203–218; Iiro Kajanto: Didrik Ruuth’s Propemptikon: The First Finnish Humanist Poem. In: Utriusque linguae peritus. Studia in honorem Toivo Viljanmaa. Hg. v. Jyri Vaahtera u.
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Kristi Viiding
Propemptika aber auch in fast allen humanistischen Gedichtausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts zu finden und bilden damit eine äußerst verbreitete lateinische Gedichtgattung.5 Im frühneuzeitlichen Europa waren dichtungstheoretische und -präskriptive Schriften für das Verfassen von Reisegeleitgedichten relativ selten und standen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts im wesentlichen in der Tradition des entsprechenden Kapitels aus den Poetices libri septem von Julius Caesar Scaliger (1561).6 Da die Vorschriften von Scaliger aber eher ein Allerlei von Einzelaspekten als ein systematisches Lehrbuch sind, entwickelte sich die Gattungspraxis teilweise nach eigenen Regeln, für die die bisherige Forschung hauptsächlich die Vorbildfunktion der früheren beispielhaften Abschiedsgedichte hervorgehoben hat. Inwieweit die eigenen Reiseerfahrungen die Dichtungspraxis der Poeten beeinflussten oder in den Abschiedsgedichten eine Spiegelung fanden und wie sie die Gattungspraxis bereicherten, ist bis jetzt unbeachtet geblieben. Zu dieser Fragestellung bietet sich der weit gereiste Poet Paul Fleming mit seinen gut datierten Reisegeleitgedichten geradezu an. Im Folgenden möchte ich die lateinischen Reisegeleitgedichte von Fleming unter diesem Aspekt behandeln. Um einerseits die Gemeinsamkeiten mit der früheren Gattungspraxis und andererseits die möglicherweise aus der eigenen Reiseerfahrung stammenden Details festzustellen, werde ich die von Fleming überlieferten lateinischen Reisegeleitgedichte auf der strukturellen und motivischen Ebene untersuchen. Da mein Ausgangspunkt hierbei die Gattungsgeschichte der Reisegeleitgedichte und nicht die Fleming-Forschung ist, hoffe ich aus dieser Analyse Neues vor allem für die Gattungsgeschichte zu gewinnen, etwa eine Antwort darauf, ob und wie man
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Raija Vainio. Turku 1997, S. 170–179; Noël Golvers: Daniel Paperbrochius, S. J., and his propempticon to three Flemish Jesuits Leaving for the China Mission (Louvain, 2. December 1654). In: Myricae. Essays on Neo-Latin literature in memory of Josef IJsewijn. Hg. v. Dirk Sacré. Leuven 2000, S. 537–564; Kristi Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika an der Academia Gustaviana (Dorpatensis) in den Jahren 1632–1656. Tartu 2002; dies.: Farewell Poems of Italian Humanists in Delitiae CC. Poetarum Italorum. In: Studi Umanistici Piceni 27 (2007), S. 313–324, und Lothar Mundt: Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik. Analysen ausgewählter Gedichte. In: Simon Dach (1605–1669). Werk und Nachwirken. Hg. v. Axel E. Walter. Tübingen 2008, S. 250–254. So schätzt Walther Ludwig die Forschungssituation ein, s. ders.: Die Bildungsreise in der lateinischen Reiseliteratur. In: Frühneuzeitliche Bildungsreisen im Spiegel lateinischer Texte. Hg. v. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Weimar 2007, S. 13–41, hier S. 20 (revidiert und erweitert in: Ders.: Die Bildungsreise in der lateinischen Reiseliteratur oder die Erfindung der Bildungsreise durch die Humanisten. In: Supplementa Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 2003–2008. Edenda curavit Astrid Steiner-Weber. Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 547–582, hier S. 558). Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561 mit einer Einleitung von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. Als Beleg können z. B. das Kap. II, 5, III im Poetikhandbuch von Christophorus Helvicus, Conradus Bachmann und Caspar Finckius: Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis, Ex Veteribus et recentioribus poetis, studiose conscripta, Per Academiae Gissenae nonnullos professores. Tertia editio, Denuo Recognita, Aucta et elimata. Lübeck 1624, S. 292f., oder das entsprechende Kapitel aus der einflussreichen Enzyklopädie Polyhistor von Daniel Georg Morhof dienen, vgl. Viiding (Anm. 3).
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die neulateinische Abschiedsdichtung von Fleming in eine Monographie über die Gattungsgeschichte einordnen kann. Im Rahmen der Fleming-Forschung sind seine lateinischen Reisegeleitgedichte bis jetzt meines Wissens nur als Quelle biographischer Aussagen behandelt worden, am gründlichsten wohl in der Monographie von Heinz Entner, jedoch auch von diesem nur zerstreut und in einer Auswahl.7 Ihre Position in der europäischen Gattungsgeschichte wurde nicht untersucht; auch fehlt ein Vergleich mit seinen deutschen Abschiedsgedichten. Für den heutigen Stand der Fleming-Forschung ist außerdem charakteristisch, dass die gattungsgeschichtliche Zugehörigkeit seiner Reisegeleitgedichte oft unbeachtet geblieben ist oder umgekehrt auch solche Gedichte als Propemptika bezeichnet wurden, die keine gattungstypischen Züge aufweisen. So kennzeichnet die Bibliographie der deutschen Barockschriften von Dünnhaupt das erste Revaler Propemptikon von Fleming als »Freundschaftsdichtung« und sein Propemptikon an Hartmann Grahmann aus dem Jahre 1635 als »Glückwunschdichtung anläßlich seiner medizinischen Promotion«, obwohl im Titel von beiden Gedichten seit der Erstausgabe das Wort Propemptikon steht.8 Dasselbe gilt für die deutschen Reisegeleitgedichte von Fleming: In der Monographie von Marian R. Sperberg-McQueen The German Poetry of Paul Fleming wird das Gedicht Als etliche seiner Freunde von ihm zogen wieder als Freundschaftsgedicht bezeichnet.9 Verfehlt ist dagegen die Bestimmung der Elegie Ad Hartmannum Gramannum Legationis Persicae magnae Medicum (Sylv. II, 8) als Propemptikon10 – es handelt sich entsprechend der Stichworte »esto favens« (V. 5) und »defende clienti« (V. 17) um ein reines Dedikationsgedicht. Ich werde im Folgenden jedoch alle jene Gedichte von Fleming als Reisegeleitgedichte behandeln, die entweder einen entsprechenden Titel tragen (wie ›Propempticum‹, ›in abitum‹, ›in discessum‹, ›abeunti‹, ›cum solverent‹ usw.) oder wenigstens den einzigen inhaltlich obligatorischen Teil der Reisegeleitgedichte, den Wunsch für einen glücklichen Reiseverlauf enthalten. In der von Lappenberg edierten Ausgabe der lateinischen Gedichte von Fleming konnte ich 15 solche Reisegeleitgedichte finden, wobei zwölf den entsprechenden Titel tragen. Die Zwickauer Handschrift 146 ergänzt diesen Bestand mit einem weiteren Propemptikon. Hinzuzufügen ist noch eine längere Elegie – von Entner als Briefelegie klassifiziert -, die 7
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Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989. Kein einziges Reisegeleitgedicht von Fleming ist in der Monographie von Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster/Hamburg 1993, behandelt worden; einerseits schließt ihre Definition der Reisegedichte alle Gelegenheitsgedichte aus (»Die ›echte‹ Reiselyrik […] ist Orten, Bauwerken, Landschaften oder Erlebnissen gewidmet, die die Gesandschaft auf der Reise beeindruckt haben«, Ebd., S. 206), andererseits bleiben die Propemptika auch unter der Freundschaftsdichtung unbeachtet (ebd., S. 283–295). Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1508f., Nr. 60 u. S. 1510, Nr. 66. Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill, London 1990, S. 121–122. So Entner (Anm. 7), S. 365.
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ein fiktives Propemptikon von Fleming an sich selbst enthält (Sylv. II, 10). Insgesamt beläuft sich sein Beitrag zur Gattung auf 17 Gedichte mit 292 Versen, wenn man in dieser Statistik die umrahmenden Verse aus Sylv. II, 10 nicht mitrechnet. Anhand der Versanzahl gehört er also kaum zu den produktivsten neulateinischen Pflegern dieser Gattung. Zum Vergleich kann die Abschiedsdichtung von Kaspar van Baerle (Casparus Barlaeus, 1584–1648), einem niederländischen Poeten, den Fleming bewunderte, dienen: in seinen lateinischen Gedichtbänden findet man zwölf Abschiedsgedichte mit insgesamt 653 Versen.11 Alle überlieferten lateinischen Reisegeleitgedichte von Fleming stammen aus den neun Jahren von 1631 bis 1639. Aufgrund seiner ersten, teilweise meisterhaften lateinischen Reisegeleitgedichte aus dem Jahre 1631 sowie der damals üblichen Methoden und Ziele des Rhetorik- und Poesieunterrichtes kann man zwar annehmen, dass er auch schon früher solche Gedichte verfasst hat, Belege gibt es hierfür bis jetzt aber nicht. Allerdings verteilen sich seine Propemptika nicht gleichmäßig auf die ganze Periode: mit zwei späteren Ausnahmen sind alle 1631–1635 verfasst, beginnend mit dem fortgeschrittenen Stadium seiner Leipziger Studien bis zu seinem ersten Aufenthalt in Reval.12 Dieselbe Tendenz findet sich übrigens auch bei seinen deutschen Abschiedsgedichten: seit seinem Aufbruch aus Reval zur zweiten Hälfte seiner Gesandtschaftsreise scheint Fleming nur noch zwei deutsche Reisegeleitgedichte verfasst zu haben (Oden IV, 35 und IV, 36). Vorausgesetzt, dass die Überlieferung dieser flemingschen Gattung keine Brüche aufweist, lässt sich also feststellen: je mehr Reiseerfahrungen der Dichter hatte, desto weniger Sinn sah er darin, ein übliches Reisegeleitgedicht zu verfassen. Dass die gewöhnlichen Propemptika in seinem Literaturverständnis trotz seiner langen Reisepraxis keinesfalls mehr Gewicht bekommen haben, erhellt sich auch aus der Tatsache, dass Fleming weder in seiner handschriftlich vorbereiteten Ausgabe der lateinischen noch der deutschen Gedichte ein spezielles Buch den Reisegeleitgedichten widmete. Das wäre in der neulateinischen Gattungsgeschichte zwar selten, jedoch nicht exzeptionell gewesen – so beinhaltet zum Beispiel die im Jahre 1585 veröffentlichte Germanograecia des Tübinger Professors Martin Crusius (1526–1607) in der ersten Abteilung des fünften Buches nur lateinische und griechische Reisegeleitgedichte.13
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Casparus Barlaeus: Poematum pars I Heroicorum. Pars II Elegiarum et Miscellaneorum carminum. Erstausgabe Amstelodami 1628. Ich habe die Editio V, Altera plus parte auctior (Amstelodami 1640) verwendet. Durchschnittlich verfasste er also auch in seiner intensiveren Periode nur drei lateinische Propemptika pro Jahr. Martinus Crusius: Germanograecia libri sex, in quorum prioribus tribus, orationes, in reliquis carmina, graeca et latina, continentur. Basileae 1585.
Die lateinischen Reisegeleitgedichte von Paul Fleming
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1. Die ersten Reisegeleitgedichte in Leipzig Die sieben frühesten Reisegeleitgedichte Flemings aus der Leipziger Zeit sind mit einer Ausnahme kurze Epigramme in elegischen Distichen (in der Regel acht Verse). Eines von diesen ersten Abschiedsgedichten, das Epigr. X, 10 an Johannes Christopher Lobhartzberger um 1631/32, kann für das Gattungsverständnis von Fleming als programmatisch betrachtet werden, da es fast völlig der Gattungsreflexion gewidmet ist. Fleming diskutiert hier die zweifache Funktion der Reisegeleitgedichte: einerseits sind sie ein Beleg der wahren Freundschaft (V. 1–4), andererseits aber ein Reisebegleiter, der in der Einsamkeit während der Reise Trost spendet (V. 7f.). Gehört das erste Motiv seit den antiken Propemptika von Horaz, Statius u. a. sowie seit den spätantiken Gattungsvorschriften zu den oft genannten Funktionen der Reisegeleitgedichte, so entspricht das Motiv der Einsamkeit der Gelehrten und deren Überwindung durch Lektüre in seiner Grundstruktur zwar einem zentralen Gedanken des Humanismus, kommt aber in dieser speziellen Form (Einsamkeit während der Reise, Abschiedsgedicht als Tröster) sonst weder innerhalb der Gattungstheorie noch in der Gattungspraxis vor. Zu den typischen Reisebegleitern gehörten andere Arten der Reiseliteratur, wie Reisetagebücher, Reiseanleitungen und Reisehandbücher,14 und sie erfüllten eher eine intellektuelle als emotionale Funktion. Außerdem glaubt Fleming im Schlussteil des Gedichtes, dass das Abschiedsgedicht als personifizierter Reisebegleiter unsterblich ist. Hier kann die Anspielung an die berühmte Horazode 3,30 nicht übersehen werden: die Poesie als »monumentum aere perennius« (Horaz, Carm. 3,30,1) findet bei Fleming in »illa perennis | litera« eine Nachahmung: Ne tibi noster Amor possit male fidus haberi atque aliquid dubiae suspicionis alat, sume fidelanimam testantia symbola dextram. Carmen amicitiae pignus habeto meae. Sala capit te, Plissa vetus me vincit et una, quod foret in votis, improbus ire vetat. Solus eas? Non solus eas. Comes illa perennis litera contigui tessera cordis erit. [(1–4) Damit unsere Freundschaft dir nicht verräterisch scheint und keine zweifelhaften Verdächtigungen nährt, nimm diesen symbolischen Beleg meiner Treue! Mein Gedicht sei ein Pfand meiner Freundschaft. (5–6) Dich empfängt die Saale, mich hält die alte Pleisse bei sich und verbietet undankbar mitzukommen, wie ich es versprochen habe. (7–8) Musst du alleine gehen? Nein, du musst nicht alleine gehen – diese Schrift, ein Zeichen meines nahen Herzens, wird dein beständiger Begleiter sein.]
Drei frühe Reisegeleitgedichte von Fleming sind Ärzten gewidmet, die von anderen Städten ins Amt berufen wurden. Diese Propemptika sind ein Zeichen dafür, dass Flemings Bekanntenkreis und seine Interessen schon in Leipzig auf die
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Vgl. Ludwig (Anm. 5), S. 547–582.
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medizinische Sphäre gerichtet waren.15 Die Gedichte bestehen aus den gewöhnlichsten Bestandteilen dieser Gattung: es dominiert das Lob der Adressaten, kurz erwähnt werden die Traurigkeit der Zurückgebliebenen und die tieferen Gründe der Abreise, am Ende steht der Wunsch für eine gute Reise und eine beständige Erinnerung des Freundes. Unter den Reisegründen erscheint, wie häufig, dilectio patriae, die Liebe zum Vaterland. Einmal gelingt es dem Poeten, diesen Grund geschickt im Zusammenhang mit dem Beruf des Adressaten zu formulieren: da der Arzt von seinem Vaterland sein Leben bekommen hat, muss er sich jetzt um das Leben des Vaterlandes kümmern: »Quae tibi chara tuam tellus dedit antea vitam, / par huic est, vitam quod tueare suam.16 [›Dem lieben Vaterland, das dir einmal das Leben gegeben hat, / ist es angemessen, dass du jetzt sein Leben beschützest.‹] Über die Medizinkenntnisse von Fleming geben diese Gedichte, abgesehen von der Erwähnung üblicher mythologischer und historischer Gestalten wie Hygeia, Machaon, Apollo und Hippokrates, keine Auskunft. Die üblichste Art der frühneuzeitlichen lateinischen Abschiedsgedichte, die vor einer Bildungsreise geschrieben wurden,17 ist bei Fleming in dieser Periode dagegen nur mit einem einzigen Epigramm an seinen Leipziger Schüler Hans Löser vertreten.18 Das Gedicht betont die Nützlichkeit der Bildung aus sehr allgemeinen Gründen: Der Geist des Gebildeten wird vollkommen (V. 6), mit Hilfe der Bildung kann man den Reiseekel überwinden (V. 7), und der junge Mann ist nach der Rückkehr ins Vaterland besser gebildet (V. 8). Die unpersönliche und im Vergleich mit seinen späteren Abschiedselegien emotional auch verhältnismäßig neutrale Gestaltung dieses Gedichtes ähnelt den drei frühen Propemptika, die den Ärzten gewidmet wurden. Aufgrund der bisher behandelten frühen Reisegeleitgedichte Flemings ist festzustellen, dass die Trauer um die Abfahrt des Adressaten entweder gar nicht erwähnt, nur kurz genannt (»flevimus hunc abitum« Epigr. IV, 3, V. 5; »Lipsia triste gemat« Epigr. VII, 11, V. 6) oder für eine weibliche Emotion gehalten wird (»nomen lacrymabile matri« Epigr. X, 15, V. 3) und dass das fünfte gattungsübliche Motiv der humanistischen Reisegeleitgedichte, der Versuch den Abreisenden aufzuhalten, in den frühen Propemptika von Fleming keinen Ausdruck findet. Reise und Abfahrt scheinen für den jungen Fleming eher ein spannendes Erlebnis zu sein; beide bringen neue Erfahrungen und Möglichkeiten, und niemand sollte sie vermeiden. Aus dem sechsten frühen Propemptikon an Samuel Steuer (Man. Glog. V, 21), das als Dialog zwischen der weinenden Braut des Abreisenden und dem Poeten gestaltet ist und dessen Anfangsklage (V. 1–4) in der Tradition von Ovids Tristien 1,3 steht, geht noch hervor, dass entgegen der Tradition sogar die Frauen die Abfahrt des Geliebten nicht beklagen und den Reisenden 15 16 17 18
Sylv. IX, 5; Epigr. IV, 3, Epigr. VII, 11. – Vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band. Epigr. VII, 11, V. 7–8. Vgl. Ludwig (Anm. 5), S. 558. Epigr. X, 15. Zum biographischen Hintergrund dieses Abschiedsgedichtes Entner (Anm. 7), S. 362–364.
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nicht aufhalten dürfen (V. 5f.). Die Einstellung des Poeten gegenüber dem Reisen ist optimistisch – er glaubt fest, dass man von der Reise immer zurückkehrt und dass man deshalb vor der Reise nicht klagen muss.19 Eine Reise ist für ihn nicht mit der unmöglichen Rückkehr vom Tod (hier ist wohl der Tod von Flemings Freund Georg Gloger gemeint) zu vergleichen (V. 7f.). Is, o! o! et mea vita, vale! Mihi linquis inane, nec retrahunt dominum brachia nota suum? Sic lacrymat tua sponsa tibi, sic lassa quiritat, jugera dum patriae Chloridis ire paras. Ajo, sile, mea virgo, sile, mea desine questus, non etenim tantum quod lacrymeris habes. Ibit et, et tua vita pia cum sorte redibit; ivit, at aeternum non mea vita redit. [(1–4) »Leb wohl, mein Liebling, du reist ab und lässt mich alleine! Können die bekannten Arme ihren Herrn nicht aufhalten?« So weinte deine Braut deinetwegen, so klagte die Verlassene, als du dich zur Reise ins Heimatland des Chloris vorbereitet hast. (5–8) Ich sage: »Schweige, meine Jungfrau, schweige, verzichte auf deine Klagen. Du hast doch nichts worüber du weinen müsstest. Dein Liebling wird abreisen und wohlbehalten zurückkehren. Mein Liebling ist abgereist, kehrt aber nie wieder zurück«.]
Den Gegensatz der vorübergehenden Trennung während der Reise und der ewigen Trennung nach dem Tod findet man in keinen späteren Abschiedsgedicht Flemings. Relativ früh, im Juni 1631, hat Fleming auch einen Versuch gemacht, die Form der Elegie für das Reisegeleitgedicht zu verwenden. Diese Gedichtform setzt innerhalb der Gattungsgeschichte in der Regel eine gewisse Reife des Autors voraus: Die berühmten Poeten gestalteten ihre Reisegeleitgedichte meistens als Elegien, während die kurze Epigrammform eher unter den Gattungsbeispielen aus der Feder von Schülern und Studenten dominierte. So stellen die Elegien nur 20 % unter allen an der Universität Dorpat (heute Tartu) während der Periode 1632 bis 1656 verfassten studentischen Abschiedsgedichten, in den umfangreichen Anthologien der Delitiae Poetarum Germanorum und der Delitiae 19
Diese Haltung ist im Einklang mit dem (stoischen) Standpunkt von Cicero Laelius 20,75, der das Weinen vor der Abreise folgendermaßen kritisiert: »Nec enim, ut ad fabulas redeam, Troiam Neoptolemus capere potuisset, si Lycomedem, apud quem erat educatus, multis cum lacrimis iter suum impedientem audire voluisset. Et saepe incidunt magnae res, ut discedendum sit ab amicis: quas qui impedire vult, quod desiderium non facile ferat, is et infirmus est mollisque natura, et ob eam ipsam causam in amicitia parum iustus.« (»Denn sowie Neoptolemus – um wieder zu den Schauspielen zurückzukehren – Troja nicht hätte einnehmen können, wenn er dem Lykomedes, bei dem er erzogen worden war, hätte Gehör schenken wollen, als er ihn unter vielen Thränen von seiner Abreise abzuhalten suchte. So treten oft wichtige Vorfälle ein, wo man sich von seinen Freunden trennen muß. Wer diese nun, weil er die Sehnsucht nach dem Freunde nicht leicht zu ertragen meint, hintertreiben will, der ist schwach und weichlich von Natur und gerade aus diesem Grunde zu wenig gerecht in der Freundschaft.« Übers. von R. Kühner in M. Tullius Cicero: Laelius oder von der Freundschaft. Stuttgart 1864, Kap. 6, XX, 75 [online unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/1896/6; Dezember 2011]).
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Poetarum Belgicorum von Janus Gruterus jedoch über 80 %.20 Fleming scheint diese Tendenz bewusst gewesen zu sein, als er sein 34 Verse langes Gedicht zurückhaltend als Elegidion propempticon, M. Joanni Crügero scriptum (Kleine Abschiedselegie für Magister Johannes Krüger) bezeichnete.21 Die Bescheidenheit von Fleming hat aus der gattungstheoretischen Perspektive einen wesentlichen Grund: die Abschiedselegie setzte aufgrund ihres elegischen Wesens als Trauer- und Liebesgedicht den Wechsel des Grundtons von der Affekterregung zur Affektstillung voraus, einen Gegensatz, den Fleming trotz der langen Schilderung des Kriegselendes im Hauptteil des Gedichtes (V. 1–28) dann im propemptischen Schlussteil (V. 29–34) eigentlich nicht lösen konnte. So aufschlussreich dieses Gedicht für die Erforschung der Stellung Flemings gegenüber dem Krieg sowie seiner Opitz-Nachahmung auch ist, spiegelt sich hier noch Flemings Unfähigkeit, ein wirksames elegisches Reisegeleitgedicht zu verfassen, wider.
2. Zwei Abschiedselegien vom Herbst 1633 Eine neue, zweite Phase in der Dichtung lateinischer Propemptika bilden bei Fleming zwei längere Elegien in elegischen Distichen, die er im Herbst 1633, nach dem Auftrag zur Teilnahme an der holsteinischen Gesandtschaftsreise, verfasste. Das Entscheidende für eine solche Gruppierung seiner Abschiedsgedichte ist nicht nur der biographische Hintergrund selbst, sondern die Reife des Poeten. Jetzt kann er meisterhaft eine Abschiedselegie mit der Gemütserregung und -stillung gestalten, er wagt zu klagen, den Abreisenden aufzuhalten, sogar zu trösten.22 Den biographischen Hintergrund halte ich hier nur insoweit für wichtig, als diese Elegien an Fleming selbst und an seinen Freund Adam Olearius, also an sehr intime Adressaten gerichtet sind. In seinen späteren, während der Reise verfassten Abschiedsgedichten ist Fleming zur kurzen Epigrammform zurückgekehrt. In der ersten Elegie an Olearius, Propempticum Cl[arissimo] Oleario scriptum (Sylv. II, 12), verwendet Fleming zwei speziell für die elegischen Propemptika typische Motivgruppen: Sehnsucht nach dem Heimatland (desiderium patriae) und das (nutzlose) Aufhalten des Angeredeten. Es ist jedoch nicht der Abreisende Olearius, der um seine Heimat klagt, sondern die als Frau personifizierte Heimatstadt Leipzig, die um den Abreisenden klagt (patriae ist hier also genitivus subiectivus). Nachdem in zehn einleitenden Versen die Situation der Stadt eindrücklich in einer übertreibenden, emotional aufgeheizten Redeweise beschrieben wurde (sie »pavet«, »trepidat«, »gemit«, ist »non secura«, »misera«, »nimis credula«, »tota sepulta«, »orba«, »flens« usw.), wird im nächsten Distichon mit 20 21
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Hierzu Genaueres bei Viiding: Dichtung neulateinischer Propemptika (Anm. 4), S. 98f. Das Gedicht fehlt in der Standardausgabe von Lappenberg, ist aber in der Monographie von Entner (Anm. 7), S. 228–229 als Faksimile zu finden; er hat auch eine Prosaübersetzung hinzugefügt und den biographischen Hintergrund des Gedichtes erläutert (ebd., S. 227–232). Flemings Unfähigkeit, Trost zu spenden, hat Entner anhand seiner Trauergedichte mehrmals festgestellt, s. Entner (Anm. 7), S. 305.
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der Nachricht über die Abfahrt ihres Unterstützers ihr Unglück noch vergrößert. In den Versen 13 bis 21 folgt dann der Versuch der Heimat, ihren Held mit Küssen, Tränen, Seufzen, zukünftigen Geschenken und Schmeicheleien aufzuhalten. Jedoch ist Olearius kein Mann, der mit diesen Mitteln aufzuhalten ist: er hat sich entschieden, eher im fernen unbekannten Norden und Osten sein Glück zu suchen, als so viele Probleme seiner Heimat zu sehen. Er bleibt fest, wie Aeneas während seiner Flucht aus Troja, wie die Helden in den Heroiden von Ovid und die Liebhaber in den Elegien von Properz und Tibull – Fleming betont dies durch leichte wörtliche Anspielungen auf diese Werke. Nach 30 Versen voll Affekterregung kommt in zwei letzten Distichen schließlich die für die elegischen Propemptika typische Affektstillung: der Abreisende wird einmal zurückkehren, wobei seine Liebe unverändert geblieben ist, die zeitweilige Abreise ist für die bessere Zukunft der trauernden Heimat nötig.23 Das zweite elegische Propemptikon von Fleming Ad Timotheum Swiserum, V[irum] Ampliss[imum] (Sylv. II, 10) ist den äußeren Merkmalen nach ein Dedikationsgedicht, das der Poet im Oktober 1633 dem Vater eines seiner Reisegefährten, dem holsteinischen Rat Timotheus Schwirse, widmete. Entner hat es als eine Briefelegie mit der eingefügten Trostrede interpretiert;24 aufgrund der Motive und der strukturellen Ähnlichkeit der propemptischen Elegien von Properz würde ich es für ein in die Briefelegie eingebettetes fiktives Propemptikon halten. Ähnliche Experimente hat Fleming mit den anderen Arten der Reisegedichte vorgenommen, als er in PW IV, 53 ein Hodoeporicon in einen Brief einbettete. Auch hier handelt es sich um einen fiktiven Briefcharakter, da der Adressat des Hodoeporicon, Hartmann Grahmann, selbst an der Reise teilgenommen hatte.25 Sylv. II, 10 ist ein äußerst poetologisches Gedicht, in dem die lange Gattungstradition der Abschiedsgedichte ein Echo fand. Fleming kombinierte hier – wie Properz in seinen propemptischen Elegien 1,6; 1,8 und 1,11 – verschiedene Typen von Abschiedsgedichten. Das Ziel Flemings ist, wie Properz kein traditionelles Propemptikon zu schreiben, sondern seine eigene Krise zu dramatisieren.26 Im ersten Teil des Gedichts bis zum Vers 32 beschreibt Fleming die Vor- und Nachteile seiner bevorstehenden Gesandtschaftsreise. Es sind aber nicht die theoretischen Pro- und Contraargumente aus den in dieser Zeit populären Reiseanleitungen (Apodemiken),27 sondern sehr persönliche, der konkreten Reisesituation 23
24 25 26 27
Für Entner scheint dieses Gedicht vom biographischen Blickpunkt aus uninteressant gewesen zu sein; es wäre ein gutes Beispiel für den von ihm beschriebenen Stil der frühen lateinischen Gedichte von Fleming gewesen (Entner (Anm. 7), S. 140f.). Entner (Anm. 7), S. 366–369. Pohl (Anm. 7), S. 323, Anm. 182. Rauk (Anm. 2), S. 155. Zu den Apodemiken vgl. Ludwig (Anm. 5), S. 556f. mit weiterführenden Literaturhinweisen. Es ist interessant, dass Fleming in einer späteren Elegie an Timotheus Polus vom 30. Mai 1639 (Sylv. II, 22, V. 9–11) seine Reisegründe ganz in dem typischen Wortlaut der Apodemiken charakterisiert: »Jam quoque, qui patria me primus abegerat ardor, / velle calens alio visere sole solum, / quicquid et insoliti peregre mirantur euntes […]« (Übersetzung von Entner (Anm. 7), S. 460: »Längst war das Feuer gedämpft, das mich einst aus der Heimat getrieben, / andere Länder zu sehn, Sonne, die heftiger brennt, / und all das Fremde, was Reisende gern als was Neues bestaunen […]«).
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entstammende Gründe. Einerseits jubelt Fleming, dass er mitfahren darf, andererseits quälen ihn die Befürchtungen seiner Eltern. Insgesamt bildet dieser einleitende Teil der Briefelegie eine Rechtfertigung für das Abschiedsgedicht – ein Element, das sonst in den Reisegeleitgedichten eher kurz angedeutet wird. Danach beruhigt ein fiktives Propemptikon von Timotheus Schwirse die Bekümmernisse des Poeten (V. 37–72). Genau wie Properz sich in der Elegie 1,6 vorstellt, welches Abschiedsgedicht er von der geliebten Cynthia bekommen würde, wenn er aus Rom nach Asien abreisen würde,28 stellt Fleming sich hier ein Abschiedsgedicht aus der Feder des Vaters seines Freundes vor, wenn er – ähnlich wie Properz – Richtung Osten zu fahren plant: »Perge,« ais, »et tantae non sint discrimina molis, ut retrahant animum, te trepidante, tuum. Sit grave, sit dubium fato nec inane laborum pluribus et nimium, quod meditaris iter, omne quod excellens decus est et dulce futurum triste, quod incipimus, sensibus omen habet. Quanta per audaces surgunt tibi taedia motus, tanta revertentis gloria vatis erit. O quis amor patriis regnabit in oribus olim, quando redux dulcem filius intrat humum! Tunc iter et quicquid peregre tibi nobile visum est, quod rudibus sic vix auribus esse solet, expones avidis conviva vocatus amicis, tota stupens docto pendet ab ore cohors. Inter honoratos orator habebere mensas, cum taceant magni, te referente, viri. Perge tenax animi, tanti mihi digne decoris, nec patriae quondam fama pigenda tuae! Gratior advenies, quo suspiratior exis. Inferior tantis est dolor ipse bonis. Quid? Tuus in tantum dissuasor certus Olympi est, desperet reditus ut sua Fata tui? Quis scit, an infamis popularia signa grabati dum premit, effossam non prior intret humum. Adde, quod ambiguo dubium magis eximat aevo, grande mei socium pignus amoris habes. Hic meus, hic moestae tantum non unicus haeres matris in ignotam te comitatur humum. Quod si tanta forent vestrae discrimina vitae, missuri nostras non fueramus opes. Tu curam comitantis habe. Tibi credimus illum. Ite, pares tantas conficitote vias. Si qua subest alias redeuntibus ire sub oras vicinasque magis visere cura plagas, omnis ad exactum via saltus habebitur orbem, nomen et exigui vix meritura gradus.« Haec ais. […]
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Rauk (Anm. 2), S. 153.
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[(37–44) Du sagst: »Geh weiter, denn so schwer ist die Last nicht, dass du nun zitternd umkehren müsstest. Hart mag er sein und ungewiss immer, an Mühen wohl randvoll, der Weg, den du jetzt vorhast, aber alles, was einmal herrlich und süß sein wird, bringt trübe Vorahnungen mit sich, wenn wir es beginnen. Je entschlossener jetzt sich der Mut über die Sorgen erhebt, desto größer wird einst auch der Ruhm des zurückkehrenden Dichters sein. (45–52) O welche Liebe wird einmal im Vaterland herrschen, wenn der zurückkehrende Sohn auf den lieben Boden tritt! Dann erzählst du als eingeladener Gast den neugierigen Freunden über die Route und über alles, was dir in der Ferne edel schien, woran die unerfahrenen Ohren kaum gewöhnt sind, und die ganze Schar hängt voll Bewunderung an deinem gelehrten Mund. Dann wirst du Redner am Ehrentisch sein und während deiner Erzählung schweigen die wichtigen Männer. (53–66) Setze mit beständigem Mut fort, der du dieser Ehre würdig bist, und du wirst nie eine Schande für dein Vaterland sein! Je größer das Seufzen bei deiner Abreise sind, desto willkommener wird deine Ankunft sein! Der Schmerz ist geringer als diese guten Dinge. Was? Ist dein Vater, der gegen die Reise rät, so sehr sicher in himmlischen Dingen, dass er in Hinsicht auf Deine Rückkehr an seinem Schicksal verzweifelt? Wer weiß, ob er, während er die bekannten Vorzeichen für ein ruhmloses Totenbett ausmalt, nicht früher in die ausgegrabene Erde tritt? Füge hinzu, was den Zweifel noch mehr aus der unklaren Zeit nehmen dürfte, dass du das große Pfand meiner Liebe [d. h. meinen Sohn] als Reisegenossen hast. Dieser Gegenstand meiner Liebe, dieser beinahe einzige Erbe seiner traurigen Mutter, begleitet dich in das unbekannte Land. Wenn aber die Gefahren für euer Leben so groß wären, hätten wir unsere Schätze nicht fortgeschickt. (67–72) Sorge für deinen Begleiter. Dir vertrauen wir ihn an. Geht, und vollendet gemeinsam so weite Wege. Wenn ihr zurückgekehrt seid und noch vorhabt in andere Gegenden zu gehen und nähere Gefilde zu besuchen, wird jeder Weg bis zur Vollendung des Kreises nur für einen Sprung gehalten werden und kaum den Namen eines kleines Schrittes verdienen.« So sagst du.]29
Da sich diese Verse weder im Sprachgebrauch noch in der Versifizierungstechnik oder in den Stilmitteln vom Flemings Rahmengedicht unterscheiden, sind sie für ein Werk von Fleming und damit für ein fiktives Propemptikon zu halten. Der Schlussteil des Gedichtes (V. 73–82) beschreibt die Wirkung des Propemptikon: Fleming als »Adressat« des fiktives Abschiedsgedichtes ist durch das Propemptikon beruhigt worden und äußert durch die Anrede an die Götter seine Dankbarkeit für dasselbe. Fleming folgt hier der Abschiedselegie 1,8,B von Properz, dem ersten Gedicht innerhalb der Gattungstradition, in dem das Resultat eines Propemptikon (1,8,A) beschrieben wurde. Das Vorbild von Properz passt für Fleming sehr gut, da auch seine dramatische Krise sich zu einem positiven Schluss entwickelt hat. Der gewählte Gedichtaufbau und die Fiktivität des eingebundenen Propemptikons zeigen einerseits die tiefe Gattungskenntnis des Poeten, bieten ihm andererseits aber auch die Möglichkeit, auf der Motivebene Neues zu schaffen, das aus den Gattungsgrenzen heraustritt. Es ist ein Motiv, das nur in seine Abreisesituation passt und vor dem Hintergrund seines Lebenslaufes sinnvoll scheint: das Überzeugen des »Adressaten« von der Notwendigkeit der Abreise, d. h. die Selbstaufmunterung zum Reisen. Alle Reiseschwierigkeiten, Überdruss sowie Schmerz und Sehnsucht der Eltern sollen unbeachtet bleiben, nur der zukünftige 29
Die V. 57–72 sind teilweise sehr schwer zu verstehen. Die Übersetzung ist deshalb manchmal nur ein Versuch.
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Ruhm des Reisenden soll das Ziel sein. Als weitere Argumente werden hervorgehoben, dass man auch in der Heimat aus verschiedenen Gründen ein Opfer des Todes werden kann und dass Schwirse selbst seinen lieben Sohn dem Abreisenden mitgeben wird. Da als Grund für dieses Motiv vor allem die persönliche Reiseangst des Dichters durchschimmert, halte ich es in diesem Punkt für berechtigt, von einer Bereicherung des Genres aufgrund der eigenen Reiseerfahrungen (bzw. Vorahnungen) zu sprechen. Da das Gedicht jedoch nicht das Angsterlebnis gestaltet, sondern versucht, gegen die Angst zu argumentieren, liegt hier noch kein Ansatz zu einer modernen Erlebnisdichtung vor. Das Gedicht insgesamt gehört dank seines originellen Umgangs mit der Tradition zweifellos zu den größten Leistungen der neulateinischen Reisegeleitgedichte.
3. Abschiedsgedichte aus der Reisezeit Eine dritte Gruppe der Abschiedsgedichte von Fleming bilden seine Gattungsbeispiele aus der Reisezeit. Da er an der Gesandtschaftsreise wenigstens seiner eigenen Meinung nach als Hofpoet teilnahm,30 scheint er sich gewissermaßen verpflichtet gefühlt zu haben, die Abfahrt seiner Mitreisenden dichterisch zu feiern. Seine sieben Abschiedsgedichte, fünf kurze Epigramme in elegischen Distichen und ein längeres in jambischen Trimetern sowie eine Elegie mit insgesamt nur 87 Versen, zeigen fast alle einen Ton der unpersönlichen Verbindlichkeit. Hier sucht man vergebens die eigentümliche, anrührende Behandlungsweise oder die dramatische Darstellung seiner früheren Elegien. Er ist zur distanziert-objektivierenden Darstellung seiner Leipziger Kurzepigramme zurückgekehrt. In den Reisegeleitgedichten an Werner Kalm (auch Calmius; Epigr. XI, 16), Hartmann Grahmann (Epigr. III, 40) und Hans (Johannes) Bartholomäus Hensleus (Epigr. IX, 30),31 alle vermutlich 1635 in Reval verfasst,32 sowie an Levinus von Harthausen (Epigr. IV, 38) wiederholt sich eine schematische Motivfolge: die Feststellung der Abreise des Angeredeten, die Bitte, das ferne Heimatland zu begrüßen, der feste Entschluss, selbst bei der Gesandtschaft zu bleiben und das Lebewohl am Ende des Gedichtes. In diesen 8-zeiligen Epigrammen gibt es keine entfalteten Lob-, Klage- und Trostmotive, keinen Wechsel der Affekterregung und Affektstillung. Neu an diesen Epigrammen ist im Vergleich zu den früheren Kurzepigrammen einerseits das Betonen seiner eigenen Person, seiner Entscheidung, die Gesandtschaftsreise fortzusetzen. Wie in seinen anderen Gelegenheitsgedichten aus dieser Zeit kann Fleming auch in den Reisegeleitgedichten nicht über die Abreise anderer schreiben, ohne sich selbst ins Bild zu bringen.33 Andererseits ist Fle30 31 32 33
Vgl. die Ausführungen von Entner (Anm. 7), S. 370. Dieses Epigramm ist von Entner übersetzt und gründlich behandelt worden, s. Entner (Anm. 7), S. 397 u. 413. Vgl. Entner (Anm. 7), S. 389. Das ist ein Charakteristikum, das Entner für Flemings ›neuen Stil‹ allgemein für eigentümlich hält, vgl. Entner (Anm. 7), S. 444; Beispiele bringt er jedoch nur aus den Trauer- und Liebesgedichten (Ebd., S. 304, 322 u. 444).
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mings Leistung, dass er in einigen kleinen Details die gattungsüblichen Motive mit eigentümlichen Varianten bereichert hat. So ist das Lob des Abreisenden am Anfang des Epigramms an Harthausen mit dem Lob des Pferdes verbunden (Epigr. IV, 38, V. 1–4): At tu flos juvenum, lucenti flammeus ostro scandis, eques tanti non inhonorus equi. Sentit onus dominum generosi spina caballi, aure minatur, ovat gutture, calce ferit. [Aber du Blüte der Jugend, du vom strahlenden Purpur feuriger Reiter steigst (auf den Sattel), genauso würdig wie dieses großartige Pferd. Der Rücken des edlen Rosses spürt das Gewicht des Herren, spitzohrig wiehert es und schlägt mit dem Huf.]
Das Lebewohl an Hensleus mit der Einräumung, wie unvermeidlich und schmerzhaft das Reisen die Menschen verändert, hat schon Entner hervorgehoben (Epigr. IX, 30, V. 7–8): »Fiet, ut hoc doleam, quod non redeundo dolendus / sim mihi dissimilis dissimilisque tibi.« [›So mag es geschehen, dass es mich schmerzen wird, dass ich mich durch Nichtheimkehren / bedauerlicherweise sowohl mir selbst als auch dir unähnlich machen werde.‹] Sich selbst ähnlich zu bleiben ist ein charakteristisches Motiv in der ganzen Poesie von Fleming,34 das er mit diesem Beispiel auch in die Abschiedsdichtung eingeführt hat. In seinem ersten jambischen Abschiedsgedicht an Georg Wilhelm Pöhmer (Sylv. VI, 5, V. 9–11) thematisiert Fleming kurz die Sitte, unmittelbar beim Aufbruch der Reise oder am Abend zuvor mit Freunden in einem convivium Abschied zu feiern. Diese Gewohnheit wird sonst eher in den anderen literarischen Gattungen, z. B. in den Briefen oder in den Kommentaren zu den Gedichten als in der Dichtung selbst erwähnt.35 Pro te viales thure placamus Lareis, Papaverinas atque Termino dapes Cum lacte mistas lance libamus cava. [Wir besänftigen die Schutzgötter des Reisens mit Weihrauch, dir günstig zu sein, und opfern aus der hohlen Schale dem Gott der Grenzen die aus Mohnsamen und Milch bereiteten Gerichte.]
Ob zu dieser coena profecticia wie üblich auch das Vortragen der Geleit- und Abschiedsgedichte gehörte, lässt sich aus Flemings Gedicht nicht erkennen. In seinem letzten propemptischen Epigramm Intimo suo (Seinem innigen Freund, Epigr. IX, 43), nach der Vermutung von Lappenberg Olearius gewidmet, berührt Fleming zum zweiten Mal die Bildungsreisen, nachdem er schon in Leipzig ein solches Epigramm an seinen Schüler Hans Löser geschrieben hatte. Rela34 35
So z. B. in PW IV, 53, V. 442; im Trauergedicht auf die Frau Jeremias Aeschels V. 19 (zit. n. Entner (Anm. 7), S. 217); Sylv. VIII, Suavia 7, V. 20 usw. Vgl. Ludwig (Anm. 5), S. 557–558.
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tiv nutzlos für die Rekonstruktion der Biographie des Dichters, ist es jedoch ein interessanter Beleg von Flemings Kenntnissen über den üblichen Motivbestand der Reisegeleitgedichte und der zeitgenössischen neulateinischen Literatur. Bekanntlich haben die Humanisten für ihre neuartigen Bildungsreisen sich auf antike Lehren und Exempel berufen, darunter auf die Schrift des [Pseudo]-Isokrates Ad Demonicum: Zögere nicht, eine lange Reise zu machen, um die zu treffen, die etwas Nützliches zu lehren versprechen. Denn es ist schändlich, wenn die Kaufleute so große Meere durchqueren, um ihr vorhandenes Vermögen noch größer zu machen, während die jungen Leute nicht einmal Reisen zu Lande auf sich nehmen, um ihren Verstand zu verbessern.36
Der Gegensatz zwischen den Bildungsreisen und Handelsreisen entwickelte sich nach diesem Muster zu einem gängigen Motiv der neulateinischen Propemptika. Fleming führt in seinem Epigramm die gegensätzlichen Seiten des Reisens gelungen zur Synthese, indem er den Adressaten metaphorisch als einen Kaufmann der neuen Kenntnisse aus allen wissenschaftlichen Disziplinen und die Kenntnisse als Vermögen, Perlen und Güter darstellt: Tu novus Aonidum mercator et institor artis, pansophiae toto quaeris in orbe decus. Per freta, Riphaeae per inhospita frigora brumae, diceris ad magnos visere velle sophos. Tantarum licitator opum, mihi dulcis Amynta, i, precor, et toto duc Oriente decus. Relliqua suppeditat pretiosas Asia baccas, venales sed habet Persia sola sophos.
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[(1–4) Du, neuer Kaufmann der Musen und Krämer der Wissenschaften, suchst in der ganzen Welt die Ehre des Allwissens. Du sagst, dass du über die Seen, über die unfreundliche Kälte des Riphaeischen Winters die großen Weisen besuchen willst. (5–8) Geh, der du bei den Versteigerungen solcher Güter bietest, mein lieber Amyntas, und sammle deinen Schmuck aus dem ganzen Orient. Das ganze Asien ist voll von wertvollen Perlen, aber nur Persien bietet die Weisen zum Verkauf.]
Für Flemings eigene Erfindung darf diese Synthese jedoch nicht gehalten werden. Ein Jahr vor dem Aufbruch der ersten Gesandtschaftsreise hatte nämlich der niederländische Humanist Kaspar van Baerle im Rahmen der Einweihungszeremonie der neuen Lehranstalt Athenaeum Illustre in Amsterdam eine Rede Mercator sapiens, sive Oratio de coniungendis mercaturae et philosophiae studiis (Der kluge Kaufmann oder eine Rede über die Verbindung des Handels und der gelehrten Studien) gehalten, die in demselben Jahr auch gedruckt wurde. Das Ziel dieser Rede war zu zeigen, »in welcher sehr guten Weise die Fähigkeit zum Handel und zum gelehrten Studium miteinander übereinstimmen, so dass der zukünftige Handelsmann um so erfolgreicher ist, je glänzender seine humanistischen Kenntnisse sind«.37 Eines der Argumente für diese Übereinstimmung war Plato 36 37
Ad Dem. 19. Die Übersetzung ins Deutsche von Ludwig (Anm. 5), S. 553, Anm. 10. »[Illud ostendam: optimum esse mercaturae cum sapientiae ac litterarum studiis commerci-
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zufolge, dass die Kaufmänner nicht nur mit materiellen Gütern, sondern auch mit intellektuellen Schätzen handeln müssen.38 Gerade diese Idee bildete auch den Ausgangspunkt für Fleming. Wegen seiner Baerle-Verehrung halte ich es für möglich, dass Fleming seine Erfindung nicht direkt von Plato entlehnte, sondern durch die Vermittlung der Rede von Baerle darauf aufmerksam gemacht wurde. Zum Schluss der dritten Periode muss noch das Abschiedsgedicht Ad V[estros] N[obilissimos] et Magnificos, Philippum Crusium et Otthonem Brughemanum, quum primo e Ruthenia reversi, Revalia solverent [›An Ihre Edlen und Ehrwürdigen Herren Philipp Crusius und Otto Brüggemann, als sie nach der ersten Rückkehr aus Russland aus Reval aufbrachen‹, Sylv. II, 17] erwähnt werden. In diesem politischen Propemptikon an die führenden Personen der Gesandtschaft findet man in vielen Details deutliche Bezüge zur antiken Gattungstradition. Es handelt sich zuerst um das einzige lateinische Abschiedsgedicht Flemings, in dem er nach der antiken Mythologie griff (nach der Erwähnung der Weiterfahrt der Adressaten in den Versen 1 bis 4 und der Schilderung ihrer künftigen Ankunftszeremonie in den Versen 5 bis 14 werden die Gesandten in den Versen 15 bis 22 mit den berühmten Reisenden der antiken Mythologie verglichen) und an dessen Ende er seinen Adressaten göttliche Fürsorge wünschte (V. 23 »amor superum«). Zweitens bemerkt man gleich, dass die Adressaten nicht wie sonst im Imperativ mit »i« oder »ite« zur Abreise aufgemuntert werden, sondern ihre Abfahrt im Indikativ festgestellt wird (»itis« V. 3 u. 23). Es gibt damit eine Reihe von Zügen, die für die politischen römischen Propemptika, vor allem die Elegien 1,3 von Tibull und 1,6 von Properz, aber auch für die Epode 1 von Horaz charakteristisch sind. Die Gattungstradition wird jedoch nicht überall aufgegriffen. Im Unterschied zu den Vorbildern erwähnt Fleming nirgends sich selbst und bildet keinen Gegensatz zwischen der höheren politischen Aufgabe der Abreisenden und der eigenen bescheideneren Rolle als Poet (vgl. Messalla – Tibullus, Tullus – Properz, Maecenas – Horaz).39 Das Gedicht wirkt sehr unpersönlich sowohl vor dem Gattungshintergrund als auch unter den anderen Propemptika von Fleming, so dass es wohl auf eine Aufforderung hin geschrieben wurde.
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um, nec augendae rei curam mentis contemplationibus, nec has illi obesse,] verum optimis rationibus inter se conspirare, mercandi et philosophandi facultatem, ut tanto mihi felicior sit futurus mercator, quanto philosophari poterit luculentius.« (Caspar Barlaeus: Mercator sapiens, sive Oratio de coniungendis mercaturae et philosophiae studiis. Amstelodami 1632, S. 29). Et divinus ille Plato (wohl Respublica 2,12), ubi de constituenda republica laborat, mercatores in eam adscisci vult, non eos solum, qui res corporeas precio emunt et vendunt, sed et illos, qui animi cultum, scientias, artesque honesta mercede aliis divendunt (Barlaeus (Anm. 37), S. 30). Rauk (Anm. 2), S. 102–115.
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4. Das letzte Abschiedsgedicht Flemings Antwort im literarischen Spiel und obligatio mutua Sein letztes Abschiedsgedicht, ein jambisches Epigramm an Reiner Brockmann schrieb Fleming im Mai 1639, als er auf dem Rückweg aus Persien nach Holstein drei Monate in Reval verbrachte und von Brockmanns Abreise aus Reval nach Kadrina (St. Katharinen) hörte (Sylv. V, 10). Entner, der dieses Gedicht vom biographischen Aspekt her behandelte, hält es für »doch recht reserviert, weil sich seine Aussage (wieder einmal) auf eine Entschuldigung dafür beschränkt, daß das Gedicht eigentlich keinen Inhalt hat, Asien dörrte allen poetischen Saft aus.«40 Seiner Meinung nach zeigt es das abgekühlte Verhältnis zwischen Fleming und Brockmann.41 Betrachtet man das Gedicht im Kontext der anderen lateinischen Abschiedsgedichte von Fleming, ist festzustellen, dass es dem Dichter hier zum dritten mal gelungen ist, einen Wechsel der Affekterregung und -stillung innerhalb des Propemptikons zu gestalten, so wie in seinen Elegien an Olearius und an sich selbst vor der Gesandtschaftsreise. Die gegensätzlichen Gefühle sind geschickt im wechselnden Lob des Adressaten und der Klage über eigene bescheidene dichterische Fähigkeiten dargestellt. Den lobenden Versen 1–5a folgt die Klage über die eigene Situation (V. 5b–10), danach wird in den Versen 11 bis 14 die erfolgreiche Karriere von Brockmann betont, um wieder zu eigener Klage zurückzukehren (V. 15–17). In den Versen 18–23 wird der Adressat gebeten, die verlassene Stadt zu trösten. Das Gedicht schließt mit dem Lob des Adressaten ab: Pridem tenellae temperator aetatis, virtute multus, arte totus et Phoebo, nunc mysta coeli quinquies vocatoris, Reinere, nostri sera pectoris cura et dulcis ardor, si quid haec manus posset, quod posse quondam vix recordor et plango, nec aruisset omnis humor in nobis, quem Cyrrha potat, inter Asiae siccos flagrantis aestus, unico tibi, juro, totus vacarem, largus oris et crenae, dum mitis aether reddidisse nos nobis tandem quievit teque faustius fatum honore, censu, stirpe, spebus et vita potenter auget indiesque perditat. Ignosce fasso, languidi rogant versus, testes supremi! diximus vale Pindo inutilesque nauseamus ad Musas. Novelle Mysta, Viriae recens sidus tuaeque certa Tristferae salus et pax, expunge blandus lacrymas Revaleae, siccante labro suaviisque non paucis desiderantis te cor Harridis mulce abique praesens et suus tuis semper! Septemplici vir eruditus a Phoebo, 40 41
Entner (Anm. 7), S. 471. Ebd., S. 385 zum Verhältnis zu Brockmann.
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Die lateinischen Reisegeleitgedichte von Paul Fleming Lego loquentis audiens favos linguae Reineriumque mel potenter immitto, avarus auris, oris atque conspectus. Qui nuper imbuebat arte tot mentes, nunc mystae factus undiquaque salvabit.
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[(1–5a) Reiner, früher Gestalter der zarten Jugend, reich an Tugend, völlig der Wissenschaft und Kunst gewidmet, nun Pastor des himmlischen (Vaters), der dich das fünfte mal ruft, neue Sorge meines Herzens und geliebte Flamme,42 (5b–14) wenn diese Hand überhaupt für etwas fähig ist – kaum erinnere ich mich daran, was sie einst konnte, und klage deshalb – und wenn mitten in der dürren Hitze des feurigen Asiens aus mir der ganze Saft, den Cyrrha trinkt, nicht ausgedörrt ist, widme ich mich völlig dir alleine, ich beschwöre es freigebig mit dem Mund und der Feder, bis die angenehme Luft uns an einem Tag wieder einander treffen lässt und das glücklichere Schicksal dich mit Ehre, Vermögen, Nachkommenschaft, Hoffnung und Leben fördert und von Tag zu Tag bereichert. (15–17) Verzeih dem Ermüdeten, bitten die erschöpften Verse. O himmlische Zeugen, wir haben vom Pindos Abschied genommen und erbrechen uns bei den nutzlosen Musen. (18–23) Der neue Pastor, neue Stern des Wierlandes, festes Heil und Ruhe von St. Katharinen, tilge zart die Tränen von Reval, besänftige mit dem trocknenden Mund und zahlreichen Küssen das Herz des Harriens, das sich nach dir sehnt, geh und sei für die Deinen immer hilfreich! (24–29) Vom siebenfachen Phoebus gebildeter Mann, zuhörend sammle ich Honig von der predigenden Zunge und befeuchte mich mächtig mit dem Honig von Reiner, mit gierigen Ohren, Wangen und Augen. Der vor kurzem so viele Seelen mit Kunst befeuchtet hat, ist nun ein Pastor geworden und bringt überall das Heil!]
Dass die Klageverse nicht unbedingt für eine direkte Widerspiegelung der wirklichen Gefühle Flemings gehalten werden müssen, wie Entner annahm, sondern für eine Antwort im gegenseitigen literarischen Spiel, signalisiert der Vergleich mit einem lateinischen jambischen Abschiedsgedicht von Brockmann, das dieser im Jahre 1635 auf Hartmann Grahmann verfasst hatte. Obwohl der Adressat dieses Gedichtes Grahmann war, lobt Brockmann in den mittleren Versen (V. 9–16) Fleming als wahren Apoll, der Vergil ähnlich ist und der mit Recht ein Nachfolger von Opitz genannt werden kann. Die Verbindung mit dem Abschiedsgedicht von Fleming belegen sowohl dasselbe jambische Metrum und fast dieselbe Zahl der Verse (bei Brockmann 28, Fleming 29) als auch ähnliche Wechsel des Lobes des Adressaten und der eigenen Bescheidenheit. Das Propemptikon von Brockmann beginnt folgend: Vir erudite, cujus immensum decus Titan resurgens novit et Titan cadens, Lubens futuris Te sacrarem Posteris, Supraque celsas siderum ferrem domos Ovante Jambo, quo nec aes perennius, Durumque ferrum sit magis durabile: Si non, idem Vatem minorum gentium 42
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Ich übersetze das Wort ardor bewusst mit ›Flamme‹, da hier in der variatio der Synonyme (ardor und flamma) ein Wortspiel steckt: auf die übliche Etymologie des Namens von Fleming (flamma) wird so hingewiesen, als ob Brockmann dimidium animae oder Alter Ego des Poeten wäre.
366 Haud sustinere, Phoebus ipse diceret. Hanc imbecilitatis hujus conscij Tibi, Fleminge, cedimus provinciam, Fleminge clare, qui Maronis aemulus, Opitijque dignus audis assecla, Versuque versus coeterum vincis tuo, Quantum cupressi celsiores opprimunt Viburna lenta vel myricas parvulas. Hic dicet, ut labore semper improbo Sanaveris quam plurimos fidus comes […].
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[(1–6) O gelehrter Mann, dessen riesige Ehre sowohl derr Sonnenaufgang als auch der Sonnenuntergang kennt, ich würde dich vor den zukünftigen Generationen rühmen und hoch auf die hochragenden Sternenhäuser heben in den lobenden Jamben, die Erz überdauern und hartes Eisen aushalten, (7–15) wenn nicht, sie ertragen keinen Dichter der kleineren Völker, Phoebus selbst sprechen würde. Da wir unsere Unfähigkeit kennen, räumen wir diesen Bereich dir, o Fleming, ein; berühmter Fleming, Nacheiferer von Maro, der du für den würdigen Begleiter von Opitz gehalten wirst und mit deinen Versen die Verse von anderen übertriffst, so wie die höheren Zypressen die langsam wachsenden Schneebälle oder kleinen Tamarisken zu Boden drücken. (16–17) Er wird sagen, wie du als treuer Begleiter mit rastloser Arbeit so viele wie möglich heiltest (…).]
Als Zusammenfassung lässt sich feststellen, dass die dichterische Wirkungszeit von Fleming zu kurz blieb und der Poet kaum alle Gattungsmöglichkeiten der Abschiedsgedichte ausschöpfen konnte. Nie hat er sich in dieser Gattung der lyrischen Versmaße bedient, sondern sich mit relativ gleichartigen elegischen und jambischen Versmaßen begnügt. Überwiegend war es für ihn eine Art Gelegenheitsdichtung, wofür die kurze Epigrammform ausreichte. Von den antiken Vorbildern hat Fleming in seiner Dichtung am gründlichsten die Elegien von Properz und die politischen Propemptika der augusteischen Dichter Horaz, Tibull und Properz benutzt. Einen direkten Einfluss der konkreten Poetikhandbücher auf seine Reisegeleitgedichte konnte ich nicht feststellen. Seit seinen ersten Propemptika hat Fleming jedoch seine eigene Art der Abschiedsgedichte herausgebildet: sie beschäftigen sich kaum mit der Reise, sondern mehr mit der Verbindung des Abreisenden und des Zurückbleibenden. Erstens behandelt Fleming nie, trotz der Vorschrift von Scaliger, die Abreisezeit, die Reiseroute, den Ankunftsort; fast nie verwendet er Motive aus den Reiseanleitungen (Apodemika), wie z. B. Reisegefährten. Zweitens verzichtet er (mit einer Ausnahme) auf den gattungsüblichen Vergleich mit den berühmten antiken Reisenden (und mit der antiken Mythologie überhaupt) sowie auf das Gebet an Gott. Stattdessen wünscht er seinen Adressaten die Gunst der Mitmenschen und die Erinnerung an Zurückbleibende. Drittens bringt er oft die eigene Person ins Bild, in der Leipziger Zeit zwar noch selten, in der Reisezeit jedoch fast immer, und in der Regel im Vergleich mit dem Abreisenden. Insofern ist es verständlich, dass die Forschung seine Propemptika häufig als Freundschaftsdichtung behandelt hat. Eindeutig ist das mit der Briefelegie umrahmte fiktive Propemptikon (Sylv. II, 10) als Wirkung von Flemings eigenen Reiseerfahrungen auf seine Ab-
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schiedspoesie zu interpretieren. Hier wurde der Dichter motiviert, den traditionellen Gattungsrahmen zu überspringen. Es handelt sich jedoch nicht um eine erlebte, sondern um die noch bevorstehende Reise, an welcher der Poet erst noch selbst teilnehmen wollte. Von der persönlichen Reiseangst bewegt, hat er ein völlig neues Motiv in die Gattung eingeführt: das Überzeugen des Adressaten von der Notwendigkeit der Abreise, eine (Selbst-)Aufmunterung zum Reisen. Damit hat Fleming zwar noch keinen Schritt in Richtung auf die Erlebnisdichtung gemacht, jedoch einen wesentlichen eigentümlichen Beitrag für die Gattungsgeschichte geleistet.
Harald Tausch
Erinnerungen an das irdische Paradies Persien und die Alchimie bei Paul Fleming und Adam Olearius
1. Zur Fragestellung Anfang November 1633 brach eine vielköpfige Gesandtschaft im Auftrag von Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf von Travemünde aus auf, um über Moskau nach Persien zu reisen. Dieser unter der Leitung der beiden Gesandten Otto Brüggemann und Philipp Crusius stehenden Gesellschaft haben sich Adam Olearius als Sekretär und der um zehn Jahre jüngere angehende Mediziner Paul Fleming als Hofjunker und Truchsess angeschlossen. Olearius führte ein »TageRegister«,1 das Grundlage für seine spätere Beschreibung der Reise sein sollte, die 1647 in erster, 1656 in erheblich erweiterter, zweiter Auflage unter dem Titel Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse erschien. Fleming verfasste seinerseits zahlreiche Gedichte, die nur zu einem kleinen Teil von Olearius in diese Reisebeschreibung aufgenommen wurden. Wie bekannt, erwies sich die Gesandtschaft als Fehlschlag. Erst traf man verspätet im August 1634 in Moskau ein, dann verlangte der Zar eine Bestätigung Friedrichs III., die die Reisenden zur Umkehr und zu einem neuen Anlauf mit nunmehr weit über einhundert Personen zwang. So traf man erst 1636 nach einem neuerlichen langen Moskauer Aufenthalt in Persien ein, erreichte das Ziel, die von Schah Abbās I. bis zu seinem Tod im Jahr 1629 spektakulär ausgebaute Residenzstadt Isfahān sogar erst im August 1637. Zwei Jahre später, im August 1639, traf man wieder in Gottorf ein. Ein dreiviertel Jahr später war der erst kurz zuvor an der Universität Leiden promovierte Mediziner Paul Fleming tot. Hindernisse, Schiffbrüche, Krankheiten, Hinrichtungen, aber auch reizvolle persische Gärten, befremdliche Gebräuche, prachtvolle Architekturen kommen in der um Sachlichkeit, Genauigkeit und ein gediegenes Urteil bemühten Reisebeschreibung von Adam Olearius in solcher Fülle vor, dass sie bald ein berühmtes,
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Wolfgang Neuber: Adam Olearius. In: Archiv der Geschichte der Naturwissenschaften 14/15 (1985), S. 723–728, hier S. 723. Aufschlüsse über die Netzwerke von Olearius verspricht die Auswertung seines Stammbuchs, vgl. Jan Drees: Stammbuch/ Adam Olearii/ Fürstl. Holstein Gott. Gesandtschafts/ Raths und Secretarii der Gesandtschaft an d. Muscowitischen/ und Persischen Hof. Das Stammbuch des Gottorfer Hofgelehrten Adam Olearius (1599– 1671). In: Jahrbuch des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, Schloß Gottorf N. F. 10 (2005/06), S. 12–23.
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mehrfach aufgelegtes, in viele Sprachen übersetztes,2 noch in neueren Zeiten überarbeitetes und für die Jugend nacherzähltes Werk wurde. Die Wissenschaft hat hier viele Mythen berichtigen können, indem sie vor allem sachliche Hintergründe erforschte. Zahlreiche Arbeiten über die erzwungenen Aufenthalte in Reval, historische Studien über die Moskauer Reiseabschnitte, eine größere Untersuchung über die Persiensicht von Olearius haben wichtige Aspekte erhellen können. Lange herrschte ein Konsens, dass die Bedeutung der Reisebeschreibung von Olearius in ihrer Revision alter Schemata durch empirische Beobachtung liege. Die breite Darstellung Persiens, die in der zweiten Auflage der Reisebeschreibung fast den Umfang einer Landeskunde annimmt, ist insbesondere durch Elio Brancaforte in Visions of Persia in diesem Sinne analysiert worden, indem zugleich die prinzipiell eurozentrische Perspektive des frühneuzeitlichen Verfassers verdeutlicht wurde. Orientiert man sich letztlich an der Genauigkeit des Kartographen Olearius, wie Brancaforte dies trotz seiner kultursemiotischen Ausgangsfragestellung tut,3 dann gerät jedoch eine bislang kaum beachtete Seite dieser Reisebeschreibung aus dem Blick: Eine jenseits des empirisch Beobachtbaren spürbar werdende, sinngebende Ebene, die bisher meist als Erbteil eines noch immer ungebrochenen Glaubens an Providenz verstanden wurde, so, als wirke diese alte christliche Vorstellung eben noch immer in das im übrigen fast schon aufklärerische Anliegen von Olearius hinein.4 Demgegenüber soll im Folgenden gezeigt werden, dass 2
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John Emerson: Adam Olearius and the Literature of the Schleswig-Holstein Missions to Russia and Iran, 1633–1639. In: Études Safavides. Hg. v. Jean Calmard. Paris/Téhéran 1993 (Bibliothèque Iranienne, Institut Français de Recherche en Iran 39), S. 31–56, hier S. 43– 51. Elio Christoph Brancaforte: Visions of Persia. Mapping the Travels of Adam Olearius. Cambridge (MA)/London 2003 (Harvard Studies in Comparative Literature 48). Brancaforte geht von Edward Saids Konzept des »Orientalismus« aus (vgl. S. 4), ordnet im Hauptteil seiner Untersuchung »Adam Olearius as Cartographer« (S. 109–184) die Leistungen von Olearius jedoch vergleichsweise konventionell in die Geschichte der Entwicklung der Kartographie ein. Zur Geschichte der deutschsprachigen Beschäftigung mit Persien vgl. Hamid Tafazoli: Der deutsche Persien-Diskurs. Zur Verwissenschaftlichung und Literarisierung des PersienBildes im deutschen Schrifttum. Von der frühen Neuzeit bis in das neunzehnte Jahrhundert. Bielefeld 2007, hier S. 159–194 zur holsteinischen Gesandtschaft und S. 166–169 zu Adam Olearius im Besonderen. Detlef Haberland: Einführung des Herausgebers. In: Adam Olearius: Moskowitische und Persische Reise. Die Holsteinische Gesandtschaft beim Schah 1633–1639. Hg. v. dems. Wien 1986, S. 13–46, hier, S. 25f. Ähnlich argumentiert Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 126. Thomas Strack geht über diese Annahmen hinaus, indem er eine multiperspektivische Auffächerung des Berichtes von Adam Olearius konstatiert, die im Versuch des Beobachtens, Verstehens und Beschreibens fremder Ethnien begründet sei; Thomas Strack: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius – Hans Egede – Georg Forster. Paderborn 1994 (Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte 2), insbes. S. 58. Wolfgang Struck betont wiederum im Gegensatz zu Strack die Rhetorizität des Textes, indem er schon auf der Ebene der Textimmanenz ein Spannungsverhältnis zwischen Narration und Digression näher zu bestimmen sucht, das als solches die Souveränität der Erzählhaltung in Frage zu stellen bestimmt sei; Wolfgang Struck: Evidenz und evidentia. Die
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diese sinngebende Ebene, an welcher die Einschaltung von Gedichten Flemings den größten Anteil hat, nicht aus einer wie immer beschaffenen theologischen Tradition heraus zu verstehen ist. Vielmehr entsteht sie durch das Bemühen von Olearius, sein Material erzählerisch auf eine Weise darzubieten, die es vor allem auch erlaubt, sein eigenes und das Motiv seines Freundes Fleming, sich der Reise anzuschließen, zu erkennen zu geben, ohne dass es explizit ausgesprochen werden müsste. Barbara Becker-Cantarino hat darauf hingewiesen, wie frei Olearius in seiner Reisebeschreibung mit jenen Fakten verfuhr, die in den von ihr aufgefundenen Briefautographen Flemings dokumentiert sind.5 Gezeigt werden soll, dass dieses freie Schalten mit dem Material zumindest partiell auf einem literarischen Textkalkül beruht, welches in einem modernen Sinn als verdeckende Erinnerungsperspektive beschrieben werden kann.6 Hierbei scheint es weniger um ein Unterlaufen der »Einheitlichkeit und Souveränität der Erzähler-Perspektive«,7 als vielmehr darum zu gehen, das zu Berichtende mit Hilfe einer Camouflage-Technik im nachhinein zu deuten, ohne zu deutlich werden zu müssen. Diese Vorentscheidung bringt mit sich, dass im Folgenden zwar keine neue These zum Zweck der Gesandtschaft als solcher vorgetragen werden soll, wohl aber zu den Motiven von Fleming und Olearius sich ihr anzuschließen. Seit Dieter Lohmeiers Nachwort zum Neudruck der Vermehrten Newen Beschreibung
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Suche nach einem dokumentarischen Stil in Adam Olearius’ »Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse« (1656). In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 30 (2007), S. 61–77, hier S. 62; vgl. auch Wolfgang Struck: »Persien in Persien suchen und nicht finden«. Adam Olearius und Paul Fleming auf der Reise nach Isfahan (1633–1639). In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Hg. v. Christof Hamann u. Alexander Honold. Göttingen 2009 (Poiesis. Standpunkte der Gegenwartsliteratur 5), S. 23–41. Im Folgenden soll eine dritte Position bezogen werden, die das Ineinander von kulturell bedingten Geheimhaltungsstrategien mit einer nur andeutenden und daher literarisch produktiven Form der Intertextualität beschreibt. Barbara Becker-Cantarino: Drei Briefautographen von Paul Fleming. In: Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981), S. 191–204, hier S. 194. Literarische Darstellungsverfahren hat auch Hans-Georg Kemper konstatiert. Allerdings interessiert Kemper vorrangig, inwiefern die Reisebeschreibung sich durch dieses konzeptionelle Moment dem zeitgenössischen Roman annähere. Er konzentriert sich daher auf den Aufweis von Erzähltechniken, die Spannung erzeugen und der »›variatio‹ der Stoffpräsentation« dienen; Hans-Georg Kemper: »Denkt, dass in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei!« Zur Muscowitischen vnd Persischen Reise von Adam Olearius und Paul Fleming. In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Hg. v. Xenja von Ertzdorff. Amsterdam/Atlanta 2000 (Chloe 31), S. 315–344, hier S. 330. Letztlich liest auch Michael Harbsmeier aus anthropologiehistorischer Sicht frühneuzeitliche Reisebeschreibungen als hochgradig fiktive Gebilde, die weniger mit den empirisch bereisten Orten als vielmehr mit den erwartbaren Topoi über sie zu tun haben: Michael Harbsmeier: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M./New York 1994 (Historische Studien 12), hier S. 164f.: Die Rolle Persiens im Rahmen der Reisebeschreibung von Olearius wird hier vor allem von dem topischen Urteil her verstanden, diese »Gegenwelt« stelle den Musterfall einer orientalischen Despotie dar. Im Gegensatz hierzu gehe ich davon aus, dass die literarische Erinnerungsperspektive von Reiseberichten zwar immer schon, jedoch stets in Interdependenz mit ihrer eigenen historischen Zeit und Umgebung, also in einer sich ständig wandelnden Weise, die auch literarische Darstellungsverfahren umgreift, in ein Spannungsfeld aus Empirie und Konstruktion gestellt ist. Struck: Evidenz (Anm. 4), S. 70.
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Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Herzog Friedrichs III. Ehrgeiz dahin ging, die Monopolstellung der East India Company für den Handel mit Seide anzugreifen, indem ein Handelsweg gefunden werden sollte, der bestimmte Waren, insbesondere Seidenbrokat, aus dem mittleren und fernen Osten auf dem Landweg bzw. über die schiffbaren Flüsse Russlands und Persiens an den Türken vorbei führen sollte.8 Daher habe sich der Blick von Friedrich III. und – zuvor schon – reichen Kaufleuten wie dem Hamburger Otto Brüggemann von Holstein aus auf Russland und Persien gerichtet. Lohmeier hat damit die ältere Ansicht von Hans Rodenberg revidiert, dass es jenseits dieser ökonomischen Ziele um einen veritablen »Kreuzzug gegen die Türken«9 gegangen sei, der den Dreißigjährigen Krieg beenden sollte, indem der gemeinsame außenpolitische Gegner am Bosporus mit Krieg überzogen würde. Rodenberg zufolge wäre der Protestant Fleming ein Parteigänger einer letztlich habsburgisch-spanischen Unternehmung gewesen, die sich des holsteinischen Herzogs als eines heimlichen Mittelsmannes bedient hätte, um den russischen Zaren und den persischen Schah als Partner gegen das Osmanische Reich zu gewinnen.10 Angesichts derartiger Weltverschwörungsfantasien, die durch den französischen Gesandten in Schweden Pierre Chanut um 1650/51 in die Welt gesetzt wurden,11 die so abwegig jedoch gar nicht sind,12 nimmt sich die andere Frage, 8
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Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse. Schleswig 1656. Hg. v. Dieter Lohmeier. Tübingen 1971 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 21), hier S. 3*–62*: [Dieter Lohmeier:] Adam Olearius Leben und Werke. Hans Rodenberg: Paul Fleming und seine Russlandreise. In: Sinn und Form 5 (1953), 3. und 4. Heft, S. 232–254, hier S. 241. Bereits Wilhelm Ernst Christiani bzw. sein Fortsetzer Hegewisch haben 1801 die ökonomischen Ziele der Gesandtschaft Friedrichs III. betont und eine weitere These zu widerlegen gesucht, welche lautete, dass Friedrich III. »auf nichts Geringeres gedacht, als Schweden zu erobern«; Wilhelm Ernst Christiani’s Geschichte der Herzogthümer Schleswig und Holstein unter dem Oldenburgischen Hause; fortgesetzt von D. H. Hegewisch. 3. Theil: Schleswig und Holsteins Geschichte unter dem Könige Christian IV und den Herzogen Friedrich II, Philipp, Johann Adolf und Friedrich III oder von 1588 bis 1648. Kiel 1801, S. 272. Lohmeier (Anm. 8), S. 9*: Die Memoiren Chanuts wurden jedoch erst 1675 in Paris publiziert, genau genommen wurde das Gerücht daher erst entscheidende 25 Jahre später in Umlauf gebracht. Für die Abwehr der Türken an den Grenzen ihrer Erblande bedurften die habsburgischen Kaiser der finanziellen und militärischen Unterstützung aller, also auch der protestantischen Reichsstände. Der sogenannte große Türkenkrieg bis 1609 war daher aus protestantischer Sicht auch ein Machtmittel gegen die stets drohende Gefahr der Majorisierung durch die katholischen Reichsstände. Wie Møller Jensen jüngst auf breiter Quellenbasis darlegte, durchdrang die Kreuzzugsideologie unabhängig hiervon auch nach der relativen Konsolidierung der Reformation das nördliche Europa, indem sich Luthers eher apokalyptisch getönte Sicht auf die Dauerbedrohung der Christenheit durch die Türken etwa bis zum Jahr 1650 in verschiedenen, insbesondere von dänischer Seite vorangetriebenen ›Kreuzzugsprojekten‹ konkretisierte; vgl. Janus Møller Jensen: Denmark and the Crusades, 1400–1650. Leiden/Boston 2007 (The Northern World 30). Darüber hinaus hat die Geschichtsschreibung zur safavidischen Außenpolitik unter Schah Abbās I. zutage gebracht, dass die Inititative zu einem möglichen gemeinsamen persisch-europäischen Vorgehen gegen die Pforte zunächst von Persien ausging. Abbās I. versuchte mit Gesandtschaften an den Papst in Rom, an Kaiser Rudolf II. in Prag und weitere europäische Herrscher auf diplomatischem Weg eine antiosmanische
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warum Adam Olearius und Paul Fleming sich dieser Gesandtschaft überhaupt angeschlossen haben, erheblich bescheidener aus. Ein besonderes Interesse an Handelswegen, an Fragen der Ökonomie oder an Seidenbrokat im Besonderen wird man keinem der beiden nachsagen können, ebensowenig wie die spanischen Habsburger ihre politischen Hoffnungsträger gewesen sein dürften. Die plausibelste Hypothese, die bisher vorgetragen wurde, ist eine ›negative‹: die beiden seien vor dem Krieg geflohen.13 Heinz Entners höchst anschauliche Rekonstruktion der historischen Ereignisse des Jahres 1631 in und um Leipzig lässt diese Antwort denn auch zunächst plausibel erscheinen.14 Doch eine positive Antwort, warum der werdende Medicus Fleming sein Studium für länger unterbrach und die Strapaze einer gefährlichen Reise nach Persien auf sich nahm, fehlt bislang.15 Sie fehlt, weil die Dokumente schweigen, und weil Olearius die Frage nach dem Zweck der Reise übergeht. Allenfalls das eine oder andere während der Reise entstandene, allerdings außerhalb der Reisebeschreibung von Olearius veröffentlichte Gedicht seines Freundes Fleming wird
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Allianz herbeizuführen. Allerdings verlor Abbās I. jedwedes Interesse an einer solchen Allianz, als er zu verstehen begann, wie zerrüttet die politischen Verhältnisse innerhalb Europas waren. Wenn nicht einmal der Papst und der Kaiser die selben Interessen verfolgten, wie sollte dann die von ihm erwünschte Brücke zwischen dem Orient und dem Okzident auf sicherem Grund errichtet werden können? Die sehr viel spätere Persien-Gesandtschaft aus Holstein, der Fleming und Olearius sich anschlossen, hatte dem Nachfolger von Schah Abbās I., Schah Safī, dessen politische Ambitionen sich ohnehin eher auf die Konsolidierung der Reformen seines Vorgängers im Inneren seines Reiches verschoben, angesichts dieser sicherlich noch erinnerlichen Ausgangssituation schlicht keine realistischen außenpolitischen Optionen zu bieten. Vgl. Yves Bomati, Houchang Nahavandi: Shah Abbas Empereur de Perse 1587–1629. [Paris] 1998, S. 114–140, insbesondere S. 135 zur politischen Kehrtwende von Schah Abbās I.; Andrew J. Newman: Safavid Iran. Rebirth of a Persian Empire. London 2006, S. 73–80 zu Grundzügen der Herrschaft von Schah Safī; Volker Press: Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715. München 1991 (Neue deutsche Geschichte 5), S. 24f., zu den indirekten Auswirkungen von Abbās’ I. antiosmanischer Politik auf das Reich – also der Entlastung der sogenannten Militärgrenze – sowie zu der wieder erstarkenden Gefährdung des Reiches durch die Türken nach seinem Tod. Lohmeier (Anm. 8), S. 9*: »Beweggrund« zumindest für Olearius seien die »politischen Verhältnisse« gewesen; ähnlich Kemper (Anm. 6), S. 317: »[F]ür beide [Olearius und Fleming] war das Reise-Abenteuer ein willkommener Anlaß, den in Sachsen und Leipzig tobenden Kriegshandlungen zu entgehen«. Allerdings hat bereits 1899 Albert Bornemann nachdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Hypothese keinerlei Anhalt in Flemings Gedichten findet. Bornemann arbeitet heraus, dass Fleming von Persien »Weisheit« erhofft, der Reise überhaupt »hohe Bedeutung« zumisst und die Gesandtschaft als »eine herrliche That, die der ganzen Menschheit zu gute kommt« preist. Auch eine »verzweifelte Stimmung« meint er in »der Zeit der Rückkehr von Ispahan nach Reval« beobachten zu können; Albert Bornemann: Paul Fleming. (Veranlassung zu seiner Reise. – Seine Gelegenheitsdichtung). Stadtgymnasium zu Stettin, 30. Programm, Ostern 1899. Stettin 1899, S. 5, 6 u. 9. Mit anderen Worten: Alle Indizien deuten auf eine im positiven Sinn auf Persien gerichtete Intention, die Reise anzutreten, nicht auf den ›negativen‹ Wunsch, den Auswirkungen des Kriegs durch ein ja nicht gerade ungefährliches Ausweichmanöver zu entgehen. Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 179–307. Vgl. Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster. Hamburg 1993 (Zeit und Text 1), S. 205f.
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in diesem Punkt ein wenig deutlicher. Den Fluchtcharakter benennt beispielsweise ein Gedicht an Hartmann Grahmann, den aus dem thüringischen Stadtilm stammenden Gesandtschaftsarzt und Freund Flemings.16 Flemings An Herrn Olearien/ Vor Astrachan der Reussen inn Nagaien/ m. dc. xxxvi deutet hingegen an, Olearius habe nicht mehr »der Angst« im toten Deutschland zusehen können und deswegen sich »den Weeg weit in den Aufgang«17 – also Richtung Sonnenaufgang – vorgenommen. Er selbst, Fleming, von Olearius »mit […] genommen«,18 spricht hier von der Medizin in einem Kontext, der unbestimmt auf seine eigenen Ziele verweist. Dies würde den Fluchtcharakter mit einer Richtung versehen, die auf ein wissenschaftliches Ziel deutet. Marian R. Sperberg-McQueen hat diese sowie weitere Gedichte Flemings in die Tradition der poetischen Episteln eingereiht, insgesamt jedoch eher davor gewarnt, aus dem rhetorischen Charakter dieser Texte auf die Reise selbst schließen zu wollen.19 Da ich diese Einschätzung zumindest mit Blick auf die von ihr behandelten Episteln weitgehend teile, sollen diese im Folgenden letztlich keine Rolle für meine Überlegungen spielen. Prinzipiell ist jedoch festzustellen, dass ein solches Rätselspiel hinsichtlich der Motive von Olearius und Fleming schon vom zeitgenössischen Leser angestellt werden konnte, wenn nicht sollte. Olearius selbst schuf die Grundlage dafür, dass schon der zeitgenössische Leser vergleichen konnte, welche Gedichte Flemings in die Reisebeschreibung aufgenommen wurden und welche nicht. Er gab nämlich zuerst die Teütschen Poemata, dann seine Reisebeschreibung heraus. In der Intention, ein solches Vergleichen zu ermöglichen, könnte auch der Grund für das 1646 gerade noch rechtzeitig erfolgende Erscheinen des Bandes der Teütschen Poemata liegen, welcher ja vermutlich bereits 1642 für den Druck fertigstellt worden war.20 Immerhin sah der Leser der Reisebeschreibung von Olearius sich 1647 ausdrücklich aufgefordert, die Teütschen Poemata in die Hand zu nehmen, da Olearius auf diese Ausgabe der Gedichte seines verstorbenen Freundes – wie noch zu zeigen ist – mehrfach hinwies. In diesem Sinn könnte auch die neue Einteilung in Bücher, die Olearius in der zweiten Auflage seiner Reisebeschreibung vornahm, mit Blick auf die Einteilung der Teütschen Poemata erfolgt sein. In der zweiten Auflage der Reisebeschreibung wird das Ziel – Persien – im fünften Buch systematisch beschrieben, nachdem das vierte Buch den Weg dahin und die Ankunft in Isfahān chronologisch wiedergibt. In den Teütschen Poemata wird das Ziel – welches, werden wir noch sehen – gleichfalls im fünften Buch der Oden ›erreicht‹, nachdem das vierte Buch der Oden mit einem Glückwunsch an die holsteinischen Abgesandten endet. 16
17 18 19
20
TP 201f. (vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band). Vgl. zu Grahmann: Wolfram Kaiser: Beiträge zur Geschichte des Thüringischen Gesundheitswesens im 17. und 18. Jahrhundert. XIV: Die thüringischen und halleschen Repräsentanten der Gelehrtenfamilien Olearius und Gramann. In: Rudolstädter Heimathefte (Saalfeld) 23 (1977), S. 25–32, hier S. 28–32. TP 95. Ebd.. Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. London 1990 (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 110), Kap. Epistolae ex Persia; S. 133–178. Entner (Anm. 14), S. 532f.
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2. Persien Materielles Substrat einer Gesandtschaft sind nicht nur Dokumente auf Papier, sondern auch Gaben und Gegengaben. Ihnen kommt meist eine symbolische und gerade deswegen oft weiter reichende Bedeutung als beispielsweise abgeschlossenen Verträgen zu. Am Ende des vierten Buches der Reise, unmittelbar nach dem Bericht über die Ankunft in Isfahan, druckt Olearius eine Liste der Präsente ab, welche die Gesandten mitbrachten und bei »vnser offentlichen Audientz« übergaben (getrennt nach holsteinischen und denen, die Crusius und Brüggemann übergaben).21 Neben etlichen Kürassen, Pistolen und Säbeln – weitere Geschenke waren bei einer Havarie verloren gegangen – wird als einziges ›kostbares‹ unter Nummer acht hervorgehoben: 8. Eine kostbare Chymische Apoteck/ deren Büchsen meist von klarem Golde/ vnd oben mit dem Edelgestein/ derer Magisteria drinnen/ besetzet. Das Gehause von Ebenholtz mit vergüldetem Silber beschlagen/ auff starcken silbern Füssen/ von vier Personen getragen.22
Abb. 1: Öffentliche Audienz. Die holsteinische Gesandtschaft vor Schah Safī in Isfahan. Aus: Offt begehrte Beschreibung Der Newen ORIENTALischen REJSE / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen LEGATION an den König in Persien geschehen […] Durch M. Adamum Olearium […]. Schleswig: Bey Jacob zur Glocken 1647, bei S. 386 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 263.1 Hist 2°). 21
22
Olearius (Anm. 8), S. 507. Vgl. zu den Audienzen des Schah, die oft auf dem neuen, von Abbās I. als Experimentierfeld seiner politischen Reformen angelegten Maidan stattfanden: Stephen P. Blake: Half the World. The Social Architecture of Safavid Isfahan. 1590–1722. Costa Mesa (Cal) (Islamic Art and Architecture Series 9), S. 83. Olearius (Anm. 8), S. 507.
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Eine Illustration dieser Audienz (Abb. 1), deren Detailverliebtheit so weit geht, sogar die figürlichen Darstellungen auf einem Gemälde oder Teppich an der linken Wand wiederzugeben, zeigt zwar sogar die weniger bedeutenden der Reisenden aus Holstein, die unmittelbar unterhalb dieses Wandbildes stehen, versteckt indes ihre Präsente im Dunkel eines Halbschatten, der an dieser Stelle ganz gegen die Erfordernisse der Luftperspektive und der Lichtverhältnisse für die Nichtmehrerkennbarkeit des Dargestellten sorgt. Mit anderen Worten: Die chymische Apotheke, die kostbarste der mitgebrachten Gaben, die zu tragen es immerhin vier Personen bedarf, bleibt unsichtbar. Der sich hieran in der Beschreibung anschließende Aufenthalt der Reisenden in Isfahān stellt sich bei Olearius als fortgesetzte Katastrophe heraus. Sehr oft wurde von der Forschung nachgezeichnet, wie überheblich Brüggemann sich gegenüber den Persern verhielt, die er – anders als Olearius – für Barbaren hielt. Brüggemann mag tatsächlich eher als Condottiere denn als Gesandter aufgetreten sein und damit bewirkt haben, dass die Mission scheiterte. Doch das Zerrbild, das Brüggemann bei dem sonst so besonnenen Olearius abgibt, deutet darauf hin, dass Olearius – vermutlich zusammen mit Fleming – noch weitere, persönliche Erwartungen an das Unternehmen hatte, die auf diese Weise enttäuscht wurden. Welche Erwartungen könnten dies gewesen sein? Erhofft hatte man eine Gegengabe für die alchimische Apotheke, die in der Reisebeschreibung angeführt wird. Doch die weiteren Audienzen beim Schah, von denen Olearius erstaunlich knapp berichtet, sind offenbar in jeder Hinsicht ergebnislos verlaufen. Die Liste der Gegengaben oder Abschiedsgeschenke des Schahs, die Olearius dann zwar lakonisch, doch typographisch hervorgehoben abdruckt, umfasst nur drei Nummern: Erstens jedem Gesandten ein Pferd, zweitens jedem zwei goldlackene persianische Kleider, drittens 105 Stück Seidenzeug.23 Unter ausdrücklichem Bezug auf die Ergebnislosigkeit der vorigen Audienz – Olearius sagt, es sei alles wie beim letzten Mal gewesen – wird diese letzte Audienz als eine Pflichtübung des Schahs beschrieben, der zwar »die selbigen Ceremonien«24 noch einmal abhielt, doch schon beim Nachtisch – »Jn dem das Confect noch auff der Taffel stund«25 – zur Verabschiedung seiner Gäste aus Deutschland überging. Olearius gibt in seiner lakonischen Art zu verstehen, dass diese Gegengaben in den Augen der Gesandten ebenso großzügig wie enttäuschend ausfielen, und auch seine eigene Enttäuschung wird deutlich. Fast unmittelbar auf den Auszug der Reisenden aus Isfahān lässt Olearius die Beschreibung des weit von Isfahān entfernten Rubar folgen (Rudbar in der Provinz Gilan), das im Gegensatz zu allen anderen Landschaften, die man durchreiste, »als ein irrdisch Paradeiß«26 erinnert wird. Sachliche Grundlage für diesen Vergleich ist zunächst, dass Rubar ringsum von einem Wall aus Bergen umgeben ist, die lediglich auf vier engen Pässen überquert werden können – die Assozia23 24 25 26
Olearius (Anm. 8), S. 533. Schon in der ersten Auflage 1647 typographisch hervorgehoben: S. 409. Ebd., S. 534. Ebd., S. 534. Ebd., S. 698.
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tion an die vier Paradiesesflüsse liegt umso näher, als das Paradies zumindest in mittelalterlichen Weltkarten sehr häufig auf einem hohen Berg oder umgeben von Bergen verortet wurde.27 Eine bildliche Illustration (Abb. 2) öffnet solchen Assoziationen Tür und Tor, indem sie – anders als sonst – eine bloße Fantasielandschaft zu zeigen scheint. Mehr noch als die Illustration ist es jedoch der Wortlaut des Textes von Olearius, der einen Raum ›Rubar‹ evoziert, welcher ebenso real wie irreal zu sein scheint. ›Rubar‹ bricht mit der Welt, die Olearius bis dahin beschrieben hat, und ist doch innerhalb dieser Welt situiert. ›Rubar‹ ist zweifellos ein Ort und kein Nicht-Ort; man kann den Namen ›Rubar‹ sogar auf der beigegebenen großen Persien-Karte von Olearius auffinden, die Elio Brancaforte analysiert hat. Gleichwohl ›versteckt‹ dieses ›Rubar‹ sich in einer Zwischenwelt, die Reflexives und Beobachtbares verbindet, indem die an sich unüberschreitbaren Grenzen zwischen sinnlich Wahrnehmbarem und nur reflexiv Erschließbarem hybridisierend überspielt werden. Strukturell entspricht ›Rubar‹ damit auf erstaunliche Weise jenem mundus imaginalis, den Henry Corbin als semantische Entsprechung des Persischen für den abendländischen Begriff der ›Utopie‹ in all seinen Bedeutungsfacetten beschrieben und den Seyyed Hossein Nasr als grundlegendes Konzept insbesondere auch der persischen Buchmalerei bezeichnet hat.28 Die safavidische Miniatur bezieht ihre spezifische künstlerische Form nämlich aus der Spannung zwischen einer leiblich-perspektivisch wiedergegebenen Gegenständlichkeit, wie sie innerhalb der ›islamischen Kunst‹ sonst kaum zu finden ist, und einem Verzicht auf zentralperspektivische Konstruktion, der die dargestellten Szenen – anders als in der zeitgenössischen europäischen Buchkunst – gänzlich 27
28
Jean Delumeau: Une Histoire du paradis. Bd. 1: Le Jardin des délices. Paris 1992, S. 59–97. Nach der Zäsur, die insbesondere Luthers und Calvins Einwände hiergegen in historischer Hinsicht darstellten, verschwand das Paradies freilich nicht gleich aus den Weltkarten, wie Delumeau zeigt, S. 203 u. 214f. Zum Topos der Wahrnehmung des persischen Gartens als Paradies vgl. einführend Mehdi Khansari, M. Reza Moghtader, Minouch Yavari: The Persian Garden. Echoes of Paradise. Washington (D.C.) 1998, S. 69–105; –105; 105;; Penelope Hobhouse: Persische Gärten. Paradiese des Ostens. Aus d. Englischen v. Bettina Blumenberg u. Hans Griguleit. München 2003, S. 98–114; sowie als nützliche Quellensammlung zur Wahrnehmung islamischer Gärten durch europäische Reisende: Michel Baridon: Les Jardins. Paysagistes – Jardiniers – Poètes. Paris 1998, S. 209–345. Henry Corbin: »Mundus Imaginalis« ou L’imaginaire et l’imaginal. In: Cahiers Internationaux de Symbolisme 6 (1964), S. 3–26, hier S. 14f.; Seyyed Hossein Nasr: ›The World of Imagination‹ and the Concept of Space in the Persian Miniature. In: The Islamic Quarterly 13 (1969), S. 129–134, hier S. 130. Vgl. zur Rolle, die bestimmte Berge am Kaspischen Meer im Rahmen dieser ›visionären Geographie‹ einnahmen: Henry Corbin: Spiritual Body and Celestial Earth. From Mazdean Iran to Shī’ite Iran. Translated by Nancy Pearson. Princeton 1977 (Bollingen Series 91,2), S. 74. Hinsichtlich der Frage nach den Kenntnissen, die Olearius von diesen Zusammenhängen haben konnte, ist daran zu erinnern, dass er nach seiner Rückkehr den persischen Gesandten Hakwirdi für mehrere Jahre in seinem Haus aufgenommen hat; vgl. Faramarz Behzad: Adam Olearius’ »Persianischer Rosenthal«. Untersuchungen zur Übersetzung von Saadis »Golestan« im 17. Jahrhundert. Göttingen 1970 (Palaestra 258), S. 21. Neben Übersetzungshilfen bei seiner deutschen Ausgabe des Golestan des Saadi könnte Olearius weitere, tiefgreifendere Einblicke in das persische Denken erhalten haben, von dem das oben beschriebene Spiel mit dem zwischen Ort und Nicht-Ort hybridisierten ›Rubar‹ ein Reflex sein könnte.
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Abb. 2: Brücke vor Kilan. Aus: Offt begehrte Beschreibung Der Newen ORIENTALischen REJSE / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen LEGATION an den König in Persien geschehen […] Durch M. Adamum Olearium […]. Schleswig: Bey Jacob zur Glocken 1647, S. 473 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 263.1 Hist 2°).
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der Verortbarkeit innerhalb der empirischen Welt enthebt.29 ' HU( U] l KOHU' å HYDG Karahasan hat darüber hinaus in einem anregenden Essay darauf aufmerksam gemacht, dass ein solches Konzept auch den Gärten in Tausend und eine Nacht zugrundeliege.30 Mit Blick auf Olearius’ nachweisliche Kenntnisse und Interessen an persischer Literatur kann unterstellt werden, dass ihm die in der persischen Literatur tradierte Vorstellung vom Garten als einer zwar leiblich betretbaren, jedoch die Gesetze der sichtbaren Welt aufhebenden Heterotopie vertraut gewesen sein wird – versteht doch gerade auch Saadis Golestan, den Olearius als Persianischer Rosenthal Schich Saadi übersetzen sollte, den Garten als ein »Paradise on Earth«, wie Hanaway in einer strukturalistischen Analyse nachgewiesen hat, und entspricht diesem irdischen Paradies auch unter formalem Aspekt darin, dass er als Ganzes nach den selben räumlichen Prinzipien angelegt ist wie der typische persische Garten der Zeit.31 Die ansonsten meist gegenstandsbezogene Reisebeschreibung von Olearius lässt die Fantasie des Lesers über ›Rubar‹ also kurz in einen mundus imaginalis ausschweifen, lenkt sie jedoch sogleich wieder in geordnete Bahnen, indem das Wort vom irdischen Paradies in ein Zitat gekleidet wird, das ganz offensichtlich kontrolliert werden will:
29
30
31
Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 2008, S. 92–98 deutet sie daher als »eine Alternative zum perspektivischen Blick« (S. 96) und führt zur Illustration des Gemeinten ein Wort des Schriftstellers Orhan Pamuk an: Ein »Bild muss zwischen den Seiten eines Buches verborgen sein« (S. 97). Robert Hillenbrand hingegen stellt dar, wie in der safavidischen Kunst unter Abbās I. einerseits noch immer die »transzendenten Assoziationen des Gartenmotivs subkutan« in den Motiven der damals entstehenden Teppiche anwesend waren, die Malerei indessen sich – auch unter europäischem Einfluss – extrem modernisierte, indem sie beispielsweise »kecke androgyne Pagen mit einladendem Lächeln« »affektiert für ihr Porträt posieren« ließ und auf diese Weise eine Kunst, die fast »vulgär und anrüchig« wirkt, für den Markt schuf; Robert Hillenbrand: Kunst und Architektur des Islam. Tübingen/Berlin 2005, S. 248 u. 243. Hillenbrands Überblicksdarstellung verdeutlicht, in welchem Umbruch sich die traditionelle Kunst Persiens gerade unter jenen Herrschern befand, die Persien auf den Höhepunkt seiner Macht führten. ' å HYDG. DUDKDVDQ ' LH6FKDW W HQGHV3DUDGL HVHV6 SUDFKHXQG5 HGHGHV* DUW HQV , Q ' HUV Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum. Aus d. Bosnischen v. Katharina Wolf-Grießhaber. Frankfurt a. M. 2002, S. 7–49, hier S. 38–41. William L. Hanaway: Paradise on Earth. The Terrestrial Garden in Persian Literature. In: The Islamic Garden. Hg. v. Elisabeth B. MacDougall u. Richard Ettinghausen. Washington (D.C.) 1976 (Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture 4), S. 41–67, hier S. 60–63 zur räumlichen Anlage von Saadis »Golestan« und den Entsprechungen in der zeitgenössischen Gartenkunst Persiens. Zu letzterer, besonders in Isfahān unter den Safaviden, vgl. Donald Newton Wilber: Persian Gardens and Garden Pavilions. Washington (D.C.) 2 1979, S. 39–53, sowie Henri Stierlin: Isfahan. Spiegel des Paradieses. Mit einem Vorwort von Henry Corbin. Genf 1976, S. 164–174, zur Frage der sinnbildlichen Deutbarkeit des eingeschlossenen Gartens als Paradies. Diese Deutbarkeit wird durch den Koran nahegelegt, vgl. Peter Heine: Islamische Gärten als Sinnbilder des Paradieses. In: Paradies. Topografien der Sehnsucht. Hg. v. Claudia Benthien u. Manuela Gerlof. Köln/Weimar/Wien 2010 (Literatur – Kultur – Geschlecht 27), S. 49–61.
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Daß man von selber Gegend vnd Lande wol sagen mag/ was der von Mandelslo hinten in seiner Indianischen Reise von einem Theil Indien saget; daß es nemlich gleich als ein irrdisch Paradeiß zu seyn scheinet.32
Schlägt man das von Olearius angegebene Werk von Johann Albrecht von Mandelsloh nach, bei welchem es sich ja seinerseits um einen für Fleming wichtigen Teilnehmer der holsteinischen Gesandtschaft handelt, stellt sich schnell heraus, dass es dort zwar nicht von diesem, wohl aber von seinem Herausgeber benutzt wird – bei welchem es sich um niemand anderen als Adam Olearius handelt. Im Kapitel über die Insel Ceylon führt Olearius also mittels eines Selbstzitats – in einer zu einer kleinen Abhandlung ausgestalteten Annotation innerhalb des Buches von Mandelsloh33 – alle möglichen Autoritäten für die Ansicht an, es »sey in dieser Gegend das Paradiß gewesen«,34 denn es sei, wie auch Mandelsloh berichte, »Adam/ der erste Mensch«35 nach Ansicht der Einwohner hier erschaffen und begraben, und Eva habe um ihn so viele Tränen vergossen, dass eine »kleine Saltzpfütze«36 noch immer gezeigt werden könne.37 Ansonsten gebe es auf Ceylon viel Gold und Silber, an Edelsteinen würden schöne reine Rubine gefunden und hoch geschätzt, und es sei »unter ihnen die Schwartzkünstlerey gar gemein«.38 32 33
34 35 36 37
38
Olearius (Anm. 8), S. 698. Vgl. Margrete Refslund-Klemann über die starken Eingriffe, die Olearius in den Text von Mandelsloh vornahm: »So wurden Mandelslos wenige Zeilen über seine Reise nach Agra auf 13 Seiten ausgedehnt; die bloße Erwähnung von Ceylon, Mauritius, Kap der Guten Hoffnung und St. Helena führte zu ausführlichen Beschreibungen der Örter.«; Johan Albrecht von Mandelslo: Journal und Observation (1637–1640). Hg. v. Margrete Refslund-Klemann. København 1942, S. XIX. Ausführlicher als Tafazoli vergleicht Strack Mandelslohs Journal mit der Bearbeitung durch Olearius; Strack (Anm. 4), S. 94–98; Tafazoli (Anm. 3), S. 169– 173. Johan Albrecht von Mandelslo: Morgenländische Reyse=Beschreibung. Hg. v. Adam Olearius. Hamburg 1658, S. 146. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145. Ich verstehe diese Wiedergabe älterer Ansichten über Ceylon als Ort des irdischen Paradieses nicht als Festhalten an alten Topoi oder als deren Neubegründung, sondern als distanziertes Spiel mit ihnen, wie sich durch die Beobachtung stützen lässt, dass Olearius ansonsten stets bestrebt ist, die Aufzeichnungen des jungen Adligen vom Ruch einer bloßen Kavalierstour zu befreien, indem er gleichsam ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit konturiert; vgl. Strack (Anm. 4), S. 95, sowie zu Ceylon als Topos Delumeau (Anm. 27), S. 130f. Mandelslo (Anm. 34), S. 146. Liest man den Abschnitt über Ceylon genau, dann wird man finden, dass die aufgebotene Gelehrsamkeit am Ende ein wenig ins Fantastische kippt. Nach einer Diskussion der Schriftquellen zu den vier Strömen des Paradieses gibt Olearius nämlich auch die Ansicht wieder, dass »nach der fürnembsten Geographorum Bericht aus dem Caspischen Meere in das Scythische NordMeer auch unterErdische Canalen giengen« (S. 147), weswegen es nicht ungereimt sei, dass die Paradiesesströme an unterschiedlichen Orten hervorbrechen können. Der von Olearius in diesem Kontext benutzte Begriff der »Schwartzkünstlerey« verweist auf ein ägyptisches Wort ›kamt‹ oder ›quemt‹, das im Arabischen ›alkimya‹ steckt und das sich vermutlich auf den schwarzen, fruchtbaren Nilschlamm bezieht, vgl. Georg Luck: Magie und andere Geheimlehren in der Antike. Stuttgart 1990, S. 443. Luck betont insgesamt, dass die antike Alchimie aus wissenschaftshistorischer Sicht die am wenigsten als Magie zu begreifende Geheimlehre der Antike, vielmehr bereits als »Technologie im modernen Sinne« (ebd.) anzusehen sei. Darüber hinaus ist an dieser Stelle
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Ceylon – so könnte man verkürzend sagen – zeichnet sich also durch Gold, rote Edelsteine, Salze und die Verbreitung von Künsten aus, die im heimischen Leipzig oder Gottorf sicherlich als magisch beargwöhnt würden. Rubar wird also nicht nur als ein irdisches Paradies bezeichnet, sondern darüber hinaus durch intertextuelle Verweise als ein geheimnisvoller Ort ausgewiesen. Unmittelbar nach dieser vielsagenden Ankündigung werden zwei Gedichte Flemings in den Text der Reisebeschreibung eingerückt, die Olearius ausdrücklich als »Oden« ankündigt. Obwohl es sich um zwei Sonette handelt, die in Flemings Teütschen Poemata nicht etwa unter die Oden, auch nicht unter die Sonette, sondern unter die Poetischen Wälder aufgenommen werden, weist in der zweiten Auflage der Reise eine zusätzliche Marginalie nachdrücklich auf die »Oda P. Flem.«39 hin. Dieser scheinbar ins Leere führende Hinweis fällt auf, da Olearius die zuvor angeführten Gedichte Flemings stets mit einer korrekten Gattungsbezeichnung (z. B. »folgendes Sonnet«40) versieht. Es ist fast, als wollte Olearius ›in Rubar‹ sein Spiel mit einem Querverweis, der mit einer Ungenauigkeit arbeitet, als ein solches markieren und damit den Leser zum Nachdenken anregen. Wenig später, als abermals ein Fleming-Gedicht in die Reise eingerückt wird, stimmt die Marginalie nämlich nicht nur wieder wie zuvor, sondern gibt darüber hinaus auch noch die Seitenzahl der Teütschen Poemata an, wo exakt der von ihm wiedergegebene Gedichtausschnitt unter den poetischen Wäldern aufzufinden ist.41 Auf diese Weise von Präzision gerahmt, fällt die vermutlich bewusste Ungenauigkeit der Zitation der Gedichte auf Rubar auf, und dies umso mehr, als Olearius an einer Stelle durchblicken lässt, dass diese Paratexte am Rande der Seite generell tatsächlich auf ihn selbst zurückgehen: »Sie in meinem Persischen Rosenthal«,42 heißt es dort. In beiden Gedichten Flemings auf Rubar ist in auffälliger Weise vom Gold die Rede. Im ersten: Osyris der vmbarmt die Oreaden hier. Pomana [Pomona] legt das Gold der hohen Pomerantzen/ Läst die Narcissen stets mit den Violen tantzen.43
Das zweite, überschrieben Auff eben dasselbe, rühmt den »engen Raum« von Rubar, weil hier die »Allertrefligkeit des gantzen Perser=Landes« zusammengebracht sei, um fortzufahren: Nimb diesen tieffen Gruß zum Zeichen eines Pfandes Für deine Gottheit an/ die eine gleiches Standes
39 40 41 42 43
anzumerken, dass das Paradies nach Genesis 2,11 ein Ort ist, »daselbs findet man gold«, wie es in der Luther-Übersetzung 1545 heißt. Vgl. weiterhin zum alchimistischen Kontext Elmar Schenkel: Die Elixiere der Schrift. Alchemie und Literatur. Eggingen 2003, S. 24. Olearius (Anm. 8), S. 698. Ebd., S. 360; ähnlich S. 365 u. 523. Ebd., S. 739: »Flem. lib. sylvae poet. pag. 210«. Ebd., S. 527. Ebd., S. 698.
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Hier nicht hat/ vnd nicht weiß; sei nur so günstig mir/ Daß ich mich setzen mag an diesem Wasser hier/ Das Gold heist/ vnd Gold führt im Schutze seines Standes.44
Sollte dies ein Hinweis auf alchimische Experimente sein, die man hier – vor möglicher Verfolgung durch den unberechenbaren Nachfolger des großen Schah Abbās I., Schah Safī,45 durch die natürliche Lage dieses irdischen Paradieses geschützt – endlich durchführen konnte? Haben die Reisenden möglicherweise am Schah vorbei wissenswerte Dinge in Erfahrung gebracht, die zu erproben sie hier nun günstige Gelegenheit fanden?46 Leider gibt es kein Dokument, das diese Annahme schlicht bestätigen würde. Eine gewisse Plausibilität gewinnt sie jedoch selbst dann, wenn man weiterhin davon ausgeht, dass die Gesandtschaft um des persischen Seidenbrokats willen unternommen wurde. Denn diese unendlich kostbaren Stoffe wurden nicht nur wegen ihres materiellen Werts geschätzt, sondern auch wegen der spezifischen Farbigkeit ihrer figürlichen Darstellungen in Verbindung mit dem verwendeten Material. Als goldene Stoffe bezeichnet Olea44 45
46
Ebd., S. 698f. Vgl. zu Safīs Regierung einführend Newman (Anm. 12), S. 73–80, mit einer vorsichtigen Aufwertung der politischen Leistung Safīs. Vgl. auch Claus-Peter Haase: Das Safawidenreich in Iran zur Zeit der Gottorfer Gesandtschaft. In: Kat. Gottorf im Glanz des Barock. Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544–1713. Kataloge der Ausstellung zum 50-jährigen Bestehen des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums auf Schloß Gottorf und zum 400. Geburtstag Herzog Friedrichs III. Hg. v. Heinz Spielmann u. Jan Drees. Schleswig 1997, Bd. 1, S. 117–121. Wie Blake in seinen innovativen, die Typologie der Bautypen islamischer Architektur von Robert Hillenbrand (vgl. dessen Standardwerk Islamic Architecture. Form, Function and Meaning. Edinburgh 1994) differenzierenden und mit Leben füllenden Ausführungen über die ›soziale‹ Architektur Isfahāns im 17. Jahrhundert gezeigt hat, waren die Häuser der vornehmen Perser den europäischen Gästen zwar überwiegend verschlossen. Als mögliche Begegnungsorte mit persischen Gelehrten kamen jedoch gerade die neue Platzanlage des Maidan-i Naqsh-i Jahan, dessen soziales Leben stark diversifiziert war, weiterhin die Karavansereien, in denen auch Gelehrte übernachteten, sowie die soeben neu angelegte, knapp vier Kilometer lange Prachtstraße Chahār Bāgh infrage, die nicht nur von Gärten flankiert war, sondern die insgesamt wie ein axial gegliederter Garten wirkte, wenngleich ihre Ausstattung mit spektakulären Pavillons erst später im 17. Jahrhundert erfolgte; Blake (Anm. 21), S. 21 zur Anlage des Chahār Bāgh unter Abbās I., S. 55–84 zu den Gärten und S. 117–119 zu den von Olearius aufgezählten 25 Karavansereien. Blakes Studie, die u. a. die genaue Lage der deutschen Botschaft außerhalb der Stadtmauer Isfahāns angibt, wo Olearius und Fleming sich aufhielten (S. 91 mit Karte 4, Nr. 163), führt zwar immer wieder die Reiseberichte von Olearius, Thomas Herbert und anderen an, erhebt jedoch letztlich denjenigen von Jean Chardin zur leitenden Auskunftsquelle. Da Chardin jedoch Fragen des Handels, der Manufakturen und der Technik eindeutig bevorzugt abhandelt, Fragen der Wissenschaft und der Philosophie hingegen nur oberflächlich berührt (vgl. meine Anm. 75), vermisst man auch in Blakes ihm folgender Untersuchung tendenziell die Frage danach, an welchen Kristallisationspunkten die von ihm untersuchten sozialen Architekturen zu Orten des Gesprächs, des Studiums und des Wissenstransfers werden konnten. Ein Hinweis wie der, dass Mirza Ibrahim, »the physician of Shah Safī I« (S. 94), einen größeren Garten am Chahār Bāgh besaß, bedarf daher weiterer Forschung. Generell gilt, dass die persische Medizin schon deswegen ein hohes Interesse an der Alchimie hatte, weil menschliche Körper aus rechtlich-religiösen Gründen nicht geöffnet wurden, vgl. The Cambridge History of Iran. Bd. 6: The Timurid and Safavid Periods. Hg. v. Peter Jackson u. Laurence Lockhart. Cambridge u. a. 1986, S. 607.
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rius sie meist abkürzend, damit der modernen Forschung erschwerend, den Verbleib von Einzelstücken nachzuweisen, die exakt belegen würden, was Olearius und Fleming in der Hand hielten. Dank provenienzhistorischer Forschungen kann man gleichwohl davon ausgehen, dass die Wandbespannungen eines Raumes im dänischen Schloss Rosenborg aus Stoffen bestehen, die durch die holsteinische Gesandtschaft aus Persien zunächst nach Schloss Gottorf verbracht worden sind, wo sie allerdings nicht verblieben.47 Es lässt sich hier gut nachvollziehen, warum Olearius von goldenen Stoffen spricht. Mit Sicherheit interessierten die Reisenden sich für die Herstellung und Färbung dieser Kostbarkeiten. Schon die Farben wurden unter Verwendung der selben Ausgangsstoffe gewonnen, die auch Alchimisten benötigten. James Elkins hat in seiner Studie darüber, warum Malerei und Alchimie wesensverwandt seien, darauf hingewiesen, dass Maler und Alchimisten in der Frühen Neuzeit gleichsam bei den selben Händlern einkauften: Man rieb die selben Ausgangsstoffe, rührte sie an, veränderte sie durch Zutat dritter Substanzen und brachte damit das bis dahin Nicht-Sichtbare zur Sichtbarkeit.48 Persischer Seidenbrokat unterscheidet sich von lediglich gefärbten Textilien jedoch dadurch, dass Fäden aus Gold und Silber in die Stoffe eingewebt sind – Fredrik Robert Martin sprach von »feinen Goldlamellen«.49 Noch 1987 musste Milton Sonday im Rahmen einer Publikation des Textile Museum Washington eingestehen, dass die sogenannten MetalGround-Textiles mit »floral patterns on a gold or silver background«50 weiterer Forschung bedürften – ein Zustand, an dem auch die von Sheila Canby kuratierte neuere Ausstellung über Shah Abbās I. in London nicht viel geändert hat:51 Die Frage, wie Gold gewebt werden kann, ist noch immer nicht bis ins letzte geklärt.52 47
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Gestützt auf ein Inventar aus dem Jahr 1824, in dem diese Stoffe als aus Gottorf stammend aufgeführt werden, hat bereits 1901 Martin die Vermutung geäußert, dass diese Stoffe »von der persischen Gesandtschaft des Jahres 1639 an Herzog Friedrich herstammen«; Fredrik Robert Martin: Die persischen Prachtstoffe im Schlosse Rosenborg in Kopenhagen. Stockholm 1901, S. 7. Carol Bier hat die Wandbespannung des Raumes nach Feldern untergliedert untersucht und die Vermutung von Martin bestätigt; Carol Bier: The Persian Velvets at Rosenborg. With a Contribution by Mogens Bencard. Copenhagen 1995. James Elkins: What Painting Is. How to Think about Oil Painting, Using the Language of Alchemy. New York et al. 1999, passim. Vgl. auch Thomas DaCosta Kaufmann: Kunst und Alchemie. In: Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa. Hg. v. Heiner Borggrefe, Vera Lüpkes u. Hans Ottomeyer. Eurasburg 1997, S. 370–377. Auf die Frage, warum schreibende Künstler des 16. Jahrhunderts, wie z. B. Giorgio Vasari oder Bernard Palissy, sich überwiegend kritisch über die zeitgenössische Alchimie äußerten, findet William R. Newman, gestützt auf eine Analyse insbesondere der Schriften von Benedetto Varchi, eine überzeugende Antwort: »they viewed alchemy as rival art that dangerously undermined their own goal of imitating and conquering nature«; William R. Newman: Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Nature. Chicago/London 2004, S. 163. Martin (Anm. 47), S. 9. Milton Sonday: Pattern and Weaves. Safavid Lampas and Velvet. In: Kat. Woven from the Soul, Spun from the Heart. Textile Arts of Safavid and Qajar Iran. 16th – 19th Centuries. Hg. v. Carol Bier. Washington (D.C.) 1987, S. 57–83, hier S. 57. Sheila R. Canby: Shah ’Abbas. The Remaking of Iran. Exhibition at the British Museum, London, 19 February to 14 June 2009. London 2009. Die Affinität dieser materialen Eigenart zur Metaphorik des Goldes und des Textilen in der persischen Lyrik liegt auf der Hand. Ihr galt eine Sektion des Katalogbandes »Woven
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Selbst wenn es bei der Reise primär um Seidenbrokat gegangen ist, könnte das alchimische Interesse am Gold ein Nebeninteresse aller Reisenden gewesen sein. Das so auffällige Wort »Gold« darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, dass es Fleming und Olearius um die Metalltransmutation, also die Herstellung von Gold aus unedleren metallischen Ausgangsstoffen, gegangen wäre. Die neuere Forschung zur Alchimie hat klar herausgearbeitet, dass der Paracelsismus, der etwa seit 1600 auch die Schulmedizin zu erfassen begann, gerade an der Überwindung der Transmutationsalchimie und der Begründung einer neuartigen Iatrochemie interessiert war. Dieser Alchemia medica ging es überwiegend darum, eine Universalmedizin (die Panacee) zu finden, die ohne Ansehen von Stand, Alter oder Person jedwede Krankheit, und so insbesondere die unheilbaren Erkrankungen Pest und Syphilis, heilen können sollte. Das Interesse beispielsweise am Aurum potabile, dem auf alchimische Weise trinkbar gemachten ›Gold‹, erstreckte sich auf alle möglichen Ausgangssubstanzen, vor allem aber auf die Metalle, das Quecksilber, den Schwefel und die Salze, auf die Fleming sich ausdrücklich in einem Gedicht An Herrn Hartmann Grahmannen Fürstl. Holstein. Gesandten nacher Moßkow und Persien / usw. Leibartzt / als derselbe / nach dem er Grooßfürstl. Bestallung in Reußen überkommen / sich nach Deutschland / ümm Doctor zu werden / begabe bezieht:53 Sie bleiben / wie sie seyn. Ihr Kinder der Natur Geht einen weisern Weg. Saltz / Schwefel und Merkur Sind eure fester Grund; die / wie sie alle sachen Zu diesem / was sie seyn / und eignen dingen machen Und so ihr Ursprung sind / so auch ihr Ende seyn. Aus was vor etwas kaam / da geht es wieder nein.54
Die entsprechenden iatrochemischen Interessen Flemings sind an sich bekannt. Durch die Wiederentdeckung von Flemings medizinischer Inauguraldissertation durch Marian R. Sperberg-McQueen55 und die weiterführende Auswertung der hier gegebenen Hinweise durch Heinz Entner kann man für gesichert halten, dass Fleming seit den Tagen seines Studiums in Leipzig die Nähe von Medizinern suchte, die sich dem Paracelsismus öffneten, indem sie die sowohl auf den Körper als auch auf die Psyche wirkende Kraft alchimisch herzustellender Heilmittel
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from the Soul, Spun from the Heart«, vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Jerome W. Clinton: Image and Metaphor. Textiles in Persian Poetry. In: Kat. Woven from the Soul (Anm. 50), S. 7–11. –11. 11. Schon Rumi bezieht sich auf diese, bei ihm in mystisch-sufischen Kontexten stehende Metaphorik; vgl. Kathryn Babayan: Mystics, Monarchs, and Messiahs. Cultural Landscapes of Early Modern Iran. Cambridge (MA)/London 2002 (Harvard Middle Eastern Monographs 35), S. 95. Zum weiteren Kontext vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln/Weimar/Wien 2002 (Pictura et Poesis 9). Über den Gesandtschaftsarzt Grahmann weiß auch Olearius zu berichten, dass »vnser Medicus […] wegen seiner Chymischen Artzney/ mit welcher er bey ihnen [den Persern] gute Curen thate/ hochbeliebet« wurde; Olearius (Anm. 8), S. 625. TP 84. Marian R. Sperberg-McQueen: Paul Fleming’s Inaugural Disputation in Medicine: A »Lost« Work Found. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), H. 1, S. 6–9.
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experimentell zu erforschen suchten. Entner hat aufzeigen können, dass Fleming sich schon während seines Studiums in Leipzig in einem Kreis iatrochemisch interessierter Mediziner bewegte, dem der frühverstorbene Joachim Tanck intellektuell den Boden bereitet hatte. Tanck hat bemerkenswerterweise das von Johann Thölde herausgegebene Werk Triumphwagen Antimonii (1604) bevorwortet, ein Werk, das einem vermutlich von Thölde erfundenen, angeblich im 15. Jahrhundert lebenden Benediktinermönch Basilius Valentinus als Verfasser zugeschrieben wurde. Der neue Ton, der in dieser Schrift angeschlagen wird, führt das Laboratorium als Ort des Jagens nach einer Wahrheit an, die dem toten Wissen der Bücher allein nicht mehr abzuringen sei. Der Wissenschaftshistoriker Claus Priesner räumt dem Triumphwagen Antimonii daher eine Sonderstellung unter den verschiedenen, angeblich ebenfalls von Basilius Valentinus stammenden, frühestens jedoch 1599 entstandenen Schriften ein.56 Freilich wird das Bücherwissen in dieser Schrift nicht etwa undifferenziert verworfen, ganz im Gegenteil. Im Licht der alchimischen Praxis erweist sich erst, inwiefern ein als Autorität geltender Verfasser einschlägiger Schriften seinen Ruf zurecht genießt. Diese Praxis wiederum kann offenbar nur andeutend geschildert werden. Es sind immer wieder konfessionelle Fragen, die den Verfasser von Triumphwagen Antimonii zu einer Art Dunkelheit der Rede nötigen, die manches nur andeuten darf und die letztlich auch hinter der Wahl von Decknamen für verwendete Materialien steht: »Mein Art zu reden hält jetzo nichts anders, dann ein geistlicher Klosterbruder kann nicht alles so hell entdecken und beschreiben, wie es wohl sein sollte.«57 Heinz Entner zufolge war Fleming insbesondere mit Johann Michaelis näher bekannt.58 Michaelis war es, der die Leipziger universitäre Lehre der Alchemia medica öffnen sollte, nachdem er 1631 außerordentlicher Professor der Medizin an der Universität Leipzig wurde. Er gab beispielsweise gemeinsam mit dem Marburger Professor Johann Hartmann59 Oswald Crolls Basilica Chymica 1634 in Leipzig neu heraus. Michaelis war darüber hinaus auch mit dem Arzt Johannes Agricola, dem zeitweilig in Leipzig wohnhaften Verfasser des Werks Chymische 56
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Claus Priesner: Basilius Valentinus und die Labortechnik um 1600. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 20 (1997), S. 159–172; Belege für den Bezug auf das »Laboratorium« finden sich in: Triumphwagen des Antimons. Basilius Valentinus, Kerckring, Kirchweger. Text, Kommentare, Studien. Hg. v. Hans Gerhard Lenz. Elberfeld 2004, S. 23 u. 70. Vgl. zu Tancks oben erwähntem Anteil an diesem Werk Joachim Telle: Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck. In: Humanismus und Medizin. Hg. v. Rudolf Schmitz u. Gundolf Keil. Weinheim 1984 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 11), S. 139–157, hier S. 151. Ebd., S. 72. Ihm ist der Rubella-Zyklus von 1631 gewidmet; Entner (Anm. 14), S. 107. Auch unter den Ärzten und Kaufleuten Leipzigs könnte Fleming mit der Alchimie in Berührung gekommen sein. Die Brüder Conrath und Heinrich Khunrath, beide allerdings zu Flemings Zeit bereits verstorben (nämlich 1614 und 1605), waren beispielsweise Söhne eines Leipziger Großkaufmanns, der unter anderem mit Vitriol (also Eisen- oder Kupfersulfat) handelte. Lothar Beyer, Rainer Behrends: De Artes Chemiae. Chemiker und Chemie an der Alma mater Lipsiensis. Kunstschätze, Buchbestände und Archivdokumente der Universität Leipzig und anderer Sammlungen. Leipzig 2003, S. 52. Allen G. Debus: The Chemical Promise. Experiment and Mysticism in the Chemical Philosophy 1550–1800. Selected Essays. Sagamore Beach (MA) 2006, S. 179f.
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Medicin (1638/39), befreundet. Agricolas Lebensweg führte ihn früh des öfteren nach Leipzig, wo er sich allerdings erst nach 1638 sesshaft niederließ. So konnte Agricola von einer erfolgreichen Kur zu Leipzig schon im Jahr 1619 berichten, bei der ein von ihm zubereitetes Aurum potabile sogar ein Geschwür von weiterem Wachstum abhielt.60 Eine Besonderheit des umfangreichen Buches von Agricola ist die Genauigkeit, mit der die Rezepturen zur Herstellung der jeweiligen Medizin angegeben werden. Auffällig ist weiterhin, welch große Rolle für Agricola die Schriften des Basilius Valentinus und diejenigen Michael Maiers spielen.61 Vorstellbar, doch bislang nicht nachweisbar ist, dass der 1590 in Neuenburg in der Oberpfalz geborene Agricola für Fleming einen gewissen Vorbildcharakter als iatrochemisch vorgehender, durch Reisen »in die orientalischen Örter«62 vielerfahrener, durch seine Erfolge berühmter Medicus gehabt haben könnte. Eine der wichtigsten Auskunftsquellen hinsichtlich der Kenntnisse Flemings ist das Bücherverzeichnis jener Werke, die der Dichter persönlich besaß, jedoch in Reval zurückließ, als er weiterreiste.63 Schon ein Blick in die neue Alchimiebibliographie von Volker Fritz Brüning belegt, dass Fleming auf der Höhe des Wissens seiner Zeit war, das in diesem Bereich ganz auf das Aufeinanderzugehen von Medizin und Alchimie stand.64 Es sind einige der wichtigsten der von Brüning für den in Frage kommenden Zeitraum verzeichneten Autoren, deren Bücher Fleming besaß. Allerdings muss man die Frage stellen, warum Fleming diese Bücher nicht mitnahm. Möglicherweise besaß er darüber hinaus weitere, die ihm noch wichtiger waren und die sich nur aus seinen Gedichten erschließen lassen. Ein bereits von Feis angeführtes Gedicht auf Hartmann Grahmann vom 21. Mai 1635 nennt beispielsweise neben Oswald Croll, dessen Basilica chymica im Revaler Verzeichnis aufgeführt ist, die Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos und
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Johann Agricola: Chymische Medizin. Ein Kompendium der Bereitung und Anwendung alchemistischer Heilmittel. Nach der Erstausgabe Leipzig 1638/39. Hg., eingel. und mit einer biographischen Skizze versehen v. Oliver Humberg. Elberfeld 2000, S. 51. Vgl. zur Sache die klassische Studie von Ernst Darmstaedter: Per la Storia dell’ »Aurum Potabile«. In: Archivio di Storia della Scienza (Roma) 5 (1925), S. 251–271 sowie unter der neueren Literatur vor allem Robert Halleux: L’Oro potabile. Dall’oro magico all’oro medicinale. In: Kos. Rivista di Medicina, Cultura e Scienze Umane 12 (1985), S. 49–64, hier S. 51 zur entscheidenden Rolle der Alchimie für die Lösung des medizinischen Problems der Applikation von Gold. Michael Maiers Hieroglyphicis Aegypto-Graecis wird in der Vorrede »An den günstigen Leser« hervorgehoben zitiert; Agricola (Anm. 60), S. 19; auch Basilius Valentinus wird sehr häufig als Autorität angeführt, ohne dass genau angegeben würde, welche der unter diesem Namen überlieferten Schriften gemeint ist. Agricola (Anm. 60), S. 49. Allerdings führten Agricolas Reisen nicht nach Persien, sondern lediglich »über Dalmatien, Griechenland, Kreta, Rhodos, Karpathos, Zypern nach Tripolis in Syrien und später nach Alexandria in Ägypten«, bewegten sich also um das Mittelmeer; ebd., S. 1363 (Nachwort Über den Autor von Oliver Humberg). Kyra Robert: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der Estnischen Akademie der Wissenschaften. In: Daphnis 22 (1993), H. 1, S. 27–39. Volker Fritz Brüning: Bibliographie der alchemistischen Literatur. Bd. 1: Die alchemistischen Druckwerke von der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Jahr 1690. München 2004.
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den Namen des Basilius Valentinus:65 Der Triumphwagen Antimonii war Fleming also mit einiger Wahrscheinlichkeit bekannt, wiewohl er dieses Buch entweder nicht persönlich besaß, oder für zu wertvoll für seine eigenen Zwecke hielt, um es in Reval zurückzulassen. Doch gibt es weitere Hinweise auf alchimische Literatur in Flemings Gedichten. Es ist zu vermuten, dass Fleming Michael Maiers unter Anteil von Matthaeus Merian erarbeitetes Traktat Atalanta Fugiens (Oppenheim 1617) kannte,66 ein Buch, auf dessen Kenntnis meines Erachtens ein bereits von Oswald Feis67 zitierter Vers aus Flemings Gedicht Auff H. Georg Glogers seine Disputation von den Nacht=wanderern (1631) anspielt, welcher lautet: Hier schärffet eure Sinnen/ Ihr/ die Ihr weisen seyd. Hier ist das schöne Ziel. Kunst muß der setzen auff/ der hier gewinnen wil. Hier ist die güldne Frucht. Hier lauffet ümm die Wette Sphinx muste doch einmahl mit Bluhte gehn zu Bette/ Weil man ihr Rätzel traff. Hier rahte/ wer da kan. Hier löst den Knoten auff/ das keiner noch gethan. Ja/ keiner noch gethan. Da steht die theure Krohne. Die Krohne/ Sieges=mann/ bekömmest du zu Lohne.68
Der Wettlauf zwischen der leichtfüßigen Atalanta und ihrem Herausforderer Hippomenes, bei welchem letzterer die Aufmerksamkeit der Atalanta mit dem Fallenlassen von drei goldenen Früchten – Äpfeln aus dem Garten der Hesperiden – bindet, um mit dieser List den Wettlauf für sich zu entscheiden, dient dem Alchimisten Michael Maier schon auf dem Titelblatt (Abb. 3) zur Veranschaulichung der Prozesshaftigkeit der alchimistischen Suche nach dem Wissen vom Stein der Weisen, einem mühsam zu erarbeitenden, fast herkulische Anstrengungen erfordernden, stets vorläufig bleibenden Wissen,69 dessen islamisch65
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Oswald Feis: Paul Fleming und seine Beziehungen zur Medizin. In: Archiv für Geschichte der Medizin (Leipzig) 9 (1916), H. 4, S. 185–199, S. 193–195. Nicht ausschließen lässt sich, dass Fleming auf eine andere unter dem Namen des Basilius Valentinus überlieferte Schrift anspielt, z. B. Ein kurtzer summarischer Tractat Von dem grossen Stein der uhralten Weisen. Zerbst 1602. Michael Maier, Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964. Zur Sonderstellung dieses Buches in der Wissenschaftsrevolution des frühen und mittleren 17. Jahrhunderts vgl. Debus (Anm. 59), S. 47–50. Vgl. zu Maier vor allem Ulrich Neumann: Michel Maier (1569–1622). »Philosophe et Médecin«. In: Alchimie et Philosophie à la Renaissance. Hg. v. Jean-Claude Margolin u. Sylvain Matton. Paris 1993, S. 307–326, sowie Karin Figala/Ulrich Neumann: »Author cui nomen Hermes Malavici«. New Light on the Bio-Bibliography of Michael Maier (1569–1622). In: Alchemy and Chemistry in the 16th and 17th Centuries. Hg. v. Piyo Rattansi u. Antonio Clericuzio. Dordrecht/Boston/London 1994 (Archives Internationales d’Histoire des Idées 140), S. 121–147. Feis (Anm. 65), S. 187. TP 49. Aufgrund dieser Prozesshaftigkeit spielt der Bezug auf die Taten des Herkules immer wieder eine Rolle im alchimischen Schrifttum; vgl. in diesem Sinn zu Maiers Atalanta Fugiens: Debus (Anm. 59), S. 49.
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arabische Herkunft bei ihm, aber auch bei Oswald Croll nachdrücklich reflektiert wird. Auch Crolls Basilica chymica zeigt gleichsam vorab als Ahnherren dessen, was er empirienah an Rezepten zur Bekämpfung von Leiden aufzubieten hat, die die griechisch-römische Antike noch nicht kannte, die Gestalten zweier mythischer Ärzte, die auf den islamisch-arabischen Kulturraum verweisen: den vermeintlichen Ägypter Hermes Trismegistos und den Araber Geber.70 Flemings Anspielung auf den Wettlauf zwischen Atalanta und Hippomenes legt nahe, dass ihm Maiers Buch bekannt war, das – anders als dasjenige Crolls – eine Fülle von bemerkenswerten Emblemen eines namentlich nicht genannten Kupferstechers
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Hermes Trismegistos wurde um 1630 überwiegend noch als Verfassername verstanden, ähnlich wie Basilius Valentinus – eine Problematik, die hier nicht weiter verfolgt werden muss. – Faktum ist, dass die persische Medizin seit dem Ende der griechisch-römischen Kultur tatsächlich ein nicht-galenisches Medizinverständnis weiter entwickelte, in dem – wie Felix Klein-Franke, gestützt auf die Forschungen von Julius Ruska über Nordostpersien, formuliert – auch griechisches Wissen aus der Zeit des Hellenismus weiterlebte; Felix Klein-Franke: Die klassische Antike in der Tradition des Islam. Darmstadt 1980, S. 133. Wie Andrew J. Newman gegen das insgesamt der Sicht der westlichen Schulmedizin verpflichtete Standardwerk von Cyril Elgood argumentiert, gab es hier eine zweite Überlieferungstradition neben der galenischen, die Übergänge zum theologisch-philosophischen Diskurs aufweist; Andrew J. Newman: Bāqir AlMajlisī and Islamicate Medicine. Safavide Medical Theory and Practice Re-examined. In: Society and Culture in the Early Modern Middle East. Studies on Iran in the Safavid Period. Hg. v. dems. Leiden/Boston 2003, S. 371–396, hier S. 378. Es ist daher gar nicht so erstaunlich, wie es zunächst scheinen könnte, dass der Paracelsismus kurz vor 1640 auch in der persischen und arabischen Medizin Fuß fassen konnte. Elkhadem hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Syrier Salih Ibn Nasrallah Ibn Sallum, über dessen Werdegang wenig mehr bekannt ist, als dass Aleppo sein Hauptwirkungsort war bzw. werden sollte, die »Basilica Chymica« von Oswald Croll, die »Institutiones medicinae« von Daniel Sennert und weitere paracelsistische Autoren rezipierte und in einem eigenen Traktat »Ghayat al-itqan fi tadbir badan al-insan« (vor 1640) adaptierte; Hosam Elkhadem: Du Latin à l’Arabe: Introduction de la Doctrine medico-chimique de Paracelse en Orient au XVIIe Siècle. In: Civilisations (Bruxelles) 38 (1988), S. 53–73, hier S. 54; vgl. weiterhin die ausgezeichnete Untersuchung von Paul Richter: Paracelsus im Lichte des Orients. In: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 6 (1913), S. 294–304, sowie ergänzend Felix Klein-Franke: Paracelsus Arabus. Eine Studie zur ›alchemistischen Medizin‹ im Orient. In: Medizinhistorisches Journal 10 (1975), S. 50–54. Die Frage, woher Ibn Sallum diese Traditionen kannte und ob die Holsteinische Gesandtschaft mit diesem Kulturaustausch in Verbindung zu bringen ist, wurde von der Forschung bislang nicht gestellt. Es ist daran zu erinnern, dass Johann Albrecht von Mandelsloh Isfahān schon vor Antritt der Reise nicht als deren eigentliches Ziel betrachtete, wie aus einem vom Oktober 1635 datierenden Empfehlungsschreiben Herzog Friedrich III. an den Schah hervorgeht, das den Wunsch Mandelslohs unterstützt, »bey vorfallender Gelegenheit an andere Ortere sich weiters zue versuchen«; vgl. Mandelslo (Anm. 34), S. 178–180, hier S. 179. Mandelsloh wollte eigentlich über Aleppo reisen, woraus dann nichts wurde. Jedenfalls aber reiste er über Shiraz nach Indien weiter. Die Schule von Shiraz wäre ein denkbarer Ort, wo ein Austausch – möglicherweise über Dritte, möglicherweise über Buchgeschenke vermittelt – stattgefunden haben könnte; vgl. zu Mullā Sadrā Shīrāzī, dem philosophischen Kopf der Schule, Sajjad H. Rizvi: Mullā Sadrā Shīrāzī. His Life and Works and the Sources for Safavid Philosophy. Oxford 2007 (Journal of Semitic Studies Supplement 18), S. 174–180 mit weiterführender Literatur, sowie die nur bedingt heranzuziehenden Hinweise bei Corbin: Spiritual Body (Anm. 28), S. 97–100, zur späteren, auf Mullā Sadrā Shīrāzī gestützten Tradition eines Einbezugs der Alchimie in die Philosophie.
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enthielt: Matthaeus Merian d. Ä.71 Die abschließende Verwandlung von Atalanta und Hippomenes in zwei Löwen, die Merian gleichfalls auf dem Titelblatt (Abb. 3) darstellte, ließ diesen insbesondere aus Ovids Metamorphosen bekannten Mythos in besonderer Weise geeignet scheinen, alchimisches Wissen zu verbildlichen, schließlich zählen die Bezeichnungen ›der rote Löwe‹ und ›der grüne Löwe‹ zu den wichtigsten Decknamen der alchimischen Literatur. Auch der strafende, weil ›Scheidung‹ bewirkende Charakter dieser Metamorphose – »nach antikem Glauben paarten die Löwen sich nicht mit ihresgleichen, sondern nur mit Leoparden«72 – konnte ebenso leicht auf die Verhältnisse im alchimischen Labor wie auf Fragen des Liebesdiskurses übertragen werden. Das Verhältnis Flemings zu Paracelsus und den Paracelsisten wurde mehrfach von Marian R. Sperberg-McQueen untersucht. Sperberg-McQueen befand, dass die Leidener Dissertation Flemings in ihren Aussagen nicht eindeutig genug sei, um eine Paracelsus-Gefolgschaft des Dichters verifizieren zu können. Meines Erachtens verfehlt die Frage nach derartiger Gefolgschaft das Eigentliche des Problems: Angesichts der selbstgestellten Aufgabe, ein Heilmittel für unheilbare Seuchen finden zu wollen, bedeutete Kritik an Paracelsus in den zur Debatte stehenden Jahren weit nach 1600 letztlich doch nur, dass man mit Blick auf ein gravierendes Problem über denjenigen hinauszukommen suchte, der gleichwohl das Wertvollste zum Thema zu sagen hatte.73 Schon die erste Generation der Alchimisten nach Paracelsus lehnte dessen Lehren ja nicht etwa ab, bloß, weil Empirie und Experiment nun unter utilitaristischem Aspekt verstärkt interessierten, wie beispielsweise Art und Einrichtung des Labors von Oberstockstall belegen kann.74 Wäre es da nicht plausibel, dass der angehende Mediziner Fleming sich 71
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Einen analogen Fall dichterischer Rezeption Michael Maiers durch einen angehenden Mediziner stellt das chymische Lustgärtlein des Daniel Stoltz zu Stoltzenberg dar. Schon im Vorwort dieses 1624 veröffentlichten Textes beruft Stoltz sich auf Michael Maier: [Daniel] Stoltzius von Stoltzenberg: Chymisches Lustgärtlein. Im Anhang: Ferdinand Weinhandl: Einführung in die Alchimie des »Chymischen Lustgärtleins« und ihre Symbolik. Darmstadt 1975 [ohne Seitenzahl]. Stoltz war zudem mit Merian persönlich bekannt. Am 2. Januar 1624 trug Merian sich in Basel in sein Stammbuch ein und fertigte die Handzeichnung »Der barmherzige Samariter« für den Medizinstudenten Stoltz an; Matthaeus Merian d. Ä.: Briefe und Widmungen. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Hamburg 2009, S. 359. Vgl. die aufschlussreiche Arbeit von Heike Hild: Das Stammbuch des Medicus, Alchemisten und Poeten Daniel Stolcius als Manuskript des Emblembuches »Viridarium Chymicum« (1624) und als Zeugnis seiner Peregrinatio Academica. Diss. TU München 1991, S. 29f. Eric M. Moormann, Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten. Stuttgart 1995, S. 135. Vgl. in diesem Sinn zur Iatrochemie als einer Wissensform, in der das Moment der Naturbeobachtung und der Experimentierfreude überwiegt, ohne dass der nicht zu verleugnende esoterisch-magisch-spekulative Anteil dabei als Hindernis zu betrachten wäre: Bruce T. Moran: Distilling Knowledge. Alchemy, Chemistry, and the Scientific Revolution. Cambridge (MA)/ London 2006, hier insbes. S. 50 zu Johann Agricolas Bemühungen in Leipzig um 1639, das ältere Werk von Johann Popp aus dem Jahr 1617 zu erweitern: »The need for chemical medicines was all the greater in his own day, Agricola believed, inasmuch as illnesses were now more severe than they had been in the time of the ancients.« Rudolf Werner Soukup/Helmut Mayer: Alchemistisches Gold – Paracelsistische Pharmaka. Laboratoriumstechnik im 16. Jahrhundert. Chemiegeschichtliche und archäometrische Untersuchungen am Inventar des Laboratoriums von Oberstockstall/Kirchberg am Wagram.
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einer Reise in ein Land anschloss, dessen Bewohner – wie neuere Reiseberichte bekannt machten – fast sprichwörtlich gesund waren?75 Von der glänzenden neuen Hauptstadt Persiens wusste der englische Reisende Thomas Herbert 1634 in einer von Mandelsloh offenbar nach Persien mitgenommenen, Fleming also möglicherweise bekannten Reisebeschreibung zu berichten, dass deren unter dem Namen Maidan bekannte große Platzanlage ein einzigartiger Umschlagplatz für Medikamente war, »showing also greater variety of simples and ingredients of medicines than I ever saw together in any one city of Europe«.76 Womöglich
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Wien/Köln/Weimar 1997 (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte 10), S. 271. Das Beispiel dieses Laboratoriums belegt, wie zutreffend William Sheas Befund ist, dass das Zukunftsträchtige der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit nicht erfasst wird, wenn man allein Mathematik, Physik und Astronomie beachtet. Es ist vielmehr die Alchimie, in der das Experiment einen gänzlich neuen Stellenwert für eine prinzipiell antiaristotelisch ausgerichtete Wissenschaft erlangt; William R. Shea: Trends in the Interpretation of Seventeenth Century Science. In: Reason, Experiment, and Mysticism in the Scientific Revolution. Hg. v. Maria L. Righini Bonelli u. William R. Shea. New York 1975, S. 1–17, hier S. 2f. Vgl. den allerdings aus der Zeit nach der Reise von Fleming und Olerarius datierenden Bericht von Jean Chardin, der 1671 von Paris aus nach Persien aufbrach und 1680 nach einem insgesamt viereinhalbjährigen Aufenthalt in Persien nach Paris und London zurückkehrte und dessen weitschweifige Ausführungen Ferrier präzise paraphrasiert: »There was no sign of the plague in Persia, nor gall stones, gout, sciatica, tooth-ache or migraine. Veneral disease did not produce such acute effects as in Europe. There was no incidence of tuberculosis, apoplexy, epilepsy or small pox.«; Ronald W. Ferrier: A Journey to Persia. Jean Chardin’s Portrait of a Seventeenth-century Empire. London/New York 1996, S. 140. Für den Kaufmann und Juwelier Chardin, der gerade in diesem Punkt offenkundig nur oberflächliche Eindrücke wiedergibt, stellte sich das medizinische Wissen der Perser als rückständig dar: »Chemicalbased cures like European emetics were not available«, paraphrasiert Ferrier Chardins Bericht hierzu (S. 141). Tatsächlich aber gab es seit 1569 Abhandlungen persischer Ärzte, die sich monographisch mit dem Thema Syphilis beschäftigten, wiewohl die Krankheit selbst in Persien unbekannt war; vgl. Cyril Elgood: A Medical History of Persia and the Eastern Caliphate. The Development of Persian and Arabic Medical Sciences from the Earliest Times until the Year a. D. 1932 including the Mongol Domination and Western Influences based on Original and Contemporary Studies. With Additions and Corrections from the Autor’s Copy. (1951). Amsterdam 1979, S. 379f. Eine der bemerkenswerten Einsichten, die hier über Syphilis formuliert wurden, übersetzt Elgood ins Englische: »The disease is not hereditary« (S. 380). Thomas Herbert: Travels in Persia 1627–1629. Hg. v. William Foster. London 1928 (ND 1995), S. 129, vgl. auch S. 245. Über den englischen Persienreisenden Herbert im Kontext der persischen Medizin vgl. Elgood (Anm. 75), S. 398. Wie aus Johann Albrecht von Mandelslohs Reisetagebuch hervorgeht, benutzte von Mandelsloh diese 1634 erschienene Reisebeschreibung von Thomas Herbert zur Vorbereitung und zur literarischen Ausgestaltung des eigenen Reiseberichts. Die Herausgeberin Margrete Refslund-Klemann kann nachweisen, dass die in das Tagebuch von Mandelsloh aufgenommenen »Persiansche Historien« in zwei Fällen Übersetzungen aus »Relation of some yeares travels« (1634) von Thomas Herbert sind; Mandelslo (Anm. 34), S. XIV. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden also auch Fleming und Olearius von der Reisebeschreibung Herberts gewusst haben, die sie 1635 noch in Reval kennengelernt haben könnten.
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Abb. 3: Titelblatt. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964.
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wussten Fleming und Olearius schon vor Antritt der Reise, dass es Manuskripte in persischer und arabischer Sprache gab, die darauf hindeuten, dass das ›Morgenland‹ ein von der lateinischen Überlieferung relativ unabhängiges Wissen zur Alchimie weiterentwickelt hatte, das auf sehr selbständige Weise sogar Impulse der griechischen Antike rezipiert hatte?77 Und: Dass dieses kontinuierlich erweiterte Wissen anders beschaffen war als dasjenige, das die lateinische Überlieferung des Mittelalters mit ihren zahlreichen sinnentstellenden Verschreibungen bot. Diese Problemlage kann hier nur sehr verkürzt an einem einzelnen Beispiel verdeutlicht werden: Eine dezidierte Wendung gegen die Transmutationsalchimie, die ihrer Herkunft nach mittelalterlich ist und zu Flemings Zeiten insbesondere an den Höfen der aufsteigenden Territorialfürsten des Reichs eine späte Blüte erlebte, findet sich in einer Handschrift des Mu’ayyad ad-Dīn at-Tugrā’ī: »Es entsteht kein Gold außer aus Gold und kein Silber außer aus Silber.«78 Darüber hinaus steht nach wie vor die Frage im Raum, welche Bedeutung die Iatrochemie für den Dichter Fleming hatte. Denn man hat bisher versäumt, Flemings Gedichte daraufhin zu befragen, inwiefern diese eine alchimische Bildlichkeit aufweisen. Man hat dies versäumt, obwohl die Reisebeschreibung von Olearius mit dem Abschnitt über das irdische Paradies von Rubar den entscheidenden Fingerzeig lieferte.
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Vgl. zur Bedeutung der ärztlichen Kritik an der lateinischen Überlieferung antiken Wissens Klein-Franke: Klassische Antike (Anm. 70), S. 19, vgl. hier auch den Hinweis, dass schon Andreas Vesalius, dessen Werk über die menschliche Anatomie schnell verbindlich wurde, nachdrücklich auf die Bedeutung der arabischen Medizin aufmerksam machte. AlfonsoGoldfarb gibt einen guten Forschungsüberblick zur relativen Unabhängigkeit der frühen arabischen Alchimie von der Antike und verweist in diesem Zusammenhang auf al-Râzî. Seine Beobachtung, dass die produktivsten Autoren alchimischer Traktate »came from the frontiers between the Hispano-Arab and Christian worlds«, ist für unser Thema aufschlussreich; A.M. Alfonso-Goldfarb: The Establishment of Islamic Alchemy in the Iberian Peninsula. In: Alchemy Revisited. Proceedings of the International Conference on the History of Alchemy at the University of Groningen, 17–19 April 1989. Hg. v. Z[weder] R. W. M. von Martels. Leiden u. a. 1990 (Collection de Travaux de L’Académie Internationale d’Histoire des Sciences 33), S. 127–132, hier S. 130. Unterstellt man ein entsprechendes Interesse Flemings, wird man zur Einsicht gelangen, dass es nach dem Abschluss der Reconquista weder auf der iberischen Halbinsel noch auf Sizilien besondere Aussichten mehr gab, an dieses Wissen heranzukommen. Sich einer Reise nach Persien anzuschließen, wäre somit die fast einzige verbleibende Möglichkeit gewesen, aktiv an einem wissenschaftlich motivierten Kulturtransfer mit möglicherweise weitreichenden Folgen zu partizipieren. Vgl. das Schlusswort der Abhandlung von Alfred Siggel: Decknamen in der arabischen alchemistischen Literatur. Berlin 1951 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Orientforschung, Veröffentlichungen 5): »Daß sich viele Alchemisten jener Zeit darüber klar waren, mit ihren durch das Aufwerfen eines Elixiers bewirkten Färbungen unedler Metalle nicht echtes Silber und Gold gewonnen zu haben, beweisen ihre Bezeichnungen ›unser Gold‹ und ›unser Silber‹, mit denen sie den Unterschied vom Gold und Silber der ›Leute‹ ausdrücken wollten. Die richtige Einsicht dieser Alchemisten zeigt eine Stelle aus der Schrift Gāmi’ al-asrār (Sammlung der Geheimnisse) des Mu’ayyad ad-Dīn at-Tugrā’ī: ›Es entsteht kein Gold außer aus Gold und kein Silber außer aus Silber‹.«
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3. TeütscheP oemata, Der Oden Fünfftes Buch, als Intertext der Reisebeschreibung Bisher konnte gezeigt werden, dass Olearius an die einstigen Hoffnungen, die Fleming und er auf eine Reise nach Persien richteten, nur insgeheim zu erinnern wagt.79 Sein Verfahren besteht darin, dass er Gedichte Flemings an Schlüsselstellen seiner Reisebeschreibung einschaltet, diese Gedichte im Sinne einer Klimax anordnet, und auf dem Höhepunkt – in Rubar – einen Querverweis auf ein zweites Buch setzt, das er fast zeitgleich herausgab, nämlich die Teütschen Poemata. Olearius druckt zwei Sonette Flemings ab, die durch Ton, Sprache sowie durch die kontextualisierende Beschreibung als dieser Höhepunkt hervorgehoben sind, und er verweist – in der zweiten Auflage seiner Reisebeschreibung – in einer Marginalglosse auf jene Bücher der Teütschen Poemata, welche die Oden Flemings enthalten. Wer dort nachschlägt, wird das Gesuchte, die beiden Gedichte auf Rubar, zwar nicht finden. Statt ihrer wird er im fünften Buch der Oden allerdings auf eine wohlkomponierte Folge von Gedichten stoßen, die eine alchimische Bildlichkeit aufweisen. Nun ist zu konzedieren, dass dieses fünfte Buch der Oden, das auf solch kryptische Weise der Alchimie gewidmet ist, gerade keine offensichtlichen Persien-Bezüge aufweist. Flemings ausdrücklich während der Reise entstandenen Gedichte finden sich in den Teütschen Poemata vielmehr unter den Poetischen Wäldern und den Sonetten verstreut. Und doch gibt es diesen Persien-Bezug. Olearius hat die Teütschen Poemata nämlich nicht nur in Bücher eingeteilt, wofür er sich auf eine Autorisierung durch den Dichter selbst berief, sondern er hat jedes dieser Bücher darüber hinaus einem anderen Freund oder Förderer gewidmet. Das fünfte Buch der Oden aber ist niemand anderem als seinem »besonders vertrauten Reise=Gefärten nacher Moßkow und Persien«,80 Johann Albrecht von Mandelsloh, zugedacht. Die Widmung verknüpft also das scheinbar persienferne fünfte Buch der Oden mit dem besonders vertrauten Reisegefährten nach Persien, dessen eigene Reisebeschreibung Olearius – wie bereits gezeigt werden konnte – auch aus Anlass der Anspielung auf Rubar als Intertext dient.81 79
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John Reidy hat nicht nur beschrieben, in welchem Ausmaß der Ruch der schwarzen Magie auf den Alchimisten lastete, sondern auch einen Grund dafür benannt: »this may be due at least in part to the clientele that alchemy attracted«; John Reidy: Alchemy as CounterCulture. In: The Indiana Social Studies Quarterly 24 (1971), H. 3, S. 41–51, hier S. 49. Vgl. mit ähnlicher Tendenz, allerdings zur Sache selbst Luck (Anm. 38), S. 450: »Es scheint aber, daß in der Alchemie viel weniger mit Dämonen und anderen überirdischen Mächten gearbeitet wird als in der Magie. Auch der Gedanke der Divination ist der Alchemie fremd: sie beschäftigt sich mit dem Gegenwärtigen«. TP (ohne Seitenzahl). Dass dieses Verweisungsspiel tatsächlich nicht zufällig ist, lehrt ein Blick in das bedeutendste der Werke, die Olearius künftig zurecht als Folgen seiner Persienreise ausgeben konnte. Die sich an den Leser wendende Vorrede zu seiner Übersetzung des »Persianischer Rosenthal Schich Saadi« hebt unter den acht Kapiteln ausschließlich das fünfte hervor, da dieses der Liebe vorbehalten ist und hier auch die in Olearius’ Reisebeschreibung noch überwiegend skeptisch beurteilte Homosexualität der Perser auf eine für deutsche Ohren ungewohnte Weise Thema wird. Vgl. Behzad (Anm. 28). Wolfgang Adam hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine »kalkulierte Konzeption« in »der Wahl der Adressaten« sich auch für
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Vom fünften Buch der Oden wird man sich also Aufschlüsse über das erwarten dürfen, was die Reisebeschreibung anlässlich des Aufenthalts in Rubar auf so auffällige Weise nicht sagt. Ode 1 ist im Licht dieser Ausgangssituation als Auftakt zu verstehen. Nicht bereits die Bildwelt der Alchimie, sondern vielmehr das Motiv, sich ihr zuzuwenden, wird benannt: »Ach mir! was ists vor ein verkehrtes Wesen/ das mich bringt umm von dem will ich genesen.«82 Dieses Zitat steht in der sechsstrophigen Ode am Ende der dritten Strophe: das heißt exakt in der Mitte des Texts. Es wurde bisher überwiegend auf Liebesqualen bezogen, die der Sprecher des Gedichts erleide. Von »Quahlen«, derer sich ein »wüster Heyn« erbarmen möge, ist gleich anfangs die Rede. Doch die erste Strophe endet wenig petrarkistisch: »Wie dunckel hier ist deine schwartze Höle/ So finster auch ist meine krancke Seele.«83 Auf diese Seelenkrankheit nimmt die Mitte des Gedichts Bezug: Der Sprecher will von ihr genesen. Nicht etwa ein anagrammatisch verschlüsselter Name einer Frau wird in dieser ersten Ode genannt, keine Salimbene oder Basilene, sondern vielmehr die »Kasper-See«.84 Enthält des Olearius Reisebeschreibung einen Querverweis auf die Oden, so die erste der Oden einen überaus abgekürzten Querverweis auf die Reisebeschreibung. Das von Olearius als Ode Nr. 2 aufgenommene Gedicht benennt, abermals auf die formale Mitte des Gedichts zustrebend, ein Motiv der vergeblichen Anstrengung, merkwürdigerweise mit einer präzisen Zeitangabe versehen: Neun Stunden sind nun gleich von nächten durchgebracht/ Neun Stunden hab’ ich nun an Korilen gedacht. an Korilen/ die schöne/ von der ich bin so weit/ drümm klinget mein Gethöne nach nichts denn Traurigkeit.85
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Flemings lateinische Dichtungen nachweisen lässt; Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ›bei Gelegenheit‹. Heidelberg 1988 (Beihefte zum Euphorion 22), S. 151. TP 486. Ebd. Vgl. zum Kryptomonismus der Vorstellung, dass Körper und Seele genau so wenig getrennt gedacht werden können wie »Vorgänge der Stoffumsetzung« (S. 76) im alchemischen Prozess Marielene Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen. Wiesbaden 1973, insbes. S. 71–76. TP 486. Wenngleich das Decknamen-Prinzip natürlich nicht aus einer alchimischen Praxis abgeleitet werden kann, muss man doch darauf hinweisen, dass sich innerhalb der Alchimietraktatistik ein hohes Bewusstsein sowohl für die Notwendigkeit als auch für die Problematik von Decknamen findet; vgl. Siggel (Anm. 78), S. 11 u. 8 mit dem Nachweis einer Decknamenliste am Rande einer arabischen Handschrift. Brian Vickers sieht sogar allgemeinere Zusammenhänge zwischen der alchimischen res-verba-Diskrepanz und linguistischen Diskussionen; Brian Vickers: The Discrepancy between res and verba in Greek Alchemy. In: Alchemy Revisited (Anm. 77), S. 21–33. TP 487.
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Eines der höchsten Ziele, die die Alchimisten kannten, war die Gewinnung der sogenannten Goldkoralle, ein rotes Gold, das lange Zeit unmittelbar auf den Stein der Weisen bezogen wurde.86 Gewachsene Korallen, wie sie vor Sizilien gefunden wurden, konnten ihr gleichsam verdinglichtes Zeichen darstellen.87 Sie waren in der Gottorfer Kunstkammer, deren Beschreibung Olearius im Jahr 1666 publizierte, mehrfach, teils in silberner Fassung, vorhanden.88 Es ist zu vermuten, dass »Korile« nicht etwa Deckname einer Frau,89 sondern Deckname für die Goldkoralle ist, die auf das Ziel des Sprechers hinweist: das neue aurum potabile zu finden, also die reinste Form des Goldes in einer flüssigen, trinkbaren, ›medizinisch‹ wirksamen Form, wie sie nur im Labor herzustellen sein würde. Allerdings benennt die Ode zugleich die alchimisten-typische Enttäuschung dieses angestrengten Experimentierens: Neun Stunden durchgebracht, die gesamte Nacht also mit Experimenten verbracht, und doch noch immer so weit vom Ziel sich entfernt zu wissen.90 Die zeitgenössische Alchimieliteratur nahm sich auch 86 87
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Claus Priesner: Art. Goldkoralle, Korallengold. In: Claus Priesner, Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. München 1998, S. 160f. Neben Bernstein eigneten auch Korallen sich dafür, als Ding und als Zeichen gleichermaßen geschätzt, gesammelt und als Schmuck getragen zu werden. Beide haben gemeinsam, dass sie irritierende Zwischenfiguren zwischen Stein-, Pflanzen- und Tierreich darstellen. Die Beschäftigung mit Korallen nimmt z. B. in der letzten Fassung von »Medulla destillatoria et medica« (Schleswig 1694; letzte Fassung: Hamburg 1605) des aus Leipzig stammenden, ab 1594 in enger Verbindung mit Herzog Johann Adolph von Holstein auf Schloss Gottorf stehenden Conrad Khunrath ein ganzes Kapitel ein; vgl. Oliver Humberg: Der Alchemist Conrad Khunrath. Texte und Dokumente aus Leipzig, Schleswig und Hamburg mit Studien zu Leben, Werk und Familiengeschichte. Hg. v. Hans Gerhard Lenz. Elberfeld 2006, S. 27; hier auch S. 20 zu Johann Adolphs »mit immensem Aufwand [unterhaltenen] alchemistische[n] Laboratorium auf Schloß Gottorf«, das für Olearius zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich eine große Rolle spielen sollte. Vgl. hierzu Ludwig Andresen: Das Laboratorium. In: Gottorfer Kultur im Jahrhundert der Universitätsgründung. Kulturgeschichtliche Denkmäler und Zeugnisse des 17. Jahrhunderts aus der Sphäre der Herzöge von Schleswig-HolsteinGottorf. Ausstellung anläßlich des 300-Jahr-Jubiläums der Christian-Albrechts-Universität Kiel und zur Einweihung des Neubaues am Platz des einstigen Kieler Schlosses, veranstaltet von der Landesregierung Schleswig-Holstein im Neuen Schloß zu Kiel vom 31. Mai bis zum 31. Juli 1965. Hg. v. Ernst Schlee. Flensburg 1965, S. 444f. Kat. Gottorf im Glanz des Barock (Anm. 45), Bd. 2: Die Gottorfer Kunstkammer. Bearb. u. komm. v. Mogens Bencard u. a. Schleswig 1997, S. 213f. Ovid zufolge verwandelte das Blut des abgeschlagenen Medusenhauptes den pflanzlichen Meerestang in die roten Korallen, die – aus dem Wasser an die Luft versetzt – zu Stein werden; Metamorphosen V, 740–752; vgl. zur Umsetzung dieser Passage in einem Gemälde Claude Lorrains: Willibald Sauerländer: Die Luft auf der Spitze des Pinsels. Kritische Spaziergänge durch Bildersäle. München 2002, S. 58f. Ein Rezeptionszeugnis, auf welche Weise z. B. laudanum opiatum im Jahr 1615 in der Laborpraxis hergestellt wurde, findet sich in dem in der Erlanger Universitätsbibliothek unter der Signatur »Ms. 1207« überlieferten Tagebuch eines Studenten, der unter Johannes Hartmann im chemischen Laboratorium der Universität Marburg arbeitete. Bei den Laboratoriumsarbeiten fanden auch Korallen Verwendung. Zudem fehlt es nicht an »Bemerkungen über gelegentliches Mißlingen und seine vermutlichen Gründe«, wie sie immer wieder, teils resignativ, das alchimische Schrifttum durchziehen; vgl. W[ilhelm] Ganzenmüller: Das chemische Laboratorium der Universität Marburg im Jahre 1615. In: Ders.: Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie. Weinheim a. d. Bergstr. 1956, S. 314–322, hier S. 318. Ein lediglich handschriftlich überliefertes alchimisches Rezept (Stockholm, Kong-
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der Korallen auf eine Weise an, die die Fortschritte im Wissen anzeigt: Noch im Triumphwagen Antimonii des Basilius Valentinus wird ein Antimon-Präparat (»Magisterium«) nur kurz angeführt, das durch die Vermischung mit »Tinctura Corallorum« ein »fröhlich« Herz mache, also genau jene Melancholie abwende, unter der das sprechende Ich in Flemings Gedicht leidet.91 In Agricolas Chymischer Medizin hingegen ist bereits ein ganzes Kapitel De Corallis. Das Magisterium Corallorum zu präparieren gewidmet; auch gibt Agricola genau an, wie er aus den Korallen eine Medizin gewonnen habe, mit der er einen Fall schwerer Melancholie heilen konnte.92 Beide Gedichte benennen das zentrale Motiv, das kryptisch auf die Alchimie verweist, auch in formaler Hinsicht an zentraler Stelle: der ›goldenen‹ Mitte des Gedichts, oder doch annähernd in der Mitte. Geht man davon aus, dass dies ein bewusst eingesetztes Kompositionsprinzip dieses fünften Buchs der Oden ist, dann beginnen im Folgenden bestimmte Wörter geradezu magisch zu leuchten: In Ode 3 findet sich an entsprechender Stelle das »Feuer«, das »kalt« sei.93 In Ode 4 ist es »Ein bewehreter Soldate«,94 den man aus der alchimischen Emblematik kennt. Sind es in Ode 5 lediglich die »gold-gemengten Haare« der Angesprochenen, die sich mit »Silber unterziehn« werden, und wird die Vermischung von Milch und Blut scheinbar rhetorisch zum Preis ihres Halses eingesetzt,95 so wird die lange Ode 12 »Wol dem/ der Gnad umm Recht kan finden« schon deutlicher, in der verlautet: »Hätt’ ich ein Salamander Leben/ So wär es wol umm mich bewandt.«96 Selbst im wahrscheinlich berühmtesten Gedicht des Buchs, »Wie er wolle geküsset seyn«, bei Olearius Ode 37, wird der Wunsch laut, »Nicht zu trucken/ nicht zu feuchte/ wie Adonis Venus reichte«97 – nämlich geküsst zu werden, dann
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lige Biblioteket, Medicin X. 68) zur Herstellung von Aurum potabile, bei dem auch Korallen Verwendung fanden, führt Halleux an; Halleux (Anm. 60), S. 54. Sehr viel interessanter freilich scheint von heute aus betrachtet ein Aspekt, den Lawrence M. Principe als Argument für den prinzipiell wissenschaftlichen Charakter der frühneuzeitlichen Alchimie verbucht: Bei einer Überprüfung einiger alchimischer Angaben des Eirenaeus Philalethes (d. i.: George Starkey) im modernen Labor ergab sich ein goldglänzendes Gebilde in der Form eines »dendritic fractal«, das Lawrence M. Principe zufolge einerseits an einen Baum denken lasse, wie Maier ihn in Emblem 9 aus »Atalanta fugiens« darstellte, das mit noch mehr Recht jedoch mit einer Koralle vergleichbar sei – ein Vergleich, der bereits in Eirenaeus Philalethes »Ripley Reviv’d« (London 1678, S. 65) ausdrücklich gezogen werde; Lawrence M. Principe: Apparatus and Reproducibility in Alchemy. In: Instruments and Experimentation in the History of Chemistry. Hg. v. Frederic L. Holmes u. Trevor H. Levere. Cambridge/London 2000, S. 55–74, hier S. 70. Die ›Koralle‹ ist demzufolge nicht mehr nur materieller Bestandteil von Experimenten, wie wohl schon sehr viel früher, sondern dient auf einem Gebiet, das der Wissenschaftsillustration kaum zugänglich ist, aufgrund ihrer Struktur zur Beschreibung und Kontrolle des Ergebnisses der Wiederholung von alchimischen Experimenten im Labor. Triumphwagen (Anm. 56), S. 49. Alle Zitate auf dieser Seite. Agricola (Anm. 60), S. 1233–1247, hier S. 1238f. TP 489. Ebd., 490. Ebd., 491f. Ebd., 503. Ebd., 535.
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sei es recht,98 andernfalls werde das Eintauchen der Lippen der beiden einander Suchenden ineinander ein bloßes »Kinder=Spiel«: Selbst hier mag man – cum grano salis – eine alchimisch unterstützte Liebesmetaphorik am Werk sehen. Beschränkt man sich zunächst auf diese wenigen Beispiele, wird deutlich, dass Fleming zwar sehr wohl die petrarkistische Motivtradition aufgreift, in sie jedoch auf den ersten Blick befremdlich wirkende, erratische Wörter einschleust, die insgeheim auf die Bildsprache der Alchimie verweisen. Einer der wichtigsten alchimistischen Prätexte, auf die in diesem Zusammenhang hinzuweisen ist, ist das Werk Atalanta Fugiens von Michael Maier, dessen Bedeutung unter anderem darin gesehen wird, eine andere, nämlich die poetische Bildwelt Ovids zur Erläuterung der Verfahrensweisen im alchimischen Labor herangezogen und in Wort, Bild und Musik dargestellt zu haben.99 In Maiers Werk spielen die bisher genannten alchimischen Schlüsselwörter aus Flemings Gedichten eine zentrale Rolle: – – – –
der Wettlauf: bei Maier das Titelblatt (Abb. 3) die Koralle aus Ode 2: bei Maier Emblem 32 (Abb. 4) der bewehrte Soldat aus Ode 4: bei Maier Emblem 20 (Abb. 5) die Vermischung von Milch und Blut durch das Ansetzen einer Kröte aus Ode 5: bei Maier Emblem 5 (Abb. 6) – Venus und Adonis aus Ode 11: bei Maier Emblem 41 (Abb. 7)
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Maier (Anm. 66), S. 68f., Nr. XV: »Deß Töpffers Werck/ so bestehet in Trucken vnd Feuchte/ laß dich lehren.« Vgl. auch S. 172f., Nr. XLI: »Adonis wirt von einer wilden Saw erlegt/ welchem wie die Venus wolt Hülffe thun/ hat sie mit Blut die Rosen roht gefärbet.« Wie lange die Vorstellung von der fundamentalen Differenz des trockenen und des feuchten Wegs im alchimistischen Wissen weiterleben, wie lange sie aber auch umstritten sein sollte, belegt ein Blick in ein ebenso wirkungsmächtiges wie seinerseits umstrittenes Werk des frühen 20. Jahrhunderts: Fulcanelli: Das Mysterium der Kathedralen und die esoterische Deutung der hermetischen Symbole des Großen Werks (1926). Vollständige deutsche Erstausgabe nach der dritten Ausgabe (Paris 1964) mit den drei Vorworten von Eugène Canseliet. Übersetzt v. Martin P. Steiner. Basel 2004, S. 140–142. Inwiefern neben der klassischen Mythologie im Allgemeinen die Metamorphosen des Ovid und das Argonauten-Epos des Apollonios von Rhodos im Besonderen Bezugspunkt der alchimischen Diskussion und Bilderwelt werden konnten, untersucht Debus (Anm. 59), S. 45–50. Michael Maier illustriert durch Bezugnahmen auf Ovid jedoch stets nur, was im alchimischen Experiment als Naturprozess beobachtbar ist. Er unterscheidet sich damit wesentlich vom Verfasser des »Grand Olympe«, der ein Jahrhundert zuvor in einer längeren, nur handschriftlich überlieferten Auslegung des Ovid den Nachweis zu erbringen suchte, dass dessen Metamorphosen notwendig einen Alchimisten zum Verfasser gehabt hätten und eine verschlüsselte Darlegung der Alchimie »aus Furcht vor Verfolgungen seiner Person« der einzige Zweck dieses Werks gewesen sei, das dem bekannten Dichter Ovid folglich nur »untergeschoben« worden sei; vgl. Paul Kuntze: Le Grand Olympe, eine alchimistische Deutung von Ovids Metamorphosen. Diss. Halle-Wittenberg 1912, S. 81–83. Vgl. zu den Emblemen in Maiers Traktat Friedmann Harzer: Arcana Arcanissima. Emblematik und Mythoalchemie bei Michael Maier. In: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Emblem. Hg. v. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Teil 1. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Mikrokosmos 65), S. 319–332.
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– der Salamander im Feuer aus Ode 12: bei Maier Emblem 29 (Abb. 8) – der Kuss aus Ode 37: bei Maier Emblem 34 (Abb. 9) Nur das bei Alchimisten gut eingeführte Wort vom ›Kinderspiel‹ findet sich nicht bei Maier als Emblem gestaltet, dafür aber z. B. im Splendor Solis. Es steht hier für den »Rollentausch« der beiden Substanzen Schwefel und Quecksilber ein: »Diesen Rollentausch der beiden Substanzen vergleicht der Autor mit dem Spiel der Kinder, bei dem sich – in der Miniatur allerdings nicht dargestellt – das oben liegende Kind schon bald zu unterst befindet.«100 Krankheit bezeichnet bei Maier am Ende des Traktats den Zustand des alten Königs, des Basileus (vgl. insbesondere Emblem 44), – man mag hier an Flemings »Basilene« denken.101 Maiers Anliegen ist es, das Wissen der Tabula Smaragdina, deren Herkunft aus dem Osten benannt wird und deren Text zitiert wird, zur Gewinnung einer Tinktur zu nutzen, deren Zeichen vor allem die Goldkoralle ist. Emblem 32 zeigt den Alchimisten, der nach der Koralle angelt, als ein Zeichen für die Suche nach der Universalmedizin (Abb. 4). Maier gibt hierzu weniger Rezepte im modernen Sinn, als vielmehr verschlüsselte Beschreibungen der Rahmenbedingungen, unter denen alchimische Forschung stattfinden könne.102 100
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Jörg Völlnagel: Splendor Solis oder Sonnenglanz. Studien zu einer alchemistischen Bilderhandschrift. München/Berlin 2004 (Kunstwissenschaftliche Studien 113), S. 79. Das Wort vom ›Kinderspiel‹ fällt auch an zentraler Stelle in einem dem Zosimos zugeschriebenen syrischen Traktat über Alchimie (Manuskript Universität Cambridge, Ms. Mm. 6.29), das Berthelot übersetzt hat: »Si tu fais ces choses, tu seras un homme heureux. Mais si tu es impur, tu ne travailleras pas bien, tu ne comprendras pas, et tu n’entendras pas les autres (philosophes). Tout ton cœur sera éclairé par la science de ces paroles. Une personne, par un travail facile, peut t’enseigner cette œuvre d’enfant. […] Sache que tu seras éprouvé pour les choses spirituelles et corporelles, jusqu’à ce que tu parviennes à la perfection, en acquérant la patience avec la pureté et l’amour (de l’art); alors tu trouveras (l’objet de ton désir), en délaissant les arts corporels.« Zit. n. M[arcellin] Berthelot: La Chimie au moyen âge. Tome II: L’Alchimie syriaque […]. Paris 1893, S. 203–332, hier S. 259. Vgl. zur Alchimie bei Zosimos Garth Fowden: The Egyptian Hermes. A historical approach to the late pagan mind. Cambridge 1986, S. 120–126. Im »Splendor Solis« findet sich der Gegensatz Alter König – junger König als Sinnbild für die »Operation der Solution«, der »Lösung von Materie in scharfen, ›merkurialen‹ Flüssigkeiten«; Völlnagel (Anm. 100), S. 68. Als »Spiel mit dem griechischen Wort für ›König‹« bezeichnet auch Fechner das Wort »Basilene« in Flemings Gedichten; Jörg-Ulrich Fechner: Paul Fleming. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 365–384, hier S. 371. Joachim Telle hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass gerade auch der für die Leipziger Medizin vor Fleming so bedeutende Joachim Tanck gerade deswegen als entschiedener Paracelsist zu betrachten ist, weil er basierend auf Paracelsus Forschung betrieb, die in der Heilmittellehre über Galen, die gesamte antike Tradition und über die noch viel zu ›hermetisch‹ sich gebenden Ansätze des 16. Jahrhunderts hinauszukommen suchte. Die nachaufklärerische Unterscheidung von Wissenschaft und Magie greift demzufolge nicht beim Versuch der Beschreibung dessen, was die ›alchimisch‹ experimentierenden Mediziner von jenen alchimistischen Scharlatanen (›Goldmachern‹) trennte, von denen sie selbst sich und ihr Anliegen ja immer wieder abzugrenzen hatten; vgl. Telle (Anm. 56), S. 139–157. Nicht als ›Prelude to Chemistry‹, wohl aber als Einsetzen ernsthaft bemühter Naturbeobachtung hat Allen G. Debus daher die ja erst gegen Ende des Mittelalters einsetzende, typisch frühneuzeitliche
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Abb. 4: Emblema XXXII. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 137.
Symbole wie die Koralle, der Salamander,103 der Stein, der Kuss, die sexuelle Vereinigung von Sonne (Gold) und Mond (Silber) veranschaulichen unter Rekurs auf die Bildsprache der Emblematik und auf die traditionelle Mythologie die Hoffnung der Alchimisten, den Stein der Weisen finden zu können. Matthaeus Merian hat hierfür sowie für eine stattliche Zahl weiterer alchimischer Traktate meist aus dem Verlag von Theodor de Bry104 eine einprägsame,
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Alchimie mit ihrer Melange aus nur aus heutiger Sicht ›magisch‹ und ›wissenschaftlich‹ zugleich anmutenden Impulsen beschrieben; vgl. Debus (Anm. 59). Die Wende, seit welcher die Alchimie aus wissenschaftlicher Sicht in die Defensive geriet, datiert Schlögl in einer wichtigen historischen Untersuchung in das frühe 18. Jahrhundert; Rudolf Schlögl: Ansätze zu einer Sozialgeschichte des Paracelsismus im 17. und 18. Jahrhundert. In: Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung. Hg. v. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993 (Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte, Beihefte 31), S. 145–162, hier S. 150. Vgl. zum Salamander in diesem Kontext: Stanton J. Linden: Darke Hierogliphicks. Alchemy in English Literature from Chaucer to the Restoration. Lexington (Ken) 1996, S. 187f. Zusammenfassend Lucas Heinrich Wüthrich: Matthaeus Merian d. Ä. Eine Biographie. Hamburg 2007, S. 210–242 mit weiterer Literatur; vgl. insbesondere Moriz Sondheim: Die
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fast naturnah105 wirkende Bildsprache geschaffen, die er zeitgleich auch in einer Ansicht des Heidelberger Schlossgartens erprobte, der sich in seiner und der Deutung des Salomon de Caus als Alchimistengarten darstellt.106 Wenn Fleming sich anspielungsreich auf diese Bildsprache bezieht, so heißt dies doch nicht, dass damit etwaige emblematische Strukturen in seiner Lyrik ausfindig gemacht werden sollen. Seine Gedichte beziehen sich auf diese vor und um 1620 in und um Heidelberg entstandene Traktatistik der paracelsischen Alchimie und ihre Bildlichkeit vielmehr, indem sie fast ausschließlich jeweils ein Schlüsselwort aus ihr aufgreifen und es an zentraler Stelle im Gedicht aufrufen. Für dieses poetische Verfahren gibt es ein nachgewiesenes Modell: die Zwickauer Fleming-Handschrift 146. Entner hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch hier das zentrale Stichwort des Textes in der Mitte, oder doch ungefähr in der Mitte steht.107 Dieses Formbewusstsein ist möglicherweise also nicht nur klassizistischer oder präklassizistischer Herkunft. Nach dem bisher Ausgeführten liegt eine Analogie nahe: Wie der Alchimist aus beinahe jedem beliebigen Ausgangsstoff das große Werk freisetzt, indem er ihn zunächst zerfallen lässt, damit aber einen Prozess in Gang bringt, der das Neue, die Tinktur, erschaffen soll, führt Fleming in das überkommene Erbe des Wortmaterials ein alchimisches Schlüsselwort als Ingrediens ein, das das literarische Experiment in Gang bringt. Das selbstreflexive, vielleicht sollte man besser sagen, das VerdeckendGeheimnisvolle an diesem Schreiben darf jedoch nicht als bloß artistisches Spiel missverstanden werden.108 Vielmehr will es ganz offenbar ebenso wirken, wie jeder ernst zu nehmende Alchimist mit seiner Kunst etwas bewirken will.
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de Bry, Matthäus Merian und Wilhelm Fitzer. Eine Frankfurter Verlegerfamilie des 17. Jahrhunderts. In: Philobiblon. Eine Zeitschrift für Bücherliebhaber 6 (1933), H. 1, S. 9–34. Den Konnex zwischen Naturbeobachtung und Emblematik untersucht William B. Ashworth jr.: Natural History and the Emblematic World View. In: Reappraisals of the Scientific Revolution. Hg. v. David C. Lindberg u. Robert S. Westman. Cambridge 1990, S. 302–332. Vgl. Harald Tausch: Der Hortus Palatinus als Ruine in der Landschaft (1620–1812/15). In: Landschaft am »Scheidepunkt«. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Hg. v. Markus Bertsch u. Reinhard Wegner. Göttingen 2010 (Ästhetik um 1800), S. 379–435. Entner (Anm. 14), S. 230: »das zentrale Stichwort dieses Textes, es steht auch ungefähr in der Mitte, heißt […] im Original mora, was soviel bedeutet wie Aufschub, Versäumnis, Zaudern, Zögern«. Auf die Bedeutungsverschiebung des ›Geheimnisses‹ im Kontext des alchimischen Wissens genau dieser Zeit hat Moran aufmerksam gemacht: Johann Hartmanns Vorschriften für die bei ihm arbeitenden Studenten, die insgesamt dem Schutz der Geheimnisse seines Marburger alchimischen Labors dienen sollten, belegen Moran zufolge nämlich, wie sich in diesem Kontext das Arcanum der Frühen Neuzeit zum Betriebsgeheimnis in einem wesentlich moderneren Sinne wandelt; Moran (Anm. 73), S. 108f. Diese Beobachtung lässt sich durch diejenige von Dietlinde Goltz stützen, dass der Paracelsismus für die Entstehung einer volkssprachlichen Wissenschaftssprache von großer Bedeutung war, weswegen er sich von der älteren, »rein spekulativen Form der Alchemie als Geheimwissenschaft absetzen« wollte und die »Chymia als legitime, jedermann zugängliche scientia« betrachtete; Dietlinde Goltz: Die Paracelsisten und die Sprache. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), S. 337–352, hier S. 349. Wie verrätselt auch immer das oben beschriebene Zitationsverfahren anmuten mag, so ist es doch auch ohne die Zuhilfenahme moderner Text- oder Intertextualitätstheorien erschließbar.
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Abb. 5: Emblema XX. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 89.
Bedenkt man Flemings Verfahren der Zitation, einen aus der zeitgenössischen Wissenschaft stammenden Prätext jeweils an einer zentralen Stelle eines Gedichts aufzurufen, und geht davon aus, dass Adam Olearius die hierfür in Frage kommenden Gedichte Flemings zu einem Buch zusammenstellte, auf das er gleichsam von Rubar aus hinwies, dann stellt sich die Frage, was denn im Zentrum dieses Buches – als ein Ganzes betrachtet – platziert ist. Das fünfte Buch der Oden weist 42 Gedichte auf. Seine Mitte ist folglich eine unbesetzte Leerstelle zwischen zwei Gedichten. Nummer 21, bemerkenswerterweise überschrieben Mein gestirntes Paradeiß, nähert sich dieser ideellen Mitte des Buches mit der dritten und letzten Strophe an: Du/ O aller Künste Kunst Himmel wird durch dich zur Erden. Daß wir irdnen himmlisch werden/ das schafft/ Laute/ deine Gunst. Gieb doch/ daß mein Himmel sich bald neig’ auff sein’ Erde/ mich.109 109
TP 513.
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Abb. 6: Emblema V. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 29.
Welche Kunst vermag es, dass Himmel auf Erden werde – in einer historischen Zeit, die länger, als Paul Flemings eigene Erinnerung weiß, von Krieg, Hunger und Seuchen heimgesucht ist?110 Michael Maier war sich sicher: Nur die Alchimie verdient den Titel einer Regina artium.111 Die Vermutung, dass auch Fleming in Gedicht Nummer 21 insgeheim auf die Alchimie anspielt, lässt sich durch die Bedeutung dieser Zahl für die alchimische Literatur erhärten: So enthielt insbesondere das Traktat Rosarium Philosophorum 21 Embleme, die alchimische Vorgänge – wie beispielsweise die Fermentatio – in einer stark sexualisierten, von manchen Zeitgenossen daher als anstößig empfundenen, von Maier hingegen und anderen Alchimisten als besonders aussagekräftig empfundenen Bildsprache darstellten.112 110 111
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Klaus Garber: Paul Fleming (1609–1640). Zum 400. Geburtstag des Dichters. In: Zeitschrift für Germanistik N.f. 3 (2009), S. 626–630, hier S. 628. Karin Figala/Ulrich Neumann: Michael Maier (1569–1622). New Bio-Bibliographical Material. In: Alchemy Revisited (Anm. 77),, S. 34–50, –50, 50, hier S. 49 unter Bezug auf Maier, Symbola aurea […], Frankfurt a. M. 1617, S. [17]. Rosarium Philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters.faksimile der
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Abb. 7: Emblema XLI. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 173.
Fleming hat sich der Reise nach Persien zwischen zwei akademischen Examina angeschlossen. In Leipzig wurde er in einer Prüfung, an der Olearius bereits Anteil hatte, examiniert. Nach der Reise suchte er ausgerechnet das calvinistische Leiden auf, um hier innerhalb kürzester Zeit mit einer Arbeit über Syphilis promoviert zu werden, eine Krankheit, die wie die Pest durch den Krieg epidemische Ausmaße angenommen hatte. Er suchte also jene dezidiert gegen die spanisch-habsburgische Bedrohung gegründete Universität auf, an der die für den Calvinismus typische Offenheit für naturwissenschaftliche Forschung gerade in dieser Zeit so viele Studenten anzog wie dann erst wieder im 20. Jahrhundert.113 Leiden musste Fleming
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illustrierten Erstausgabe Frankfurt 1550. Aus d. Lateinischen ins Deutsche übersetzt v. Lutz Claren u. Joachim Huber. Hg. v. Joachim Telle. 2 Bde. Weinheim 1992, hier Bd. 1, S. 107 (Emblem: Philosophorum Fermentatio), und Bd. 2, S. 198 zur Wertschätzung der Embleme. Die Bilderserie des Rosarium ging daher auch ohne den Begleittext in spätere Drucke, u. a. von Daniel Stoltzius von Stoltzenberg und Michael Maier, ein; vgl. ebd., Bd. 2, S. 211f. Vgl. auch Karen Voss: The Hierosgamos Theme in the Images of the »Rosarium Philosophorum«. In: Alchemy Revisited (Anm. 77), S. 145–153, insbes. S. 148. Entners Antwort auf die Frage, »Warum gerade Leiden?«, überzeugt nicht; Entner (Anm. 14), S. 525. Vgl. dagegen zum Kontext die neueren Arbeiten von Henrike L. Clotz: Hochschule
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sicherlich schon aufgrund des 1594 gegründeten, seither berühmten und vielfach gestochenen botanischen Gartens anziehen, der nicht nur für Medizinstudenten, sondern sogar für ein interessiertes Publikum offenstand. Das nachmals bekannte chemische Laboratorium, das 1669 an der Nordseite des botanischen Gartens eingerichtet und dann Grundlage für Franciscus de le Boë Sylvius iatrochemische Vorlesungen sein sollte, gab es zu Flemings Zeiten zwar noch nicht.114 Doch stellt Gerhard Wiesenfeldt fest, dass schon weitaus früher »ein entsprechender Unterricht freien Lektoren, häufig Apothekern, überlassen worden«115 sei. Zwischen diesen akademischen Prüfungen und der möglichen Aussicht auf eine Stelle als Apotheker in Reval116 schloss Fleming sich einer Reise nach Persien an, die möglicherweise als solche den Zweck verfolgte, nicht nur handfeste Handelsbeziehungen anzuknüpfen, sondern in Zusammenhang mit dem Gegenstand dieser Handelsbeziehungen stehendes Wissen in Erfahrung zu bringen. Diese Zeit, die annähernd mit der
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für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche, 1575–1619. Stuttgart 1998 (Contubernium 48), S. 56–58 u. 138. Vgl. auch Margreet J. A. M. Ahsmann: Collegium und Kolleg. Der juristische Unterricht an der Universität Leiden 1575–1630 unter besonderer Berücksichtigung der Disputationen. Aus d. Niederländischen übersetzt v. Irene Sagel-Grande. Frankfurt a. M. 2000 (Ius Commune. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 138). Einer der ersten iatrochemischen Paracelsianer, an denen Debus eine »chemical interpretation of bodily processes« (S. 91) beobachtet, ist der in Leiden und Basel ausgebildete Franciscus de la Boë Sylvius (1614–1672), der zwar erst 1658 in Leiden zum Professor der Medizin ernannt wurde, doch schon weitaus früher seine ersten Vorlesungen zu diesem Gegenstand hielt und deswegen Prioritätsansprüche gegenüber den Entdeckungen van Helmonts anmeldete; Debus (Anm. 59), S. 83. Nach Harmen Beukers hat Sylvius bereits als Privatdozent zwischen 1638 und 1641 gutbesuchte Vorlesungen in Leiden gehalten. Fleming hätte ihn demzufolge also vor Ort sprechen können; vgl. H[armen] Beukers: Het Laboratorium van Sylvius. In: Tijdschrift voor de geschiedenis der geneeskunde, natuurwetenschappen, wiskunde en techniek 3 (1980), S. 28–36, hier S. 28. Sylvius kehrte 1638 nach dem Abschluss seines Studiums in Basel nach Leiden zurück, wo er Kontakt z. B. zu Descartes hatte; vgl. Pamela H. Smith: Science and Taste. Painting, Passions, and the New Philosophy in Seventeenth-Century Leiden. In: Isis 90 (1999), S. 421–461, hier S. 422. Leider ist gerade der Zeitraum zwischen 1630 und 1640 von den jüngeren institutionsgeschichtlichen Untersuchungen zur Universitätsgeschichte Leidens stiefmütterlich behandelt. Unklar ist insbesondere, ob das spätere chemische Labor der Universität einen Vorläufer in einem der Apothekenlaboratorien hatte, die in einer bestimmten Übergangsphase diese Funktion übernahmen; vgl. Otto Krätz: Zur Geschichte des chemischen Laboratoriums. In: Historia scientiae naturalis. Beiträge zur Geschichte der Laboratoriumstechnik und deren Randgebiete. Hg. v. E. H. W. Giebeler u. K. A. Rosenbauer. Darmstadt 1982, S. 1–24, hier S. 4. Als Vergleichsdatum zur Einrichtung eines chemischen Labors sei erwähnt, dass Marburg bereits im Jahr 1615 über ein solches verfügte; vgl. Ganzenmüller (Anm. 90). Gerhard Wiesenfeldt: Leerer Raum in Minervens Haus. Experimentelle Naturlehre an der Universität Leiden, 1675–1715. Berlin/Diepholz 2002 (History of Science and Scholarship in the Netherlands 2), S. 190. Martin Klöker lässt es plausibel erscheinen, »daß Fleming als ein gelehrter Medicus […] die Apotheke [von Reval] leiten sollte«, da diese verwaist war und sich in der Verwaltung des Rates von Reval befand, wohingegen die Stelle eines Stadtphysikus in der für Fleming so wichtigen Stadt zu seinen Lebzeiten durchgängig vergeben war; Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Teil 1: Darstellung. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 112), hier S. 463.
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Zeit zwischen dem Tod Gustav II. Adolfs im Jahr 1632 und der politischen Wende in England im Jahr 1640 zusammenfällt, entspricht Hugh Trevor-Roper zufolge exakt den Jahren, in denen in Mitteleuropa gegenreformatorische Kampagnen gerade auch gegen Iatrochemiker geführt wurden.117 Die Reise nach Persien hat Fleming nicht zuletzt auch – ob von ihm intendiert oder nicht – vor deren möglichen Konsequenzen bewahrt.
Abb. 8: Emblema XXIX. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 125.
Oft hat man Fleming bestätigt, die Mechanik des Dichtens hinter sich zu lassen, die zeitgenössisch durch die Nähe zur Rhetorik bedingt war. Heinz Entner hat das mit Flemings musikalischer Ausbildung als Thomaner zu erklären gesucht.118 Möglicherweise kann man diese Eigenheit Flemings – ohne die Nähe zur Musik zu bestreiten – auch mit der alchimisch getönten Hoffnung in Verbindung bringen, das alte aristotelische Naturverständnis, das beispielsweise in der Medizin 117 118
Hugh Trevor-Roper: The Paracelsian Movement. In: Ders.: Renaissance Essays. London 1986, S. 149–199, hier S. 185 u. 194. Entner (Anm. 14), S. 54.
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Abb. 9: Emblema XXXIV. Aus: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck de: Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, S. 145.
die Kombination von pflanzlichen Wirkstoffen lehrte, durch eine experimentelle119 und der Tendenz nach ergebnisoffene Suche nach einer Bemeisterung der Natur überflügeln zu können, die sich früh-vitalistischer Konzepte wie desjenigen der ›Kraft‹ oder ›Lebenskraft‹120 in einer fast nur noch heuristisch zu nennenden 119
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Vgl. zum zeitgenössischen Verständnis des Experimentes Shea (Anm. 74), S. 12f., und Wiesenfeldt (Anm. 115), S. 393 u. 398, mit dem wichtigen Hinweis, dass es der philosophische Eklektizismus war, aus dessen Geist das Experiment im tendenziell modernen Sinn aufgewertet wurde, nicht also der cartesianische Rationalismus. In Leiden kreuzten sich deren Wege gleichsam in statu nascendi. Wolfram Mauser: Die »Balsam=Kraft« von innen. Dichtung und Diätetik am Beispiel des B. H. Brockes. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. v. Udo Benzenhöfer u. Wilhelm Kühlmann. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 299–329, hier S. 323. Als Wechsel von einem ›siderischen‹ Verständnis der »Kräfte der Materie« zu einem ›irdischen‹ beschreibt auch Bergengruen diesen Paradigmenwechsel, appliziert ihn jedoch allein auf »Zesens alchemische Poetik«; Maximilian Bergengruen: Verborgene Kräfte und die Macht des Gestirns. Zur Verschiebung alchemischer und astrologischer Gedankenfiguren im 16. und frühen 17. Jahrhundert und zur poetologischen Aneignung bei Philipp von Zesen. In:
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Absicht bedient.121 Wie ein Alchimist bedient Fleming sich des Materials der Erfahrungswelt als Ausgangsstoff, lässt indes ein alchimisch besetztes Schlüsselwort ein und bringt so ergebnisoffene Prozesse der ›Amalgamierung‹ tradierter Topoi in Gang, die es beispielsweise auch verbieten, etwa eine Art alchimischer Lehrdichtung in seiner Lyrik sehen zu wollen.122 Die Wirkungsabsicht auf ein Remedium gegen die Übel seiner Zeit indessen ist kaum zu leugnen, und diese wiederum verbindet Fleming unbedingt mit den iatrochemischen Alchimisten, die ja ihrerseits vorübergehend – wie Maiers Traktat mit seinen sperrigen Notensätzen besser als jeder andere beweist – die Kraft der Musik zur Unterstützung des großen Werks nicht verschmähten.123
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Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie. Hg. v. Thomas Strässle u. Caroline Torra-Mattenklott. Freiburg i. Br. 2005 (Litterae 132), S. 121– 143, hier S. 133. Von der modernen Chemie unterscheidet die frühneuzeitliche Alchimie zwar angeblich, dass sie genau weiß, was sie sucht – nämlich den Stein der Weisen –, doch hindert dies nicht, dass die alchimische Traktatistik ebenso wie die in ihrem Umkreis entstehende Emblematik immer wieder die Vorläufigkeit dieses Wissens thematisiert, bisweilen sogar die Vergeblichkeit der vielen Versuche im Labor protokolliert. Marielene Putscher hat darauf aufmerksam gemacht, dass die alchimische Emblematik erstmals versuchte, Prozessideale innerhalb der an sich eher statischen Form des Emblems ikonisch darzustellen; Marielene Putscher: Das Bild der Welt zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Alchemie und Kosmographie in den Bildern von Johann Theodor de Bry (1561–1623) und Matthäus Merian (1593–1650). In: Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Hg. v. Bernhard Fabian u. Paul Raabe. Wiesbaden 1983, S. 17–50. Diese Anfänge zu einer Dynamisierung des Bildmediums finden möglicherweise Entsprechungen im Medium des Worts. Vgl. hierzu vor allem Lynn Veach Sadler: Relations between Alchemy and Poetics in the Renaissance and Seventeenth Century, with special glances at Donne and Milton. In: Ambix 24 (1977), S. 69–76, hier S. 69; sowie unter ausschließlichem Bezug auf die deutschsprachige Bibeldichtung Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000. Christoph Meinel widerlegt zurecht die pauschale Annahme, dass Alchimie und Musik über die Wissenschaftsgeschichte hinweg nachweisliche Affinitäten zueinander aufwiesen, analysiert jedoch Maiers »Atalanta Fugiens« als bemerkenswerte Ausnahme, da hier die Musik einen »Schlüssel zum Verständnis des Ganzen liefert«, denn es sind die »50 zweistimmigen, kontrapunktierten Kanons […], in denen die Stimme der Atalanta vorauseilt, die des Hippomenes nachfolgt und erst gegen Ende des Zyklus (Fugae XLIV, XLVI–XLVIII) einige Male mit ihr zugleich einsetzt«; Christoph Meinel: Alchemie und Musik. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hg. v. dems. Wiesbaden 1986 (Wolfenbütteler Forschungen 32), S. 201–227, hier S. 213.
Manfred Kern / Otto Rastbichler
Wie klinget mein Gethöne? Zur Intermedialität barocker Lyrik und zu Vertonungen von Flemings weltlichen Gedichten
I. Unsere Ausführungen berühren zwei Problembereiche, der eine ist eher theoretisch, der andere rezeptionsgeschichtlich. Wir werden erstens eine kleine Skizze zu Medialität und Intermedialität barocker Lyrik versuchen, die sich auf grundsätzliche Aspekte beziehen soll, etwa auf das Phänomen der schriftlyrischen Wende in der europäischen Lyrik, die – wie man gemeinhin annimmt – mit Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta, dem Canzoniere eingeleitet wird und sich dann in den anderen Literaturen unter je spezifischen Bedingungen neu vollzieht. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die textinhärente Reflexion und Repräsentation der medialen Bedingungen des lyrischen Kunstwerks, also konkret die Frage, wie, mit welchen Begriffs- und Bildvorstellungen im Text selbst der lyrische Äußerungsakt benannt wird: »ich singe«, »ich sage«, »ich denke« oder dergleichen. Von Interesse ist aber auch die Frage der tatsächlichen performativen Realisation, Beispiele oder Spuren einer intermedialen Praxis, wie sie eben in Vertonungen zu fassen sind. Der lyrische Text, der von der Sprechstimme zunächst akustisch realisiert wird, wird durch Ton, Melodie und Rhythmus musikalisch erfahrbar. Die Realisation eines Liedes im Tanz bringt die Körpergebundenheit und den performativen Charakter auch lyrischer Kunstübung in gesteigerter Form zum Ausdruck; hinzu kommt dabei ein eminent visuelles Moment, das sich in der Choreographie fassen lässt. Dieser Aspekt der Visualität wird in der Debatte um lyrische Performativität vielleicht etwas vernachlässigt. Dass er von hoher Bedeutung war, bezeugen u. a. die Ausführungen von Mara R. Wade zur Funktion barocker Lyrik im Kontext festlicher Umzüge (sog. Ringrennen) und der dabei zur Darstellung gebrachten allegorisch-mythologischen tableaux vivants.1 Die visuelle Wirkung lyrisch-musikalischer Kunst dokumentiert aber auch die Malerei mit ihren gerade im 16. und 17. Jahrhundert produktiven Sujets gemeinschaftlicher Gesangs- oder Musizierszenen. Zweitens werden wir – mit Bezug auf diese theoretischen Aspekte – auf einige Beispiele poetisch-musikalischer Intermedialität bei Fleming zu sprechen kommen, namentlich auf Flemings Lied O liebliche Wangen, das eine Übertragung 1
Mara R. Wade: Das Lied als Cartell. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Gudrun Busch u. Anthony J. Harper. Amsterdam 1992 (Chloe 12), S. 7–34.
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der Villanella O fronte serena darstellt; auf die zeitgenössische Vertonung seines berühmten Kuss-Lieds und schließlich auf zwei moderne Vertonungen, nämlich auf Brahmsens Neukomposition der Lieblichen Wangen und auf die Einbindung von Flemings Grabgedicht auf Konrad, den Sohn Johann von Wangersheims in den 1977 entstandenen Zyklus Memento vivere des Salzburger Komponisten Gerhard Wimberger. Unsere Zusammenarbeit geht zurück auf ein gemeinsames interuniversitäres Lehrprojekt zu Kaspar Stielers Geharnschter Venus, die unter dem Pseudonym »Filidor der Dorfferer« 1660 in Hamburg erschienen ist.2 Auf Stieler lässt sich auch deshalb gut verweisen, weil mit seiner Geharnschten Venus der ›Glücksfall‹ eines barocken Liederbuchs vorliegt, das – bei aller Heterogenität der Einzeltexte – von einer leitenden Idee getragen ist, wie sie schon Titel und Vorrede zum Ausdruck bringen: »Liebeslieder im Krieg gedichtet«. Zum wirkungsästhetischen Programm zählt dabei das intermediale Ineinandergreifen von Text und Musik unter der Ägide einer populären lyrisch-gesanglichen Praxis, die – mit Venus als Muse – sozusagen poetisch-musikalisch gegen den Krieg zu Felde zieht. Programmatisch gerechtfertigt werden das populäre Register und das vor allem im letzten »Zehen« (Teil) praktizierte unpetrarkische und unpetrarkistische erotische Sujet in der Vorrede: Ich heisse sie [meine Venus] darumb die Gerharnschte Venus/ weil ich mitten unter denen Rüstungen im offenen Feld=Läger/ so wol meine/ als anderer guter Freunde/ verliebte Gedanken/ kurzweilige Begebnüsse/ und Erfindungen darinnen erzehle nicht etwan ein Lob darmit zu erjagen/ (sintemahl/ alles/ was du siehest/ gleichsahm auff der Fluchtt gemacht worden/ und daher seine Entschüldigung auch bey den Scharffsinnigsten verdienet) sondern dir zubeweisen/ wie die Heer=Trompete nicht so gar alle Musen verjagen könne. […] Sagstu dann/ ich sey in etlichen Gedichten ein wenig zu natürlich gangen: so gebe ich zur Antwort/ daß ich selbige den Katonischen Gemühtern außdrücklich zu lesen verbiete/ auch nur zu der Zeit/ wenn die Florischen Feste angestellet werden/ gesungen haben wil. (fol. iiib–iiiia und va)
Dass die Intermedialität von Stielers Liederbuch nicht zuletzt in der Leitidee »Liebeslieder im Krieg gedichtet« kondensiert ist, dokumentiert auch die emblematische Eingängigkeit des Titelkupfers, der zur ›Konzertanz‹ von Poesie und Musik im Zeichen der Venus auch noch das Bild, die Bildkunst mit ins Kalkül zieht: Was Text und Melodie in der Performanz zu Gehör bringen, bringt im Medium des Buches die gerüstete Venusfigur mit ihrem Lanzenbanner zu Gesicht. (Man vergleiche zu diesen Ansätzen lyrischer Visualität etwa auch die Stiche in Flemings Teütschen Poemata von 1642. Es wäre durchaus lohnend, die ästhetischen und hermeneutischen Potenziale solcher Text-Bild-Relationen systematisch zu untersuchen.) Stielers Liederbuch gibt jedenfalls ein eindrückliches Beispiel für das diskursiv wie performativ sinnstiftende und essentielle Zusammenwirken der Künste im Barock. Was die anfangs angedeuteten Aspekte betrifft, sei hinzugefügt, dass 2
Zit. n. Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus oder Liebes-Lieder im Kriege gedichtet. Hg. v. Herbert Zeman. Mit Beiträgen von Kathi Meyer-Baer u. Bernhard Billeter. München 1968.
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gerade in den Kompositionen auch musikalische Formen des Tanzes gut vertreten sind. Unabhängig von der Frage, inwiefern der Tanz bei der Aufführung von Stielers Liedern eine praktische Rolle spielte, ist er zumindest als musikalischstrukturelles Paradigma präsent. Die performativ und soziokulturell wirksame Mehrdimensionalität barocker Poesie, wie sie in Kaspar Stielers Geharnschter Venus zu fassen ist, steht nun aber in einem gewissen Widerspruch oder in einem gewissen Spannungsverhältnis zum literaturgeschichtlich immer wieder hervorgehobenen Phänomen einer neuen lyrischen Schriftlichkeit, die sich in der deutschen Barockdichtung entwickle. Die These, dass Schrift und schriftgebundene Textualität produktionswie wirkungsästhetisch von dominanter Bedeutung wären, relativiert sich unter der Perspektive einer auch ins Buch, in den Druck gehobenen Multimedialität barocker Liedkunst. Dass Musik oder musikalische Realisation auch noch für die barocke schriftgebundene und schriftbewusste Lyrik – vor allem was Rezeption und Verbreitung betrifft – ein essentieller Faktor war, wurde in der Forschung freilich immer wieder thematisiert.3 Anthony J. Harper etwa verweist auf die prägnanten Worte von Dieter Lohmeier: »Die Melodie ist hier [im 17. Jahrhundert] nicht Interpretation des Textes, sondern Medium zu seiner Verbreitung.«4 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass offenbar in sehr vielen Gedichtsammlungen, die sich auf die Überlieferung des Textes beschränken, die Kenntnis von Melodien, auf die ein Text gesungen werden kann, vorausgesetzt wurde.5 Bei dieser Praxis dürften Formen des Melodie-Recyclings (oder auch der Kontrafaktur) nicht unüblich gewesen sein. In Kaspar Stielers Geharnschter Venus deuten musikalische Gattungsbegriffe wie Franzische Saraband, Französisches Ballet, Französische Blamande, Französische Arie auf eine solche Praxis hin, sie wird in Stielers Vorrede auch direkt angesprochen: Die Melodeyen betreffend/ sind deren wenige entlehnet/ etliche6 von einem der berühmtesten Meister7/ auff dessen höchst=ruhm=würdigen Sazz weder der Neid noch einziger Tadler das geringste Wort zusprechen mir überschikket: Abermahls finden sich andere/ die zwar in der Eil/ aber dermassen gesezzet/ daß sie deiner Lust/ wofern du nicht selbst ein Lust=Feind bist/ sattsame Genüge tuhn werden: Die übrigen übelklingenden schreibe ich mir zu/ als die ich nach meiner Einfalt gedichtet/ nur vor mich und wehm sie gefallen. Missfallen sie dir; so laß sie liegen. (fol. iiiia–va) 3 4
5 6 7
Stieler ist in diesem Zusammenhang auch insofern der Glücks- und Sonderfall, als er einige seiner Lieder selbst vertont hat. Dieter Lohmeier: Die Verbreitungsformen des Liedes im Barockzeitalter. In: Weltliches und Geistliches im Lied des Barock. Studien zur Liedkultur in Deutschland und Skandinavien. Hg. v. dems. u. Bernt Olsson. Amsterdam 1979 (Chloe 2), S. 41–66; zit. n. Anthony J. Harper: Zur Verbreitung und Rezeption des weltlichen Liedes um 1640 in Mittel- und Norddeutschland. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied (Anm. 1), S. 35–52, hier S. 35. Harper (Anm. 4), S. 36. Man beachte den kuriosen Widerspruch zwischen »wenige« und »etliche«. Konkret gemeint sein dürfte der in Stielers Sammlung durch die Initialen »C. B.« ausgewiesene Christoph Bernhard, ein Schüler von Heinrich Schütz; hierzu Kathi Meyer-Baer: Die Musik der »Geharnschten Venus«. In: Stieler (Anm. 2), S. 19–28, hier S. 22f. u. 27.
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Mit seiner These, dass Musik die Rezeption eines Textes essentiell befördere, geht Harper zunächst von dem Prinzip »prime le parole, dopo la musica« aus – wie ja auch bei Giulio Caccini in den Nuove Musiche von 1602 geschrieben steht: »La musica altro non essere che la favella e’l ritmo ed il suono per ultimo e non per lo contrario«. – ›Die Musik sei in erster Linie Sprache und Rhythmus, erst in zweiter Ton, und nicht umgekehrt.‹8 Dies gilt für Harper auch bei Dichtern, die selbst Liedkomponisten waren – man sollte es wegen der prominenten Namen Johann Hermann Schein, Heinrich Albert und Adam Krieger umgekehrt sagen: bei Komponisten, die Texte selbst verfassten.9 Harper schreibt dann aber weiter (S. 37), dass die Dichter dort, wo sie Melodien explizit nennen, auch »mit einer Melodie […] im Auge, oder noch besser: im Ohr«, also quasi musikalisch, »dichteten. Wo keine Melodie erwähnt wird, mögen sie eine bzw. mehrere Melodien implizite im Sinn gehabt haben«, was an Strophenformen mit verschiedenen Reimschemata gezeigt werden könne. Harper folgert, dass Lieder mit konventionellen Strophenformen »nicht einmal den Untertitel ›im Thone‹ oder Ähnliches brauchten, um es den Zeitgenossen leicht zu machen, sie nach einer bekannten Melodie zu singen, zu summen oder zu pfeifen«.10 Ein vergleichbares modernes Phänomen stellt vielleicht das Bluesschema dar: Bekannte schematische Harmoniefolgen schaffen die Voraussetzung für Solooder Ensemble-Improvisationen, unter anderem verbunden mit ›neuen‹ Textierungen. Die Basis bildet eine zwölftaktige mehr oder weniger feststehende Akkordfolge der Hauptstufen I (Tonika), IV (Subdominante) und V (Dominante) mit möglichem »turnaround« im letzten Takt:11 || I | I | I | I | IV | IV | I | I | V | IV | I | I oder V ||
Weitere Beispiele bieten die »1625« genannte Jazzkadenz (|| I | VI | II | V ||) und in der Klassischen Musik das Schema || I | V | VI | III | IV | I | II# | V || (»#« bedeutet in diesem Fall, dass die leitereigen als Moll-Akkord verwendete Stufe II als DurAkkord, als ›Zwischendominante‹ verwendet wird). La Folia, ein portugiesischer Tanz des 16. Jahrhunderts, aus dem sich im 17. Jahrhundert ein eigener sangbarer Gedichttypus entwickelt, der in einigen Liedern spanischer und portugiesischer Herkunft vorliegt,12 steht im dreier Takt mit der Stufenfolge: 8
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11
12
Giulio Caccini: Le nuove musiche. Ed. by H. Wiley Hitchcock. Madison 22009 (Recent Researches in the Music of the Baroque Era 9). Zitat und Übersetzung nach Hugo Goldschmidt: Die italienische Gesangsmethode des XVII. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Gegenwart. ND der Ausg. Breslau 1892. Hildesheim/New York 1997, S. 16. Harper (Anm. 4), S. 36. Ebd., S. 38. Freilich bleibt Harper die Erklärung schuldig, wie man ein Lied, verstanden als Einheit von Text und Melodie, summen oder pfeifen könnte – das geht nur mit einer Melodie oder mit einem Lied nur dann, wenn die Melodie exklusiv zu ihm gehört. Vgl. Paul Oliver: Blues. In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 2nd Edition. Ed. by Stanley Sadie. 29 Bde. New York 2001, Bd. 2 (Back to Bolivia), S. 812–819, hier S. 813. Vgl. Richard Hudson: Folia. In: The New Grove (Anm. 11), Bd. 6 (Edmund to Fryklund), S. 690–692, hier S. 690.
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Wie klinget mein Gethöne? || VI | III# | VI | V | I | V II# | VI IV | III# ||
In g-Moll realisiert sich dieses Schema so: || g-Moll | D-Dur | g-Moll |f-Dur | B-Dur |f-Dur D-Dur | g-Moll Es-Dur | D-Dur ||
Diese assoziative Beispielreihe zeigt, dass die Musikgeschichte immer derlei produktive musikalische Schemata kennt und auch von ihnen lebt. Dies vor Augen lässt sich die alte, offene Streitfrage – »prima la musica« oder »prime le parole« – eben tatsächlich am besten mit dem bei Harper zitierten Bonmot von John Smeed ironisch überspielen: »The matching of words and music has the character of a lottery.«13
II. Wenn wir nun nochmals auf unseren theoretischen Ausgangspunkt, auf die Frage von Medialität und medialer Reflexion in der lyrischen Dichtung selbst, zurückkommen wollen, so macht es Sinn, sich an die Gegebenheiten vor dem Barock zu erinnern: Die volkssprachliche Lyrik des Mittelalters, vor allem die romanische und deutsche Liebeslyrik zeichnet sich dadurch aus, dass Singen nicht bloß ein innertextlicher Gestus ist, sondern die poetische Repräsentation selbst musikalisch vollzogen wird. Wie auch immer man über eine essentielle Beteiligung von Schrift und Schriftlichkeit, Textualität und Lektüre denken mag: Lyrische Stimmung und lyrische Stimme äußern sich als Gesang, das Gedicht realisiert sich als Lied, es ist eine integrale Einheit von Text und Musik, die sich jedenfalls und in erster Linie in einer Sphäre der »Vokalität« ereignet, wie Ursula Schaefer das genannt hat.14 Diese intermediale Einheit bleibt in der deutschen Lyrik, auch was die künstlerische Produktion betrifft, bis ins 16. Jahrhundert der Regelfall.15 Das entscheidende neue Paradigma einer schriftliterarischen Lyrik ist im europäischen Kontext, wie gesagt, spätestens mit Petrarcas Canzoniere, also im 14. Jahrhundert gesetzt. Die mediale Wende, die epochale Aufspaltung von Wort und Weise lässt sich dabei auf mehreren Ebenen festmachen. Zum einen, was Anlage, Sammlung und Bearbeitung des Zyklus durch den Autor selbst betrifft:
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John Smeed: German Song and its Poetry 1740–1900. London 1987, zit. n. Harper (Anm. 4), S. 37. Smeeds Aussage ist auf die Situation des 18. Jahrhunderts bezogen, lässt sich aber durchaus generalisieren. Ursula Schaefer: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992 (ScriptOralia 39). Man denke vor allem an die sogenannte Liederbuchlyrik, vgl. hierzu: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003. Hg. v. Gert Hübner. Amsterdam/New York 2005 (Chloe 37); Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127– 186.
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Petrarcas lyrische Arbeit ist eine Arbeit am und mit dem Manuskript,16 wie schon der Titel zum Ausdruck bringt: Rerum vulgarium fragmenta – pointiert gesagt also aufgelesene Bruchstücke einer volkssprachlichen Poesie. Die eminente Bindung der Poesie an Schrift und Lektüre spiegelt sich auch in der innertextlichen Konzeption und Darstellung des lyrischen Äußerungsaktes: Was das lyrische Subjekt vorlegt, sind poche carte, es klagt mit Papier und Griffel, es liebt und leidet nicht, indem es singt, sondern indem es denkt, weint und schreibt.17 Wenn wir recht sehen, so tritt das lyrische Subjekt bei Petrarca als ein Singendes nicht in Erscheinung, sein poetisches Tun ist nicht in musikalischen Kategorien gefasst, sondern in Metaphern des Gehens und Wanderns: »vado pensoso« (RVF 35) lautete das Schlagwort und »denkend gehen« lässt sich zugleich als eine Metapher für den lyrischen Schaffensakt nehmen: Dieser Schaffensakt ist ein Schreibakt, er vollzieht sich (wie das Denken) ohne Beteiligung einer vernehmlichen Stimme, die Stimme ist nicht als hörbare gedacht, sie lässt sich nur sehen, lesend sehen in der Schrift. Dieser neue innertextliche Gestus des lyrischen Subjekts als eines Denkers verweist auf eine dritte, diskursive Differenz zur mittelalterlichen Liedpraxis: Poesie integriert die elitären und elaborierten philosophischen und politischen Diskurse der Zeit, sie integriert außerdem eine hochliterarische Tradition, die sich in der massierten Präsenz einer gesuchten, mithin preziösen Mythologie niederschlägt. Gerade die Poesie des volgare, der Volkssprache, entfernt sich bei Petrarca dezidiert und programmatisch von populären Registern (auch wenn sie formal aufgerufen werden). Eingeleitet wurde dieser Prozess von den Stilnovisten und Dante, er bedeutet und impliziert eben auch einen medialen Umbruch, der sich vielleicht als im eigentlichen Wortsinn literarische Spezialisierung benennen lässt. Ihr korrespondiert offenbar eine Spezialisierung auf der Seite der Musik, wobei beides seinen ganz handfesten Grund in einer gesteigerten Komplexität des literarischen Diskurses wie der musikalischen Komposition haben mag: Höhere Komplexität und Artifizialität verlangen auch nach einer Professionalisierung der Künstler, bedeuten ein Ende der ›Laienkunst‹, wie sie der mittelalterliche Cantautore pflegte. Auf rezeptionsästhetischer Seite ist die Konsequenz der Entwicklung freilich keine strikte Entfremdung von Text und Musik, sondern ein immer mögliches, aber eben ›arbeitsteiliges‹ Zusammengehen. Gerade Petrarcas Gedichte werden im 15. und 16. Jahrhundert zunehmend gerne vertont. Ein in mehrfacher Hinsicht besonderes Beispiel findet sich bei dem aus Südtirol stammenden Komponisten Leonhard Lechner (1553–1606) – laut New Grove »the the leading German composer of choral music in the later 16th century«18 – in dem fünfstimmigen Stück O Lieb wie süss und bitter aus der Sammlung Neue teutsche Lieder von 1577. Es handelt sich dabei um keine direkte Vertonung eines Petrarca-Textes, vielmehr 16 17
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Zusammenfassend hierzu Gerhart Hoffmeister: Petrarca. Stuttgart/Weimar 1997, S. 86–90. Vgl. RVF 127,87: »in sì poca carta«, RVF 23,99: »ond’io gridai con carta et con incostro«, RVF 129,51f.: »in guisa d’uom che pensi et pianga et scriva«; Zitate nach Francesco Petrarca: Canzoniere. Edizione commentata a cura di Marco Santagata. Mailand 22005. Konrad Ameln: Lechner, Leonhard. In: The New Grove (Anm. 11), Bd. 10 (Kern to Lindelheim), S. 585–589, hier S. 585.
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spielt der Text unter namentlichem Verweis auf den Dichter mit petrarkistischen Formeln: O Lieb wie süss und bitter/ Ein brennend sehnlich not/ Vol trawren forcht und zitter/ Bist erger dann der todt/ Ein anfang aller freud und leid/ Wie Petrarcha dich nennet/ ein süsse bittrigkeit.19
Es ist häufig so, dass Musik den Text beugt, wenn sie ihn nutzt; sie überhöht ihn, transformiert ihn auf eine Ebene, die andere Gestimmtheiten, Assoziationen und Reflexionen möglich macht. Wäre eine ›wörtliche‹, buchstabenhörige Vertonung im Gegensatz dazu nur Anpassung, Untermalung, Verdopplung, Übersetzung? Nicht immer, wie das Madrigal Solo e pensoso i più deserti campi von Luca Marenzio (1553–1599) zeigt. Es findet sich in seinem letzten, dem neunten Madrigalbuch, das er Vincenzo Gonzaga gewidmet und wenige Monate vor seinem Tod fertiggestellt hat, und bietet ein wirklich großartiges Beispiel für eine hochkompetente Petrarca-Vertonung.20 Die musikalische Umsetzung des lyrisch-textuellen Grundgestus im Canzoniere, des Prinzips »vado pensoso«, ist beeindruckend, Marenzio operiert mit mehreren Vertonungsebenen: mit einer direkt wörtlichen, einer rhetorisch-gestischen und einer atmosphärisch-geistigen. So schreibt er der Sopranstimme nicht – wie eigentlich zu erwarten wäre – große Sprünge, sondern in den ersten 22 Takten ausschließlich irregulär enge Halbtonfortschreitungen zu, die unteren vier Stimmen bewegen sich bei imitatorischer Einsatzfolge in einer weit ausgreifenden, trotzdem elegant geschmeidigen, ›italienischen‹ Melodik.21 Trotz ihrer radikalen Chromatik in der Oberstimme und der folgerichtig extremen Harmonik klingt die Musik bruchlos, voll, angenehm und melodiös. Marenzio stellt den Text sehr sorgfältig dar, er nimmt ihn musikalisch gleichsam beim Wort, wie die folgende an Bernhard Janz und Hartmut Schick angelehnte Beschreibung22 zeigen mag: 19
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Zit. n. Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Hg. v. Carl Dahlhaus, fortgeführt v. Hermann Danuser. Wiesbaden 1996, Bd. 3: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Ludwig Finscher. Kap. VI: (Ludwig Finscher u. Silke Leopold), S. 437–605, hier S. 554. Volkssprachige Gattungen und Instrumentalmusik Il Nono Libro de Madrigali a cinque voci […]. Venedig: Angelo Gardano 1599, ed. bei Bernhard Janz: Die Petrarca-Vertonungen von Luca Marenzio. Dichtung und Musik im späten Cinquecento-Madrigal. Tutzing 1992 (Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 21), S. 409–411, ebd. S. 312–320 eine detaillierte Analyse; vgl. auch Hartmut Schick: »Solo e pensoso«: Vier Madrigalkomponisten interpretieren Petrarca. Beitrag zur Interdisziplinären Vortragsreihe durch Münchner Gelehrte zur Feier der 700. Wiederkehr des Geburtstags Francesco Petrarcas im Sommersemester 2004; online unter http://www.phil-hum-ren.unimuenchen.de/SekLit/P2004A/Schick.htm [Dezember 2011]. Eine Einspielung findet sich auf der CD: Saturn and Polyphony. Ensemble Daedalus. Leitung: Roberto Festa (Accent 1998). Schick (Anm. 20). Janz (Anm. 20) und Schick (Anm. 20).
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»Solo«– Isolation der Sopranstimme vom übrigen Satzgeschehen; solistische Einsätze der anderen Stimmen; »pensoso« – »denkend, grüblerisch, melancholisch«, wiedergegeben durch forcierte Chromatik, die das berühmte Experimentierstück Calami sonum ferentes von Cipriano de Rore23 noch übertrifft; »deserti«– Aufsuchen von entlegensten Tonstufen wie dis, das im Gegensatz zur heutigen gleichschwebenden Stimmung in der zeitgemäßen mitteltönigen Stimmung wenn, dann nur als ein es vorkommen dürfte, und das Aufsteigen bis zum Extremton a´´; »campi« – die Weite, dargestellt durch das Bild des großen, die Horizontlinie zeichnenden Melodiebogens im Sopran; »vo misurando« – »gemessen gehen«, »passi tardi e lenti« – »langsame, schleppende Schritte«, diese Bilder sind denkbar anschaulich sowohl in der Oberstimme als auch in den Unterstimmen durch die kleineren Unterteilungen musikalisch reflektiert.
In der deutschen Lyrik scheint, wie gesagt, die auch produktionsästhetische Symbiose von Text und Musik bis ins 16. Jahrhundert die Regel zu sein; ab 1600 sollte sich das ändern, was mit ihrem ›Wiedereintritt‹ in die europäische Hochliteratur konvergiert. Das ist nun alles freilich cum grano salis gesagt. Was sich in den gut 200 Jahren Poesiegeschichte seit Petrarca zudem relativiert hat, ist die Zurückhaltung, lyrisches Dichten in musikalischen Begriffen und Bildvorstellungen zu denken. Wenigstens innertextlich präsentiert sich das lyrische Subjekt wieder als Sänger, wird Dichten im Text als Singen, als musikalische Praxis repräsentiert. Mit produktions- und rezeptionsästhetischen Gegebenheiten, mit einer neuerlichen Integration von Text und Musik in der Poesie scheint dies freilich weniger zusammenzuhängen als mit gattungsspezifischen Kontexten und Konventionen. Was nun die Bezeichnung lyrischen Tuns bei Fleming betrifft, so ist vor allem in den Oden und im panegyrischen Genre von Singen und Gesang die Rede. Zur genretypischen Szenerie rechnen Gesang und Musik ferner vor allem im schäferlyrischen und idyllischen Ambiente. So heißt es etwa in der Ode Aurora schlummre noch24: Neun Stunden sind nun gleich von nächten durchgebracht/ Neun Stunden hab’ ich nun an Korilen gedacht. an Korilen/ die schöne/ von der ich bin so weit, drümm klinget mein Gethöne nach nichts denn Traurigkeit.
Lyrisches Angedenken wird innertextlich wieder musikalisch, es ereignet sich als trauriges »Gethöne« – von diesen Versen leitet sich, wie unschwer zu erkennen ist, der Titel unseres Beitrags ab. Wenn man freilich fragen wollte, wie es denn wirklich klänge, dies »Gethöne«, so bliebe der Text musikalisch stumm. Musikalität ist zuallererst ein textueller Topos, Flemings Musen singen nicht oder nur im 23
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Cipriano de Rore, geb. 1515 oder 1516 in Mechelen, gest. 1565 in Parma; das Stück erschien in der Ausgabe weltlicher lateinischer Motetten von 1555, Edition in ders.: Opera omnia. Ed. Bernardus Meier. Bd. 6. Rom 1975 (Corpus mensurabilis musicae XIV). Oden V, 42, 7–12 (vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band); wir folgen in diesem Fall der Graphie der Teütschen Poemata (Oden V, 2).
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Text, sie treiben Buchstaben-Musik. Von hoher Signifikanz dafür ist eine Stelle in dem aus Vers und Prosa komponierten ›Erzählgedicht‹ anlässlich der Hochzeit Reiner Brockmanns mit Dorothee Temme (PW III, 6, S. 86): Die Freunde des Bräutigams vernehmen beim Spaziergang Musik von den Musen, finden dann an Ort und Stelle aber nur deren geschriebene Grüße an das Brautpaar vor – was vernehmlicher Klang, klingendes Getöne war, wird stumme Schrift: Unter solchen Reden waren wir dem Getöne ein gut Teil des Weges nachgegangen, welches ie mehr wir folgeten, ie weiter es uns aus den Ohren zu rücken bedünkte. Wir waren nun vor den Pusch angekommen, da wird Pöhmer einer Tafel ansichtig, welche an eine mittelmäßige Danne aufgehenkt war. Wir giengen etwas geschwinder drauf zu und besahen sie. […] Polus nam die Tafel ab, und wir andern traten mit Verlangen umb ihn her. Eine seltsame Geschichte! hub er an. Fürwar unser Olearius hat mit Scherzen ernstlich gemutmaßet. Und diß hat uns die Musik bedeutet, die nun aus unsern Ohren verschwunden ist. Die neun Musen haben unserm Brokmanne ihre Hochzeitwündsche verehret. Und lase sie folgendergestalt nacheinander her[.] (PW III, 6, S. 87)
In den schriftlichen Musengrüßen selbst finden sich keine musikalischen Floskeln, poetisch-metaphorisch steht das Ikonisch-Bildliche im Vordergrund, zu dem man auch die mythologischen Motive rechnen kann. Angesichts dieser Stummheit der lyrischen Buchstaben ist die textpoetisch eher unscheinbare Villanelle O liebliche Wangen (Oden V, 3; TP, Oden V, 6) umso aufschlussreicher. Fleming erweist sich hier insofern als cantautore, als er offenbar tatsächlich mit der Melodie im Kopf dichtet. Auf die Italiänische Weise: O fronte serena, lautet die Titelangabe. Aufgegriffen ist damit ein populäres Register, wie auch die Textgestaltung zeigt: O liebliche Wangen, ihr macht mir Verlangen, diß Rote, diß Weiße zu schauen mit Fleiße! Und diß nur alleine ists nicht, das ich meine zu schauen, zu grüßen, zu rühren, zu küssen. Ihr macht mir Verlangen, o liebliche Wangen! O Sonne der Wonne, o Wonne der Sonne! O Augen, sie saugen das Licht meiner Augen! O englische Sinnen, o himmlisch Beginnen, o Himmel auf Erden, magst du mir nicht werden? O Wonne der Sonne, o Sonne der Wonne! O Schönste der Schönen, benimm mir diß Sehnen! Komm, eile, komm, komme, du Süße, du Fromme!
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Ach, Schwester, ich sterbe, ich sterb’, ich verderbe. Komm, komme, komm, eile, komm, tröste, komm, heile! Benimm mir diß Sehnen, o Schönste der Schönen!
Das Lied ahmt die einfache Struktur des italienischen Textes gut nach.25 Es verzichtet auf eine komplexere barocke Rhetorisierung, es arbeitet mit Anrufungen, Epiklesen, nicht mit einer stilistisch schweren Syntax. Es dominieren die Klangfiguren gegenüber den Gedankenfiguren, die verwendeten metonymischen und metaphorischen Tropen sind – der Vorlage entsprechend – bewusst einfach gehalten. An das oben Gesagte gut anschließen lässt sich, was zur Entwicklung der Liedtypen im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft über volkssprachige Einund Mehrstimmigkeit außerhalb Italiens zu lesen steht: Das cantus-firmus-freie geistliche und weltliche Lied, wie es sich in den Spätwerken Orlando di Lassos und in Leonhard Lechners Liedern darstellt, war zwar (zusammen mit Lassos cantus-firmus-Sätzen) die ästhetisch eindruckvollste, aber nicht die entwicklungsgeschichtlich wichtigste Unterart der Gattung am Ende des 16. Jahrhunderts: Der entscheidende Schritt, der die Verwandlung der Gattung ins Barocklied einleitete, war nicht die Madrigalisierung des Tonsatzes, sondern die Italianisierung der Texte. Zeitlich und räumlich – in der Konzentration auf den Nürnberger Musikverlag und Musikmarkt – fiel sie zusammen mit der intensiven und extensiven Rezeption des Madrigals, der Canzonette, der Villanelle und der Tanzlieder Giovanni Giacomo Gastoldis in der Originalsprache und in deutschen Übersetzungen, mit den Anfängen madrigalischer deutscher Lyrik und, in weiterem Rahmen, mit der Umstellung des traditionellen Dichtens auf Modelle (populäre Liedtexte und Melodien), auf Muster aus der italienischen »poesia per musica«.26
1574 erschienen die ersten deutschen Villanellen, Jakob Regnarts Kurtzweilige teutsche Lieder zu dreyen Stimmen. Nach Art der Neapolitanen oder Welschen Villanellen. Der Niederländer Regnart, geboren zwischen 1540 und 1545, gestorben in Prag 1599, Hofkapellmeister in Innsbruck und in Prag, studierte 1568 bis 1570 in Italien und erzielte mit seinen »teutschen Liedern« einen durchschlagenden und weit über seinen Tod hinaus reichenden Erfolg. Sie erschienen bis 1655 in neun Einzel-, fünf Gesamtausgaben und in verschiedenen Anthologien. Die Villanella oder Villanelle – wörtlich »Bauernmädchen« – ist eine italienische ländliche Volksweise des 16. Jahrhunderts und wird deshalb auch als »Villanella alla Napolitana« bezeichnet. Es handelt sich um ein Strophenlied mit volkstümlichem Text und dreistimmigem Satz. Im Neuen Handbuch der Musik25
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Der italienischer Text lautet: »O fronte serena,/ O treccie dorate,/ che’l cor mi legate/ con forte catena,/ sì dolce è mia pena/ che nasce amarezza/ per somma dolcezza/ che gioia rimena./ O treccie dorate,/ O fronte serena.// O ricco tesoro,/ O Ciel di beltade,/ mercede, pietade!/ Io moro, v’honoro./ porgete ristoro,/ begli occhi amorosi,/ volgete pietosi./ V’honoro e mi moro,/ O Ciel di beltade,/ O ricco tesoro!« Eine Einspielung findet sich auf der CD: Giovanni Girolamo Kapsberger: La Villanella. Ensemble »L’Arpeggiata«, Leitung: Christine Pluhar (Alpha Productions 2003), Textzitat nach dem Booklet. Finscher/Leopold (Anm. 19), S. 562.
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wissenschaft wird besonders Jakob Regnarts gattungsgeschichtliche Bedeutung herausgestrichen: Hier erschien nicht – wie im madrigalischen Lied – eine neue, anspruchsvollere Satztechnik für ein formal und inhaltlich noch weitgehend altes Textrepertoire, sondern eine neue Lyrik im Gewand einer neuen musikalischen Gattung: Texte in italienischen Vers- und Strophenformen und, vor allem, in einer knappen und prägnanten Sprache, die deutlich an Inhalt und Diktion der Canzonette und der ernsteren Villanelle geschult war; komponiert im ebenso knappen und prägnanten Satz und Tonfall der einfachsten Villanellen, einschließlich der gattungstypischen Quintparallelen, die hier, in einem ganz anderen sozial- und gattungsgeschichtlichen Umfeld als in Italien, wohl weniger als Ventilsitte denn als schlicht-rustikales Element wirkten. Vor allem aber waren diese Lieder – wiederum im Gegensatz zum madrigalischen Lied, aber auch zum späten Tenorlied – mit ihrer einfachen und eingängigen Zeilenmelodik und Klangtechnik eminent liedhaft im einfachsten Sinne, leicht zu singen und memorieren und ebenso leicht nachzuahmen, poetisch wie musikalisch. Dabei war die literaturgeschichtliche Bedeutung Jakob Regnarts, der sich seine Texte selber dichtete, wahrscheinlich noch größer als die musikgeschichtliche: Seine Inhalte (die freilich auch durch die Madrigal- und Canzonetten-Übersetzungen verbreitet wurden), seine Terzinen in zehn- und elfsilbigen Versen und Strophenformen wie die von »Venus, du und dein Kind« wurden über viele Jahrzehnte hin nachgeahmt, variiert, verfeinert und vergröbert.27
Ganz im Sinne dieser zwischen den Künsten kreativ vermittelnden Schlichtheit dichtete Fleming seine deutsche Version der Villanella O fronte serena allem Anschein nach mit der Melodie im Ohr und mit dem italienischen Text vor Augen. Die Produktion des Liedes vollzog sich somit als ein intermediales Ereignis, als ein Kommunikationsprozess von Klang, Lektüre und Schrift.
III. Neu oder wenigstens neuerlich vertont wurden Flemings Liebliche Wangen von keinem geringeren als Johannes Brahms, und man wird diese Neuvertonung kaum zu Brahmsens stärksten künstlerischen Leistungen zählen. Um der Kritik, die sich an ihr üben lässt, vorab den allzu scharfen Wind aus den Segeln zu nehmen, sei die »captatio benevolentiae« aus der gereimten Vorrede Jakob Regnarts zitiert: Laß dich darumb nit wenden ab, Das ich hierinn nit brauchet hab Vil zierligkeit der Music. Wiß, das es sich durchauß nit schick, Mit Villanellen hoch zu prangen, Und wöllen dardurch preiß erlangen Wirdt sein vergebens und umbsunst; An andre ort gehört die kunst.28
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Ebd., S. 563. Zit. n. ebd., S. 564.
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Ist man Brahms wohlgesonnen, wird man annehmen wollen, dass er keine Kenntnis von der »italiänischen Weise« hatte, auf die sich Fleming bezieht; er vertonte den ihm vorliegenden deutschen Text Flemings jedenfalls in einer Art, die nach heutigen Kriterien anfänglich hypertroph aufrauschend und zu sehr romantisierend klingt. Allerdings hält sich der Komponist insofern an das Textoriginal, als er die Strophenform und den begeistert atemlosen Tonfall Flemings übernimmt. Es ist in einer der vorliegenden Aufnahmen Fritz Wunderlich zu verdanken, dass der brahmssche Gestus – natürlich subjektiv beurteilt – ›erträglich‹ bleibt.29 Eines der wohl schon zu Lebzeiten berühmtesten Gedichte Flemings, Wie er wolle geküsset sein, wurde bereits von Flemings Zeitgenossen Andreas Hammerschmidt, geboren 1611 oder 1612 in Brüx in Böhmen, gestorben 1675 in Zittau in der Lausitz, vertont. »In der Musikgeschichte scheinen seine geistlichen Werke großes Interesse geweckt zu haben, während die weltlichen viel seltener behandelt worden sind«, schreibt Anthony J. Harper.30 Als Beispiel sei das sechsstimmige Chorstück Machet die Tore weit genannt, das sich praktisch in jeder modernen Chormusiksammlung findet. Hammerschmidts Weltliche Oden oder Liebes-Gesänge erschienen 1642 und 1643 in Freiberg und wurden dort 1650 und 1651 nachgedruckt; im ersten Teil dieser Sammlung ist die Vertonung von Flemings Kuss-Gedicht zu finden.31 Dazu wieder Harper: Man muß annehmen, daß Hammerschmidt entweder über Verbindungen zu Leipzig oder durch sonstige private Kontakte zu seinem Text kam. Was die Zeitspanne der Verbreitung des Textes im allgemeinen betrifft, so scheint sie ein ziemlich typisches Beispiel der schnellen, aber nicht ungewöhnlich schnellen Rezeption eines bekannten, wenn auch im Ausland verweilenden Dichters jener Zeit zu sein. […] Es würde also so aussehen: der Text selbst wurde durch die Kontakte bzw. den Ruhm des Verfassers bekannt und innerhalb relativ kurzer Zeit vertont, worauf das Lied als Ganzes schnell verbreitet wurde. (S. 43)
Das Stück ist heute unter den Musiker/innen eher unter dem adaptierten Titel Kunst des Küssens bekannt und auf Vortragsabenden, Konzerten und auf Aufnahmen Barocker Liedkunst32 häufig zu hören. Der Reiz des Textes besteht in der Thematik, in der erotischen Konkretisierung und in der Gebrauchsfunktion als Epithalamium, wie sie schon die Einbindung in das oben angesprochene prosimetrische Hochzeitsgedicht auf Reiner Brockmann und Dorothee Temme in den Poetischen Wäldern (PW III, 6, S. 91) nahelegt. Für die performative Wirkung wichtig ist die Divergenz von Intimität im Thema und gesellschaftlich-künstlerischer Kommunikativität in der Aufführung: Es findet eine öffentliche Verständigung über ein intimes Thema statt, am Ende schwenkt der Text ins Intime zurück. Was unsere Titelfrage betrifft – »Wie klinget mein Gethöne?« – so wäre sie hier vom Dichter an den Komponisten weitergegeben (während sie bei O fronte serena von der Musik dem Dichter diktiert wird).
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Fritz Wunderlich: Songs & Melodies. Die frühesten Aufnahmen (Profil 2009). Harper (Anm. 4), S. 39 (S. 40f. ein Faksimile des Satzes). Ebd. Z. B. Andreas Scholl: Deutsche Barocklieder (Harmonia Mundi 1995).
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Hammerschmidts Liedfassung bietet unserem ›Hinhören‹ nach eine spezielle Mischung aus kompositorischen Gemeinplätzen, aus ›Standardsituationen‹ und individuellen Lösungen: So wird die typisch barocke Sequenzierung immer wieder durchbrochen, melismatische Verzierungen finden sich nur im zweiten Takt und in der Violinstimme, die Harmonik ist an sich konventionell, im vierten Takt findet sich freilich ein unkonventioneller Halbschluss auf der Subdominante, im zweiten Teil des Liedes begegnet man Modulationen mit harmonikal-konsequenter Rückkehr in die Haupttonart. Rhythmisch ist die Komposition scheinbar monoton, zeigt aber einen interessanten Komplementärrhythmus zwischen Bass und Violine mit Verzahnung von Melodieschluss und Weiterführung der Bassund der Violinstimme. Erwähnenswert ist schließlich noch die Bearbeitung durch Franz Burkhart (1902–1978): »Kunst des Küssens«. Veränderungen über eine Melodie von Andreas Hammerschmidt (1642) für dreistimmigen Männerchor.
IV. Im Sinne einer gleichsam panegyrischen coda, die dem anerkennenden Gedenken Flemings Rechnung tragen soll, sei noch auf ein rezentes Beispiel hingewiesen, das von der ungebrochenen, auch musikalischen Attraktivität seiner Texte zeugt: Der Salzburger Komponist Gerhard Wimberger hat 1977 einen Zyklus mit dem Titel Memento vivere vorgelegt.33 In diesem Zyklus experimentiert Wimberger unter anderem mit alten Texten von Abraham a Santa Clara und Gryphius, aber auch mit Texten zeitgenössischer Autoren wie Kurt Marti. Das sechste Stück (Abb. 1) geht auf Flemings Grab-Ode Über Herrn Johan von Wangersheim erstgeborenen Söhnleins Kunradens Absterben (Oden II, 15; TP, Oden II, 12). Wimberger hat den Text stark gekürzt, was bei ihm bleibt, lautet: Schlafe wohl, geliebtes Kind! So viel’ tapfrer Helden sterben, ganze Länder, die verderben, manche Stadt fliegt in den Wind, und wie soll ein Mensch bestehn, muß diß Ganze doch vergehn? Schlafe wohl! Wir Armen, wir bleiben, was wir Anfangs waren, jung von Weisheit, alt von Jahren, unverständig für und für, stumm an Mund, an Augen blind, Kinder, wie wir kommen sind.
Man könnte Wimbergers Text vorwerfen, dass er einige äußerst drastische Wendungen, also gerade das für eine heutige Lektüre an Flemings Ode Widerständige, tilgt: etwa die harschen Worte, dass eben auch das Kind ungeleitet von der Mutter ins enge Erdloch müsse, die Liebe der Eltern mit ihm eingescharrt und ihm flugs ein neues folgen werde (V. 31–42) – dies zugunsten des inversiven Programms, das der Zyklus im Titel führt. Eine solche Inversion vom memento mori 33
Gerhard Wimberger: Memento vivere. Für Mezzosopran, Bariton, 3 Sprechstimmen, gemischten Chor und Orchester. Nach Texten von Kurt Marti, Abraham a Sancta Clara, Paul Fleming, Andreas Gryphius u. a. Partitur. Kassel [u. a.] 1977 (BA 6299), Ziffer 134, S. 108. Eine Einspielung ist 1992 bei Amadeo erschienen.
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Abb. 1: Gerhard Wimberger: Memento vivere (Anm. 33).
zum memento vivere praktiziert freilich Fleming schon selbst; die beruhigende Metapher vom Schlaf sowie das melancholische Bekenntnis, dass der Kleine, der ging, längst war oder hinter sich gebracht hat, was die Bleibenden bleiben müssen (V. 43–48), dokumentieren es. Der Kontrast, die Divergenz zwischen dem destruktiven ›Vanitas vanitatis‹Bekenntnis und einem beruhigten Trauerton nimmt bei Fleming großen textuellen Raum in Anspruch. In der Vertonung übernimmt den Effekt vielleicht die Musik: Die Instrumentation erzeugt so etwas wie einen ›Tombeau-Charakter‹, der Einsatz der Gitarre (im realen Einklang mit der Singstimme) erinnert – in Form einer musikgeschichtlichen Hommage – an barocke Lauten- oder Theorbentombeaus
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(»wie auf einem alten Instrument gespielt« lautet die Vorgabe des Komponisten). Das Mezzosopransolo erhält im wiegenden, schleppend-schleifenden 6/8-Takt einen traurigen Wiegenlied- oder »Lullaby«-Charakter. Die melodischen Ausbrüche bei »Mensch« und »Kinder« zielen mit musikalischen Mitteln auf die Anteilnahme der Hörenden ab; einen Zustand der ›Verstörung‹ könnten dabei die rhythmischen und harmonischen ›Störungen‹ auslösen wollen: der Gegenrhythmus in der Bratsche, die annäherungsweise gegebene Bitonalität (die Bratsche bleibt auf c´, die Singstimme setzt mit dem großen Sextsprung nach oben quasi in Ges-Dur ein, entzieht sich dann aber ab dem Takt vor dem zur Bratsche dissonanten Einsatz der zweiten Violine auf des´ in der Folge von fallenden Terzen einer harmonikalen Zuordnung). Die leeren Quinten zwischen Bratsche und Singstimme ermöglichen Assoziationen mit dem Organum, beschwören musikalisch eine Totentanz-Atmosphäre und können durch das fehlende Chroma des Dreiklangs für Trostlosigkeit stehen. Die chromatisch absteigende Linienführung in der zweiten Violine verstärkt den Lamento-Charakter. Im Takt nach Ziffer 135 steht die Engführung bzw. Reibung – Viola c´, zweite Violine d´, erste Violine es´ – für Schmerz; der Einklang zwischen Singstimme und erster Violine von dieser Stelle an mag Trost in der Klage durch einen Partner zum Ausdruck bringen. Dem Komponisten gelingt durch diese bewusst (oder unbewusst?) eingesetzte Rhetorik, durch diese kompositorische Fügung im Sinne der Affektenlehre der Barockzeit eine adäquate, ›stimmige‹ Vertonung des Fleming-Textes. Die faszinierende, so verstörend wie bewegend kunstreiche Tönung von Flemings Worten spiegelt sich noch in den facettenreichen Klängen, zu denen sie die zeitgenössische Musik zu gestalten weiß.
Wilhelm Kühlmann
Erinnerung als Roman Fleming in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts In Arno Holz’ Des Schäfers Dafnis […] Freß-, Sauff- und Venuslieder (1904), der grandiosen Kontrafaktur weniger der frühbarocken als der späteren galanten Liebesdichtung, wird im anhängenden Glossar Flemings (hier »Flemming«) mit der Bemerkung gedacht: »Von all unsren Teutschen der Hertzrührendste. Er hat sich mit Ehren in seine Grab-Schrifft sälbst gesetzt, daß ihm kein Landsmann gleich gesungen!«1 Der zu dieser »Grabschrift« gehörende, letzthin von Horaz inspirierte Satz »Man wird mich nennen hören«2 hat sich auf denkwürdige Weise bestätigt. Dies auch darin, dass wohl kein zweiter Autor des 17. Jahrhunderts, selbst Grimmelshausen oder Friedrich Spee3 nicht, so häufig wie Fleming als Protagonist der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts Beachtung fand, in Werken freilich, von denen die meisten samt ihren Verfassern heute so gut wie vergessen sind. Diese narrativ-fiktionale Erinnerungsarbeit im Zusammenhang eines abseits der Fachdisziplinen populären ästhetisch-kulinarischen Historismus, demgemäß auch als einen ubiquitären Modus bewusstseinsprägender, eigene Kontinuitäten und Motivationen ausbildender Geschichtskultur möchte ich kursorisch ein wenig verfolgen. Dabei setze ich für die früheren Phasen der Fleming-Rezeption die Darstellungen von Siegfried Scheer (1940)4 und Peter Krahé
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Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich u. Anita Holz. Bd. 1–7. Neuwied 1961–1964, hier Bd. 5 (1962): Das Buch der Zeit (Dafnis, kunsttheoretische Schriften), hier Teil 2 (ges. Paginierung), S. 212. – Auf Flemings Werke gehe ich in diesem Beitrag nicht ein; zum Stand der Forschung s. Volker Meid/Beate Czapla: Art. Paul Fleming [Neubearb.]. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Berlin, 2. vollständig neu überarbeitete Aufl. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bisher Bd. 1–9 (2008–2010), Bd. 3, S. 474–477. Zum literarischen Personal in Reval, das die im folgenden benannten Romane ebenfalls mehr oder weniger ausführlich berücksichtigen (z. B. Timotheus Polus) ist mit Gewinn heranzuziehen Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Bd. 1–2., hier Bd. 2: Bibliographie der Revaler Literatur. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 112). Letzthin eine Paraphrase von Horaz, carm. III, 30, spez. 6 ff.: »non omnis moriar…« Zu diesem Gedicht s. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings »Grabschrift«. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 167–175. Ich denke hier besonders an die drei Spee-Romane von Wolfgang Lohmeyer: Die Hexe, München 52000, Der Hexenanwalt. Stuttgart 1983; Das Kölner Tribunal. Gütersloh 1982. (und andere Auflagen !). Siegfried Scheer: Paul Fleming 1609–1640. Seine literarhistorischen Nachwirkungen in drei Jahrhunderten. In: Imprimatur 9 (1940), Beilage, S. 1–16.
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(1989),5 ergänzt durch einige Hinweise bei Maria Cäcilie Pohl (1993),6 vor allem aber Dieter Martins umfassendes Werk zum Barock um 1800 voraus (2000).7 Hier werden bis zum frühen 19. Jahrhundert die literarischen Stationen, Dokumente und Wertungen untersucht, in denen vor allem der Sonettdichter Fleming nach und nach aus dem Schatten von Opitz heraustrat: in Literaturgeschichten und Essays, in Anthologien und Teilausgaben, auch in Huldigungs- und ›Dichtergedichten‹ von August Wilhelm Schlegel und Otto Heinrich Graf von Loeben. Bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zeichnete sich, wegweisend für das 20. Jahrhundert ein biographisches, manchmal exotistisch und ›romantisch‹ gefärbtes, nicht mehr allein von seinem ästhetischen Rang her definiertes Gestaltprofil Flemings ab. In Adam Gottlob Oehlenschlägers, an Schnabels Romanutopie angelehntem Roman Die Insel im Südmeer trifft man in einer Episode auf der Insel Oeland den »lustigen Paul Flemming« inmitten der holsteinischen Gesandtschaft.8 Bald darauf, im Jahre 1837, erschien die wohl erste Fleming-Novelle (Paul Flemmings Reise nach Ispahan) aus der Feder des Reiseschriftstellers und Literarhistorikers Eduard Boas (1815–1853). Der Text wurde später, als »Literaturgeschichte im Salon« in die Rahmenhandlung einer »Wintergesellschaft« eingebettet, die den anwesenden Frauen zuliebe beschließt, »den Reichthum unsrer Literatur und Poesie novellistisch einzukleiden« und »die romantischen Lebensgeschichten deutscher Dichter zur Novellenguirlande [zu] verflechten«.9 Der erste großangelegte historische Roman mit Fleming im Mittelpunkt (Paul Flemming, oder die Gesandschaftsreise nach Persien. Historischer Roman, Leipzig 1842), damit das jeweils neu zu bestimmende Spiel zwischen ›Fakten und Fiktionen‹10 ist Franz Theodor Wangenheim (1805–1848) zu verdanken, der den Großteil seines riesigen Erzählœuvres, in dem Historisches dominierte (u. a. auch Romane zu Schillers Die Räuber), Schulden halber im Gefäng-
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Peter Krahé: »Flemming, unsrer Tichter Wonn«: Paul Flemings literarischer Nachruhm. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 71–89. Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster 1993 (Zeit und Text 1), bes. S. 20–25. Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830. Frankfurt am Main 2000, zu Fleming (Kap. Dichtergedichte an und auf Paul Fleming), S. 541–573. Gottlob Oehlenschläger: Die Insel im Südmeer. Bd. 1–4. Tübingen 1826, hier Bd. 3, S. 87– 144 (nicht eingesehen). Zit. n. Scheer (Anm. 4), S. 6f. Eduard Boas: Paul Flemmings Reise nach Ispahan. In: Ders.: Schriften. Bd. 1–5. Leipzig 1848–1848, hier Bd. 3: Literaturgeschichte im Salon, S. 167–237 (nicht eingesehen). Zit. n. Martin (Anm. 7), S. 572. Zu Boas s. Christian Schwarz und die Redaktion in Killy (Anm. 1), Bd. 2 (2008), S. 1. Grundlegend zu Theorie und Literaturgeschichte der Biographik, insofern hier vorausgesetzt, die Arbeiten von Christian von Zimmermann: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Hg. v. dems. Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 48), hier bes. Zimmermanns Einleitung; ferner dessen Habilitationsschrift: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940). Berlin/New York 2006. Von Wangenheims Werk war mir per Fernleihe nur der erste Band zugänglich. Auf dem Vorsatzblatt dieses Bandes ist August Wilhelm Schlegels Gedicht auf Fleming abgedruckt.
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nis schrieb.11 Zum ersten Male machen sich hier als Schreibanreiz Assoziationen und inspirativ-erlebnishafte Erinnerungsmomente lokaler und regionaler Provenienz bemerkbar. In der fordernden Magie von Jubiläumsdaten versprachen solche Erinnerungsstätten, die Distanz des Vergangenen, auch noch ohne sichtbares Denkmal, aufzuheben. Wenn sich Wangenheim auf der letzten Seite des Romans an den Leser wendet, um eine sentimentale Gedächtniskonstellation auszumalen, ist aus dem gelehrten Dichter Fleming längst der in und mit der Natur lebende »Sänger« geworden. Er löst sich aus dem Schatten einer unbestrittenen Größe, keines Geringeren als Schiller, in der naturhaften Epiphanie eines anrührenden Liedes. Der Roman vertritt das noch nicht vorhandene Denkmal und erfüllt die Erinnerungsbotschaft der singenden Dichter-Nachtigall. Adam Olearius’ Persianisches Rosenthal12 verschmilzt mit dem Leipziger Rosenthal, einer beliebten, seit August dem Starken bestehenden Parkanlage: Mein Leser! Am 2. April 1840 wanderte ich durch das Rosenthal bei Leipzig. Meine Absicht war, jenes berühmte Häuschen in Gohlis, in welchem Friedrich Schiller wohnte, aufzusuchen. Da hörte ich, im noch dünnbelaubten Wipfel einer schönen Linde, zur Linken des Weges die erste Nachtigall schlagen. Erstaunt über die so frühzeitige Rückkehr der lieben Sängerin blieb ich stehen und lauschte ihren Zaubertönen. Da überkam mich der Gedanke an den Sänger von Hartenstein, es waren heute zweihundert Jahre verronnen, seitdem er in Hamburg gestorben. Darum also kam seine vertraute Sängerin so frühe wieder! dachte ich, und diese Linde ist es, unter deren Laubdach Paul Flemming zum ersten Mal im Rausch nach kastalischer Fluth träumte! – Man hat ihm kein Denkmal von Marmor und Gold gesetzt; aber jeder neue Lenz lockt die Nachtigall ins Rosenthal und ihr erstes Liebeslied singt sie im Wipfel der Paul-Fleming-Linde!13
Eine markante Abweichung von derartig gefühligen Identifikations- und Admirationsbedürfnissen lässt ein Autor erkennen, den ich, bevor sich der Blick ins 20. Jahrhundert eröffnet, nicht vergessen möchte: Theodor Fontane.14 Als vergleichsweise noch junger Mann bereitete er sich auf die von ihm verantwortete Ausgabe des zu Weihnachten 1851 vorliegenden Deutschen Dichteralbums vor. Dabei entgingen ihm auch nicht Flemings Gedichte, soweit sie in älteren Anthologien vorlagen, unter ihnen Wilhelm Wackernagels Proben deutscher Poesie seit dem Jahre MD (Basel 1840). Doch Fontanes eigenhändige Abschriften zweier 11
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Vgl. zu Wangenheim: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. 3, völlig neu bearbeitete Aufl. Begr. v. Wilhelm Kosch. Fortgeführt von Carl Ludwig Lang. Hg. v. Hubert Herkommer u. Konrad Feilchenfeld. Bd. 1–30 (1968–2010), hier Bd. 28, Sp. 202f. Autoren wie Wangenheim belegen wieder einmal die Tatsache, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts zu den dunkelsten Epochen der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung gehört. Wangenheim scheint anzuspielen auf den Titel von Olearius’ deutscher Ausgabe des »sinnreichen Poeten Schich Saadi«. Hamburg 1660; vgl. die Werkbibliographie bei Lohmeyer (Anm. 26), S. 67*. Franz Theodor Wangenheim: Paul Flemming, oder die Gesandtschaftsreise nach Persien. Historischer Roman. Bd. 1–3. Leipzig 1842 (nicht eingesehen) Zit. n. Scheer (Anm. 4), S. 6f. Im Folgenden stütze ich mich auf Hermann Fricke: Fontanes Studien zum Roman Vor dem Sturm am Werk des sächsischen Poeten und Persien-Reisenden Paul Fleming. In: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 31 (1980), S. 141–152; dort auch Abbildungen der Handschriften.
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berühmter Fleming-Gedichte nämlich von Laß dich nur nichts tauren (von Fontane mit »Frieden« überschrieben) und An sich, in dem er merkwürdigerweise das zweite Quartett weglässt, gehören zu den seit den späten fünfziger Jahren zusammengetragenen Exzerpten und Materialien zu Fontanes Romandebüt, dem großen historischen Prosaepos Vor dem Sturm (erschienen erst 1878). Fontane dachte bei diesen Vorarbeiten, die er 1865 vorläufig beiseite legen musste, unter anderem an eine Porträtgalerie historischer Hintergrundgestalten, zu denen offenbar auch Fleming gehören sollte. Da sich die Romankonzeption im Detail änderte, fanden die Fleming–Exzerpte keine Verwendung mehr, auch nicht die der Sonettabschrift angefügte Kopie eines Sterbeliedes aus Des Knaben Wunderhorn (Es ist ein Schnitter, der heißt Tod). Möglicherweise hat Fontane die seit 1865 vorliegende Fleming-Ausgabe Lappenbergs schon benutzt. Die unvergleichlichen »Dennoch«-Verse von An sich, bis ins 20. Jahrhundert, bis hin zu Christa Wolf,15 zu Trotz und Selbstbestätigung gern herangezogen, dürften auch Fontane in seiner Lebenskrise nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Akademiesekretärs besonders berührt haben. Flemings Auftritt als erzählter Held vollzieht sich, soweit ich sehe, im 20. Jahrhundert in einem 1911 zu Halle an der Saale gedruckten Bändchen mit Kurzerzählungen, das unter dem Titel Aus dem Herzensleben berühmter Dichter von der unter Pseudonym schreibenden C[lara] Gerhard (d.i. Clara Julie Gerhard, 1858–1922/23)16 verfasst wurde und in etwa 20 Skizzen die Liebesbeziehungen berühmter Dichter in der historischen Spannweite zwischen Petrarca und Heinrich Heine narrativ vergegenwärtigt. Das Werk der zuerst als Lehrerin tätigen Berliner Verfasserin richtete sich offenbar wie ihr übriges weitläufiges Œuvre vor allem an Mädchen und junge Frauen, sollte ähnlich wie die oben erwähnte Novellensammlung von Eduard Boas elementares literaturhistorisches Wissen auf der hohen Woge identifikatorischer Rührung in jeweils sinnträchtigen Episoden kulturell nobilitierter, zugleich glücks- und schmerzträchtiger Paarbeziehungen weitergeben. Wie das bei Fleming (die zweite Geschichte nach der Petrarca-Novelle, gefolgt von Erzählungen zu Klopstock und Simon Dach) unter dem zitathaften Titel Ein getreues Herze wissen geschieht,17 ist bemerkenswert: Modelliert werden, kommentiert in kurzen Zwischenberichten, nur zwei Szenen: Zuerst Fleming inmitten studentischer Gefährten im März 1633 zu Leipzig »beim schäumenden Gerstensaft«.18 Der Gedanke an den Jammer des Vaterlandes lässt den Dichter aus seinem Sonett Er beklagt die Enderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen
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Vgl. Christa Wolf: Ein Satz. Bremer Rede (Januar 1978). In: Dies.: Die Dimensionen des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985. Auswahl: Angela Drescher. Darmstadt, Neuwied 1987, S. 54–60, spez. S. 58: »Nun stellte sich bisher jedem ›Aber‹ ein ›Dennoch‹ gegenüber: ›Sei dennoch unverzagt. Gib dennoch unverloren‹. Dies mitten im Dreißigjährigen Krieg, als die Dichter noch Lebensregeln gaben: Paul Fleming, der, im gleichen [sic!] Gedicht, die unglaubliche Zeile wagt: ›Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.‹« Zu ihr s. Kosch (Anm. 11), Bd. 6 (1978), Sp. 232f. Clara Gerhard: Aus dem Herzensleben berühmter Dichter. Halle a. d. Saale 1911, S. 7–13. Ebd., S. 7.
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zitieren, worauf nach einem kurzen Affektporträt der historisch vorausweisende Trost des Freundes Gloger folgt: Seine Stimme klang wie Gewittergrollen, seine Augen loderten wie Flammen. Beruhigend drückte ihm sein Freund Gloger die Hand. »So lange es noch solche deutschen Männer gibt, wie du und Meister Martinus Opitz, so lange ist auch die Hoffnung nicht verloren, daß es einst besser um unser Vaterland bestellt ist. Ihr weckt mit euren Versen den deutschen Löwen aus seinem Schlummer. Paulus, teurer Freund, – dein Wohl!«19
Flemings Aufbruch nach Persien wird am Schreibtisch mit den frommen Versen »In allen meinen Taten, / Laß ich den Höchsten raten« vorbereitet. Es folgt wie im Film ein scharfer Schnitt, im Druck durch Querstriche angedeutet, ein Szenenwechsel mit Blick in die »mit altmodischer Eleganz eingerichtete Wohnung des Senators Niehusen in Reval«.20 Die Verfasserin kümmert sich nicht um die komplexen Beziehungen Flemings zu dem Dreigestirn der Haustöchter, sondern vereinigt die in Frage kommende Weiblichkeit in einer durchweg fiktiven Gestalt namens »Maria«, die in fiebriger hausfraulicher Geschäftigkeit und scheuer Bescheidenheit den Besuch des Dichters nach der Rückkehr von seiner langen Reise erwartet: Aus der eichenen, geschnitzten Kredenz nahm sie die grünen Römer zum edlen Rüdesheimer, die feingeschnittenen weißen Gläser zu den dunklen, schweren Weinen aus des Vaters Keller, die Kristallschalen zum Obst aus der Krim, die silbernen Bestecke; zuletzt stellte sie hohe Kelche mit duftenden Rosen auf die Tafel. Nichts sollte fehlen, was das Haus bieten konnte, den erwarteten Gast zu ehren. Flüchtig trat das schöne Mädchen dann vor den Spiegel, um die Locken aus der Stirn zu streichen; freudige Erregung färbte ihre Wangen; in einer Viertelstunde sollte sie den Mann sehen, den ihre Phantasie sich oft gemalt, den Dichter, dessen Verse oft ihr Herz gerührt, den kühnen Weltreisenden Paulus Fleming! Ach, sie wollte ihm danken für seine Poesien, die so viel Zartheit und Kraft des Empfindens verrieten. Vielleicht aber würde er sich von ihr, die seinem hochfliegenden Geiste so wenig bieten konnte, hochmütig abwenden. Paulus Fleming hochmütig? Nein, wer so fromme Lieder sang, der kannte keine Überhebung, keinen falschen Stolz. Da hörte sie Stimmen im Nebenzimmer, des Vaters Baß, der Freunde Organe, dazwischen eine helltönende Stimme, die sie noch nie vernahm und die ihr alles Blut zum Herzen trieb. Die Tür sprang auf, die Gäste betraten den Speisesaal, Marie sah nur einen – eine imponierende Gestalt im schwarzen Samtwams, über das ein breiter, weißer Spitzenkragen fiel, ein kühnes, lockenumwalltes Gesicht, aus dem dunkle Augen wie Sonnen strahlten. Ritterlich verbeugte er sich vor ihr, sie reichte ihm die bebende Hand und stand, verloren in seinen Anblick, einer Träumenden gleich. Ja, so mußte er aussehen, der Held, der so viele Gefahren besiegt, der Arzt, der den Körper heilt, der Dichter, der in den Seelen der Menschen zu lesen und sie mit seinen Liedern aufs tiefste zu bewegen verstand!21
Nach der nur kurz vermerkten, also bewusst ausgesparten Reiserzählung Flemings kommt es zur poetisch untermalten und poetisch symbolisierten Liebesbekundung und Verlobung:
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Nach der Tafel bat er: »Mein Fräulein, ich sehe da eine Harfe am blauen Bande, die mir viel verrät. Wollt Ihr mir ein deutsches Lied zum Willkommen singen?« Da ertönten die Saiten unter ihrer kunstgeübten Hand und mit silberklarer Stimme sang sie kleine Volkslieder. »Ihr singt süß wie ein Waldvöglein, doch Eure Lieder handeln von Liebe und Verlassen. Mich aber dünkt, Liebe und Treue sind eins.« »Ihr habt recht, nicht anders kann es sein«, erwiderte sie schlicht. Da sprang unter ihrem Blick ein Tor in seinem Herzen auf und er fühlte die Liebe in es einziehen, jene Liebe, die eins mit der Treue ist, die an die Erde bindet und doch zum Himmel erhebt. Sie wußten es beide in dieser Stunde, sie waren füreinander bestimmt von Ewigkeiten her!22
Der Schluss der Erzählminiatur beschwört, nach dem »unter Freudentränen« erhaltenen Briefgedicht Ein getreues Herze wissen (mit Teilzitat),23 nach vergeblichem Warten und nach der Todesnachricht die Identität von ewiger Treue und ewigem Nachleben zugleich: Zeitlos wirkende Gefühlsgeschichte lebt imaginativ hier wie auch in anderen ähnlichen Texten von einer unbekümmert privatisierten und pragmatisch ausgebeuteten Literaturgeschichte, die als illusionistischmimetisch konzipierte Erzählung den vorab zu vermutenden, jeweils konventionalisierten und demgemäß sehr genau eingelösten Leserinteressen folgt: »Treu bis über das Grab hinaus, bewog sie ihren Vater, die Werke des Unvergeßlichen herauszugeben. / Ob auch sein Leib in Staub zerfiel, seine Lieder sollten ewig leben!«24 Im Folgenden lassen sich vier Romane der späten 30er und der 80er Jahre in der Kontinuität bräunlich-reichsdeutscher und DDR-spezifischer Geschichtspflege zusammenfassen. Sie haben gemeinsam, dass sich nun endgültig in wechselnder Dichte, Strategie, Konfiguralisierung und diskursiver Rückbindung topologische Darstellungsoptionen herauskristallisieren. a. Fleming als Student im Horizont des Krieges, b. Flemings Aufbruch zur Persienreise und seine östlichen Erlebnisse, c. Flemings Liebesgeschichte in Reval und d.F lemings Tod. In diesen Romanen wird wie in einigen anderen, hier nicht herangezogenen Erzählwerken,25 zu großen Teilen Olearius’ Reisebeschreibung, im 20. Jahrhundert mehrfach in Bearbeitungen gedruckt,26 zum stofflich-kulturgeschichtlichen 22 23 24 25
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Wilhelm Jensen: Aus meiner Vaterstadt. Die Persianischen Häuser. Breslau 1889; Karl Rauch: Seidenstraße über Moskau. Die große Reise des Adam Olearius nach Moskau und Ispahan 1633 und 1639. München 1960. Bemerkungen zu diesen Werken bei Pohl (Anm. 6), S. 23. Zu benutzen ist selbstverständlich samt dem kundigen Nachwort die von Dieter Lohmeyer herausgegebene Nachdruckausgabe: Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse. Tübingen 1971 (Deutschen Neudrucke. Reihe Barock 21). Vorher lagen vor: Fleming, Friedrich von Logau, Olearius. Hg. v. Hermann Oesterley.
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Reservoir der Autoren und prägt das linear strukturierte Handlungsraster, in das Stationen der aus Flemings Lyrik ausgesponnenen Dichtervita selektiv, teils zitathaft, teils paraphrastisch integriert, dabei auch latent oder explizit kommentiert werden. In Die Brücke nach Ispahan (Leipzig 1937) rückt Fleming zunächst ganz an den Rand, insofern es sich bei diesem routiniert erzählten Opus des einst namhaften produktiven Hamburger Schriftstellers Wilhelm Ernst Asbeck (1881–1947),27 um den bewegten Lebensroman des Hamburger Holzhändlers Otto Brüggemann (1600–1640) handelt, also dem auch aus Flemings Gedichten bekannten Mit-Urheber des persischen Handelsprojektes und Leiter der holsteinischen Gesandtschaft. Asbeck zeichnet Brüggemann als handelspolitisch vorausblickende, ›tragische‹, durch eigene Schuld und durch die Intrigen der Neider bzw. Konkurrenten scheiternde Pionierfigur. Fleming wird hier und da erwähnt, doch erst die ambitionierte Synkrisis zweier Sterbeszenen am Romanende rückt den Dichter ins helle Licht: Brüggemann stirbt 1640 auf dem Schafott,28 Fleming ist auf seinem Sterbebett von seinen Freuden Grahmann und Olearius umgeben,29 Anna Niehusen, deren Kommen der Kranke visionär erahnt, kann im letzten Augenblick noch aus der anfahrenden Kutsche zu ihrem Geliebten eilen. Fiktionale Fantasie ersetzt die historisch beglaubigte Referenz, füllt Leerstellen des Wissens aus. So verschönt Asbeck, nicht ohne einen in zeitloser Geltung gedachten Kurzdialog über die Bestimmungen des »wahren Dichters«, den wohl eher trostlosen Hingang eines Mannes, dessen Rang der Erzählerautor am Ende der Szene dem Leser verdeutlicht: »Paul Fleming, einer der bedeutendsten Lyriker seines Jahrhunderts, war nicht mehr.«30 Dabei muss auffallen, dass der Romancier Flemings Grabschrift auf sich selbst nicht benutzt. Ich zitiere Passagen dieser Sterbeszene: Der Morgen des 2. April 1640 begann. Fleming erwachte. Ein seltsames Feuer loderte aus seinen Augen. Er sprach: »Hört ihr nichts?« Beide lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit; aber wie ausgestorben lag die Straße in der frühen Morgenstunde. »Sie fährt zum Steintor hinein!« »Wer?« »Anna Niehusen! Die Gute! Sie hat nicht den weiten Weg von Reval gescheut, um von mir Abschied zu nehmen. Ich danke euch, daß ihr sie gerufen habt!« Gramann sagte leise zu Olearius: »Sein geistiges Auge sieht wieder Dinge und erkennt Zusammenhänge, die uns unbegreiflich sind.« Der Gelehrte antwortete: »Ich glaube, wer ein wahrer Dichter ist, dem wurde die Wundergabe zuteil, über seine Umwelt hinauszublicken. Oft schien es mir, als ob er Dinge gewahre, die wir nicht sahen. Vielleicht gab es Stunden, in denen er einen Blick hinter den Schleier jener anderen, unbekannten Welt tun durfte.«
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Stuttgart [1884] (Deutsche Nationalliteratur 28); Adam Olearius: Die erste deutsche Expedition nach Persien (1635–1639). Nach der Originalausgabe bearbeitet von Hermann von Staden. Leipzig 1927; ders.: Muskowitische Abenteuer. Hg. v. Edmund Th. Kauer. Berlin 1927. S. das Verzeichnis seiner auf regionale Stoffe konzentrierten Werke bei Kosch (Anm. 11), Bd. 1 (1968), Sp. 171f. Vgl. Ernst Asbeck: Die Brücke nach Isaphan. Leipzig 1937, S. 247–249. Vgl. ebd., S. 242f. Ebd., S. 243.
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Die Männer hatten so leise gesprochen, daß Fleming sie unmöglich verstehen konnte, und doch erwiderte er: »Ihr glaubt, ich sei mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet? Es gibt nichts Übernatürliches auf dieser und in jener Welt. Euch erscheinen nur Dinge, die für mich natürlich sind, als ein Wunder, weil ihr nicht den Schlüssel zu dem vermeintlichen Rätsel besitzt, weil ihr nicht seht noch spürt, was um euch ist.« Man hörte das schnell näherkommende Rasseln eines Reisewagens. Gleich darauf hielt eine Kutsche; die Haustür ward geöffnet, Schritte eilten die Stufen hinan. Anna Niehusen trat ins Zimmer. Leise entfernten sich die Freunde. Ein Wunder geschah. Die Lippen des Kranken, die bereits die blauweiße Farbe eines Sterbenden angenommen hatten, belebten sich. Durch die schneeweißen Wangen begann das Blut aufs neue zu kreisen. Die Wiedersehensfreude ließ das schon halberloschene Leben noch einmal hell aufflackern.31
Mit dem aus dem Erzgebirge stammenden Kurt Arnold Findeisen (1883–1963)32 fassen wir einen Autor, dessen Œuvre über 80 Titel enthält, der als deutschnationaler Autor nach dem sog. Röhm-Putsch 1934 als Leiter der Schulfunkabteilung des Mitteldeutschen Rundfunks (seit 1925) zeitweise entlassen wurde (er stand wohl der SA zu nahe), und der dann (bis in die Jahre der DDR hinein) nicht nur in humoristischen Werken und in der Pflege sächsischer Dichtung und Heimatkunde hervortrat, sondern sich auch mit Vorliebe historisch-biographischen Werken (auch über Dichter wie Seume und Kleist) widmete. Sein Fleming-Roman heißt Der östliche Traum. Ein Roman von Freundschaft, Liebe und großer Fahrt (Leipzig 1940).33 Das Vorwort verknüpft NS-gefärbte Ostland-Ideologie, noch friedlich gestimmt, mit dem Hochpreis der Liebe zu »deutschblütigen Frauen«: Der östliche Raum, was auch geschehen mag, ist deutsches Zukunftsland, und unsere Nation lernt immer mehr begreifen, daß jeder neue Tag imstande ist, ihr von Sonnenaufgang her in einem doppelten Sinne neuen Lebensatem zuzuführen. Zu denen, die das bereits vor dreihundert Jahren erkannt hatten, gehört eine Schar tatkräftiger deutscher Männer, die zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, um nichts anders als um Früchte des Friedens besorgt, auf erfolgreiche Ostlandfahrt gingen. Sie müssen heute als Kronzeugen frühester deutscher Kulturpolitik gelten, einer Kulturpolitik, die um so großzügiger und verdienstvoller erscheint, als sie betrieben wurde während jenes furchtbaren Vernichtungskrieges, der das Reich in seinen Grundfesten erschütterte. […] Als höchster Reisegewinn unter dem Oberlicht des ewig Dauerhaften mag uns aber heute das erscheinen, was durch Paul Flemings Liebes- und Lebenslied seitdem köstlicher Besitz der besten Deutschen geworden ist: es gipfelt in seiner schmerzgeglühten Erfahrung: »Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis«; es leuchtet von Geschlecht zu Geschlecht in seiner mannhaften Erkenntnis:
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Ebd., S. 242f. Zu ihm s. den redaktionell ergänzten Artikel von Detlef Holland. In: Killy (Anm. 1), hier Bd. 3 (2008) S. 447f. Dem Roman vorangegangen war eine erzählerische Kurzfassung: Paul Fleming, der Dichter und Ostlandfahrer. Dresden 1939, mir nicht bekannt, dies nach Krahé (Anm. 5), S. 154, hier zum Beginn (Vorwort?): »Zwei Freunde entdecken auf einer Wanderung durch die Straßen Hartensteins das Geburtshaus und die Erinnerungstafel. Davon ausgehend wird kurz das Leben Flemings gestreift.«
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»Ein redlicher Soldate darf nicht in Zweifel stehn, ob auch der Sieg gerate, den Sieg hat er bei sich, wenn er sich tapfer hält!« Den Ruhm des deutschen Namens trugen diese Männer durch die Welt in einer Zeit, da das Reich im Begriff schien, sich selber zu verlieren. Es verlor sich nicht, eben weil solche Männer vorhanden waren. Und darum liegt unserer Meinung nach ein zwingender Grund vor, gerade heutzutage nicht gering zu denken von ihrem frühen Aufbruch in den Orient und von den mancherlei merkwürdigen Auswirkungen ihres östlichen Traumes. Daß in diesem Traum auch das schöne »Glück mit Frauen« verwoben war, läßt sich denken. Deutschblütige Frauen in der damals schwedischen Stadt Reval am Finnischen Meerbusen waren es, die den labyrinthischen Weg jener Ostlandfahrer auf ihre Weise segneten.34
Die Konzeption des Werkes, das vor allem dem »Gedächtnis« an Fleming gelten soll,35 wirkt ehrgeiziger als die des Romans von Asbeck, denn Findeisen zieht sich explizit als Autor des Opus zurück, indem sich der Roman, notdürftig motiviert, aus angeblichen »Aufzeichnungen« und Papieren von Olearius und Fleming im Besitz des alten Niehusen zusammensetzt.36 Diesen drei Figuren werden in autobiographischer Erzählrede, die sich gleichwohl von szenisch entfalteten Gesprächsprotokollen nicht zurückhält, abwechselnd die elf Kapitel des Werkes zugeteilt, im Anfangs- und Schlusskapitel durch Niehusens Bericht zusammengehalten. Fünf Kapitel geben sich als Aufzeichnungen Flemings, meist überschrieben durch lyrische Zitate. Das Buch ist durchzogen von Paraphrasen bzw. Zitaten der Werke von Fleming und Olearius, so dass die Figur Flemings des öfteren auch im Munde anderer charakterisiert wird. Auch als Erzähler und Dialogpartner tritt Fleming in den Papieren des Olearius auf, indem er etwa an die Argonautenfahrt erinnert oder ein kaukasisches Märchen vorträgt.37 Gelegentlich werden Figuren auf die im Vorwort angeschlagenen völkisch-nationalen Ideologeme mit deutlichem Appellwert verpflichtet, so wenn Olearius verkündet: Wir aber müssen uns vorderhand genügen lassen an dem Bewußtsein, den deutschen Namen, so sehr er nach innen verblaßt erscheint, nach außen hier und da ein wenig zum Leuchten zu bringen und denjenigen unsres Blutes, die jenseits der Reichsgrenzen sitzen, von neuem die Verpflichtung ins Gewissen gesenkt zu haben: H i e r g u t d e u t s c h al l e zei t u n d al l e wege.38
Generell tut der Romanheld Fleming dem Leser hier den Gefallen, seine eigene Lebens- und Liebesgeschichte mit allen nötigen expositorischen Daten und vielen Werkreferenzen als »Aufzeichnungen« zu eröffnen, dies in einer Stillage, die der belesene Findeisen vielleicht als ›barock‹ verstand und in der immer wieder 34 35 36 37 38
Kurt Arnold Findeisen: Der östliche Traum. Ein Roman von Freundschaft, Liebe und großer Fahrt. Leipzig 1940, S. 255. Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 240–243. Ebd., S. 255.
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alle Register eines in historistischer Mimesis verbrämten Schwulstpathos gezogen werden. Das erste Fleming-Kapitel, betitelt O liebliche Wangen,39 präsentiert sich als Rückblick auf Flemings Erzählung im Haus der Niehusen und beginnt: Als ich Dich, Rosille, holde Gespielin meiner Kinderzeit einst ins unschuldige Herz schloß, als ich Dir Himmelschlüssel pflückte auf den heimischen Muldenwiesen und Kornblumen und Mohn in den durch den Krieg verwilderten Feldern, und als ich mein Knabenherz klopfen hörte vor Glück, dieweil Dein Mündlein dankbar lächelte, konnte ich da wissen, was Liebe ist? Als ich Dir, dunkeläugige Rubella, die Erstlinge meiner Muse brachte in der von Waffen umklirrten Lindenstadt, als sich in den Liedern unsres freundwilligen Gönners Johann Hermann Schein, des Thomaskantors, unsre Stimmen jugendselig vereinten und als mich die Unerbittlichkeit, mit der die Pestseuche gerade Dich aus unserm Kreis gerissen, an Deinem Grabhügel in die Kniee zwang, konnte ich da wissen, was Liebe ist? Als ich Deiner fremdartigen Schönheit, schlankgliedrige Roxelane, in Moskau mit Blicken der Bewunderung nahte und Du den überwältigten Fremdling hineinrissest in den Taumel der Sinne, konnte ich da wissen, was Liebe ist? Nein, das konnte ich nicht! Aber hier in der gastlichen Stadt am baltischen Meer, hier auf dem hohen Brückenbogen meiner alten Vergangenheit und meiner jungen Zukunft, hier stand im Scheine des Nordlichts die Göttin, welche die Seelen paart, und half mir erkennen. Sie zeigte mir das Haus mit dem gotischen Giebel, in dessen äußerster Nische der Vogel Phönix aufschießt, sie ließ für mich durch Freundeshand den messingenen Klopfer heben und das Tor öffnen zu der Stiege, die ins Zimmer der Argonauten emporführt, sie wies mir vor dem gewebten Teppich, auf dem das Griechenschiff mit geblähten Segeln gleitet, das Mädchenangesicht, das ich als das heilige Wunschbild meiner Träume wiedererkannte. Nun weiß ich, daß ich durch Dich, Elsabe, soll begreifen lernen, was Liebe ist. Ich schlaf, ich träume bei dem Wachen, ich ruh und habe keine Ruh, ich tu und weiß nicht, was ich tu, ich weine mitten in dem Lachen. Ich denk, ich schaffe dies und das, ich schweig, ich red und weiß nicht was.40
Es wäre eine peinvolle Mühe, jene Transformationsarbeit genau zu verfolgen, mit der Findeisen seine Lektürenotizen mosaikartig in die subjektive Erzählrede jener Romanfiguren überführt, deren Werken die sichtlich angestrebte atmosphärische Dichte des Opus zu verdanken ist. Im letzten Fleming-Kapitel, dem zweitletzten des Buches, betitelt Anemone,41 wird Flemings letzte Liebe erzählerisch inszeniert. Bevor die Liebenden in Gesprächen über die Reise und mit Hilfe poetischer Huldigungen zueinander finden, ist der Wechsel von Elsabe zu Anna schon innerlich vollzogen: Als Anna Niehusen mir im Phönixhause, einen Strauß Frühlingsblumen in der Hand, zum Willkommen entgegentrat, glaubte ich in Wahrheit einen Pulsschlag lang, es wäre Elsabe. Ihre Gestalt, zier und ebenmäßig, ihr Mund, ihre Wangen, das Gold ihres Haares und ihrer hellen Wimpern, alles wie bei der Schwester. Aber als ich, während mich meine Vernunft belehrte, ihre Augen sah, sah ich die blanke Wirklichkeit. Diese Augen waren nur in der Farbe die Augen Elsabens; hinter ihrem schimmernden Stern aber blinkte etwas, das verläßlicher 39 40 41
Ebd., S. 43–71. Ebd., S. 43f. Vgl. ebd., S. 258–278.
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schien als die neckische Lockung einer Ungetreuen. Das waren ganz gewiß nicht die Augen einer Meerfrau aus dem Bernsteinland. Und siehe, sie schämten sich auch der Tränen nicht, diese Augen, nein, sie schäumten über, sie glänzten unsagbar in einer Wallung, die über den Rand eines gefaßten Herzens stieg! O Anna, wie danke ich dir für diese Freudentränen! Mit ihnen schwemmtest du alle Bangigkeit hinweg, die noch zwischen mir und diesem Hause stand, mit ihnen machtest du auch das letzte ungeschehen, womit ich dein Blut bei mir hätte verklagen können. Mit ihnen gabst du meiner Sehnsucht ihre alte, schwer vermißte Heimstatt zurück. O Anna, wie liebte ich dich schon um dieser Tränen willen! Und was waren alle Blumenwunder Persiens gegen deinen Strauß weißer Frühlingsglocken, die hier im Norden später aufstehen als im deutschen Vaterland. Blaß, keusch, ein wenig erschrocken vor dem Rauschen der Tauwasser, ein wenig allzubescheiden im schenkenden Wind des jungen Jahrs! O Anna, ich werde dich hinfort Anemone nennen!42
Niehusens Bericht über Flemings Tod, im letzten Kapitel, zitiert fiktive Briefberichte des aus Flemings postumer Werkausgabe bekannten Studenten Caspar Hertranft.43 Am Ende des erzählerisch üppig kolorierten Todeskampfes, in dem Findeisen den körperlichen Verfall drastisch nahebringt, aber auch ein Geflecht quälender Erinnerungsfantasien des Leidenden ausmalt, erscheint Flemings Grabschrift als »vollkommenes Sonett« und letzte Botschaft. Die Sorge um den Nachlass entspricht postulativ der Beharrlichkeit einer großen Liebesbeziehung über den Tod hinaus: Als ich gegen Morgen wieder an das zerwühlte Bett trat, lag der Kranke, mit offenen Augen und blickte mich beschwörend an, als habe er schon lange auf mich gewartet. Dann hob er ein wenig die abgezehrte Hand, forderte seine Schreibtafel und fügte, indes ich ihm den Arm stützte, mühsam Wort an Wort. Auch stieß er dabei ein paar röchelnde Sätze hervor: Olearius solle um seine Gedichte Sorge tragen, seine liebe Anemone solle ihn nicht vergessen! Als er abermals in Ermattung zurückgesunken war, bemühte ich mich um das Gekritzel auf dem Papier. Und was entzifferte ich staunend? Hohe Worte, abgeklärte Reime, Grabgedanken eines Geistes, der Tod und Leben überwand, ein vollkommenes Sonett.44
Als Amalgam narrativer Imaginationen und dokumentarisch-zitathafter Dokumentationen schließen sich die beiden in der DDR erschienenen FlemingRomane strukturell an die der NS-Zeit an. Ideologisch unauffällig gibt sich die von Werner Legère (geb. 1912) stammende Vita In allen meinen Taten. Ein PaulFleming-Roman (Berlin/Ost 1982). Legère, in Hohenstein-Ernstthal geboren und wie schon Findeisen vielleicht seinem Helden auch aus regionalpatriotischen Motiven zugeneigt, bewährte sich seit den 1950er Jahren mit einer Reihe teilweise für die Jugend bestimmter historischer Romane.45 Sein Fleming-Buch ist gut recherchiert und beweist die gründliche Erkundung weiterer kulturhistorischer Zusammenhänge. Die ›große‹ Geschichte wird in der figuralen Psychohistorie situativ und emotional versinnlicht, etwa in der expositorischen Schilderung der Stimmung in Leipzig angesichts der drohenden Belagerung. Dabei erweist sich 42 43
44 45
Ebd., S. 258f. Zur Vita Flemings maßgeblich die glänzende Monographie von Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, hier zur Herkunft S. 526– 531. Findeisen (Anm. 34), S. 289. S. das Werkverzeichnis bei Kosch (Anm. 11), Bd. 9 (1984), Sp. 1108.
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der Erzähler als allwissend, insofern er die Erlebensoptik seiner Figuren durch anderweitige Nachrichten zu erweitern weiß, auktoriale Kommentare zur Eigenart und Entstehung der Werke von Fleming und Olearius beisteuert,46 kulturhistorisches Wissen mit Detailfreude einflicht (etwa zu Flemings Medizinstudium) oder auch über Flemings Büchernachlass in Reval Bescheid weiß.47 Zu verfolgen ist der unbefangene Dialog des Romanciers mit den Textquellen und der Literaturwissenschaft, ein Dialog, der nicht problematisiert wird und zu einem erzählerischen Gestus führt, dessen Prätexte, markiert oder nicht markiert, zum frei entfalteten Wissensfundus gehören. Dabei ergeben sich abseits des dokumentarisch Gesicherten immer wieder Szenen, die sich die älteren Romane haben entgehen lassen: etwa in Kapitel II Flemings Abschied von den Eltern, gestaltet als dialogisches Figurenpsychogramm des strengen, doch schließlich auf Gott vertrauenden Vaters und Pfarrers und der weinenden, sich vor Angst windenden Mutter: Abraham Fleming legt die Hände auf die Schultern Ursulas. »Wenn Gott der Herr den Herzog zusagen läßt, daß Paul an der Gesandtschaftsreise teilnehmen kann, was soll dann unser Bangsein? Es hieße doch, sorgten und ängstigten wir uns seinetwegen, dem nicht zu vertrauen, von dem König David im 23. Psalm singt: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Ursula Fleming zieht seine Hände herunter, umschließt sie mit den ihren und legt ihren Kopf darauf. »Verzeih mir, Abraham! Ich war verzagt und kleingläubig. Der Herr hat Paul in Leipzig behütet und beschützt, ihm in den bösen Tagen, die über die Stadt hereinbrachen, kein Leid geschehen lassen und wird auch in fernen Landen über ihn wachen.«48
Legère zitiert die Gedichte Flemings nach einer von Uwe Berger 1977 in Berlin/ Ost herausgegebenen Auswahlausgabe. Die Arbeit an dieser Ausgabe, so ist zu vermuten, bildet eine der Grundlagen für Bergers 1983 ebenfalls in Berlin/Ost erschienenen Roman Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming. Uwe Berger, geb. 1928, gehörte zu den vergleichsweise namhaften und, soweit ich sehe, 46
47
48
Werner Legère: In allen meinen Taten. Ein Paul-Fleming-Roman. Berlin 1982, S. 153: »Wie dem Reisetagebuch Adam Olearius’ Tag für Tag neue Seiten angefügt werden, so auch Paul Flemings Sammlung von Gedichten, zu denen ihn Land, Natur, Menschen und ihre Verknüpfung miteinander anregen, nur eben, daß ein Dichter und kein Chronist wiedergibt, was seine Augen gesehen und seine Ohren gehört haben. Es ist richtig und wichtig, daß der Sekretär und Astronom, Kartograph und Mathematiker mit seinem Astrolabium von allen großen Städten deren genaue Lage feststellt, auch jeden Tag die zurückgelegte Wegstrecke vermerkt, Inseln im Wolgastrom und Berge und Gebirge an seinen Ufern namentlich aufführt, alles für wissenswert und bedeutungsvoll hält, wie es nützlich und gut ist, daß der Dichter Paul Fleming dem Oleariusschen Bild Rußlands Farben hinzufügt, die ihm Leben einhauchen.« Ebd., S. 253: »Gearbeitet hat er vor dem Examen, was er jetzt tut, auch das ist Arbeit, aber dazu braucht er keine Lehrbücher, weder solche der Medizin noch der Poetik, nicht Beguins ›Tyrocinium Chimicum‹ und auch nicht Bachmanns ›Apospasmata Poetica‹. Später wird er vielleicht dann und wann einmal in die Augsburger Pharmakopöe und die anderen Bücher hineinschauen, die er seiner Schwägerin Elisabeth verehelichte von Höveln zum Studium für ihren Eheliebsten, den Pastor an der St.-Olai-Kirche in Reval, zurückgelassen hat. Zwanzig oder einundzwanzig aus seiner ›Liberey‹ sind es, an die genaue Anzahl erinnert er sich im Augenblick nicht, macht sich auch nicht die Mühe, nachzudenken. Nicolai von Höveln wird sie vollzählig zurückgeben.« Ebd., S. 67.
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linientreuen DDR-Autoren.49 Sein Roman konzentriert sich dem Titel gemäß zwar auf Flemings Liebesgeschichte, beginnt aber mit der Reise nach Nowgorod. Beiläufig kommen auch hier schmerzliche Erinnerungen an die neulateinisch gepriesene »Rubella« zu Wort.50 Berger legt Wert darauf, ausgewählte Gedichte nicht zu zitieren, sondern mit deutlichen Aussageakzenten zu paraphrasieren. Dass ein Pferdeknecht, Exponent des Dienstproletariats, »nur verlegen gehüstelt und verstohlen gegähnt hat«, als ihm Fleming Strophen seiner Neujahrsode von 1632 (»Spieß und Degen« werden zu »Pflug und Spaten«) mitteilt,51 deutet mentale Diskrepanzen an. Dessen ungeachtet wird Flemings Ode auf Nowgorod (In Groß-Neugart der Reußen von 1634) zu einem Loblied der Bauern, ja im Text entdeckt Berger statt der topischen »laus ruris« auch »die Sehnsucht eines deutschen Bauernliedes, das sich gegen die Fron empörte« (S. 14).52 Kein Wunder, dass Fleming über den sprachkundigen Brockmann und eine »Amtmannsfamilie« sogar auf ein Feld geführt wird, wo die unterdrückten Esten arbeiten. Fleming greift selbst zur Sense,53 nachdem der Leser über die Unterdrückungsgeschichte der Esten vom Erzählerautor informiert ist,54 und Brockmann macht klar, dass mit Flemings Grab-Schrifft Eines jungen Bären / der gehetzet worden war eindeutig »der unfreie Mensch« gemeint ist.55 Als einen Mann, der »sich zu denen hingezogen fühlte, die entrechtet und zurückgesetzt waren«,56 konnte man Fleming auch in der DDR präsentieren und so das barock-bürgerliche ›Erbe‹ mundgerecht bearbeiten. Bergers Fleming wird zwar noch nicht vorauseilend zum Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft ernannt, doch mit dem Ostlandfahrer der 30er Jahre hat er nichts mehr zu tun. Denn im Gespräch mit Timotheus Polus kann auch der Dichter des 17. Jahrhunderts Bergers Botschaft in der fiktiven Lebenswelt des Romans anekdotisch bestätigen: Wie ich hörte, bedrängen deutsche Vögte die undeutschen Fronbauern oft hart, bereichern sich unrechtmäßig und pfänden jene, wenn sie nicht mehr zahlen können. Hat nicht jüngst deshalb ein Este erst seine Familie und dann sich selbst aufgehängt?57
Selbstverständlich, so weiß der Roman-Fleming, gibt es im russischen Nowgorod keine Ursachen zu solchen Verzweiflungstaten.58 Der Aufenthalt in Reval wird dergestalt immer wieder zur epischen Lehrstunde über archaische Sozialstrukturen, nicht ohne dass schicklicherweise, hier nach dem Gang durch ein Lazarett,
49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Zu ihm s. Killy (Anm. 1), Bd. 1 (2008), S. 466f. Uwe Berger: Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming. Berlin 1983, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 42.
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Flemings menschenfreundliche Meditationen über eine ferne, aber lockende Zukunft beschworen werden (S. 49): Wie wird es in ferner Zukunft sein, dachte er. Kriege begünstigten die Seuchen, und die Seuchen konnten schlimmer wüten als der Krieg. Beiden mußte begegnet werden. Aber würde die menschliche Vernunft ausreichen, die Kriege der Krankheit und die Krankheit der Kriege zu überwinden? Und angenommen, beides gelänge, müßte nicht die Zahl der Menschen ins Unendliche steigen? Würden nicht die Unterschiede zwischen arm und reich noch unerträglicher werden? Das Verlangen nach Gerechtigkeit, das dann unabweisbar war, lag eigentlich schon jetzt allen Forderungen der Vernunft zugrunde. Würde aber der Mensch heute, künftig und jemals in der Lage sein, diesem Verlangen nachzukommen, oder würde er der Spielball außermenschlicher Kräfte bleiben?59
Auch weibliche Belange kommen, sozialpolitisch korrekt und offenbar unvermeidlich, keinesfalls zu kurz, indem Anna Niehusen den mittlerweile endlich erreichten Fortschritt ihrem Dichterfreund und damit auch dem Leser ex negativo verdeutlicht (Horaz- und Ariostleserinnen dürfen sich freuen): Ich will dein guter Geist sein. Aber sonst? Was bleibt mir außer einkaufen, kochen, lesen und sticken? Ich habe darüber nachgedacht, wie ich deiner wert werden könnte, und versucht, den Horaz, den Ariost und den Grotius zu lesen. Freilich möchte ich auch etwas tun. Aber darf eine wie ich Kranke pflegen oder Kinder außer ihren eigenen erziehen? Eigene möcht ich schon […].60
Zum Schluss feilt Fleming an seinem letzten Sonett. Die hier formulierte Bitte um Verzeihung bewegt Herrn Berger zu einem fragenden Kurzkommentar: »Was aber sollten sie ihm verzeihen? Seinen Ruhm? Seinen Tod? Alles Menschliche?«61 Schuldfragen stören. Der sterbende Fleming ahnt als Dichterseher voraus, was Poesie in ferner Zukunft ganz abgesehen von der eigenen Person, dem bürgerlichen Individuum, zu bedeuten habe. Man geht kaum Fehl in der Annahme, in Bergers/Flemings Satzkaskaden die Töne von Johannes R. Bechers Parteitagslyrik zu erspüren: »Immer hab ich sehend gedacht. Eigentlich gehören die guten und besten meiner Verse gar nicht mir selbst. Aus mir sprechen die Menschen, die hoffen, die leben, die sich befreien, die sich mit Achtung und in Liebe aufrecht begegnen wollen. Schwer lastet auf ihnen das Verhängnis von Unfreiheit, Krieg und Krankheit, von Pest und Mord, Machtrausch und Habgier. Vielleicht werden sie einmal das eine oder das andere oder alles mit einem abschütteln oder doch in Schranken halten lernen ... Dann begleiten sie die Menschenträume dieser Gedichte dahin ... Und eine Dichtung, die aus Erfüllung und im Kampf neue Träume gebiert, wird sie aufnehmen und weiterträumen … Eine Dichtung freier Menschen, die sich zusammenschließen nach dem Gesetz der Notwendigkeit, der gegenseitigen Achtung und der Verteidigung gegen die fortdauernde Bedrohung des Menschen durch die Krankheit des Krieges und den Krieg von Krankheit und Not ...« Fleming hatte sich aufgerichtet und mit stockender, zum Schluß immer leiser werdender Stimme gesprochen. Olearius beugte sich zu ihm hinab und hielt ihn. Fleming atmete schwer. Nach einer Pause flüsterte er: »Sie wird nicht mehr aus der Einsamkeit kommen, hörst du... Die Dichtung wird Teil einer Kunst sein, die vielen, ja 59 60 61
Ebd., S. 49. Ebd., S. 48. Ebd., S. 146.
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allen gehört, Herz und Vernunft eint im ewig wechselnden Traum von der Schönheit des Lebens […].«62
Wer sich unter den namhafteren Literaten in Westdeutschland umschaut, wird sich an Rudolf Alexander Schröders umfangreichen Essay erinnern, der schon Anfang der 1930er Jahre entstand und später in seiner Sammlung Dichtung und Dichter der Kirche publiziert wurde.63 Albrecht Goes widmete Fleming Gedenkblätter, die Erinnerungen von 1939 berufen, als im Gespräch zweier Männer die SchlussStrophe aus Flemings Psalmlied »In allen meinen Taten« als Wegweisung in dunkler Zeit empfohlen wurde: »Aber in diesem Augenblick lebte das Werk Paul Flemings wie nur je eines Dichters Wort.«64 Zum Umkreis christlicher Autoren zählte auch der zeitweise in Estland lebende Edzard Schaper, der 1959 Flemings gedachte.65 Nach Estland führt auch ein enger Freund Rudolf Alexander Schröders, der in Reval geborene baltendeutsche Lyriker, Essayist und Erzähler Otto Freiherr von Taube (1879–1973):66 Seine umfangreiche, in der Fleming-Literatur meines Wissens bisher unbeachtete Erzählung Fleming in Reval erschien in von Taubes Werksammlung Die Metzgerpost. Ein Roman und acht historische Erzählungen (Hamburg 1962).67 Das Werk besticht im Vergleich zu den bisher genannten Opera vor allem durch eine genaue Vertrautheit mit den Örtlichkeiten Revals und mit deren Familiengeschichten – in einer geradezu verwandtschaftlichen Intimität. Dies wird dadurch bekräftigt, dass von Taube im Nachwort seiner Sammlung den eigenen Weg zu Fleming bis auf Kindheitserlebnisse in Reval und auf dem heimatlichen Landgut in der Nähe Revals zurückführt:
62 63
64 65 66
67
Ebd., S. 166. Paul Fleming. Ein Blick auf sein Leben und seine Werke. In: Rudolf Alexander Schröder: Abhandlungen und Vorträge. Bremen 1931, S. 153–200 (nach Krahé (Anm. 5), S. 14), unter dem Titel Paul Fleming. 1935 in: Rudolf Alexander Schröder: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Berlin/Frankfurt a. M. 1952, Bd. 3: Die Aufsätze und Reden Bd. 2. Berlin/Frankfurt a. M. 1952, S. 651. Albrecht Goes: Paul Fleming. In: Ders.: Die guten Gefährten. Begegnungen. Gütersloh 1977, S. 20–26, hier S. 25. Edzard Schaper: Paul Fleming. Zum 350. Geburtstag des Dichters am 6.Oktober 1959. In: Ostdeutsche Monatshefte 25 (1959), H. 11, S. 140–143. Zu von Taube s. zuletzt Hugo von Hofmannsthal und Otto Freiherr von Taube: Briefe 1907– 1929. Mitgeteilt und kommentiert von Klaus E. Bohnenkamp und Waldemar Fromm. In: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 14 (2006), S. 147–237; Rudolf Kassner und Otto Freiherr von Taube. Eine Dokumentation aufgrund der Briefe Kassners an Taube. Mitgeteilt von Klaus E. Bohnenkamp. In: Ebd., S. 239–367. Ein Werkverzeichnis (mehr als 1 000 Titel) bietet: Otto Freiherr von Taube. Sein Werk. Eine Bibliographie. Zusammengestellt von Maria von Taube und Richard Lemp. München (1969). Ferner unter anderem Manfred Rosteck: »Diese leidige Zeit«. Studien zum Werk des baltendeutschen Dichters Otto Freiherr von Taube. Hamburg 1996 (zugl. Diss. Heidelberg); Regina Mosbach: Die Ohnmacht der Verzweiflung. »Innere Emigration« am Beispiel Otto von Taubes. In: Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Lit. und Drittes Reich. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin 2003, S. 55–74. In Vorbereitung (erscheint 2011) der von Taube-Artikel von W. Kühlmann in Killy (Anm. 1) sub verbo. Otto von Taube: Fleming in Reval. In: Ders.: Die Metzgerpost. Ein Roman und acht historische Erzählungen. Hamburg 1962, S. 231–285.
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Doch wieder kehrte ich zurück zu einem Kindheitserlebnis: Ein häufiger Gesprächsgegenstand der Erwachsenen bei Tisch war die Reise der holsteinischen Gesandtschaft im Jahre 1634 nach Persien, die mit einem langen Aufenthalt in Reval verbunden war, wo manche ihrer Mitglieder ihre Ehehälften fanden, unter ihnen Adam Olearius, dem wir die genaue Beschreibung dieser Fahrt verdanken. So war mir denn Olearius, dessen Werk ich zwar später durcharbeitete, ein Bekannter schon seit Kindertagen, desgleichen einige seiner Mitreisenden, darunter der Dichter Paul Fleming. Noch ehe ich sein in unsere Kirchenlieder aufgenommenes Gedicht »In allen meinen Taten« kannte, las ich in der Anthologie baltischer Dichtung von unserem Freunde Christoph Mickwitz weltliche Gedichte von ihm; Liebesgedichte, zum Teil gerichtet an seine erste Revaler Braut und, als sie ihm untreu geworden war, an seine zweite, Versgebilde, die mir zunächst ob ihres Barocks fremdartig waren, doch danach vertraut wurden. Und weiter: Als ich nach einundzwanzig Jahren zum ersten Mal meine Vaterstadt Reval wiedersah, sprach man dort wie ehemals von der Perserfahrt des Olearius, ja behauptete, der schlanke Revaler Rathausturm sei errichtet nach Zeichnungen orientalischer Minarette, die Paul Fleming seiner Verlobten gesandt habe. Leider trifft das nicht zu. Doch die Geschichte dieses Rathausturmes begann mich zu beschäftigen. Ihn ließ der damalige Ratsherr Müller auf eigene Kosten errichten und an ihm die bürgerlichen Wappen seines Geschlechtes und das seiner Gattin, der Urenkelin des Knochenhauers (Metzgers) Pröpsting aus Riga, anbringen: sein Mühlrad, ihren Stier. Auch die Familie Müller wurde für meine Erzählung wichtig, heiratete doch einer der beiden holsteinischen Gesandten, Philipp Crusius, eine der Müllertöchter, und so fand ich mich selbst als Nachkommen einer Schwester der Frau Müller.68
Mit diesem Zitat möchte ich meinen kleinen literarischen Spaziergang beenden. Kaum mehr als einige Schlaglichter waren zu werfen auf eine erzählerische Landschaft, in der Leben und Werk Flemings abseits der akademischen Sphäre und doch in mehr oder weniger osmotischer Beziehung zum Editionsstand und jeweiligen Forschungsdiskurs Interesse fanden. Wir haben es zu tun mit ideologisch diversen Rekonstruktionen biographisch zentrierter Lebenswelten. Wissen wird benützt und zugleich imaginativ konzeptualisiert, in diesem Fall als Form von Barockrezeption, die für das 19. und 20. Jahrhundert bisher nur in wenigen Schneisen gesichtet und erforscht ist. Die Barockdichter in Günter Grass’ Treffen in Telgte (1979) konnten Flemings nur noch als eines leider schon verstorbenen großen Kollegen gedenken.
68
Ebd., S. 348.
Dieter Martin
Plädoyer für eine neue Fleming-Ausgabe Das Fehlen einer Ausgabe von Paul Flemings sämtlichen Werken, die dem gegenwärtigen Kenntnisstand entsprechen und modernen editionsphilologischen Maßstäben genügen würde, ist immer wieder beklagt worden.1 Dass dieses Desiderat nicht von einem Einzelnen und nicht im Handstreich zu erledigen ist, liegt auf der Hand. Daher versteht sich der vorliegende Beitrag nicht als Ankündigung eines demnächst konkret auf den Weg zu bringenden Editionsprojekts, sondern ausdrücklich als ein an die Gemeinde der Fleming-Forscher gerichtetes Plädoyer, das die Ausgangssituation resümieren, alternative Wege vor Augen führen und ein Gespräch eröffnen möchte. Zu diesem Zweck skizziere ich erstens die Editions- und Quellenlage und leite daraus zweitens Lösungsmöglichkeiten für eine angemessene Präsentation des Materials ab.
1. Editions- und Quellenlage Die bislang einzige Gesamtausgabe von Flemings lateinischen und deutschen Gedichten stammt aus dem vorletzten Jahrhundert.2 Die Leistung, die Johann Martin Lappenberg in den 1850er und 1860er Jahren vollbracht hat, kann man nicht ausdrücklich genug würdigen.3 Als Pionier, der große Teile von Flemings lateinischen Dichtungen erstmals aus den Handschriften ediert und das deutschsprachige Werk mit intensiven bio-bibliographischen Recherchen weitreichend erschlossen hat, schuf Lappenberg die Basis aller weiteren Forschungen. Die Hochachtung vor Lappenberg bedeutet aber nicht, dass seine damaligen editorischen Entscheidungen heute noch verbindlich wären und dass man seinen Angaben durchgehend vertrauen könnte. Im Wesentlichen lassen sich vielmehr drei Problemkreise erkennen, aus denen sich die Notwendigkeit einer neuen Fleming1
2
3
So, um nur eine Stimme aus berufenem Munde anzuführen, von Klaus Garber: Paul Fleming (1609–1640). Zum 400. Geburtstag des Dichters. In: Zeitschrift für Germanistik. N.f. 3 (2009), S. 626–630, hier S. 628; vgl. zuvor Martin Klöker: Paul Fleming anonym in Riga. Der bisher unbekannte Erstdruck von Oden IV, 31. In: Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. Hg. v. Klaus Garber u. Martin Klöker. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 87), S. 283–301, hier S. 301 (mit Anm. 37). Paul Fleming: Lateinische Gedichte. Hg. v. Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1863 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 73), ND Amsterdam 1969; Paul Fleming: Deutsche Gedichte. Hg. v. Johann Martin Lappenberg. 2 Bde. Stuttgart 1865 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 82 u. 83), ND Darmstadt 1965 (vgl. das Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen in diesem Band). Zur Gesamtleistung des Gelehrten vgl. Rainer Postel: Johann Martin Lappenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert. Lübeck und Hamburg 1972, zur Fleming-Ausgabe hier S. 269–273.
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Dieter Martin
Ausgabe ergibt: erstens Lappenbergs Behandlung der Texte, zweitens seine Textanordnung und drittens die aus aktueller Sicht mangelhafte Materialbasis seiner Edition. Lappenbergs Behandlung der Texte beruht auf der Einsicht, dass die zeitgenössischen Drucke, vor allem die oftmals als einzige Quelle zur Verfügung stehenden postumen Teütschen Poemata, vielfach einen verderbten Text bieten.4 Dass auch ein moderner Editor nach strenger Prüfung hie und da bessernd eingreifen oder Konjekturen vorschlagen würde, steht angesichts der Überlieferungslage wohl außer Frage, denn selbst bei engster Auslegung des ›Textfehler‹und ›Druckfehler‹-Begriffs bleiben zahlreiche Stellen, die editorischer Entscheidungen bedürfen. Dagegen wird man Lappenbergs massive Vereinheitlichung der Graphie, mit der er »diejenige reinere Schreibart durchzuführen« trachtet, »welche Fleming in den von ihm selbst in den späteren Jahren herausgegebenen Gedichten erweislich befolgte«,5 und erst recht seine oft interpretierende, nicht näher begründete, aber offensichtlich auf den aktuellen Leser berechnete Modernisierung der Interpunktion heute gewiss nicht mehr wiederholen wollen. Als außerordentlich problematisch muss zweitens Lappenbergs Anordnung der Texte gelten. Aus den Mängeln der postumen Ausgabe, über deren Redaktion und verzögerte Drucklegung letzte Klarheit wohl nicht mehr zu gewinnen ist,6 leitet Lappenberg nämlich die Berechtigung zu einer merkwürdig gemischten Neuordnung ab. Er behält die Rubriken der Teütschen Poemata bei, sortiert aber innerhalb der Abteilungen nach einer notwendig vagen Chronologie um, die er zum kleineren Teil aus den Daten der ihm vorliegenden Erstdrucke, zum größeren Teil aber aus inhaltlich-biographischen Indizien ableitet: Im ersten Buch der Poetischen Wälder stehen daher, gegen die Abfolge in den Teütschen Poemata, die 1631 zuerst gedruckten Bußpsalmen vor dem 1632 herausgekommenen Klag-Gedicht vom unschuldigen Leiden Christi.7 Ganz wesentlich nach biographistischen Überlegungen werden dagegen etwa die kaum in frühen Drucken bezeugten Liebesdichtungen der Reisezeit umsortiert. Kritikwürdig ist dieses Verfahren nicht allein, weil Lappenberg die Gedichte – trotz vieler richtiger Recherchen – doch oftmals spekulativ und intuitiv anordnet. Editionsphilologisch unsauber bleibt vor allem die Mischung von zwei so nicht vereinbaren Prinzipien, einerseits der thematisch-formalen Einteilung der Gedichte und andererseits ihrer Anordnung nach der Chronologie. Lappenbergs Vermengung des entstehungschronologischen Prinzips ›der ersten Hand‹ mit dem retrospektiv ordnenden Kriterium ›der letzten Hand‹ verstößt gegen die historische Faktizität des Materials und ergibt einen hybriden 4 5 6
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Vgl. Lappenberg in DG 2, 894–900 (die bisherigen Ausgaben der deutschen Gedichte und Plan der neuen), hier S. 896f. zur »Feststellung der Orthographie des deutschen Textes«. Ebd., S. 896f. Vgl. hierzu die Überlegungen von Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989, S. 529–535, und von Klöker: Fleming anonym (Anm. 1), S. 296–301. TP 2–15 (Klag-Gedicht) u. 15–29 (Psalmparaphrasen samt Gebet Manasse, ohne Gesamttitel); DG 1, 3–15 (Text der Bußpsalme von 1631 samt Widmungssonett und Gebet Manasse) u. 15–27 (Klagegedichte).
Plädoyer für eine neue Fleming-Ausgabe
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Gemischtwarenladen. Zugeschärft wird diese prinzipielle Problematik durch die aus heutiger Sicht unzureichende Materialbasis seiner Ausgabe. Lappenbergs Bibliographie umfasst lediglich 31 vor Flemings Tod erschienene Drucke, von denen ihm einige nur aus älteren Verzeichnissen bekannt waren.8 Die Verbreiterung dieser Basis vollzog sich in mehreren Schüben: Großen Anteil hatten zunächst die gerne gescholtenen Positivisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Hermann Oesterley und Karl Goedeke, die beispielsweise unselbständige Erstdrucke mehrerer Trauergedichte nachgewiesen haben.9 Fast ein Jahrhundert später griff vor allem Marian R. Sperberg-McQueen die liegen gebliebenen Fäden wieder auf und versammelte die Früchte ihrer Forschungen in einer Reihe von Beiträgen,10 die jeder weiteren textkritischen Beschäftigung mit Fleming ebenso unverzichtbar sind wie der große Aufsatz Klaus Garbers über Paul Fleming in Riga von 1988 und die im Folgejahr erschienene Fleming-Biographie von Heinz Entner.11 Das 1990 vorgelegte Fleming-Kapitel in Dünnhaupts Personalbibliographien, das nunmehr 70 Einzelveröffentlichungen zählt, nimmt die bis dahin vorliegenden Ergebnisse12 weitgehend zuverlässig, aber keineswegs lückenlos 8 9
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Vgl. DG 2, 835–850 (Bibliographie). Hermann Oesterley: Zu Paul Fleming. In: Archiv für Litteraturgeschichte 14 (1886), S. 41– 47, und Karl Goedeke: Zu Paul Fleming. In: Archiv für Litteraturgeschichte 14 (1886), S. 369–372. – Zuvor hatten Wilhelm Loose: Paul Fleming an seinen Vater. In: Archiv für Litteraturgeschichte 3 (1873), S. 64f., einen autographen Brief des Dichters und Wendelin von Maltzahn: Ein Gedicht von Paul Fleming. In: Archiv für die Geschichte deutscher Sprache und Dichtung 1 (1874), S. 448–451, mitgeteilt. Später veröffentlichte Johannes Bolte: Zwei Stammbuchblätter Paul Flemings. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 34 (1890), S. 78–80. Die vorerst wichtigsten bibliographischen Ergänzungen zu Lappenberg brachte Moritz Geyer: Zur Bibliographie Flemings. In: Schönburgische Geschichtsblätter 2 (1895/96), S. 165–169. Aus dem frühen 20. Jahrhundert sind noch zwei Miszellen zu nennen: Franz Saran: Zu Paul Fleming. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 44 (1912), S. 79, sowie Carl Vogt: Zu Gelegenheitsgedichten von Simon Dach und Paul Fleming. In: Euphorion 20 (1913), S. 155–158. Marian R. Sperberg-McQueen: Gedichte von Paul Fleming in der Stolbergschen Leichenpredigten-Sammlung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 1–8; dies.: Paul Fleming’s Inaugural Disputation in Medicine: A »lost« work found. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), S. 6–9; dies.: Neues zu Paul Fleming. Bio-bibliographische Miszellen. In: Simpliciana 6/7 (1984/85), S. 173–183; dies.: Paul Fleming. A report on a newly-found poem and imprints in Zwickau and Wrocław. In: Michigan Germanic studies 12 (1986), S. 105–132; dies.: Zu Paul Fleming: Erstdrucke seiner Gedichte in Erlangen. In: Simpliciana 11 (1989), S. 263–265; dies.: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill und London 1990; dies.: Leipzig pastoral. Two epithalamia by Martin Christenius, with a note on Paul Fleming. In: Opitz und seine Welt. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam 1990 (Chloe 10), S. 489–503; dies.: An autograph manuscript of early poems by Paul Fleming in the Ratsschulbibliothek in Zwickau. In: Humanistica Lovaniensia 42 (1993), S. 402–450. Klaus Garber: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift Marian Szyrocki. Hg. v. Norbert Honsza u. Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 255–308; Entner (Anm. 6) gibt seine wertvollen Nachweise vielfach versteckt in seinen Anmerkungen. Neben den genannten Aufsätzen sind heranzuziehen: Joseph Leighton: Paul Fleming’s sonnet ›Bei einer Leichen‹. In: Modern Language Review 71 (1976), S. 327–329; Barbara Becker-Cantarino: Drei Briefautographen von Paul Fleming. In: Wolfenbütteler Beiträge
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auf.13 Stellt man – wie im Anhang des vorliegenden Beitrags geschehen – die bei Dünnhaupt fehlenden Nachweise von Garber und Entner, die seit 1990 von Hans-Jürgen Gabler und Martin Klöker neu erfassten Frühdrucke sowie weitere selbst aufgespürte Fleming-Publikationen zusammen,14 so sind nochmals elf zuvor unbekannte Drucke, die zu Flemings Lebzeiten erschienen sind und zum Teil mehrere seiner Gedichte enthalten, sowie zwei bei Dünnhaupt unvollständig erfasste Einträge (Nr. 8.1 und Nr. 61) zu zählen. Mustert man diese Liste neuer Funde näher, so lassen sich symptomatische Überlegungen zur Quellenlage anstellen und von da aus die Aufgaben sowie konzeptionellen Möglichkeiten einer Neuausgabe beschreiben. Erstens finden sich, wenn auch in geringerem Maße, erstaunlicherweise immer noch selbständige Drucke von Flemings Gelegenheitsdichtungen: Der von Gabler aufgefundene Erstdruck von Flemings Ode an Heinrich Schütz (Nr. 52 A) sowie die bislang unentdeckt in Hannover liegende Erstausgabe seiner Ode auf die Hochzeit des Kaufmanns Heinrich Scherll (Nr. 55 B) tragen beide Flemings Namen auf dem Titel, blieben aber lange verborgen, weil sie in zuvor nicht detailliert katalogisierten Sammelbänden eingeheftet sind. Anzugliedern ist der ebenfalls selbständig erschienene Einblattdruck von Flemings Danck-Lied auf die glückliche Errettung von Schiffbrüchigen (Nr. 67 A), der wohl deshalb unbeachtet blieb, weil Fleming den Text nicht gezeichnet hat15 – auch damit wäre bei systematischen Recherchen zu rechnen. Zweitens, in der Regel schwieriger zu ermitteln, handelt es sich um unselbständige Drucke von Flemings Gedichten. Dieser Überlieferungstyp lässt sich wiederum nach Anlass und Textsorte untergliedern. So finden sich mehrere
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4 (1981), S. 191–204; Paul Fleming: Zwei unbekannte Gedichte auf Martha Elisabeth Aeschel, geb. Herold (1631). Hg. v. Martin Bircher. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), S. 10–14; John Roger Paas: Ergänzende Einzelheiten zu Paul Flemings deutschen Einblattdrucken. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11 (1984), S. 14f.; Henry F. Fullenwider: Paul Flemings Carmen für Johannes Matthias Meyfart. In: Wolfenbütteler BarockNachrichten 13 (1986), S. 74–77; Bo Andersson: Ein titelloses Begräbnis auf Anna Bach. Zu Paul Flemings »Gedanken über der Zeit«. In: Text und Kontext 15 (1987), S. 7–42. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, II), S. 1490–1513. Hans-Jürgen Gabler: Paul Flemings Ode auf Heinrich Schütz. In: »Nicht allein mit den Worten«. Festschrift für Joachim Dyck. Hg. v. Thomas Müller u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 30–38; Klöker: Fleming anonym (Anm. 1); ders.: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Teil 1: Darstellung. Teil 2: Bibliographie der Revaler Literatur. Drucke von den Anfängen bis 1657. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 112); Dieter Martin: Fortgesetzte Trauer. Ein unbekannter Druck mit Begräbnisgedichten Paul Flemings. In: Daphnis 35 (2006), S. 695–711. – Editorisch relevant sind ferner die Beiträge von Heinz Entner: Die Paul-Fleming-Werkhandschrift der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 17 (1990), S. 73–82; Kyra Robert: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der Estnischen Akademie der Wissenschaften. In: Daphnis 22 (1993), S. 27–39; und Sperberg-McQueen: An autograph manuscript (Anm. 10). So die plausible Annahme von Klöker: Fleming anonym (Anm. 1), S. 283f.
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poetische Beiträge Flemings in universitären Dissertationen und Disputationen: Dazu zählen die von Entner im Leipziger Universitätsarchiv aufgespürten Drukke (Nr. 6 A und 7 A) sowie die bislang auch als Text noch unbekannte lateinische Ode an den Respondenten Johannes Wranovecius (Nr. 38 A), den Fleming mit Argus und Lynceus vergleicht, also manieristisch wegen seines besonderen Erkenntnisvermögens preist. Fündig wird man ferner in Leichenpredigten, die Fleming mit Trauergedichten bereichert hat: Wie intensiv Fleming an der Hochkonjunktur dieser Textsorte in Zeiten von Krieg und Krankheit partizipierte, zeigen seine Beiträge zu den 1633 gedruckten Drey Leichpredigten von Polycarp Leyser (Nr. 44 A).16 Außer im Appendix prosaischer Gebrauchstexte universitärer und kirchlicher Provenienz lassen sich Flemings Gedichte auch in rein poetischen Sammeldrucken zu Hochzeiten, Examina und anderen Anlässen aufspüren: so etwa ein zum Laurus Philosophica Johanni Sybelio beigesteuertes Sonett auf seines werthen Freundes Abreise (Nr. 41 A), ein Epigramm auf ein Hochzeitspaar (Nr. 42 A), und spät noch lateinische Gedichte in Lob- und Geleitschriften, die am Ende der großen Reise erschienen sind (Nr. 71 A und B). Die Neufunde der letzten 15 Jahre dokumentieren, welch ein Gewinn die bessere Zugänglichkeit osteuropäischer Bibliotheken und die intensive Erschließung der Gelegenheitsschriften im VD17 bedeutet. Zugleich befestigt und vertieft die wachsende Zahl der Erst- und Einzeldrucke das Bild von Flemings Publikationsaktivitäten: Wo immer möglich, hat er sich als Dichter in das literarische Feld seiner Zeit und seiner jeweiligen Umgebung eingeschrieben. Während er auf der Reise kaum publizieren konnte, nutzte Fleming in Leipzig und Reval alle Möglichkeiten, sich öffentlich Geltung zu verschaffen. Die Vorzüge der Erstdrucke liegen dabei klar auf der Hand: Sie bieten erstens in aller Regel einen ›besseren‹ Text als die postumen Sammlungen, bei denen meist zweifelhaft bleibt, ob Veränderungen gewollt oder auf Verderbnisse zurückzuführen sind: Etliche der in Frühdrucken bezeugten Texte waren Fleming – wie die lateinische Ode auf Wranovecius (Nr. 38 A) – später offenkundig nicht mehr zur Hand17 oder standen ihm nur in unvollständigen Abschriften zur Verfügung wie eine der Oden in den Drey Leichpredigten (Nr. 44 A)18 und das Danck-Lied von 1635 (Nr. 67 A), bei dem nicht sicher zu sagen ist, ob Fleming absichtlich die Schere angesetzt hat, als er das Gedicht in seine Sammelmappe eingegliedert hat.19 Die Frühdrucke erlauben zweitens Einblicke in die Entstehungs- und Wirkungskontexte der Gedichte, die das Verständnis der Dichtungen wesentlich
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Dazu Martin (Anm. 14). Dies bezeugt eindrücklich die umfangreiche Liste jener Gedichttitel, deren Text »dem Authori theils auff wehrenden Reisen wegkommen / theils in guter Freunden Händen« verblieben ist; TP, Bl. Xx ijr–ivv. Hierzu Martin (Anm. 14), S. 700–704. Vgl. Klöker: Fleming anonym (Anm. 1), S. 295f.
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befördern, in das literarisch-kulturelle Leben, in das hinein Fleming seine Werke geschrieben hat. Beides belegt exemplarisch die Ode an Heinrich Schütz (Nr. 52 A). Der zehnstrophige Text ist zwar auch in den Teütschen Poemata vollständig enthalten,20 dort aber mehrfach entstellt: Statt »Lethenpfütze« heißt es »Lothenpfütze« (V. 3), statt »Wie erfrischt ihr diß ihr Leben« hat die späte Ausgabe das widersinnige »Wie erfrischt’ ihn diß ihr Leben« (V. 13), und am Ende der sechsten Strophe ist der metrisch reguläre, männliche Reim »schreibt : bleibt« zur weiblichen Kadenz »schreibet : bleibet« geworden (V. 35f.). Deuten wenige Varianten – wie die glättende Umstellung im Schlussvers (»daß die Gegend weit und breit / | froh seyn wird bey solcher Zeit« statt ursprünglichem »Daß die Gegend nach und weit | Froh wird seyn bey solcher Zeit«) – auf Flemings bessernde Hand, so geht die Mehrzahl der Abweichungen ganz klar auf das Konto von Abschreiber, Setzer und flüchtigem Korrektor. ›Besser‹ ist der Text des Erstdruckes aber auch deshalb, weil er eine genauere Datierung erlaubt als der späte Druck, dem die weitergehende Erläuterung des Anlasses fehlt: Als derselbte/ nach Besuchung seiner wiedergenesenden Mutter/ zu Leipzig durchzoge. Dieser Titelzusatz fehlt in den Teütschen Poemata genauso wie jede Datierung. Lappenberg setzt fälschlich 1632 an, und noch Entner meint, die Ode sei 1632 an den in Dresden weilenden Schütz adressiert, zeuge von erstaunlicher Vertrautheit des Leipziger Studenten mit den »Familienverhältnissen« des Kapellmeisters und stehe im Kontext eines von Fleming beim Leipziger Konvent (Frühjahr 1631) konkret gefassten Plans, »nach Dresden zu gehen«.21 Richtig ist vielmehr, dass Fleming die zufällige Anwesenheit des berühmten Krankenbesuchs, genauer: Schütz’ Leipzig-Aufenthalt nach Besuchung seiner wiedergenesenden Mutter (wohl in Weißenfels) dafür genutzt hat, diesen um Protektion zu bitten: In der siebten Strophe ist von »deines Fürsten Gunst« die Rede, die auch Fleming – wenn er »nicht […] gar umbsonst« hoffe – aus seiner derzeitigen »schlechten Acht« zu seiner »Hoffnung Ziel« erheben möge (V. 40–42 u. 48). Die genaue Datierung auf Ende März 1633 ergibt sich aber aus der Unterschrift des lateinischen Widmungsepigramms,22 das der deutschen Ode voran steht und mit dem sich Fleming in einem Druck zugleich als volkssprachiger Dichter und als humanistisch gelehrter Neulateiner präsentiert.
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Zitate im folgenden mit Versangaben im laufenden Text nach dem im Anhang verzeichneten Erstdruck bzw. nach TP 412–414 (für den postumen Abdruck). Der ursprüngliche Wortlaut findet sich außer bei Gabler (Anm. 14), S. 31–33, auch in der Anthologie: Jhr sollet Schatz und nicht mehr Schütze heissen. Gereimtes und Ungereimtes über Heinrich Schütz – Eine Quellensammlung 1613–1834. Hg. v. Eberhard Möller u. a. Altenburg 2003, S. 68f. Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 56 und 209. »LIPSIÆ IV. ET X. CAL. APRILES. MDCXXXIII. P. FLEMMINGUS.« Die in Anm. 20 zitierte Anthologie löst wohl nicht stimmig auf: »Durchreise am 4. und 10. April 1633«; dagegen datiert Gabler (Anm. 14), S. 33–35, der die irrigen, auf Lappenbergs Datierung (1632) zurückgehenden Angaben in der Schütz-Literatur korrigiert, die Entstehung der Ode auf »Mitte März 1633« (hier S. 34).
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2. Vorschläge für die Anlage einer Neuausgabe Verallgemeinert man die an diesem Beispiel angestellten Beobachtungen, dann ergibt sich sogleich die entscheidende Frage für die Konzeption einer FlemingNeuausgabe: Soll man, wie es die Erstdrucke vielfach tun – man denke nur an das Schreiben Vertriebener Frau Germanien, das Fleming 1631 als Bilingue publizierte, oder an die Arae sowie die Taedae Schönburgicae (1630 und 1631), die jeweils nebeneinander lateinische und deutsche Gedichte enthalten – und wie es sich aus der Abfolge der frühen Einzeldrucke fast zwangsläufig ergibt, das lateinische und das deutsche Werk integral bieten, oder soll man es trennen? Lappenberg trennt bekanntlich die deutschen Gedichte von den lateinischen, und er kann sich dafür gewissermaßen auf Flemings ›letzten Willen‹ berufen: Als der Dichter – während und nach der großen Reise – seine Werke ordnete und zum Druck vorbereitete, separierte er deutsche und lateinische Gedichte voneinander, um sie formal-thematischen Rubriken zuzuweisen. Dass Fleming damit ursprüngliche Zusammenhänge zerrissen hat, scheint ihn selbst weniger bekümmert zu haben als die Absicht, sich einerseits als Teil der neulateinischen Gelehrsamkeit zu präsentieren und andererseits als bedeutender, vielleicht bedeutendster Vertreter moderner volkssprachiger Kunstdichtung in Erscheinung zu treten. Der Kompromiss, mit dem Lappenberg die Texte der ihm bekannten Erstdrucke mit der späteren, von Fleming wohl noch angelegten Ordnung der Sammelausgaben zusammengeführt und auch die nur postum bezeugten Gedichte chronologisch umsortiert hat, ist vom überlieferten Material her nicht zu rechtfertigen. Genauso wenig lässt sich aber eine Neuedition allein auf die Erstdrucke stützen – schon deshalb nicht, weil viele, ja die deutliche Mehrzahl der Texte nicht in Einzeldrucken überliefert sind. Daran wird sich auch nach intensivster Suche in allen fraglichen Beständen und allen einschlägigen Personalschriften der Jahre 1630 bis 1640, wie sie am Anfang eines Editionsprojekts zu leisten wäre, nur noch graduell ein wenig verschieben. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich bei der Disposition einer neuen Ausgabe, die Erstdrucke ihrem besonderen quellenkritischen Wert entsprechend prioritär zu behandeln, im Anschluss daran aber auch die Ordnung der handschriftlich überlieferten oder postum gedruckten Sammlungen sichtbar zu machen. Auf möglichst einfache Prinzipien gebracht, wäre wie folgt zu formulieren: 1. Alle Texte werden in der Abfolge ediert, in der Fleming sie zuerst zum Druck gebracht hat, und sie werden dabei in ihrem ursprünglichen Kontext dokumentiert. 2. Alle Texte, die Fleming zu Lebzeiten nicht zum Druck gebracht hat (oder: bei denen kein entsprechender Textzeuge überliefert ist), werden nach der jeweils frühesten Quelle und in deren Ordnung ediert. Ein wesentliches Ziel dieser konsequent aus dem überlieferten Material gewonnenen Prinzipien soll es sein, Flemings Werke in der Weise und in der Chronologie zu bieten, wie sie selbst zuerst in die Öffentlichkeit getreten sind. Fleming
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hat jede Chance zur Publikation genutzt. Sein Streben, sich in widrigen Zeiten in unterschiedlichen universitären, kirchlichen und anderen casualen Textsorten als Dichter öffentlich zur Geltung zu bringen, historisch zu dokumentieren, dürfte – neben der elementaren Sicherung der Texte, ihrer angemessenen Kommentierung und (im Falle der lateinischen Gedichte) ihrer Übersetzung – eine vorrangige, heutigem Text- und Kontextverständnis angemessene Aufgabe einer neuen Fleming-Edition sein. Praktisch bedeutet dies, dass zunächst alle zeitgenössischen Einzelveröffentlichungen in chronologischer Folge abgedruckt werden. Lateinische und deutsche Werke werden dabei nicht nachträglich getrennt, sondern in genau dem Zusammenhang belassen, in dem sie das damalige zweisprachige Publikum kennenlernte. Das deutsch-lateinische Milieu, auf das Fleming wie kaum ein anderer Dichter seiner Epoche quantitativ und qualitativ gleichwertig zielte, soll auf diese Weise angemessen widergespiegelt werden. Und auch die Kontexte, in denen Flemings Gedichte erschienen sind, sollten sichtbar gemacht werden: Demnach wären die Fremdtexte, denen Flemings Gedichte eingelagert oder angehängt sind, soweit mit zu veröffentlichen (etwa in Petit-Schrift im Editionsteil oder im Kommentar), wie es dem Verständnis förderlich ist. Einer solchen Edition der Erstdrucke, die man als ›dokumentarisch-kontextuelle Ausgabe‹ bezeichnen könnte, wäre ein Apparat beizugeben, der die Abweichungen handschriftlicher Fassungen sowie späterer Drucke verzeichnet. Alle Texte, die zu Flemings Lebzeiten nicht in Drucken überliefert sind, wären – dem zweiten Editionsprinzip zufolge – anschließend nach der jeweils frühesten Quelle und in deren Ordnung abzudrucken. Das heißt: Der Folge der Einzelveröffentlichungen schließen sich die postumen Sammelausgaben in der Chronologie ihrer Publikation und zuletzt die einzig handschriftlich bezeugten Gedichte an. Auch hier würden deutsche und lateinische Sammlungen chronologisch ineinander geordnet, und dort, wo einzelne deutsche Gedichte im lateinischen Kontext stehen, würde dies auch die konsequent an der Überlieferung orientierte Neuausgabe so handhaben. Da allen Gedichten, die Fleming selbst zum Druck gebracht hat, ein Variantenapparat beigegeben werden soll, müssten die mehrfach überlieferten Texte (die insgesamt den kleineren Teil von Flemings Werk ausmachen) nicht nochmals komplett nach den Sammelausgaben und -handschriften abgedruckt werden. Für diese Fälle könnte man sich damit begnügen, die (meist gekürzten) Gedichttitel abzudrucken und einen Rückverweis auf die komplette Edition nach dem Erstdruck anzubringen. So könnte man einerseits Redundanzen vermeiden, aber andererseits doch die Position markieren, die ein Text in der Sammelausgabe einnimmt. Über diese zentrale Frage der Textanordnung sollte ein Konsens erzielt werden,23 bevor weitere Schritte bedacht werden: Ist es wirklich richtig, die frü23
Die Frage von Garber (Anm. 1), S. 628: »Wann endlich wird die Fleming-Edition in Angriff genommen, die den zeitgenössischen Produktions- und Distributionsformen Rechnung trägt, geschlossene Textcorpora in originärer Gestalt darbietet und der Verstümmelung ein Ende bereitet?« werte ich als Plädoyer, das mit den von mir vorgeschlagenen Editionsprinzipien übereinstimmt.
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hen Drucke so stark zu favorisieren und demzufolge deutsches und lateinisches Werk integral zu edieren? Wie schwer wiegt es, dass nur für einen Teil der Gedichte solche frühen Zeugnisse zur Verfügung stehen und der größere Rest eben doch nach den späten Sammlungen zu edieren ist? Oder soll man – trotz der zweifelhaften Überlieferung der Teütschen Poemata – den späten Sammlungen den Vorzug geben, lateinisches und deutsches Werk trennen und die Frühdrucke samt der von ihnen bewahrten Kontexte nur im Apparat dokumentieren? Die Antworten, die auf diese Fragen gefunden werden, haben unmittelbare Konsequenzen für die praktische Arbeit an der Edition: Während die getrennte Bearbeitung des deutschen und lateinischen Werks sich möglicherweise organisatorisch leichter in (antragsstrategisch förderliche) ›Module‹ aufteilen und vielleicht auch besser vermarkten ließe, setzt das hier favorisierte integriert-chronologische Konzept voraus, dass ein mit möglichst hoher germanistisch-neulateinischer Doppelkompetenz ausgestattetes Team Flemings Werk zweckmäßiger Weise in chronologischer Folge abarbeitet. Das dabei entstehende Kontextwissen sollte synergetisch dem erforderlichen Sachkommentar ebenso zugute kommen wie der – ganz zweifellos herkulischen und nicht zu unterschätzenden – Aufgabe einer Übersetzung aller lateinischen Texte, ohne die eine moderne Edition jene Leser nicht finden kann, die sich Paul Fleming mit seinem auf Nachruhm zielenden Werk gewünscht hat.
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Anhang In Dünnhaupts Bibliographie (Anm. 13) nicht verzeichnete Fleming-Einzeldrucke Die vorgezeichnete Nummer gibt an, wo der Druck in Dünnhaupts Nummerierung (vgl. Anm. 13) einzusortieren ist. 6A
1630, 21. August Ad Liberalitatem optum. maxum. προσφωνησις. [Lat. Ode in 24 Versen, Inc: »Propagnem aurei superrinum covi«]. In: Andreas Voigt: Disputatio Ethica, de Liberalitate […]. Respondente Georgio Kerstenio Lipsiensi […]. 12. Calend. Septembris […]. Leipzig: Lamberg 1630, Bl. B 4r f. FLB Gotha: 09 – Pu. 8° 00421b (96); Universitätsarchiv Leipzig: Phil. Fak. B 77 (10); HAB Wolfenbüttel: Xb 8542 (27). – Unterz.: »testando adfectui erga Humaniss. Dn. Præsedem scribsi Paul Flämmig [sic!] Harttenstein.« – Der in LG nicht enthaltene Text ist abgedruckt bei Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 556 f.
7A
1630, Ende D. A. Richtero meo, De Mensuetudine disputandi. [Lat. Epigramm in sechs Versen, Inc.: »Pauca petis«]. In: Christoph Mayer: Positiones Ethicæ de Mansuetudine […]. Respondente Augustino Richtero […]. Leipzig: Lamberg [1630]. Universitätsarchiv Leipzig; BSB München: 4 Diss. 3393 (15). – Unterz.: »Paull Flämming.« – Die Disputation ist terminiert auf den 15. Januar 1631. – Der in LG nicht enthaltene Text ist abgedruckt bei Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 557.
[8.1
1631, 1. Februar] Jesu Christo S. Natalitium […]. [Leipzig: Lamberg 1631]. Universitätsarchiv Leipzig: Phil. Fak. B 78 (89). – Der von Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 557, nachgewiesene Druck enthält, anders als das von Dünnhaupt verzeichnete Exemplar der HAB Wolfenbüttel, zusätzlich ein deutsches Sonett auf die Leipziger Handelsmänner Eduard Becker und Johann Beer (Behr); der nicht in DG enthaltene Text ist abgedruckt bei Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 89 f.
38 A
1632, 9. Juli Ad Dn. Respond. [Lat. Ode in 22 Versen, Inc.: »Centenis oculatior sit Argis«]. In: Vitae & Mortis Domino prosperante, Disputatio Physica De Vita & Morte, Quam In inclyta Philyréa publicè proponunt M. Johannes Sigfridus Svinfurtensis Francus, SS. Theol. Studiosus, Et Johannes Wranovecius Neo-Pragensis Bohemus, Opt. Art. & Philos. Bacc. Med. Studios. Ipsis Nonis Quintilibus […]. Leipzig: Lanckisch 1632, Bl. C 3v f. HAB Wolfenbüttel: Xb 8542 (20). – Unterz.: »Pauli Flemingi, Opt. Art. & Phil. Bacc. P. L.« – Der bislang unbekannte, in LG nicht enthaltene Text lautet:
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Centenis oculatior sit Argis, Millenâ speculatiorque Lynce, Qui nontàm nitidis valens glabellis, Sed puris animi sagacis hirquis, Hostes perpetuô furore Caussas Et Mortis videt, et videt salutis. WRANOVECIUS ille, bellus ille, Et rarâ Juvenis politus arte, In Mortis simul, in simul Salutis Caussarum benè perspicacitate Mirâ, Numina! perspicacitate, Se de Philosophâ sublimis arce Linceum probat Argiumque pullum. Quis dumtale catis acumen hirquis, In Mortis probat, et probat Salutis Hostis indigitatione caussæ, Coram Philosopho gravis Senatu WRANOVECIUS ille, doctus ille, Poßit addubitare jure, quòd sit WRANOVECIUS ille, doctus ille Centenis oculatior vel Argis, Millená speculatiorque Lynce.
41 A
1632, Oktober Auff Herrn M. Johann Sybels/ seines werthen Freundes Abreysen/ Sonnet. In: Laurus Philosophica Johanni Sybelio […]. Wittenberg 1632. Bibl. Ev.PS. Wittenberg. – Unterz.: »In Leipzig schriebs Paull Flemming«. – Nachweis bei Klöker: Literarisches Leben (Anm. 14), Tl. 2, Nr. 590. – Text wieder in: TP 561f.; DG 465f. (mit der falschen Datierung auf Februar 1633).
42 A
1632/33, Winter (?) [Lat. Epigramm, Inc.: »Nescio, quid lepidum vestro meditabar amori«]. In: Favor Genialis […] M. Andreæ Bauero […] sponso: nec non […] Margarethæ Blumianæ […] sponsæ, […] factus a Dnn. cognatis, fautoribus, amicis. Leipzig: Mintzel [1632]. RSB Zwickau: 6.2.13 (35). – Nachweis und Datierung bei Entner: Paul Fleming (Anm. 6), S. 564; in VD17 ist Fleming nicht als Beiträger verzeichnet. – Text wieder in: LG 316.
44 A
1633 [Fünf dt. Gedichte]. In: Drey Leichpredigten Bey Christlicher Sepulturn vnd Begräbnissen Vaters / Eydam vnd Tochter / 1. Des Ehrenvesten / Achtbarn vnd Wolgelarten Herrn JOHAN JLGENS / Rechtserfahrnen auch Bürgers vnd Gasthalters in Leipzig / etc. Welcher den 8. Novembr. zu Nacht nach 9. Vhr in Christo entschlaffen / vnd den 12. Nov. in der Pauliner Kirchen begraben worden. 2. Des Erbarn vnd Ehren-Wolgeachten Herrn Peter Kuch / der Geburt von Nürnberg / Handelsmanns in Leipzig / etc. Welcher den 11. Sept. zu Mittag im HErrn gestorben / vnd den 14. Sept. zur Ruhestatt auff den GottsAcker gebracht worden Vnd 3. Der
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Erbarn vnd Tugendsamen Frawen HELENEN / Jtzo genandten Herrn Peter Kuchs Sel. ehelichen Haußfrawen / vnd Herrn Johan Jlgens eheleiblichen Tochter / etc. Welche den 14. Sept. Abends gegen 10. Vhr diese Welt gesegnet / vnd den 16. Sept. auch auff den Gottesacker bestattet worden Alle im Jahre 1632 gehalten durch POLYCARPUM Leysern / der H. Schrifft Doctorn / Professoren / vnd Superintendenten daselbst. Leipzig: Janson, 1633, Bl. D ijv–D iijr [1]; D iijv [2]; G iijv–H ijv [3]; K iiijv–L ijv [4]; L iijr [5]. ThULB Jena: 2003 A 8449 (10); HAB Wolfenbüttel: Xb 4310 (36); RSB Zwickau: 20.10.9 (26); 49.2.6 (24). – [1]: »Auff des Ehrnvesten Herrn Johan Jlgens S. Abschied«. Nicht unterzeichnet. 40 Verse. Wieder in: TP 130f.; DG 50f. – [2]: »Sonnet An deß Sel. Verstorbenen Geliebte Söhne Christianen vnd Sigemunden / Seine besondere Freunde.« Unterzeichnet: »Paull Flemming«. Wieder in: TP 664; DG 454. – [3]: »Paull Flemmings Trostlied / Vber des Ehrnvesten Herrn Peter Kuchens / Handelsmannes / seliges Absterben / An die hochbetrübte Krancke Wittwe.« 26 Strophen zu sechs Versen. Wieder in: TP 315–319; DG 257–261. – [4]: »PAUL FLEMMINGS Trostlied / Vber seliges Ableben der Tugendreichen Frawen Helenen Jlgens / Welche Jhrem Herrn Peter Kuchen Handelsmannen seligen bald nachgefolget; An der Verstorbenen hochbejammerte Eltern. Jm Jahr 1633.« 14 Strophen zu sechs Versen. Unvollständig wieder in: TP 320f.; DG 262f. – [5]: »Grabschrifft Auff die selig verschiedenen jungen Ehegenossen.« Nicht unterzeichnet. Mutmaßlich von Fleming. Nicht in TP und DG. – Vorstellung des Drucks bei Martin (Anm. 14).
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1633, Ende März Paull Flemings Ode An Herrn Heinrich Schützen/ Churfl. Durchl. zu Sachsen Capellmeistern/ Als derselbte/ nach Besuchung seiner wiedergenesenden Mutter/ zu Leipzig durchzoge. Leipzig: Ritzsch 1633. HAB Wolfenbüttel: Xb 6582; RSB Zwickau: 6.4.35. – Von Gabler (Anm. 14) zuerst vorgestellter Einzeldruck, in dem der deutschen Ode auf dem Titelblatt verso ein datiertes und mit »P. Flemmingus« unterzeichnetes lateinisches Epigramm voransteht. – Epigramm wieder in: LG 395; Ode wieder in: TP 412–414; DG 351–353 (mit der falschen Datierung auf 1632).
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1633, 18. Juni H. Paull Flemings Ode Auff des Ehrnvesten vnd Fürnehmen Herrn Heinrich Scherlls/ Handelsmannes/ Vnd Der vieltugentreichen Jungfrawen Annen Sophien Grünwaldin Hochzeit. [Leipzig] 1633. GWLB Hannover: Cm 250 (26). – Bislang unbekannter Einzeldruck. – Datierung nach der mit Tagesdatum (»Die 18. Mensis Junii«) versehenen Sammlung lateinischer Hochzeitsgedichte zum gleichen Anlass: Acclamationes Votivae Honori ac festivitati Nuptiarum […] Dn. Heinrici Scherlls […]. Fausti ominis ergo a Consangvineis, Affinibus & Amicis dicatae. Leipzig: Ritzsch 1633. – Text wieder in: TP 355–357; DG 290–293.
[61
1635, Januar] [Ein dt. Gedicht und zwei lat. Epigramme]. In: Klagegedichte/ Auff den früzeitigen doch seeligen Hintritt auß diesem Leben Der Erbarn vnd
Plädoyer für eine neue Fleming-Ausgabe
453
Vielehrentugendsamen Frawen Elisabethen/ […] Paulsen […]. Reval: Reusner 1635. NB Riga: R Bs/694 (39). – Unterz.: »M. Paull Fleming P. L. C.« – Dünnhaupt verzeichnet lediglich die deutsche Ode (wieder in: TP 335–338; DG 279–282), nicht aber die von Garber: Fleming in Riga (Anm. 11), S. 296–298, nachgewiesenen lateinischen Gedichte Flemings (wieder in: LG 364f.); vgl. Klöker: Literarisches Leben (Anm. 14), Tl. 2, Nr. 91.
67 A
1635, Dezember Charis Oder Danck-Lied gegen Gott den Allerhöchsten/ An die […] Herren H. Philipp Krusen vnd H. Otto Brugheman/ […] Als dieselbten nach erlittenen hochschädlichen/ doch GOTT sey danck gnädigen Schiffbruch […] wol angelanget. Reval: Reusner 1635. AB Riga: P 2/1 [R35106]. – Von Klöker: Fleming anonym (Anm. 1), zuerst nachgewiesener Einblattdruck; vgl. Klöker: Literarisches Leben (Anm. 14), Tl. 2, Nr. 106. – Text (unvollständig) wieder in: TP 457f.; DG 368f.
71 A
1639, 8. Mai [29 lat. Scazontes, Inc.: »Pridem novellæ temperator ætatis«]. In: Reiner Brocmann: Discursus Valedictorius quem de natura et constitutione historiae […]. Reval: Westphal [1639], Bl. D 3vf. SpBAW Riga: Nr. 91; RSB Moskau: F 810-87/402-3. – Unterz.: »Fecit Revaliæ postrid. Nonas Maij 1639. Paulus Flaminius, Variscus«. – Nachweis bei Garber: Fleming in Riga (Anm. 11), S. 259; vgl. Klöker: Literarisches Leben (Anm. 14), Tl. 2, Nr. 191. – Text wieder in: LG 84f.
71 B
1639, 9. Mai [Lat. Epigramm, Inc.: »Sit tibi, cor Juvenum«]. In: Johannes Newhausen: Panegyricus Ad […] Legatos Magnos […] Dn. Philippum Crusium […] et Dn. Otthonem Brughemannum […]. Reval: Westphal 1639, Bl. C 4v. NB St. Petersburg: 13.6.2.796. – Unterz.: »Testando sincero affectui faciebam, M. Paulus Flaminius, Variscus«. – Nachweis bei Garber: Fleming in Riga (Anm. 11), S. 260; vgl. Klöker: Literarisches Leben (Anm. 14), Tl. 2, Nr. 192. – Text wieder in: LG 453.
Verzeichnis der häufig verwendeten Fleming-Ausgaben und Siglen
DG Paul Flemings Deutsche Gedichte. Hg. v. Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1865. 2 Bde. ND Darmstadt 1965 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 82 u. 83) ABPW Oden PW Sonn. Sylv. Lib. Adopt. Überschr.
Absonderliches Buch Poetischer Wälder (Bd. 2, S. 606–636) Buch I–V der Oden (Bd. 1, S. 229–441) Poetische Wälder, Buch I–V (Bd. 1, S. 1–219) Buch I–V der Sonnetten (Bd. 1, S. 443–536) Sylvarum Liber Adoptivus (Bd. 2, S. 571–605) Buch der Überschriften (Bd. 1; S. 221–228)
LG Paul Flemings Lateinische Gedichte. Hg. v. Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1863. ND Amsterdam 1969 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 73). Epigr. Man. Glog. Sylv.
Epigrammatum Libri I–XII (S. 285–475) Manes Glogeriani (S. 213–283) Sylvarum Libri I–IX (S. 1–212)
TP D. Paul Flemings Teütsche Poemata. Lübeck In Verlegung Laurentz Jauchen Buchh. [1646]. ND Hildesheim 1969.
Abbildungsverzeichnis S. 10 u. 11: Abb. 1 u. 2: TP. – S. 37: Abb.1: Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Bd. 3: Karolingische Biographie 750– 920 n. Chr. Stuttgart 1991 (Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters 10), S. 148. – S. 65: Abb.1: http://en.wikipedia.org/wiki/ File:The_Anatomy_Lesson.jpg [Dezember 2011]; S. 66: Abb. 2: Udo Benzenhöfer: Paracelsus. Hamburg 1997, S. 49; S. 67: Abb. 3: Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition zweier Quellentexte. Leiden/Boston 2005, S. 326; S. 70: Abb. 4: Foto: Johann Anselm Steiger. – S. 133: Abb. 1: Archiv des Verfassers. – S. 183: Abb. 1: Jérémie Koering: Léonard de Vinci. Paris 2003, S. 87; S. 184, 185, 190 u. 191: Abb. 2, 3, 7 u. 8: Archiv des Verfassers; S. 187: Abb. 4: Rudolf Wittkower: Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque. London 41997, S. 50; S. 188: Abb. 5: http://www.henri-iv.culture. fr/fr/uc/04_03_00; S. 188: Abb. 6: Clare Robertson: The Invention of Annibale Carracci. Mailand 2008, S. 308. – S. 279: Abb. 1: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Die Sammlungen der Hessischen Landesund Hochschulbibliothek in Darmstadt. Komm. Ausg. Hg. v. Wolfgang Harms u. Cornelia Kemp. Tübingen 1987, S. 295, Nr. IV, 229; S. 280: Abb. 2: UB Uppsala. Signatur: Planer III, 52a; S. 281: Abb. 3: Print Room des British Museum. Inventarnummer: 1880,0710.454 – PPA76766; S. 282: Abb. 4: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Hg. v. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling. 2 Bde. München: Bruckmann 1998; hier Bd. 1, S. 373, Nr. 1082. Radierung und Typendruck, Bl. 28,8 x 27,1 c, Bild 10,3 x 18,4 cm. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inv. IH 216; S. 294: Abb. 5: British Library London. Inventarnummer: 1875.d.6.(92.) – S. 318: Abb. 1: Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muskowitischen vnd Persischen Reise. Schleswig 1658. Hg. v. Dieter Lohmeier. Tübingen 1971 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 21), S. *19. – S. 375: Abb. 1 u. 2: Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen REJSE / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen […] Durch M. Adamum Olearium […]. Schleswig: Bey Jacob zur Glocken 1647, bei S. 386 u. 473 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 263.1 Hist 2°); S. 391: Abb. 3–9: Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est Emblemata nova de secretis naturae chymica. Faksimile-Druck der Oppenheimer Originalausgabe von 1617 mit 52 Stichen von Matthaeus Merian d. Ä. Hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel u. a. 1964, Titelblatt, S. 137, 89, 29, 173, 125 u. 145. – S. 422: Abb. 1: Gerhard Wimberger: Memento vivere. Für Mezzosopran, Bariton, 3 Sprechstimmen, gemischten Chor und Orchester. Nach Texten von Kurt Marti, Abraham a Sancta Clara, Paul Fleming, Andreas Gryphius u. a. Partitur. Kassel [u. a.] 1977 (BA 6299), Ziffer 134, S. 108.
Namenregister Das Register erfasst alle Namen des Haupttextes, ausgenommen Paul Fleming. Bildunterschriften, Anhänge und Anmerkungen blieben unberücksichtigt. Das Register wurde zusammengestellt von Wolfgang Delseit. a Santa Clara, Abraham 421 Abbās I., Schah v. Persien 333, 369, 382f. Adam, Wolfgang XIII Agricola, Johannes 385f., 396 Albert, Heinrich 412 Alberti, Leon Battista 182 Albrecht V., Hzg. v. Bayern 157 Anckelmann, Theodor 12 Andersson, Bo 97 Angelus Silesius vgl. Johannes Scheffler Apuleius 42, 161 Arend, Stefanie XIII Aretino, Pietro 142 Arminius 235 Ariosto, Ludovico 438 Aristoteles 41, 162f., 186, 217 Arndt, Johann 98, 105, 148–150, 157 Arnim-Boitzenburg, Hans Georg v. 239, 260 Asam, Cosmas Damian 191f. Asam, Egid Quirin 191f. Asbeck, Wilhelm Ernst 431, 433 Assmann, Aleida 244 Astuc, Jean 77 August der Starke 427 Augustinus 113, 141, 169f., 288 Ausonius 40, 42, 161 Bach, Johann Sebastian 97, 143 Bachmann, Conrad 160 Baerle, Kaspar van (Casparus Barlaeus) 352, 362f. Baker, Richard 142 Balde, Jakob 60 Barneken, Nikolaus 306 Barth, Caspar v. 35, 42, 46, 161 Bartholin(us), Thomas 60, 76, 85, 90, 93 Battafarano, Italo Michele 2 Baudrillard, Jean 286 Beatrice (Geliebte Dantes) 175 Bebel, Heinrich 36
Becher, Johannes R. 438 Beck, Michael XIII Beck-Supersaxo, Liselotte 97, 101, 111f. Becker, Cornelius 142, 144 Becker-Centarino, Barbara 371 Beer, Johann 60 Beer, Martin 314 Beetz, Manfred 298 Beißner, Friedrich 237 Belau (Belovius), Johann(es) 311f. Bembo, Pietro 48 Berenburg, Mylius v. 271 Berger, Uwe 436–438 Berni, Francesco 49 Bernini, Gian Lorenzo 181, 185–192 Berschin, Walter 37 Bion v. Smyrna 168 Birken, Sigmund v. 98, 119–121 Boas, Eduard 426, 428 Bogner, Ralf Georg 176 Borinski, Carl 193 Borromini, Francesco 182, 184f. Bourbon, Nicolas 161 Brahms, Johannes 419f. Bramante, Donato 182 Brancaforte, Elio Christoph 370, 377 Brandt, Johann 14 Brant, Sebastian 78, 94 Brehme, Christian XII Bretschneider, Andreas 242 Brockmann, Reiner 363–365, 417, 420, 437 Brüggemann, Otto 301, 319, 333f., 363, 369, 372, 375f., 431 Brüning, Volker Fritz 386 Bry, Theodor de 399 Buchanan, George 161 Buchholtz, Andreas Heinrich 144 Buchner, August 344, 346 Burgkmair, Hans 66 Burkhart, Franz 421
460 Caccini, Giulio 412 Cäsar, Gaius Julius 42 Canby, Sheila 383 Capelli, Rudolph 129 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 181, 186 Carracci, Annibale 188 Catull (Gaius Valerius Catullus) 39, 47, 159–162, 200 Caus, Salomon de 400 Celtis, Conrad 78, 93, 308, 328 Chanut, Pierre 372 Christenius, Martin 229, 259 Cicero, Marcus Tullius 36, 48, 161, 163, 217, 222 Coberus, Tobias 160 Codomann, Salomon 160 Conrady, Carl Otto 177 Corbin, Henry 377 Corner, Christoph 156 Croll, Oswald 61, 64, 83, 385f., 388 Crusius, Martin 352 Crusius, Philipp 301, 320, 333, 363, 369, 375, 440 Cullen, William 84 Cunradus, Caspar 160 Curtius, Ernst Robert 38 Czepko v. Reigersfeld, Daniel 19, 142 Dach, Simon 98, 428 Dante Alighieri 13, 175, 414 Deleuze, Gilles 184 Descartes, Réne 86, 192 Della Casa, Giovanni 54 Dilherr, Johann Michael 119 Dornau, Caspar 59 Dousa, Janus 161, 168, 178–180, 207 Drux, Rudolf 193 Du Bellay, Joachim 328 Duchesne, Joseph (Quercetanus) 83 Düchting, Reinhard 35 Dünnhaupt, Gerhard 8, 277, 351, 443f. Dürer, Albrecht 283 Elkins, James 383 Ennius, Quintus 40 Entner, Heinz 2, 7, 75, 77, 82, 98, 105, 107, 145, 149, 159, 161f., 208, 211, 213, 233, 240, 260, 265, 289, 297, 300, 314– 316, 321f., 325, 351, 357, 361, 363, 365, 373, 384f., 400, 405, 443–446 Enum, Jan van 69f.
Namenregister Erasmus v. Rotterdam 49, 217, 244 Erichson, Andreas 301, 306 Eriugena, Iohannes Scotus 42 Fabricius, Jacobus 142 Falloppio, Gabriele (Fallopius) 84, 86–88, 93f. Fechner, Jörg Ulrich 6, 49 Feis, Oswald 77f., 386f. Ferdinand II., dt. Kaiser 273, 295 Ferrand, Jacques 89 Festus, Sextus Pompeius 161 Ficino, Marsilio 89, 91, 93 Finckelthaus, Gottfried XII Findeisen, Kurt Arnold 432–434 Fontane, Theodor 427f. Foucault, Michel 211 Fracastoro, Girolamo 59, 78f., 83f., 93 Franckenberg, Abraham v. 19 Friedrich III., Hzg. v. Schlewig-HolsteinGottdorf XII, 14, 333, 369, 372 Friedrich, Hugo 38 Gabler, Hans-Jürgen 444 Galenos v. Pergamon 83, 91 Garber, Klaus 98, 443f. Geber (Jābir ibn Hayyān) 388 Gerhard, Clara Julie 428 Gerhard, Johann 122–125, 134, 149f. Gerhardt, Paul 98, 102f. Gloger, Georg XII, 28, 59, 75, 161–168, 170–172, 174–176, 205–209, 212f., 215, 218f., 221–224, 226f., 229f., 265, 271, 355, 428f. Goedeke, Karl 277, 443 Goes, Albrecht 97, 439 Goethe, Johann Wolfgang v. 1, 89 Gollwitzer-Voll, Woty 70 Goltzius, Hendrik 69 Gonzaga, Vincenzo 415 Gottsched, Johann Christoph 17f. Grahmann, Hartmann 61–64, 66, 75, 77, 81, 85, 87, 274, 316, 351, 357, 360, 365, 374, 386, 431 Grahmann, Johann(es) 61, 83 Grass, Günter 440 Greber, Erika XIII Greenblatt, Stephen 147, 156 Greiffenberg, Catharina Regina v. 98 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v. 79f., 93, 99, 181, 268, 425 Grotius, Hugo 438
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Namenregister Gruter, Janus 207, 355 Gryphius, Andreas 6f., 43, 68, 79, 93, 98, 104, 109, 142, 181, 194, 197, 244, 261f., 265, 421 Gryphius, Christian 50 Gustav II. Adolf, Kg. v. Schweden 108, 236, 239f., 261, 265, 273–295, 405 Haberland, Detlev 322 Hagedorn, Denis XIII Hammerschmidt, Andreas 420f. Hanaway, William L. 379 Hanemann, Gedeon 224 Harms, Wolfgang 277f. Harper, Anthony J. 411–413, 420 Harsdörffer, Georg Philipp 98, 245 Harthausen, Levinius v. 360 Hartmann, Georg Eberhard 61 Hartmann, Johann 83, 385 Heermann, Johann 98, 102 Heine, Heinrich 428 Heinsius, Daniel 46, 161f., 171, 207 Heiric v. Auxerre 42 Hempfer, Klaus W. 80, 93 Hensleus, Hans (Johannes) Bartholomäus 360f. Herberger, Valerius 98 Herberstein, Sigmund v. 340 Herbert, Thomas 390 Hertranft, Caspar 5f., 9, 12f., 435 Hilscher, Erika XIII Hippokrates 83, 354 Höveln, Johann v. 303, 306–309, 312 Höveln, Niklas v. 91 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann v. 26, 79, 81, 93, 103, 194–196 Hoffmeister, Gerhart 263 Holz, Arno 425 Homer 76 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 7, 161, 325, 347, 353, 363, 366, 425, 438 Hutten, Ulrich v. 78f., 84
Joubert, Laurent 83 Kalm (Calmius), Werner 360 Kaminski, Nicola 193, 238, 244, 258, 260, 265, 267, 269, 290 . DUDKDVDQ' å HYDG Kempen, Thomas v. 148 Kemper, Hans-Georg 98 Kepler, Johannes 192 Kidwell, Carol 159 Kittsteiner, Heinz 155 Klaj, Johann 22, 24, 98 Kleist, Heinrich v. 153, 432 Klöker, Martin 444 Klopstock, Friedrich Gottlieb 428 Krahé, Peter 425 Krieger, Adam 412 Krüger, Johannes 355 Kruse, Philipp 23 Kühlmann, Wilhelm 68, 98, 178
Ilgen, Christian 33 Ilgen, Sigismund 33 Isokrates [Pseudo-] 362
Laet, Johannes de 341 Lappenberg, Johann Martin XIf., 9, 13, 39, 77, 99, 112, 259, 265, 276, 293, 301, 322, 351, 361, 428, 441–443, 446f. Lasso, Orlando di 157 Laura de Nove (Geliebte Petrarcas) 175 Lavin, Irving 189 Lechner, Leonhard 414 Legère, Werner 97, 435f. Leonardo da Vinci 181, 183f. Lernutius, Janus 161 Leyser, Polycarp 445 Licinius Calvus 162 Lipsius, Justus 268 Lobhartzberger, Johannes Christopher 353 Lobwasser, Ambrosius 142, 144 Loeben, Otto Heinrich Gf. v. 426 Löser, Hans 354, 361 Lohmeier, Dieter 318, 329, 371f., 411 Lotichius, Petrus Secundus 59, 328 Lucifer v. Cagliari 42 Luhmann, Niklas 89 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 91 Luther, Martin 99–101, 115–119, 122, 142, 145–147, 149 –154, 157, 216
Jakob, Hzg. v. Kurland 306 Jannich, Heinrich 128 Janz, Bernhard 415 Johann Georg I., Kurfürst v. Sachsen 238f., 260, 265, 273f., 293, 295
Machiavelli, Niccolo 268 Maecenas, Gaius Cilnius 363 Maier, Michael 386–388, 391, 397–399, 401–403, 405–407 Major, Elias XI
462 Maltzahn, Wendelin v. 277f. Mandelsloh, Johann Albrecht v. 380, 390, 393 Mann, Thomas 78 Marenzio, Luca 415 Maria Eleonora, Kgn. v. Schweden 275 Marti, Kurt 421 Martin, Dieter 426 Martin, Fredrik Robert 383 Marullo, Michele 159 Maximilian I., dt. Kaiser 94, 283 Meid, Volker 262 Melissus, Paul (Paul Schede) 142 Menius, Friedrich 310–314 Merian d. Ä., Matthaeus 387, 389, 391, 399, 401–403, 405f. Messalla Corvinus, Marcus Valerius 363 Meursius, Johann 160 Michaelis, Johann 223, 385 Michail Fedorovič Romanov, russ. Zar 333 Michelangelo (di Lodovico Buonarroti Simoni) 185f. Mickwitz, Christoph 440 Montaigne, Michel de 218 Mu’ayyad ad-Dīn at-Tugrā’ī 392 Müller (Ratsfamilie aus Reval) 440 Müller, Conrad 38 Müller, David 221 Müller, Philipp 78 Namatianus, Rutilius Claudius 44 Nasr, Seyyed Hossein 377 Newman, Jane O. 193 Niefanger, Dirk XIII Niehusen, Anna 91, 128, 431, 433f., 438 Niehusen, Elsabe 28, 91, 160f., 434 Niehusen, Fam. 161, 432f. Niehusen, Heinrich 15, 429, 433, 435 Nonius Marcellus 41f., 161 Oehlenschläger, Adam Gottlob 426 Oesterley, Hermann 443 Oestreich, Gerhard 268 Oldenburg, Heinrich 314 Olearius (Oehlschlegel), Adam XII, 5, 13f., 77, 81f., 88, 112, 131, 240, 299, 301f., 305f., 310, 313–317, 319–324, 326, 333-338, 340-343, 346, 356, 361, 364, 369–407, 427, 430f., 433, 435f., 438, 440
Namenregister Opitz, Martin XII, 1f., 7–9, 12, 26, 34, 49–51, 57, 59, 98–100, 143f., 161, 181, 193f., 196–198, 205, 221, 235, 261, 265, 292, 306, 313, 316, 343, 356, 365, 426, 429 Ovid (Publius Ovidius Naso) 1, 91, 161, 317–332, 336, 354, 356, 389, 397 Owen, John 161 Oxenstierna, Axel 303 Paas, John Roger 277 Pacuvius, Marcus 40 Palm, Hermann 208 Panizza, Oskar 93 Panofsky, Erwin 186 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 61, 83, 87, 103, 389 Paulus Diakonus 161 Paulus Silentiarius 178 Petrarca, Francesco 26, 48, 50, 52, 142, 175, 409, 413–416, 428 Pfahlmann, Carina XIII Plato(n) 186, 362f. Plautus (Titus Maccius Plautus) 39f., 91, 161 Plinius d. Ä. 161 Ploucquet,Wilhelm Gottfried 77 Pöhmer, Georg Wilhelm 361 Pohl, Maria Cäcilie 322, 426 Pohl, Timo XIII Polus, Thimotheus 437 Pott, Sandra 60 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 161, 357–359, 363, 366 Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens) 44f. Pyritz, Hans 48, 52, 54f., 161 Rabelais, François 79 Raffael (da Urbino) 186 Rave, Paul 325 Rebenlein, Jacob 128 Regnart, Jakob 418f. Rehefeld, Elias 100 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 65 Richter, Johann Georg 128 Ricke, Joachim 178 Rist, Johann 60, 79, 98, 245, 293 Ritzsch, Gregor 242 Robert, Jörg 193, 328 Rodenberg, Hans 372
463
Namenregister Roeder, Elke XIII Rubens, Peter Paul 186, 188f. Rüdel, Elias (Rudelius) 242f. Rufus (Rhetor) 344 Saadi (Moscharraf od-Din Abdullah) 379 Sallust Du Bartas, Guillaume de 160 Samson, Hermann 301, 303–305, 308f., 311, 316 Sappho 159 Sarbiewski, Maciej Kasimierz 161, 169f., 172, 175 Scaliger, Joseph Justus 46 Scaliger, Julius Caesar 46, 161f., 168, 207, 334, 343-345, 350, 366 Schaefer, Ursula 413 Schaper, Edzard 439 Schede, Paul vgl. Paul Melissus Scheer, Siegfried 425 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius) 19, 98, 102f. Schein, Johann Hermann 98, 103, 412 Scherll, Heinrich 444 Schick, Hartmut 415 Schiller, Friedrich 426f. Schirmer, David 26 Schlegel, August Wilhelm 426 Schmidt, Jochen 2, 7, 160 Schnabel, Johann Gottfried 426 Schönburg, Agnes v. 40, 44 Schönburg, Katharina v. 100, 141 Schönburg, Maria Juliane v. 39 Schomerus, M. Petrus 310 Schröder, Rudolf Alexander 439 Schütz, Heinrich 143, 444, 446 Schulz-Buschhaus, Ulrich 51, 54 Schupp, Johann Balthasar 132 Schwarz, Sibylla 26 Schwirse, Timotheus 357, 359 Scipio ( d. J.) Aemilianus Africanus, Publius Cornelius 222 Secundus, Janus 161 Sedwick, Eve Kosofsky 217 Sefi (Safī), Schah v. Persien 334, 342, 375, 382 Seidler, Ingrid 255 Selnecer, Nicolaus 151 Seneca, Lucius Annaeus 39, 63, 91, 163, 231, 339 Sennert, Daniel 83, 90f. Serlio, Sebastiano 182 Settimello, Heinrich v. 35 Seume, Johann Gottfried 432
Shakespeare, William 13, 79, 312 Sibelist, Wendelin 77, 81 Silentiarius, Paulus 178 Sittig, Claudius XIII Smeed, John 413 Sonday, Milton 383 Sophokles 7 Spahr, Blake Lee 209 Spee von Langenfeld, Friedrich 98, 108, 425 Sperberg-McQueen, Marian R. 77, 98, 233, 241, 351, 374, 384, 389, 443 Staden, Hermann v. 97, 99, 112 Statius, Publius Papinius 353 Steiger, Johann Anselm 67 Steinhagen, Harald 193 Steuer, Samuel 354 Stieler, Kaspar 410f. Strabon 344 Sudhoff, Karl 84 Sylvius, Franciscus (Franciscus de le Boë) 404 Tacitus, Publius (Gaius) Cornelius 257 Tanck, Joachim 385 Taube, Otto Freih. v. 439 Taubmann, Friedrich 46 Tauler, Johannes 148 Temme, Dorothee 417, 420 Terenz (Publius Terentius Afer) 91 Tesauro, Emanuele 41 Thölde, Johann 385 Thomas, Michael 224f. Tibull (Albius Tibullus) 161, 357, 363, 366 Tilly, Johann t’Serclaes Graf von 238f., 265, 269, 273 Trevor-Roper, Hugh 405 Trismegistos, Hermes 386, 388 Tropsch, Stephan 325, 328 Troschel, Peter 66f. Tullus, Volcacius 363 Tulp, Nicolaes 65, 85f. Unger, Thorsten 178 Ursinus Velius 328 Valentinus, Basilius 385–387, 396 Varro, Marcus Terentius 41, 161 Vater, Katharina XIII Venantius Fortunatus 42 Vergil (Publius Vergilius Maro) 161, 326, 339, 343, 365
464 Virginus, Andreas 310f., 316 Wackernagel, Wilhelm 427 Wade, Mara R. 409 Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 236, 259f., 265, 273, 275, 293 Wangenheim, Franz Theodor 426f. Wangersheim, Johann v. 410 Wangersheim, Konrad v. 410 Weber, Alexander XIII Wechselburg, Christian zu 40, 44 Weckherlin, Georg Rodolf 259, 286, 293 Werder, Dietrich von dem 15, 142, 144, 153 Werner, Heinrich 128 Wieck, David 306
Namenregister Wieland, Christoph Martin 89 Wiesenfeldt, Gerhard 404 Wimberger, Gerhard 410, 421f. Wittkower, Rudolf 186 Wodianka, Stefanie 147 Wolf, Christa 428 Wranovecius, Johannes 445 Wunderlich, Fritz 420 Wyatt, Thomas 147, 156 Xenophon 171 Zedler, Johann Heinrich 72 Zeidler, Johannes 71, 75 Zesen, Philipp v. 196 Zincgref, Julius Wilhelm 258f., 267