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German Pages [585] Year 2016
Rudolf Langthaler
Warum Dawkins Unrecht hat Eine Streitschrift
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495807972
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Rudolf Langthaler Warum Dawkins Unrecht hat
VERLAG KARL ALBER
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Mit seinen Büchern Der Gotteswahn (2006) und Die Schöpfungslüge (2009) ist der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins zweifellos zum prominentesten Vertreter und Wortführer des »Neuen Atheismus« geworden. In Berufung auf die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften (vor allem der an Darwin orientierten Evolutionstheorie) will er den Nachweis erbringen, dass »es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gott nicht gibt«. Es ist nicht zu übersehen, dass seine einschlägigen Auffassungen – zum Teil durch Medien wirksam unterstützt – auch im akademisch-universitären Bereich nach wie vor ein bemerkenswertes Echo finden. Besteht jedoch Dawkins’ temperamentvolle Kritik zu Recht – und kann er sich dabei legitimerweise auf das Erbe der »Aufklärung« berufen? In dieser »Streitschrift« soll zunächst gezeigt werden, dass Dawkins’ »naturalistisches Menschenbild« auf ein reduktionistisches Verständnis des Menschen hinausläuft und überdies in mancher Hinsicht widersprüchlich ist. Ebenso soll nachgewiesen werden, weshalb sein Plädoyer, die Gottesthematik als eine »(natur)wissenschaftliche Hypothese« anzusehen, auf einer grundsätzlichen Problemverkennung beruht; auch soll deutlich gemacht werden, dass der von Dawkins unermüdlich geäußerte Vorwurf einer »Schöpfungslüge« ein grobes Missverständnis darstellt und weshalb – nicht zuletzt – auch seine von ihm beanspruchte kritische Prüfung der traditionellen »Gottesbeweise« den darin leitenden Fragestellungen überhaupt nicht gerecht zu werden vermag (sondern lediglich schlechte Karikaturen anbietet). Gezeigt werden soll also, weshalb die mit Dawkins’ Position verbundenen Ansprüche einer philosophischen Kritik in keiner Weise standhalten.
Der Autor: Rudolf Langthaler, Dr. phil. Mag. theol., Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Debatte um Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube, ebenso zur Geschichts- und Religionsphilosophie.
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Rudolf Langthaler
Warum Dawkins Unrecht hat Eine Streitschrift
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Unterstützung des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung sowie der Stadtgemeinde Amstetten.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48749-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80797-2
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Motto »Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publicum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu ekel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. ›Gezankt‹ ; denn so nennet die Artigkeit alles Streiten; und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, dass man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken. Bestünde indes der größere Teil des Publici, das von keinen Streitschriften wissen will, etwa aus Schriftstellern selbst: so dürfte es wohl nicht die bloße Politesse sein, die den polemischen Ton nicht dulden will. Er ist der Eigenliebe und dem Selbstdünkel so unbehaglich! Er ist dem menschlichen Namen so gefährlich! Aber die Wahrheit, sagt man, gewinnet dabei so selten. – So selten? Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.« (Gotthold Ephraim Lessing, der auch in »Religionsdingen« »streitbare« Aufklärer)
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
1.
2.
Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes und damit verbundene entscheidende Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dawkins’ Naturalismus und seine »szientistische« Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode . 1.1 Eine milde Schizophrenie: Dawkins’ Entlarvung des »Ich« als »Illusion« und seine erhellende »Spiegel«Erfahrung: »Was ich [!] hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene« – und die daran geknüpfte Aufforderung zur Selbsterkenntnis: »Ich [!] bin auch eine« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophiehistorisches Zwischenspiel: Eine von Dawkins’ »Seelen«-Gespensterjagd inspirierte Erinnerung an die aristotelische »Seelenlehre« – und einige anthropologische Konsequenzen daraus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur aristotelischen Bestimmung der Seele als »Prinzip des Lebendigen« . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Dawkins’ anti-platonische/anti-aristotelische Kampfansage gegen den »Essentialismus« als eine »Tyrannei des Geistes« – ein beispielhaftes Missverständnis . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Anmerkung: Ergänzende kritische Hinweise .
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2.2 Warum Dawkins’ Seelenjagd auch die aristotelische »Geistseele« verfehlt – und Letztere vielmehr von ihm selbst vorausgesetzt wird . . . . . . . . . . . . 2.2.0 Anmerkung: Wo ein »szientistischer Naturalismus« und »Erbaulichkeit« sich begatten … . 2.2.1 Dawkins’ »Mem-Theorie« im Spiegel der aristotelischen Lehre von der »Geistseele« . . 3.
4.
Weitere Konsequenzen aus Dawkins’ Naturalismus: Sein energischer – und zugleich widersprüchlicher – Kampf gegen das Vorurteil, »Homo sapiens auf einen heiligen Sockel zu stellen, für immer getrennt von allen anderen Spezies« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ein »Gotteszentrum« im Gehirn? Zu einer von Dawkins unentschiedenen »neuro-theologischen« Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Exkurs: Vom »Gotteszentrum« im Gehirn zur neurobiologischen »Meditationsforschung« . Dawkins’ Naturalismus-Konzeption im Spiegel des von Th. Nagel beanspruchten Aufweises, »warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist« . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zu der mit Nagels Naturalismus-Kritik verknüpften Begründung einer kritischen »Teleologie«Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die notwendige Unterscheidung verschiedener Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Nagels Teleologie-Konzeption – eine Spielart des »anthropischen Prinzips«? Eine indirekte Antwort auf Dawkins . . . . . . . . . . . . 4.2 Nagels leitende Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen« – und eine entsprechend erweiterte »Teleologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Eine Anmerkung: Nagels Naturalismus-Kritik im Spiegel der philosophischen Anthropologie – einige Beispiele aus der Antike und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.
II.
Exkurs: »Naturalismus«: Ein viel – und auch sehr kontrovers – diskutiertes Thema an der Universität Wien in den letzten 50 Jahren. Eine »Jubiläums«-Erinnerung in einigen Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der reduktionistische »Naturalismus« (und darin zutage tretende erhellende Aporien bzw. Widersprüche) beim Wiener Psychologen und »Gehirnforscher« Hubert Rohracher . . . . . . . . . . . . 5.2 Eine Anmerkung zum »naturalistischen« Programm einer »Naturgeschichte des menschlichen Geistes« bei den Wiener Evolutionsbiologen Konrad Lorenz und Rupert Riedl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Eine philosophische Antwort und NaturalismusKritik aus Wien – mit Blick auf Nagels TeleologieKonzeption und mit nochmaliger Bezugnahme auf Dawkins’ »Naturalismus« . . . . . . . . . . . . .
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Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.
Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen und die damit einhergehende Problemblindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Anmerkung: Jüngere kritische kirchlich-theologische Stellungnahmen zum sogenannten »Evolutionismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Dawkins’ Insistieren auf der »Gotteshypothese«, seine Verkennung der Notwendigkeit eines »methodischen Atheismus« und seine verfehlte Kritik an »agnostizistischen Halbherzigkeiten« und Inkonsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Zu Dawkins’ Befund: »There’s probably no god« (but certainly: »Dawkins is his prophet«) 1.2.2 Ein Ausblick: Ist Dawkins der von Kant »längst gesuchte Mann«? Eine kantische Antwort auf Dawkins’ problematisches Verständnis der Gottesfrage als einer »wissenschaftlichen Hypothese« . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.
III.
1.
Die »brights« und die Aufklärung: Was Kant von einer »aufgeklärten Denkungsart« gefordert hat . . . . . . . . 2.1 Kants Kritik an einer szientistisch verkürzten Rationalität und an einem »dogmatischen Unglauben« . . 2.2 Bedrängende Interessen und Fragen des Menschen, die nach Kant auch von einer »aufgeklärten Vernunft« nicht zu verabschieden sind . . . . . . . . . 2.2.1 Zu Dawkins’ kurzschlüssiger – unaufgeklärter – Moral-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zu weiteren Motiven einer unverkürzten Aufklärung – mit Blick auf Kant . . . . . . . . . . 2.3.1 Was Kant von einer »aufgeklärten« Theologie gefordert hat – und weshalb auch die von päpstlicher Seite eingemahnte »Weite der Vernunft« den kantischen Erwartungen nicht genügt: »Flügel«-Verleihung oder »Flügel«Beschneidung? Zwei Beispiele . . . . . . . . Dawkins und die »Schöpfungstheologie«: Sein Einspruch gegen die »Schöpfungslüge« und seine pflichtbewusste »Auseinandersetzung« mit den traditionellen Gottesbeweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge« und sein dagegen aufgebotener »Zauber der Wirklichkeit«: Ein heroischer und auch erfolgreicher Kampf – gegen »Windmühlen«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Dawkins als biblischer »Hermeneut«: Sein Missverständnis der biblischen Schöpfungstexte und sein unangemessenes »Mythos«-Verständnis . . . . . . 1.2 Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge« im Spiegel traditioneller Schöpfungs-Lehre . . . . . . . . . . 1.2.1 Zu einigen traditionellen schöpfungstheologischen Motiven und daran geknüpfte Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.3 Die von einer methodisch besonnenen Naturwissenschaft und von der modernen Theologie längst durchschaute Haltlosigkeit der von Dawkins behaupteten Alternativen . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Anmerkung: Zu Dawkins’ MultiversumTheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Weitere Hinweise auf klassische Positionen zum »Schöpfungs«-Thema . . . . . . . . . . 2.
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zwei philosophie- und theologiegeschichtliche Vorbemerkungen zum Thema »Gottesbeweise« . . . 2.1.1 Weshalb auch die biblische Forderung, »Rechenschaft über das Geglaubte abzulegen«, dem Entlarvungsbedarf Dawkins’ zum Opfer fällt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Zur Erinnerung: Die philosophisch-metaphysische Frage nach der »Letztbegründung« bei Thomas von Aquin: Anspruch und Ausgang der »fünf Wege« . . . . . . . . . . . . 2.2 Zu Dawkins’ Kritik des »kosmologischen Gottesbeweises« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Eine auch diesbezüglich heilsame Erinnerung an Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die höchst phantasievoll angereicherte Kritik Dawkins’ am »vierten Weg« . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Nichts als »die Wahrheit« sucht er, die »tiefste Vernunft« erahnt er und die »leuchtendste Schönheit« bestaunt er: Richard Dawkins – ein »anonymer Platoniker« wider Willen? . . 2.3.2 Dawkins’ kuriose Degradierung der »metaphysischen Vollkommenheiten« zu »beliebigen Vergleichsgrößen« – und der aus ihrer Ersetzung erzielte »Erkenntnisgewinn« . . .
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2.4 Dawkins’ Verständnis und Kritik des »teleologischen Gottesbeweises«: Das von ihm fälschlicherweise so genannte »Gestalter«-Argument . . . . . . . . . . 2.4.1 Ein Blick auf Kants diesbezügliche Kritik am »teleologischen Gottesbeweis« – im Kontext von Dawkins’ kritischen Erörterungen . . . . 2.5 Dawkins’ originelle »Spielplatz«-Version des »ontologischen Gottesbeweises«: »Existenz – ein Zeichen für Vollkommenheit«? »Mem-Defekt« oder erneute Kostprobe für seinen »guten Humor«? . . . . . . . 2.5.1 Der von Dawkins diagnostizierte angebliche »Nerv« des »ontologischen Argumentes« – oder: Weshalb er auch Kants Kritik des »ontologischen Gottesbeweises« völlig verfehlt . . . 2.6 Anhang: Weitere hermeneutische Kostbarkeiten aus Dawkins’ phantasievollem »Mem«-Repertoire – und seine »einzig vernünftige Antwort« auf theologische Lehrstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Anmerkung 1: Dawkins’ Verständnis von »Offenbarung« gemäß seinem »Sender-Empfänger-Signal«-Modell – eine »Offenbarung« besonderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Anmerkung 2: Dawkins’ humorvoll-»substanzielle« Assoziationen zum christlichen »Dreifaltigkeits-Motiv« . . . . . . . . . . . 2.6.3 Anmerkung 3: Kein Wunder: Zu Dawkins’ »bezauberndem« Wunderverständnis – mit besonderem Blick auf seine Auslegung der von ihm sogenannten biblischen »Wasser-inWein«-Geschichte . . . . . . . . . . . . . .
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Der äußere Anlass für die Entstehung und Publikation dieses Buches im Jahr 2015 ist das diesjährige 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien. Ein anlässlich dieses Universitäts-Jubiläums seitens der Katholisch-Theologischen Fakultät geplantes internationales Symposium – »Der Atheismus als intellektuelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts« – konnte bedauerlicherweise nicht zustande kommen. Diese Veranstaltung sollte vor allem eine Bestandsaufnahme im interdisziplinären Gespräch sowohl zwischen Philosophie und Theologie als auch den modernen Naturwissenschaften leisten, aber auch die Möglichkeit und Notwendigkeit künftiger interdisziplinärer Bemühungen sondieren. In gebotener Rücksicht auf die diesbezüglich auch wissenschaftstheoretisch relevanten Aspekte sollten jedoch auch offenbar immer noch vorherrschende unnötige Kontroversen und Missverständnisse thematisiert und nach Möglichkeit überwunden werden, zumal diese die gemeinsamen Bemühungen um die eigentlich strittigen bzw. klärungsbedürftigen Sachfragen eher behindern. Leitend war bei diesem Vorhaben die Überzeugung, dass die interdisziplinäre Klärung dieser Themen nach wie vor eine große intellektuelle Herausforderung darstellt und der »natürlicher Ort« für einschlägige Debatten – jenseits eines bloß ideologischen Gezänks – wohl nach wie vor die Universität ist (bzw. sein sollte), ebendas interdisziplinäre Gespräch und der konstruktive »Streit der Fakultäten« nach den maßgebenden Spielregeln der Wissenschaft und gemäß dem Leitbild einer »aufgeklärten Denkungsart«. Der Umstand, dass das geplante internationale Symposium leider nicht zustande kam, bewog den Verfasser dieses Buches dazu, die kritische Auseinandersetzung mit dem wohl prominentesten Wortführer des »modernen Atheismus« zu suchen: Richard Dawkins, der bis zum Jahr 2008 im Rahmen einer Stiftungsprofessur als Professor of the Public Understanding of Science an der Oxford University tätig war. Die seit einigen Jahrzehnten von ihm – mit der wissen13 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Vorwort
schaftlichen Kompetenz und Autorität des Evolutionsbiologen – vertretenen einschlägigen Auffassungen dürfen als besonders markantes und prominent gewordenes Beispiel dafür gelten, dass die für das Gelingen eines konstruktiven interdisziplinären Gesprächs unumgängliche Ausräumung von Missverständnissen und die Überwindung sachfremder Barrieren auch innerhalb des »Streits der Fakultäten« nach wie vor eine vorrangige Aufgabe darstellt, d. h. immer noch nicht als »schon erledigt« angesehen werden darf. Zweifellos haben Dawkins’ einschlägige Publikationen, die ja auch in einem akademischen/universitären Umfeld weithin rezipiert und gewürdigt wurden, eher noch zu einer Verschärfung der Fronten beigetragen; sie wurden allerdings möglicherweise auch begünstigt durch in zeitgleichen Debatten artikulierte »gegenläufige« Ansprüche, die in Berufung auf die Ergebnisse der modernen Wissenschaft einen »wissenschaftlich« begründeten Zugang zur Gottesthematik aufweisen woll(t)en – Umstände, die der Einlösung jenes genannten Vorhabens gewiss nicht dienlich waren. Gewiss nicht selten begegnet man jedenfalls – gerade auch in akademischen Milieus – der Ansicht, dass Dawkins’ Kritik mitunter ja überzogen sein und er sich zugestandenermaßen auch im Ton vergriffen haben mag; in den Sachfragen finden hingegen seine Auffassungen bzw. seine Kritik weithin durchaus Zustimmung – nicht zuletzt in einschlägigen wissenschaftsjournalistischen Bezugnahmen darauf. Das Echo, das sein im Jahr 2006 erschienenes Buch »The GodDelusion« (deutsch: »Der Gotteswahn«, in deutscher Übersetzung: 2007) weithin gefunden hat, verdeutlicht jedoch ebenso, dass diese Themen auch ein bemerkenswertes öffentliches Interesse finden. Letzterem hat Dawkins auch dadurch Rechnung getragen, dass er sich auch nach diesem Buch »Der Gotteswahn« in weiteren einschlägigen Publikationen als besonders streitbarer Vertreter des »Neuen Atheismus« und als Fahnen- bzw. Fackelträger der »Aufklärung« hervorgetan hat. Die mediale und öffentliche Resonanz wird durch die aus recht unterschiedlichen Motivlagen inspirierten Erscheinungsformen dieses – sich weithin auf Einsichten bzw. Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften berufenden – »modernen Atheismus« zweifellos in eindringlicher Weise dokumentiert. Es ist nicht zu übersehen – auch ein Blick auf die wissenschaftlich »getönten« Buchprogramme vieler Verlage bestätigt dies eindrucksvoll –, dass diese nicht zuletzt auch in akademischen Milieus vorherrschenden – von latent
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Vorwort
kulturkämpferischen Begleitmelodien geprägten – Bewusstseinslagen weithin die »geistige Situation der Zeit« bestimmen. 1 Das vorliegende Buch lässt sich von der Absicht leiten, in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Hauptthemen von Dawkins’ »naturalistisch« verankertem Atheismus die in seinen einschlägigen Hauptschriften vorgelegten – und auch medial öffentlichkeitswirksam kundgetanen – Argumente auf den Prüfstand zu stellen. Sie sollen in den drei Hauptteilen des Buches – unter »philosophischen Vorzeichen« und den von Dawkins wiederholt bekundeten »philosophischen Interessen« entsprechend – ausführlich und kritisch beleuchtet werden. 2 Damit ist auch gesagt, dass angesichts jener weit verbreiteten – und auch medial »öffentlichkeitswirksam« weithin begünstigten – Einschätzung von Dawkins’ Ansichten über »Gott und die Welt« eine eher allgemein gehaltene Kritik keinesfalls ausreicht, so wenig wie lediglich pauschale Abwehrreaktionen und »Rundumschläge« gegenüber Dawkins, wie allerdings nicht selten zu beobachten ist. Demgegenüber sollen in diesem Buch in detaillierter Form die groben sachlichen Defizite, die schwerwiegenden Fehlleistungen – auch haltlose Unterstellungen und Problemverzerrungen – der Dawkins’schen Argumentation und ihres suggestiven Charakters vor Augen geführt und somit der Leserschaft auch eine direkte Überprüfung seiner Behauptungen ermöglicht werden. 3 Schon aus diesen Absichtserklärungen mag deutlich werden, dass und weshalb sich das vorliegende Buch durchaus als eine »StreitDie in einer Rezension des Dawkins-Buches »Der Gotteswahn« (in der österreichischen Tageszeitung »Der Standard« v. 20./21. Jänner 2007) ausgesprochene Diagnose trifft so gesehen in gewisser Hinsicht wohl weithin zu: »Noch jedenfalls scheint das Gespenst des radikalen Atheismus in Europa nicht umzugehen. Aber womöglich sind wir gegen diesen mentalen Virus auch immun – weil wir eine weniger radikale Variante längst schon in uns tragen« (so Klaus Taschwer: »Kreuzzug gegen Gott«). Gleichwohl ist gerade dieser Befund ein besonderer Grund dafür, den »Atheismus als intellektuelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts« wahrzunehmen. 2 In einem vor einigen Jahren erschienenen Sammelband (Langthaler/Appel 2010) haben sich die – großteils der Universität Wien zugehörigen – Autoren ganz verschiedenen Themen von Dawkins’ »Gotteswahn« gewidmet. Im vorliegenden Buch stehen hingegen die Fundamente und Kernpunkte von Dawkins’ Atheismus im Vordergrund. 3 Vor allem sollen die zahlreichen Zitate den prüfungswilligen Lesern auch vor Augen führen, dass die vorgenommene Kritik an den häufigen Fehlleistungen, Verdrehungen u. Ä., die sich bei Dawkins – auch in den nach seinem »Gotteswahn« erschienenen Büchern – finden, nicht bloß unausgewiesene Behauptungen bzw. Unterstellungen sind, sondern direkt belegt werden können. 1
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Vorwort
schrift« versteht. Insofern teilt der Verfasser dabei durchaus mit Dawkins eine »bewusstseinsbildende« Absicht – obgleich in gegenläufiger Zielrichtung: Es wendet sich an eine Leserschaft, die mit Dawkins’ einschlägigen Auffassungen einigermaßen vertraut und durch diese vielleicht gleichermaßen verunsichert ist, sich jedenfalls über die »Stichhaltigkeit« seines »Neuen Atheismus« ein selbständiges und sachgemäßes Urteil bilden will; kurzum: die Leser/-innen sollten einigermaßen Klarheit darüber gewinnen können, was denn von Dawkins’ massiven Attacken gegen »Gotteswahn« und »Schöpfungslüge«, von seiner propagierten Religionskritik und dem beanspruchten Atheismus zu halten ist; ebenso soll jedoch geprüft werden, ob und inwieweit auch erhobene thematisch einschlägige Ansprüche und Argumentationslinien kirchlicher bzw. theologischer Provenienz philosophischen Ansprüchen genügen und deshalb einer Kritik auszusetzen sind. Inspiriert ist das vorliegende Buch vor allem durch zahlreiche Gespräche mit an diesen Sachthemen interessierten Kollegen und Kolleginnen sowie (auch) mit Studierenden, die nicht den universitären Fachbereichen von Philosophie und Theologie zugehören, die jedoch diese Themenfelder und somit auch die einschlägigen Debatten »rund um Dawkins« mit sachorientierter Aufmerksamkeit verfolgen und sich dabei mit der in den Medien häufig allzu simplifizierend zugespitzten Präsentation derselben nicht begnügen wollen. Im Unterschied zu Dawkins, dessen Bestseller »Der Gotteswahn« sich, so wie auch seine einschlägigen späteren Schriften, an eine Leserschaft wendet, die von der »Religion ihrer Eltern« befreit und für die erlösende Botschaft des Atheismus gewonnen werden soll, orientiert sich die vorliegende »Streitschrift« an durchaus unterschiedlichen Leser-Interessen: Es wendet sich zunächst an jene Dawkins-Leser, denen seine Abrechnung mit dem »Gottesglauben« und sein Atheismus-Plädoyer zwar als plausibel erscheinen, die jedoch auch daran interessiert sind, ob Dawkins’ Argumente tatsächlich berechtigt sind und auch einer genaueren philosophischen Prüfung standhalten. Unvoreingenommenen und »prüfungswilligen« Leserinnen und Lesern, die sich also nicht von vornherein als bloße »Parteigänger« Dawkins’ verstehen, soll so aber auch vor Augen geführt werden, dass dessen Einwände bzw. Angriffe nicht selten auf groben Problemverzerrungen, polemischen Verdrehungen und Unterstellungen beruhen. Dafür mögen insbesondere auch jene Abschnitte (insbesondere im II. Teil) hilfreich sein, die dem Nachweis gewidmet sind, dass für eine den »Ideen der Aufklärung« verpflichtete Weltauf16 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Vorwort
fassung sich keineswegs die von Dawkins propagierten Konsequenzen ergeben, zumal er selbst vielmehr die Errungenschaften und Standards eines aufgeklärten Denkens weithin unterbietet. Ebenso wendet sich das Buch an eine theologisch und philosophisch interessierte, jedoch auch einigermaßen vorgebildete Leserschaft, die sich ein selbständiges Urteil darüber bilden will, ob Dawkins’ einschlägige Auffassungen, aber auch die demgegenüber theologischerseits geltend gemachten Ansprüche einer kritischen Prüfung standhalten. In solcher Hinsicht ist das Buch vor allem auch für Studierende der Philosophie und der Theologie gedacht, die überdies auch an den genaueren problemgeschichtlichen Zusammenhängen interessiert sind und sich demgemäß auch an der Frage orientieren müssen, wo in der Geschichte der abendländischen Philosophie für die hier im Vordergrund stehenden Themenbereiche entscheidende Argumentationsfiguren bestimmend bzw. wichtige Weichenstellungen vorgenommen bzw. auch notwendige Korrektive angezeigt werden. Ihre Kenntnis ist deshalb nicht bloß von historisch-gelehrtem Interesse, vielmehr erwiesen sich, wie sich zeigen soll, viele dieser traditionellen Positionen als nach wie vor höchst aktuell und als buchstäblich »aufschlussreich« und sind so auch für gegenwärtige einschlägige Debatten unverzichtbar, wenn man nicht hinter ein schon erreichtes Problembewusstsein und daraus resultierende Einsichten zurückfallen will. Die Kenntnis einschlägiger Motive und Einsichten aus der philosophischen Tradition sollte vor allem auch den Blick dafür schärfen, ob Dawkins’ Behandlung der anstehenden Sachthemen diesen auch nur einigermaßen gerecht zu werden vermag oder nicht doch ein längst erreichtes Niveau vielmehr in erschreckendem Ausmaß unterbietet. Vor allem für Studierende der Philosophie und der Theologie sind auch die nicht wenigen (und teilweise ausführlich zitierten) Belegstellen von Klassikern der Philosophie und ihre Kommentierung gedacht; sie mögen einsichtig machen, weshalb diese angeführten traditionellen Lehrstücke nach wie vor größte Bedeutung haben, d. h. keinesfalls lediglich von philosophiehistorischem Interesse sind oder ein ehrwürdiges antiquarisches »Bildungsgut« darstellen. Für diesen Nachweis sind auch die zahlreichen philosophiehistorischen Bezüge und die weiterführenden Hinweise und Zitate im (auch deshalb sehr umfangreichen) Fußnotenteil gedacht, die zur Vertiefung anregen und zeigen wollen, dass die Auseinandersetzung damit auch im Blick auf gegenwärtig aktuelle Debatten nach wie vor lehrreich und auch unumgänglich ist. Daraus mag aber auch ver17 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Vorwort
ständlich werden, weshalb jedenfalls für ein genaueres Verständnis all dieser im Vordergrund stehen-den Sachfragen eine gewisse philosophische Vorbildung doch unverzichtbar ist, d. h. vorausgesetzt werden muss. Auch insofern hat das vorliegende Buch nicht unbedingt ein theologisch und philosophisch »gelehrtes Fachpublikum« als interessierte Leserschaft vor Augen, zumal diesem Kreis die hier im Vordergrund stehenden Themen, aber auch die zahlreichen problemgeschichtlichen Hinweise und einschlägige Bezüge auf klassische Lehrstücke wohl ohnedies vertraut sind. Nicht zuletzt wendet sich das Buch auch an philosophisch interessierte Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler (bzw. an Studierende der Naturwissenschaften, naheliegenderweise vor allem der Biologie), die die interdisziplinäre – von weltanschaulichem Gezänk unbelastete – Verständigung suchen. Für solche Leserschaft sollte diese gegen Dawkins einschlägige Auffassungen gerichtete »Streitschrift« vornehmlich dies verdeutlichen, weshalb eine in methodischer Hinsicht unreflektierte Naturwissenschaft und eine damit einhergehende Verengung von »Rationalität« nicht nur bezüglich der Gottes- bzw. Atheismus-Thematik zu kurz greift; ebenso sollte einsichtig werden, weshalb – dafür ist Dawkins ebenfalls ein sehr lehrreiches Beispiel – schon mit einer »naturalistisch« verkürzten Bestimmung der Weltstellung des Menschen in verhängnisvoller Weise die Weichen gestellt werden und dies unvermeidlich ein reduktionistisches Menschenbild zur Folge hat. In solcher Absicht richtet sich das Buch auch an Naturwissenschaftler und »Studierende aller Fakultäten«, die – und zwar jenseits von bloß »weltanschaulichem Kleingeld-Wechsel« – an diesen Themenfeldern ein sachliches Interesse haben und sich über die Tragfähigkeit eines »naturalistisch« verankerten »Atheismus Dawkins’scher Prägung« und seiner damit verbundenen Auffassungen ein selbständiges Urteil bilden wollen. All diese angeführten Punkte sind auch eine unumgängliche Voraussetzung für eine fruchtbare interdisziplinäre Verständigung zwischen den modernen Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie – und zwar gleichermaßen jenseits von vordergründigen Versöhnungs-Gesten und kulturkämpferischen Parolen im Namen moderner Wissenschaft und Aufklärung. Die in den drei Teilen des Buches im Vordergrund stehenden Hauptthemen 4 sind freilich kein Sondergut der gegenwärtigen »Daw4
Die Anordnung der in den drei Teilen behandelten Hauptthemen sollte es auch
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Vorwort
kins-Debatten«, sondern haben allesamt eine lange Tradition im akademischen Diskurs; sie waren und sind im »Streit der Fakultäten« stets lebendig – nicht zuletzt auch in intensiven einschlägigen Kontroversen an der Wiener Universität. 5 Dass in diesem Buch vergleichsweise besonders häufig und ausführlich auch Forscherpersönlichkeiten aus den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie zu Wort kommen, die im 20. Jahrhundert an der Universität Wien tätig waren bzw. mit ihr in enger Verbindung standen, hat seinen Grund eben darin, dass sich das vorliegende Buch auch mit diesen besonderen Hinsichten als ein kleiner Beitrag zum diesjährigen 650-Jahr-Jubiläum der Wiener Universität versteht. In der ganzen thematischen Bandbreite – von einem kruden reduktiven »Naturalismus« bis hin zu den auch in der Öffentlichkeit viel diskutierten Naturalismus-kritischen Stellungnahmen theologischer- bzw. kirchlicherseits – waren stets auch »Stimmen aus Wien« bzw. aus der Universität Wien vernehmbar. Sehr dankbar bin ich Herrn Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich. Besonderen Dank schulde ich Frau Caroline Baumer für die geleisteten Lektoratsarbeiten und auch Frau Mag. Agnes Leyrer für vielfache Hilfestellung bei der Herstellung der Druckvorlage. Wien, im April 2015.
erlauben, einzelne Abschnitte bzw. die mitunter umfangreichen und in Details verweisenden Fußnoten zu überspringen. 5 Diese Themen waren und sind natürlich immer wieder auch Gegenstand interdisziplinärer Lehrveranstaltungen an der Universität Wien.
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Einleitung
In dieser Einleitung seien noch einige Beobachtungen und auch durchaus unterschiedliche Beweggründe bzw. Einschätzungen benannt, denen dieses Buch sein Entstehen und seinen Charakter als »Streitschrift« sowie die besonderen inhaltlichen Akzente verdankt: 1. Mit seinem Buch »God Delusion« (deutscher Titel: »Der Gotteswahn«) ist der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins zweifellos nicht nur Wortführer der »brights« (der international organisierten »hellen Köpfe«), sondern auch zum herausragenden Protagonisten des sich neu organisierenden »Neuen Atheismus« geworden. Erklärtes Ziel der »Richard-Dawkins-Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« ist es, alle »Atheisten, Humanisten, Freidenker und alle, denen Vernunft, kritisches Denken und Wissenschaft am Herzen liegen« (so in der Homepage der Stiftung) unter der Flagge eines »wissenschaftlichen« Atheismus zu versammeln; gemeinsam mit ihnen bekennt und bezeugt er mutig und beherzt seinen festen »Glauben an den Unglauben« und verkündet den leider noch immer Aufklärungs-bedürftigen Teilen der Menschheit: Die »Grundvoraussetzung der Religion – die Gotteshypothese« – sei »nicht mehr [!] haltbar. Gott existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht« (Gotteswahn 223). 1 Dergestalt wird mit solcher Losung nicht nur ein vermeintlich abgestorbenes Projekt zu neuem Leben erweckt; mit einer bislang unüberbotenen polemischen Wucht wird so auch das Ziel verfolgt, eine lernwillige und auf Augenhöhe mit der modernen Wissenschaft und Kultur befindliche Leserschaft zum Atheismus zu bekehren und die Menschheit von einem ihrer ärgsten Feinde – die Religion in ihren mannigfaltigen Ausprägungen 2 – zu befreien: Gehet hin, und lehret Die thematisch einschlägigen Hauptschriften Dawkins werden, um der besseren Lesbarkeit willen, im Haupttext mit Kurztitel angeführt. 2 So betont Dawkins: »Selbst wenn die Religion als solche keinen anderen Schaden 1
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Einleitung
alle Völker … Zwischendurch wurde diese Mission bekanntlich auch durch eine von Dawkins subventionierte Atheismus-Bus-Kampagne unterstützt, die auch in anderen Ländern Europas sowie in den Vereinigten Staaten breite Nachahmung fand. Die von Dawkins zur Charakterisierung der Verbreitung der Religion verwendete Beschreibung des »Virus-Verhaltens«: »Vermehre mich, kopiere mich!« darf wohl nicht zuletzt als eine angemessene Beschreibung dieser Atheismus-Kampagne angesehen werden. Wer sogar Atheismus-fördernde Parolen auf Bussen finanziert, darf als »gottloser Prediger« jedenfalls ein hohes Sendungsbewusstsein für sich beanspruchen, das – obgleich mit negativen Vorzeichen – demjenigen eines »Religionsgründers« gewiss sehr nahekommt. Unterstützt wird diese atheistische Neuevangelisation mit der inzwischen eingerichteten Webseite www.richarddawkins.net, die nicht nur allen Sympathisanten und Bekehrten eine verlässliche Plattform bietet, sondern im aufreibenden Kampf gegen die »Feinde der Vernunft« auch eine verlässliche geistige Orientierung und Halt bieten will. In der »Richard Dawkins-Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« als einer »clear thinking oasis« (so die Selbstbezeichnung auf der Homepage) können die – sich oftmals als die »brights« bezeichnenden – Anhänger gleichsam ein neues geistiges Zuhause finden, das es ihnen überdies erlaubt, im Kampf gegen das Joch der Religion für die geistige Befreiung der Menschheit die gemeinsamen Kräfte und Aktivitäten zu bündeln und für weitere missionarische Unternehmungen auch finanzielle Unterstützung zu leisten. 3 Zudem anrichten würde, schon ihre sorgfältig geförderten Spaltungstendenzen – ihre absichtliche, gezielte Unterstützung der natürlichen Neigung der Menschen, Gruppenangehörige zu begünstigen und andere Gruppen auszuschließen, würden ausreichen, um sie zu einer bedeutsamen Kraft des Bösen in der Welt zu machen« (Gotteswahn 364). Der zu allen Zeiten – nicht zuletzt gegen die Schreckensregime des 20. Jahrhunderts – in unzähligen Fällen religiös motivierte Widerstand und das oftmals aus religiösem Glauben erbrachte Lebensopfer passt natürlich nicht so ganz zu Dawkins‘ Blick auf die Religionen, aber auch nicht, wie sich zeigen wird, zu seinem naturalistischen Menschenbild. – Jener (oben angeführte) von Dawkins gegen die Religionen gerichtete – völlig undifferenzierte und demagogische – Vorwurf könnte wohl genauso gut gegen die Berechtigung der Politik – und gleichermaßen gegen die Erlaubnis von Fußball-Spielen (und ihre massive mediale Präsenz) sowie gegen die Massen organisierter Fußball-Fans erhoben werden. 3 In vielerlei Hinsicht erinnern die Zielsetzungen und Aktivitäten Dawkins’ an den berühmten »›Welträtsel‹-Löser« Ernst Haeckel, der sich von seinen Anhängern vor mehr als 100 Jahren als »Gegenpapst« ausrufen ließ. Zu Recht merkt W. Graf zu dem Anspruch Dawkins’ an: »In Begriffen der Evolutionstheorie will er nicht nur Natur
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Einleitung
knüpft sich an Dawkins’ Diagnose »Gott existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht« und ihre geplante globale Ausbreitung zur Erhellung und zum Wohle der Menschheit freilich auch die tröstliche Botschaft »Now stop worrying and enjoy your life!«. Man fühlt sich an eine Bemerkung des großen Aufklärers Lichtenberg erinnert: »Und ich dank’ es dem lieben Gott tausendmal, dass er mich zum Atheisten hat werden lassen« (G. Ch. Lichtenberg). Eine neue Frohbotschaft ist es, welche die Wortführer und vier Evangelisten des »Neuen Atheismus« Dawkins, Hitchens, Harris und Onfray dergestalt einer von Religion als einem schlimmen Feind der Menschheit zu befreienden – besser: zu entgiftenden – Welt verkündigen. 4 2. Manches erinnert dabei in geradezu frappierender Weise an jenen »Apostel des Atheismus« (in der Erzählung »Der grüne Heinrich« von Gottfried Keller), »der im wörtlichen Sinne ausgezogen war, die Welt zu sehen und zu genießen, nachdem der liebe Gott aus derselben weggeschickt worden. Dies Ereignis hielt er für einen unberechenbaren Glücksfall, und er rief unaufhörlich, wo er hinkam: ›Es ist eine Freude zu leben!‹, als ob die Welt in der Tat von ihrem größten Feinde und Bedrücker soeben befreit worden wäre, seit er die Werke des Phiund Naturgeschichte erschließen, sondern endlich auch die Geheimnisse aller Kultur und speziell der Religionsgeschichte aufdecken. Dawkins appelliert an die Atheisten aller Länder, sich zu einer Massenbewegung zu sammeln. In den eitlen Posen des alldeutenden Großaufklärers erinnert er an seinen Fachkollegen Ernst Haeckel, den ›Welträtsel‹-Löser, der sich von den Monisten einst zum ›Gegenpapst‹ ausrufen ließ« (Graf 2008, 23). Die programmatische Nähe zu Haeckel ist in der Tat unübersehbar – schon in der von ihm ausdrücklich betonten »naturalistischen Konzeption«, nicht zuletzt aber auch in dem Buch »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, das sich wie eine programmatische Vorlage zu Dawkins’ Buch »Die Schöpfungslüge« ausnimmt und diese ebenso wie Dawkins als Alternative bzw. Konkurrenz zur Religion versteht bzw. anbietet. 4 In diesem Sinne geben Dawkins-Kritiker sogar zu bedenken: »Es sollte beim Leser inzwischen kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Dawkins und seine Gesinnungsgenossen es auf eine Kulturrevolution abgesehen haben. Sie halten die Religion für schädlich und dagegen wollen sie etwas unternehmen. Ihre Argumente gegen die Religion sind nicht dazu gedacht, in Hörsälen zu verhallen oder zwischen Buchdeckeln zu verstauben; sie sollen eine politische Wirkung erzielen. Die neuen Atheisten wollen endlich Taten sehen. Ihnen mangelt es nicht an atheistischer Dreistigkeit, was ihnen fehlt, ist politische Macht« (Hahn/Wiker 2012, 186). Wer sich die in den Schriften der »neuen Atheisten« zutage tretenden Ansprüche, ihren Eifer und die daran geknüpften Strategien genauer vor Augen führt, wird nicht bezweifeln können, dass diese – vielleicht auf den ersten Blick als überzogen erscheinende – angeführte Einschätzung wohl durchaus berechtigt ist.
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losophen [damals: Feuerbach] gelesen« – wobei dieser Apostel für die Verkündigung seiner Frohbotschaft bedauerlicherweise noch auf ein Fahrrad angewiesen und von »Atheism campaign«-Bussen nicht einmal träumen konnte. 5 Wie es sich für einen Wortführer nicht nur »heller«, sondern auch aufrichtiger Köpfe gehört, richtet sich Dawkins’ Buch »Der Gotteswahn« demnach verheißungsvoll an gewissermaßen erlösungsbedürftige »Menschen, die den unbestimmten Wunsch verspüren, die Religion ihrer Eltern hinter sich zu lassen, und denen einfach nicht klar ist, dass dieses Hintersichlassen durchaus möglich ist. Sollten Sie zu diesen Menschen gehören, dann haben Sie das richtige Buch vor sich. 6 Es will bewusstseinsbildend wirken – unser Bewusstsein schärfen, dass Atheist zu sein ein realistisches Ziel ist, noch dazu ein tapferes, großartiges Ziel. Man kann als Atheist glücklich, ausgeglichen, moralisch und geistig ausgefüllt sein« (Gotteswahn 11). Es wird sich erweisen: Ein besonderer Zug dieses »moralischen und geistigen Ausgefülltseins« und des von ihm beanspruchten Mutes tritt nicht zuletzt in der bewundernswerten Kühnheit zutage, mit der Dawkins ohne Sachkenntnis, dafür mit umso höherem Entrüstungs- und Spottbedarf, sich über die einschlägigen Themenfelder (Gottesfrage, Gottesbeweise, Schöpfung, aber auch über die im engeren Sinne biblischen Themen) auslässt. Aber auch Menschen mit ein wenig bestimmteren Wünschen werden nicht enttäuscht. Denn wohl auch für sie hält Dawkins, als So im Roman »Der grüne Heinrich« (13. Kapitel: »Der gefrorne Christ«) von Gottfried Keller, der bekanntlich der Religionskritik Feuerbachs durchaus nahestand. Da es sich bei Kellers atheistischem Missionar um eine literarische Figur handelt, ist eine etwaige Verwandtschafts-bedingte Abhängigkeit vom Gen- und Mempool desselben auszuschließen (»Meme« sind nach Dawkins »Einheiten der kulturellen Vererbung«, s. u. I., 2.2.1); dass Dawkins diese Erzählung des so souveränen aufgeklärten Geistes Gottfried Keller gekannt hat, ist (ungeachtet der auffälligen Übereinstimmung jenes Kurz-Evangeliums mit den Aufschriften der britischen Atheismus-Busse) aus vielerlei Gründen jedoch äußerst unwahrscheinlich. Es ist freilich geradezu kurios, wenn Henkel (Henkel 2012, 202) sich in seiner Dawkins-Apologetik auf Keller beruft; weckt doch Dawkins’ Mission unvermeidlich Assoziationen zu jenem von Keller angeführten »Apostel des Unglaubens«, der genauso der souveränen Kritik Kellers unterliegt wie sein »gläubiges« Gegenbild in Gestalt des Kaplans. Die geistreiche und humorvolle – und wahrlich den »Geist der Aufklärung« widerspiegelnde – Schilderung Kellers in dem Kapitel »Der gefrorne Christ« in »Der grüne Heinrich« ist in der Tat lehrreich und heilsam. 6 Schon dies lässt erkennen, dass Dawkins sich damit ja keineswegs lediglich gegen fundamentalistische bzw. evangelikale Kreise wendet. 5
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Frucht jener von ihm beabsichtigten Bewusstseinserweiterung, den »atheistischen Stolz« bereit – denn so Dawkins (Gotteswahn 15): »Atheist zu sein ist nichts, wofür man sich entschuldigen müsste. Im Gegenteil: Man kann stolz darauf sein und hocherhobenen Hauptes bis zum Horizont blicken, denn Atheismus ist fast immer ein Zeichen für eine gesunde geistige Unabhängigkeit und sogar für einen gesunden Geist.« Dass dies in Dawkins’ eigenem Falle nicht unbedingt zutrifft, wird schon daraus deutlich, dass sich die beanspruchte »geistige Unabhängigkeit« offenbar als nicht so ganz »gesund« erweist: Sie begegnet zwar in seiner Auseinandersetzung mit den Themen »Gottesfrage und Religion« in gewisser Weise in der Tat auf Schritt und Tritt – jedoch entpuppt sich diese »geistige Unabhängigkeit« näher besehen vor allem als erstaunliche Unbedarftheit und Unbelastetheit von der Sachkenntnis in jenen theologischen und philosophischen Themen, über die Dawkins herzieht und seinen Phantasie-gespeisten Spott ausgießt. Ein besonderer Zug dieser »geistigen Unabhängigkeit« und seines »atheistischen Stolzes« liegt wohl darin, dass er dabei in seinem bewusstseinsbildenden Wirken offenbar nicht weniger »tapfer« auf die Unkenntnis seiner Leserschaft vertraut, die er mit seiner Aufklärungsarbeit erreichen und zur Konversion zum Atheismus trotz bedrohlicher Signale aus der sozialen Umwelt ermutigen will. Was weniger den uneingeschränkten Respekt für den intellektuellen Anspruch des Verfassers des »Gotteswahns«, sondern eher höchstes Erstaunen hervorruft, ist in der Tat die geradezu unglaubliche Chuzpe und Unverfrorenheit, ebenso das Vertrauen in die Unbedarftheit seiner Leser, mit dem er sich an diese wendet. Dabei scheut er auch vor klischeehaften Alternativen und Gegensätzen nicht zurück und demonstriert in einer bemerkenswert selbstbewussten Tonlage ganz ungeniert seine Unkenntnis der jeweiligen Sachthemen bzw. der von ihm kritisierten Positionen – offenbar in der sicheren Erwartung, dass sein Zielpublikum damit nicht vertraut ist bzw. daran kein besonderes Interesse nimmt und seiner Überredungs-Kunst zum Opfer fällt. Bisweilen verbindet sich sein Vertrauen auf die Unkenntnis seiner bekehrungswilligen Leser damit, dass er sich, wenn es nur passt (d. h. seiner Absicht dient), ganz einfach und allzu begierig auf fremde Quellen stützt (Gotteswahn 185 f.). Dass Dawkins seine Auskunft, fremde »persönliche Meinungen, … genauso wie [s]eine eigenen, nicht für sonderlich spannend« zu halten, fortlaufend in penetranter Weise dementiert, zeigt sich nicht nur darin, dass gerade 25 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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auch in seinen themenbezogenen Äußerungen weithin um Sachkenntnis unbekümmerte »bloß persönliche Meinungen« im Vordergrund stehen, die nicht das leiseste Bemühen erkennen lassen, sich über die von ihm verworfenen philosophischen bzw. theologischen Lehrstücke auch nur in elementaren Bezügen zu informieren. Seine Ausführungen bewiesen ein Ausmaß an theologisch-philosophischem »Durchblick«, der seinesgleichen sucht. Dass dies in eklatantem Widerspruch zu seiner treuherzigen Versicherung steht, »nichts als die Wahrheit« anzustreben, wird sich in allen Teilen der in diesem Buch unternommenen Kritik an Dawkins immer wieder bestätigen. Dawkins beleidigt nicht nur das religiöse Gefühl – das könnte man als bedauerliches Nebenprodukt der evolutionären Entwicklung zum Atheismus nachsehen –, sondern die menschliche Vernunft und jeden Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit. 7 Auch dies sollte deutlich werden: Keinesfalls die Position des »Atheismus« selbst ist es in erster Linie, die irritiert und an der man Anstoß nimmt – sondern vor allem die Art und Weise des Dawkins’schen Umganges mit diesen einschlägigen Themen ist ein intellektuelles Ärgernis. Dass er, trotz seines betonten philosophischen Interesses, jede Auseinandersetzung mit seriöser religionsphilosophisch-theologischer Fachliteratur meidet, ähnelt tatsächlich dem vernünftigen Umgang mit Viren – man meidet am besten den Kontakt und erspart sich damit eine langwierige und anstrengende Abwehr bzw. Auseinandersetzung. Gewiss, auch für Dawkins darf gelten: »Er hat den Kelch des Stolzes getrunken« 8 – jedoch ist sein »atheistischer Stolz« nicht so ohne weiteres von bloßer Prahlerei zu unterscheiden; und bekanntlich erweist sich ein allzu »hocherhobenes Haupt« mitunter als sichtbares Zeichen für ein übersteigertes Selbstbewusstseins, in dem wohl – über allen »atheistischen Stolz« hinaus – nicht nur berechtigter Stolz und »aufrechter Gang« zum Ausdruck kommt. Indes passt es durchaus zu diesem »hocherhobenen Haupt« eines die Menschheit von einer ihrer größten Lasten befreienden Kämpfers, dass natürlich auch, wie sich zeigen soll, von wuchtigen Empörungsgesten flankierMit Recht wurde darauf hingewiesen, dass Dawkins und andere Vertreter des »Neuen Atheismus« vielfach selbst in ihrem Zu- und Umgang mit dem Thema »Religion« eine »fundamentalistische« Einstellung verraten (vgl. Schärtl 2008, bes. 157 f.). 8 Nicht zuletzt auf Dawkins hätte der Aufklärer Lichtenberg diese Bemerkung bezogen: G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher. Hg. v. F. H. Mautner. Mit einem Nachwort, Anmerkungen z. Text, einer Konkordanz der Aphorismen-Nummern und einer Zeittafel. Frankfurt/Main 1984, D 394 (Insel-Taschenbuch 792). 7
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te Erbaulichkeit am rechten Ort nicht fehlen darf. Es ist nicht zu übersehen: Der Entrüstungsbedarf ist, dem »hocherhobenen Haupt« ganz gemäß, überaus groß und die Hemmschwelle dementsprechend niedrig – und die Folge daraus geradezu unvermeidlich: ein einziger Triumph der Empörung über die Urteilskraft. Es ist diese eigentümliche Verknüpfung von immenser biologischer Sachkenntnis, suggestiver Tonlage und konstantem Entrüstungsbedarf, auf die Dawkins sich so meisterhaft versteht; sie ist es wohl auch, die bei den Adressaten seiner Schriften den Anschein einer von intellektueller Redlichkeit und wissenschaftlichem Interesse geleiteten leidenschaftlichen Wahrheitssuche im Dienste der Befreiung von dunklen weltanschaulichen und wissenschaftsfernen Mächten erzeugt. Schlichtweg unerklärlich bleibt dabei freilich auch, wie jemand wie Dawkins »Neue zehn Gebote« deklariert und darunter auch Forderungen erhebt, denen er selbst, wie sich zeigen soll, nachweislich fortwährend widerspricht. Die zweite Hälfte der Dawkins’schen Gesetzestafel kann hier genügen: »6. Strebe stets danach, Neues zu lernen. 7. Stelle alles auf den Prüfstand; miss deine Ideen immer an den Tatsachen und sei bereit, auch lieb gewordene Überzeugungen über Bord zu werfen, wenn sie sich nicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lassen. 8. Versuche nie, zu zensieren oder dich von Meinungsverschiedenheiten abzukapseln; respektiere immer das Recht der anderen, anderer Meinung zu sein als du. 9. Bilde dir aufgrund deiner eigenen Vernunft und Erfahrung eine unabhängige Meinung; lass dich nicht blind von anderen führen. 10. Stelle alles infrage« (Gotteswahn 592). In der Tat möchte man sagen: So sei es! – Doch leider: Dawkins, der Wegweiser, geht selber nicht mit: Lässt er doch, wie auch Graf anmerkt, ebenso die Bereitschaft dazu völlig vermissen, dieses Gebot »Stelle alles in Frage!« auch auf sich selbst anzuwenden; auch missachtet er die anderen von ihm selbst aufgestellten Gebote mit unüberbietbarer Beharrlichkeit. Die Kennzeichnung des Dawkins’schen Unternehmens und seiner Zielsetzung trifft zweifellos zu: »Es ist die Sprache der geballten Faust« 9, die freilich auch durch Schärtl 2008, 147 f; 153. Schärtl merkt dazu mit Recht an: »Die theologisch-fundamentaltheologische Antwort auf diese Attacke ist schon deshalb nicht leicht, weil es sich bei diesen Denunziationen meist um sehr grobe Klötze handelt, die für die feinen Keile theologischer Distinktionen vollkommen unempfindlich sind« (ebd.). Auch die nach seinem »Gotteswahn« erschienenen einschlägigen Bücher bestätigen fortwährend den Befund Lohfinks: »Dawkins schreibt nicht als nüchterner Naturwissenschaftler und erst recht nicht als einer, der die abendländische Geschichte ab-
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einen bloßen Kampf gegen »Kinderglauben« und gegen fundamentalistische religiöse Irrläufer wohl kaum zu rechtfertigen wäre. Bemerkenswert ist diesbezüglich aber auch eine seltsame Diskrepanz und Dissonanz, die wohl nur eine psychologische Erklärung finden kann: Dawkins richtet sein Buch ausdrücklich gegen den primitiven »Kinderglauben« einer unaufgeklärten breiten Bevölkerung – nicht an die religiösen aufgeklärten Zeitgenossen und theologisch Gebildete; denn für die hätte er, so seine Auskunft, ein ganz anderes Buch geschrieben (vielleicht kommt das ja noch – aber was wäre der Inhalt desselben?); und dennoch findet sich darin eine Ablehnung der »Gottesbeweise« u. Ä., was jedoch die bislang in ihrem »Kinderglauben« gefangenen Unaufgeklärten, als sein vorrangiges Zielpublikum, kaum interessieren dürfte, zumal diese mit solchen Themen ja auch kaum vertraut sein dürften. Dawkins verfolgt insgesamt eine raffinierte Strategie: Denn sowohl bezüglich seines »Gotteswahns« als auch seines Buches »Die Schöpfungslüge« beteuerte er, sich mit diesen Büchern keineswegs an aufgeklärte und gebildete Zeitgenossen bzw. Vertreter einer aufgeklärten Theologie zu richten – also auch sein Protest gegen »Die Schöpfungslüge« wende sich vornehmlich nicht an sie, sondern vielmehr gegen evangelikal-fundamentalistisch-kreationistische Kreise; das Problem ist nur, dass die Vertreter dieses seines Zielpublikums in thematisch einschlägigen Debatten im akademischen Umfeld im Grunde keine Rolle spielen – gerühmt und geehrt wird er für sein »Aufklärungswerk« jedoch auf akademischen und durchaus Universitäts-nahen Bühnen! Trotz seiner Beteuerung des bescheidenen Anspruchs 10, sich lediglich gegen den primitiven Kinderglauben zu richten, wurde – in eklatantem Widerspruch zu solcher Selbstbescheidung – das Buch in der Presse sogar gefeiert als »das aufregendste Buch des Jahres … Eine Generalabrechnung mit der Religion« 11 – eine »Würdigung«, die sich offenbar aus besonderen wägend betrachtet, sondern als eifernder Propagandist des Atheismus. Er gefällt sich darin, den christlichen Glauben zu dämonisieren und alles Große und Wegbereitende an dessen Geschichte konsequent zu verschweigen. Stattdessen steigert er sich in Entlarvungs-Rhetorik hinein« (Lohfink 2013). Nicht zuletzt die Bücher »Die Schöpfungslüge« und »Der Zauber der Wirklichkeit« bestätigen dies eindrucksvoll. 10 Von diesen eher bescheidenen Ansprüchen ist allerdings nicht mehr viel zu spüren, wenn es sodann heißt: »Wenn dieses Buch die von mir beabsichtigte Wirkung hat, werden Leser, die es als religiöse Menschen zur Hand genommen haben, es als Atheisten wieder zuschlagen« (Gotteswahn 32 f.). Da gibt es allerdings vermutlich noch andere Möglichkeiten. 11 Die Welt am Sonntag v. 16. 09. 2007. Es ist offensichtlich, dass eine solche Einschät-
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Interessen speist und mit jener von Dawkins verfolgten Intention wohl auch nicht so ohne weiteres vereinbar ist. Indes, von einer solchen »Generalabrechnung« kann nach Dawkins’ Selbsteinschätzung offenbar doch nicht so ohne weiteres die Rede sein – obgleich er dann, widersprüchlich dazu, doch wieder (so auch in den Medien) ganz deutlich seine Ziel formuliert, die von geisterseherischen Träumen erwachte Menschheit von der »Nicht-Existenz Gottes« zu überzeugen, d. h. durchaus auch die »Religion der Gebildeten« miteinzubeziehen – sofern Letztere denn überhaupt eine solche (noch) haben können. Dass dieses strategische Schwanken Dawkins’ auch in den Medien offenbar unbemerkt bleibt und er – trotz seines ausdrücklich benannten Zielpublikums! – als intellektueller Wortführer des »modernen Atheismus« hofiert wird, dessen »Gotteswahn« gar als »Buch des Jahres« gewürdigt wurde, ist recht bezeichnend für die geistige Signatur der Gegenwart. Auch nach seinem »Gotteswahn« schreibt und redet Dawkins sehr viel und vornehmlich über Religion – indes, an die »Gebildeten unter ihren Verächtern« wendet er sich offenbar nach wie vor nicht. Und doch versteht er sich dann wiederum als Wortführer des modernen Atheismus, der sich keinesfalls mit der Zerstörung des »Kinderglaubens« – Atheismus als »Kinderglauben«-Kritik? – begnügt, zumal dies wohl kaum jenen »atheistischen Stolz« erklären oder gar rechtfertigen könnte. Eine andere Seite seines »atheistischen Stolzes« ist freilich dies: Wissenschaftler, die sich Dawkins’ Atheismus-Diagnose nicht fügen und die in seiner beanspruchten »geistigen Unabhängigkeit« eher eine bloße Unkenntnis erkennen wollen, geraten folgerichtig umgehend unter moralischen Generalverdacht. 12 Nicht selten verlässt sich Dawkins in seinen Urteilen über die »wahren Motive« religiös angezung stillschweigend auf eine Gleichsetzung des »Kinderglaubens« bzw. fundamentalistisch-evangelikaler »Gläubigkeit« mit »der Religion« hinausläuft. – Es ist schon ein wenig kurios, dass ein Buch mit dem bescheidenen Anspruch, lediglich eine Widerlegung fundamentalistischer religiöser Auffassungen bzw. eines »Kinderglaubens« zu leisten, medial gar zum »aufregendsten Buch des Jahres« hochgejubelt wird; allerdings steht jene Selbstbescheidung in offenkundigem Widerspruch zu anderen – recht unbescheidenen – Ansprüchen Dawkins’. 12 Zu Dawkins’ Berufung auf die zahllosen atheistischen Naturwissenschaftler s. Mynarek 2010, 54 ff. – Zu der in mehrfacher Hinsicht problematischen These Dawkins’, dass die Mehrheit der Naturwissenschaftler Atheisten seien, s. die grundlegenden Einwände von Pietschmann 2010, 355 f. In einer anderen Hinsicht muss freilich gelten, dass jedem seriösen Naturwissenschaftler ohnedies ein methodischer Atheismus abverlangt ist.
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kränkelter wissenschaftlicher Zeitgenossen auf seinen ausgeprägten diagnostischen Spürsinn und tiefenhermeneutischen Entlarvungsinstinkt gegenüber unaufrichtigen Zunftgenossen und den Feinden der Vernunft, 13 der selbst große wissenschaftliche Autoritäten besser zu verstehen – zu durchschauen – vermag als diese sich selbst. Gleichsam von vornherein steht für ihn fest: »Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu sein scheinen [!], so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Überzeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind. Für Einstein und Hawking gilt das mit Sicherheit« (Gotteswahn 26). 14 Bei anderen, »gläubigen« Naturwissenschaftlern seien hingegen ohnedies häufig lediglich Feigheit und Heuchelei im
Es wird sich bestätigen, dass Dawkins in programmatischer Hinsicht und in der Sache weithin Holbach (1723–1789) folgt, der, als ein Hauptvertreter des »französischen Materialismus«, mit seiner Schrift »Systeme de la nature« – oft »Bibel des Materialismus« genannt – als der große Vorläufer Dawkins’ nicht zuletzt durch die Auffassung gelten darf, dass die Religion »die große Feindin der Wissenschaft und echten Moral sei – nicht zuletzt auch Schaden bringe, weil sie die Menschen trennt«. Schon Rousseau hat darauf die Antwort gegeben: »Sind denn die Leute, die mit der Religion Handel treiben, die, die eine haben? Alle die Verbrechen, die unter der Geistlichkeit ebenso wie anderwärts begangen werden, beweisen absolut nicht, dass Religion unnütz ist, sondern nur, dass es sehr wenig Menschen gibt, die Religion haben« (Rousseau 1963, 637 Anm.) Nicht zuletzt gilt dies auch für all jene Argumente moderner Atheisten, die aus moralischen Gründen der »Religion als Gift« den Kampf ansagen. 14 H. Mynarek bringt in seinem Buch »Die neuen Atheisten …« (s. 26–54) eine Fülle von Belegen dafür, dass sich Dawkins hier jedenfalls ganz zu Unrecht auf Einstein beruft – und zwar ganz unabhängig davon, wie die einzelnen Äußerungen Einsteins zu verstehen sein mögen. Ungeachtet der von Einstein betonten Ablehnung eines »persönlichen Gottes« rekurriert er immer wieder auf seine »Bewunderung des unendlich überlegenen Geistes, der sich in dem Wenigen offenbart, was wir mit unserer schwachen und hinfälligen Vernunft von der Wirklichkeit zu erkennen vermögen«; es ist die Rede von seiner »demütigen Anbetung [!] eines unendlichen geistigen Wesens höherer Natur«, der »Existenz einer höheren Denkkraft, die sich im unerforschlichen Weltall manifestiert«, die »den Inhalt meiner Gottesvorstellung« bilde – also eine Konzeption, die man insgesamt wohl doch als »deistisch« bezeichnen könnte. »Die gängige Vorstellung, ich sei ein Atheist, beruht auf einem großen Irrtum. Wer sie aus meinen wissenschaftlichen Theorien herausliest, hat diese kaum begriffen« (A. Einstein, zit. n. Mynarek 2010, 36). »Der um jeden Preis seinen Atheismus beweisen wollende Dawkins brauchte die wissenschaftliche und ethische Autorität eines Einstein sozusagen als Patron und Paten seiner atheistischen Position, um deren Bedeutung zu erhöhen. Folglich musste er ihn als Denker darstellen, der seinen eigenen Pantheismus missverstand, ihn dummerweise nicht als Atheismus durchschaute, vielmehr häufig wie wir sahen – aber eben nach Dawkins fälschlicherweise – sich dagegen verwahrte, als Atheist angesehen und diffamiert zu werden« (Mynarek 2010, 45). 13
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Spiel (s. u. 302 f.), weshalb man sich mit ihnen auch nicht ernsthaft auseinandersetzen muss, sondern sich lediglich darüber angemessen entrüsten darf. Dawkins’ Leser/-innen haben so gewissermaßen die – durchaus Qual-lose – Wahl: »Die Leserschaft findet sich in eine dichotomisch konstruierte Situation gestellt, sowohl hinsichtlich der eigenen Wahlmöglichkeit in Sachen Selbstbeschreibung, als auch im Blick auf die Gesellschaft. Vielen Ausführungen nach gibt es darin diejenigen, die der Wissenschaft folgen, wohin sie auch führt, und es gibt diejenigen, die weiterhin den fortschrittsfeindlichen Philosopien und Religionen anhängen. An dieser Frontlinie werden die gesellschaftlichen Verwerfungen rekonstruiert, wobei sich das Bild einer kosmischen, oft endzeitlich ausgestalteten Auseinandersetzung abzeichnet, in der die Wissenschaft die Rolle des guten Prinzips übernimmt« 15. Ob es tatsächlich jemand schafft, vor dem unbestechlichen Richterstuhl Dawkins’ als bedeutender Naturwissenschaftler Anerkennung oder doch wenigstens Gnade zu finden, bemisst sich also offenbar nicht zuletzt an der Haltung zur Religion – nicht wenige, vermeintlich bedeutende Naturwissenschaftler schaffen diese Hürde nicht und bleiben dabei auf der Strecke: Einer von den vielen war offenbar auch der Nobelpreisträger für Physik, Werner Heisenberg, der an dieser Hürde Dawkins’ scheitern musste, denn, so Heisenberg: »Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.« Und es ist zu befürchten, dass ein ähnliches Schicksal wohl auch der Wiener Nobelpreisträger für Physik Erwin Schrödinger, nicht zuletzt mit seiner Sichtweise des Verhältnisses zwischen »Naturwissenschaft und Religion«, erlitten hat 16: »Er sei verbannt!« (»anathema sit!«). Heinrich 2002, 257. Schrödingers Befund ist offensichtlich nach wie vor höchst aktuell: »Es ist zugleich traurig und belustigend, zu beobachten, wie auf der einen Seite nur naturwissenschaftliche Erkenntnis wirklich ernst genommen wird, während auf der andern die Naturwissenschaft zu den rein weltlichen Disziplinen zählt, deren Ergebnisse weniger wichtig sind und selbstverständlich den Platz zu räumen haben, wenn sie in Konflikt mit der bessern Einsicht geraten, die auf andere Weise, durch reines Nachdenken oder Offenbarung, gewonnen wird. Es ist betrüblich, zu sehen, wie die Menschheit demselben Ziel auf zwei verschiedenen und schwierig gewundenen Pfaden zustrebt, mit Scheuklappen und zwischen trennenden Wänden, ohne jeden Versuch, durch Vereinigung aller Kräfte, wenn nicht ein volles Verständnis der Natur, eine schlüssige Antwort auf die Frage: was ist der Mensch? zu erreichen, so doch wenigstens das tröstliche Bewusstsein des Strebens nach ein und demselben Ziel […] Häufig genug erschüttert die Naturwissenschaft die landläufigen religiösen Überzeugungen, ohne
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3. Jedoch sind auch andere durchaus widersprüchliche Erklärungen über die von Dawkins verfolgten Zielsetzungen nicht zu übersehen. Auf der einen Seite steht die kompromisslos-radikale Absichtserklärung: »Ich greife nicht eine bestimmte Version von Gott oder Göttern an. Ich wende mich gegen Gott, alle Götter, alles Übernatürliche, ganz gleich, wo und wann es erfunden wurde oder noch erfunden werden wird« (Gotteswahn 53) 17 – also nicht nur gegen die »Religion der Eltern« und »Kinderglauben«; dieser Absichtserklärung entspricht auch das Bekenntnis zu seiner missionarischen Motivation, wonach er »alles in [s]einer Macht stehende tue, um die Menschen nicht nur vor so genanntem ›extremistischen‹ Glauben zu warnen, sondern vor dem Glauben überhaupt« (Gotteswahn 427). Mit solchen radikalen – man möchte beinahe sagen: heroischen – Ansprüchen ist freilich seine Antwort auf die in einem Interview an ihn gerichtete Frage nicht so ohne weiteres vereinbar: »Warum wehren Sie sich dann gegen das gesamte Konzept von Religion und Gottesglauben?« – nämlich: »Dagegen habe ich überhaupt nichts. Mich interessiert etwas anderes: die Wahrheit. Ich möchte gerne wissen, was wirklich ist« 18. Erst recht ist sie durch etwas anderes zu ersetzen. Daraus entsteht das groteske Phänomen, dass naturwissenschaftlich durchgebildete, geistig hochstehende Menschen eine unglaublich kindliche – unentwickelte oder verkümmerte – philosophische Weltanschauung haben« (Schrödinger 1955, 24–26). 17 Mit den bescheidenen missionarischen Ansprüchen seiner Stiftung gibt das Oberhaupt derselben sich also nicht zufrieden, heißt es doch in der Selbstcharakterisierung der Stiftung: »Unsere Mission: Unser Anliegen ist die Förderung naturwissenschaftlicher Bildung, kritischen Denkens und des auf Beweise gestützten Verständnisses der natürlichen Welt mit dem Ziel religiösen Fundamentalismus, Aberglauben, Intoleranz und menschliches Leid zu überwinden.« Das könnte freilich recht verstanden auch ein gläubiger Mensch unterschreiben – nur würde man wohl gerne auch die »Förderung« philosophischer und geisteswissenschaftlicher Bildung miteingeschlossen sehen, damit auch diesbezüglich das Stiftungsmotto gelten möge: »Mehr Vernunft und weniger Glauben« … Die Berechtigung dieses Anliegens wird sich in diesem Buch fortwährend bestätigen. 18 Vgl. das Interview mit Dawkins im »Stern« v. 6. Oktober 2007. – Damit zeigt Dawkins sich offenbar ganz von jenem unbeirrbaren Ethos beseelt, das die wahren Philosophen ja von Anfang geleitet hat, und teilt so auch die schon früh geäußerte Gewissheit, »dass es für die Philosophen ein leichtes sei, reich zu werden, wenn sie dies nur wollen, dass es aber nicht das sei, was sie interessiert« (so heißt es, gleichsam als ein bis heute gültiger »Leitspruch«, in der Anekdote über Thales [s. Diels/Kranz 11 A10], die berühmte erste Hauptgestalt der abendländischen Philosophie. Indes, Thales war es der Philosophiegeschichte zufolge aber auch, der leidenschaftlich-hingebungsvolle philosophische Wahrheitssuche und »solide Weltfremdheit« dennoch mit Geschäftssinn in exemplarischer Weise zu verbinden wusste: Über die Himmelserschei-
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mit jenen kämpferischen Ansagen sein zahmer Lockruf unvereinbar: »Mein größtes Anliegen ist die Wahrheit. Ich will wissen, ob es Gott gibt oder nicht. Diese Frage will ich mit meinen Lesern erörtern [!]« (ebd.) 19. Es wird sich noch zeigen, was man sich unter solchen »Erörterungen« näherhin vorzustellen hat sowie von seiner darin leitenden Absicht, Licht in die dunkle – und überdies von Dunkelmännern auch noch einmal verdunkelte – Sache zu bringen. Von dieser Aufgabe weiß sich Dawkins in seiner unbeirrbaren Wahrheitssuche beseelt und widmet sich pflichterfüllt ihrer Einlösung. Seine einschlägigen Äußerungen lassen ja auch erwarten, dass er sich in Zukunft auch noch einmal an gebildete, auf dem Boden der Aufklärung stehende Zeitgenossen wenden wird und sich dann auch auf einem entsprechenden Argumentationsniveau bewegt – die nach dem »Gotteswahn« erschienenen einschlägigen Publikationen und Bilderbücher erfüllen diese Erwartungen gewiss nicht. Nichts in seinen bisherigen Ausführungen bietet jedenfalls auch Anhaltspunkte für seine überraschende Auskunft, dass ihn tatsächlich besonders philosophische Fragen in seiner Wahrheitssuche bewegen. Irritierend ist dabei freilich vor allem das Niveau, auf dem die mit der Gottesfrage verbundenen Themen »erörtert« werden, und die darin zutage tretende offenkundige Weigerung, sich auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit
nungen sinnierend, stürzte er bekanntlich in den Brunnen – gleichwohl war er angeblich (dies ist weniger bekannt) aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse klug genug, im Ausblick auf eine »meteorologisch« zu erwartende gute Olivenernte rechtzeitig alle in der Nähe verfügbaren Ölpressen zunächst sehr billig zu mieten, um dieselben nach der übergroßen Ernte teuer weiterzuvermieten – eine gewiss beeindruckende und richtungsweisende Kombination von »vita contemplativa« und »vita activa«. 19 Nun hat es freilich den Anschein, dass der zunächst leidenschaftliche – obgleich gewissermaßen »anonyme« – Gottsucher einen Schritt vorwärtsgekommen ist; denn mittlerweile begnügt er sich nicht mehr damit, die Frage nach dem Dasein Gottes »mit seinen Lesern zu erörtern«, sondern ist – ja, auch die kulturell-geistige Evolution weist bekanntlich »Schübe« auf – inzwischen ein solcher geworden, dessen unruhiges Herz nunmehr offensichtlich Licht am Ende des Tunnels erahnt; jene Leidenschaft für die Wahrheit und »Mempool«-Verbreitung (s. dazu I., 2.2.1) inspiriert die am weitesten fortgeschrittenen »brights« inzwischen schon zu atheistischen Buskampagnen: »›Brights‹ aller Länder vereinigt euch!« – das scheint in der Tat dann vermutlich lediglich der konsequente nächste Schritt in der »bright«schen Mem-Vervielfältigung und -Verbreitung in deren Missionierung und Neu-Evangelisierung gegen die »Feinde der Vernunft« zu sein.
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der klassischen Religionsphilosophie und der philosophischen Theologie einzulassen. 20 Unerklärlich ist freilich auch, wie sich seine vorgeblich allein Wahrheits-orientierten »Erörterungen« zur Gottesfrage und seine einfühlsame Versicherung (Gotteswahn 44): »Ich bin nicht dafür, jemanden nur um der Sache selbst willen zu beleidigen oder zu verletzen. Aber für mich ist es faszinierend und rätselhaft, dass die Religion in unserer ansonsten säkularen Gesellschaft derart unverhältnismäßige Vorrechte genießt« 21, wiederum mit seiner fortwährenden groben Polemik verträgt – so etwa mit seinen Charakterisierungen der »Religion als Gedankenvirus aus der Bronzezeit« 22 bzw. als »Ansammlung von Gedanken-Viren, die sich am Leben erhalten und ausbreiten« 23. Von solcher Beschreibung der Religionen als »geistigen Viren« (Gotteswahn 246) bzw. von seiner Abqualifikation der Religion als einer »Geisteskrankheit« 24 werden sich wohl nicht nur GläuÜber die Dawkins-Debatten informiert ausführlich Peetz 2013 – in besonderer Berücksichtigung der Diskussionen im angelsächsischen Raum. Diese Debatten werden in diesem Buch jedoch vernachlässigt, zumal hier primär die philosophisch relevanten Themenfelder im Vordergrund stehen. 21 In Wahrheit ist freilich nicht Dawkins gegen solche Beleidigungen, sondern »nur« sein Gehirn; dies wiederum entlastet zugleich – denn die faktisch zahlreichen Beleidigungen aus dem Munde bzw. aus der Feder Dawkins’ sind eben nicht ihm, sondern seinem Gehirn bzw. den darin ablaufenden neuronalen Prozessen zuzurechnen; hätte er ein anderes Gehirn, so würde er auch nicht »beleidigen«. 22 »Vom Virus des Glaubens«, Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung, Band 2, Aschaffenburg 2008, 33. Patriotische Gesinnung verrät sein Zugeständnis, die anglikanische Kirche sei ein »gutartiger Virus«. Auch dies vermittelt einen nachhaltigen Eindruck davon, was man sich unter jener schon angeführten Beteuerung genauerhin vorzustellen hat: »Ich will wissen, ob es Gott gibt oder nicht. Diese Frage will ich mit meinen Lesern erörtern«. – Zu Dawkins’ »Wahrheitssuche« bezüglich der Gottesfrage s. auch A. Flew 2008. 23 S. wiederum »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur. 24 Von »Geisteskrankheit« will Dawkins später (so in dem Interview »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur) die Religion lediglich »wegen der großen Zahl« ihrer Anhänger sprechen; offenbar deshalb sei eher von »Wahn« zu reden. So betont Dawkins schon in seinem »Gotteswahn«: »Leidet [!] ein Mensch an einer Wahnvorstellung, so nennt man es Geisteskrankheit. Leiden viele Menschen an einer Wahnvorstellung, dann nennt man es Religion« (Gotteswahn 17 f.). Dawkins selbst insistiert also ausdrücklich auf dieser Charakterisierung als »Wahnvorstellung«. (Nur nebenbei sei hier daran erinnert, dass bekanntlich Freud von der Wahnvorstellung den »Illusions«-Charakter der Religion abgegrenzt hat. Auch aus diesem Grund ist die von Robert Seidel (gegen die Dawkins-Kritik von J. Kahl gerichtete) Verteidigung nicht stichhaltig: »Das englische Original delusion bedeutet allerdings auch ›Irrglaube‹ – wie im Text erklärt wird. Für die Übersetzung kann Dawkins nichts, und ihm 20
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bige bzw. Theologen angesprochen fühlen; dies gilt auch bezüglich seiner Feststellung: »Warum es in der Kirche überhaupt noch Kreise gibt, die die Bezeichnung ›gebildet‹ verdienen, ist ein mindestens ebenso großes Rätsel wie die, an denen die Theologen ihre Freude haben« (Gotteswahn 86 f.). Zahllos sind seine einschlägigen Beifallheischenden rhetorischen Untergriffe – etwa auch seine Bezugnahme auf die ihm bekannten »religiösen, ansonsten aber intelligenten Wissenschaftler« (Gotteswahn 152) oder entlarvende Hinweis von der Art, dass »Leute mit theologischen Neigungen … oft chronisch unfähig« sind, »das Wahre vom Wünschenswerten zu unterscheiden« (Gotteswahn 153) 25. Ganz in diesem Sinne möchte er (vgl. Gotteswahn 28) die Vorstellung, »Religion sei ein richtiges Fachgebiet, auf dem man Fachkenntnisse besitzen können, nicht unhinterfragt« stehen lassen und hat dafür als Begründung sogleich den markanten Vergleich parat, dass man ja auch die Fachkenntnisse eines anerkannten »Elfenforschers« über »Form und Farbe von Elfenflügeln wahrscheinlich nicht anerkannt« hätte. Demgemäß wartet Dawkins noch immer auf einen stichhaltigen Grund für die Annahme, dass die eine durch sie zustande gekommene veränderte Lesart zur Last zu legen, vor allem, wenn sie im Buch richtiggestellt wird, zeigt eklatanten Mangel an Sorgfalt – oder Böswilligkeit« (Seidel 2014): Dass Dawkins selbst für die »Übersetzung« und eine »durch sie zustande gekommene veränderte [!] Lesart« nicht verantwortlich sei, kann aus mehreren Gründen nicht überzeugen – hat er sich etwa jemals in einschlägigen Diskussionen über sein Buch in »deutsch-sprachigen« Medien dazu veranlasst gesehen, ein durch jene »Übersetzung« möglicherweise begünstigtes Missverständnis richtigzustellen? 25 Ein wenig erinnert Dawkins’ Befund: »Die Menschheit kann die Kleinkindphase hinter sich lassen und endlich erwachsen werden« (zit. n. McGrath 2007, 22) an das berühmte »Dreistadien-Gesetz« des Soziologen A. Comte, dem zufolge ein frühes »animistisch-religiöses« und ein »philosophisch-metaphysisches« Stadium zuletzt von einem »wissenschaftlichen« Stadium abgelöst, d. h. überwunden wird. Explizit ausgesprochen ist diese (der Sache nach auch bei Dawkins vorherrschende) Vorstellung bei einem anderen Wortfüher des »Neuen Atheismus«: Nach Ch. Hitchens ist Religion ein Relikt aus der »Kindheit der Menschheit« (Hitchens 2007, 84). Übrigens: Der ganze Aufbau von Dawkins’ Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« folgt diesem Erklärungsmuster: So werden in den einzelnen Kapiteln von Dawkins – zum Spaßbedarf bzw. zur Stimulierung der Phantasie – jeweils sogenannte »Mythen« vorangestellt, bevor dann die Naturwissenschaft den »Zauber der Wirklichkeit« gleichermaßen enthüllt und eben dadurch besonders »bezaubert«. Dergestalt ist also nach langen Mühen und Hindernissen die Ablösung des mythologischen und des philosophisch-metaphysischen Weltanschauung durch das naturwissenschaftliche Weltbild endlich und endgültig abgelöst und die nunmehr »entzaubert-bezauberte« Menschheit atmet dankbar auf.
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Theologie (im Unterschied zu historischer Bibelkunde, Literatur usw.) überhaupt ein Forschungsgegenstand ist (Gotteswahn 82). Sein Zweifel daran, ob denn die Theologen überhaupt »eine eigene Domäne« haben (Gotteswahn 80) 26, lässt ihn eher mit der Ansicht sympathisieren, dass Religion, aber auch Theologie offenbar selbst wohl eher als ein umfangreiches, primär dem Gebiet der Psychopathologie bzw. der Evolutionspsychologie zuzuordnendes Forschungsthema anzusehen sei, die sie als unheilvolles Nebenprodukt der Evolution erklären könnten. Ziel wäre es jedenfalls, solcherart die Anhänger (Gotteswahn 108) eines fehlgeleiteten »gesunden Menschenverstandes« 27 von dem Verhängnis solcher Trugbilder zu befreien und so dem gesunden Menschenverstand seine abgründige, die Geisteskräfte paralysierende Krankheit vor Augen zu führen, für deren Behandlung Dawkins den religiös Infizierten großzügig »Krankenscheine ausstellt« 28. Solche Etikettierungen seiner Gesprächspartner – besser wohl: seiner Feindbilder – passen freilich sehr schlecht zu einem Autor, der mit seinem Buch angeblich das vorrangige »Ziel« verfolgt, durch eine nüchterne Erörterung der Gottesthematik das »Bewusstsein zu schärfen« (Gotteswahn 14) und bewusstseinsbildend in einem nichtindoktrinierenden Sinne zu wirken, und nicht vereinnahmen will. Stutzig Da wird freilich jene Nachdenklichkeit eines »Nach-Gott-Fragens« schon im Keim erstickt, wie sie von den – gewiss unverdächtigen – Herausgebern eines Sonderheftes des »Merkur« zum Ausdruck kommt: »Nach Gott zu fragen, sei es in der Weise der Theologie, sei es mit Blick auf das Religiöse in der säkularen Welt, ist ein Exerzitium. […] Wer es ausschlägt, nimmt Schaden – der Gläubige an seiner Seele, der Ungläubige an seinem Intellekt« (K. H. Bohrer/K. Scheel, Vorwort zum Sonderheft »Nach Gott fragen. Über das Religiöse«. In: Merkur 53 [1999], 769–771). 27 Die Berufung auf den »gesunden Menschenverstand« ist stets mit Vorsicht zu genießen, weil dieser oftmals so »gesund« nicht ist, sondern sich nicht selten lediglich unbefangen und »robust« geriert. Die Berufung wird allzu oft als Freibrief dafür verstanden, sich ohne jede Sachkenntnis – in diesem Falle: ohne jede philosophische Kenntnisse – über philosophische Themen und Positionen oftmals in sehr abschätziger Weise zu äußern. 28 Graf 2008, 26. – Man muss offenbar kein verblendeter Gläubiger sein, um die Einschätzung des prominenten amerikanischen Theologen Plantinga zu teilen: »The God Delusion … contains little science; it is mainly philosophy and theology (perhaps ›atheology‹ would be a better term) and evolutionary psychology, along with a substantial dash of social commentary decrying religion and its allegedly baneful effects. As the above quotation suggests, one shouldn’t look to this book for evenhanded and thoughtful commentary« (http://www.christianitytoday.com/bc/2007/ 002/1.21.html). 26
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macht diesbezüglich schon Dawkins’ früh geäußertes freimütiges – obgleich auch widersprüchlich geratenes – Bekenntnis, er wolle mit seinen einschlägigen Auffassungen »überreden und sogar … begeistern« – ebenso dies, dass er in solchem Vorhaben »sich der Tricks eines Anwalts bedienen« müsse; denn schon mit jener wiederholten Beteuerung, dass ihm »die Wahrheit sehr [!] wichtig« sei und er »nie etwas« sage, woran er »nicht glaube« (Uhrmacher 8), ist dies jedenfalls nicht so ohne weiteres vereinbar. Eher reiht Dawkins sich mit solchen Überredungs- und »Begeisterungsabsichten« erfolgreich in die Tradition jener »sophistischen« Kreise ein, die bekanntlich vornehmlich das Ziel verfolgten, durch wohlkalkulierte »Argumentationsstrategien« – gewissermaßen im »struggle of life« angesichts knapper Ressourcen – auch die schwächere bzw. schlechtere Sache in ein besseres Licht zu rücken, d. h. für sie zu »überreden« – eine ja auch in evolutionstheoretischer Hinsicht sehr bemerkenswerte Perspektive bzw. Erfolgs-orientierte Überlebensvorteil-»Strategie«, die so gesehen in der Tat recht gut zu seiner eigenen Mem-Lehre passt (s. u. I., 2.2.1). 29 Zu diesen (faulen) »Überredungs«-Tricks gehört offenbar auch dies, dass Dawkins gegenüber missliebigen Positionen nicht selten ohne Zögern die kuriosesten Auffassungen unterstellt, d. h. ganz einfach mit falschen Karten spielt – ein Sachverhalt, der sich im Folgenden immer wieder bestätigen wird. Nur nebenbei: Wer sich wie Dawkins (in Interviews) gegen den Vorwurf einer Aggressivität gegenüber den Religionen mit dem Hinweis verteidigt, er sei lediglich »militant in der Sache der Wahrheit«, lässt nicht nur erstaunliches Selbstbewusstsein erkennen, sondern muss sich an solchen Ansprüchen auch messen lassen. 30 4. Dass die in Dawkins’ Bestseller »Der Gottes-Wahn« vorgebrachten Einwände und seine Auseinandersetzung mit der Gottesthematik in der traditionellen Theologie und Philosophie auch wirklich stichhaltig oder in wissenschaftlicher Hinsicht nicht vielmehr vordergründig Auffällig, aber leicht zu erklären ist auch dies: Die zahme Selbstinszenierung Dawkins’ in Fernseh-Diskussionen steht in einem unübersehbaren Kontrast zu seinen wüsten Attacken, die er bekanntlich nicht zuletzt gegen Papst Benedikt XVI. geäußert hat und die auch nur dadurch zu »entschuldigen« sind, dass es sich dabei um besondere »Ausdrucksformen« seines Gehirns handelt; »Überlebensmaschinen« haben eben seltsamerweise auch unterschiedliche Temperamente. 30 Zu einer allgemeinen Charaktersierung des in Dawkins’ Gotteswahn vorherrschenden Atheismus vgl. Schärtl 2008, 153 ff. 29
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und bloß weltanschauliche Propaganda bleiben, wurde freilich nicht nur von theologischer bzw. kirchlicher Seite, sondern in ganz unverdächtigen Reaktionen auf Dawkins’ Schriften angemerkt. Es waren ja auch nicht irgendwelche »fundamentalistisch« oder »sektiererisch« eingefärbten Pamphlete und Blätter, sondern philosophisch kundige Rezensenten von sehr renommierten Zeitungen, die nicht zuletzt das auch in philosophischer Hinsicht mangelnde Niveau von Dawkins’ »Gotteswahn« kritisierten 31 – ebenso waren es auch religionskritische Zeitgenossen, die, durchaus atheistischen Positionen nahestehend, gleichwohl sich von einer Religionskritik Dawkins’schen Zuschnitts entschieden distanzierten. Daraus erklärt sich, weshalb auch zahlreiche nicht-gläubige Philosophen aus ganz verschiedenen Richtungen mit Dawkins’ Ansprüchen nichts zu tun haben wollen, d. h. sich aus explizit philosophischen Gründen davon entschieden distanzieren. 32 Mit seinem »Gotteswahn«, seinem Vorwurf der »Schöpfungslüge« und Bilderbüchern wie »Der Zauber der Wirklichkeit« können ja »Sagen wir es zurückhaltend: Es hat schon einmal interessantere Formen von Religionskritik gegeben« (FAZ, 10. 9. 2007). Auch hier bestätigt sich wohl die Einschätzung eines Rezensenten von Dawkins’ »Gotteswahn«, denn in der Tat: »Ungeduldige Leser werden es nur dann mögen, wenn ihre Unduldsamkeit der Religion gegenüber hinreichend stark ist« (so Uwe Justus Wenzel in der NZZ v. 8. 10. 2007: Das Pendel schlägt zurück). Ein eigentümliches Schwanken lässt die kurze »Rezension« des Wiener Wissenschaftsjournalisten K. Taschwer zu Dawkins’ »Der Gotteswahn« vermuten: Einerseits wird diagostiziert, dass Dawkins in seinem »auf mehreren Fronten« geführten »Kampf mit der Religion … mitunter auch schon einmal den festen Boden der Naturwissenschaft« verlasse »und … sich immer wieder aufs glatte Parkett der Philosophie« begibt, wo er nicht immer eine so ganz überzeugende Figur macht«; gleichwohl beurteilt der Wiener Rezensent auch Dawkins’ »Gotteswahn« als »ähnlich überzeugend und eingängig geschrieben wie Dawkins bisherige acht Bestseller« (K. Taschwer, Kreuzzug gegen Gott: Der Standard, Print-Ausgabe, 20./21. 1. 2007). 32 Hinsichtlich des Niveaus, der Tonlage und der intellektuellen Redlichkeit mit Dawkins nicht vergleichbar ist beispielsweise die von J. Kahl vertretene atheistische Position, die sich auch scharf gegen Dawkins’ Gotteswahn richtet (darin vielmehr einen »Atheismus-Wahn« erkennt) und demgegenüber auch das ungleich höhere intellektuelle Niveau etwa der Religionskritik Feuerbachs geltend macht. So bemerkt Kahl in einer Schlussüberlegung eines einschlägigen Aufsatzes: »Die alarmistischen Töne und plakativen Parolen eines Richard Dawkins mögen kurzfristig mediale Aufmerksamkeit erzeugen. Der klassische religionskritische Ansatz Ludwig Feuerbachs ergänzt um die Toleranzidee Lessings in der Ringparabel ist produktiver und plausibler als der ›neue Atheismus‹, der der Janusköpfigkeit von Religion und ihrer Entwicklung nicht gerecht wird« (J. Kahl, Kritik am »Neuen Atheismus« Richard Dawkins’ aus der Sicht Ludwig Feuerbachs 6, s. Literaturverzeichnis). Dieser Einschätzung wird man uneingeschränkt auch dann zustimmen können, wenn man Kahls Religionskritik nicht für das letzte Wort ansieht. Vgl. ders. 2009. 31
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auch, wie die einschlägigen Reaktionen demonstrieren, die »Gebildeten unter den Verächtern der Religion« keine rechte Freude haben, ja empfinden solche Inszenierungen eher als peinlich. Nicht wenige der einer Nähe zur Religion ganz unverdächtigen wissenschaftlichen Zeitgenossen haben sich von Dawkins entschieden distanziert – nicht zuletzt eben aus Gründen der »intellektuellen Redlichkeit«. Stellvertretend für viele darf der sich selbst (vornehmlich aus TheodizeeGründen) als atheistisch bezeichnende amerikanische Philosoph Th. Nagel angeführt werden, der seiner Enttäuschung darüber Ausdruck gab, dass Dawkins’ Polemik nicht nur fortwährend »gegen den Grundsatz des religiösen Respekts, der zu den Grundregeln einer modernen Zivilisation gehört«, verstoße und offenbar (geradezu auf wahnhafte Weise?) das Ziel verfolge, »ständig die Regeln des Anstands zu verletzen und so beleidigend wie nur möglich zu sein« 33. Dass dies die bisherige Auseinandersetzung mit Dawkins für viele kritische Wissenschaftler als eine allzu verdrießliche Angelegenheit erscheinen lässt, ist deshalb zwar nicht unverständlich, reicht aber doch nicht als eine ausreichende Erklärung bzw. Rechtfertigung dafür, sich eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen einschlägigen Ansichten zu ersparen. Denn stellt man persönliche psychische Dispositionen Dawkins’ einmal in Rechnung und bemüht man sich
So in seiner Rezension von Dawkins’ »Gotteswahn« (Nagel 2006, 25–29); in anderen Rezensionen wird Dawkins sogar als ein »biologistischer Hassprediger« bezeichnet. – Aber auch der kritische Rationalist Hans Albert, dem man, wie seine einschlägigen Bücher zeigen, eine Theologie-Nähe gewiss nicht nachsagen kann, merkt über Dawkins’ Gotteswahn an, dass er mit diesem »Buch … der von ihm vertretenen Sache … keinen guten Dienst erwiesen [habe]. Auch wer seine wissenschaftlichen Leistungen nicht in Frage stellt, wird meines Erachtens feststellen können, dass die Auffassungen, die er in seinem Buch über den Gotteswahn vertritt, in erkenntnistheoretischer Hinsicht fragwürdig sind« (Albert 2013, 1 f.). Insbesonders kritsiert Albert die erkenntnistheoretischen Defizite in Dawkins’ Atheismusbegründung und betont ausdrücklich die Fragwürdigkeit der »Dawkins’schen Behandlung der Wahrscheinlichkeitproblematik« (ebd. 112), der Dawkins selbst allerdings bezüglich seiner Atheismus-Begründung eine besondere Bedeutung beimisst (s. u. II., 1.2). Ebenso stellt der gerade auch gegenüber der Theologie sehr streitbare Atheist Albert fest, dass Dawkins’ Atheismus »sich ohnehin nicht ohne weiteres aus den Resultaten seiner biologischen Forschungen ableiten« lasse (ebd. 11). Ebenso kritisiert Albert Dawkins’ Buch »Das egoistische Gen« (insbesonders hinsichtlich der daran vorherrschenden völlig unkritischen anthropomorphistischen Ausdrucksweisen); überdies erweist sich für Albert die völlige »Unbrauchbarkeit« der Dawkins’schen Memtheorie »für die Erklärung kultureller Prozesse« (ebd. 2).
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demgemäß, dessen leicht erkennbaren polemischen und auch verletzenden Ton und die effektheischend-strategischen Schmähungen des Dawkins’schen Unternehmens einmal angemessen zu bewerten, so spiegelt sich in Dawkins’ Position doch zweifellos eine weit verbreitete geistige Atmosphäre und Denkart wider, die gegenwärtig auch die akademische/universitäre Landschaft bestimmt. Zweifellos dominiert der Grundtenor der von Dawkins propagierten »Weltanschauung« weithin auch in akademisch gebildeten Milieus – nicht selten verbunden mit einer »doppelten Buchführung«. Mag man auch dort und da an seinem polemischem Ton Anstoß nehmen – in der Sache selbst findet er in vielen akademischen Kreisen volle Zustimmung –, nicht zuletzt unterstützt durch »Zeitgeist«-verpflichtete Medien, die ja vielfach als Vehikel seiner Ideen in Berufung auf moderne Wissenschaft und im Kampf gegen den »Aberglauben« und dessen dunkle Mächte fungieren und dabei »Wirkungs-orientiert« latente kulturkämpferische Interessen verfolgen – nicht selten im Namen »aufklärerischer Anliegen« und auf der »Höhe der Zeit«. Zweifellos kommt der auch als Zeitgeist-Phänomen aufschlussreiche »moderne Atheismus« einer nicht selten kulturkämpferisch geprägten Halbbildung entgegen, deren sachfremde Polemik weithin auch »mediale« Unterstützung findet (bzw. sich gleichermaßen darin widerspiegelt), welche an einer Aufheizung weltanschaulicher Debatten ein leicht durchschaubares Interesse nimmt. Bemerkenswert ist diesbezüglich zweifellos auch dies, dass die sehr entschiedene Kritik an Dawkins’ »Gotteswahn« seitens – durchaus selbst religions- bzw. theologiekritischer – prominenter Autoren jedenfalls in einem krassen Widerspruch zu jenem Echo steht, das dieses Buch in manchen Medien gefunden hat – ein Sachverhalt, der wohl nicht ganz einfach zu erklären ist … In der vorliegenden »Streitschrift« gegen Dawkins sollte jedenfalls deutlich werden, dass seine Kritik keinesfalls etwa lediglich überzogen ist bzw. sich gewissermaßen lediglich im Ton vergriffen hat, während hingegen seine Problemdarstellung in den Sachfragen selbst jedoch durchaus als angemessen gelten dürfe und folglich auch seine Kritik durchaus zu Recht bestehe. Deshalb bleibt eine lediglich allgemein gehaltene Kritik an Dawkins’ Gesamtkonzeption ebenso unzureichend wie bloße »Rundumschläge«, mit denen sich kritische Abwehrreaktionen gegenüber Dawkins mitunter begnügen. Der unstrittige Sachverhalt, dass die Auseinandersetzung mit Dawkins’ »Gotteswahn« aufgrund der strategischen Eigenart in der Tat teilweise eine mühsame und auch verdrießliche Angelegenheit darstellt, 40 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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entbindet somit nicht von der Verpflichtung einer sachlichen Erwiderung. 34 5. Vielfach begegnet freilich auch in kirchlich-theologischen Kreisen – in einer anderen Hinsicht, aber auch innerhalb der Philosophie – die Auffassung, dass sich der mit einer Auseinandersetzung mit Dawkins’ Kritik verbundene Aufwand in sachlicher Hinsicht eigentlich nicht lohne, zumal der unseriöse Charakter der Dawkins’schen Streitschrift eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung im Grunde auch gar nicht erlaube. Indes genügt eine solche Auskunft nicht – obgleich eine solche Einschätzung theologischerseits in mancher Hinsicht zwar durchaus plausibel ist und es auch naheliegend sein mag, dass mit Dawkins’ »Gotteswahn« eine Auseinandersetzung auf einer gemeinsamen sachlich Basis schon aufgrund der unsachlichen Argumente und seines polemischen Stils schwierig ist und es in der Tat auch schwerfällt, in Anbetracht der Dawkins’schen Vorgehensweise und der von ihm in seiner Auseinandersetzung bevorzugten »Tonlagen« Geduld zu bewahren. 35 Gleichwohl kann man sich eine detaillierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten nicht ersparen, so zutreffend beispielsweise McGraths Bemerkung (und die darin enthaltene Warnung!) auch ist: »Es ist in der Tat ausgesprochen schwierig, zu diesem In der Tat: Nur daraus, dass Dawkins unbeeindruckt an der Unvereinbarkeit von Religion und Evolutionstheorie festhält und gegenteilige Behauptungen als unredlich verwirft (vgl. McGrath), kann verständlich werden, dass er unermüdlich – zuletzt in dem Buch mit dem programmatischen Titel »Die Schöpfungslüge« – einschlägige Klischees bedient – fast in der Sorge, es könnten die Feindbilder abhanden kommen. Die Einschätzung von A. McGrath (13) wird fortwährend bestätigt: »Was für einen Stier ein rotes Tuch ist, ist für Dawkins die Reli-gion. Sie bewirkt nicht nur eine aggressive Reaktion, sondern lässt ihn alle akademischen Grundsätze hinsichtlich gewissenhafter Recherche und Fairness über Bord werfen« (ähnlich Brüntrup 2008, 130). In mancher Hinsicht erinnert Dawkins’ Vorgehensweise an diejenige von »religiösen Fundamentalisten« (McGrath 2007, 15). 35 Es ist ja wahr: »Das Problem einer Auseinandersetzung mit den meisten dieser Veröffentlichungen ist das Niveau: Gerade die Prominenten unter den Genannten [das sind die gegenwärtigen Hauptvertreter des »Neuen Atheismus«, unter denen Dawkins zweifellos eine besondere Stellung zukommt] bedienen sich derart ungeniert der Uraltklischees einer Vulgäraufklärung, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht lohnt« (so K. Müller 2008, 32). Ebendies soll freilich dem sachorientierten Leser anhand einiger zentraler Fragen vor Augen geführt werden, um auf diese Weise vielleicht auch zu eigenständiger Beschäftigung mit den Themen (jenseits des ihnen von Dawkins verpassten Zuschnitts) anzuregen. 34
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Buch Stellung zu nehmen. Aber nicht, weil es so gründlich argumentiert oder so überwältigende Beweise liefert. Das Buch liefert selten mehr als eine Ansammlung gängiger Halbwahrheiten, die zum einen übertrieben dargestellt werden, um möglichst große Wirkung zu erzielen. Zum anderen sind sie noch dazu lose aneinandergereiht, um den Eindruck zu erwecken, sie bildeten ein wirkliches Argument. Eine derart selektive Darstellungsweise zu widerlegen wäre ausgesprochen nervtötend. Heraus käme lediglich ein hoffnungslos niveauloses, engstirniges Buch, das belehrt und nicht erklärt. Jede von Dawkins’ Fehlinterpretationen und Übertreibungen kann hinterfragt und korrigiert werden. Doch ein Buch, das eine solche Litanei von Richtigstellungen böte, wäre entsetzlich langweilig.« 36 Doch ist dies wohl nur die halbe Wahrheit; denn auch unvoreingenommene, aber doch verunsicherte – und womöglich wenigstens mit Dawkins’ Sachkritik sympathisierende – Leser haben vermutlich die berechtigte Erwartung eines Nachweises der sachlichen Verfehlungen in Dawkins’ Argumenten. So plausibel also die beispielhaft angeführte Einschätzung von McGrath auch ist, so sehr scheint – vorrangig mit Blick auf eine Leserschaft, die sich auch für die Stichhaltigkeit der Dawkins’schen Argumentation bezüglich der Gottesthematik interessiert – eine detailliertere Auseinandersetzung mit Dawkins notwendig zu sein; dass ein solches Vorhaben lediglich ein »niveauloses, engstirniges Buch« zur Folge hätte, ist zudem wohl keine zwingende Konsequenz daraus. Die schon in dem von mir mitherausgegebenen Sammelband 37 geäußerte Warnung vor einer Fehleinschätzung auch im akademischen Umfeld kann hier nur wiederholt werden – Reaktionen auf den genannten Sammelband haben dies vielmehr vielfältig bestätigt: Ein bloßes Schweigen auf die nach wie vor anhaltende Polemik Dawkins’ – in seinen Publikationen und seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten – könnte vor allem als eine Immunisierungs-strategische Flucht vor Dawkins’ schonungsloser Kritik in dem Sinne verstanden werden, dass man dieser Kritik am besten (d. h. »erfolgreichsten«) durch »Untertauchen« bzw. Verschweigen begegnet und so seinen missliebigen Attacken zu entkommen versucht. 38. So könnte dies A. McGrath/J. Collicutt McGrath 2007, 14. Appel/Langthaler 2010. 38 Das Urteil muss ja nicht immer so scharf ausfallen wie in einer Rezension des Buches von H. Mynarek über »Die Neuen Atheisten« – tendenziell trifft es jedoch zweifellos eine weithin vorherrschende Grundstimmung: »Wer immer noch nichts dazu gelernt hat, nimmt an, die Großkirchen und jene, welche diese sich als Theo36 37
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wohl auch von einer breiteren, allerdings in philosophisch-theologischer Hinsicht zwar durchaus interessierten, obgleich nicht wirklich fachkundigen Leserschaft wahrgenommen werden. Nicht einmal selten begegnet folgende Situation: Auch wo sachlich unvoreingenommene Leser sich verständlicherweise über Dawkins’ polemischen Ton mokieren, erwartet man sachorientierte Gegenargumente, die sich auch durch die berechtigte Kritik an seinem polemischen Stil und seine zahllosen Untergriffe keineswegs schon erübrigt. Es scheint eben vielmehr eine detaillierte – nicht nur eher allgemein gehaltene – Auseinandersetzung mit den Hauptthemen seines »Atheismus« bzw. seiner »Religionskritik« notwendig zu sein. In der Tat: So gesehen gibt es auch für allzu »vornehme Töne« gegen Dawkins’ Einwürfe seitens der Theologie wenig Grund. 6. Damit soll vorweg aber auch dies gesagt sein: Vorrangiges Ziel dieses Buches ist der Aufweis der Unhaltbarkeit und der immanenten Widersprüchlichkeiten der von Dawkins vertretenen naturalistischen Anthropologie sowie der Nachweis seines prinzipiell – aus methodischen Gründen – verfehlten Zugangs zu den Themenfeldern »Wissenschaft, Religion und Gottesfrage«. Es sind dies schwerwiegende Defizite, die sodann auch in seiner hurtigen Kritik an der theologischen »Schöpfungs-Vorstellung« und in seinem leichtsinnigen Umgang mit dem Thema »Gottesbeweise« zutage treten und so die damit verbundenen Sachfragen völlig entstellen. So unverzichtbar die Aufdeckung dieser Fehlleistungen Dawkins’ und deren Folgen auch ist, so
logen halten, seien über die Neuen Atheisten hergefallen, um deren Argumente zu zerpflücken. Nichts da. Auch diese Mühe müssen wir uns selbst machen. Es reicht offensichtlich nicht, Hochschullehrer der Theologie zu sein und seinen hoch dotierten Brotberuf zu haben. Sie schweigen einfach, ruhen sich auf ihren Staatsgeldern aus, tragen so gut wie nichts zu den Prozessen der Meinungsbildung bei. Auch das ist ein Zeichen für die erbärmliche Leere der christlichen Kirchen und ihrer Theologie, die nur noch Restbestände verwalten und Leichenteile konservieren« (so Horst Herrmann in einer Rezension eines Buches v. H. Mynarek, s. Literaturverzeichnis). Diese Kritik und Anregung soll hier aufgenommen werden – zumal sie in dieser pauschalen Form auch nicht zutrifft, wie man aus den einschlägigen kritischen Reaktionen von theologischer Seite unschwer feststellen kann. Gleichwohl bleibt über – eher allgemein gehaltene, obgleich durchaus berechtigte – Kritik hinaus die Aufgabe, die Argumente der »Neuen Atheisten« – und vornehmlich diejenigen Dawkins’ – zu »zerpflücken« und zu »Prozessen der Meinungsbildung« beizutragen, wie Horst Herrmann zu Recht fordert.
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Einleitung
ist dies gleichwohl nur der erste, kritische Teil: »pars destruens«. Die bloße – und vergleichsweise einfache – Zurückweisung der Unhaltbarkeit der von Dawkins vertretenen Positionen ist indes noch nicht die Einlösung des positiven Aufweises der Vernünftigkeit und der Verständlichkeit der damit verbundenen – im engeren Sinne »theologischen« – Fragen, d. h. der konkreten Glaubensinhalte und auch der konkreten religiösen Sinnangebote. Hier ist – über das notwendige kritisch-»polemische« Geschäft hinaus – freilich vor allem die systematische Theologie gefragt, diese Aufgaben in einer für ein interessiertes und gebildetes Publikum angemessenen Weise einzulösen. Diesbezügliche Defizite bzw. Versäumnisse wird man jedoch – ungeachtet der von Dawkins so eindrucksvoll bekundeten Ignoranz gegenüber der Theologie – auf der theologischen Seite wohl kaum in Abrede stellen können, die auch – sei es durch historische und philologische Gelehrsamkeit, sei es durch soziologische, religionswissenschaftliche bzw. literarische/literaturwissenschaftliche Ausweichmanöver, sei es durch die Flucht in seelenerhebende »Erbaulichkeit« – nicht überdeckt bzw. dadurch ersetzt werden können. Solche Erwartungen werden zweifellos mit Recht auch von jenen intellektuell anspruchsvolleren Zeitgenossen im öffentlichen Raum an die Theologie und an die Glaubensgemeinschaften herangetragen, die sich von Dawkins’ Rundumschlägen nicht beeindrucken lassen. Folglich ist der gegenwärtigen Theologie und in der Folge auch den Glaubensgemeinschaften die kritische Anfrage nicht zu ersparen, ob sie diesen dringlichen Herausforderungen einigermaßen gerecht zu werden vermögen. Jedenfalls macht es sich auch der gar nicht selten gegen Dawkins aufgebotene bequeme Einwand viel zu einfach, dass doch auch seine atheistische Position auf einem von ihm lediglich undurchschauten »Glauben« beruhe: Dies überzeugt ebenso wenig wie das ebenso häufig vorgebrachte Argument, dass doch auch das Vertrauen in die Wissenschaft eine – nicht »wissenschaftlich« begründete – Art »Glauben« darstelle und auch wissenschaftliche Annahmen und die Akzeptanz ihrer Rationalität, ihrer Ergebnisse usf. eben auf »Glauben« basiere. Solche »Du-auch-Argumente« sind in der Sache nicht nur keine Argumente; mit solchen – auf schwachen Füßen stehenden und überdies kontraproduktiven – Vergleichen wird vielmehr der spezifische Sinn des religiösen Glaubens – und die ihm eigentümliche Rationalität und sein Anspruch – eher verstellt; ebenso sind diesbezüglich immer wieder herangezogenen Vergleiche bzw. Beispiele 44 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Einleitung
für das notwendige »Vertrauen« aus dem zwischenmenschlichen Bereich einfach der Sache nicht angemessen. Damit hängt zusammen, dass Dawkins’ Diagnose ja zweifellos einen wichtigen Punkt trifft, der in der Tat schwer wiegt, obgleich er offenbar weithin unterschätzt bzw. verdrängt wird: In nicht geringem Ausmaß erweist sich leider seine Beobachtung als durchaus zutreffend – nur künstliche Blindheit wird sich diesen Tatsachen verschließen wollen –, dass es um die Urteils-und Rechenschaftsfähigkeit bei nicht wenigen religiös sozialisierten Zeitgenossen, die auch religiös-kirchlichen Institutionen durchaus nahestehen, allzu oft ebenso schlecht bestellt ist wie mit der persönlichen Aufrichtigkeit und Mündigkeit im Umgang mit diesen Fragen; nicht selten sind es eher ganz »überzeugungs-« und »sachfremde« Faktoren und Interessen vielfältiger Art, die diese institutionellen Zugehörigkeiten bzw. Nähe aufrechterhalten und so einer soziologischen und psychologischen Erklärung durchaus zugänglich sind. Grundsätzlicher noch: Dass es um das »religiöse-theologische Grundwissen« (und zwar auch in den »Kernbeständen« der eigenen kulturellen Tradition!) nicht nur bei »Atheisten«, sondern auch bei »gläubigen« und »religiös indifferenten« Personen – und zwar vielfach trotz langjährig regulär »absolvierten« Religionsunterrichts und Abschluss einer höheren Schulbildung! – weithin ziemlich schlecht bestellt (d. h. religiöser – und übrigens auch »philosophischer« – Analphabetismus weithin verbreitet) ist, dies ist ganz einfach nicht zu leugnen und wirft viele Rückfragen auf, die hier freilich nicht zu verfolgen sind. 7. Dass gerade die in den letzten Jahren aufgedeckten skandalösen Übergriffe im Umfeld »religiöser Erziehung« und auch andere schwerwiegende Missstände im kirchlichen Umfeld allerschärfste Kritik verdienen, versteht sich natürlich von selbst; dies gilt auch für den von Dawkins ebenfalls berührten Sachverhalt, dass weltweit – in gewiss recht verschiedenen Traditionen und Gewändern – reaktionäre und restaurative religiöse Einflussnahmen auf die Sphäre des Politischen zu beobachten sind, 39 die mit den Standards der Moderne und dem Geist der Aufklärung schlichtweg unverträglich sind – und zwar auch in christlichem Bereich. Indes, daraus kurzschlüssige FolgerunDass Dawkins’ die weltweite bewundernswerte Arbeit von Missionaren und Orden im Dienste der Bekämpfung von Ausbeutung, Kinderarbeit, Analphabetismus, Kinderprostitution mit keinem Wort würdigt, versteht sich von selbst.
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gen zu ziehen wäre trivialerweise ebenso unsinnig wie der Versuch, Evolutionstheorie und Biologie mit dem Hinweis darauf in Misskredit bringen zu wollen, dass auch sie bekanntlich mit verheerenden Folgen von politischen Ideologien »in Dienst« genommen wurden. 40 Aber auch Dawkins’ wiederholter Protest gegen eine ungerechtfertigte Privilegierung religiöser Institutionen und Amtsträger im öffentlichen Raum verlangt jedenfalls eine genaue Prüfung, so wie auch die Frage nach der Stellung der »Religion im öffentlichen Raum« im Kontext der gegenwärtigen Säkularisierungsdebatten grundsätzliche Erörterungen notwendig macht. All dies ist selbstverständlich einzuräumen – dennoch ist es kaum zu glauben und auch höchst bedauerlich, dass ein didaktisch so Dawkins schreckt auch davor nicht zurück, in den Medien (s. »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur) Ungeheuerlichkeiten wie diese zu äußern: »Die netten Gläubigen, die keine Attentate ausüben, nehmen ihre Religion nicht ernst«; »Theologen nehmen ihre Religion nicht ernst, sie werfen keine Bomben«, jedoch: »Theologen schaffen ein Klima, in dem Extremisten gedeihen können«. Apropos geistiges »Klima« – und aus aktuellem Anlass: Hat Dawkins sich jemals gegen jene im Namen der »Aufklärung« auftretenden »Religionskritiker« gerichtet, die den selbstverständlich berechtigten weltanschaulich-religiösen Dissens und Widerspruch jedoch offenbar mit einem Freibrief für Spott und Hohn verwechseln, der nicht nur nichts ausrichtet, sondern sich wohl eher auf Kosten der vielbeschworenen Verständigung »inszeniert« und in Berufung auf Toleranz selbst Misstrauen und Aggression sät? Jedenfalls sollte die in Berufung auf die Tradition der »Aufklärung« vielbeschworene »Meinungsfreiheit« auch nicht vergessen lassen, dass in dieser (dafür oftmals zu Unrecht strapazierten) Tradition der »Aufklärung« das »Meinen« als ein »Fürwahrhalten« galt, das als solches sich an »Gründen«, d. h. einlösbaren Argumenten, orientieren muss, wenn es sich nicht als bloßer Eigensinn, als »Eigendünkel« erweisen soll, der gegebenenfalls bloßen Spottbedarf als »Meinungsfreiheit« – welche »Meinung« wird da eigentlich »vertreten«? – kaschiert und sich dafür auf die Errungenschaft der Aufklärung beruft; dies verkennt, was mit Aufklärung und »Mündigkeit« einmal gemeint und welch hoher Anspruch damit verbunden war. Bloßer Spott »sagt« auch nichts und ist deshalb, als Ausdruck bloßer »Befindlichkeit«, auch nicht diskurs- und »wahrheitsfähig«. Kurzum: Man soll sich nicht auf »Aufklärung« und »Meinungsfreiheit« bzw. auch nicht auf (negative) »Religionsfreiheit« berufen, wo im Grunde lediglich ein Bedürfnis nach ungezügelter Verspottung besteht … Übrigens: Hinsichtlich der auch in Österreich bisweilen leider noch immer auftauchenden berüchtigten »Karikaturen« (sie haben leicht und eindeutig identifizierbare »Vorlagen«), die bestürzende Erinnerungen wachrufen, verhält man sich bezüglich der Berufung auf bzw. Forderung nach »Meinungsfreiheit« – natürlich ganz zu Recht – ja nicht ganz so großzügig … Aber was werden Muslime, die sich in einschlägigen Karikaturen ja offenbar wiedererkennen sollen, dabei empfinden und darüber denken? Der aufklärungs-orientiert gebotene Kampf gegen »Vorurteile« (»Idole«) hat offenbar viele Facetten …
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Einleitung
geschickter Vermittler von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wie Dawkins (als »Professor für öffentliches Verständnis der Wissenschaften«) hingegen mit dem Thema Religion, der Gottesfrage u. Ä. einen Umgang erkennen lässt, der wohl nicht anders als primitiv zu bezeichnen ist. Scheut er doch auch vor billigsten Klischees und blinder Polemik nicht zurück, die nicht zuletzt als eine Folge aus schlechter Philosophie und einem damit einhergehenden Szientismus sowie den damit verbundenen Reduktionismen erscheint. 41 Die von ihm gewählte Strategie ist freilich schlau: 42 Denn zweifellos ist Dawkins auch ein sehr geschickter, d. h. sehr begabter Vermittler von komplexen biologischen Themen, der diese seinem Publikum didaktisch klug nahebringt und so den Lesern immer wieder auch »Erfolgserlebnisse« erlaubt, dabei an deren »gesunden Menschenverstand« und Wissensdurst appelliert, durch geschickte Fragen ihnen selbst verständliche Antworten entweder »entlockt« oder solche nahelegt bzw. bestätigt: Kurzum, auf diese psychologisch raffinierte Weise hat Dawkins zugleich auch ein gewisses »Vertrauensverhältnis« zur Leserschaft aufgebaut, das sie einerseits als »Mitwissende« mit ins Boot holt und so, ihnen gleichsam »aus der Seele sprechend«, offenbar eine Bereitschaft zu Zustimmung und Gefolgschaft auch dort erzeugt, wo die einzelnen Leser in der Sache selbst nicht ganz zu folgen vermögen und dennoch auch hier Dawkins’ »Argumenten«, seiner Urteilskraft und »intellektuellen Aufrichtigkeit« Glauben schenken – ein gewiss recht erfolgreicher evolutionärer »Fitness«-Aspekt. Das – klug eingesetzte – Vertrauen-stiftende Pathos der Aufrichtigkeit, verbunden mit der Aufforderung an die Leser, an der möglichen (obgleich schwierigen, nur gegen Widerstände zu realisierenden) geistigen Aufklärung zum größeren Wohle der Menschheit nicht nur selbst zu partizipieren, sondern an dieser auch aktiv durch Unterstützung des Kampfes gegen die so hartnäckige weltanschauliche Borniertheit mitzuwirken, dies macht für Dawkins’ Mission wohl besonders empfänglich; es betrifft so freilich Bereiche, die das Feld der Wissenschaft Direkt auf Dawkins’ Szientismus trifft übrigens Einsteins Kritik an dem »schwache [n] Punkt für die Positivisten und die berufsmäßigen Atheisten« zu, »die sich beglückt fühlen durch das Bewusstsein, die Welt erfolgreich nicht nur entgöttert, sondern sogar ›entwundert‹ zu haben« (Einstein, zit. n. Mynarek 2010, 32). Auch Dawkins’ späteres Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« ist ein nahezu unüberbietbarer Beleg dafür. 42 Vgl. dazu die von Illies (2010, 271 ff.) angeführten »38 Kunstgriffe für den Erfolg in der Rede« von A. Schopenhauer, die Dawkins weithin virtuos anwendet bzw. beherrscht. 41
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Einleitung
überschreiten und die Angehörigen der »clear thinking oasis« unbemerkt in weltanschauliche Regionen abschweifen lässt. Auch hier gilt: Vertrauen ist zwar grundsätzlich notwendig und nützlich, hat aber manchmal problematische Nebenwirkungen … Es ist eine höchst bedeutsame Nebenfolge der durch die modernen Technologien geprägten Informations- und Wissensgesellschaft, dass die wünschenswerte Popularisierung der Erkenntnis der modernen Wissenschaft auch in den modernen Massenmedien ihren Niederschlag findet. Allerdings wird für diese an sich gewiss dienliche Darstellung moderner Wissenschaften in einer wissenschaftlichtechnischen Zivilisation in den modernen Medien nicht selten auch ein hoher Preis bezahlt. Dies geschieht nämlich dort bzw. dann, wenn ein ebenfalls vornehmlich lediglich an strategischer Aufmerksamkeitserregung orientierter Wissenschaftsjournalismus jene Öffentlichkeits-orientierte Aufbereitung wissenschaftlicher Ergebnisse stillschweigend in ein wissenschaftlich verpacktes Infotainment in »weltanschaulicher Absicht« »übersetzt«. Derart wird das besondere Interesse der Leser/Hörer/Seher gesucht und ihnen zugleich marktgerecht in Aussicht gestellt, auf solche Weise, gewissermaßen im Vorbeigehen, in Erweiterung des Warenangebots, vergleichsweise bequem, auch in wissenschaftlicher Hinsicht gleichsam »auf der Höhe der Zeit« und »weltanschaulich« auf der richtigen Seite zu sein – nicht selten flankiert von erhöhtem Belustigungs- und einschlägigem Empörungsbedarf, der sich auch in Feuilletons und Magazinen regelmäßige Präsenz und Ventile verschafft und mitunter sogar Zeitgeistverpflichtete Kabarett-Programme inspiriert. Das damit verbundene gehobene »Selbstgefühl« erlaubt es offenbar, sich solcherart auch von überholten Weltanschauungen, d. h. durch die Wissenschaft obsolet gewordenen Welt- und Menschenbildern, souverän zu befreien und diese als bloßen Ballast abzuwerfen. Dies erweckt den Anschein, dass ein auf Augenhöhe mit moderner Wissenschaft stehendes Welt- und Menschenbild »weltanschauliche Gestrigkeit« endlich überwindet und so, unter dem Eindruck der gewaltigen Errungenschaften der modernen Wissenschaften und ihren Konsequenzen für die moderne Zivilisation, das Gefühl einer Zeitgeist-gemäßen intellektuellen Orientierung und Zugehörigkeit vermittelt; man genießt ein vermeintlich im Einklang mit der Wissenschaft befindliches Selbstverständnis, das eine weltanschauliche Vorgestrigkeit überwunden hat und der wissenschaftlichen Auflösung der Rätsel der Welt und des Menschseins erwartungsvoll entgegensieht. Nicht nur die Schaufenster der 48 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Einleitung
Buchläden, auch die Wissenschaftsbeilagen von Qualitätszeitungen und Magazinen nehmen sich dieser Bedürfnislagen gerne und mit »Markt-gerechtem Know-how« an 43 und bestärkt das Gefühl: Moderne Wissenschaft allein eröffnet vernünftigen – nicht in Irrationalität gefangenen bzw. abgleitenden – Zeitgenossen ein angemessenes, vertieftes Selbstverständnis und eine Lebensorientierung, die auch die letzten Geheimnisse unseres Daseins erhellt; nicht zufällig trägt eine der jüngsten Schriften Dawkins’ den Titel: »Der Zauber der Wirklichkeit«. Seine Buchtitel bestätigen allesamt diese Trends in wünschenswerter Weise, die auch eine direkte Entsprechung in einschlägigen Wissenschafts-Feuilletons finden. 8. Noch einen diese Einleitung abschließenden Hinweis zum Aufbau des Buches: Dawkins’ Religionskritik und Atheismus ist vornehmlich auf einem naturalistischen Fundament und auf ein entsprechendes Menschenbild begründet und versteht sich in dieser Hinsicht als Erbe von Darwins »dangerous ideas«, deren kritisches Potential er deshalb gegen den Gotteswahn, Schöpfungslügen und ähnliche grassierende »geistige Viren« in Stellung bringt. Dies legt es deshalb nahe, zunächst die Kernthemen dieser naturalistischen »Weltanschauung« zu vergegenwärtigen. Dabei wird sich indirekt eine alte Einsicht bestätigen – dass nämlich, wer falsch vom Menschen redet, notwendig auch falsch über Gott reden muss … Zunächst – d. h. im I. Teil – sollen deshalb diese naturalistischen Grundlagen und die damit vollzogenen Weichenstellungen thematisiert werden, aber auch die diesbezüglichen Widersprüche, die in Dawkins’ Konzeption zutage treten. Hierfür scheint es zweckmäßig, dieses naturalistische Menschenbild und die damit verbundenen Ansprüche auch mit klassischen Konzeptionen der philosophischen Anthropologie zu konfrontieren. Ebenso liegt es in diesem thematischen Zusammenhang nahe, den jüngst von Thomas Nagel in seinem Buch »Geist und Kosmos« versuchten Aufweis, »warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist« (so der Untertitel), auch mit dem von Dawkins vertretenen Naturalismus zu konfrontie-
Die nach Dawkins’ »Gotteswahn« erschienenen populären Bücher lassen mit ihren Titeln ebendiese Absicht deutlich erkennen: »The greatest show on earth« (die nicht so ganz genaue deutsche Übersetzung lautet: »Die Schöpfungslüge. Warum Darwin recht hat«. Berlin 2010) und »Der Zauber der Wirklichkeit. Die faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur«. Berlin 2012.
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ren. Sodann soll ein – vor allem dem im Vorwort schon erwähnten 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien geschuldeter – exkursorischer Seitenblick auf die an dieser Universität geführten Naturalismus-Debatten zeigen, dass die mit Dawkins’ Konzeptionen verbundenen einschlägigen Ansprüche und Problemstellungen in vielerlei Hinsicht so neu nicht sind – ebenso wenig wie das klare Bewusstsein der darin zutage tretenden Aporien, die sich gerade für eine Kritik an Dawkins als höchst aktuell erweisen. Der zweite Teil ist Dawkins’ schonungsloser Abrechnung mit Religion und Theologie gewidmet, in der lediglich die unvermeidlichen Konsequenzen jener szientistischen Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode sichtbar werden und sich sodann auch für seinen Zugang zu den Themen Gottesthematik, sein Verständnis und Kritik von Religion und Theologie durchgehend als bestimmend erweisen. Dabei soll vor allem auch deutlich werden, dass Dawkins’ – bzw. seine »Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« – sich mit seinen Ansprüchen wohl zu Unrecht auf das Programm der Aufklärung beruft, zumal die von ihm in Berufung auf »Vernunft und Wissenschaft« im Namen der Aufklärung geltend gemachte Position geradezu als ein Musterbeispiel für eine »über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung« anzusehen ist. 44 Dies soll in ausführlichen Bezügen auf das Verständnis der unverkürzten Aufklärung bei Kant vor Augen geführt werden, der sich diesbezüglich gleichermaßen als Anwalt von »Vernunft und Wissenschaft« versteht und dennoch zu ganz anderen Ergebnissen gelangt. Es liegt im Rahmen dieser Prüfung der von Dawkins verfolgten Argumentationsstrategien freilich auch nahe, die von ihm geäußerten Einwände bzw. Vorwürfe auch mit theologischen und kirchlichen Stellungnahmen zu den diesbezüglich relevanten Themen zu konfrontieren, um sich solcherart über die Legitimität bzw. Stichhaltigkeit seiner Kritik in diesen Themen ein einigermaßen angemessenes Es wird sich bestätigen, dass Dawkins’ pseudo-aufklärerischer Furor und Blindheit auch all jene Hintergrund-Aspekte ausblendet, die Habermas betont; dessen Befund trifft offenbar auch auf Dawkins zu: »Die Gelassenheit der agnostischen Einstellung hat das Ressentiment hinter sich gelassen. Die Militanz der Aufklärung hatte einmal gute Gründe; sie zeugt von Emanzipationskämpfen gegen die weltlich-klerikale Macht einer geistigen Gewalt, die lange genug Gräueln der politischen Unterdrückung und sozialen Ausbeutung ihren Segen gespendet hat. So könnten wir uns auch daran erinnern, dass sich der Klerus in jüngerer Zeit auf beiden Seiten engagiert hat. Aber anscheinend sind einige Wunden noch offen« (Habermas 2012, 149).
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Urteil bilden zu können. Es wird sich nicht zuletzt in diesen Zusammenhängen erweisen, dass Dawkins hier weithin einen aufopferndheroischen Kampf gegen von ihm selbst errichtete Pappkameraden bzw. gegen Windmühlen führt und dabei freilich auch davor nicht zurückschreckt, seinen so leidenschaftlich bekämpften weltanschaulichen Gegnern die kuriosesten Auffassungen zu unterstellen. Vor diesem Hintergrund sind sodann auch seine Attacken gegen die von ihm sogenannte »Schöpfungslüge« und seine Kritik an den tradierten »Gottesbeweisen« auf den Prüfstand zu stellen. Auch dabei wird sich zeigen, dass seine evolutionsbiologisch begründete Verwerfung des theologischen Schöpfungsgedankens weithin auf Unkenntnis der leitenden Motive bzw. auf Verwechslungen beruhen, die völlig schiefe Alternativen bzw. Disjunktionen voraussetzen, während seine Kritik der Gottesbeweise weithin deren Anspruch bzw. Argumentationslinien verfehlt. Wer (wie Dawkins) fortwährend beteuert, die Gottesfrage ernsthaft zu erörtern, und sich dabei vornehmlich auch auf seine philosophischen Interessen beruft, übernimmt damit aber auch die – von Dawkins ja selbst bezüglich der Evolutionstheorie geltend gemachte – Verpflichtung, sich über diese Sachthemen in entsprechender Weise zu informieren; just dies ist, wie sich zeigen soll, in seinem Umgang mit diesen Themen durchwegs zu vermissen. Dass die von Protagonisten dieses »Neuen Atheismus« häufig ganz ungeniert demonstrierte Ahnungslosigkeit über die als »belustigt-belustigend« präsentierten Themen nicht einmal selten geradezu als ein besonderes Kenn- und Gütezeichen für ein »aufgeklärtes« Bewusstsein gilt, ist nicht zu übersehen und bestätigt gerade auch in dieser besonderen Hinsicht die ungebrochene Aktualität der kantischen Frage bzw. Antwort: »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung!« 45 Dass dies nach wie vor als »Stachel« gleichermaßen an die Adresse des rabiaten »Neuen Atheismus« wie auch an diejenige der Religionsgemeinschaften gerichtet ist, ist evident. Freilich macht Kants eigene Antwort auf jene von ihm aufgeworfene Frage ebenso einsichtig, dass und weshalb die bisweilen vernehmbare Gegenwartsdiagnose »Wir leben im Zeitalter von Dawkins versus Ratzinger« doch wohl nicht das letzte Wort sein kann – diesem Aufweis sind jedenfalls wichtige Motive des vorliegenden Buches gewidmet. 45
Kant VI 59.
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I. Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes und damit verbundene entscheidende Weichenstellungen
Zunächst ist es notwendig, auf dieses naturalistische Fundament der Dawkins’schen Gesamtkonzeption einzugehen. Dieser »Naturalismus« 1 liegt nicht nur seinem Verständnis des Organischen als »Überlebensmaschinen« zugrunde, sondern gewinnt als »naturalistische Anthropologie« noch besonderes Profil: »Mit einer naturalistischen Anthropologie oder einem anthropologischen Naturalismus haben wir es zu tun, wenn die Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, lautet, dass er mit allen seinen Eigenschaften und Fähigkeiten Teil der einen natürlichen Welt ist, die mit den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften erschöpfend beschrieben und erklärt werden kann« 2. Dawkins’ Naturalismus, dem zufolge die naturwissenschaftliche Erforschung sich für das Verständnis der menschlichen Wirklichkeit als die einzig maßgebende erweist und so auch von allem wissenschaftlich überwundenen weltanschaulichen – vornehmlich religiösen und philosophischen – Ballast befreien soll, hat somit weitreichende Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis: Dieses liegt nicht nur seiner – mit einer durch die moderne Naturwissenschaft beeinflussten – Selbstdeutung in der Welt zugrunde, sondern erweist sich auch insofern als folgenreich, als sie sodann ja auch sein Handeln im Umgang mit der Welt und seinesgleichen motiviert. Es geht ja nicht lediglich um eine theoretische Selbstbeschreibung als eine »Sachverhalts«-Beschreibung, sondern auch um eine Selbstverständigung, die ebenso den eigenen Handlungshorizont bestimmt. 3 »Allgemein philosophisch kann man als Naturalismus eine Verständnisweise des Menschen, der Geschichte, der Kultur und Kunst, der Erkenntnis und der Moral mittels der Kategorien, die für die Naturerklärung ausgebildet worden sind, bezeichnen« (Blumenberg, zit. n. Keil 1993, 11). 2 Keil 2005, 73. Der Naturalismus negiert, dass der Mensch anderes und mehr ist als ein – gewiss hochkomplexes – empirisches Objekt unter anderen. 3 Dawkins vollzieht genau jenen Überschritt, vor dem Habermas warnt: »Die Grenze naturalistischer Selbstobjektivierung wird mit Beschreibungen überschritten, unter 1
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I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
Dies wird nicht zuletzt aus Dawkins’ ausdrücklicher Forderung und »Ermunterung«, sich als solche auch zu verstehen, besonders deutlich: »Wenn du das nächste Mal ein Tier (oder auch eine Pflanze) siehst, sage dir [oder vielleicht doch lieber nicht!]: Was ich hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene, die sie erzeugt haben – eine Überlebensmaschine für Gene. Und wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, denke dir: Ich bin auch eine« (Zauber 73), und wie man wohl ergänzen darf bzw. muss: Verhalte dich gegebenenfalls auch danach! – »Wir sind als Genmaschinen gebaut worden, dazu [!] geschaffen, unsere Gene zu vererben« (Das egoistische Gen 235). Doch statt einer wohl naheliegenden Antwort auf die Frage »Zu welchem Zweck?« erfährt man lediglich weiter: »Nachdem die Gene einmal ihre Überlebensmaschinen mit einem Gehirn, das zu rascher Imitation fähig ist, ausgestattet haben, werden die Meme automatisch das Ruder übernehmen« (ebd. 236) – und diese rudern in der Tat kräftig –, und zwar nunmehr lediglich, weil das entwickelte »Mem« »sich entwickelt hat, weil es für sich selbst von Nutzen ist« (ebd. 235 f.). Indes bleibt die Frage: Geschieht all dies wohl zu dem – fatalen? – »Zweck«, dass diese Menschen als »Überlebensmaschinen ihrer Gene und Meme« letztendlich als solche »Überlebensmaschinen« auch sich selbst begreifen – doch zu welchem Zweck, wenn dies ohne solche Selbsterfahrung wohl ebenso und ungestörter, d. h. wohl »überlebensdienlicher« gewesen wäre? 4 Unter diesen nunmehr »automatisch das Ruder übernehmenden« »Memen« ist offenbar seltsamerweise auch ein »Sinn-des-Lebens«-Mem, das allerdings erkennen muss, dass dieser »Sinn des Lebens« eben darin besteht, als »Überlebensmaschine für Gene und Meme« zu fungieren und Letz-
denen sich Personen nicht mehr als Personen wiedererkennen können. Naturwissenschaftliche Beschreibungen beziehen sich … auf ein raumzeitlich identifizierbares und grundsätzlich nomologisch erklärbares, also deterministisches Geschehen […] Beschreibungen von Personen und deren Gedanken und Praktiken lassen sich nicht ohne Bedeutungsverlust oder Sinnverschiebung in eine behavioristische oder physikalische Sprache übersetzen« (Habermas 2009, 278–281). 4 Im Blick auf Dawkins naturalistische Überlebensmaschine und die konkurrierenden Mem-Bestände bestätigt sich offenbar sehr eindrucksvoll Habermas’ Befürchtung: »Der Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des Geistes ist ein wissenschaftliches Bild vom Menschen in der extensionalen Begrifflichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie, das auch unser Selbstverständnis vollständig entsozialisiert« (Habermas 2005, 17) – und freilich nicht folgenlos für dieses praktische Selbstverständnis bleibt, sondern auch seine Lebensführung »motiviert«.
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I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
tere als ein »kulturelles Merkmal sich einfach deshalb so entwickelt haben mag, wie es sich entwickelt hat, weil es für sich selbst von Nutzen ist« – was auch immer dies heißen und welchen »Sinn« ein solcher merkwürdiger »Nutzen« haben mag … Schon hier klingt es an: Da wird nicht nur der Mensch von einem »heiligen Sockel« heruntergeholt – eine radikalere »Ent-Subjektivierung« und »Ent-Würdigung« des Menschen lässt sich wohl gar nicht denken; da hilft, wie sich zeigen wird, nur noch die Flucht in die »Erbaulichkeit«. Freilich, das Bild, das der Mensch von sich selbst hat, bestimmt eben gleichermaßen seinen Weltumgang und seine Lebensführung – und besagt in diesem Falle ebendie Anleitung, sich als »Vehikel« der Gene und Meme seiner selbst als »Überlebensmaschine« zu begreifen und sich darob gleichwohl die Freude an seinem noch dazu spaßfähigen Dasein nicht verderben zu lassen – Segen oder Fluch des als »Ausdrucksform der Materie« auftretenden »Sinn-des-Lebens«Mems? Genauer besehen bestätigt Dawkins’ geforderte »Selbsterkenntnis« dies, dass das von ihm bevorzugte und betriebene wissenschaftliche Weltbild in Wahrheit den Subjekt-Status des Menschen eliminiert bzw. als ein Selbstmissverständnis entlarvt, das sich auch nur um den Preis einer unübersehbaren Inkonsequenz korrigieren lässt. Ob und wie die Aufforderung, sich als »Überlebensmaschine« zu verstehen, auch mit seiner Ermutigung »Enjoy your life!« sowie mit dem Selbstverständnis des Menschen als moralischer Persönlichkeit zusammenpasst, ist eine Frage, die noch genauer zu verfolgen sein wird. Wie dem auch sei: »brights« sind eben jene von den Fesseln des »Aberglaubens« befreiten »hellen« Menschen, die eine »naturalistische Weltanschauung« vertreten und sich dabei aus der »clear thinking oasis« speisen, deren Frohbotschaft allen Menschen guten Willens über das Internet »Aufklärung statt Erlösung« verheißt. Dieses das Selbstverständnis des Menschen in entscheidender Weise beeinflussende Naturalismus-Konzept ist, wirksam unterstützt durch mediale »Aufmacher« und populärwissenschaftliche Magazine bzw. Sendungen – im öffentlichen Bewusstsein weithin bestimmend geworden und dominiert zweifellos weithin auch das Bewusstsein akademisch gebildeter Kreise. Es prägt tatsächlich in entscheidender Weise weithin dasjenige, was als die dem »Weltbild der modernen Wissenschaft« verpflichtete Bewegung der »Dritten Kultur« bezeichnet wurde: »Dieser populäre Arm des Naturalismus verfolgt das Ziel, das allgemeine Selbstverständnis des Menschen unter 55 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
das Interpretationsmonopol der Naturwissenschaften zu stellen« 5 und erobert damit »seit etwa Mitte der 90er Jahre auch die Publikumszeitschriften, den Bereich der special interest-Periodika sowie die Kulturzeitschriften und politischen Magazine« 6. In Dawkins’ Charakterisierung ist unmissverständlich die programmatische Absicht jener »naturalistischen Anthropologie« und der sie vertretenden »brights« ausgesprochen, der zufolge ein tradiertes Selbstverständnis als wissenschaftlich überholt zu verabschieden sei und an dessen Stelle ein Selbstverständnis zu treten habe, das sich an den Maßstäben der empirischen Wissenschaften – nicht zuletzt der modernen Biologie – orientiert. Darin wird unübersehbar, wie der naturwissenschaftlich-technische Umgang mit einer bloß sinnleeren »Faktenaußenwelt« (A. Gehlen) – nach dem Modell von Maschinen und entsprechenden Wartungsprozessen – zugleich stillschweigend zum Maßstab für das menschliche Selbstverständnis und -verhältnis wird, d. h. auf dieses selbst zurückschlägt; die bemerkenswert unbefangene Empfehlung Dawkins, sich und seinesgleichen als »Überlebensmaschinen« zu verstehen und sich an entsprechenden Selbsterhaltungsimperativen zu orientieren, macht dies besonders deutlich. Das Selbstverhältnis des Menschen ist vermittelt über den Umgang mit der Natur und auch dadurch geprägt. Das theoretische Weltverständnis und der praktische »Weltumgang« des Menschen schlägt auf sein Verhältnis zu sich selbst (und somit auf seine »Leiblichkeit«) zurück und hat entsprechende – nunmehr auch maßgebende – »apparativ-maschinen-artige« Züge. Ein solcher immanentistischer Kurzschluss, der sich diesem »szientistischen Naturalismus« verdankt, erlaubt infolgedessen, wie sich sogleich zeigen wird, nur noch die – wenigstens gelegentliche – kompensatorische Flucht in die Erbaulichkeit einer dafür bereitgehaltenen Sonderwelt. Immer wieder wird sich auch zeigen: Die Verbindung von Erbaulichkeit und Heinrich 2004, 66. Für diese Bezeichnung »Dritte Kultur« verweist Heinrich auf das Buch von J. Brockman, »Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft«. Aus dem Amerikanischen übertragen von Sebastian Vogel. München 1996. Mit Recht betont Heinrich, dass »heute meinungsführende politische Magazine und Zeitungen ein Forum für die andauernde Präsenz solcher Vorstellungen« bieten. Insofern entbehrt es nicht einer sachlichen Grundlage, wenn von einem Siegeszug der Evolutionstheorie bzw. der Soziobiologie gesprochen wird« (Heinrich 2007, 207). Zu den Leitideen bzw. Zielen dieser erwähnten »dritten Kultur« s. die treffenden Diagnosen von Heinrich 2002. 6 Heinrich 2002, 255. 5
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I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
vollständiger Naturalisierung des Menschen hat in Dawkins einen sehr begabten Nachfolger dieses naturalistischen Weges gefunden, zumal ja auch die »Wegdressur« mit dem »starren Festhalten an der ›Tradition‹« (Gotteswahn 116) vergleichbar sein soll. 7 Der von Dawkins propagierte »Naturalismus« stellt auch das Fundament für seine so energisch behauptete Position des »Atheismus« dar; seine Konzeption darf als ein besonders prominentes und eindrucksvolles Beispiel dafür gelten, dass Positionen des »modernen Atheismus« mit naturalistischen Menschenbildern engstens verbunden sind, ja darin in der Regel auch ihr geistiges Fundament haben 8 – zumal beide ja dem Anspruch nach strenger Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind. Wenigstens indirekt wird sich gerade deshalb im Blick auf Dawkins ein Wort des Philosophen und Kirchenlehrers Thomas von Aquin bestätigen: Wer falsch über den Menschen redet, der muss in der Folge notwendig auch über Gott Falsches denken – eine Auffassung, die in den Büchern Dawkins’ vielfältige Bestätigung findet. Es liegt demzufolge nahe, zunächst einmal dieses naturalistische Fundament der Dawkins’schen Gesamtkonzeption und die damit verbundenen Weichenstellungen näher zu beleuchten.
Mit Recht verweist Schärtl darauf, dass Dawkins’ Schlussfolgerung über das Gottesthema und Religion »das glatte Gegenteil dessen ausdrückt, was einst das Erste Vatikanische Konzil im Hinblick auf die Plausibilität des Theismus und die Problematik des Atheismus formuliert hatte: Nicht Atheisten, sondern Theisten sind, wenn nicht moralisch verkommen, so doch auf jeden Fall geistig und seelisch zurückgeblieben, infantil oder sogar dumm. Religiöse Erziehung in heutiger Zeit gesellschaftlich konsensfähig zu halten oder sogar staatlich zu fördern oder zu unterstützen, grenze daher an ›geistige Kindesmißhandlung‹« (Schärtl 2008, 155 f.). 8 Es ist freilich nicht zu übersehen, dass Dawkins, der die Ausführungen seines atheistischen Co-Missionars Harris wiederholt (z. B. in dem von ihm geschriebenen Vorwort zu Harris’ »Brief an ein christliches Land«) geradezu überschwänglich lobte, ja selbst listigerweise von Harris’ Kritik an »materialistischen« Konzeptionen und Glaubensbekenntnissen, die eine »höhere intellektuelle Integrität« und damit verbundene wissenschaftliche Weihen für sich beanspruchen, direkt mitbetroffen ist. 7
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1. Dawkins’ Naturalismus und die szientistische Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode
Zunächst ist mit »Naturalismus« bzw. »Naturalisierung des Menschen« die Reduktion aller geistigen – kognitiven und moralisch normativen – Vollzüge des Menschen gemeint, 9 in denen sich ein Sinnund Geltungsanspruch artikuliert, auf bloß materielle Prozesse. Der von Dawkins programmatisch vorangestellte »Naturalismus« 10 besagt sodann – ganz in der Spur traditioneller materialistischer Positionen – näherhin dies: »Gedanken und Gefühle des Menschen erwachsen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinne vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphänomene gibt, die wir noch nicht verstehen«
Eine – auch auf Dawkins zutreffende – gängige Charakterisierung der »naturalistischen Anthropologie« lautet: »Mit einer naturalistischen Anthropologie oder einem anthropologischen Naturalismus haben wir es zu tun, wenn die Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, lautet, dass er mit allen seinen Eigenschaften und Fähigkeiten Teil der einen natürlichen Welt ist, die mit den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften erschöpfend beschrieben werden kann« (Keil 2005, 73). 10 Dawkins bezieht sich hier (Gotteswahn 25) auf die Naturalismus-Position Bagginis: »Die meisten Atheisten glauben, obwohl es im Universum nur eine Art Stoff (und zwar von physikalischer Natur) gibt, dass aus diesem Stoff auch Geist, Schönheit, Gefühle und moralische Werte hervorgehen – kurz gesagt, das ganze Spektrum der Phänomene, die das Leben der Menschen bereichern«. Abgesehen davon, was man sich unter einem solchen »Hervorgehen« näherhin vorzustellen hat, bleibt doch die Frage, dass eine solche Erkenntnis bzw. Meinung über ein solches »Hervorgehen« selbst von solcher »stofflicher« Natur ist. Das Problem dabei ist lediglich auch hier, dass stoffliche Prozesse weder wahr noch falsch sind, sondern eben lediglich sind – weshalb genauer besehen darauf auch nur neuronale Prozesse anderer Gehirne reagieren können, die ihrerseits als solche das Schicksal teilen, als materielle Prozesse weder »wahr« noch »falsch« zu sein. 9
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Die szientistische Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode
(Gotteswahn 25 f.). 11 Demgemäß verwirft Dawkins jeden »Dualismus« und bekennt sich zu einem konsequenten Monismus: »Der Dualist geht davon aus, dass zwischen Materie und Geist ein grundlegender Unterschied besteht. Ein Monist dagegen glaubt, dass Geist eine Ausdrucksform der Materie ist, Material in einem Gehirn oder einem Computer, das ohne Materie nicht existieren kann. Der Dualist hält den Geist oder die Seele für eine Art körperloses Gebilde, das den Körper bewohnt; deshalb kann er sich auch vorstellen, dass dieses Gebilde den Körper verlässt und dann irgendwo [!] anders existiert« (Gotteswahn 250 f.) 12 – damit sind die Vorstellungen gespensterischer räumlicher Sonderwelten eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht 13. Von dieser Seele, die zwar den Körper nicht »überdauert«, aber von diesem offensichtlich doch irgendwie verschieden (und dennoch kein Gespenst) sein soll, hätte man vom Naturalisten Dawkins gerne ein wenig mehr erfahren; zumal doch er selbst dieser »Seele« – bei passender Gelegenheit – ganz erstaunliche Fähigkeiten und »Höhenflüge« zumutet, die den Menschen sein tristes Dasein als »eine von einem kurzlebigen Verband langlebiger Gene gebaute Überlebensmaschine« (Das egoistische Gen 98) 14 in glücklichen (besser: leichtIm englischen Original heißt es: »Human thoughts and emotions emerge from exceedingly complex interconnections of physical entities within the brain« (The God Delusion 14) – was freilich auf die in den gegenwärtigen Naturalismus-Debatten immer wieder auftretende Frage führt, was denn dieses »emerge« genauerhin besagt: denn dass diese »thoughts and emotions« ohne die entsprechenden physikalischen und neuronalen Prozesse nicht möglich wären, ist ja unbestritten – ebenso freilich dies, dass sie darauf nicht reduzierbar sind. Dass diesem bewussten Leben sein Nochnicht bzw. sein Nicht-mehr präsent ist und dieses präsente »Sein von Nichts« selbst freilich nicht die bloße Abwesenheit eines Gehirnprozesses ist, ist höchst rätselhaft. 12 Im Englischen heißt es: »A monist … believes that mind is a manifestation of matter – material in a brain or perhaps a computer – and cannot exist apart from matter« (The God Delusion 179 f.). – Dass der »Materialismus, Naturalismus« als das »konsequente System des Empirismus« »die Selbständigkeit des denkenden Prinzips und einer in ihm sich entwickelnden geistigen Welt« negiert (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften: § 60), wird durch Dawkins’ Definition genau bestätigt. 13 Damit ist freilich eine nicht-korrigierbare Weichenstellung vollzogen, denn: Wie sollen diese getrennten Seele und Körper jemals wieder »eins« werden können, wenn sie einmal derart künstlich getrennt werden? Die Frage nach der »Vereinigung« (Wechselwirkung) zwischen Gehirnprozessen und »seelisch-geistigem« Geschehen setzt dieselben schiefen Trennungen schon voraus, weil darin zwei unterschiedene »Hinsichten« zu verschiedenen »Gegenständen« fixiert werden, die dann auf einen Aspekt zurückgeführt (d. h. darauf reduziert) werden müssen. 14 Nur auf einschlägige Äußerungen kann sich offenbar die Kritik Benedikt XVI. an 11
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I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
sinnigen) Augenblicken wenigstens vorübergehend vergessen lässt. Schade nur, dass jedoch schon jene vermeintlich vom »philosophischen Naturalisten« vertretene »Ansicht« sich ebenso als bloße »Ausdrucksform der Materie« erweist und sich als solche von Phantasien, Halluzinationen, epileptischen Anfällen o. Ä. offenbar auch nur graduell unterscheidet – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es eine vermeintlich diese naturalistische »Ansicht vertretende« Instanz ohnedies gar nicht gibt –, d. h. ein »Ich«, das »Ansichten vertreten« und diese auch rechtfertigen könnte (»ich vertrete diese Ansicht«), selbst der naturalistischen Kritik zum Opfer fällt und als »Illusion« rasch entsorgt wird (s. u. I., 1.1). Wer oder was indes diese Entsorgung vornimmt – ein neuronaler Gehirnprozess? – bleibt erneut rätselhaft: Teil des von Dawkins erklärten »Zaubers der Wirklichkeit«? Das weltanschauliche Erbe und das daran geknüpfte Programm ist nicht zu übersehen: Im Sinne dieses »Naturalismus« hatten ja schon die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts betont, dass das Gehirn Gedanken in ähnlicher Weise produziere (»ausdrücke«), wie die Nieren den Urin. Der sogenannte eliminative Materialismus ist eine gegenwärtig besonders markante und konsequente Gestalt dieses Naturalismus, der in programmatischer Hinsicht freilich ebenfalls schon im 18. Jahrhundert zu Ansehen gelangt. 15 So ist einer von ihm sogenannten »Aufklärungsphilosophie« beziehen (wobei freilich zu bezweifeln bleibt, mit welchem Recht eine solche Position die Bezeichnung »Aufklärung« verdient): »Die radikale Loslösung der Aufklärungsphilosophie von ihren Wurzeln wird letztlich zur Abschaffung des Menschen. Er hat eigentlich gar keine Freiheit, so wird uns nun von den Vertretern der Naturwissenschaft im totalen Widerspruch zum Ausgangspunkt des ganzen eingeredet. Er sollte sich nicht einbilden, etwas anderes zu sein als alle übrigen Lebewesen. Er sollte sich daher auch wie diese behandeln – so sagen uns nun schon die fortgeschrittensten Vertreter einer streng von den Wurzeln des historischen Gedächtnisses der Menschheit gelösten Philosophie« (Benedikt XVI. 2007, 78). Möglicherweise hatte er dabei auch die Grundthese von Dawkins’ frühem Buch (in Kombination mit Skinner [1973] vor Augen: »Die These des Buches ist, dass wir und alle anderen [!] Tiere Maschinen sind, die durch Gene geschaffen wurden« (Das egoistische Gen 2). 15 Wesentlich kritischer nimmt sich – jedenfalls in solcher Hinsicht – eine Stellungnahme von E. O. Wilson, des »Begründers« der modernen »Soziobiologie«, aus (auf den Dawkins sich ja wiederholt beruft): »Human understanding of value and purpose are outside of natural science’s scope. However, a number of components – scientific, social, philosophical, religious, cultural and political – contribute to it. These different fields owe each other mutual consideration, while being fully aware of their own areas of action and their limitations« (E. O. Wilson, Consilience. The Unity of Knowledge. New York 1998, zit. n. Kummer 2008, 93).
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Die szientistische Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode
der Unterschied zu der etwa im französischen Materialismus leitenden Auffassung, der Mensch sei eine durchgehend nach physiologischen Gesetzen funktionierende Maschine, grundsätzlich nur graduell; 16 und auch die darin leitende Zielsetzung der Befreiung vom Religionswahn durch moderne Wissenschaft sowie das damit verbundene naturalistische Pathos macht die geistige Wahlverwandtschaft unübersehbar – nicht zuletzt in der Entlarvung menschlicher Eitelkeiten und Illusionen: 17 »Die Natur ist das große Ganze, dessen Teil der Mensch ist, und unter dessen Einflüssen er steht. Wesen, die man jenseits der Natur setzt, sind jederzeit Geschöpfe der Einbildungskraft, von deren Wesen wir uns ebensowenig eine Vorstellung machen können als von ihrem Aufenthaltsort und ihrer Handlungsweise. Es gibt nichts und kann nichts geben jenseits des Kreises, der alle Wesen einschließt. Der Mensch ist ein physisches Wesen und seine moralische Existenz nur eine besondere Seite des physischen, aus seiner eigentümlichen Organisation abgeleiteter Modus des Handelns … Der Mensch als physisches Wesen handelt nach wahrnehmbaren sinnlichen Einflüssen, als moralisches Wesen nach Einflüssen, welche unsere Vorurteile uns nicht erkennen lassen« 18. Indes, schon hier ist die Befürchtung nicht zu unterdrücken, dass Letzteres dann wohl auch für diese Erklärung selbst gelten muss – allein der damit verbundene Wahrheitsanspruch steht dieser Erklärung im Wege, weshalb wohl auch diese entlarvende Dawkins’ Verständnis des Menschen als »Überlebensmaschine der Gene« liegt durchaus in der Linie jener Sichtweise, die in »L’homme machine« des französischen Materialisten La Mettrie zum Ausdruck kommt. 17 Man fühlt sich an eine erstaunlich aktuelle Bemerkung Fichtes erinnert, die bezeichnenderweise auf die damaligen naturalistischen Vertreter des »französischen Materialismus« abzielt: »Der Gegenstand meiner innigsten Zuneigung ist ein Hirngespinst, eine greiflich nachzuweisende grobe Täuschung. Statt meiner ist und handelt eine fremde mir ganz unbekannte Kraft: und es wird mir völlig gleichgültig, wie diese sich entwickle. Beschämt stehe ich da, mit meiner herzlichen Neigung, und mit meinem guten Willen; und erröte vor dem, was ich für das Beste an mir erkenne, und um wessen willen ich allein sein mag, als vor einer lächerlichen Torheit. Mein Heiligstes ist dem Spotte preisgegebenen« (Fichte 1997, 41). 18 Holbach, System de la Nature, zit. n. Reclam-Arbeitstexte 66 f. – Schon Rousseau hat die Ansprüche der zeitgenössischen Materialisten damit konfrontiert: »Niedrige Seele, deine traurige Philosophie ist es, die dich ihnen [den Tieren] gleichstellt, oder vielmehr: du willst dich vergebens erniedrigen, dein Geist zeugt gegen deine Prinzipien, dein wohltätiges Herz straft deine Doktrin Lügen, und selbst der Missbrauch deiner Fähigkeiten beweist gegen deinen eigenen Willen ihre Vortrefflichkeit« (Rousseau 1998, 568). Die Aktualität dieser Bemerkung wird sich gerade im Blick auf den Naturalisten Dawkins und die von ihm geäußerten Ansprüche bestätigen. 16
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Bemerkung über den Menschen als »moralisches Wesen« eher als eine Produktion besonderer Körpersäfte (»humores«) zu verstehen ist. 19 Auch diese naturalistischen Widerlegungen kann man in der Folge so wenig ernst nehmen wie andere körperliche »Expressionen«. Dawkins’ evolutionsbiologische Bestimmung des Menschen als »Überlebensmaschine« steht unübersehbar in der anthropologischen Tradition jenes Werkes »L’Homme machine«. Freilich, schon die an diese naturalistisch-monistische Selbstverortung Dawkins’ geknüpften Prämissen werfen grundsätzliche Fragen auf: Denn was heißt es denn genau, dass »Gedanken und Gefühle des Menschen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« erwachsen (»emerge« heißt es im Englischen) und dass der »Geist eine Ausdrucksform der Materie ist« – was genau soll hier »Ausdrucksform« (englisch: »manifestation«) eigentlich heißen? Ist mit dieser Auskunft lediglich gemeint, dass »mentale« bzw. »geistige« Phänomene ein materiales Korrelat haben und in diesem Sinne an ein höchst komplexes Gehirn gebunden sind, ohne diese natürlichen Bedingungen also nicht möglich wären – was allerdings ohnehin niemand bestreiten wird 20 –, oder ist damit vielmehr gesagt, sie seien in Wahrheit »nichts anderes als« diese, d. h. »identisch« mit materiellen Prozessen – wofür in der Tat Dawkins’ Behauptung spricht, »that mind is [!] a manifestation of matter – material [!] in a brain or perhaps a computer« (s. o. I., Anm. 12)? 21 Die Vorstellung etwa, dass Geist selbst ein Produkt des Blutes bzw. ausdrücklich des Gehirns ist (Alkmaion) hat es schon bei den Griechen gegeben und war der Kritik Platons und des Aristoteles ausgesetzt. 20 Ganz zu Recht betont H. Tetens: »Eine wissenschaftstheoretische Analyse könnte schnell zeigen, dass die Hirnforschung zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist nicht mehr beisteuern kann als solche Korrelationsaussagen bzw. Korrelationsgesetze. […] Der Verweis auf Korrelationsbehauptungen ist allerdings ein Vorwurf an diejenigen Hirnforscher, vor allem aber an diejenigen Philosophen, die uns immer wieder weismachen wollen, Fortschritte in der Hirnforschung würden das Leib-SeeleProblem eines Tages lösen« (Tetens 2013, 10). 21 Das ist ja das Bemerkenswerte des Naturalismus, dass die den Naturalismus vertretenden »brights« nicht nur frei sind von diesen »übersinnlichen und mystischen und anderen Elementen«, sondern auch frei von sich selbst sind – weil ja lediglich »neuronale Prozesse des Gehirns« ablaufen und vielfach andere neuronale Reaktionen auslösen – d. h. im Grunde auch frei von jedem »Ich« und Geltungsansprüchen sind, zumal die in der nachfolgenden Definition angesprochene Person als »Ich« selbst in dieser naturalistischen Selbstauflösung als ein »übernatürliches und mystisches« Gespenst erscheinen müsste. Ein naturalistisches Weltbild erlaubt es also konsequenterweise, auch frei von sich selbst zu sein, denn: »Ein Bright ist eine Person mit einem 19
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Dann gibt es freilich nicht nur keine »übernatürliche kreative Intelligenz«, sondern auch gar keine »geistige Kompetenzen«, weil diese ohnehin mit den »neuronalen Prozessen« schlichtweg identisch sind. Und auch Dawkins’ unstillbarer Wissensdrang, nicht weniger sein »atheistischer Stolz« und der Löwenmut, mit dem er – wer? Sein Gehirn? – sich den »Feinden der Vernunft« entgegenstellt, sollte sich somit lediglich »äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« verdanken? 22 Darüber kann auch der vermeintlich elegante Hinweis auf den »Geist als Ausdrucksform der Materie« nicht hinwegtäuschen – so wenig wie der letztlich nichtssagende Rekurs auf »Fulguration«, Emergenz etwas erklärt und genau genommen lediglich für eine »Unbekannte x« steht. Vielmehr scheint sich schon hier zu bestätigen, dass die Naturwissenschaft für die »geistigen Realitäten« selbst per definitionem nicht zuständig ist, sehr wohl aber für die »physikalisch-biologischen« Prozesse bzw. deren Entwicklungsniveau, ohne die diese »geistigen Phänomene« freilich nicht »real« sein könnte, zumal natürlich auch sie an die »neuronale Realisierung« gebunden sind. 23 Indes verschleiert jene Rede von der »Ausdrucksform« lediglich diese prinzipielle Differenz 24 und verfällt damit unweigerlich einem handfesten Reduktionismus. 25 naturalistischen Weltbild. Das Weltbild eines Bright ist frei von übernatürlichen und mystischen Elementen. Die Ethik und Handlungen eines Bright basieren auf einem naturalistischen Weltbild.« Zit. nach: www.brights-deutschland.de. 22 Dass sich dahinter in Wahrheit lediglich egoistische Gene verbergen und dieses schöne Gefühl lediglich Ausdrucksgestalt bzw. Epiphänomen physikalischer Abläufe ist, wäre lediglich konsequent. Lohfinks Befund trifft direkt auf Dawkins zu und wird durch seinen Bezug auf die »Überlebensmaschine«, von der der Mensch als »Überlebensmaschine« lediglich ein Teil ist und sich als solcher auch selbst verstehen soll, geradezu direkt bestätigt. 23 In diesbezüglich ähnlicher Weise betont Brandt: dass für die »geistige Sonderkompetenz des Menschen« die »physiologischen und psychischen animalischen Prozesse nach unserer Erkenntnis zwar notwendige Voraussetzungen« sind, »die jedoch … nicht hinreichen, um diese spezielle mentale Qualität des Denkens zu erklären« (Brandt 2009, 16). Zu einer Kritik an den soziobiologischen Motiven in Dawkins’ Naturalismus s. auch Knapp 1989. 24 Gegen eine solche naturalistische Nivellierung wendet sich in der Tat das kirchliche Lehramt schon in der Enzyklika »Humani generis« (aus dem Jahr 1950), wenn darin die Reduktion des »menschlichen Geistes« auf eine »Ausformung der Kräfte der belebten Materie« bzw. als bloßes »Epiphänomen dieser Materie« zurückgewiesen wird (vgl. bes. die Abschnitte 4 u 5 dieser Enzyklika). Vgl. allerdings auch Schrödingers (nahezu gleichzeitigen) Einspruch gegen Naturalisierung dessen, »was wir Geist oder Seele nennen« (Schrödinger 1955, 138). 25 Dem Naturalismus entgeht man auch nicht durch eine behauptete »Wechselwir-
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Außerdem – was Dawkins’ naturalistischer Auffassung zufolge ohnedies die einzig richtige Folgerung wäre: Wenn »Gedanken und Gefühle des Menschen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« »erwachsen«, also im Letzten eine »Funktion der Materie« sind – warum begnügt Dawkins sich nicht einfach mit dem schlichten Befund, dass es eben in verschiedenen menschlichen Gehirnen unterschiedliche neuronale Prozesse und »komplizierte Verflechtungen physischer Gebilde« gibt, aus denen eben sowohl atheistische als auch gläubige »Gedanken und Gefühle erwachsen« – »Hirngespinste« also beide sind? Außerdem haben diese ja ohnedies, wie jedes bildgebende Verfahren der Neurobiologie doch buchstäblich vor Augen führt, ohne weiteres nebeneinander »friedlichen Bestand«; 26 und auch streiten würde (bzw. könnte) man kung geistiger Vorgänge, Gedanken, Wünsche, Absichten usw. mit Hirn-Ereignissen. Diese Wechselwirkung vollzieht sich in einem Prozess, bei dem Information in beiden Richtungen über die Grenze zwischen dem selbst-bewussten Geist einerseits und den Liaison-Bereichen des Gehirns andererseits hinwegfließt« (Eccles 1982, 206); mit solcher behaupteten »Wechselwirkung« ist just jener Dualismus vorausgesetzt, der dann auch der naturalistischen Kritik zum Opfer fällt. Da hilft es auch nichts, wenn Eccles einräumt: »Natürlich wirft dieses Postulat einer unabhängigen Existenz geistiger Ereignisse und ihrer Wechselbeziehung zum Gehirn immense Probleme auf« (ebd. 209); die Auffassung, dass der »selbst-bewusste Geist … eine unabhängige Entität« sei, »die aktiv damit beschäftigt ist, je nach Aufmerksamkeit und Interesse aus den mannigfaltigen Aktivitäten der Neuromaschinen des cerebralen Cortex abzulesen« (ebd. 221), kann auch in diesen »anthropomorphisierenden« Ausdrücken über die Fragwürdigkeit einer solchen dualistischen Rettung des Geistigen nicht hinwegtäuschen. Von den von Eccles hier geltend gemachten »transzendenten Eigenschaften des Gehirns« ist es freilich nicht weit zu Dawkins’ »Ausdrucksformen des Gehirns«. 26 »Der verkannte Unterschied liegt darin, dass es im Fall des Hin und Her von Gründen einen semantisch beschreibbaren Konflikt gibt – nämlich einen Widerstreit zwischen verschiedenen Bewertungen in Hinsicht darauf, was gut oder schlecht ist, oder zwischen Urteilen in Hinsicht auf das, was wahr oder falsch beziehungsweise richtig oder falsch ist. Ein solcher Widerstreit ist etwas anderes als ein Wechsel von körperlichen Zuständen. Diese können sich nicht widersprechen. Man beginge einen Kategorienfehler, wenn man von logischer Konsistenz und Widersprüchlichkeit zwischen Prozessen oder Zuständen im limbischen System sprechen würde« (Wingert 2006, 250). Einen ganz ähnlichen Kategorienfehler identifizierte schon Leibniz in der Verkennung des Sachverhaltes, dass »im eigentlichen Sinne die Motive auf das Bewusstsein nicht wie die Gewichte auf die Waage« wirken. Es ist vielmehr das Bewusstsein selbst, das sich kraft der Motive, die ihm die Bedingungen zum Handeln geben, entschließt. Nimmt man also … an, dass das Bewusstsein zuweilen den schwachen Beweggründen vor den stärksten und Gleichgültigem vor dem Motivierten den Vorzug gibt, so trennt man das Bewusstsein und seine Beweggründe, als ob diese außer ihm, wie die Gewichte außerhalb der Waage, gesonderten Bestand hätten, und als ob das
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Die szientistische Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode
über seine »Argumente« nicht, denn physikalische Prozesse streiten bekanntlich auch nicht, sondern diese bestehen ja ohnehin, wie ebenfalls jedes bildgebende Verfahren eindeutig zeigt, gleichermaßen nebeneinander. Der »Sinn« von Sätzen lässt sich freilich nicht in neurologischer Forschung thematisieren, so wenig wie »Geist« und »Vernunft«. Noch einmal sei betont: So selbstverständlich natürlich die neuronalen Gehirnprozesse bzw. Funktionen unverzichtbare (aber eben nicht hinreichende) Bedingungen dieser geistig-humanen Vollzüge sind, so sind sie aber doch solche, die eben nicht »erwachsen« wie im Gedärm bei Verdauungsabläufen Dämpfe und Fürze »erwachsen« … ; überdies: Was bedeutet eigentlich die Wendung »mein [!] Gehirn« – wenn man ohnehin mit dem »Gehirn« identisch ist? 27 Ebenso bleibt zu fragen: Sind die Leistungen und erzielten Theorien des Menschen, in denen er seine eigene Herkunft und den naturhaften Charakter seiner geistigen Vollzüge erforscht und »entlarvt«, selbst wiederum bloß »neuronale Prozesse« – die als solche aber doch nicht »wahr sein könnten«, weil »wahr« eben keine »empirische« Eigenschaft ist? Und wäre die von Dawkins geleistete »Überzeugungs«, besser: Überredungsarbeit für den »Naturalismus« bzw. »Atheismus« dann selbst ebenso lediglich ein den »äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« »Erwachsenes« – wären also die damit verbundenen (Bekehrungs-)Absichten sowie die anderen in seinem Vorwort erwähnten Motive, Intentionen u. Ä. selbst nichts anderes als »Ausdrucksformen der Materie« (was immer Bewusstsein neben den Motiven noch andere Bestimmungsgründe enthielte. Kraft deren es sie ablehnen oder annehmen könnte. In Wahrheit jedoch umfassen die Beweggründe alle Bedingungen, die den Geist in seiner freien Wahl bestimmen können: nicht nur die Vernunftgründe, sondern auch die Neigungen, wie sie aus ursprünglichen Trieben oder aus anderen Eindrücken von außen her entstehen« (Leibniz 1996, 123 f [Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke]). 27 Dawkins steht hier offensichtlich der Auskunft von gegenwärtig dominanten Ansprüchen der Hirnforschung sehr nahe: »Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen [!] auf biologischen Prozessen« (Das Manifest 2004, 36 f.). So offensichtlich dieses behauptete »Beruhen« genauer besehen ohnehin auf einen Etikettenschwindel hinausläuft, weil, wie sich zeigt, in Wahrheit »Geist, Bewusstsein« usw. auf materielle Prozesse reduziert wird, so verhält es sich auch mit der Dawkins’schen Kennzeichnung von »Gedanken, Gefühlen« als »Ausdrucksformen« materieller Prozesse im Gehirn, die sich nur graduell von anderen »Ausdrucksformen« materieller Prozesse im Gedärm unterscheiden. Diese sprachlichen Manöver können nicht über die mit diesem Naturalismus verbundenen Schwierigkeiten hinwegtäuschen.
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das heißen mag)? In diesem Sinne wäre ja auch beispielsweise der Prozess von Dawkins’ Abfassung seines »Gotteswahnes« als lückenlos beschreibbares »physikalisches Geschehen« im »Raum der Ursachen« aufzufassen – wer wollte daran zweifeln? Lässt sich dann aber daraus nicht folgern, dass »in Wahrheit« also nicht Dawkins das Buch geschrieben hat, sondern die »neuronalen Hirnprozesse« (und die Hände), während »ihm selbst« (wer immer das dann noch sein mag!) nur die »Ausdrucksformen« blieben? Das wäre zwar in gewisser Weise entlastend – doch so einfach geht das leider nicht. Dass »Gedanken und Gefühle des Menschen … aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« erwachsen, gilt dann wohl ebenso für Dawkins’ eigene Gedanken und Argumente gegen den »Gottes-Wahn« wie für die religiösen »Feinde der Vernunft«; und doch sind diese »Gedanken« offenbar anderes und mehr als bloß »physische Gebilde«, denn solchen »physikalischen Gebilden« könnte man ja auch gar nicht antworten, bestenfalls würden andere physikalisch-chemische Prozesse bzw. »Hirngespinste« darauf »reagieren«. Und auch Dawkins’ Selbstverständnis »Ich bin kein Dualist« wäre als ein komplexer neuronaler Prozess im Gehirn des philosophischen »Naturalisten« selbst nichts anderes als ein evolutionär entstandener neuronaler Geschehensablauf, der sich deshalb auch nur graduell etwa von anderen »emergierenden« Produkten des menschlichen Organismus (oder z. B. dem Husten) unterscheidet 28 – d. h. aber: weder sinnvoll noch sinnlos, weder wahr noch falsch, sondern eben bloßer Ablauf in der Sinn-leeren »Faktenaußenwelt«. Seinen naturalistischen Prämissen gemäß wären also seine eigenen AuffasDawkins steht hier in guter Nachbarschaft zu der Auffassung W. Singers: »Die Evolution, über welche der Mensch auf die Erde kam und mit ihm die mentalen Phänomene, begreifen wir als einen kontinuierlichen Prozess, der sich lückenlos mit naturwissenschaftlichen Beschreibungsverfahren darstellen [!] lässt und somit keine ontologischen Sprünge aufweist« (Singer 2002, 177). Was aber heißt hier »… begreifen wir als einen kontinuierlichen Prozess«, wenn dieses »Begreifen« doch selbst ein Teil dieses »kontinuierlichen Prozesses« ist? Dass die »Evolution« in der genannten Weise darstellbar ist, wird ja auch nicht bestritten; kritisiert wird lediglich dies, dass diese methodische Vorgehensweise stillschweigend zu einer reduktionistischen »Identifikation« führt. Man kann ja beispielsweise auch (wenn man Zeit dazu hat) eine Liebes- oder Kriegserklärung »lückenlos mit wissenschaftlichen Beschreibungsverfahren darstellen«, ohne auf den Gedanken zu kommen, damit die Liebeserklärung »begriffen« zu haben; ebenso unsinnig wäre die mit jener »Darstellung« verbundene Auffassung, dass damit jede teleologische Perspektive schlechthin obsolet geworden sei.
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sungen nichts anderes als ein aus neuronalen Gehirnprozessen »erwachsener« physikalischer Schall, der sich auch nur graduell von anderen (bloßen) »Schällen« der genannten Art unterscheidet, 29 ebenso wie natürlich sein Staunen und Bewundern über die Welt und sein eigenes Vorkommnis darin, das erst recht nichts als belangloses Vorkommnis jener »Faktenaußenwelt« wäre. Beim Wort genommen – Dass man sich die »brights«, ungeachtet ihres Naturalismus, freilich nicht nur als glücklich-beglückende, sondern auch als durchaus einfühlsame, feinfühlige Menschen vorzustellen hat, belegt Dawkins’ selbst: »Den Versuch der Religion, ein tieferes Verständnis des Lebens zu finden, habe ich immer respektiert. Auch ich reagiere quasi religiös, wenn ich zu den Sternen aufsehe, zur Milchstraße und mir das Universum vorzustellen versuche. Das Gefühl, das ich [!] dann empfinde, könnte man fast so etwas wie Anbetung nennen«; man möchte da ja wahrlich kein desillusionierender Spiel- und Freudeverderber sein – aber auch hier ist die Frage nicht zu vermeiden: Wer ist denn dieses seltsame »ich«, das Anbetungs-nahe Gefühle empfindet (d. h. mit diesen empfundenen erhebenden Gefühlen auch nicht einfach »identisch« ist, sonst könnte es diese nicht »empfinden«!) und dies beteuert – wenn nicht jener irrigerweise vorgestellte (offensichtlich jedoch auch von Dawkins Besitz ergreifende) bloße »Homunkulus hinter den Augen«, ein evolutionär bedingter Instinkt gewissermaßen … ; und was ist jenes Dawkins zufolge fast einer »Anbetung« gleichkommende Gefühl – selbst lediglich ein physikalisches Geschehen im Gehirn, das unter der wissenschaftlichen Entlarvung (die freilich selbst lediglich ein »physikalischer Prozess« sein müsste!) seinen Zauber verliert? Es »bezaubert« zwar, aber die »entzaubernde« Naturwissenschaft macht daraus einen in bildgebenden Verfahren exakt darstellbaren Gehirnprozess … Mit seinem Homunkulus-Verdacht gerät Dawkins freilich bemerkenswerterweise – obgleich nicht überraschend – in die Nähe eines anderen »Menschheits-Befreiers«, nämlich des behavioristischen Psychologen B. F. Skinner und dessen Plädoyer für eine wissenschaftliche »Dehomunkulisierung« des Menschen, die er schon vor mehr als 40 Jahren in Aussicht gestellt hat: »Was im Begriff ist, abgeschafft zu werden, ist der ›autonome Mensch‹ – der innere Mensch, der Homunkulus, der besitzergreifende Dämon, der Mensch, der von der Literatur der Freiheit und der Würde verteidigt wird. Seine Abschaffung ist seit langem überfällig. Der ›autonome Mensch‹ [d. i. »der innere Mensch, der Homunkulus, der besitzergreifende Dämon«] ist ein Mittel, dessen wir uns bei der Erklärung jener Dinge bedienen, die wir nicht anders erklären können. Er ist ein Produkt unserer Unwissenheit, und während unser Wissen wächst, löst sich die Substanz, aus der er gemacht ist, immer mehr in Nichts auf. Die Wissenschaft entmenschlicht den Menschen nicht, sie ›dehomunkulisiert‹ ihn, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, wenn sie der Abschaffung der menschlichen Spezies vorbeugen will: Wir können froh sein, wenn wir uns von diesem Menschen im Menschen befreit haben« (Skinner 1973, 205 f.). Indes, gehört zu jener von Skinner verspotteten Art »Literatur der Freiheit und der Würde« in gewisser Weise nicht auch Dawkins’ »Gotteswahn«, der die Menschheit im Namen der Freiheit und Würde bekehren und von der Knechtschaft der Religion befreien will? Gleichwohl erscheinen Dawkins’ (konditionierbare) »Überlebensmaschinen« zugleich als ein schon wenig später aufgetretenes Resultat einer solchen »Befreiung«. »MenschheitsBefreier« (im doppelten Wortsinn) unter sich …
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müsste man nicht richtiger sagen: beim »Schall« bzw. als »Druckerschwärze« genommen? – ist die offensichtlich Sinnhaftigkeit für sich beanspruchende Ansicht Dawkins’ auch auf diese Behauptung selbst anzuwenden: Somit ist auch diese Aussage selbst nichts als ein evolutionär bedingter Teil der »natürlichen, physikalischen Welt«, das andere neuronale Prozesse in anderen Organismen kausal »auslöst« und letztendlich »epiphänomenale« Auswüchse wie Bewusstsein und Gedanken produziert. Die tröstliche Konsequenz daraus wäre dies: Jenseits »ich-illusionärer Hirngespinste« sind also bei den von Dawkins wiederholt erwähnten Konferenzen in Oxford und den darin – vermeintlich – ausgetragenen »Kontroversen« mit den theologischen Kontrahenten in Wahrheit verschiedene (»feuernde«) neuronale Prozesse aufeinandergeprallt und haben entsprechende aufeinanderfolgende »Reaktionen« ausgelöst. Sind also bedauerlicherweise lediglich verschiedene »Gedanken und Gefühle in verschiedenen Gehirnen erwachsen«, oder sind verschiedene Ansichten, Urteile miteinander in Widerspruch geraten, die Antworten (nicht bloße »Reaktionen«) suchen bzw. solche erwarten lassen? Was aber wäre denn ein solcher vermuteter »Widerspruch« – außer selbst wiederum ein komplexes »physisches Gebilde im Gehirn«? Physikalische Abläufe, neuronale Prozesse sind faktisch vorhanden, jedoch nicht selbst »wahr/falsch«, und unterschiedliche Gehirnzustände streiten erfreulicherweise auch nicht miteinander. Begründete Zustimmung und Ablehnung zu bzw. von Argumenten und Überzeugungen sind offenbar etwas anderes als das »reaktive Aufeinanderstoßen« von neuronalen Abläufen – obgleich jene »bildgebenden Verfahren« ebendies »zeigen«. Denn auch noch so »komplizierte Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« sind als solche weder widersprüchlich, weder wahr noch falsch, weder fortschrittlich noch reaktionär, eben auch nicht »atheistisch« oder »theistisch« und somit auch nicht verrückt oder gefährlich – womit nur noch einmal gesagt sein soll, dass die hierfür vorausgesetzte Geltungsdifferenz von wahr/falsch, sein/sollen selbst offenbar nicht etwas empirisch Gegebenes ist und auch nicht in der Art eines reduktionistischen »Naturalismus« entsorgt werden kann 30. Dies alles muss also auch für Dawkins’ Theorie (bzw. für die darin maßgebenden Thesen) gelten: Demzufolge kann das WahrSchon daraus sollte deutlich werden, »dass die Wirklichkeit nicht in dem aufgeht, was die Naturwissenschaft über sie sagt, um den Glauben an einen nicht-materiellen Aspekte der Wirklichkeit für möglich zu halten« (Röd 1999, 45).
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heits-orientierte Wissen-Wollen, das den Evolutionsforscher beflügelt, und das daraus erzielte Wissen – um den Preis des Selbstwiderspruches – nicht selbst ein bloßer Erfahrungsgegenstand sein; die von ihm beteuerte leidenschaftliche »Wahrheitssuche« wäre andernfalls selbst bloße »Ausdrucksform eines materiellen Geschehens« 31, so wie auch das von Dawkins mit Einstein geteilte »Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind« (Gotteswahn 32): Auch dies erwiese sich »in Wahrheit« womöglich lediglich als eine hartnäckige C-Faser-Reizung, die aber vermutlich schon recht gut medikamentös therapierbar wäre. Und ob sich nicht auch Dawkins’ bekundeter Wissensdrang lediglich als eine solche vorübergehende Reizung entpuppt bzw. sich wenigstens einer solchen als »Ausdrucksform« verdankt? Wer wie Dawkins nichts als »die Wahrheit sucht«, setzt eben darin die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit der Vernunft schon voraus, was freilich nicht so einfach ist, wenn »Vernunft« selbst Ausdrucksgestalt materieller Prozesse ist – eine Aussage, die aber wohl »Vernünftigkeit« für sich beansprucht und doch zugleich als »Ausdrucksformen des Gehirns« weder wahr noch unwahr ist. So zeigt sich: Wäre also Dawkins’ naturalistische Konzeption im Recht, so liefe dies darauf hinaus, seine unstillbare Wahrheitssuche (s. o. Einleitung, Anm. 18) 32 und den damit verbundenen Wahrheitsanspruch sowie die daran geknüpften Aufklärungs-orientierten moralischen Intuitionen einer Befreiung des modernen Menschen von den Fesseln der Religion selbst gleichermaßen auf physikalische (neuronale) Prozesse zu reduzieren. Ebendies trifft doch wenigstens auf Dawkins’ eigene Äußerungen nicht zu, sofern er selbst (oder doch Eine ganz ähnliche Absicht verfolgt auch der Hinweis von H. Jonas: Er erzählt von drei jungen ambitionierten Naturwissenschaftlern, die sich »verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemein physikalisch-chemischen«, und diesem Vorhaben stets treu blieben: »In der Tatsache des Gelöbnisses trauten sie einem ganz und gar Nicht-Physischen, ihrem Verhältnis zur Wahrheit, eben die Macht über das Benehmen ihrer Gehirne zu, die sie im Inhalt des Gelöbnisses generell veneinten« (Jonas 1987, 13 f.). 32 Dass, wer die »Wahrheit sucht«, zugleich in gewisser Weise auch schon um sie »wissen« muss, weil er andernfalls auch nicht nach ihr suchen könnte, ist ein merkwürdiger – in der Philosophie oft bedachter – Sachverhalt, der vielleicht am einfachsten zu erledigen ist, wenn man auch die »Wahrheitssuche« als »Ausdrucksgestalt« physikalischer Prozesse versteht, von denen man sich ja durch Einnahme guter Medikamente wohl befreien kann. 31
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sein Gehirn?) diese ja für sich selbst Sinn und Zustimmung beanspruchen und als solche Sinn-Vollzüge gerade nicht selbst bloß physikalische Geschehensabläufe sind, wie Dawkins – offensichtlich selbstwidersprüchlich – behauptet. Also wenigstens für diese von ihm vertretenen Ansichten muss er beanspruchen, dass der Sinn seiner programmatischen naturalistischen Sätze nicht selbst lediglich ein Teil dieser »natürlichen, physikalischen Welt« ist; deren »Sinn« ist also nicht selbst etwas »empirisch Gegebenes«, weshalb auch das »Verstehen« derselben nicht selbst als eine physikalische Reaktion auf aufprallende »physische Gebilde« verstanden (?) werden kann. Wie schon erwähnt, auch die leitende »Absicht« Dawkins’, die Menschheit von ihrem Feind »Religion« bzw. von der Gottesvorstellung als einer gefährlichen Illusion (Gotteswahn 46) zu befreien, wäre andernfalls keinesfalls ein sinnvolles Unternehmen, sondern – so wie der von ihm (seinem Gehirn?) geteilte »tief religiöser Unglaube« – ein bloßer Gehirn-Zustand, d. h. ein Geltungs-neutraler neuronaler Prozess (so wie übrigens auch die religiösen Überzeugungen, die man deshalb nicht widerlegen, sondern eher wohl chemisch behandeln, d. h. kurieren sollte) 33; es wären diese allesamt ein bloßes Nebenprodukt der biologischen Evolution, demgemäß es eben Leute mit diesen Hypothalamus-gesteuerten Reaktionen und solche mit anderen durch »äußerst komplizierte Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« gibt, die freilich, problemlos »ko-existierend«, als neuronale Gehirnprozesse in der Welt ablaufen: Überzeugungen hin oder her, »in Wahrheit« sind dies unterschiedliche neuronale Prozesse bzw. Hypothalamus-Reaktionen – mit der tröstlichen Folge, dass die vermeintlichen »Feinde der Vernunft« sich in Wahrheit eher als – zwar erstaunlich zahlreiche – seltsame Exemplare mit anders ablaufenden »Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« erweisen, während dieser und die neuronalen Prozesse bei Dawkins und seinen »Anhängern« eben anders funktionieren, beide aber offensichtlich ohnehin harmonisch nebeneinander koexistieren. Man könnte also gar nicht sagen: Ich bin religiös oder atheistisch, sondern man hat bzw. (besser:) ist ebendieser oder ebenjener neuronale Prozess. Viel Lärm um (beinahe) nichts mit dem beinahe schon »gemütlich« zu Wie man hört, gibt es ja inzwischen erfreulicherweise für Demenz und den epidemischen Gotteswahn schon recht gute Medikamente; was unterscheidet deren Wirkungen im Gehirn von den Dawkins’schen Überzeugungsversuchen – und was heißt hier eigentlich noch »Überzeugung« – und wer soll eine solche Überzeugung haben?
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nennenden Ergebnis: Atheistische Gehirne haben diese neuronalen Zustände bzw. »Meme« (s. u. I., 2.2.1), gläubige Gehirne wiederum andere – der weltanschauliche Streit erweist sich als ein biochemisches Detail (vermutlich über Abweichungen im »limbischen System«), beide sind inzwischen, Gott sei Dank, recht gut heilbar und überdies ohnehin miteinander gut verträglich. Und auch die vermeintlichen Bekehrungsversuche erwiesen sich »in Wahrheit« selbst als aufeinander stoßende physikalische Abläufe bzw. aufeinander feuernde Prozesse und chemische Reaktionen, über den Ausgang man im Grunde nichts Sicheres wissen kann. Freilich bleibt infolgedessen zu befürchten, dass auch jenes erwähnte – von Dawkins den bekehrten Atheisten in Aussicht gestellte – Glücklich-Sein, das »Geistigausgefüllt-Sein« und die in atheistischer Kur gewonnene »gesunde geistige Unabhängigkeit« sowie der erlangte »gesunde Geist« sich allzu bald als bloße – mehr oder weniger konstante – neuronale Prozesse bzw. als deren Produkte erweisen! Es zeigt sich: Die von Dawkins als wahr behauptete naturalistische »Ansicht«, »dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt« (Gotteswahn 25), ist selbst nur möglich, weil diese »natürliche, physikalische Welt« von ihm (also von seinem Gehirn?) gewusst wird; was »in aller Welt« – und wie? – sollte diesen vorübergehenden Materie-Komplex und die daraus hervorgehenden »äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« denn dazu veranlassen, über sich selbst »Nachforschungen anzustellen«, wenn doch diese »Nachforschungen« ihrerseits – »in Wahrheit«? – lediglich physikalische Abläufe sind und somit auch Dawkins’ Ansicht, »dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt«? Ist dann also nicht erst recht das Wissen von der natürlichen, physikalischen Welt selbst lediglich ein Teil dieser »physikalischen Welt«? Dann wäre die fatale Konsequenz daraus unvermeidlicherweise dies: »Zu der besagten Klasse von Körpern gehören nun aber sodann wiederum einige Körper, die nicht allein bloße Körper sind (wie alle übrigen), sondern im Gegensatz zu vielen anderen Körpern auch noch eine Theorie über die Körper überhaupt und über die Körper, die sie selbst sind, entwickeln.« 34 Gleichwohl würden diese gewiss besonderen »Körper«, wie man ergänzen darf, aus solcher Theorie auch keinerlei Anpassungsvorteil für sich beziehen, sondern sich eher durchaus »unangenehme Schlussfolgerungen« für ihr eigenes Selbst34
Wagner 1992, 55.
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verständnis zuziehen, worüber man sich wohl allein dadurch trösten mag, dass auch dieses »Unangenehme« im Grunde selbst nur ein »physikalisch Gegebenes« ist 35. Und auch jene besinnlich-tiefsinnige, in unserer »Seele« (was auch immer dies sein mag?) geweckte »Überzeugung, dass unsere Lebenszeit endlich ist« (Regenbogen 10) – was auch immer unter einer solchen in unserer Seele geweckten »Überzeugung« (wessen?) dann genauer zu verstehen sein mag – entpuppt sich als das höchst seltsame Phänomen, dass ein »neuronaler Prozess« über sein eigenes einstiges »Noch-nicht-Sein« und »Nicht-mehrSein« als »neuronaler Prozesss« sinniert: Sagt ein »neuronaler Prozess« zu der ihn produzierenden »Überlebensmaschine«: »Memento mori!« – sagt diese darauf: »Du aber auch!«. Abgesehen davon, dass konsequenterweise also Dawkins’ moralisch orientierter Entlarvungsanspruch in Wahrheit selbst nichs anderes sein könnte als ein »neuronaler Prozess«, bliebe für das von ihm so energisch betriebene naturalistische Vorhaben eigentümlich selbstwidersprüchlich, weil es für sich selbst doch beanspruchen muss, was es zugleich ausdrücklich negiert; denn die Erklärung der evolutionär-genealogischen Bedingtheit dieser moralischen Ansprüche als Ergebnis der natürlichen Selektion hätte unweigerlich eine Selbstrelativierung zur Folge oder müsste sich gegen den Einwurf verteidigen, selbst lediglich ein Instrument der Selbsterhaltung zu sein – das freilich als solches auch nur so lange taugt, d. h. funktioniert, so lange ihre bloß interessenbedingte Funktionalität nicht durchschaut wird. 36 Doch wie auch immer … 37 Zur nochmaligen Klarstellung bzw. zur Vermeidung von Missverständnissen: Zweifellos ist es ein höchst interessantes – und hinsichtlich seiner praktisch-therapeutischen Relevanz auch kaum zu Mit Recht merkt Koslowski (1989, 46) an: »Was es heißt, dass Menschen ein Wissen von sich selbst und von dem Prozess, in den sie und ihre Umwelt eingebettet sind, haben können, ist deterministisch nicht zu begreifen, weil dieses Wissen eine Distanznahme und Unabhängigkeit von dieser Determination zugleich voraussetzt und zur Folge hat.« 36 Sein eigenes Unternehmen erschiene als evolutionär überflüssig und auch dem homöostatischen Gleichgewicht nicht dienlich; dies gilt sodann freilich gleichermaßen für die mit »geistiger Existenz« unzertrennlich verbundenen Fragen, die mit der Suche nach »lebenstragenden Überzeugungen« (so der Philosoph F. W. J. Schelling) verbunden sind (s. dazu u. II., 2.2). 37 Dawkins’ – inkonsequente – Ablehnung einer darwinistischen Moralbegründung läuft de facto auf die einbekannte Unmöglichkeit einer evolutionären Moralbegründung hinaus. 35
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unterschätzendes – Forschungsfeld, mit entsprechenden experimentellen Methoden die aus einer langen evolutionären Entwicklung hervorgegangenen basalen physikalisch-chemischen Prozesse (»neural correlates of consciousness«) als jene mannigfachen empirischen Bedingungen zu erforschen, ohne die Erleben, Fühlen, Vorstellen, Denken, Selbstbewusstsein nicht wirklich sein könnten. 38 Wer wollte denn bestreiten, dass diese seelisch-geistigen Phänomene natürlich biologische, d. h. stammesgeschichtliche Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionen zur Voraussetzung haben – ganz im Sinne der neurobiologischen Einsicht: »Unsere kognitiven Funktionen beruhen auf neuronalen Mechanismen, und diese sind ein Produkt der Evolution« 39, weshalb es, eben im Sinne dieser biologischen Bedingungsforschung, 40 natürlich auch unstrittig ist, dass »alles das, was Obwohl natürlich auch der prominente Hirnforscher O. Creutzfeldt »von der empirisch unumstößlichen Tatsache« ausging, »dass das Gehirn und seine funktionelle Organisation die notwendige Voraussetzung für alle mentalen Prozesse sind und diese auch bedingen«, hat er dennoch schon vor 20 Jahren die daraus vermeintlich resultierenden naturalistischen Reduktionismen vermieden, denn: »Selbstbewusstsein und Erfahrung anderseits sind keine physikalisch beschreibbaren Observablen. Sie stellen eine andere Ebene oder Dimension der Erkenntnis dar, für die Hirnmechanismen zwar notwendig sind, die von ihnen aber weder hinreichend erklärt noch hinreichend beschrieben werden können. Denn es ist nicht möglich, ein physikalisch nicht definierbares System, ebendas der subjektiven Erfahrung, in ein physikalisches System zu transformieren« (Creutzfeldt 1992, 16; 26). Vor allem betonte Creuzfeldt – ohne dabei freilich den berüchtigten »Homunkulus« zu beschwören – die »einheitliche Erfahrung«: »Hirnmodelle können die Konvergenz der verteilten Aktivitäten zu einem einheitlichen Verhalten erklären, aber nicht die einheitliche Erfahrung«, d. h., wie die »über die verschiedenen Neuronengruppen und corticalen Felder verstreuten Aktivitäten zu einer einheitlichen Erfahrung zusammengefasst werden können«, woraus nach Creutzfeldt folgt: »Hirnmodelle sind … nicht hinreichend, die Erfahrung und das Erleben in einem einheitlichen Bewusstsein zu erklären« (ebd. 25 f; 29). Nicht zuletzt sperren sich die »autobiographische Identität« und die hierfür konstitutiven Formen des »inneren Zeitbewusstseins« gegen eine neurobiologische Auflösung unseres »Bildes von unserem Selbst«. 39 Singer 2007a, 39. 40 In diesem Sinne betont R. Spaemann, dass die moderne Naturwissenschaft »Bedingungsforschung« ist: »Sie fragt nicht, was etwas ist, sondern was die Bedingungen seiner Entstehung sind. Und sie fragt es, weil wir durch Kenntnis dieser Bedingungen instand gesetzt werden, selbst in den Lauf der Dinge einzugreifen. […] Die sog. wissenschaftliche Weltanschauung aber, der Szientismus, glaubt, wir hätten verstanden, was etwas ist, wenn wir verstanden haben, wie es entstanden ist. Also z. B. wer wir sind, wenn wir wissen, wer unserere Vorfahren waren, was Erkenntnis oder was Schmerz ist, wenn wir deren biologische Funktion und damit ihren evolutionären Selektionsvorteil verstanden haben und wenn wir die hirnphysiologischen Prozesse 38
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unsere kulturelle Evolution ermöglichte, offenbar auf der quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht« 41. Indes hat sich gezeigt: Dass »mentale Phänomene« durch Gehirnprozesse basal bedingt (und »realisiert«) 42 sind, besagt jedoch keinesfalls, dass diese einfachhin auf deren physikalische Beschaffenheit reduzierbar sind – auf einen solchen kurzschlüssigen Reduktionismus läuft jedoch im Grunde die in jenem »Gehirn«-Manifest zuletzt behauptete Identität beider hinaus, deren eliminative Absicht freilich auch die Rede von einem (diese Differenz gerade voraussetzenden) »neuronalen Korrelat« genauer besehen ohnehin verbieten müsste. Eine Anmerkung: Dass dieser undurchschaute Reduktionismus mitunter recht widersprüchliche Erklärungsmuster zur Folge hat, dies hat K. Lorenz eindrucksvoll demonstriert, wenn er sich – zunächst – ausdrücklich davon überzeugt zeigt, »dass im letzten Forschungsergebnis, in einem vorläufig noch utopischen Ergebnis, alles Verhalten auf Strukturen, Synapsen, Vorgänge in diesen Synapsen, chemischen Veränderungen in den Synapsen, kurz und gut letzten Endes auf chemisch-physikalische Vorgänge reduziert werden können« 43. Schon kennen, die die Infrastruktur dieser Phänomene bilden« (Spaemann 2007b, 121). In diesem Sinne erklärte Spaemann wiederholt: »Die Bedingungen bringen aber das Bedingte niemals hervor! Die neuzeitliche Wissenschaft ist Bedingungsforschung« (Spaemann/Löw 1982, 275). »Die Evolutionstheorie ist in eminentem Maße Bedingungsforschung. Sie gibt eine Fülle von Bedingungen an, erhärtet durch Beobachtung wie Experiment, nach welchen sich gegebene Organismen, im weiteren Sinn auch Materie oder menschliche Gruppen, entwickeln, wenn sie einmal vorhanden sind. Sie kann Veränderungen erklären bis hin zur Artenänderungen; ihre Resultate sind seit Darwin sehr erweitert und präzisiert worden und werden weiter präzisiert« (ebd. 277). 41 Ebd.; vgl. G. Roth 2007a, 178. 42 In diesem Sinne betont der evangelische Theologe U. Barth in Berufung auf den schon zitierten Neurobiologen O. Creutzfeldt, »dass neurologische Gehirnforschung und intentionale Bewusstseinsanalyse zwei miteinander verträgliche und einander ergänzende Beschreibungsformen ein und desselben Phänomens darstellen, das sich anders als in dieser Duplizität nicht fassen lässt. […] Das Thema ›Bewusstsein‹ ist also nicht deswegen ein selbständiges Forschungsgebiet der Philosophie, weil es im Gehirn Vorgänge gäbe, die sich einer naturwissenschaftlichen Erklärung prinzipiell entzögen. Sondern Bewusstsein ist, obwohl die Physik im Gehirn vollständig gilt, aus dem Grunde nicht auf einen physikalischen Sachverhalt reduzierbar, weil sich Intentionalität, die Verfasstheit von Bewusstsein gemäß dessen Binnenperspektive nicht objektivieren und damit nicht physikalisch erklären lässt« (Barth 2003, 451). 43 Nachtstudio im ORF, Leben ist Lernen 1. Teil, 19. Vgl. auch die o. angeführten Passus aus Lorenz’ Buch »Die Rückseite des Spiegels«.
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hier wird die Nivellierung der (im Verweis auf Platons Unterscheidung zwischen »Ursache« und »Mitursache« betonten) Ebenen-Differenz unübersehbar. Freilich ist es lediglich eine Konsequenz daraus, dass diese Erklärung dann wohl auch für diese Lorenz’sche Feststellung selbst zutreffen muss – womit sich diese, als ein selbst »chemisch-physikalischer Vorgang«, de facto aber geradewegs als sinnlos erweist – ein beeindruckendes Kunststück: Eine Behauptung, deren eigentlicher Sinngehalt doch darauf abzielte, dass damit eben sie selbst als sinnlos erwiesen wäre. Es resultiert somit die eigentümliche Situation, dass ein Forscher ausdrücklich geltend macht, die künftige Forschung werde ebendiese Behauptung als eine »Nicht-Behauptung«, nämlich als bloßes sinnloses »Naturgeschehen« (d. h. eben als einen »chemisch-physikalischen Vorgang«) erweisen; dazu gehören dann aber auch sämtliche anderen Forschungstätigkeiten dieses Forschers, sodass diese – eben bloß vermeintlichen – Forschungstätigkeiten selbst sich genauso als empirische Prozesse erweisen werden wie das vermeintlich in diesen Forschungen Erforschte – z. B. das Verhalten von Graugänsen usw. Indes, nur wenig später antwortete Lorenz auf die angeführte Warnung des Interviewers Franz Kreuzers, »die naturwissenschaftliche Gesinnung, die natürlich postuliert, dass alles Lebendige chemische oder physikalische Ursprünge haben muss, [nicht] zu verwechseln mit dem Reduktionismus, der sagt, dass es nichts als Chemie, nichts als Physik ist«, dies: »Das hat mein Freund und Lehrer Julian Huxley als ›nothing else butery‹ – ›Nichts-anderes-Alserei‹ – bezeichnet … Wenn ich sage, alle Lebensvorgänge sind chemischphysikalische Vorgänge, so ist das ein Satz, der selbstverständlich für jeden naturwissenschaftlich Denkenden richtig ist. Was denn sollen sie sein? Wenn ich an keine Wunder glaube, so müssen sie chemisch-physikalische Vorgänge sein. Jetzt sage ich aber, Lebensvorgänge sind eigentlich nichts anderes als chemisch-physikalische Vorgänge. Ist das schon schreiend falsch, denn gerade eigentlich, gerade in sich [vermutlich ein Hör- bzw. Abschreibfehler; es sollte wohl heißen: hinsichtlich] dessen, was ihnen zu eigen ist, sind sie etwas sehr viel Komplizierteres« 44. Von der Behauptung »Alles Leben ist Chemie« bleibt ebendie unstrittige Auffassung genau abzugrenzen, dass an allen lebendigen Erscheinungen stets auch chemische Prozesse beteiligt sind; Letzteres besagt jedoch keineswegs, dass »Leben« darauf 44
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reduziert werden könne, weil es solcherart in seiner Eigenständigkeit doch geradewegs eliminiert wäre. Eine Erklärung der chemischen Abläufe in Lebendigem bedeutet jedoch keineswegs eine Reduktion des Lebendigen. 45
1.1 Eine milde Schizophrenie: Dawkins’ Entlarvung des »Ich« als »Illusion« und seine erhellende »Spiegel«-Erfahrung: »Was ich [!] hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene« – und die daran geknüpfte Aufforderung zur Selbsterkenntnis: »Ich [!] bin auch eine« Es hat sich schon erwiesen: Jene angeführte Erklärung, dass auch der menschliche Geist Ausdrucksform des Gehirns ist, hat viele Tücken – dazu gehört nicht zuletzt auch dies: Jene dem Gehirn erwachsenen »Ausdrucksformen« manövrieren nämlich ihre »Inhaber« in unentrinnbare Schwierigkeiten hinsichtlich ihres Selbstverständnisses. Dawkins’ Erklärung hat nämlich unvermeidlich ein gespaltenes Selbst zur Folge und nötigt dementsprechend im Grunde zu einer Art »doppelter Buchführung«, wie seine plausibilisierende Bezugnahme auf die Erklärung seines psychologischen Gewährsmanns verdeutlicht: »Weil ich [!] mit meiner Vernunft gelernt habe, Monist zu sein, während ich [!] gleichzeitig auch ein Tier bin, bei dem sich in der Evolution dualistische Instinkte entwickelt haben. Der Gedanke, dass hinter meinen [wessen?] Augen ein Ich steckt, das zumindest im RoSehr aufschlussreich ist in diesem Sinne die von Kant im Verweis auf den Mediziner Blumenbach geltend gemachte Auffassung: »Von organisierter Materie hebt er alle physische Erklärungsart dieser Bildungen an. Denn, dass rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich selbst gebildet habe, dass aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen, und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er mit Recht für vernunftwidrig; lässt aber zugleich dem Naturmechanism unter diesem uns unerforschlichen Prinzip einer ursprünglichen Organisation einen unbestimmbaren [!], zugleich doch auch unverkennbaren Anteil, wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der, ihr allgemein beiwohnenden, bloß mechanischen Bildungskraft) von ihm in einem organsierten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der ersteren stehender) Bildungstrieb genannt wird« (Kant V 545); dies eröffnet durchaus wenigstens grundsätzlich Anknüpfungspunkte für die modernen Naturwissenschaft (von denen Kant natürlich noch nichts wissen konnte), nicht zuletzt der modernen Physik und Biochemie bzw. Molekularbiologie, die das komplementäre Verhältnis von »Mechanismus und Teleologie« neu zu bestimmen nötigen.
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man in einen anderen Kopf wandern kann, ist in mir und jedem anderen Menschen tief verwurzelt [aber offensichtlich nicht bei allen gleich stark und bei mir selbst eigentlich gar nicht] – ganz gleich, wie stark wir [!: wer ist das?] intellektuell den Monismus bevorzugen« (Gotteswahn 251 f.). Sowohl dieses (im letzten Zitat angeführte) »lernende Ich« als auch das als Tier wissende »Ich« erweist sich genauer besehen als Illusion. 46 Welcher evolutionäre Vorteil aus dieser schizophrenen Doppelperspektive erwächst, sich zugleich vernunftbedingt als »Monist« und gleichzeitig auch als »ein Tier« zu wissen und in dieser doppelten Buchführung sein Dasein fristen zu müssen, erklärt uns Dawkins leider nicht. Man könnte meinen, dass der Anschein eines solchen angeblich »hinter meinen Augen steckenden Ichs« eben »weggesteckt« werden sollte – doch so einfach ist das offenbar nicht. Nur so viel steht alternativlos fest: Wohl auch hier muss ausnahmslos das eherne Gesetz der Evolution gelten: »Erbarmungslose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226). 47 Diejenigen, die jedoch nicht »intellektuell den Monismus bevorzugen« und deshalb auch nicht an solcher Bewusstseinsspaltung leiden, müssen sonach wohl als evolutionäre Sonderlinge gelten. Dass sich das »Ich«, jener Erklärung des Psychologen zufolge, jetzt als eine tief in mir verwurzelte Illusion erweist, ist doppelt schade – stürzt es doch den Menschen, der sich Dawkins hat die gefeierte Einsicht des Neurophilosophen, »dass es so etwas wie ›das‹ Selbst nicht gibt« und deshalb der »Mythos des Selbst zu zertrümmern« sei (Metzinger 2009, 13), also längst vorweggenommen; ähnlich entschieden und erfolgreich hat schon Dawkins die Fiktion eines »kleine[n] Männchen[s] im Kopf« bekämpft. An beide wäre freilich auch die Frage zu richten, wer denn die Instanz eigentlich ist, die hier über diese Illusionen aufgeklärt werden soll – etwa ein »Ich«, das sich doch gerade als Illusion erwiesen hat – und was kann eine »Aufklärung« dann noch bedeuten, wenn dies doch darauf hinausliefe, sich als Illusion zu durchschauen? 47 Ein gegenwärtiger »Ich«-Spötter« ist W. Singer: »Wenn es diese immaterielle geistige Entität gibt, die von uns Besitz ergreift und uns Freiheit verleiht, wie sollte diese dann mit den materiellen Prozessen in unserem Gehirn in Wechselwirkung treten?« (Singer 2004, 38). Erneut zeigt sich: Schon dieser Rekurs auf »Wechselwirkungen« setzt freilich Trennungen und damit unvermeidlich einhergehende gespenstische Vorstellungen voraus; von Singer selbst hat jene verspottete »Entität« offenbar insofern »Besitz ergriffen« und ist mit »materiellen Prozessen« in Verbindung getreten, als auch Singer fortwährend in »Ich-Sätzen« Geltungsansprüche erhebt und diese von anderen selbst-produzierten Geräuschen unterscheidet – dann muss sich aber auch dieses darin artikulierende rationale »Selbst«-Verständnis als eine Täuschung erweisen, die sich bemerkenswerterweise jedoch einem evolutionären Lernprozess und der darin waltenden »erbarmungslosen Nützlichkeit« verdankt. 46
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gerade erst mit Hilfe Dawkins’ zum Selbstverständnis als »Überlebensmaschine« durchgerungen hat, unvermeidlich beim SpiegelAnblick in einen – mit jener »erbarmungslosen Nützlichkeit« vermutlich nicht so ohne weiteres zu vereinbarenden – tiefen Zwiespalt mit sich selbst. Denn ungeachtet der uns (Dawkins zufolge) im »Innersten« berührenden Zauberhaftigkeit der Wirklichkeit folgt sogleich die ernüchternde Auskunft, die erneut ans Innerste kratzt: »Was ich [!] hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene, die sie erzeugt haben – eine Überlebensmaschine für Gene. Und wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, denke dir: Ich [!] bin auch eine« (Zauber 73) – und verhalte dich entsprechend und zugleich doch nicht, sondern distanziere dich von dir als »Überlebensmaschine«! 48 Ein »kategorischer Imperativ« für evolutionär entstandene, als »Ichlinge« existierende »Überlebensmaschinen«, die sich darin, »ich«-sagend, zugleich über sich täuschen? So ist das also – dann wird jenes »Innerste in uns« (was auch immer dies – außer vielleicht besonders feiner »Sternenstaub«, s. u. 147 f. – sein mag) wohl rasch erblassen und sich selbst auch nicht mehr ganz so »zauOffenbar begleitet diese Einsichten Dawkins’ über beinahe vierzig Jahre das hartnäckige ungute – und gewiss ehrenwerte – Gefühl: »Ich selbst [d. h. wieder jener »Homunkulus«?] bin der Meinung, dass eine menschliche Gesellschaft, die lediglich auf dem Gesetz des universellen rücksichtslosen Gen-Egoismus beruhte, eine Gesellschaft wäre, in der es sich sehr unangenehm leben würde«. Indes, der Leser »möge gewarnt sein: wenn er – wie ich – eine Gesellschaft aufbauen möchte in der die Einzelnen großzügig uns selbstlos zugunsten eines gemeinsamen Wohlergehens zusammenarbeiten, so kann er wenig Hilfe von der biologischen Natur erwarten [das war ja auch zu befürchten – von wem aber sonst – wer sonst steht hilfreich zur Seite?]. Lasst uns versuchen, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit zu lehren, denn wir [wer ist das denn?] sind egoistisch geboren. Lasst uns verstehen lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben [!], und wir [!] haben dann vielleicht die Chance, ihre Pläne zu durchkreuzen, etwas, das keine andere Art bisher jemals angestrebt hat« (Das egoistische Gen 3) – und was, wie man wohl ergänzen darf, auch nicht so einfach sein dürfte, wenn man bedenkt, dass wir doch »Überlebensmaschinen der Gene sind« bzw. »durch Gene geschaffen wurden« (ebd. 2) – und »wir« (wer auch immer das genauer sein mag!) jetzt die egoistischen »Gen-Pläne« (also uns selbst?) durchschauen und »durchkreuzen« sollen … Das klingt ein wenig nach Interessenkonflikt zwischen »uns« – und »uns« … Und wenn wir durch Gene geschaffene Überlebensmaschinen sind – was kann es dann heißen: »wir sind nicht unbedingt gezwungen, ihnen unser ganzes Leben lang zu gehorchen« (ebd.), und dass auch die vermeintlich hilfreiche Kultur »Manifestation der Materie« – »jenseits von gut und böse« – ist? Auch nach dieser langen Zeit hat es Dawkins nicht vermocht, diesen Knäuel von offensichtlichen Widersprüchen aufzulösen. Was bleibt, ist allein der »Zauber der Wirklichkeit« – und die »faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur« …
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berhaft« erscheinen – sofern es denn in dieser Maschine überhaupt noch vorhanden ist (wo denn?). Dann bestaunen wir also in jenem »Wunderbaren der Natur« letztendlich doch bloße »Überlebensmaschinen«? 49 Doch es wird sich sogleich zeigen: Die auf den ersten Blick ernüchternde und schockierende Zumutung Dawkins’, sich selbst als »Überlebensmaschine« zu begreifen, verliert ein wenig genauer betrachtet rasch ihr Anstößig-Deprimierendes … So also hat jene die abendländische Menschheit seit dem berühmten »Orakel von Delphi« verfolgende Forderung »Erkenne dich selbst!« endlich ihre befreiende wissenschaftliche Auflösung gefunden. Staunend (über sich selbst?) erfährt man, unterstützt von der Neurophilosophie: »das Ego ist lediglich ein komplexes physikalisches Ereignis – ein Aktivierungsmuster in unserem Nervensystem« 50 – und, obzwar eingeschüchtert, ist man versucht zu fragen: »Wer sagt das?« Und wenn die Antwort der wissenschaftlichen Homunkulus-Exorzisten darauf dann wohl lautet: »Unsere [?!] neuronalen Prozesse im Gehirn«, dann darf man erneut daran erinnern, dass neuronale Prozesse weder etwas behaupten (oder auch nicht), sondern einfach ablaufen; sollte die Antwort jedoch wider Erwarten sein: »Ich sage das«, dann sollte man das ebenfalls nicht weiter ernst nehmen, zumal es sich ja eingestandenermaßen um eine bloße Illusion handelt. Auch Dawkins bleibt nochmals zu fragen: Wer oder was sagt denn eigentlich, dass das, »was ich (!) hier sehe«, eine Illusion ist? Hier darf an eine ohnedies direkt auf Dawkins gemünzte Bemerkung von Spaemann erinnert werden: »Wenn wir uns selbst nicht mehr glauben, wer und was wir sind, wenn wir uns überreden lassen, wir seien nur Maschinen zur Verbreitung unserer Gene, und wenn wir unsere Vernunft nur für ein evolutionäres Anpassungsprodukt halten, das mit Wahrheit nichts zu tun hat, und wenn uns die Selbstwidersprüchlichkeit dieser Behauptung nicht schreckt, dann können wir nicht erwarten, dass uns irgend etwas von der Existenz Gottes überzeugt« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29. 10. 2006). 50 Metzinger 2009, 290. – Das wissenschaftliche »Austreiben« bzw. »Hinausbeschwören« von »bösen Geistern« bzw. Gespenstern ist nicht schwer – »Teufel« hin, »Homunkulus« her. – Der Rückgriff auf das griechische Wort »exorkismos« (: »Austreibung«, »Hinausbeschwören«) mag es rechtferigen, dies sogleich und ohne Zögern auf andere »Gespenster«-Austreibungen (»Homunkuli«, »Selbst«, »Ich«) auszudehnen. Es ist freilich kein Zufall, dass solche energische »Ich-Exorzisten« oftmals mit – sehr »begeisterten« – Gottes-»Austreibern« identisch sind, die das »Gespenst Gott« ebenso tapfer bekämpfen wie »Feen« und andere außerirdische »unsichtbare Wesen in rosa Uniform« (s. u. 298 f.). Man kann dieser – im Namen der Aufklärung veranstalteten – beherzten »Treibjagd« in »übersinnlichen Revieren« nur staunend (und in sicherem Abstand) beiwohnen und diesen Austreibern viel Erfolg und Ausdauer wünschen. 49
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Und wer wird denn da über »sich« (als eine »Illusion«) aufgeklärt? Wer bin ich (?) also: »Überlebensmaschine« oder Illusion? 51 Dawkins’ eigene Einsicht, welche die »tief verwurzelte« Vorstellung des »Ich« als eine »lebensdienliche Funktion« durchschaut, ist offenbar selbst nicht ein bloßer Nutzen, sondern eine Einsicht, die diese nützliche Verwurzelung vielmehr als solche durchschaut und insofern geradewegs relativiert und destabilisiert – ein »Ich« gewissermaßen, das sich selbst durchschaut: »Ich« (oder wer sonst?) durchschaue »mich« »Ichling« als »tief verwurzelte Illusion«. Widerspricht dies jedoch nicht wiederum der Auffassung: »Das Verhalten eines Tieres sorgt in der Regel für das bestmögliche Überleben der Gene ›für‹ dieses Verhalten, und zwar unabhängig davon, ob diese Gene zum Körper des Tieres gehören, welches das Verhalten zeigt« (Gotteswahn 229). Was Dawkins unsereins hingegen genau genommen zumutet, ist nicht wenig, bedeutet es doch ebenso, sich als »ich« in seinem illusionären Charakter zu durchschauen – und dennoch, diese Desillusionierung gleichsam trotzig ignorierend, all jene moralisch erstrebenswerten Ziele zu verfolgen, denen Dawkins’ emanzipatorisches Programm gewidmet ist. Nicht zuletzt: Wer ist denn die auffordernde Instanz – und an wen richtet sich denn ihr Appell, sich von den gefährlichen Illusionen der Religion zu befreien, wenn sowohl diese Instanz wie auch der Adressat seiner Appelle sich als »Illusion« erweist? Weniger »tief verwurzelt« waren jene von Dawkins’ Naturalismus entlarvten – in der Tat gespenstischen – Vorstellungen eines »hinter den Augen steckenden Ich« allerdings bei maßgebenden Vertretern der philosophischen Tradition, für die Dawkins freilich nur Es ist nicht zu übersehen: Dieser Naturalismus rührt an die Fundamente unseres Selbstverständnisses und »fordert uns auf, unsere Ichnatur einfach als Teil der Evolution zu betrachten, deren ›Geist‹ alles Leben sinnvoll durchströmt. Wenn wir erkennen, dass die Evolution den Faden der Notwendigkeit ins Chaos der Erscheinungen webt; wenn wir alles Tun als ein Geschehen und uns selbst als Partikel einer kosmischen Natur begreifen, die sich durch unsere Augen selbst beobachtet, dann ist die moderne Leidensgeschichte überwunden, die Trennung von Ich und Welt … Wir sind immer schon erlöst, und keine Utopie muss uns sinnlos vertrösten. Was wollen wir mehr?« (Th. Assheuer, Die Zeit Nr. 42, 11. 10. 2007, 57). – Schon Fichte hatte eine bemerkenswerte Evolutionstheorie-kompatible Erklärung, die sich – nicht zuletzt im Blick auf Dawkins’ Charakterisierung des Menschen als einer »Überlebensmaschine« – erstaunlich modern ausnimmt (und damals gegen den zeitgenössischen Materialismus à la Holbach gerichtet war): »Du liebst dich nicht, denn du bist überhaupt nicht; es ist die Natur in dir, die für ihre eigene Erhaltung sich interessiert« (Fichte 1997, 42).
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Spott übrig hat. Nein, wir wissen natürlich, dass auch hinter Dawkins’ Augen kein »Ich steckt« – aber wer oder was ist es denn genau, das er mit »Ich« bezeichnet? 52 Überdies: Wenn man solche tiefverwurzelte Illusionen aber offensichtlich doch durchschauen kann, so bestünde in der Folge dann wohl kein Grund mehr, ihnen zu folgen, was Dawkins indes unbeirrt tut, wenn er wiederum bemerkt: »Ich bin wie die meisten Naturwissenschaftler kein Dualist«. Wiederum stellt sich die Frage: Was aber heißt hier »ich«? – Wer (oder was: Dawkins oder doch sein Gehirn?) hält dann beide Aussagen für richtig und was wäre denn dieses »Für-richtig-Halten« – ebenso wie die Aussagen selbst – anderes als ein bestimmter »neuronaler Ablauf« im Gehirn? Demzufolge wäre doch diese Selbsteinschätzung »Ich [!] bin kein ›Dualist‹« selbst eine bloße »Illusion«, von der Dawkins freilich seltsamerweise andauernd in »erster Person« spricht – unvermeidlich offenbar. Sollte es zuletzt gar so sein, dass eigentlich ja nicht Dawkins, sondern seine (?) Gehirnprozesse eine »naturalistische« und »atheistische Auffassung vertreten – oder ist es doch niemand geringerer als der fortwährend zu sich selbst »ich« sagende (und zugleich dieses »ich« als bloße Illusion durchschauende!) 53 Richard Dawkins in seinem unbedingten Erkenntnisdrang und seinem unbeirrbaren Wahrhaftigkeitsanspruch, die nicht selbst eine »Ausdrucksform der Materie« sein können, weil »Materie« bekanntlich weder wahrhaftig noch unwahrhaftig ist – ein Problem, das durch diese »Ausdrucksform« nicht verschleiert werden kann? »Ich« – also nicht nur »Ausdrucksform der Materie« im Gehirn, sondern selbst »Hirngespinst« (welch ein schönes und zweideutiges Wort!) – was sonst? 54 Hinzu kommt dies: Das Bewusstsein der Identität der Persönlichkeit im Wandel der Zeit kann nicht mit der Kontinuität der neuronalen Prozesse gleichgesetzt bzw. daraus abgeleitet werden, denn so hätte der Mensch überhaupt kein »Selbst«, weil seine »personale Identität« lediglich der kontinuierlich kausale Prozess der Gehirnabläufe wäre. 53 Die grundehrliche Auskunft des Lands- und Gewährsmannes von Dawkins, des englischen Philosophen D. Hume, dass sich das »Ich« für ihn, genauer betrachet, als ein zu schwieriges Problem darstelle, könnte eine ebenso entlastende wie auch konsequente Erklärung für die »durchschaute Illusion« anbieten: dass nämlich nicht das illusionäre »Ich« (d. i. R. Dawkins), sondern allein sein Gehirn »atheistisch« wäre. 54 Fichte hatte wohl nicht Unrecht mit der Diagnose, dass manche Menschen sich eher für ein »Stück Lava im Mond« halten als für ein »Ich« – obgleich sie fortwährend »ich« sagen. Von Fichte (und seiner Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen »Naturalisten«) wäre jedenfalls auch nach wie vor zu lernen, dass der Mensch als Ich einerseits Bezugspunkt für die ganze Welt ist und zugleich sich in ihr als Teil dersel52
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So viel ist jedenfalls klar: Letzt-»verantwortlich« für all dies – nicht zuletzt für jene »tief verwurzelte« Ich-Illusion – ist demzufolge konsequenterweise niemand geringerer als die natürlich auch für das Gehirn und seine »Ausdrucksformen« Sorge tragende »natürliche Selektion«; doch nicht nur dafür, werden wir von Dawkins doch auch noch über andere erstaunliche Besorgungen derselben aufgeklärt: Es ist die – angeblich blind wirkende – »natürliche Selektion« selbst, die uns über jene »Ich-Illusion« hinaus auch noch mit anderen trügerischen »Ansichten« versorgt und dabei seltsamerweise sogar eine steuernde Rolle einnimmt, zumal die Mechanismen der Evolution bei Bedarf zugleich Sorge walten lässt: »Aber die natürliche Selektion hat für die Evolution von Gehirnen gesorgt [!], die sich so verhalten, dass es [z. B. die Spinnennetze als raffinierte geniale Fallen von Spinnen] uns genial vorkommt« (Gotteswahn 237). Welchen »Überlebensvorteil« jedoch dieser (trügerische) Anschein des »Genialen« bzw. solche Täuschung für uns bedeutet, wenn doch die erbarmungslose Evolution nichts Unnützes tut, hat Dawkins leider nicht näher erklärt; wäre dann möglicherweise – aus welchen Gründen auch immer – zwar dieser Anschein für uns »genial«, weniger »genial« jedoch dies, dass wir bedauerlicherweise diesen »Schein« durchschauen und dennoch – buchstäblich ent-täuscht – keinen Überlebensvorteil daraus ziehen? Und wäre es nicht lediglich konsequent und auch entlastend, auch die uns so hartnäckig verfolgende Idee der »Wahrheit« diesen evolutionären – genialen? – Täuschungen zuzuordnen? Die Ratlosigkeit des aufmerksamen Lesers wird freilich dadurch nochmals gesteigert und macht schon hier die Frage unabweislich: Wenn jenes »hinter meinen Augen steckende Ich« sich aus guten Gründen als eine »in mir und jedem anderen Menschen« tief verwurzelte Illusion erweist – wer ist dann aber eigentlich jene seltsame Instanz in Dawkins’ »Gotteswahn«, die fortwährend »Ich-Sätze« arben und sich selbst auch als Teil weiß. Dieses Wissen ist aber nicht selbst ein Teil der Welt. Das Subjekt alles Weltwissens ist nicht selbst Weltgeschehen (nicht objektivierbares Weltteil). Das Subjekt als Beziehungs- und Einheitspunkt allen Wissens von der Welt kann nicht selbst wie alles Welthafte bzw. Geschehen in der Welt erklärt werden. Das Wissen von der Welt ist nicht selbst ein Weltgeschehen, auch wenn der Mensch selbst in der Welt lebt. Wissen von sich ist nicht von der Art wie das Wissen von den innerweltlichen Ereignissen. Die Herkunft des Subjekts, für das Welt ist, kann deshalb nicht selbst »aus der Welt« ihren Ursprung haben. Das Subjekt lässt sich nicht naturalisieren, es kommt in der Welt nicht vor, es lässt sich aus welthaft Seiendem nicht begreifen.
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tikuliert und damit offenbar den Anspruch von Geltungs-orientierten Behauptungen, Überzeugungen, Argumenten verbindet, »Ansichten vertritt« (s. o. 59 f.)? In seinem »Gotteswahn« nimmt Dawkins doch unzählige Male in Ich-Sätzen auf sich Bezug – wer aber ist dieses seltsame »Ich«, das einerseits dauernd in »Ich«-Sätzen von sich spricht, andererseits sich selbst wiederum als eine »tief verwurzelte Illusion« durchschaut – und sich doch zugleich selbst als »Überlebensmaschine« erkennen soll? Ein von der Hirnforschung längst durchschauter Homunkulus, den Dawkins selbst als Illusion durchschaut – wer wendet sich dann aber an wen, wenn doch sowohl der vermeintliche Autor als auch seine Leserschaft dieser evolutionär bedingten »Ich-Illusion« als einer »Ausdrucksform der Materie« ausgesetzt bleiben und so lediglich die Hoffnung auf Überredungs-anfällige Gehirne, d. h. deren Mem-Empfänglichkeit (s. u. I., 2.2.1), bleibt? »Illusionäre« Instanzen haben jedoch auch keine begründbaren Überzeugungen – kurzum: man sollte sie wohl nicht allzu ernst nehmen. Und man kann nur hoffen, dass der Fortschritt der Wissenschaft baldigst von dieser jedenfalls noch recht dominanten »Ich-Illusion« heilen wird – vorläufig scheint dagegen noch kein Kräutlein gewachsen zu sein … Das hier zutage tretende noch viel gravierendere Problem ist jedoch dies: Schon jenes naturalistisch erklärte »Erwachsen der Gedanken und Gefühle« lässt freilich seinerseits Zweifel darüber »erwachsen« – über deren »Berechtigung« (folgt man Dawkins’ Argumentation) freilich schon deshalb nicht zu streiten ist, weil auch diese selbst doch nichts als Teile der »natürlichen, physikalischen Welt« sind, die als solche weder wahr noch falsch sind: Die von Dawkins geltend gemachten »Überzeugungen« oder Ansichten wären seiner Erklärung zufolge somit selbst ein von jenen »äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« produziertes »Gewächs«. Und auch jene von jenen Atheisten oder philosophischen Naturalisten vermeintlich »vertretenen Ansichten« erweisen sich so als bloßes Produkt jener »komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn«; indes, auch hier gilt: Diese neuronalen Prozesse laufen ab oder auch nicht – jedenfalls sind solche »Abläufe« selbst nicht wahr oder falsch. Dem Gesagten zufolge ergibt sich: Auch dies, dass ein »Atheist oder philosophischer Naturalist« vermeintlich eine (»monistische«) »Ansicht vertritt«, wäre genauer besehen selbst eine undurchschaute Illusion, 55 zumal sich diese vermeintlich von ihm 55
Man sieht, was dieser Szientismus zuletzt tatsächlich beansprucht bzw. wovon er
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»vertretene Ansicht« selbst als ein bloßes Produkt jener »äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« erweist 56 und auch diese Ansicht infolgedessen lediglich ein Teil jener »natürlichen, physikalischen Welt« ist. Geschehensabläufe in derselben finden »de facto« statt, solche physikalische Abläufe sind jedoch nicht »wahr« – »wahr« sind, wenigstens dem Anspruch nach, die von jenem »philosophischen Naturalisten« vertretenen »Ansichten«, was sie aber zugleich nicht sein können, weil sie, dieser Erklärung zufolge ja selbst lediglich ein Teil dieser »physikalischen Welt« sind. 57 Dies sich leiten lässt – »von dem Glauben an die Ohnmacht der menschlichen Vernunft, … dem Glauben, dass wir nicht das sind, wofür wir uns halten: vernünftige, freie selbstbestimmte Wesen« (Spaemann 2007b, 121). Freilich, gerade diese Selbstrelativierung des Menschen und das programmtische Vorhaben, sein Dasein in seinen mannigfachen und radikalen Weisen seines Bedingtseins zu begreifen, geschieht im Anspruch auf Wahrheit, gebotener Aufklärung und daran geknüpften Ansprüchen intellektueller Redlichkeit – all dies ist jedoch kein Hirnzustand. Die Depotenzierung des Menschen ist, als eine besondere Leistung, jenem Lebewesen vorbehalten, das dies in ausdrücklicher Berufung auf Vernunftgründe zu leisten vermag – das ist ebendas »animal rationale«. Wichtig ist freilich nicht zuletzt dies: Die Forderung einer naturalistischen Erklärung, die auf eine vollständige Naturalisierung abzielt und von den Hirnforschern erbracht werden soll, basiert freilich selbst auf einem Imperativ, der als solcher just jene Freiheit voraussetzt, die »naturalistisch« entsorgt werden soll. 56 Dawkins kann sich dafür freilich auf bedeutende Vertreter der modernen Hirnforschung berufen: »Es gibt keine Kommandozentrale«, ergibt sich aus den »hochvernetzte[n] distributiv organisierte[n] Systeme[n], in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ablaufen« (Singer 2004, 43 f.). Doch »wer oder was« behauptet ebendies – ein als »homunculus« durchschautes »Subjekt« – und wer ist es eigentlich, der Experimente macht bzw. diese interpretiert? Freilich: Schon die Wendung bzw. Berufung auf »mein Gehirn« (aber auch »mein Erleben«) erweist sich genauer besehen als heimtückischer, als man sich dies in der Hirnforschung und ihren bildgebenden – auch diesen »Meinigkeits«-Charakter abbildenden? – Verfahren möglicherweise vorstellt. Wenn man dem berühmten »Hirn-Manifest« trauen darf, dann steht in »absehbarer Zeit« als evolutionärer Schub ja ohnehin in Aussicht, dass wir uns von diesem gewissermaßen evolutionär zugewachsenen »Bild von uns selbst« als einem Selbstmissverständnis verabschieden und uns so mit Hilfe der Neurowissenschaften gleichsam selbst als »Iche« evolutionär überwinden bzw. durch entsprechend Hirnforschungs-gesteuerte Meditationsübungen jenes »Ich« hinter uns lassen, das noch in den cartesianischen Meditationen sich als hartnäckiges Problem erwiesen hat. 57 Es ist unschwer zu erkennen, dass Dawkins ganz die Voraussetzungen des Soziobiologen Wilson über den »Kern des wissenschaftlichen Materialismus«, das »Evolutionsepos«, teilt – nämlich, »dass die Gesetze der physikalischen Wissenschaften mit denen der biologischen und der Sozialwissenschaften vereinbar sind und mit ihnen zu einer Kette der kausalen Erklärung zusammengefügt werden können; dass das Leben und der Geist eine physikalische Grundlage haben; dass die Welt, wie wir sie kennen, sich aus früheren Welten entwickelt hat, die den gleichen Gesetzen unterworfen wa-
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gilt dann freilich auch für diejenigen »rationalen Argumente«, auf die sich Dawkins so gern beruft; auch sie sind »Ausdrucksgestalten« von Gehirnprozessen (was freilich auch für nicht-»rationale Argumente« zutreffen dürfte?), die sich dann allerdings ohnehin nur graduell von »Ausdrucksgestalten« anderer »materieller Prozesse« unterscheiden. Erneut bestätigt sich: Dass die neurowissenschaftlichen Erklärungen den menschlichen Geist dem Anspruch nach durchgehend naturalisieren und für diese Vorgehensweise selbst Freiheit, Vernünftigkeit und Wahrheit beanspruchen, dies setzt freilich voraus, dass diese Ansprüche nicht selbst wiederum bloße Naturabläufe sind; somit müssen sie gerade für sich selbst genau dasjenige beanspruchen, was es ihren Einsichten und Ansprüchen zufolge ohnehin gar nicht gibt: Vernunft, Geist, Autonomie. Man verabschiedet sich von sich selbst und muss jedoch für die mit dieser Verabschiedung verbundenen Ansprüche just das voraussetzen, was man soeben verabschiedet hat. Dawkins’ Überzeugung (bzw. diejenige seiner Gefolgsleute) wäre demzufolge selbst zwar ein bloßer Auswuchs seines Gehirns, nach dessen evolutionärem Sinn wohl noch eigens zu fragen wäre. Indes, um eine bekannte Argumentationsfigur zu variieren: Wer behauptet (d. h. als wahren Satz beansprucht), dass »Geist« nichts als ein Gehirnprozess oder eine Körperfunktion ist, muss doch eben für diese Auffassung voraussetzen, dass sie nicht bloß ein Gehirnprozess ist, denn, wie gesagt, neuronale Prozesse sind selbst eben weder wahr noch falsch. Die weitere Frage liegt nahe: Was besagt also unter diesen Vorzeichen Dawkins’ Berufung auf »rationale Argumente« für den Atheismus und sein darin sich artikulierendes Wahrheitsstreben, wenn diese selbst (so wie die Ich-Vorstellung) ja lediglich neuronale Prozesse (deren Ausdrucksformen) sind – so wie die von ihm bekämpften bzw. verworfenen Auffassungen (aber was heißt hier Verwerfen und Bekämpfen: Wer verwirft? u. Ä.). Wenn Gedanken (alle Meme, s. u. I., 2.2.1) lediglich »Ausdrucksformen« von Gehirnprozessen sind, sind sie aber doch in der Sache mit diesen identisch; infolgedessen sind Dawkins’ Gedanken und Argumente selbst nichts anderes als neuronale Prozesse, die sich nur graduell von jenen unterscheiden, die er »bekehren« möchte – was aber heißt dann noch »bekehren«? Gehirnprozesse als »Ausdrucksformen physikalischer Gebilde« kann man nicht »bekehren« – noch dazu, wo doch auch ein solches »Bekehren; und dass das heute sichtbare Universum ausnahmslos in dieser materialistischen Weise erklärt werden kann« (Wilson 1980, 188 f.).
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ren« in Wahrheit selbst wiederum nur ein gehirnphysiologischer Prozess ist, so wie die angeblich leitende Absicht. Dadurch entstehen aber keine rationalen Argumente; denn mit »neuronalen Prozessen« kann man bekanntlich nicht gut streiten. Noch einmal sei es betont: Ganz unbezweifelt bleibt dabei natürlich der erwähnte Sachverhalt, dass auch diesen geistigen Leistungen entsprechende empirische (neuronale) Prozesse als notwendige Bedingungen zugrunde liegen, was jedoch keineswegs besagt, dass diese Überle-gungen selbst (wie Dawkins’ Naturalismus freilich voraussetzt) bloß physikalische Prozesse sind. Denn, so hat sich gezeigt, diese erwähnten Überzeugungen sollen ja rational ausweisbar und d. h. auch zustimmungsfähig sein, sie stehen also in der Geltungsdimension von wahr/falsch – und ebe solche »Geltungsdifferenz« ist eben nicht lediglich ein physikalischer Geschehensablauf, der lediglich »de facto« ist, und auch die erwartete »Zustimmung« bedeutet anderes als bloß eine neuronale Reaktion auf einen anderen Gehirnprozess. In den lebendigen Kontroversen prallen ja nicht irgendwelche neuronalen Prozesse bzw. »Reizungen« aufeinander, sondern die an wahr/falsch, gültig/ungültig orientierten Argumente und Überzeugungen der Wissenschaftler. Auch Dawkins möchte mit den »Ausdrucksformen des Gehirns« ja nicht auf andere neuronale Prozesse einwirken, sondern andere Personen überreden und womöglich auch überzeugen – das ist aber kein neuronaler Prozess. Ein strenger Naturalismus könnte demzufolge auch lediglich feststellen, dass in anderen Gehirnen eben andere neuronale Prozesse ablaufen – diesseits von »wahr/falsch«, was man jedoch für diese Überzeugungen selbst beanspruchen wollte. Und auch wer etwas als »Illusion« entlarven möchte, setzt damit voraus, dass dieses Entlarven nicht selbst ein bloß neuronaler Prozess bzw. solches Entlarven eine bloße »Illusion« ist. Und gerade auch die Erkenntnis der mannigfaltigen Bedingtheit des Menschen und seiner geistigen Leistungen ist nicht selbst wiederum ein physikalischer Geschehensablauf, vielmehr setzt solche Erkenntnis den nicht reduzierbaren »Sinn« dieser Ansprüche voraus. Die – bei Gelegenheit eines Vortrags in Wien von dem berühmten Philosophen Edmund Husserl geäußerte – Mahnung, nicht zu vergessen, dass »Naturwissenschaften selbst geistige Leistungen sind, die als solche anderes als bloß natürliche Fakten sind« 58, hat also an Aktualität nichts eingebüßt. 58
Dies hat E. Husserl in seiner Abhandlung über »Die Krisis der europäischen Wis-
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Folglich bleibt an den überzeugten Naturalisten, dem zufolge ja »Gedanken und Gefühle der Menschen … aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn erwachsen« (Gotteswahn 25), aber doch die Frage zu richten, ob sich nicht auch jener (kurz zuvor: Gotteswahn 23) beanspruchte »Nerv transzendenten Staunens«, das er keinesfalls den Religionen überlassen will, jetzt als das heftige Feuern von Neuronen entpuppt. Oder sollte das im Sinne der »Einstein’schen Religion« »Religiöse« in Dawkins über den überzeugten »Naturalisten« in ihm letztendlich insofern triumphieren, dass er den »Nerv transzendenten Staunens« bzw. sein unstillbares Wahrheitsstreben – und eben nicht lediglich eine möglicherweise lästige, jedoch vorübergehende Synapsen-Störung – für seine intellektuelle Unruhe verantwortlich macht (die dann konsequenterweise selbst nicht wiederum bloß eine – Geltungs-neutrale – »äußerst komplizierte Verflechtung physischer Gebilde« sein kann)? Indes muss doch unsicher bleiben, ob es sich hierbei nicht erneut lediglich um eine raffinierte Strategie jener »Überlebensmaschinen … zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden« (Das egoistische Gen VIII), handelt? Wie dies wiederum möglich sein soll – darüber zu rätseln haben wohl vor allem die diesbezüglich evolutionär Benachteiligten allen Grund; auch darüber, was denn jene »Tiefe der Vernunft« und die von ihr erfahrene »leuchtende Schönheit« u. Ä. unter den von Dawkins bevorzugten naturalistischen Prämissen und dem Maßstab der »natürlichen Selektion« letztendlich noch bedeuten können. 59 Es ist nicht zu übersehen: Der konsequent betriebenen naturalistischen Reduktion des Menschen, die in Dawkins’ unverblümter Aufforderung gipfelt, sich auch selbst als solche »Überlebensmaschine« zu begreifen, korrespondiert eine nichtssagende kompensatorische Erbaulichkeits-Rhetorik, die, wie sich später noch zeigen soll, auch in seiner Berufung auf die »erhabensten Erlebnisse, deren die menschliche Seele fähig ist«, einsenschaften« gegen naturalistische Nivellierungen bekanntlich sehr deutlich herausgestellt; diese berühmt gewordene Schrift geht auf einen Vortrag mit dem Titel »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« zurück, den er beim »Wiener Kulturbund« am 7. und 10. Mai 1935 gehalten hat. 59 Dass die Evolutionstheorie »die Schönheit des Kosmos« erkläre (so Dawkins in den »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur), wird sich wohl kaum behaupten lassen, beruht dies doch offenbar auf einem Kategorienfehler; sie erklärt zwar die »Mechanismen der Evolution« und deren Ergebnisse sowie die Entwicklung dieser evolutionären Mechanismen selbst, aber mit »Schönheit« hat dies nichts zu tun.
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drucksvoll zutage tritt. Nicht zuletzt von seinem Erzfeind Platon (s. u. I., 2.1.1) muss Dawkins sich wohl die Naturalismus-kritische Frage gefallen lassen, ob denn etwa »die Seele des Menschen mit seinem Leib identisch« 60 sei und ob jene von Dawkins sich selbst (!) zugeschriebenen »erhabensten Erlebnisse, deren die menschliche Seele fähig ist«, sich womöglich als unberechenbar ausbrechende heimtückische Reizung im Gehirn erwiesen? Nunmehr bestätigt sich: Falls jenes »Ich«, das Dawkins zum Selbstverständnis als »Überlebensmaschine« auffordert, sich nicht ohnedies als bloße Illusion entpuppt, löst sich mithin alles – um den harmlosen Preis eines Widerspruchs – in leicht Erträgliches auf: Denn diese »Überlebensmaschine« Mensch weiß seltsamerweise nicht nur von sich selbst (auch von seinem einstigen Noch-nicht-Sein und von seinem Nicht-nehr-Sein), sondern sieht sich von Dawkins’ moralischen Anweisungen ja ebenso zu einer Distanznahme von sich selbst aufgefordert, sofern es sich ihm zufolge ja von seinen »egoistischen« Selbsterhaltungstendenzen lösen kann und auch lösen soll – anders könnte diese »Überlebensmaschine« ja auch nicht all jene hehren humanitären Ziele verfolgen, die Dawkins sich und seiner Bewegung im Dienste an der Menschheit zur Aufgabe macht; von jenen schon angeführten Aufschwüngen der menschliche Seele zu den »erhabensten Erlebnissen«, »transzendentem Staunen« usw. (s. u. 343 f.; 472 ff.) – und dem darüber Bücher Schreiben – gar nicht zu reden. Kurzum: Der Mensch ist eine »Überlebensmaschine«, die all diesen Vollzügen zufolge eben doch keine bloße »Überlebensmaschine« ist. Einmal mehr zeigt sich in Dawkins’ Argumentation: Eine Anhäufung von Widersprüchen – und letztendlich viel Lärm um nichts …
Vgl. dazu Platons Dialog »Alkibiades I«, 129–131. In: ders., Sämtliche Dialoge. Hg. u. m. Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen v. O. Apelt. Band 3. Hamburg 2004.
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2. Philosophiehistorisches Zwischenspiel: Eine von Dawkins’ »Seelen«-Gespensterjagd inspirierte Erinnerung an die aristotelische »Seelenlehre« – und einige anthropologische Konsequenzen daraus Dawkins’ naturalistisches Programm widmet sich mit ebensolcher Entschiedenheit der schonungslosen Verabschiedung (besser: Austreibung) eines nach wie vor grassierenden und von den Feinden der Vernunft betriebenen Gespenster-Glaubens. Auch bei dieser vermeintlich notwendigen Gespenster-Jagd wird der krude szientistische Naturalismus 61 Dawkins’ wiederum recht deutlich erkennbar, der so erneut vor Augen führt, wie es um seine »aufgeklärte Denkungsart« bestellt ist: »Vom immateriellen Dasein zu sprechen heißt vom Nichts zu sprechen. Zu sagen, die Seele des Menschen, die Engel oder Gott seien immateriell, heißt zu sagen, dass sie nichts sind, oder dass es keinen Gott, keine Engel, keine Seele gibt. Anders kann ich [?] vernünftigerweise nicht denken, … ohne mich in den bodenlosen Abgrund der Träume und Phantasien zu stürzen« (Gotteswahn 60) 62. Das ist schon deshalb nicht schlimm, weil dieses »Ich« sich ja ohnedies schon als Illusion erwiesen hat. Tatsächlich ist andererseits die von Dawkins geäußerte Seelen-Angst nicht unbegründet, zumal doch er selbst – freilich nur bei passender Gelegenheit – sich auf ganz erstaunliche seelische Erfahrungen und Eingebungen zu berufen weiß. Verfolgen wir also zunächst noch Dawkins’ erfolgreiche Jagd der Vgl. zu diesem Dawkins auch von naturwissenschaftlicher Seite bescheinigten »doktrinären Positivismus« die Hinweise bei McGrath 2007, 39 ff.). Sachlich ganz berechtigt – und auch wohltuend im gemäßigte Ton – die von McGrath angeführte Kritik an Dawkins von M. Ruse (ebd. 61). 62 Eine programmatische – methodisch aber wesentlich besonnenere und auch humorvollere – Vorwegnahme findet sich bei dem auch diesbezüglich hellsichtigen Aufklärer G. Ch. Lichtenberg – wahrlich ein heller, besonnener und höchst humorvoller Kopf: »So wie unsere Kenntnis der Körper-Welt zunehme, so verengerten sich die Grenzen des Geisterreichs, Gespenster, Dryaden, Najaden, Jupiter mit dem Bart über den Wolken pp seien nun fort. Das einzige Gespenst, was wir noch erkennten, sei das, was in unserem Körper spüke und Wirkungen verrichte, die wir eben durch ein Gespenst erklärten, so wie der Bauer das Poltern in seiner Kammer; weil der hier, so wie der dort, die Ursachen nicht erkennten« (Lichtenberg 1990, 233 ff.). 61
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I. · Dawkins’ »Naturalismus« – das Fundament seines Weltbildes
Seelen-Gespenster: ein Unternehmen, das ja doch – obgleich, trotz allen Bemühens, nicht ganz so humorvoll – ein wenig an den von jenem berühmten »Ritter von trauriger Gestalt« so heroisch ausgefochtenen Kampf gegen Windmühlen erinnert. Auch bei dieser so energisch betriebenen Gespenster-Vertreibung – von Dawkins’ einschlägigem Zugang zur Gottesthematik soll später noch ausführlich die Rede sein (s. u. II., 1.) – bedient sich Dawkins augenfällig relativ primitiver Vorstellungsmuster und demonstriert dabei in beeindruckender Weise erneut sein unerschütterliches Vertrauen auf die philosophische Unbedarftheit und auf den ausgeprägten Belustigungsbedarf seiner Leser.
2.1 Zur aristotelischen Bestimmung der Seele als »Prinzip des Lebendigen« Davon, dass die Dawkins’sche Polemik gegen die von ihm vertriebenen Seelen-Gespenster und einschlägigen »dualistischen Unfug« jedoch keinerlei Anhaltspunkte in der philosophisch-theologischen Tradition findet, kann man sich unschwer überzeugen (dies scheint aber Dawkins selbst nicht weiter zu stören). Jedenfalls hatte schon Aristoteles, der für das traditionelle Leib-Seele-Problem besonders maßgebend gewordene Denker der griechischen Antike, mit den von Dawkins gebrandmarkten »Dualismen« und »körperlosen Gebilden« nicht viel zu tun, wie sein Verständnis des »Seelischen« zeigt: Als »Prinzip des Lebendigen« kann die »Seele« natürlich gerade nicht von Letzterem abgetrennt (»dualistisch«) gedacht werden. Vielmehr wurde die Seele in der traditionellen Metaphysik der Natur stets als »forma corporis« (als »wesensbestimmende und bewegende Form eines lebendigen Körpers«) verstanden – näherhin als das artspezifisch gedachte »innere Strukturprinzip« des Lebendigen (keineswegs als die beobachtbare äußere »Erscheinungsform«, gleichsam die räumliche »Figur«), weil die in diesem Sinne zu verstehende »ursprüngliche Organisation« und die organischen Lebenserhaltungsfunktionen keinesfalls ausgeblendet werden dürfen: »Wenn man … eine allgemeine Bestimmung für jede Art Seele geben soll, ist sie die vorläufige Erfüllung des natürlichen [lebendigen] mit Organen ausgestatteten Körpers. Deshalb darf man auch nicht fragen, ob Seele und Körper eins sind, wie auch nicht, ob Wachs und Figur, überhaupt nicht, ob Materie und der aus Materie gebildete Gegenstand … Dass 90 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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die Seele nicht abtrennbar ist vom Körper … das ist offensichtlich« 63. Woraus folgt: »Und deshalb haben auch diejenigen ganz recht, nach deren Lehre die Seele weder ohne Körper noch selber ein Körper sein kann; ein Körper ist sie nicht, aber etwas am Körper und für ihn, und deshalb ist sie in ihm, und zwar in einem so und so beschaffenen Leibe« 64. »Beseeltes« ist als »ein Ganzes eines, dem keine Teile fehlen und das sein Umfasstes so umfasst, dass es Eines ist« (ebd.). »Seele« ist als das formgebende Prinzip des Lebendigen also nicht selbst »etwas«, sondern konstituiert das Wirklichsein als Lebendigsein und die spezifischen Vollzüge des Lebendigen. Aristoteles verdeutlicht dies an einem berühmten Beispiel: »wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre die Sehkraft seine Seele, da sie das begriffliche Wesen des Auges darstellt, seine ›Wesensform‹. Aber wie die Pupille und die Sehkraft zusammen das Auge ausmachen, so bilden auch Seele und Leib das Lebewesen.« 65 Damit ist auch gesagt, dass diese »organismische Ganzheit« – im Unterschied zu künstlich Hergestelltem – nicht eine bloß »komplexe« aggregathaft-räumliche, in sich zweckmäßige Einheit darstellt, insofern auch »mehr« ist als das materiell Gegebene und in dieser »selbstorganisatorischen« Hinsicht auf die Einheit von »Form- und Zweckursache« verweist, die die Einheit des Lebendigen konstituiert. 66 Deshalb ist das »Lebendige« in seiner inneren Einheit und »Ganzheit« gerade nicht als ein bloßer »Komplex« aus Teilen zu begreifen; dies hätte infolgedessen Aristoteles wohl dazu veranlasst, die Vorstellung eines »Organismus« als einer (wie auch immer »komplexen«) »Überlebensmaschine« als prinzipiell verfehlt abzuweisen. 67 »Beseelt« meint somit nicht »etwas« – auch nicht eine Aristoteles, Über die Seele 412 b. Ebd. 414 a 13 ff. 65 Aristoteles, Über die Seele 412 b. 66 Ganz in aristotelischem Geist betont deshalb auch Leibniz das Unangemessene eines solchen Verständnisses des Organismus als Maschine – nämlich »dass es unmöglich ist, die Prinzipien einer wahrhaften Einheit bloß in der Materie oder in dem, was sich passiv verhält, zu finden, weil hier alles nur eine unendliche Ansammlung oder Anhäufung von Teilen ist [so wie in Dawkins’. Maschinen-Komplexen]. Die Vielheit kann nämlich ihre Realität nur von wahrhaften Einheiten haben, die anderswoher kommen und etwas ganz anderes sind, als die Punkte, von denen feststeht, dass aus ihnen das Kontinuum nicht zusammengesetzt sein kann« (Leibniz 1966b, 22 f.). 67 So wurde bezeichnenderweise ja auch biologischerseits (mit Verweis auf La Mettries »Maschinentheorie«) auf das Problematische der Dawkins’schen »Beschreibung 63 64
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»Eigenschaft«, vielmehr die Verfassung eines »sich selbst organisierenden« und insofern »lebendigen« Seienden, das sich solcherart verwirklicht und erhält bzw. sich in diesem bestimmten Sinne – insofern »Ganzes und Teile« sich wechselseitig bedingen und erhalten – als »zweckmäßig« erweist, was freilich überhaupt nichts mit einer schiefen »Design«-Vorstellung zu tun hat. Deshalb kann auch Biologie und Psychologie »Seelisches« einzelwissenschaftlich nicht hinreichend thematisieren, weil empirische Wissenschaften in methodischer Hinsicht davon notwendigerweise abstrahieren und es gleichwohl als ein »Lebendiges« voraussetzen müssen – was wäre andernfalls das Thema der Biologie bzw. sie selbst: ein »Sonderfall« der Physik? So zeigt sich – dies sei wiederum für die mit der philosophischen Tradition weniger vertraute Leserschaft betont: Jene Bestimmung der Seele als »Lebensprinzip« (»primum principium vitae«) verdankt sich der aristotelischen Einsicht, dass dasjenige, wodurch das Organische seine innere Einheit, seine »Identität im Wandel« und somit seine »sich selbsterhaltende Zweckmäßigkeit« hat, nicht selbst wiederum etwas gegenständlich Gegebenes sein kann 68: Das »formgebende« und Einheits-(Ganzheits-)stiftende »Prinzip des Lebendigen« ist demnach nicht selbst ein »gegenständliches Etwas«, so wenig die Seele als ein solches »inneres Prinzip« so »im« Lebendigen ist wie der Hut »in« der Schachtel. Als »primum principium vitae« darf »Seele« deshalb auch nicht als eine Eigenschaft missverstanden werden, vielmehr ist sie das je nach seiner »Art« verwirklichte Lebeneines Organismus als ›a machine that work[s] to keep itself in being, and repoduce its kind‹« hingewiesen; denn so wie La Mettries Uhr-Vergleich sprengt auch Dawkins’ angeführte Kennzeichnung »die Metapher, die sie benutzen, da der Bildspender, die menschengemachte Maschine, diese Vermögen gerade nicht besitzt. Lebewesen unterscheiden sich ja gerade deshalb von Maschinen, weil die Ersteren sich (von) selbst entwickeln, sich (von) selbst erhalten und sich fortpflanzen können, während die Letzteren von uns produziert und gewartet werden müssen, sollen sie existieren, erhalten bleiben und vermehrt werden« (Schark 2005, 431 f.). 68 Ein solches Motiv verfolgt offenbar der Hinweis des prominenten Hirnforschers A. Damasio: »Kein Bestandteil unseres Körpers bleibt sehr lange unverändert, und die meisten der uns konstituierenden Zellen und Gewebe sind heute nicht mehr dieselben wie zu der Zeit, als wird die Schule abgeschlossen haben. Was weitgehend gleich bleibt, das ist der Bauplan des Organismus und die Sollwerte für die Arbeitsweise seiner Teile. Nennen wir es das Wesen der Form und das Wesen der Funktion« (Damasio 2000, 176).
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dig-Sein des Lebewesens (seine »Spezies«, eben seine »Wesensform«), die das Lebendige als eine aus sich selbst bewegte, innere (d. h. nicht bloß räumliche) Einheit und Ganzheit konstituiert, die sich »zeitigend« auf sein artspezifisches Plansoll hin entfaltet: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / geprägte Form, die lebend sich [!] entwickelt« – so hat dies Goethe, der »Aristoteliker« bzw. Leibnizianer 69, trefflich umschrieben. »Substanz« zielt in dieser Hinsicht auf die innere Einheit der »Wesensform«, wodurch das individuell Lebendige im zeitlichen Wandel mit sich selbst »identisch« bleibt und sich als das entwickelt und »realisiert«, was es in seiner spezifischen Art ist; denn auch wenn das »materielle Substrat« desselben im Laufe der Zeit sich gänzlich geändert hat, bleibt es seltsamerweise immer noch »dasselbe«. Es »wird der Zeit nach« zu dem, was es seiner »Wesensform« nach immer schon war und dessen immanente »Potentialität« es »realisiert«. 70 Deshalb ist diese aktive »Potentialität« der sich [!] entwickelnden lebendigen »Substanz« von der passiven »Potentialität« einer Samenzelle bzw. einer noch unbefruchteten Eizelle zu unterscheiden – und natürlich erst recht von derjenigen passiven »Potentialität«, der zufolge »der Möglichkeit nach« das noch unbearbeitete Erzstück erst eine Statue wird (um aristotelische Beispiele hier heranzuziehen). »In-dividuelle (d. h. un-geteilte) Substanz« ist das Lebendige – und als solche »besteht« sie eben nicht aus diesen oder jenen »Substanzen«, wie Dawkins’ bezeichnender Ein»12. Um aber den Faden unserer Betrachtungen wieder aufzunehmen, so wird, glaube ich, jeder, der über die von mir gegebene Wesenserklärung der Substanz nachdenkt, finden, daß die Natur des Körpers nicht einzig in der Ausdehnung, d. h. in Größe, Gestalt und Bewegung bestehen kann, sondern daß man notwendig in ihr noch etwas anerkennen muß, was in Beziehung zur Seele steht und was man gemeinhin substantielle Form nennt. Durch Annahme dieser Form wird freilich in den Phänomenen nicht das Geringste geändert, so wenig wie die Seele der Tiere, wenn sie eine haben, irgendwie zur Erklärung der körperlichen Erscheinungen bei ihnen verwandt werden darf. Man kann sogar beweisen, daß die Begriffe von Größe, Figur und Bewegung nicht so distinkt sind als man gemeinhin annimmt, und daß sie etwas Imaginäres und auf unser Bewußtsein Bezügliches in sich schließen, wie dies – obwohl in viel höherem Maße – für die Farbe, die Wärme und ähnliche Qualitäten gilt, bei denen es zweifelhaft sein kann, ob sie in der Natur der Dinge außer uns wirklich existieren. Aus diesem Grunde können denn auch diese Arten von Qualitäten keine Substanz konstituieren. Vorausgesetzt nun, daß es kein andres Prinzip der Identität in den Körpern gäbe als die eben erwähnten Eigenschaften, so könnte ein Körper niemals länger als einen Augenblick Bestand haben« (Leibniz, Metaphysische Abhandlung, 354). 70 In diesem Sinne ist auch noch bei Kant von einer »Selbstorganisation« die Rede. 69
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spruch dies offenbar nahelegt. Es wird sich zeigen, dass er mit seiner unsachlichen Kritik des »Essentialismus« als einer »Tyrannei des unsteten Geistes« 71 diese grundlegenden Motive und Einsichten völlig verkennt (s. u. I., 2.1.1). Auch sei in diesem Problemkontext auf den aufschlussreichen Sachverhalt hingewiesen, dass Dawkins die natürliche Evolution bzw. Selektion bezeichnenderweise mit der Tätigkeit des Töpfers bzw. Bildhauers vergleicht bzw. erläutert, welche »endlos formbaren Ton« bearbeiten bzw. den »Meißel ansetzen und Hunde und Pferde nach Lust und Laune gestalten« (Schöpfungslüge 39): Evolution wird demnach von Dawkins nach dem Modell der Herstellung von Artefakten verstanden – der Unterschied sei dabei lediglich, »dass hier nicht der Mensch, sondern die Natur die Selektion vornimmt«. 72 Dieser Vergleich findet eine sehr bemerkenswerte Entsprechung darin, dass er auch die organismische Entwicklung nach dem mechanistischen Aggregat-Modell beschreibt: »In der Embryonalentwicklung gibt es nichts, was einem solchen vorgegebenen Plan auch nur entfernt ähneln würde. Ähnlichkeiten bestehen allerdings zu der geordneten Verbindung vorgefertigter Teile, beispielsweise [!] wenn in einer Autofabrik die zuvor bereits produzierten Vergaser, Verteilerköpfe, Keilriemen oder Zylinderköpfe zusammengesetzt und in der richtigen Anordnung verbunden werden« (Schöpfungslüge 250 f.). 73 Demgegenüber sei mit Blick auf Aristoteles (auch mit Thomas v. Aquin, Leibniz, Kant und Hegel 74) noch einmal betont: Mit »Seele« Internet-Quelle: http://de.richarddawkins.net/foundation_articles/2014/2/9/essen tialismus (= Dawkins 2014). 72 »Es gehört zu den interessantesten Grundkonstellationen des organischen Lebens, dass Evolution und Artkonstanz keineswegs miteinander in Widerspruch liegen, sondern einander wechselseitig bedingen und voraussetzen. Komplexere evolutionäre Optimierungen erfordern eine strikte Kontrolle über die Identität des weiterzugebenden genetischen Materials, damit dessen Modifikation, dem Darwinschen Mechanismus von Mutation und Selektion folgend, sich schrittweise in bestimmte Richtungen entwickeln kann« (Klein 2008, 144). 73 Nur nebenbei sei auf den Widerspruch hingewiesen, dass Dawkins einerseits betont: »Jeder von uns ist eine Maschine, wie ein Flugzeug, nur sehr viel komplizierter« (Uhrmacher 16), während er später wiederum die Frage aufwirft, »wie eine komplizierte Maschine oder ein lebender Körper funktioniert«, und die »Besonderheit lebender Dinge« von »Menschen gemachten Maschinen« unterscheidet (ebd. 25) – ein Unterschied, der unter Dawkins’ Prämissen allerdings völlig unbegründet ist. 74 S. dazu die Problemskizze in: Langthaler 2015. – Bei all diesen Denkern ist die von Dawkins völlig ignorierte Einsicht bzw. Aufdeckung der elementaren Verwechslung maßgebend: Dass etwas prinzipiell unabschließbar in Teile zerteilt werden kann, be71
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ist demzufolge in naturphilosophischem Kontext die Identität und Selbsterhaltung des Lebewesens – und somit seine Entwicklung sowie die ihm immanente Vervollkommnung gemäß seiner »Spezies« auch in seinen spezifischen »Umweltbezügen« gemeint. Damit ist übrigens auch die Vorstellung eines äußerlich »Gestalteten« (und alle »Informations-, Programmier- und Design-Modelle«) als dem Lebendigen unangemessen verworfen, weil dies dessen »innere« Einheit und Ganzheit (im Unterschied etwa zur bloß äußerlich-räumlichen Einheit eines Sandhaufens) und seine »aktive Potentialität«, seine »innere« Finalität (im Unterschied etwa zur äußerlichen Figur einer Marmorstatue) verfehlt – nicht zuletzt schon deshalb, weil es diese unstatthafterweise auf das intentionale Handeln reduziert (wie übrigens auch Kant klar gesehen hat, s. u. III., 2.4.1): Ebendieses Missverständnis, das diese innere Ganzheit und Einheit des Lebendigen verfehlen muss, wird durch die irreführende Design-Metapher geradewegs begünstigt; hier finden sich zweifellos ganz legitime Ansatzpunkte für eine naturphilosophische »Intelligent-design«-Kritik (s. dazu u. III., 2.4).
2.1.1 Dawkins’ anti-platonische/anti-aristotelische Kampfansage gegen den »Essentialismus« als eine »Tyrannei des unsteten Geistes« 75 – ein beispielhaftes Missverständnis Dass Dawkins diese aristotelischen »Seelen«-Aspekte völlig ignoriert bzw. verkennt, hat bezeichnenderweise eine genaue Entsprechung in seiner Polemik gegen den »Essentialismus« als einer von ihm so bezeichneten »Tyrannei des unsteten Geistes«. Deshalb sei zunächst Dawkins’ Charakterisierung dieser »Tyrannei«, die er ebenso bei Platons Schüler Aristoteles infolge unseliger Verflechtungen mit platonischen »Memen« erkennen will, in ihren Grundzügen vergegenwärtigt. War Dawkins mit seinem Verweis auf die von ihm erahnten und sagt mitnichten, dass es als ein »lebendiges Ganzes« oder als ein »Sinngebilde« daraus zusammengesetzt ist, d. h. auf einen »Komplex« desselben reduziert werden kann – denn damit ginge seine systemische Einheit bzw. Ganzheit und somit die dafür neu maßgebende »emergente« Gesetzmäßigkeit verloren – diese schon von Aristoteles durchschaute Verwechslung begegnet bei Dawkins fortwährend. 75 Internet-Quelle: http://de.richarddawkins.net/foundation_articles/2014/2/9/essen tialismus.
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bewunderten »Manifestationen tiefster Vernunft« gewissermaßen selbst unversehens in eine gefährliche Nähe zu platonischen Sphären geraten (s. u. 472 f.), so glaubt er mit einer jüngeren ausdrücklichen Kritik an Platons »Ideen-Lehre« auch eine plausible Demaskierung dieser metaphysisch-essentialistischen Auswege geleistet zu haben. So heißt es in Dawkins’ Text »Die Tyrannei des unsteten Geistes« über den »Essentialismus«: »Der Essentialismus – von mir auch ›die Tyrannei des unsteten Geistes‹ genannt – stammt von Plato und zeugt von seiner für einen griechischen Landvermesser charakteristischen Sichtweise. Für Plato waren Kreise oder Dreiecke ideale Formen, die zwar mathematisch beschrieben, aber nie in der Praxis realisiert werden konnten. Ein Kreis, in den Sand gezogen, war nur eine unvollkommene Annäherung an den idealen platonischen Kreis in der abstrakten Welt. Dies funktioniert für geometrische Formen wie Kreise, aber Essentialismus wurde auch auf lebende Dinge angewandt. Ernst Mayr sah darin die Schuld an der späten Entdeckung der Evolution – erst im 19. Jahrhundert. Wenn man wie Aristoteles alle Hasen aus Fleisch und Blut als unvollkommene Annäherungen an den idealen platonischen Hasen behandelt,[76] kommt einem der Im Unterschied zu Dawkins’ gedankenlosen Karikaturen hat Ernst Mayr übrigens keineswegs die aristotelische »Wesensform« verworfen. Vielmehr war er der Meinung: »Lange Zeit glaubte man, Aristoteles habe einen … Fehler [auch] begangen, als er die Spezifität der Entwicklung zu erklären versuchte, die ihn so sehr beeindruckte. Ein Froschei entwickelte sich immer zu einem Frosch und nicht zu einem Fisch oder Huhn, gerade so, als enthielte es eine Information, die es an sein Ziel führt. […] Erst in unserer Zeit erkannte man, dass Aristoteles’ eidos, dieses scheinbar metaphysische Agens, nichts anderes ist als das heute sogenannte genetische Programm und sich somit vollkommen [!] mit physikochemischen Faktoren erklären lässt« (Mayr 1998, 208). Allerdings hätte Aristoteles jedenfalls sehr energisch darauf bestanden, in dieser Berufung auf das »genetische Programm« den metaphorischen Sinn dieser Wendung (und damit den entscheidenden Unterschied) genau zu bedenken – ebenso wie den damit zusammenhängenden Begriff der »Information«, der sehr leicht »technomorphe« Missverständnisse begünstigt. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil Mayrs Erläuterung des aristotelischen »eidos« als »genetisches Programm« sodann in enge Nähe zu seiner Erklärung des »Teleonomischen« rückt: »Ein teleonomischer Vorgang … ist ein Vorgang, der sein Zielgerichtsein dem Wirken eines Programms verdankt«, wobei Letzteres verstanden wird als »kodierte oder im voraus angeordnete Information, die einen Vorgang … so steuert, dass er zu einem vorgegebenen Ende führt« (Mayr 1979, 207; 213; zit. n. Spaemann/Löw 1982, 251). Dass Mayr hier die Assoziation zum aristotelischen Verständnis der »Entelechie« als »vorwissenschaftlich« vermeiden will, ändert freilich nichts daran, dass in diesen Wendungen »Programm, Information, Steuern« falsche Vorstellungen jedenfalls nahegelegt werden, die den prinzipiellen Unterschied zwischen der »Selbstorganisation« der Organismen
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Gedanke natürlich nicht in den Sinn, dass Hasen von Nicht-Hasen abstammen und sich zu Nicht-Hasen weiterentwickeln könnten. Wenn man laut der Wörterbuchdefinition von Essentialismus glaubt, dass die Essenz des Wesens [sic!] eines Hasen der eigentlichen Existenz von Hasen ›vorausgeht‹ (was auch immer ›vorausgeht‹ bedeuten mag; das selbst ist bereits Unsinn), dann ist Evolution kein naheliegender Gedanke und trifft auf Widerstand, wenn er von anderen vorgeschlagen wird.« 77 Schon dieser ganz sinnwidrige Dawkins’sche Bezug auf eine »Essenz des Wesens eines Hasen« 78 und sein bekundetes als »natürlichen Systemen« und Artefakten bzw. Funktionen nivelliert. Kants Kennzeichnung des Organismus als »innerer Naturzweck« – ein »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen« (V 486) und die daran geknüpfte Kritik an einem »Maschinenmodell« ist auch in diesem Kontext sehr bedenkenswert. 77 Freilich, völlig zu Recht kritisiert Dawkins falsche – und folgenschwere – »essentialistische« Konzeptionen in Bezug auf die Anthropologie; doch auch hier bleibt der eigentliche Fehler bzw. das zugrunde liegende Problem verkannt, das darin besteht, dass Art-immanente Differenzierungen und Besonderheiten nicht als solche begriffen werden, sondern selbst als Art-Differenzen fixiert werden – mit freilich verheerenden Konsequenzen: »Der Essentialismus zeigt seine hässliche Fratze, wenn es um die rassenbezogene Terminologie geht. Die Mehrheit der »Afro-Amerikaner« ist multi-ethnischer Abstammung. Und doch ist der Essentialismus so tief verwurzelt, dass man auf offiziellen amerikanischen Formularen genau eine Rasse oder Ethnizität ankreuzen muss – kein Platz für Übergänge. Ebenso verderblich ist es, dass diese Person selbst dann noch als »afro-amerikanisch« bezeichnet wird, wenn auch nur einer ihrer acht Urgroßeltern afrikanischer Abstammung war. Oder wie es Lionel Tiger mir gegenüber ausdrückte: »Wir haben hier eine unstatthafte ›Verunreinigungs-Metapher‹.« Hauptsächlich möchte ich jedoch auf die essentialistische Hartnäckigkeit unserer Gesellschaft aufmerksam machen, Personen entweder dieser oder jener Kategorie zuzuweisen. Wir scheinen mit fließenden Übergängen nur schlecht umgehen zu können. Wir sind eindeutig immer noch infiziert mit dem Virus von Platos Essentialismus.« Das hat mit Platons Essentialismus freilich nichts zu tun, sondern verdankt sich einem ideologischem Missbrauch bzw. einer groben Verzerrung seiner Ansichten; es erlaubt dies jedenfalls keinesfalls das Urteil Dawkins’: »Man kann sicher noch mehr Beispiele für Essentialismus, die ›tote Hand Platos‹, finden. Er ist wissenschaftlich konfus und moralisch verwerflich.« Ob freilich seine Kritik an einer »essentialistischen Anthropologie« mit den bei Dawkins zutage tretenden biologistischen Tendenzen vereinbar ist, ist eine andere Frage. 78 Eine berühmte, von Diogenes Laertios überlieferte Anekdote (über die Verspottung der »platonischen Idee«) abwandelnd wäre Dawkins’ Einwand auch so zu formulieren: »Ich sehe wohl den Hasen, aber nicht eine Hasenheit« – worauf Platons Antwort bekanntlich entsprechend gewesen wäre: »Richtig, die Augen, womit man das Einzelding [»den Hasen«] sieht, hast du wohl, aber den Geist, womit man das ›Wesensallgemeine‹ [»die Hasenheit«] – d. h. das Wesensallgemeine in der je individuell-konkreten Erscheinung – sieht, den hast du wohl nicht.« Schon früh gab es offenbar jenes Missverständnis der »platonischen Idee« (als vom Einzelwesen räumlich »abge-
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Unverständnis des »Vorausgehens« (im Sinne des von Platon gedachten »ontologischen« Begründungsverhältnisses, das natürlich nicht im Sinne eines zeitlichen Verursachtseins missverstanden werden darf), lässt erkennen, was von seiner »Essentialismus«-Kritik zu halten ist. Einen Kurs über die Philosophie sollte man bei Dawkins, dem Oxforder »Professor for the Public Understanding of Science«, besser wohl nicht belegen (aber zu den Wissenschaften zählt die Philosophie ihm zufolge wohl ohnedies nicht). Denn für die an diese Kennzeichnung des »Essentialismus« sogleich anknüpfende erfolgreiche Vertreibung desselben aus dem Bereich der Wissenschaften scheut Dawkins erneut nicht vor abenteuerlich phantasievollen Charakterisierungen zurück, die einmal mehr eher sein ungetrübtes Selbstbewusstsein als ein elementares Verständnis philosophischer Grundbegriffe verraten: »Der biologische Essentialismus behandelt Tapire und Kaninchen, Schuppentiere und Dromedare wie Dreiecke, Rhomben, Parabeln oder Dodekaeder. Die Kaninchen, die wir sehen, sind demnach nur Schatten der vollkommenen ›Idee‹ eines Kaninchens, des idealen, essentiellen, platonischen Kaninchens, das zusammen mit allen idealen geometrischen Formen irgendwo im Raum der Begriffe schwebt. Kaninchen aus Fleisch und Blut mögen unterschiedlich aussehen, aber ihre Variationen betrachtet man stets als fehlerhafte Abweichungen von der idealen Wesensform eines Kaninchens« (Schöpfungslüge 31). Dass dies, wie Dawkins meint, »so gar nichts mit Evolution zu tun hat« (ebd.), versteht sich in der Tat von selbst – mindestens ebenso wenig hat freilich seine Kennzeichnung des »biologischen Essentialismus« mit Platon zu tun. Seine Auffassung, dass für den »Platoniker … jede Veränderung [?] eines Kaninchens nur eine schludrige Abweichung vom Idealkaninchen« sei »und der Wandel … immer auf Widerstand treffen [werde] – als wären alle realen Kaninchen durch einen unsichtbaren Gummifaden an das essentielle Kaninchen im Himmel gebunden« (Schöpfungslüge 31), ist freilich nicht einmal eine schlechte Karikatur dieses Gedankens, dass die einzelnen Individuen eben in unterschiedlichen Ausprägungen ihre jeweilige Art »repräsentieren« – anders wäre es übrigens auch gar nicht möglich, dass Dawkins ein Kaninchen mit dem »früheren Kaninchen« vergleicht. Ganz so unsinnig wie Dawkins haben sich offenbar trennt«), das bei Dawkins – obwohl er diese Anekdote vermutlich nicht kennt – »memetisch-kopientreu« auf geniale Weise fortbesteht.
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weder Platon selbst noch sein diesbezüglicher Kritiker Aristoteles die »Teilhabe« (griech.: »methexis«) des Individuums an seiner »Idee« (als dem »Wesensallgemeinen« im Sinne seiner »Art«, die das Individuum »repräsentiert«) vorgestellt – auch dies wäre wohl in den philosophischen Bibliotheken Oxfords unschwer zu erfahren gewesen. Der Sachverhalt, dass die einzelnen Exemplare einer »biologischen Art« in je unterschiedlichen konkreten Ausprägungen ihre »Art« gemäß ihrer »Wesensform« repräsentieren (d. h. diese verwirklichen), keines dieser besonderen Exemplare jedoch mit seiner »Wesensform« einfachhin identisch ist – kein einzelner Mensch »repräsentiert« den »Menschen schlechthin« – dies hat offensichtlich nichts mit den von Dawkins unterstellten »fehlerhaften Abweichungen von der idealen Wesensform« zu tun. Auch wenn das konkrete Exemplar sein Wesen (als »Typus«) relativ vollkommen »repräsentiert«, so ist es von diesem seinem »Wesen« dennoch insofern unterschieden, als es dieses, an ihm »teilhabend«, zwar »repräsentiert«, ohne jedoch dieses »Wesen« selbst zu sein. Der in Platons Ideen-Konzeption maßgebende »Essentialismus« zielt demnach vielmehr vorrangig darauf ab, dass manche »Universalien«, wie Gattungen und Art, eben nicht einen bloß logischen bzw. »pragmatischen« Status haben (also nicht, wie Dawkins meint, bloß »irgendwo im Raum der Begriffe schwebt«), sondern ihnen ein ontologischer Status in dem Sinne zukommt, dass sie auf die »wesentliche« Bestimmung, »was etwas ist«, abzielt, ohne welche das Individuelle in seiner »Einzigartigkeit« eben nicht das wäre, was es ist – weshalb die einzelnen »Exemplare« der Spezies dieses ihr »Wesen« in unterschiedlich-»besondernder« Weise verkörpern, d. h. in diesem Sinne »repräsentieren« (also an ihrem »Wesen« »teilhaben«). Demzufolge sind in dieser sinnlich wahrnehmbaren exemplarischen Repräsentation des Wesens eben jene Bestimmungen zu unterscheiden, die für es tatsächlich »wesentlich« sind – im Unterschied zu jenen unwesentlichen »Zufälligkeiten«, die ihm bloß aufgrund der besonderen Umstände äußerlich zufallen. Wie gesagt: Das hat aber mit »fehlerhaften Abweichungen von der idealen Wesensform« eines Kaninchens rein gar nichts zu tun, sondern allein damit, dass kein konkretes »Exemplar« dieser Art, das diese individuell »verkörpert«, in seiner jeweiligen Besonderheit mit dieser Art und ihrer spezifischen Vollkommenheit einfachhin »identisch« ist. Die den (nicht deskriptiv misszuverstehenden) platonischen Ideen innewohnende »Normativität« (als »Muster, Ideal, Typus«) be99 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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sagt somit, dass diese in den »realen Dingen« bzw. Gestalten selbst niemals vollständig (»ausgeprägt«) realisiert sind, wobei diese unaufhebbare Differenz jedoch nicht als eine räumliche Abgetrenntheit missverstanden werden darf, 79 sondern auf das zugrunde liegende Wesentliche (das »Wesens-Was«) in der sinnlich wahrgenommenen Gegebenheit verweist. Dass die Idee als »jenseitiges Wesen der erscheinenden Dinge« bezeichnet wird, besagt also nicht eine »räumliche Abgetrenntheit«, sondern meint lediglich dies, dass der für die Erkenntnis der Individuen gemäß ihrer Spezies maßgebende Typus (das »Wesen« der individuell existierenden Exemplare) eben nicht bloß ein vom Menschen erdachter Sortierbegriff (eine lediglich »von uns selbst gemachte« »Vorstellung«) ist, »sondern dasjenige Allgemeine, das dem Erscheinenden jeweils von sich her und seinem ›Wesen‹ nach zukommt. Daher könnte man für das Wort Idee am besten die Wendung ›wesenserschließender Anblick‹ zum Zuge kommen lassen«. 80 In einer anderen – damit freilich eng zusammenhängenden – Hinsicht wird »Substanz« von »Akzidenzien« (den »Eigenschaften«) unterschieden; der Akzent liegt dann darauf, dass die Substanz auf das »Wesen eine Sache« bzw. das Beständige abzielt, während die »Akzidenzien« ihr nicht wesentlich sind, sondern ihr eben bloß »zufällig« zukommen. Ein einfaches Beispiel: »Mensch« (als ein »vernunftbegabtes Lebewesen«) zu sein ist deshalb auch für Richard Dawkins »wesentlicher«, als dass er Engländer, Evolutionsbiologe, Atheist und Buchautor ist – zumal all dies ihm eben bloß »zufällt«, wodurch er auch keine ihm wesentliche Vervollkommnung erreicht; oder, um in dem von Dawkins bevorzugten Beispiel zu bleiben: dass das von ihm angeführte Schwein einen weißen Hautfleck hat, überdies im Vergleich zu anderen besonders geruchsintensiv und dick ist, dies »fällt« ihm bloß zu; dass es hingegen nicht fliegen kann, dies ist ihm weder »wesentlich« noch »zufällig« – sondern ganz einfach unsinnig. So hätte man, um noch bei Dawkins’ Beispiel zu bleiben, beispielsweise auch die Vierbeinigkeit, Seh- und Fortpflanzungsfähigkeit des Schweines dem artspezifischen »Plansoll« zuzurechnen, während
In mustergültig-vorbildlicher Weise präsentiert Dawkins dankenswerterweise eine Vielzahl jener zu vermeidenden Missverständnisse, denen Platons Ideen-Konzeption von jeher ausgeliefert war, und betreibt eine Hypostasierung und Verjenseitigung derselben – jenseits der Individuen. 80 Heintel 1990, 75. 79
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hingegen, gegen Dawkins’ Insinuation, das »Fliegenkönnen« – jedenfalls bei allen bislang bekannten phänotypischen Ausprägungen der Schweine – nicht zu den artgemäßen Eigentümlichkeiten und Vollkommenheiten gerechnet wird, so wenig das »Nicht-singen«-Können und nicht vorhandene philosophische Begabung ihnen als Mangel, als »Handicap«, anzulasten wäre; gleichwohl und trotz unterschiedlicher Figuren, Ausdehnung, Farben, Geschlecht verkörpern sie in je besonderer Weise ihre Art-spezifische »Wesensform«, durch die sie ebendas sind, »was sie sind«, und nicht bloß »numerisch« einzelne Gegenstände mit mehr oder weniger konstanten oder vorübergehenden »Schweine-ähnlichen Eigenschaften«. Bevor man – so wie Dawkins – einer leichtsinnigen Polemik gegen diese traditionellen Lehrstücke verfällt, sollte man doch die Bereitschaft aufbringen, sich zunächst das Problem hinreichend zu vergegenwärtigen, das dem von Dawkins allzu hastig als »Tyrannei des unsteten (?) Geistes« disqualifizierten »Essentialismus« zugrunde liegt. 81 Platons und Aristoteles’ Überlegungen zur »Wesensform« und Substanz nahmen davon ihren Ausgang, dass lebendige Organismen einer bestimmten Art, die in ständiger Veränderung sind, dennoch »mit sich identisch« eines sind und dies – sowie die darin implizierte »Kontinuität« und Einheit – auch allein von einer »Veränderung« (die das darin »identisch Bleibende« ja voraussetzt!) zu sprechen erlaubt. Schon Platon erläuterte dieses Problem an dem einfachen Beispiel: »Bezeichnet man doch auch jedes einzelne Geschöpf während seiner Lebenszeit als das nämliche, wie man z. B. von einem Knäbchen als von derselben Person spricht bis ins Greisenalter; seine Stoffmasse ist in beständigem Wechsel und doch bezeichnet man ihn als denselben, während er tatsächlich sich beständig erneuert und das Alte verliert als da sind Haare, Fleisch, Knochen, Blut, kurz den ganzen Körper. Und das gilt nicht nur bloß vom Körper, sondern auch von der Seele: Sinnesart, Charakter, Ansichten, Begierden, Gefühle der Lust, der Unlust und der Furcht – nichts von alledem bleibt bei Einige Grundmotive und Termini dieser Lehrstücke traditioneller Metaphysik bzw. Ontologie werden hier nicht zuletzt deshalb vergegenwärtigt, weil sie auch jenen metaphysisch begründeten »Gottesbeweisen« zugrunde liegen, die Dawkins so entschieden verwirft. Seine Kritik daran spiegelt indes weithin auch sein völliges Unverständnis dieser Grundbestimmungen der traditionellen Metaphysik wider; so hat die hier verfolgte Dawkins’sche »Essentialismus«-Kritik in seinem Fehlverständnis des Anspruchs der einzelnen Gottesbeweise des Thomas v. Aquin nicht zufällig eine recht genau Entsprechung.
81
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dem Einzelnen immer sich gleich, sondern es findet ein beständiger Wechsel von Entstehen und Vergehen statt. … Denn auf diese Weise erhält sich alles Sterbliche, nicht etwa dadurch, dass es schlechterdings immer dasselbe bleibt wie das Göttliche, sondern dadurch, dass das Abgehende und Veraltende stets ein anderes Neues, von gleicher Art mit sich selbst, zurücklässt.« 82 Hier wird deutlich: Das lebendige Individuum verkörpert und realisiert seine »Art« – und existiert auch nur so, weshalb der »Artbegriff« eben kein bloßer Sortierbegriff und diese Art auch nur in ihren Individuen »konkret« wirklich ist, d. h. von diesen nicht abgetrennt fixiert werden kann. Ohne die vielen Aspekte und unterschiedlichen Typen der platonischen »Idee« hier zu thematisieren, 83 bleibt in diesem Zusammenhang vornehmlich darauf zu achten, dass die »Idee« (als »Wesensform«) nicht zuletzt auf den biologischen Begriff der »species« abzielt. »Wesensform« meint demgemäß jene konkrete Bestimmung des Lebendigen, wodurch es in seinem spezifischen »Was-Sein« gefasst ist, d. h. eben in seinem Wesen, und somit nicht mehr wesentlich näher bestimmt werden kann. (So ist der Mensch als »vernunftbegabtes Lebewesen« näher [»wesentlicher«] bestimmt als durch »Körper« oder »Säugetier«, während hingegen die Bestimmung, Mann oder Frau zu sein, den Menschen in seinem »Wesen« – was also für sein spezifisches »Was-Sein« konstitutiv ist – nicht mehr näher bzw. »wesentlicher« ist. »Substanziell« Symposium 207 f. – Das hat offenbar nichts mit einer »Verwandlung eines Frosches in einen Prinzen« noch mit der »Verwandlung von Kürbissen in Kutschen« zu tun (Zauber 29): Der hier von Dawkins für das Letztere geltend gemachte Unterschied von Natürlichem und Artefakten wird freilich von ihm andernorts in seinem Programmierer-Beispiel völlig ignoriert. 83 K. Düsing hat die diesbezüglich relevanten zentralen Aspekte der platonischen »Idee« dadurch charakterisiert: Letztere sei »1. Ein Allgemeines und Eines für viele Gegebenheiten als deren begriffliche Einheit, 2. Das Wassein oder Wesen von etwas als dessen Ansichsein, z. B. die Besonnenheit oder das Besonnene an sich als das eigentliche Seiende, das das grundlegende Wassein von bestimmten Handlungen ausmacht; hierin liegt bei Platon der problemreiche, viel erörterte ontologische Charakter der Idee. Die Seinsweise des so existierenden wesentlichen Wasseins ist 3. Beständigkeit, Unvergänglichkeit; und schließlich ist die Idee 4. ein rein vom Nous, der Vernunft, Gedachtes. Denn nur die Vernunft erfasst solches beständig, ja ewig seiende Wassein und Ansichsein als Wesensallgemeinheit von etwas, nicht aber die immer vielfältig wechselnde, flüchtige, nichtallgemeine Anblicke darbietende sinnliche Wahrnehmung. Diese ist für Platon kein Erkenntnisvermögen; denn Erkenntnis und Wissen gewinnen wir nur, wenn wir etwas in seiner wesentlichen Allgemeinheit als seinem beständigen, einheitlich bleibenden Ansichsein, d. h. in seiner Idee oder in seinem Eidos rein gedanklich erfassen.« (K. Düsing 2013, 20 f.). 82
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meint in dieser Hinsicht ebendas allem Lebendigen eigentümliche »Wesen« im Sinne der möglichst vollendeten Ausgeprägtheit dessen, was es »artgemäß« sein soll und in solcher Hinsicht seine »Vervollkommnung« gewinnt. Aus den oben genannten Beispielen sollte auch dies deutlich geworden sein: Dieses »Wesen« ist eben dasjenige, was sich in allem zeitlichen Wandel der individuellen Ent-Wicklung »durchhält«, im In-dividuum (als ungeteilter Ganzheit) die »wesenshafte Identität« desselben ausmacht: Auch wenn sich das materielle Substrat eines Lebendigen im Laufe seiner Entwicklung bzw. Lebenszeit vollständig geändert hat, so bleibt es doch gemäß seinem immanenten »WesensWas« immer noch dasselbe, d. h. »identisch« als das, was es war und ist bzw. als solches auch sein ihm Wesens-gemäßes Ziel erreicht. 84 Genau dies ist mit »Wesen« und »Substanz« bzw. »substanzieller Veränderung« gemeint, 85 die jedenfalls Lebendiges auszeichnet – auch in dem besonderen Sinne, dass es (in einem zeitlichen Sinne) das erst wird (verwirklicht), was es »seinem Wesen nach« immer schon war. Dawkins’ Unkenntnis philosophischer Basisprobleme (und sein eindrucksvoll bekundetes Missverständnis von »Substanz«, das sich auch hier besonders bemerkbar macht!) führt ihn unweigerlich in alle jene »substanziellen« – für die philosophische Anthropologie hoch bedeutsamen und folgenreichen – Probleme, auf die Robert In diesem Sinne heißt es bei Aristoteles: »Das lebendig sich Bildende geht in diesem lebendigen Prozess aus einem Ausgangsgebilde in ein Abschlussgebilde über; was ist das nun, was sich da bildet? Doch nicht das, aus dem das Lebendige herkommt, sondern das, auf das es hinausgeht. (Das aber ist die im Prozess sich bildende Gestalt). Also ist die Gestalt die Natur« (Physik II 193 b 15 ff.). Und: »Denn ein natürlich Seiendes ist ein Gebilde, welches von einer bestimmten, in ihm selbst begründeten Ausgangsgegebenheit aus in einem kontinuierlichen Prozess an ein bestimmtes Prozessziel gelangt. Von jeder (der verschiedenen Ausgangsgegebenheiten) aus bildet sich dabei weder für alle Wesen stets das nämliche noch ein zufälliges Zufallsergebnis heraus; vielmehr führt der Prozess stets zur Wiederbildung genau desselben (Artwesens, das auch an seinem Ausgangspunkt gestanden hat) – es sei denn, dass einmal ein Störfaktor dies verhindert [dazwischenkommt]« (Physik II 199b 15 ff.). 85 »Vorzüglich werden die Einzelwesen (Individuen) als Substanzen bezeichnet, aber ›Art‹ ist mehr Substanz als die ›Gattung‹, weil sie der ›ersten Substanz‹ näher ist« (Kat. 2 b 6 f., 2 b 9–15). »Form nenne ich das Wesenswas eines jeden Dinges und seine erste Wesenheit« (Metaphysik 1032 b 1). »Offenbar ist aber auch, daß die Seele die erste Wesenheit ist, der Körper aber der Stoff; der Mensch aber oder das Tier ist die Verbindung von beiden als Allgemeines« (Metaphysik 1037 a 5 f.). »Denn Wesenheit des Dinges ist die innewohnende Formbestimmung, aus welcher in Verbindung mit der Materie die konkrete Wesenheit besteht« (Metaphysik 1037 a 29). 84
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Spaemann in seinem Buch »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« hingewiesen hat. 86 Dawkins’ völlige Blindheit für die in dieser »Essentialismus«Thematik im Vordergrund stehenden Sachprobleme wird auch durch seine eindrucksvolle jüngste Polemik gegen das demonstriert, was er für den platonisch infizierten »Essentialismus« hält. Der in seiner diesbezüglichen Argumentation (sowie in den von ihm zur vermeintlichen Klärung herangezogenen Beispielen) zutage tretende Widersinn zeigt sich besonders eindringlich in einer seiner jüngsten Attacken gegen den »Essentialismus«, in denen er seiner anti-essentialistischen Empörung freien Lauf lässt: »Moralische Debatten etwa über Abtreibung oder Euthanasie sind von derselben Krankheit befallen. Zu welchem Zeitpunkt gilt ein hirntotes Verkehrsopfer wirklich als ›tot‹ ? In welchem Moment seiner Entwicklung wird ein Embryo zu einer ›Person‹ ? Nur ein an Essentialismus erkrankter Kopf würde diese Fragen stellen. Ein Embryo entwickelt sich graduell von einer einzelligen Zygote zu einem neugeborenen Säugling, und es gibt keinen singulären Zeitpunkt, in dem das ›Personsein‹ eintritt.[87] Es gibt die, die diese Wahrheit verstehen, und solche, die immer noch jammern: ›Es muss doch einen Moment geben, in dem der Fötus zum Menschen wird.‹ Nein, das muss es genau so wenig, wie es einen Tag geben muss, an dem ein Mensch mittleren Alters zum Greis wird. Es wäre besser, wenn auch nicht ideal, man würde anerkennen, dass der Embryo verschiedene Stufen durchläuft, vom Viertel-Mensch, HalbMensch, Dreiviertel-Mensch bis zum vollen Mensch. Der Essentialist wird diese Begriffe ablehnen und mich nach allen Regeln der Kunst der Verleugnung der ›Essenz‹ des Menschseins anklagen.« 88 Robert Spaemann hat in seinem Werk »Personen. Versuche über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹« (Stuttgart 1996) diese in durchaus mehrfacher Hinsicht »Substanz-losen« Auffassungen überzeugend kritisiert. 87 In der Tat, und zwar ebendeshalb, weil, aristotelisch formuliert, das real zugrunde liegende Subjekt eine kontinuierliche Entwicklung seiner selbst [!] durchläuft, in der es in der Zeit sich selbst – mit sich als »Kontinuans« identisch bleibend – entwickelt, was es seinem Wesen (seiner »Substanz« nach) »immer schon war« und gerade darin durch dieses sein »Wesen« sich als »ungeteilt-eines« – »In-dividuum« – erweist, das als ein solches nicht aus unendlich kleinen »Zeitstrecken« bzw. Teilen »zusammengesetzt« werden kann und deshalb in dessen immanenter Entwicklung jede Grenzziehung als willkürlich erscheinen lässt. 88 Man muss gewiss kein »Essentialist« im Sinne der Dawkins’schen Charakterisierung sein, um diese »Begriffe« (?) abzulehnen; denn auch die von P. Singer geltend gemachte Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Person« widerspricht jener Ar86
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Doch nicht nur unverbesserliche philosophische »Essentialisten« werden die von Dawkins empfohlene Stufung vom »Viertel-Mensch [en], Halb-Mensch[en], Dreiviertel-Mensch[en] bis zum vollen Menschen« wohl nur mit Kopfschütteln quittieren und sich dadurch eher dazu veranlasst sehen, sich an die eigene Mutter mit der besorgten Frage zu wenden: »Mutti, was war denn dasjenige, mit dem Du einmal schwanger warst und aus dem dann ich wurde?« 89 Der prinzipielle Fehler in Dawkins’ Argumentation ist augenfällig: Einzelne Entwicklungsstadien »innerhalb« der menschlichen Individualität werden von ihm stillschweigend damit verglichen, dass ein anscheinend noch nicht menschlicher Fötus angeblich erst Mensch werden soll, d. h. das »Mensch-Sein« also erst ein spätes Resultat einer solchen Entwicklung wäre. So vergleicht Dawkins bemerkenswerterweise allen Ernstes die Frage, wann ein »Fötus zum Menschen wird [!]«, damit, wann denn »ein Mensch mittleren Alters zum Greis wird« 90 – d. h. der Fötus wird, diesem Vergleich zufolge, so zum Menschen wie gumentation Dawkins’, zumal Singer ausdrücklich betont: »Der Fötus, das schwerst geistig behinderte Kind, selbst das neugeborene Kind – sie alle sind unbestreitbar Mitglieder der Spezies Homo sapiens, aber niemand von ihnen besitzt ein Selbstbewusstsein oder hat einen Sinn für die Zukunft oder die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen. […] [Die Begriffe »Person« und »menschliches Wesen« sind also nicht bedeutungsgleich.] Es könnte eine Person geben, die nicht Mitglied unserer Spezies ist. Es könnte auch Mitglieder unserer Spezies geben, die nicht Personen sind« (Singer 1994, 119 f.). Dass Föten also von Beginn an Menschen sind und nicht erst Menschen werden, steht offenbar für Singer (im Unterschied zu Dawkins, s. vorige Anm.) außer Streit; gleichwohl bestreitet er (im Sinne seines »Speziesismus«Argumentes), dass aus einer solchen bloßen Zugehörigkeit zur biologischen Art »Mensch« schon ein »Lebensrecht« abzuleiten wäre. Singers höchst problematische Person-Konzeption ist hier nicht näher zu verfolgen. S. dazu die einschlägigen kritischen Ausführungen von Spaemann (1996) und Honnefelder (1993). 89 S. dazu auch das Schlusskapitel in Spaemann (1996): »Sind alle Menschen Personen?« 90 Das oben angeführte Zitat aus Platons Symposium macht deutlich, dass der als Essentialist gescholtene Platon jedenfalls nicht zu jenen Verständnislosen gehört, über die Dawkins sich hier beklagt; auch dieses von ihm in offenkundig erläuternder Absicht aufgeworfene Problem, ab wann ein Mensch »mittleren Alters zum Greis wird«, hatte Platon freilich nicht – auch nicht, ob denn der Greis dann immer noch ein Mensch ist; allerdings wollte er dies auch nicht unbedingt mit der Frage vergleichen, wann der Embryo ein Mensch wird … Eher hätte er sich wohl gewundert, was denn dieser Fötus eigentlich ist, der doch erst »Mensch wird« – ebenso über den verschiedene Stadien durchlaufenden »Embryo«, von dem Dawkins im Folgenden ja Erstaunliches zu erzählen weiß (s. auch nächste Anm.). Und, um bei Dawkins’ kuriosem Beispiel bzw. Vergleich zu bleiben: Ist der schließlich »Mensch gewordene« (!) »Fötus« jetzt immer noch ein »Fötus«, so wie ja auch der »Greis« gewordene Mensch
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dieser sodann ein Greis wird? Dieser ebenso bezeichnende wie auch verräterische Vergleich Dawkins’ spricht wohl für sich. So ist wohl auch die Frage unvermeidlich, ob denn dieser Greis dann auch noch ein Mensch, also ein »menschlicher Greis« ist – oder stirbt dann zuletzt (was der Dawkins’schen Argumentation zufolge lediglich konsequent wäre) etwa ein »Greis« und nicht ein Mensch? Und wäre, den Prämissen Dawkins’ zufolge, mit Aristoteles dann noch zu sagen, dass »ein Mensch den Menschen zeugt« – oder wäre es nicht vielmehr so: »Gezeugt« wird ein »Embryo«, aus dem dann zunächst, bei einigem Glück, ein Mensch wird und, bei einigermaßen günstigen Lebensumständen, zuletzt möglicherweise ein »Greis«? Die absurden Konsequenzen einer solchen Auffassung liegen auf der Hand und es bleibt wohl dabei: Der Mensch entwickelt sich [!] natürlich als Mensch, jedoch keineswegs entwickelt sich der Fötus erst zum Menschen – ein Unterschied, den Dawkins in seinem »anti-essentialistischen« Eifer völlig ignoriert. Man sieht: Recht viel Scharfsinn braucht es offenbar nicht, um Dawkins »der Verleugnung der ›Essenz‹ des Menschseins an[zu]klagen« – die Haltlosigkeit seiner vermeintlich »Essentialismus«-kritischen Argumentation ist offensichtlich. Seine Auskunft, dass »der Embryo [!] verschiedene Stufen durchläuft [!], vom Viertel-Mensch, Halb-Mensch, Dreiviertel-Mensch bis zum vollen Mensch[en]«, 91 ist, jedenfalls beim Wort genommen, ebenso bezeichnend wie widersinoffenbar immer noch »Mensch« ist? Es bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung, was in Dawkins’ Beispiel alles durcheinandergeht. 91 Dawkins bewegt sich in ganz schiefen Alternativen und entstellt die leitenden Problemstellungen, wenn er zu dem »Unterschied zwischen konsequentialistischer und religiös-absoluter Ethik« anmerkt: »Der einen Denkschule geht es darum, ob Embryonen leiden können; die andere fragt, ob Embryonen Menschen sind. Religiöse Ethiker diskutieren häufig über Fragen wie die, wann ein Embryo zu einer Person wird, also [!] zu einem menschlichen [!] Wesen. Säkulare Ethiker dagegen fragen eher: ›Ganz gleich, ob es ein Mensch ist (was bedeutet das bei einem kleinen Zellhaufen überhaupt?) – von welchem Entwicklungsstadium an ist ein Embryo jeder beliebigen Tierart in der Lage, zu leiden?« Dawkins’ Argumentation (die übrigens bemerkenswerterweise auch mit derjenigen Singers unvereinbar ist) lässt die zentrale Problematik, die in der vielverhandelten Frage, ob »alle Menschen Personen sind«, zum Ausdruck kommt, gar nicht mehr erkennen; die damit verbundene Problematik, ob, wie und wann »aus etwas jemand wird«, und die mit einer solchen Fragestellung verbundenen Aporien bleiben von Dawkins völlig unberücksichtigt. Was ist denn dieses »etwas« eigentlich, das sich nach Dawkins erst zu einem Embryo entwickeln soll, obgleich dieses seltsame »etwas« doch selbst offenbar durch seine zu verwirklichende artspezifische Potentialität ausgezeichnet ist?
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nig – denn dieser bemerkenswerten Argumentation Dawkins’ zufolge wäre auch der »volle Mensch« immer noch ein »Embryo«. Das zugrunde liegende Subjekt dieser kontinuierlichen Entwicklung ist doch der Mensch selbst, der darin eben auch ein embryonales Stadium durchläuft – aber natürlich ist es nicht der Embryo, der verschiedene Stadien »bis zum vollen Menschen« durchmacht –, und auch »der Fötus« wird nicht zum Menschen, weil dieser eben schon Mensch in seiner Entwicklung ist. Die Argumentation des Evolutionsbiologen Dawkins ignoriert völlig den Sachverhalt, dass der Embryo doch ein menschlicher Embryo ist und sich demgemäß eben nicht erst zu einem Menschen, sondern als Mensch entwickelt; infolgedessen muss sich auch jede Festsetzung – durch wen eigentlich? –, ab wann denn »etwas« ein Mensch ist, als willkürlich erweisen. 92 Man sieht: Die im Namen der modernen Wissenschaft vollzogene »Essentialismus«-Kritik Dawkins’ ist geradezu absurd und legt, beim Wort genommen, die schon angezeigte Auffassung nahe: Da wäre also, seiner Argumentation zufolge, eine Frau mit einem »Viertel-, Halb- Dreiviertel-Menschen« schwanger – und bringt, gegebenenfalls, bei einer Frühgeburt auch einen entsprechenden »Halb- oder DreiviertelMenschen« zur Welt? Es ist in der Sache überaus aufschlussreich, dass Dawkins für eine Veranschaulichung des Evolutionsprozesses den Vergleich mit der sukzessiven und kaum merklichen Entwicklung des Menschen, der vom »Kind zum Teenager und schließlich zum Erwachsenen geworden ist« (Schöpfungslüge 34), vergleicht. Die Frage liegt doch nahe: Was wäre denn das zugrunde liegende Subjekt (»Substrat«) dieser sehr langsamen Entwicklung, das für einen solchen Vergleich zwischen der organisch-biographischen Entwicklung mit der Evolution der Arten offenbar vorausgesetzt ist und diesen Vergleich auch erst als sinnvoll erscheinen lassen könnte? Dieser – überaus bezeichnende – Vergleich des Heranwachsens des Kindes zum Erwachsenen (als »ein einziger langer Übergang«) mit der evolutionären Entwicklung Dawkins verkennt den in der aristotelischen Tradition stets betonten Sachverhalt der sich zeitlich entfaltenden organischen »Ganzheit«, der zufolge das »der Zeit nach« Letzte der Entwicklung selbst »der Sache nach« das »Erste« ist, weil es der Entwicklung zugrunde liegt: Demgemäß gibt es auch nicht einen zunächst für sich bestehenden »Zellhaufen«, sondern vielmehr ist dieser selbst schon ein »Stadium« innerhalb des sich als immanente Einheit in der Zeit entfaltenden (»auseinanderwickelnden«) »Ganzen«, das sich jedoch nicht additiv aus Teilen zusammensetzen lässt.
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des Lebendigen (Schöpfungslüge 231) krankt schon daran, dass es hier offenbar gerade kein vergleichbares Subjekt der Evolution – als ein zugrunde liegendes sich »Entwickelndes« – gibt. 93 Besonders deutlich wird diese völlig schiefe, d. h. irreführende Analogisierung des Evolutions-Prozesses mit der Entwicklung eines individuellen Lebewesens (und die damit verbundene Nivellierung der Identität bzw. der Veränderung und ihres Subjekts: Wer ist das Subjekt der Veränderung?) in dem von Dawkins angestellten »Gedankenexperiment«, »das uns über 185 Millionen Generationen von Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in die Vergangenheit entführt, bis wir eines Tages einem Fisch gegenüberstehen« (Zauber 38). Derart wird also offenbar die irreführende Vorstellung eines dieser Veränderung bzw. Entwicklung zugrunde liegenden Substrats nahegelegt, das es jedoch gerade nicht gibt und folglich auch jene Analogisierung verbieten muss, obgleich dies der Frage zugrunde liegt: »Was geschah, als unser Fisch-Urahn ein Fischkind hatte, das ein Fischkind hatte, das ein Kind hatte …, das nach 185 Millionen (immer weniger fischartigen) GeneBesonders deutlich wird dieser Rekurs auf eine »subjektlose« Evolution und das darin unterschobene »Quasi-Subjekt«, wenn Dawkins in seiner Essentialismus-Kritik des Weiteren geltend macht: »Evolution [wiederum bleibt zu fragen: Wer ist denn das zugrunde liegende Subjekt derselben?] verläuft wie die embryonale Entwicklung graduell. Jeder unserer Vorfahren, bis hin zum gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen und darüber hinaus, gehörte zur gleichen Spezies wie seine eigenen Eltern und seine eigenen Kinder. Das gleiche gilt natürlich auch für die Vorfahren der Schimpansen, die auf ebendiesen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Wir sind mit den heutigen Schimpansen durch eine V-förmige Kette aus Individuen verbunden, die einst lebten, atmeten, und sich fortpflanzten. Jedes Glied dieser Kette besteht aus Individuen, deren Nachbarn an beiden Seiten ebenfalls Mitglieder der gleichen Spezies sind, ganz egal, ob Taxonomen darauf bestehen, an genehmen Stellen Einteilungen vorzunehmen und ihnen unterschiedliche Etiketten zu verpassen. Wenn alle evolutionären Zwischenformen entlang beider Seiten der V-förmigen Kette, beginnend beim gemeinsamen Vorfahren, gleichzeitig leben würden, müssten Moralisten ihre essentialistische, ›speziesistische‹ Angewohnheit aufgeben, Homo sapiens auf einen heiligen Sockel zu stellen, für immer getrennt von allen anderen Spezies. Abtreibung wäre genauso wenig ›Mord‹ wie das Töten eines Schimpansen oder – im weiteren Sinn – jedes anderen Lebewesens. Sicherlich wäre es argumentierbar, einem Embryo im frühen Stadium mangels Nervensystem und vermutlich auch der Fähigkeit, Schmerz und Furcht zu empfinden, weniger moralischen Schutz zukommen zu lassen als beispielsweise einem ausgewachsenen Schwein, welches sehr wohl in der Lage ist, zu leiden. Unser essentialistisches Verlangen nach klaren Definitionen für ›Mensch‹ (bei Debatten über Abtreibung und Tierrechte) und ›lebendig‹ (bei Debatten über Euthanasie und die Beendigung des Lebens) erscheint im Lichte der Evolution oder anderer gradueller Phänomene nur wenig sinnvoll.«
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rationen dich zur Welt brachte?« (Zauber 38 f.). Auch im Blick auf dieses von Dawkins bevorzugte Beispiel bzw. seltsame »Gedankenexperiment« (Zauber 38 f.) bleibt doch zu fragen: Wer oder was »durchläuft« denn eigentlich die Stufen von unserem »Fisch-Urahn« über die unendliche Reihe der »Fischkinder« bis hin zu jenen »immer weniger fischartigen Generationen« und zuletzt »bis hin zu mir«? Diese völlig undurchschaute Unterschiebung eines sich verändernden bzw. entwickelnden »Evolutions-Subjekts« liegt offenbar der Dawkins’schen Konzeption zugrunde. Das im Untertitel seines Buches indirekt angesprochene Substanz-Problem verweist auch in der Sache auf seine völlig haltlose Essentialismus-Kritik. In der Sache ganz ähnliche Schwierigkeiten treten auch in Dawkins’ Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« zutage, in dem »der Evolution« eine besondere Rolle zugewiesen wird und eine PseudoTeleologie ohne Subjekt bzw. mit einem Pseudo-Subjekt in den Vordergrund rückt: »Auch ohne natürliche Selektion würden sich Genpools, die zufällig getrennt werden, auseinanderentwickeln. Allerdings geschähe dies ziemlich ziellos [!]. Die natürliche Selektion [ein Pseudosubjekt?) dagegen drängt [!] die Evolution in eine nützliche Richtung: in Richtung Überleben. Gene, die in einem Genpool überleben, sind im Überleben besonders gut. Warum ist das so? Weil [!] solche Gene anderen beim Aufbau eines Körpers helfen, der seinerseits gut überleben kann und so lange lebt, dass er sich fortpflanzen und die Gene, die ihm beim Überleben geholfen haben, weitergeben kann« (Zauber 72). Eine teleologische Perspektive, die augenfällig zirkulär ist; und überdies: Wer ist hier eigentlich das »Drängende« und das »Gedrängte« – wenn doch zuvor die Evolution das Subjekt und die natürliche Selektion lediglich der Mechanismus der Evolution war, während diese jetzt selbst einer »ziel-drängenden« Instanz ausgeliefert ist? Doch es bleibt nicht dabei: Denn die Evolution ist Dawkins zufolge eben nicht einfach der Prozess der Entstehung und Entwicklung, sondern sie übernimmt bei Dawkins – ungeachtet seiner Teleologie-Kritik – selbst stillschweigend die Rolle einer lenkenden Instanz: »Aber die Evolution hat durch natürliche Selektion dafür gesorgt [!], dass Viren, Füchse und Barsche ihren Opfern mit ihrem Verhalten gezielt schaden – sie verhalten sich, als hätten sie es auf sie abgesehen« (Zauber 236): Wer ist denn dieses hier auftretende (und sogar »sorgende«) Subjekt, das sich gewissermaßen der »natürlichen Selektion« als eines Instrumentes bedient, dann aber von diesem In109 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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strument offenbar doch noch unterschieden bleibt? Freilich »sorgt« die Evolution bzw. die natürliche Selektion merkwürdigerweise auch – nicht weniger »erbarmungslos« – für Illusionen und Täuschungen, deren »Überlebensvorteil« offenbar eher im Dunkel bleibt, obwohl vermutlich auch hier gelten muss: »evolutio non agit frustra«, auch »wenn es nicht immer den Anschein hat …«, wie Dawkins betont. Nur nebenbei sei angemerkt: Angesichts dieser voranstehend skizzierten Argumentation Dawkins’ erweist sich die Rückfrage des Papstes Benedikt XVI. offenbar nur als allzu berechtigt: »Nicht nur populärwissenschaftliche, sondern auch wissenschaftliche Texte zur Evolution sprechen häufig davon, dass die ›Natur‹ oder die ›Evolution‹ dies oder jenes gemacht habe. Hier stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich die ›Natur‹ oder ›Evolution‹ als Subjekt? Es gibt sie ja gar nicht! Wenn man sagt, die Natur tue dies oder jenes, so kann dies nur der Versuch sein, eine Reihe von Vorgängen in einem Subjekt zusammenzufassen, das aber als solches nicht existiert. Es scheint mir offenkundig, dass dieser – vielleicht unverzichtbare – sprachliche Behelf gewichtige Fragen in sich enthält« 94. Die Evolution selbst evolviert nicht, sondern es ist Evolution des schon welthaft Existierenden – deshalb darf auch Ursprung und Anfang bzw. Entstehung nicht verwechselt bzw. gleichgesetzt werden …
2.1.2. Anmerkung: Ergänzende kritische Hinweise Dawkins’ eigene Beispiele bzw. Argumente machen es deutlich: Er hat den »Essentialismus« in der Tat schon »etikettierend« verabschiedet, bevor er sich auch nur ansatzweise der Mühe ausgesetzt hat, die darin maßgeblichen philosophischen Problemstellungen zu erkennen. Schon eine nur halbwegs ernsthafte Orientierung über Platons Motive der Ideenlehre hätten Dawkins jedenfalls darüber belehren können, dass die platonische Ideenlehre und der darin vertretene »Essentialismus« nichts mit jener abenteuerlichen Gespenstermetaphysik zu tun hat, die Dawkins hier verfolgt und der Belustigung aussetzt. Eine solche Vorgehensweise mag der trickreichen Ausbreitung des Dawkins’schen Mempools bei einer philosophisch unkundigen Leserschaft ja durchaus förderlich sein und auch der Erheiterung dienen – indes, mit dem »Geist Platons« (Schöpfungslehre 31 f.) hat dies, wie 94
Benedikt XVI., in Horn/Wiedenhofer 2007, 151.
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Dawkins suggeriert, freilich so gut wie gar nichts zu tun. Da sind in der sprunghaften Mem-Weitergabe von »Gehirn zu Gehirn« bzw. in deren Vererbung offenbar nicht geringe Ausfälle passiert. Schon Dawkins’ bemerkenswerte Berufung auf die »Vorstellung, das Kaninchensein sei eine Art unsteter Wolke statistischer Durchschnittswerte, oder das heutige typische Kaninchen könne anders aussehen [!] als das typische Kaninchen vor oder in einer Million Jahren verletzt offensichtlich ein inneres Tabu« (Schöpfungslehre 33), verfehlt das Problem und legt schon die Frage nahe, warum denn dann überhaupt noch von einem – seine Art repräsentierenden – Kaninchen die Rede ist? Auch dies bestätigt indirekt: Das »Wesen« ist eben kein beliebiger Sortierbegriff, sondern das artspezifische Wesen des Seienden, ohne das es dasjenige nicht wäre, was es seinem »Wesen nach« ist – nämlich ein Exemplar dieser oder jener Art, von der ja auch Dawkins selbst fortwährend spricht. Deshalb hat das »Wesensallgemeine« konkrete Realität nur in den jeweiligen Individuen, die es jeweils »in concreto« repräsentieren, d. h., es ist nur in den Individuen als deren Wesen in jeweiliger Ausprägung wirklich. Dieses »Wesensallgemeine« ist es demnach, welches das besondere Seiende von ihm selbst her in seinem »Wesen« erschließen will – und zwar im Unterscheid zu anderen, d. h. ganz beliebig vorgenommenen Einteilungshinsichten und den hierfür maßgebenden Klassifikationskriterien. »Jenseitig« ist dieses »Wesen« eben nicht in einem räumlichen Sinne, sondern lediglich in der bestimmten Hinsicht, dass der »Typus« dieser Erscheinung nicht selbst eine bloß sinnliche Impression ist (s. o. 95 ff.); ebenso wenig ist dieses »Wesen« »in« den Individuen in einem räumlichen Sinne, sondern so, dass es in diesen in »concreto« repräsentiert wird. 95 E. Heintel erläutert dieses »ontologische« Begründungsverhältnis am Beispiel des Steinpilzes: »Solche individuellen Steinpilze repräsentieren als Erscheinung jeweils ein ihnen eigentümlich zukommendes Allgemeines, das mit ihnen als solchen nicht zusammenfällt. Es vergeht nämlich nicht mit den einzelnen Steinpilzen, die vom Menschen ›geerntet‹ werden können oder auch alternd zusammenschrumpfen und verschwinden. Das Allgemeine, das sie repräsentieren, stirbt nicht mit ihnen, sondern wird immer wieder aufs neue repräsentiert. Insofern lässt sich sagen, dass dieses ohnehin im Sinne Die oben (I., Anm. 85) angeführten Aristoteles-Stellen über die »Wesensform« bzw. das »Wesens-Was« zielen genau darauf ab.
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der Idee Platons verstandene Allgemeine ›vor‹ den einzelnen erscheinenden Steinpilzindividuen ist, freilich nicht im Sinne einer Aufeinanderfolge in der Zeit. Es ist nicht vorher ein allgemeiner Steinpilz in selbständiger Existenz da und hernach das einzelne Steinpilzindividuum, vielmehr verhält sich die Sache so, dass das Wesensallgemeine und das einzelne Erscheinende eigentlich seiend nur dadurch sein können, dass sie immer schon im konkreten Individuum vereinigt sind. … Freilich ist das so verstandene Allgemeine wirklich nur in den erscheinenden Individuen, die es repräsentieren. Doch fällt es in der sich wiederholenden Repräsentation mit ihnen nicht zusammen. Wenn ein solches Allgemeines nicht mehr repräsentiert wird, z. B. wenn unsere Steinpilze ausgerottet werden, dann ist das Wesensallgemeine (die Idee) als solche nicht mehr wirklich da, außer etwa in Lehrbüchern, in denen diese aus der Wirklichkeit verschwundenen Erscheinungen abgebildet sind. Diesbezüglich aber wird kein Mensch von Dasein sprechen, weder was den sinnlich-realen Steinpilz, noch was seine Idee betrifft. Bezeichnend aber ist, dass unter diesem Endaspekt beide Seiten der Sache [individueller Steinpilz und Idee] zugleich aus der Wirklichkeit verschwinden. – Insofern aber das Wesensallgemeine immer wieder in den einzelnen Dingen repräsentiert wird, kann man sagen, dass es ›in‹ ihnen ist, da ja andernfalls die erscheinenden Individuen nicht als eigentlich seiend gedacht und wesentlich erkannt (ausgesagt) werden könnten« 96. Es sind genau die in diesem Zitat zurückgewiesenen Missverständnisse, die unschwer als in Dawkins’ Ausführungen maßgebende wiederzuerkennen sind: Was von Heintel ausdrücklich als Missverständnis der platonischen Idee zurückgewiesen wird, dies wird von Dawkins kurioserweise just als »Geist Platons« behauptet. Es ist weniger der »Geist Platons«, den er wiedergibt, sondern eher gilt: Was Dawkins den »Geist Platons« nennt, ist vielmehr Dawkins’ eigener Geist – der so lediglich demonstriert, dass er den elementaren Sinn des platonischen Höhlengleichnisses nicht verstanden hat und dieses klassische Lehrstück in Dawkins’ Berufung darauf bedauerlicherweise offenbar einen schwerwiegenden Mem-Schaden erleidet. Den Kern des in Dawkins’ »Essentialismus«-Kritik völlig verkannten sogenannten Universalienproblems und des damit verbundenen philosophischen Essentialismus resümiert E. Heintel folgendermaßen: »Im Universalienproblem kommt es jedenfalls zur Ein96
Heintel 1990, 78.
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sicht, dass die strenge Alternative, nur das einzelne Erscheinende sei real und das Allgemeine sei abstrakt, nicht haltbar ist. Hat man das eingesehen, dann weiß man auch, dass man das Individuelle nicht mit dem bloß Einzelnen verwechseln darf. In den erscheinenden natürlichen Individuen sind immer schon Allgemeines und Einzelnes miteinander vereinigt und sind in dieser Ganzheit das eigentlich Wirkliche […] Das nur Einzelne und das nur Allgemeine, voneinander abgetrennt, sind beides nur Abstraktionen. Aristoteles illustriert die Sache an dem Satz: ›Der Mensch erzeugt den Menschen.‹ Dabei zeugt weder dieses erscheinende Einzelne mit dem Namen Sokrates ein anderes erscheinendes Einzelnes mit dem Namen Platon, noch ein allgemeiner Mensch einen anderen allgemeinen Menschen, sondern dieses das Allgemeine Mensch repräsentierende Individuum Sokrates ein ebensolches Individuum Platon« 97. Die gebotene Rücksicht auf diesen schlichten Sachverhalt hätte wohl Dawkins’ energischen Kampf und seine Ausfälle gegen »essentialistische Vorurteile« (Schöpfungslüge 36) gezähmt und ihn auch von der Versuchung befreien können, »eine Sau [wenn es denn wirklich eine solche ist! – und hoffentlich doch eine solche aus »Fleisch und Blut« und nicht eine bloß »fehlerhafte Abweichungen von der idealen Wesensform« derselben!] durch den eleganten griechischen Tempel der platonischen Idealformen [zu] treiben«. Dawkins spottet nicht nur fortwährend seiner selbst und weiß nicht wie – er liefert auch in diesen thematischen Bezügen erneut einen eindrucksvollen Beleg dafür, wie wenig er selbst dazu bereit bzw. in der Lage ist, die in seinen – ohnedies reichlich trivialen – »neuen zehn Geboten« enthaltenen Forderungen (Gotteswahn 592, s. o. 27 f.) auch nur einigermaßen zu befolgen. Platon hat deshalb auch für den Zusammenhang des Wesensallgemeinen mit der Sprache eine andere Erklärung als die Dawkins’sche Begnügung mit dem Hinweis, dass Kinder von Natur aus »Essentialisten« sind 98 – denn das sind seltsamerweise in gewisser Hinsicht auch Tiere in ihrer vermutlich nicht klassifizierenden Umweltorientierung bezüglich anderer Arten. Und man muss da gar nicht, wie Dawkins in typisch psychologisierender Verkürzung anregt, auf die Psychologie der Sprachforscher und die essentialistischen Muster in der kindlichen Psyche zurückgreifen; schon Aristoteles hat »festEbd. 79. Ihren Ort erhält die philosophische Frage nach dem »Wesen der Erscheinungen« von Dawkins also in der Entwicklungspsychologie zugewiesen.
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gestellt, dass auch im Erwerb der Sprache Allgemeines im Vordergrund steht: das Kleinkind sieht den Vater zunächst in allen Männern, bis es daraufkommt, dass hier weitere Differenzierungen angebracht sind. Es gehört einfach zum Wesen der Sprache, dass wir in ihr, sei es in Richtung auf den Wesensbegriff, sei es nach unseren jeweiligen Bedürfnissen, generalisieren (verallgemeinern) und spezifizieren (besondern) können. So ist das Pferd in die höhere Allgemeinheit Säugetier einzuordnen. Ich kann aber auch diesen Begriff ›nach unten‹ vielfach spezifizieren, ich spreche z. B. von Rappen und Schimmeln oder auch von Lippizanern« 99. Geradezu kurios ist allerdings der Sachverhalt, dass Dawkins sich für die von ihm als besonders krasse Erscheinungsgestalt des »Essentialismus« kritisierte Position Platons (die mit seiner Charakterisierung allerdings nichts zu tun hat) auf den berühmten Biologen E. Mayr beruft – zumal dieser doch eine sehr entschiedene Kritik an einem nominalistischen Art- bzw. Gattungsverständnis geäußert hat 100. Dawkins selbst vollzieht vielmehr genau das, was Mayr unbe-
Heintel 1990, 79 f. – Darauf zielt bekanntlich Aristoteles mit seiner Bestimmung der »Definition« eines »natürlich Seienden«: Sie gibt dabei den nächstgelegenen Gattungsbegriff an und bestimmt sodann die »spezifische Differenz«; also im Beispiel: Diese »Einzelwesen« da gehören zur Gattung der Pferde und sind näherhin – im Unterschied zu anderen zur Gattung der Pferde gehörenden Erscheinungen – Rappen usw. 100 Ausdrücklich betont Mayr in Abwehr nominalistischer Missverständnisse: »Dem nominalistischen Artkonzept zufolge gibt es in der Natur ausschließlich Individuen, und Arten sind künstlich vom Menschen geschaffen; das heißt, eine Person (und nicht die Natur) erschafft Arten, indem sie Individuen unter einem Namen zusammenfasst. Die Situation bei jeder Erforschung der Natur zeigt jedoch, dass solche Willkür nirgendwo herrscht. Ein Naturforscher weiß …, dass Artgrenzen nicht willkürlich sind, sondern dass diese Arten vielmehr von der Natur geschaffen sind. Nichts bestätigte mir dies überzeugender als die Tatsache, dass die steinzeitlichen, primitiven Eingeborenen in den Bergen Neuguineas genau dieselben Arten unterscheiden und benennen wie die Naturforscher der westlichen Welt. Man muss schon sehr wenig über lebende Organismen und über menschliches Verhalten wissen, um das nominalistische Artkonzept anzunehmen« (Mayr 1998, 181 f.). Dawkins’ Essentialismus-Kritik übersieht diese essentialistische Perspektive. Mayr begnügt sich also gerade nicht mit der ihm von Dawkins unterstellten Auffassung, dass »essentialistische Vorurteile tief in den Menschen verwurzelt sind« (Schöpfungslüge 37). Eine solche Kennzeichnung begünstigt zweifellos schiefe »essentialistische« Missverständnisse. Mayrs Unterscheidung der »Artkonzepte« widerspricht jedenfalls den bei Dawkins unübersehbaren »nominalistischen Tendenzen«. Allerdings ist es erstaunlich, dass Mayr den »Essentialismus« angemessen charakterisiert sah als das »leidenschaftliche Streben 99
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dingt vermeiden möchte 101 – nämlich eine nominalistische Auflösung des Artbegriffs (Schöpfungslüge 32), obwohl er sich selbst fortwährend auf »Gattungen« und »Arten« bezieht, die es unter seiner antiessentialistischen Voraussetzung gar nicht gibt. Mayrs kritische Sichtweise impliziert freilich auch eine Kritik an Darwins Auskunft: »Aus diesen Bemerkungen ist zu ersehen, dass ich den Terminus ›Spezies‹ als etwas ansehe, das man aus Bequemlichkeit [!] einer Gruppe von Individuen, die einander stark ähneln, willkürlich gegeben hat, und dass er sich nicht wesentlich von dem Terminus ›Varietät‹ unterscheidet, mit dem man weniger deutliche und stärker fluktuierende Formen bezeichnet« 102. Bei solcher »Bequemlichkeit« sollte man freilich nicht länger von der »Vielfalt der Arten« bzw. von ihrem notwendigen Schutz reden und ihr zunehmendes Aussterben beklagen – gibt es doch in Wahrheit ohnedies nur einzelne lebendige Phänomene, die wir bequemlichkeitshalber nach »Merkmalen« sortieren: Arten sind also in Wahrheit »Merkmals-orientierte« variable Sortierbegriffe (und als solche eben Klassifikationsmuster des vergleichenden und abstrahierenden Verstandes): »Wir könnten … die verschiedenen Gruppen nicht definieren, aber wir könnten Typen oder Formen aussondern, die die meisten Merkmale der Gruppe (sei diese groß oder klein) aufweisen, und uns so eine
der klassischen Physik [!], hinter der Veränderlichkeit der Erscheinungen das unveränderlich Bleibende zu erkennen« (Mayr 1998, 350). 101 Dawkins’ psychologisierende Entlarvung des Essentialismus, »dass Kinder von Natur aus Essentialisten sind« und dies vielleicht notwendig sei, »damit sie nicht in Verwirrung gestürzt werden, während ihr Geist sich entwickelt und die Dinge in verschiedene Kategorien einteilt, die jeweils mit einem Substantiv bezeichnet werden« (Schöpfungslüge 33), steht übrigens in unübersehbarem Gegensatz zu Mayrs Darlegung unterschiedlicher »Artkonzepte« bzw. seinen Ausführungen über die »Abgrenzung der Arten«; ungeachtet der in den einzelnen Konzeptionen zutage tretenden Schwierigkeiten bzw. offenen Fragen (1998, 181 ff.) betont Mayr ausdrücklich, dass »die Art die entscheidende Entität der Evolution ist. Jede Art ist ein biologisches Experiment, und es gibt – zumindest bei einer neu entstehenden Art – keine Möglichkeit vorauszusagen, ob die von ihr neu besetzte Nische eine Sackgasse ist oder die Pforte zu einer großen, neuen adaptiven Zone. […] Deshalb ist die Art der Grundstein evolutionären Wandels« (Mayr 1998, 184). Interessant ist Mayrs Hinweis darauf (1998, 181), dass Darwin »kurioserweise … in seinen späteren Schriften« wieder zu einem vorwiegend typologischen Artkonzept« zurückgekehrt sei, das Mayr selbst als »essentialistisches Artkonzept« bezeichnet und kritisiert hat (ebd. 177 f.). 102 Ch. Darwin, Origin of Species, 108, zit. n. Hösle 2001, 7.
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allgemeine Vorstellung von dem Wert der zwischen den Gruppen bestehenden Unterschiede machen« 103. Es hat sich erwiesen: Obwohl Dawkins fortlaufend von »Arten« und »Gattungen« spricht, setzt er deren Status sofort wieder zu bloßen Klassifikationsbegriffen herab – beruht also die Unterscheidung gemäß Gattung und Art selbst auf einem essentialistischen Missverständnis? »Eine dauerhafte Kaninchenheit existiert nicht; im Himmel hängt keine Kaninchen-Wesensform, sondern es gibt nur Populationen pelziger, langohriger, kotfressender, mit den Tasthaaren zuckender Individuen, die eine statistische Verteilung unterschiedlicher Größen, Formen, Farben und Vorlieben aufweisen« (Schöpfungslüge 32) 104. Dawkins beschwört auch solcherart, wie so oft, phantasiereich seltsame Alternativen – denn damit ist auch seine Bestimmung der Gattung und Art nicht verträglich: »›Gattung‹ ist der Oberbegriff. Eine biologische Art oder Spezies gehört [!] zu einer Gattung, die aber oft noch erweiterte Arten umfasst« (Schöpfungslüge 216). Könnte denn Dawkins dies von seinen »anti-essentialistischen« Voraussetzung her überhaupt sagen? Wenn seine angeführte Bemerkung doch offenbar selbst voraussetzt, dass »Gattung« und »Art« nicht bloße »Klassifikationsbegriffe« sind, sondern diese »Universalia« ein »fundamentum in re« haben – verfällt Dawkins damit nicht selbst einem »essentialistischen Vorurteil«, das er andererseits lediglich Kindern erlaubt? Wie verträgt sich Dawkins’ Hinweis auf die »noch weitere Arten umfassende Gattung« mit jenem oben zitierten Hinweis, wirklich seien allein »Populationen pelziger, langohriger, kotfressender, mit den Tasthaaren zuckender Individuen, die eine statistische Verteilung unterschiedlicher Größen, Formen, Farben und Vorlieben aufweisen«? Wenn Dawkins von einer »Abstammungslinie von einer Art zur anderen« spricht (Schöpfungslüge 219), so ist jedoch auch dies widersprüchlich, weil dies »Art« ebenso voraussetzt wie seine Ansicht: »Erst heute, im Rückblick … wird eine KlassifikaDarwin 1963, 602. Dawkins steht offensichtlich der von Hösle kritisierten Position sehr nahe, wonach die Darwin’sche Revolution »den Platonismus beiseitegeräumt« habe: Es sind Individuen, die sich voneinander unterscheiden, und Individuen, die ums Überleben kämpfen. Platonische Ideen, Essenzen, Typen, Formen … entpuppen sich als hypostasierte Abstraktionen … Um die Evolution zu verstehen, müssen wir wissen, was sich wandelt, nicht nur, was unverändert bleibt … Ein Platoniker würde unsere Welt für ein transzendentes Reich von Ideen aufgeben. Ein Darwinist dagegen will in dem Land, in dem er geboren ist, auch zuhause sein« (M. T. Ghiselin, zit. n. Hösle 2001, 1). 103 104
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tion mit verschiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und Stämmen überhaupt möglich« (Schöpfungslüge 223). Sofern der »biologische Artbegriff« durch die Befähigung zur Fortpflanzung der Individuen bestimmt ist, 105 ist dafür eine gewisse – obgleich keine absolute – Artkonstanz vorausgesetzt, wie es ja auch Darwin nahelegt. Von der »Evolution der Arten« und der in deren zugehörigen Individuen geschehenden »natürlichen Auslese« derselben bzw. deren »Mechanismen« zu sprechen, dies setzt jedenfalls desgleichen voraus, dass »Arten« keine bloße Klassifikationsbegriffe sind. Die Frage an den »Darwinisten« Dawkins liegt deshalb jedenfalls nahe: Handelt es sich auch beim Art- und Gattungsbegriff, der ja in der Biologie verwendet wird, um bloße »hypostasierte« Abstraktionen – etwa auch in der Rede von »art-gerechter« Tierhaltung und »Artenschutz« oder dem beklagten »Artensterben« bzw. dem »Entstehen der Arten« – wer aber wollte gegebenenfalls dann das Aussterben von solchen hypostasierten Abstraktionen beklagen? Und wenn auch jene Klassifikation erst im Rückblick möglich wird, so erlaubt dies jedoch nicht die nominalistische Auflösung des »Artbegriffs«, vielmehr ist die je individuelle Repräsentation der Art vorausgesetzt, damit Dawkins überhaupt von einer »Zugehörigkeit« zur Art (die offenbar nicht bloße Klassifikation ist!) sprechen kann, so in seiner Bemerkung: »Wann gehören [!] zwei Tiere eigentlich zur selben [!] biologischen Art und wann zu zwei verschiedenen [!]? Bei Tieren, die sich geschlechtlich fortpflanzen, können wir eine bestimmte Definition anwenden: Tiere gehören zu verschiedenen Arten, wenn sie sich nicht kreuzen. Es gibt Grenzfälle, wie den der Pferde und Esel, die sich zwar paaren können, dann aber unfruchtbare Nachkommen … hervorbringen. […] Jede Spezies [!] gehört zu einer Gattung« (Zauber 56; 70). Damit ist auch gesagt, dass »Arten« selbst als lebendige Systeme auf davon unabtrennbare Art-spezifische Umwelten bezogen sind und
105 Genau dies tut Dawkins selbst, wenn er betont: »Körper entwickeln eine integrierte und kohärente Zweckmäßigkeit, weil Gene in einer Umwelt selektiert werden, die aus anderen Genen innerhalb derselben Art besteht« (Dawkins, Uhrmacher 225 f.). Und doch soll wiederum gelten, dass unterschiedene Arten »in der Welt der Evolution nicht mehr als eine bequeme Fiktion, ein Zugeständnis an unsere eigene Begrenztheit« seien (Dawkins, Geschichten vom Ursprung des Lebens 445, zit. n. Peetz 2013, 445).
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sich die Exemplare derselben im sexuellen Verhalten zu »ihresgleichen« reproduzieren. Dass freilich die konkrete klassifikatorische Zuordnung jeweils vom Stand der einzelwissenschaftlich-biologischen Forschung abhängig ist, erlaubt jedoch nicht einfach die Auflösung bzw. Verabschiedung des Art-Begriffs, wie freilich die von Dawkins vorgebrachten Beispiele belegen. 106 Individuen, Arten und Gattungen sind dieser Dawkins’schen Konzeption zufolge hingegen lediglich – sich fortwährend verändernde – jeweilige vorübergehende einzelne Moment-Zustände bzw. Ereignisse als Modifikationen bzw. Funktionen des Lebensprozesses, der gleichermaßen auch die Herkunft und Entwicklung des Menschen umgreift. Die Argumentation Dawkins’ läuft direkt auf eine Auflösung des Artbegriffs hinaus, zumal seiner Sichtweise zufolge doch genau dies gilt: »Alle einzelnen Organismen …, vor allem aber auch die Arten, sind nur [!] temporäre Manifestationen des evolutionären Prozesses. Jedes singuläre Ereignis ist von anderen singulären Ereignissen (seiner genetischen Ahnenreihe) unter Zugrundelegung des Selektionsprinzips abgeleitet … Statt eigenständige Substanzen sind die einzelnen Glieder damit kontingente Funktionen der Grundparameter – auch der Mensch hat deswegen keinen anderen, herausgehobenen Status« 107.
2.2 Warum Dawkins’ Seelenjagd auch die aristotelische »Geistseele« verfehlt – und Letztere vielmehr von ihm selbst vorausgesetzt wird Obgleich die »Seele« von Aristoteles zunächst als »Prinzip des Lebendigen« bestimmt wird (s. o. I., 2.1), hat er mit Blick auf die Weltstellung des Menschen jedoch weitere Differenzierungen geltend gemacht und dabei den besonderen bzw. unverzichtbaren Status der »Geistseele« hervorgehoben. In diesem Sinne hat er bekanntlich betont, dass der Mensch sich ja nicht einfach als »Lebendiges« in seinen mannigfaltigen Funktionen am Leben erhält, sondern sich als »ani106 Einschlägige Differenzierungen hat in der Sache schon Leibniz in seiner – immer noch sehr lehrreichen – Kontroverse mit J. Locke (und dessen nominalistischen Tendenzen) geltend gemacht. 107 Hösle/Illies 1999, 51. »Gleichsam in Übertragung dieses verum-factum-Prinzips auf die Natur als ganze ließe sich sagen, dass auch die Natur in Form der Vielfalt der Variationen ›experimentiert‹ und die ›Wahrheit‹ dann letztlich das Faktum des SichDurchsetzens im Kampf ums Dasein darstellt« (ebd. 53).
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mal rationale« (»zoon logon echon«) in seiner Lebensführung 108 vielmehr an solchen Maßstäben orientiert, die sich nicht auf diese funktionalen Vital- und »Selbsterhaltungsaspekte« alles Lebendigen reduzieren lassen. Sein diesbezüglicher – gewiss missverständlicher und auch häufig missverstandener – Rekurs auf die von »von außen hinzukommende« Geistseele läuft jedoch keinesfalls auf gespenstische Vorstellungen hinaus, von denen sich Dawkins’ polemische SeelenJagd leiten lässt. Mit dem in dieser Lehre von der »Geistseele« intendierten Eigen-Sinn der Geist-orientierten Weltstellung des Menschen sind vornehmlich fundamentale anthropologische Sacherhalte angesprochen: Denn weder ist menschliche Erkenntnis (ungeachtet ihrer unaufhebbaren Fehlbarkeit) eine bloße lebensdienliche Anpassung an die artspezifische Umwelt (so wenig Sprache ein bloßes Instrument von Täuschung und List ist, beides setzt nämlich schon vorgängigen Wahrheits-Bezug voraus!), noch lässt sich das moralische »Sollen« auf Aspekte des Lustgewinns, des Nützlichen, Zuträglichen, Vorteilhaften u. Ä. reduzieren, so wenig sich die Erfahrung des Schönen im bloßen »Sinnenreiz« erschöpft. In dieser auf die spezifische Seinsweise des Menschen abzielende bzw. diese ermöglichende »Geistseele« ist ebenso gesagt, dass es darin nicht nur um die Selbsterhaltung des Menschen und um ein möglichst gutes Angepasstsein an die Umwelt geht, sondern vielmehr darum, dass er, ungeachtet der unaufhebbaren Fehlbarkeit seines Wissens, doch als »weltoffenes« Wesen »Wahrheits-fähig« und potentiell unbegrenzt »lernfähig« ist. 109 Dass »alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben«, die Menschen also »mit Kunst und Überlegung« ihr Leben führen, 110 hat nach Aristoteles demzufolge in dieser – insofern »von außen kommenden« – »Geistseele« seinen zureichenden Grund. Zugleich impliziert Letztere dies, dass der Mensch sich selbst verfehlen kann, d. h. sich »schuldig« bleibt, sein Leben nicht »gelingt« (»glückt«) – nämlich dann, wenn er, als »vernunftbegabtes Lebewesen« die Maßstäbe und Leitlinien seiner Lebensführung lediglich aus Vernunft-fremden Orientierungen gewinnt, d. h. bloß an Selbsterhaltungsimperativen 108 Eine solche »Lebensführung« will Dawkins inkonsequenterweise ja auch der von der »Tyrannei der Gene« emanzipierten »Überlebensmaschine Mensch« zumuten. 109 Aristoteles spricht auch vom apophantischen Logos der Rede, worin sich das »Wahre und das Falsche« manifestiert (De interpretatione IV., 17 a) und so mit dem auf die Unterscheidung zwischen »gerecht-ungerecht« gerichteten »Logos« sich verbindet. 110 Aristoteles, Metaphysik 980 a.
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seiner »sinnlichen Natur« Maß nimmt (die er mit anderen Lebewesen gemeinsam hat), die diesen Vernunftansprüchen jedoch nicht genügen und deshalb einem »geglückten Leben« den Weg versperren, das nicht mit Spaß-orientierter Selbsterhaltung von »Überlebensmaschinen« verwechselt werden darf. Mit dieser »Geistseele« sind demnach spezifisch menschliche Sinnvollzüge angesprochen, die nicht lediglich eine biologische (Überlebens-)Funktion im Sinne der biologischen Selbsterhaltung erfüllen, d. h. in ihrem Eigen-Sinn daraus aber auch nicht ableitbar sind (und insofern eben »von außen kommen«), und ihn so auch mit den unausweichlichen Fragen nach dem »gelingenden« Leben (»Glückseligkeit«: »eudaimonia«), nach einem umgreifenden Daseins-Sinn konfrontiert, die sich wohl auch mit Dawkins’ raschem Rat »Now stop worrying and enjoy your life!« nicht so ohne weiteres zu begnügen vermag. Als »vernunft«- und »sprachbegabtes« bzw. als »politisches Lebewesen« steht bzw. versteht sich der Mensch in Sinn- und Geltungsansprüchen 111, die sich nicht schon in jenen angeführten funktionalen Aspekten der biologisch zweckmäßigen Angepasstheit an die natürlichen Bedingungen und Umwelt-Milieus im Sinne der Selbst- und Arterhaltung des Lebendigen erschöpfen, sondern sich allein an der Idee der »Wahrheit« orientiert; das heißt: er will wissen, »was ist« (und nicht nur so »scheint«) – ganz so also, wie es Dawkins in seinem »nichts als der Wahrheit« folgenden Erkenntnisdrang für sich reklamiert: von keinem Schein geblendet und von keinem Vorurteil getäuscht an den Maßstäben des Guten und Gerechten mutig und tatkräftig die anstrengende Aufklärungsarbeit zum Wohle der Menschheit auf sich zu nehmen. Als auch begründungsfähiges, d. i. vernunft- und sprachbegabtes Wesen orientiert er sich somit, jenseits bloßer biologisch zweckmäßiger Intelligenzleistungen, am Vernünftig-Allgemeinen des Wahren, Gerechten und Guten, die sich nicht in Interessen bzw. »Imperativen« eines »klugen Tieres« erschöpfen. Dies übersteigt so auch jedwedes arterhaltungsorientierte Leben bzw. Verhalten in Herdenverbänden. Damit ist implizit auch gesagt, dass 111 Zu Recht betont P. Koslowski gegen Dawkins’ biologistischen Reduktionismus: »Der Zweck des begrifflichen Denkens besteht nicht in der bloßen Sicherung der Reproduktion der Gene, sondern im Eröffnen des Raumes der Selbstrealisierung des Menschen als Vernunftwesen. Diese Ermöglichung der Verwirklichung von Vernunft durch die Vernunft ist bei Plato in der Politeia sowohl Selbstzweck als Tätigsein des theoretischen logos als auch Bedingung sinnvoller politisch-sozialer Praxis als praktisch-politischer logos« (Koslowski 1984, 61).
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die Orientierung an der Idee der Wahrheit und am moralisch Guten (ebenso übrigens wie das Schöne) seinen Eigen-Sinn verliert, wenn es auf Nützlichkeitsaspekte der bloßen biologischen Selbsterhaltung reduziert wird, weil es in biologischen Kategorien gar nicht angemessen thematisiert werden kann. 112 Eine Stelle aus der aristotelischen »Politik« mag diesen Sachverhalt verdeutlichen: »Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, dass er allein fähig ist, sich vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellungen ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben.« 113 Jene aristotelische Kennzeichnung der »von außen kommenden Geistseele« zielt so auf die »existenzielle Entbundenheit« des Menschen von der bloßen biologischen Selbsterhaltung, die ihn aus den bloßen »Umweltbezügen« und dem »Gängelband der Natur« herauslöst und so einen – von der je situationsbezogenen Aufgabenbewältigung abgelösten – Sach-orientierten Zugang zur Wirklichkeit (eine »triebentlastete Sachlichkeit«: Max Scheler) sowie den für rationale Argumentation erhobenen Geltungsgrund ermöglicht. Neben jener unbedingten Wahrheitsverpflichtung (bei aller unüberwindlichen Vorläufigkeit ihrer Einlösung!) hatte Aristoteles mit der »Geistseele« eben auch diese besonderen Sinnansprüche und Leistungen des Menschen vor Augen. Sie liegt auch der klassischen Bestimmung des Menschen als »animal rationale« zugrunde, 114 der zufolge sich der Mensch eben nicht nur in einem »Raum der Ursachen« und der Sphäre »vitaler Selbsterhaltung«, sondern auch in einem »Raum der Gründe« bewegt. Schon in allen beanspruchten Urteilen sieht der Mensch als »animal rationale« ja von der Befangenheit in seiner privaten Eigen-Sicht auf die Wirklichkeit ab und hält seine Sicht der Dinge »relativierend« an das Urteil anderer, um daraus erst ein begründetes Urteil zu gewinnen bzw. zu fällen. Diese darin begründete 112 Hegels Bemerkung kommentiert im Grunde Aristoteles: »Das Denken macht die Seele, mit der auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste, und die Philosophie ist nur ein Bewusstsein über jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, auch in der Gestalt und Weise jener seiner, ihm vom Tier unterscheidenden und der Religion fähig machenden Wesenheit« (Hegel 1830, 13). 113 Aristoteles, Politik 1253. 114 Dass die Tierart Mensch und ihr sehr spätes Auftreten in die Geschichte des Lebendigen gehört, wird gewiss niemand bestreiten; gleichwohl tritt mit der Daseinsweise des Menschen als »animal rationale« etwas auf, dessen Vollzüge sich nicht im Dienste bzw. im Sinne der Selbsterhaltung und Anpassung erschöpfen – »Fulguration« ist im Grunde lediglich ein nichtssagender Verlegenheits-Name dafür.
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»Weltoffenheit« des Menschen, durch die er nicht bloß in seine artspezifische natürliche Umwelt eingebunden ist, weist ihn auch als ein prinzipiell unbegrenzt lernfähiges Wesen aus, das darin jede artspezifische Grenze, aber auch bloße Nützlichkeitsaspekte sowie alle noch so beeindruckenden Intelligenzleistungen, die im Dienste der biologischen Selbsterhaltung, d. h. vitaler Interessen, stehen, zu überschreiten vermag, aber auch der Selbsterkenntnis, der Selbstkritik und -distanzierung fähig ist: Weder sind Wahrheitsansprüche des Menschen (»vernünftige Einsicht«), der wissen möchte, »was etwas ist«, auf bloße Anpassungserfolge zu reduzieren, noch sind moralische und ästhetische Ansprüche ohne naturalistischen Kurzschluss auf biologische Selbsterhaltung (das vital Notwendige, Nützliche und Zuträgliche) zurückzustufen bzw. daraus ableitbar. 115 »Gerne wissen wollen, was wirklich ist« – dies bezieht sich nicht zuletzt auf die Weltstellung des Menschen selbst, der sich solcherart selbst thematisiert und sich so zum Ganzen der Welt und näherhin zum Reich des Lebendigen in Beziehung setzt – und sei es auch um den hohen Preis, auf solche Weise erfahren zu wollen und möglicherweise erfahren zu müssen, dass er selbst im Grunde ein bloßer »Irrläufer der Evolution«, ein »Zigeuner am Rande Weltalls« sei bzw. auch seine »Ich«-Vorstellung sowie auch der »freie Wille« bloße Illusionen, bestenfalls ein »gutes Gefühl« sind, von denen man sich freilich, wenn man wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit sein will (und die »Wahrheit sucht« und obendrein schonungslos »wahrhaftig ist«), verabschieden muss … Man sieht: Was Aristoteles mit dieser (keineswegs gespenstischen) »Geistseele« meinte, lässt sich auch durch Dawkins’ eigene Charakterisierung seines leitenden Anliegens verdeutlichen, denn im Grunde gibt er ja selbst ein recht gutes Beispiel dafür, was mit der alle bloß vitalen Selbsterhaltungsinteressen überbietenden »Geistseele« gemeint ist: Er, der allein wissen will, »was wirklich ist«, gibt sich damit, wie die Gegebenheiten der Welt ihm bloß »erscheinen«, nicht zufrieden, vielmehr möchte er, gegenüber der lediglich Faulheit begünstigenden Religion, in unstillbarem Forschergeist den Dingen erkennend auf den »Grund« gehen und in argumentativ-begründender Weise seine Sicht der Dinge gegenüber den sachkompetenten Ande115 Peter Strasser hat diese nicht biologistisch reduzierbaren Aspekte des »Wahren, Guten und Schönen« in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Dawkins als nicht nivellierbare »ontologische/metaphysische/semantische Überschüsse« (Strasser 2008, 17) gekennzeichnet.
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ren ausweisen und dabei sein Urteil an der Zustimmungsfähigkeit für andere prüfen; ein solches Lebewesen ist eben jenes, das sich, im abwägenden »Für und Wider«, im Raum von »Gründen« bewegt und deshalb traditionellerweise als »vernunftbegabtes Lebewesen« – »animal rationale« – bestimmt wird. Also keineswegs an irgendeinem Überlebensvorteil oder bloßer Angepasstheit als einem überlebensdienlichen Nutzen, sondern nur an dem, »was wirklich ist«, lässt es sich ja Dawkins’ Erkenntnisdrang gelegen sein und seine Leserschaft daran teilhaben – und für dieses hohe Ziel ist er zuletzt nicht nur bereit, wüste Attacken, Beschimpfungen und Schmähungen der unbelehrbaren »Feinde der Vernunft« in Kauf zu nehmen und dennoch unbeirrt, stolz und tapfer seinen Weg zu gehen. Dafür nimmt er nicht nur persönliche Desillusionierungen in Kauf, in solcher Wahrhaftigkeit bleibt er auch gegen die brieflichen und verbalen Attacken der »Feinde der Vernunft« standhaft. Aufopfernd folgt Dawkins diesem moralischen Imperativ, der ihn zu dem so leidenschaftlichen Kampf gegen die Religion als einen der ärgsten Feinde und Hemmnisse beseelt und ihn für solche Form geistiger Entwicklungshilfe sogar selbstlos und tief in die Tasche greifen lässt, um Bus-Werbung für die »brights« zu finanzieren. Wer überdies dann sogar noch Zeit findet und dazu befähigt ist, über die wundervoll schöne Natur und ihre tiefen Geheimnisse zu staunen, ja durchaus Anbetungs-ähnlicher Gefühle innewird – wer sonst dürfte, aus solchen Sinnansprüchen im Dienste des Fortschritts der Menschheit lebend, mit größerem Recht das mit der aristotelischen »Geistseele« Gemeinte und somit »animal rationale« zu sein für sich beanspruchen, ohne zugleich ein »homo religiosus« sein zu müssen – wie schön, wahr, gut und bescheiden obendrein: Denn bekanntlich hätte Dawkins, wohl schon um der größeren Wahrheit die Ehre zu erweisen, sogar »gern auf den Bestsellerstatus verzichtet«, wenn er nur »die leiseste Hoffnung gehabt hätte, dass Duns Scotus Licht in [s]eine zentrale Frage hätte bringen können – die Frage, ob Gott existiert« (Gotteswahn 524). Ja, auch mit Enttäuschungen und unerfüllten Erwartungen muss ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher wie Dawkins leben, ohne jedoch jemals aufzugeben – und doch im bleibenden harmonischen Einklang mit »darwinistischer Logik« und »Zwangsläufigkeit«, die auch da bekanntlich kein Pardon kennt (vgl. Gotteswahn 226 f.). Nie und nimmer: Bloße Mem-gesteuerte »Überlebensmaschinen« tun all dies nicht; Dawkins selbst ist besser als seine anthropologische Theorie … 123 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Freilich, dass all dies mit anderen Ausführungen Dawkins’ jedoch nicht so ohne weiteres vereinbar ist, ist nicht zu übersehen: Denn wenn dieser »von außen kommende nous« in elementarer Hinsicht auf den wahrheitsorientierten Erkenntnisdrang abzielt, weil die Vernunft nicht als bloßes Organ der Selbsterhaltung fungiert, dann ist damit auch gesagt, dass Menschen eben keine »Roboter« sind, »blind programmiert, zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden« (so heißt es schon zu Beginn seines Vorwortes zu »Das egoistische Gen« VIII) 116. Dawkins’ menschliche »Überlebensmaschinen« sind hingegen erstaunlicherweise von der 116 Freilich, es ist schon ein seltsamer Sachverhalt, dass ein zuletzt – auf einer sehr späten Entwicklungsstufe – mit neuronalen Prozessen ausgestatteter Materie-Komplex (als roboterartige »Überlebensmaschine« im Dawkins’schen Sinne) Überlegungen (die ja selbst nur neuronale Prozesse sind!) über sein eigenes »Noch-nicht-« bzw. »Nicht-mehr-Sein« anstellt, d. h. auch seinen Tod wissend vorwegnimmt – sowohl der Tod als auch das ihn vorwegnehmende Wissen davon biologisches Geschehen sind –, obwohl ja unstrittig die materiellen Prozesse erhalten bleiben. Schon darin zeigt sich übrigens, dass der Mensch mehr und anderes ist, als sich von ihm naturwissenschaftlich »begreifen« lässt. Auf eine besondere Inkonsequenz hat schon P. Koslowski (mit Blick auf den zitierten Passus aus dem Vorwort des Buches »Das egoistische Gen«) hingewiesen: »Wir sind einerseits blinde Roboter, deren sich die egoistischen Gene bedienen …, andererseits können wir aber die Pläne der Gene durchkreuzen … und Ethik daher nicht aus der Evolution ableiten« (Koslowski 1984, 27). Dawkins verfällt nach Koslowski geradezu einem »genetischen Animismus, der den Genen Wahrnehmung und Entscheidung zumisst« (ebd. 28). Vgl. Illies’ Kritik an dieser schiefen – undurchschauten – Analogisierung, denn: »Egoistische Gene disponieren nicht zu egoistischen Einstellungen – und Gene sind nicht selbst so etwas wie Motive« (Illies 2006, 189 f.). Illies zitiert St. Pinker: »Die Verwirrung kommt daher, dass man die Gene für das wahre Selbst der Menschen hält, und die Motive ihrer Gene für ihre tiefsten, wahrsten, unbewussten Motive. Aus dieser Annahme lässt sich schnell die zynische und falsche Bilanz ziehen, dass alle Liebe Heuchelei ist. Dabei werden aber die wirklichen Motive einer Person mit den metaphorischen Motiven der Gene verwechselt. Gene sind keine Puppenspieler; sie haben als Bauplan für die Erstellung des Gehirns und des Körpers gedient, und danach spielen sie keine Rolle mehr. Sie befinden sich in einem Parallel-Universum, zerstreut zwischen den Körpern, und sie haben ihre eigene Tagesordnung« (St. Pinker, How the Mind works. London 1999, zit. n. Illies 1999, 190). Die von Dawkins angeführte Erklärung, es sei »bequem, die Gene der Kürze halber in der Sprache der Absicht zu beschreiben« (Das egoistische Gen 231), verkennt das Problem und leistet lediglich dem Vorschub, dass aus einem bloßen »der bequemen Kürze halber« de facto eine nivellierende »Verkürzung« wird. Was soll der Hinweis, »die Vorstellung der Absicht« sei »lediglich eine [nützliche] Metapher« (ebd. 232), wenn sie doch dies begünstigt? Wenn der Rekurs auf »lediglich … eine Sprachfigur« (ebd. 232) den Blick auf notwendige Unterscheidungen eher verstellt, sollte man dies unterlassen – außerdem lebt die ganze Pointe dieses DawkinsBuches von dieser Nivellierung.
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Art, dass sie sich als solche selbst begreifen und »wahrheitsverpflichtet« auch andere darüber schonungslos aufklären und durch solche »Aufklärung« zu-gleich sich selbst gefährden – »Überlebensmaschinen« zwar, aber doch zu wenig schlau für diese Welt. Wären diese »Überlebensmaschinen« der Evolution noch ein wenig klüger und »schlauer« geraten, so würden diese ihre Einsichten nämlich für sich behalten, d. h., sie würden die anderen Ko-Überlebensmaschinen bei ihrem guten »Weltanschauungsglauben« lassen, um sie solcherart umso erfolgreicher, d. h. ungehinderter für ihre Absichten zu verwenden und entsprechend ausbeuten zu können. Aber nein, aufgeklärte und obendrein anständige »Überlebensmaschinen« tun so etwas nicht, sie nehmen vielmehr all jene Strapazen und Schmähungen in Kauf, um andere »Überlebensmaschinen« über sich selbst und ihre illusorische Überlebensstrategie »Religion« aufzuklären und dabei dennoch für sich die reine »Freude am Sein« zu bewahren wissen und dies auch anderen in Aussicht stellen. Dawkins’ Haltung scheint zu sein: Als unvermeidlichen Preis für sein – also keinem anderen Zweck unterzuordnenden – Wahrheitsstreben akzeptiert er freilich auch, dass durch seine Religionskritik die Funktion der Religion als »Trost für Menschen, die einen anderen verloren haben und nach dem Sinn des Ganzen suchen«, als »Hilfe für die Ängstlichen, als Stütze für die Einsamen«, schonungslos demaskiert wird, weil dies mit seiner unbedingten Wahrheitssuche unverträglich ist. Als kompensatorischen Ersatz für den Verlust der religiösen Illusionen bietet freilich das im Internet eingerichtete www. richarddawkins.net der »clear thinking oasis« einen – nichts anderem als der Wahrheitssuche verpflichteten – verlässlichen Ratgeber. Er soll die Rat- und Hilfesuchenden auf ihrem Weg begleiten zu dem von Dawkins’ »Gotteswahn« schon im Vorwort in Aussicht gestellten atheistischen Stolz und Glück, zu moralischer und geistiger Gesundheit sowieso; 117 so vermag dann ungehindert die »reine Freude am Sein« aufzukommen (um einen anderen Verkünder des neuen »AtheEs ist wohl diese ohnehin in Aussicht gestellte reiche Entschädigung, die dafür verantwortlich ist, dass Dawkins trotz seiner Einsicht in den bloßen Nutzen nicht mit seiner Wahrheits-orientierten Entlarvung der Religion zurückhält: »Religion hilft wahrscheinlich beim Überlebenskampf. Dafür gibt es ein paar medizinische Belege. Religiöse Menschen scheinen weniger stressanfällig zu sein als ungläubige. Aber das reicht mir nicht als Erklärung. Religion an sich hat keinen biologischen Vorteil, aber die Mentalität, die sich als Religiosität darstellt.« Das könnte ohnehin nur jemand tun, der zu sich »ich« sagt – eine Vorstellung, die allerdings ohnehin als eine bloß 117
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ismus« zu zitieren) 118, aber auch dem weniger nach Glück, sondern eher nach einem reinen Herzen strebenden Teil der Menschheit nicht nur ein »realistisches«, sondern »noch dazu ein tapferes, großartiges Ziel« (Gotteswahn 11) in Aussicht gestellt werden – ob er damit nicht selbst wiederum den Menschen unversehens auf den »hohen Sockel« hebt (s. u. I., 3.)? Es ist ein fortwährend der gegenwärtigen Menschheit angetanes – je nachdem von Ernüchterungs- oder ErbaulichkeitsMemen begleitetes – »Auf-den-hohen-Sockel-Erheben« und ein »Herunterholen«, das Dawkins ihr offenbar von Anfang an zumutet: »Von allen Geschöpfen ist der Mensch in einzigartiger [!] Weise durch die Kultur beeinflusst, durch Eindrücke, die aufgenommen und überliefert und überliefert werden« (Das egoistische Gen 4) – doch recht weit ist es leider, wie noch zu sehen sein wird, auch mit dieser Kultur und ihren »Memen« nicht her … Doch vielleicht gehört ein solches von Dawkins dem menschlichen Selbstverständnis zugemutetes fortwährendes »warm-kalt«, »hinauf-hinab« ja ebenfalls zu dem besonderen »Zauber der Wirklichkeit«, der unser »tiefstes Staunen« gewiss nicht weniger verdient. Auch zeigt sich ein eigentümlicher Widerspruch: denn offensichtlich schließt die naturalistische Zugangsweise von vornherein eine Perspektive aus, in der diese Sinn-Dimensionen und die entsprechenden Bildungsprozesse und deren Geltungssinn als etwas anderes als unter bloßen Aspekten der Lebensdienlichkeit (vitalen Zwecken und Nützlichkeiten) angesehen werden können. 119 Die naturalistische Perspektive lässt den Blick darauf, was sich in diesen Selbsterhaltungsaspekten nicht erschöpft, gar nicht aufkommen – und muss dies zugleich doch tun, weil auch das Dawkins’sche Aufklärungsprojekt und sein energischer Kampf gegen die »Feinde der Vernunft« sich doch selbst an Wirklichkeits-erschließenden Wahrheitsansprüchen und an ethischen Ansprüchen orientiert, die selbst offensichtlich sich in keiner Selbsterhaltungsperspektive erschöpfen. Und wenn Dawkins zufolge »die Tatsache unseres eigenen Daseins … so erstaunlich« ist, »dass man sie fast nicht ertragen kann« (Schöpfungslüge 478), dann stellt sich angesichts solcher erfahrenen »Fraglichkeit« wohl evolutionär erklärte dualistische »Täuschung« längst durchschaut, wenn auch in der Regel noch nicht überwunden ist. 118 Man fühlt sich auch hier wiederum an den – allerdings wahrlich souveränen – Aufklärer G. Lichtenberg erinnert: »Und ich dank’ es dem lieben Gott tausendmal, daß er mich zum Atheisten hat werden lassen«. 119 S. dazu auch Spaemann 2007a, bes. 63 f.
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nicht nur die berechtigte Frage, weshalb die evolutionären Prozesse denn ein Wesen »hervorgehen« lassen, das diese »Tatsache des eigenen Dasein« überhaupt – welcher evolutionären »erbarmungslosen« Nützlichkeits-Logik zufolge? – »staunend« zum Thema macht und das in der Tat »Erstaunliche« dieses »eigenen Daseins« »fast nicht ertragen kann«. Es gibt also nach Dawkins »Überlebensmaschinen«, die von sich selbst als solchen »Überlebensmaschinen« wissen (bzw. sich als solche verstehen) und darüber sogar ins Staunen geraten; seltsame Produkte, die sich die Natur – zu welchem Zweck? – da »geleistet« hat, über die man mit Dawkins nolens volens nur mitstaunen kann, da bleibt einem gar nichts anderes übrig. Und warum soll jene ja beinahe unerträgliche »Erfahrung« der »Tatsache unseres eigenen Daseins« und der damit verbundenen »Fraglichkeit« immer wieder den Menschen auch als bejahbar zumutbar sein angesichts der damit einhergehenden Erfahrung der Unerträglichkeit und Zweideutigkeit? Zuletzt stellt sich wohl unvermeidlich auch die Frage, warum man denn solche um sich selbst wissenden »Überlebensmaschinen«, und zwar ohne deren »Zustimmung«, »in eine Welt setzt«, die in dieser »blinde[n], erbarmungslose[n] Gleichgültigkeit« (Und es entsprang … 151) doch nicht gewollt, sondern als evolutionäres Spiel allenfalls »staunend« ertragen werden kann – eben von sich reproduzierenden »Überlebensmaschinen« von Genen und Memen, die, als Ergebnis bloß faktischer Prozesse biologischer Art, doch kein affirmatives: »Es ist gut, dass es dich gibt«, erlauben, sondern der sinnleere Schein und das bloße »Ist« der Fakten-Außenwelt maßgebend ist, dem allenfalls ein heroisches »trotzdem« entspricht. Ist da der Evolution erneut ein schwerer Fehler unterlaufen? Man kann es wohl nur bedauern und es als ein evolutionäres Missgeschick ansehen, dass solche »Überlebensmaschinen« auch zu sich »erwachen« (s. u. 129 f.) und ihnen so zuletzt wohl auch jenes schon erwähnte Spiegel-Widerfahrnis nicht erspart bleiben kann, das der Prediger Dawkins für sie parat hält und dies offenbar als eine besondere atheistische Offenbarung und Frohbotschaft ansieht: »Was ich hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene, die sie erzeugt haben – eine Überlebensmaschine für Gene. Und wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, denke dir: Ich bin auch eine« (Zauber 73): Dank sei Dawkins auch dafür! Trösten oder beruhigen mag man sich vielleicht durch die ja ebenfalls seinem Naturalismus verdankte Erinnerung daran, dass auch solches Selbstgefühl sich als eine »Ich-Illusion« erweist und erfreulicherweise auch jenes Gefühl des »Erstaunlichen« und des 127 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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»Nicht-ertragen-Könnens« ebenso eine entsprechende »Ausdrucksform der Materie« ist – nicht weniger freilich auch die angestrengte »Wahrheitssuche« jener so »raffinierten Maschinen«.
2.2.0 Anmerkung: Wo ein »szientistischer Naturalismus« und »Erbaulichkeit« sich begatten … Übrigens ist gerade auch in diesen Zusammenhängen nicht zu übersehen: Dawkins’ schonungslose wissenschaftliche Nüchternheit, die uns einerseits über die in der Evolution des Lebendigen abzulesende »erbarmungslose Nützlichkeit« aufklärt, »auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226) und eine abgründige Erbaulichkeit andererseits bilden – je nach Bedarf – immer wieder eine eigentümliche Allianz und erzeugen so jene – evolutionär zweckmäßige? – eigentümliche diffuse emotionale Stimmung bzw. Atmosphäre, nach der sich offenbar Einwohner der »clear thinking oasis« bisweilen sehnen. Und wo solche »Erbaulichkeit« nicht fehlen darf, da ist seltsamerweise auch die zwar wissenschaftlich für obsolet erklärte Rede von der »Seele« nicht weit: »Das Gefühl des ehrfürchtigen Staunens, das uns die Naturwissenschaft vermitteln kann [warum nur sie? Staunen Nicht-Wissenschaftler etwa weniger oder schlechter?], gehört zu den erhabensten Erlebnissen, deren die menschliche Seele [was auch immer dies sein mag? 120] fähig ist. Es ist eine tiefe ästhetische Empfindung, gleichrangig mit dem Schönsten, das Dichtung und Musik uns geben können. Es gehört zu den Dingen, die das Leben lebenswert machen, und am meisten dann, wenn es in uns die Überzeugung weckt, dass unsere Lebenszeit endlich ist« (Regenbogen 10). 121 »Nein, nimmermehr!«, so möchte man ausrufen – so redet gewiss keine »Überlebensmaschine« (auch wenn sie in den Spiegel schaut), für die sich vielmehr diese Erfahrungen des »Schönen«, die Ahnungen »tiefster Vernunft« sowie die selbstlose Auflehnung ge120 Die Frage ist freilich nicht zu unterdrücken, wo denn ein solches dem naturalistischen Haushalt ganz und gar fremdes Gespenst jetzt herkommt – und was ist denn, mit Dawkins gefragt, ihre »Substanz«? 121 Warum freilich dieses »Gefühl des ehrfürchtigen Staunens, das uns die Naturwissenschaft vermitteln kann«, sodann gar »in uns die Überzeugung« wecken soll, »dass unsere Lebenszeit endlich ist«, muss wohl ein Geheimnis Dawkins’scher Spiritualität bleiben.
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gen die »egoistischen Gene« auf eine Weise verschwistern, die ihn zu Höhenflügen befähigt, die in der Tat »Eros«, jenen berühmten platonischen »Dämon«, geradezu als einen evolutionär missratenen »Kümmerling« erscheinen lassen, so manche gewöhnliche Alltags»Überlebensmaschinen« aber wohl auch ein wenig überfordern wird! Erstaunlich viel jedenfalls, was Dawkins ihnen da zumutet bzw. mit dieser gewissermaßen »evolutionsbiologisch« variierten Trias des »Wahren, Guten und Schönen« aber auch zutrauen will. Da mag die Besinnung darauf gleichermaßen ernüchternd und auch tröstlich (und jedenfalls entlastend) sein: Unter den für seine Position maßgebenden naturalistischen Voraussetzungen vermag Dawkins ein Leben, das aus Grundsätzen bestimmt, geführt und bewährt werden will, doch gar nicht zu denken, welches darin nicht bloßen Imperativen vitaler Selbsterhaltung und -steigerung folgt, sondern dies selbst zu bloßen Illusionen, zu evolutionären Nebenprodukten erklären müsste, ebenso wie die an seine Forderungen geknüpften Wahrheitsansprüche. Und noch mehr an edlen »seelischen Erhebungen« hat Dawkins seiner Leserschaft anzubieten: »Ist es nicht eine edle, erleuchtete Art, unsere kurze Zeit unter der Sonne zu verbringen, wenn wir zu verstehen streben, was das Universum ist und wie es kommt, dass wir darin erwacht sind?« (Der entzauberte Regenbogen 23). 122 Ganz gewiss: Wer dürfte sich dieser aus der »clear thinking oasis« aufsteigenden – geradezu spirituell-poetisch anmutenden – Frage ohne seelischen Schaden entziehen? Obgleich man natürlich auch diesbezüglich gerne wüsste, mit welchem Überlebensvorteil denn jenes »Erwachen im Universum« für jene derart zu sich erwachten »Überlebensmaschinen« und auch das von ihm angeführte »VerstehenWollen« desselben verbunden sein soll – und ob hier nicht erneut »erbarmungslose Nützlichkeit« heimlich-unheimlich waltet, »auch wenn es nicht immer den Anschein hat«? Ob die Evolution nicht doch besser daran getan hätte, diese »Überlebensmaschinen ihrer Gene und [wie sich gleich zeigen wird] Meme« zu sich »erwachen« und diese zuletzt im Spiegel auch »entdecken« zu lassen, eben eine solche »Überlebensmaschine« zu sein? Nicht wenigen von ihnen wird dies 122 Wiederum ist die Frage natürlich nicht zu unterdrücken, wer denn dieses »erwachte Wir« eigentlich sein soll – wenn nicht ein Kollektiv jener »Iche«, die sich doch schon als »Illusionen« erwiesen haben, auch wenn sie sich im Spiegel als »Überlebensmaschinen« erkennen.
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gar nicht so »edel« vorkommen, vielmehr würden sie sich »angesichts« dessen doch wohl eher wünschen, besser nicht »zu sich [!] erwacht zu sein« – wenn dies nicht ohnedies erneut eine (heilsame?) evolutionäre Täuschung ist im Sinne jener von Dawkins selbst aufgedeckten »Ich-Illusion«, mit der jene kaum zu sich »Erwachten« ihre nur »kurze Zeit unter der Sonne verbringen«. Wo ein handfester »szientistischer Naturalismus« und »Erbaulichkeit« sich begatten, da tut sich offenbar ein ganz besonderer »Zauber der Wirklichkeit« auf, der, wie sich gleich näher zeigen wird, nicht wenige anfällige Gehirne »virusartig« infiziert und sich rasch ausbreitet. Ihm verdankt sich auch die noch jüngst von Dawkins herausgestellte Erfahrung des »Zauberhaften« und das damit verbundene, »uns im Innersten« berührende »zutiefst Bewegende oder [?] Beglückende« (Zauber 20); darüber hätte man ebenfalls noch gerne mehr erfahren – und nicht zuletzt natürlich über die evolutionäre Bedeutung solcher Erfahrung, d. h. über ihre Möglichkeit und Eigentümlichkeit sowie ihren genaueren Ort im »Innersten unserer selbst«: Denn gewiss haben Dawkins’ Leser auch diesbezüglich immer noch seine irritierende Auskunft über den unvermeidlich »illusionären Charakter des Ich« im Ohr (s. o. I., 1.) – und was schon von jenem »Ich« gilt, muss dies dann nicht erst recht für »unser Innerstes« und seine Erfahrungen gelten: »unser Innerstes« und das es »zutiefst Bewegende oder Beglückende« – »Illusion« oder/und »eine von einem Gehirn auf ein anderes übertragbare Einheit« (Das egoistische Gen 231) nach Art eines »geistigen Virus« – enthält Dawkins’ berühmtberüchtigte »Mem-Theorie« darauf die Antwort?
2.2.1 Dawkins’ »Mem-Theorie« 123 im Spiegel der aristotelischen Lehre von der »Geistseele« Es hat sich gezeigt: Als »animal rationale« steht der Mensch in SachBezügen und Sinn-Ansprüchen, die alle bloßen »naturhaften« Selbsterhaltungsinteressen übersteigen; als »animal symbolicum« (E. Cassirer) lebt er in einer sprachlich erschlossenen und durch »symbolische Formen« vermittelten Sinn-Welt, die in den Gehalten 123 Zu Dawkins’ »Mem«-Theorie s. auch den Beitrag von K. Appel 2010; vgl. auch Löffler 2010. »Memetik« ist nicht einmal eine bloß »para-wissenschaftliche Metapher«.
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der Kultur, Wissenschaft, Kunst, Recht, Moral, Religion Wirklichkeit gewinnt und sich darin zum Ausdruck bringt. Diese aristotelische Bestimmung des »animal rationale« impliziert somit auch die Befähigung des Menschen zur Tradition, in die er zwar hineinwächst, die er aber als seine »zweite Welt« sich stets auch erst aneignen, d. h. »erwerben muss, um sie zu besitzen« – gleichwohl so, dass das Überlieferte ihm auch fremd, nichts-sagend werden kann, sofern die abgestorbenen Inhalte nur mehr formelhaft-geistlos wie fremde Mächte reproduziert werden können. Deshalb ist Tradition, Kultur im weiten Sinn des Wortes, in ihrem Geltungssinn auch niemals als Instinktanalog »vererbbar« zu verstehen – schon deshalb nicht, weil der Mensch zu tradierten Ansprüchen immer auch in reflexive Distanz und kritische Auseinandersetzung treten kann und auch muss. Er wächst, wie schon die sprachliche Wirklichkeit zeigt, in die Sprache hinein und erzeugt sie eben darin zugleich immer neu in lebendiger Auseinandersetzung, »anverwandelnder« Aneignung und auch vermittels distanzierender Verwerfung, weil doch nur so das darin Gemeinte wirklich »zur Sprache kommt«, d. h. der jeweiligen Gegenwart auch etwas »sagt«. Schon deshalb muss jede Natur-analog orientierte Ererbungs-Vorstellung als völlig irreführend erscheinen. Dass das Überlieferte »erworben« werden (gewissermaßen »subjektiv« werden und mit dem geistigen Leben der jeweiligen Gegenwart vermittelt werden) muss, »um es zu besitzen«, enthält einen wichtigen Hinweis auf diesen aktiv-anverwandelnden, aneignenden Charakter. So eröffnet das Wissen um diese Eingebundenheit in diese kontinuitätsstiftenden Traditionszusammenhänge die Möglichkeit, dazu kritisch reflektierend (d. h. auf sich zurückbeugend) in relativierende, aufklärende Distanz zu treten und Traditionen, soziale Konventionen und kulturelle Gewohnheiten und Vorurteile auch zu prüfen, zu modifizieren bzw. zu negieren. Vor diesem Hintergrund wird rasch einsichtig, dass sich Dawkins’ »Mem-Theorie« einer undurchschauten evolutionistischen Einebnung von Natur und Kultur verdankt bzw. eben auf eine solche abzielt. 124 In diesem Sinne betont Dawkins: »What matters is that minds 124 Völlig zu Recht merkt deshalb K. Köchy mit Bezug auf die an die Überlegungen Dawkins anknüpfenden aktuellen Debatten zum Ersatz des evolutionären Geschehens auf der Ebene der Gene durch ein neues evolutionäres Geschehen auf der der Ebene der ›Meme‹ an: »Auch in diesem Fall wird eine Kontinuität zwischen beiden Geschehen suggeriert, zugleich wird jedoch vernachlässigt oder zumindest nicht explizit gemacht, dass der ›qualitative‹ Sprung zwischen der prozessualen Konkurrenz auf der
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are friendly environments to parasitic, self-replicating ideas or information, and that minds are typically massively infected.« 125 Die von ihm geltend gemachte Analogie von Genen und Memen – »Meme« bestimmt Dawkins als »Einheiten der kulturellen Vererbung« (Gotteswahn 268) – und die Rede von »kultureller Vererbung« sowie die damit einhergehende Einebnung der Unterscheidung von Natur und Kultur vermögen diesen genannten elementaren Sachverhalten überhaupt nicht gerecht zu werden und verweisen so lediglich auf ein besonderes Defizit seiner naturalistischen Konzeption: »Wir brauchen einen Namen für den neuen Replikator, ein Substantiv, das die Einheit der kulturellen Vererbung vermittelt, oder eine Einheit der Imitation. Das Wort ›Mimem‹ kommt von einer geeigneten griechischen Wurzel, aber ich suche ein einsilbiges Wort, das ein wenig wie ›Gen‹ klingt. Ich hoffe, meine klassisch gebildeten Freunde werden mir verzeihen, wenn ich Mimem zu Mem verkürze. […] Beispiele für Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen. So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien und Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen Prozess, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann. Wenn ein Wissenschaftler einen guten [!] Gedanken hört oder liest, so gibt er ihn an seine Kollegen und Studenten weiter. Er erwähnt ihn in seinen Aufsätzen und Vorlesungen. Kommt der Gedanke an, so kann man sagen, dass er sich vermehrt, indem er sich von einem Gehirn zum anderen ausbreitet« (Das egoistische Gen 226 f.). 126 Darun-
Ebene von ›Genen‹ und einer solchen auf der Ebene von ›Memen‹ eben darin besteht, dass die Konfrontation von theoretischen Konzepten auch auf Gründe rekurrieren muss. Kulturelles oder theoretisches Verhalten ist damit, wenn schon nach dem Konzept von Versuch und Irrtum strukturiert, in Teilen absichtsvolles Verhalten« (Köchy 2007, 77). 125 Dawkins, Viruses of the Mind 162, zit. n. Peetz 2013, 93. 126 Treffend und kritisch erläutert A. Heinrich dieses Mem-Konzept Dawkins’: »Die in Analogie zu den Genen angenommenen Einheiten der geistigen bzw. kulturellen Evolution werden als Meme bezeichnet … Die Meme konkurrieren um Aufmerksamkeit primär in menschlichen Gehirnen, aber auch in sekundären Speicher- und Kommunikationsmedien wie Büchern, Datenbanken und dem Internet. Entscheidend für diese Sicht des Geistigen sind die Mittel, mit denen sich die Meme durchzusetzen haben. Argumente sind nur eine Möglichkeit unter vielen, und sie sind oftmals nicht die effektivsten ›Waffen‹ der Meme« (Heinrich 2004, 64). Zu Dawkins’ naturalisti-
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ter befinden sich dann hoffentlich auch dauerhafte ErbaulichkeitsMeme wie »Menschenwürde« und Menschenrechte … In dieser bezeichnenderweise völlig Geltungs-indifferenten und entsprechend nivellierenden Aufzählung dieser Phänomene bleibt der Sachverhalt völlig ausgeblendet, dass lebendige Tradierung stets auch an Lernprozesse gebunden ist und deshalb kritische Distanznahme, Prüfung und kritische – d. h. Geltungs-orientierte – Aneignung oder Verwerfung impliziert und so ein lebendig-kreatives Sinngeschehen ist, das allein auch Verstehen und Geltungssinn ermöglicht. All dies spielt in diesen naturalistischen »Argumentationsformen« (in Wahrheit selbst bloße »Meme« wie Wahrheits-indifferente Melodien oder Kleidermoden) nicht einmal ansatzweise eine Rolle und macht so auch die damit einhergehende naturalistische »EntSubjektivierung« besonders deutlich. In dieser offenbar selbst memetisch infizierten Memtheorie wird von diesen »von Gehirn zu Gehirn« überspringenden »Memen« offenbar tatsächlich nicht wenig »übersprungen«. Dies zeigt sich schon in dem von Dawkins angeführten Beispiel selbst: Denn der von jenem Wissenschaftler gehörte »gute Gedanke« ist »gut« doch nicht deshalb, weil er leicht »ins Gehör« geht, nützlich, sensationell (»angepasst«) ist, sondern, möglicherweise durchaus »sperrig«, vielmehr geltungsrelevant ist, seine »Güte« also im »Raum der Gründe« dem »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« verdankt, die somit der argumentativen Rechenschaftspflicht ausgesetzt ist und doch auch nur so, wieder mit Dawkins gesprochen, nicht nur »ankommt, sondern »gut ankommt«, also auch nicht bloß Nützlichkeits-orientiert auf »Überredung«, sondern auf Wahrheits-orientierte Überzeugung abzielt, die gerade nicht darauf Rücksicht nimmt, ob der Gedanke »gut ankommt«, sondern dafür gegebenenfalls sogar Schmähung, Widerpruch, Ausgrenzung in Kauf nimmt … Freilich, Menschen als »Vehikel« des Bestandes von »Genen und Memen« tun so etwas nicht. Übrigens hätte Dawkins, von seiner völlig maßstablosen »Mem-Theorie« her, auch überhaupt kein Kriterium dafür, weshalb denn die von ihm beispielhaft angeführten »Gott«- bzw. »Fegefeuer«-Meme (nicht zuletzt in ihrer von ihm diagnostizierten Kombination) keinen Bestand haben sollen, zumal ihnen Dawkins selbst doch »große psychologische Anziehungskraft« für Gehirne (Das egoistische Gen 227 f.) zubilligt und sie entscher (nicht zuletzt auch »Geltungs-blinden«) Mem-Konzeption vgl. auch die treffende Kritik von Heinrich 2004 u. 2008.
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sprechend »gut ankommen«, d. h. »sich von einem Gehirn zum anderen« ausbreiten, d. h. sich einfach »durchsetzen«. Taugliche Maßstäbe gegen eine derartige »normative Kraft des Faktischen« hat Dawkins »Mem«-Theorie freilich nicht zur Verfügung 127 – im Gegenteil: Sie unterwandert in diesen biologistischen Tendenzen stillschweigend solcherart auch alle im Namen der »Aufklärung« erhobenen Ansprüche und nivelliert mit solcher von Dawkins ausdrücklich geltend gemachten »Analogie« die entscheidende »Sinn«- und Geltungsdimension bzw. -differenz. Auch daraus wird in grundsätzlicher Hinsicht, gegen Dawkins’ schiefe – obgleich keine »direkte Entsprechung« (Gotteswahn 268) 128 beanspruchenden – Analogien von Gen- und Memplexen deutlich: Kulturelle Traditionen können nicht bloß als Verlängerung der Naturgeschichte und entsprechend als etwas Sekundäres verstanden werden; weil sie sich nur als in jeweiliger Gegenwart neu geistig angeeignete am Leben erhalten und nur so »wirklich« sind, verlangt dies immer auch ihre aktive Umbildung und Anverwandlung und können auch nur so das jeweilige geschichtliche Selbstverständnis der Menschen und ihre Existenz motivieren, durchdringen und tragen. Deshalb ist eine an Geltungs- und Sinnansprüchen orientierte Tradition auch niemals als quasi-naturgeschichtliche bloße Eingewöhnung im Sinne von Memplexen zu verstehen, sondern steht immer unter der Nötigung von kritischer Aneignung und Distanzierung, die immer auch die Geltungs-orientierte, d. h. rechenschaftspflichtige reflexive Stellungnahme verlangt und somit alle naturgeschichtliche Analogie durchbricht, die gerade durch den relativierenden – vermeintlich Analogie-stützenden – Hinweis Dawkins’ nahegelegt wird: »Die Einzelheiten mögen individuellen Veränderungen unterworfen sein, aber das Wesentliche bleibt unverändert« 127 Das von ihm geltend gemachte »allgemeine Grundprinzip«, »das auf alles Leben zutrifft«, reicht dafür jedenfalls nicht aus – nämlich »das Gesetz, dass alles Leben [!] sich durch das unterschiedliche Überleben sich replizierender Einheiten entwickelt. Das Gen, vielleicht das DNS-Molekül, ist zufällig die Replikationseinheit, die auf unserem eigenen Planeten überwiegt. Es mag andere geben. Wenn es andere gibt, so werden sie – vorausgesetzt, bestimmte andere Bedingungen sind erfüllt – fast unweigerlich zur Grundlage für einen evolutionären Prozess werden« (Das egoistische Gen 226). 128 Geringe Abweichungen finden deshalb ihre rasche Erklärung: »Die Tatsache, dass Meme durch … selbstnormalisierende Vorgänge manchmal sehr originalgetreu weitergegeben werden, ist eine ausreichende Antwort auf die häufigsten Einwände gegen die Analogie von Genen und Memen« (Gotteswahn 274).
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(Gotteswahn 270 f.). Jenes zwar keine »direkte Entsprechung« (Gotteswahn 268) behauptende analoge Verständnis von Genen und Memen und die Rede von kultureller Erbschaft (ebenso wie die von Dawkins als »überlebenswert«-sichernde angeführte »Imitation« und »Wiedergabetreue«, d. h. »Kopiergenauigkeit«, in: Das egoistische Gen 229 f.) erweisen sich als ein völliges – biologistisches – Missverständnis, lässt sich doch die lebendige Wirklichkeit des »Geistigen« – überlieferte Kultur und stets aneignungsbedürftige, kritisierbare und »anzuverwandelnde« Tradition – nicht in dieser »naturalisierenden« Analogie auffassen, ohne den damit verbundenen Geltungssinn und somit den Anspruch des Tradierten an die Gegenwart geradewegs zu eliminieren. Dies betrifft insbesondere auch den die Generationen in der Kontinuität der Zeitenfolge umgreifenden kulturellen Prozess, der selbst eine produktive Auseinandersetzung mit dem – nur so auch lebendig bleibenden – Tradierten voraussetzt; nur so kann etwas auch für die jeweilige Gegenwart »Bedeutendes« erst »zur Sprache kommen«, das deshalb auch etwas prinzipiell anderes ist als die Vererbung oder der Kampf von »Mem-Beständen«. Die in dieser Aneignung erst zu leistende und je individuelles Verstehen erst ermöglichende Neuerzeugung vollzieht so stets eine umbildende Abwandlung und Anverwandlung des zu Verstehenden, das nur in solcher aneignenden Durchdringung im Empfänger wirklich ist und Sinn-orientierten Bestand gewinnt. Aus all diesen Gründen ist deshalb das an der genetischen Vererbung orientierte, völlig Subjekt- bzw. »Geist-vergessene« Mem-Modell völlig irreführend, zumal es dabei ja auch nicht lediglich um eine zunehmende Modifikation in der Anwendung von Regeln in der Weiterreichung »über eine unbegrenzte Zahl von Nachahmungsgenerationen« geht, wie Dawkins (Gotteswahn 269 f.) dies bezeichnenderweise nahelegt. Nicht zuletzt dies, dass kulturelle Tradition nur wirklich ist in und gebunden an konkrete, geschichtlich erschlossene Verstehenshorizonte einer Sprachgemeinschaft, »subjektive Geistigkeit« in ihrer Konkretheit stets ein- bzw. rückgebunden (»situiert«) ist in die interpersonal vermittelten Dimensionen bzw. Gestalten des »objektiven Geistes«, innerhalb dessen wir uns immer schon bewegen und »orientieren« – all diese für das Verständnis von Tradition, kulturellen Prozessen und Verstehen usw. ganz elementaren Sachverhalte können in dem von Dawkins angebotenen Rahmen seiner »Mem-Theorie« nicht einmal ansatzweise thematisiert werden. Doch dies kann hier nicht weiter verfolgt werden. Indes impliziert die Charakterisierung als »animal rationale« in 135 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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nuce auch eine Antwort auf jene unverkennbaren naturalistischen Züge, die in Dawkins’ Vergleich zutage tritt, wonach die »memetische natürliche Selektion« in Analogie zur natürlichen Selektion der Gene bzw. der Genplexe funktioniert, und damit das Spezifische menschlicher Kultur und Tradition jenseits bloßer lebensdienlicher Funktionen gar nicht in Sicht bringen kann 129. Zu Dawkins’ Mem-Theorie passt übrigens recht genau seine freimütig geäußerte Zielsetzung, wonach er trickreich »überreden und sogar begeistern« wolle (so gleich im Vorwort seines Buches »Der blinde Uhrmacher 8), zumal dies auch der beabsichtigten Ausbreitung des »Mem-Bestandes« in Virus-empfänglichen Gehirnen sehr entgegenkommt – auf den feinen Unterschied zur Überzeugung kommt es unter diesen Vorzeichen dann gar nicht mehr an: wie denn auch? Dawkins’ Einblick in die strategische Trickkiste trägt lediglich dem Sachverhalt Rechnung, »dass sich die erfolgreiche Verbreitung bestimmter Gedanken alias Meme nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, ihren argumentativen Qualitäten verdankt, sondern dass beispielsweise Wiederholung, Provokation oder Angstmachen ebenso gute Instrumente sind, um in die Gehirne der Menschen einzudringen und sich dort festzusetzen« 130. Aus dieser Einsicht speist sich offenbar nicht zuletzt sein Bekenntnis, seinen eigenen weltanschaulichen Auffassungen mit Überredungs-Strategien und entsprechenden »Tricks« Eingang zu verschaffen. Nein, Dawkins’ Mem-Theorie hat auch ihr Reizvolles: Seine Atheismus-Meme finden, so wie »Melodien«, »Schlagworte«, »Parolen«, Moden« ihre Mempoole und mit entsprechenden Tricks in den als Mempoole fungierenden Medien rasche Virus-artige Verbreitung – nicht zuletzt in zwar Aufklärungs-resistenten, jedoch an besonderer Immun-Schwäche leidenden Gehirnen. In Dawkins’ Zu129 Zur Kritik an Dawkins’ soziobiologischer Konzeption vgl. auch Koslowski 1984. – Nagels Teleologie-Konzeption richtet sich natürlich ebenso entschieden gegen eine »soziobiologistische« Reduktion bzw. Ableitung von normativen Ansprüchen aus biologischen Phänomenen. 130 Heinrich 2004, 66. Denn es »ist in der Tat nicht einzusehen, warum jemand, der seine Äußerungen für nichts als ein Stück kultureller Evolution hält, überzeugen wollen sollte, wenn er mit Drohungen, Versprechungen und Überredung größere Effekte erzielen kann« (Heinrich 2002, 260). Es wird sich zeigen: Dawkins’ MemTheorie bietet als solche überhaupt keinerlei Kriterien für diesbezüglich erforderliche Differenzierungen. Dies gilt auch für die im Interview geäußerte These Dawkins’, dass »Glauben, also Überzeugung ohne Beweise, gefährlich unerschütterlich ist«, für die seine Mem-Theorie überhaupt keine Kriterien bietet – außer dem faktischen Erfolg.
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bzw. Umgang mit theologischen und philosophischen Fragestellungen spiegelt sich – in gewissem Sinne ja durchaus konsequent – in auffälliger Weise jenes Verhaltensmuster wider, das ihm als Evolutionsbiologen wohlvertraut und offenbar ja auch seiner Mem-Theorie gemäß ist. Die von Dawkins der Natur entnommenen Beispiele sind schon deshalb völlig irreführend, weil sie gerade den entscheidenden Sachverhalt verdecken bzw. verfehlen, dass dieser kulturelle Prozess der Tradition als ein geistiger Prozess wesentlich durch produktive Auseinandersetzung und Aneignung – sei es eben auch »Verwerfung« – des Geltungssinnes bestimmt und verlebendigt ist, der nicht nach der Weise einer naturhaften Affektion – einer Art »Ansteckung« und virusartigen Verbreitung und Vermehrung gewissermaßen – verstanden werden kann. Die von Dawkins angebotenen biologischen Interpretationsmuster sprechen ohnedies für sich: Meme vermehren sich demnach mit Hilfe der Überredungs-Tricks, wie erwähnt, im Mempool, »indem sie von Gehirn zu Gehirn springen durch einen Prozeß, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann«. Einer solchen sprunghaften Mem-Vermehrung haben sich offenbar wenigstens Dawkins und die »brights« in entscheidenden Lebensbereichen (in der von ihm beanspruchten rationalen Überwindung sozialer, moralischer und nicht zuletzt eben moralischer Konventionen) ja durchaus erfolgreich entzogen. Denn wenigstens für sie trifft ja bemerkenswerterweise nicht zu: »Religiöses Verhalten ist bei den Menschen die leicht erkennbare Entsprechung zum Ameisenbad oder dem Bau der Laubenvögel. Es verbraucht Zeit und Energie und ufert oft ebenso aus wie das Gefieder eines Paradiesvogels« (Gotteswahn 227 f.). Es sollte deutlich geworden sein: Eine Folge seines unkritischen Naturalismus ist auch die unbedachte Übertragung der biologischen Evolutionsfaktoren bzw. -mechanismen der Selektion, Mutation und Anpassung auf menschliche Traditionen, somit auf kulturelle Prozesse und bzw. geistesgeschichtliche Zusammenhänge, Rezeptions- und Wirkungsgeschichten – genau einer solchen unreflektierten Übertragung verdankt sich jedoch der pseudowissenschaftliche Anspruch der Dawkin’schen Mem-Theorie, welche die darwinistischen Prinzipen bzw. Muster der Evolution gleichsam auch auf die kulturelle Evolution und ihre höchsten Erscheinungsformen überträgt. Sie nivelliert in der für sie charakteristischen biologistischen Analogisierung von Genen und Memen den entscheidenden Unterschied von Natur und 137 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Kultur, Faktizität und begründungspflichtiger bzw. fähiger Geltung, Vererbung und anzueignender Tradition, Natur und Normativität. Die dem Vergleich zugrunde liegende Vorstellung, dass sich Meme analog den Genen gewissermaßen selbst reproduzieren bzw. kopieren und vermehren, ist völlig irreführend und verkennt so auch die Tradierung geistig-kultureller Gehalte – mit der unvermeidlichen Folge, dass damit auch die sinn- und geltungskonstitutive Differenz zwischen Natur und Kultur und somit zwischen faktisch/gültig nivelliert wird. Ein anderer Sachverhalt wurde schon berührt: Dawkins’ eigenes Unternehmen dient offenbar selbst nicht bloß der biologischen Selbsterhaltung, ist also offenbar auch nicht nützlich im Sinne einer erfolgreichen »Mem-Verbreitung« (Gotteswahn 228) – »wenn mit ›Nutzen‹ der Darwinist in der Regel« meint, »dass die Überlebensaussichten für die Gene eines Individuums sich verbessern«. Dawkins’ eigene Argumentation und kritische Reflexion über den wahren Status und die biologische Wert und Funktion der Religion wirkt indes destabilisierend, ist also selbst durchaus »lebensfeindlich«, sofern sie sich offenbar an höheren, nicht bloß funktionalen Interessen im evolutionären Kampf aufeinanderstoßender »Memplexe« orientiert; wäre nämlich Letzteres der Fall, so bräuchte sich ja auch niemand damit auseinanderzusetzen. Dawkins’ Unternehmen wäre seltsamerweise in höchstem Maße selbstwidersprüchlich: Wenn ja auch der Gottes-Gedanke selbst ein »ererbtes« »Mem« wie Melodien oder Kleidermoden darstellt, das ihm zufolge ja für viele Menschen eine sehr nützliche – stabilisierend-lebensdienliche – Funktion erfüllt (als Trost, Kompensation von Ohnmacht, Ermutigung u. Ä.) – warum will Dawkins diese Menschen ihrer Überlebenshilfen berauben und ihre Gültigkeit entlarven, wäre es nicht besser, sie bei ihrem vorteilhaften »guten Glauben« zu lassen? Mehr noch: Wenn Religion ein evolutionäres »Nebenprodukt« mit gleichwohl überlebensdienlichen Folgen ist, dann wäre es doch lediglich konsequent, diesem Überlebensvorteil nicht den Boden zu entziehen – denn welchen evolutionären, »erbarmungsloser Nützlichkeit« folgenden Sinn hat denn die Aufdeckung des illusionären Charakters der Religion? Wenn religiöse Traditionen diesen evolutionären Sinn und Fitness-Funktion haben, dann ist es geradezu unvertretbar, dieses zu bekämpfen – gar als einen Feind des Menschen! Meme, die Verhalten und Leben stabilisieren, 131 müssen 131
Konsequenterweise hätte Dawkins sich von seinen darwinistisch-biologischen Vo-
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unangetastet bleiben, um die Überlebenschancen zu erhalten und einen gesellschaftlichen Destabilisierungsprozess zu verhindern 132, und so den Fortbestand dieser Gottes- bzw. Religions-Meme zu sichern. Noch einmal sei es betont: Von seiner Gesamtkonzeption her und im Blick auf seine schon in der Schrift »Das egoistische Gen« raussetzungen her, auch für die gesundheitsdienliche und psychisch stabilisierende Rolle der Religion interessieren müssen, d. h. für diese vitalen Aspekte der Religion als medizinisches Arsenal im Dienste der Erhaltung und Beförderung der leiblichen und psychischen Gesundheit – ein Sondergebiet der Neurotheologie. Der Hinweis sei hier gestattet: T. Passie u. a., Neurotheologie. In: Der Nervenarzt (2012). Online-Vorabveröffentlichung vom 6. April 2012: http://dx.doi.org/10.1007/s00115-011-3384-6. Demnach gibt es eben gesündere und ungesündere Religionen, auf die man bei der Ernährungsweise Rücksicht nehmen und geistige Nahrungszufuhr entsprechend auf ausgewogene religiöse Mischkost abstimmen sollte. Erst recht hinsichtlich der Reproduktionsfreudigkeit – ihrer angeblichen Reproduktions-fördernden Rolle – scheint der Religion eine wichtige Bedeutung zuzukommen. Nicht weniger irritierend – der Religionskritik ins offene Messer laufend – ist freilich die Argumentation: »Die Evolution bevorzugt Gläubige so stark, dass die Tendenz, religiös zu sein, sich mit der Zeit in unseren Gehirnen verankert hat« (Lennox 2013, 31). »Wohlfühl-orientierte« Religionen können das wohl noch viel besser. Dass eine solche Betonung der medizinischpsychologischen Funktion der Religion – etwa auch die mitunter geltend gemachte positive Korrelation zwischen »religion und wellbeing« – der Religionskritik Dawkins buchstäblich entgegenkommt, ist unschwer zu erkennen. Denn natürlich hält Dawkins solcher »funktionalen« Rechtfertigung der Religion – ganz zu Recht – entgegen, dass die Halt-gebende Rolle der Religion und ihre Trostspendung keine »Wahrheitsgarantie« enthalte – und auch der Vergleich Dawkins’ lässt entsprechend nicht lange auf sich warten, rasch zu erklären, dass auch Drogen eine psychisch stabilisierende Wirkung haben … Eine andere Frage ist freilich die, ob die von Dawkins’ hier eingemahnte Wahrheitsdimension in der Beurteilung der Religionen nicht über den evolutionären Aspekt der Angepasstheit und des Überlebensvorteils hinausweist – und ebendiese Dimension in seiner evolutionistischen Erklärungsschema gerade keinen Platz finden kann. 132 Dies gilt auch für den Entlarvungs-strategischen Hinweis Henkels: »Das Phänomen eines universellen religiösen Bewusstsein geht nicht auf göttliches Wirken zurück im Sinne eines Geschenks an den Menschen, sondern ist erklärbar als in der Evolution für ihn vorteilhafte Deutungs- und Anpassungsleistungen gegenüber Natur und Schicksal. Dass der homo sapiens und womöglich schon dessen Vorgänger religiöse Vorstellungen entwickeln, muss keineswegs erstaunen, sondern bot sich an – aus vielfältigen sozialen und kulturellen Gründen« (Henkel 2012, 208). Wäre eine solche Erklärung stichhaltig, so müssten die Autoren einschlägiger – aufklärerischer – Entlarvungen nicht nur als evolutionäre Irrläufer bzw. als Störenfriede der Evolution angesehen werden; dass eine solche geltungsorientierte Aussage selbst in Evolutionsprodukten auftritt, wäre demzufolge etwas, was aus evolutionären Maßstäben nicht verständlich zu machen ist, zumal solche Einsicht selbst doch offenbar überhaupt unter evolutionären Gesichtspunkten gleichermaßen unerklärlich wie auch sinnlos wäre.
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vorgestellte »Mem-theoretische« Erklärung der Gottesvorstellung verfügt Dawkins auch über keinerlei Kriterien dafür, die – über einen lediglich de facto ablaufenden Verdrängungsprozess hinaus – die Bekämpfung einschlägiger »überlebenswert«-orientierter »Meme« rechtfertigen könnten. Es behielte der Koexistenz-sichernde Befund zugleich schon das letzte Wort: »Gott existiert, und sei es auch nur in der Gestalt eines Memes, das in der von der menschlichen Kultur geschaffenen Umwelt einen hohen Überlebenswert oder eine hohe Ansteckungsfähigkeit besitzt« (Das egoistische Gen 228). Sofern bzw. solange dies »de facto« so ist, geht es »evolutionslogisch« gemäß der »natürlichen Auslese« eben durchaus »mit rechten Dingen zu« – Punkt. Die Frage ist demnach nicht zu vermeiden: Welche überlebensdienliche Funktion erfüllt also diese von Dawkins intendierte Entlarvung und die sodann beabsichtige »Bekehrung zum Atheismus« selbst – ist das dann, seiner eigenen Theorie zufolge, nicht selbst eine bloße Strategie der Überlebensmaschine Dawkins zur Verbreitung des Dawkins’schen Gen- und Mempools? Dann braucht man sie allerdings nicht ernst zu nehmen, sondern muss sie nur in ihrem »egoistischen« Anspruch durchschauen. Man sieht, Dawkins selbst sägt auf dem Ast, auf dem er sitzt. Also erst recht wäre an die von ihm so eindringlich betriebene Aufklärungsarbeit die Frage zu richten: Welchen biologisch-evolutionären Wert hat denn gemäß diesen »vitalen« Maßstäben eigentlich die von Dawkins intendierte Aufklärungsarbeit, die ja den genannten naturalistischen Prämissen zufolge selbst nur »empirisches Geschehen« sein könnte und nach der es überdies wohl ohnehin am besten wäre, die Menschen in ihrem »guten Glauben« an die Religion zu belassen und sie entsprechend ausnutzen zu können? Was wäre der aus der Mission des Atheismus gewonnene Nutzen – für wen und warum sollte man dann aber bloß »nutzenorientieren« Begründungen folgen? Und vor allem: Wenn die Angehörigen der biologischen Art Mensch mit der religiösen Scheinwelt besser und angepasster leben – warum, um Dawkins’ willen, raubt man ihnen diese Nische, wenn doch das den aufgeklärten Kreisen die Möglichkeit bietet, diese religiös Umwelt geschickt zu steuern und zu manipulieren? Da fallen also heimtückische »Meme«, die ihre Entstehung doch selbst den evolutionären Mechanismen verdanken, ebendiesen in einem memetischen Akt der Sabotage gleichsam in den Rücken – ob diesen Memen in entsprechenden »minds« wohl eine dauerhafte freundliche Umgebung beschieden sein wird? 140 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Dawkins’ eigene Aufklärungsstrategie mahnt demnach zur Vorsicht: Denn nicht allein die Religion, sondern auch Dawkins’ eigenes religionskritisches Unternehmen unterliegt wohl jener von ihm betonten Anpassungs-dienlichen »darwinistischen Zwangsläufigkeit« (Gotteswahn 225): »Die Natur kann sich leichtfertige Spielereien nicht leisten. Erbarmunglose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226). Schönen Dank für diese Aufklärung – dann hat man freilich entweder keinen guten Grund, Dawkins’ eigener »anscheinender« Wahrheitssuche und ihren Ergebnissen Glauben zu schenken, oder Dawkins’ Unternehmen erweist sich selbst insofern als widersprüchlich, als »Verstoß gegen die darwinistische Logik«, zumal die Aufdeckung der »erbarmungslosen Nützlichkeit« doch in Wahrheit nicht nützlich, sondern eher höchst schädlich sein müsste bzw. sich als ein lediglich raffiniertes Überlistungsmanöver einer »Überlebensmaschine« entpuppt 133. Noch einmal: Ist also Dawkins’ »Gotteswahn« selbst als eine raffinierte Überlebensstrategie einer »Überlebensmaschine« ansehen? Zur Erinnerung: »Nichts als die Wahrheit« sucht er – und meint damit offensichtlich doch anderes, als seinen dominanten Genen und »Memen« lediglich ihren Bestand und weite Verbreitung zu sichern. Geht es also um »nichts als die Wahrheit« oder letztlich lediglich um die Optimierung der Überlebenssicherung des Gen- und Membestandes für künftige Generationen – lässt sich also Dawkins’ Mem-Theorie auch auf sie selbst anwenden – und erklärt dies nicht auch recht einfach und elegant jene »New Atheist Bus Campaign« selbstbesorgter, Mem-infizierter »Überlebensmaschinen«? So wie die Maschine »Affe« »für den Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist, ein Fisch … eine Maschine [ist], die Gene im Wasser fortbestehen lässt« (Das egoistische Gen 64), so versucht es Dawkins für seine Gene und »Meme« eben mit seinen Büchern und mit einer Bus-Campaign«. Wie Dawkins dem Dilemma des Selbstwiderspruchs entgehen möchte, bleibt sein Geheimnis. Es bestätigt sich: Dawkins reflektiert bemerkenswerterweise auch nicht auf sein eigenes Tun und auf die darin leitende Wahr-
133 Die von Dawkins vorgelegte – offensichtlich als weit verbreitet unterstellte – Liste von »religiösen Memen« ist eine Ausgeburt seiner ungezügelten Phantasie: ein Dawkins’scher Memplex der besonderen Art mit der leicht durchschaubaren Absicht ihrer viralen Verbreitung; auch die »Überzeugungskraft«, die er dem offenbar beimisst, ist zugleich ein unfreiwilliges Zeugnis davon, wie Dawkins seine Leserschaft einschätzt.
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heits-orientierte und aufklärend-»emanzipatorische« Intention, die sich offenbar nicht in vitalen Interessen, lebensdienlichen Aspekten erschöpft, d. h. nicht lediglich den Standards der Selbsterhaltung und Nützlichkeits-orientierten Lebenssteigerung folgt. Und wie schon gesagt: Wer wollte seiner aufklärerischen Mission nicht unbedingte Wahrheitssuche, sondern etwa andere – bloß nützlichkeits- oder gewinnorientierte – Motive der Mempool-Erweiterung unterstellen; müsste jedoch nicht genau dies als eine unvermeidliche Konsequenz seiner eigenen »Mem-Theorie« erscheinen, falls diese richtig bzw. sinnvoll wäre? Denn diese selbst verdankt sich einem Mempool zugehörigen »Memen«, die sich selbst in ihrer »Absicht« und Macht« durchschauen und, derart sich selbst relativierend, gewissermaßen über ihren genetischen bzw. »memetischen« Schatten springen. Eine weitere Konsequenz, die aus der Verknüpfung der Dawkins’schen Memtheorie mit anderen Aspekten seines »Naturalismus« resultiert, wäre dies: Folgt man seiner Vorstellung von einer »Welt voller Gehirne, in der Meme darum kämpfen, diese ›Lebensräume‹ zu besiedeln«, so wäre auch Dawkins’ Bekehrungs-Projekt in Wahrheit doch lediglich ein solches, in dem nicht so sehr von ihm angeführte »helle Köpfe« die Menschheit von den »Feinden der Vernunft« befreien, sondern lediglich von Gehirnabläufen produzierte »Memplexe« von bestimmter physikalisch-chemischer Beschaffenheit auf anders beschaffene Memplexe reagieren. Demnach »bekämpfen« und verdrängen (metaphorisch gesprochen) »Mempoole« einander als »natürliche Faktoren«, als bloße Abläufe der Faktenaußenwelt; kulturelle Auseinandersetzungen sind in Wahrheit eben Gehirnprozesse, »in der Meme darum kämpfen, diese ›Lebensräume zu besiedeln‹« – nicht »wahrer«, wohl aber dominanter: Dawkins’ vermeintlich »humanitär inspirierter« Kampf gegen den Feind Religion ist »in Wahrheit« ein auf physikalische Gesetze rückführbarer Kampf um Vorherrschaft: Kultur ist im Letzten Physik, oder mit Kant gesprochen: »In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede« 134. Dawkins’ Stolz, Tapferkeit, Glück usw. folgt bzw. erliegt bestenfalls einem schönen Gefühl … Genau genommen treiben Dawkins’ »Meme« mit ihm selbst ein teuflisches Spiel – sie verbreiten sich buchstäblich auf seine Kosten, während er, der wahrhaftig »nichts als die Wahrheit« suchende Anführer der »brights«, vermeintlich selbstlos
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Kant VI 341.
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die rollende Bus Campaign finanziert und ihm dabei bestenfalls ein gutes Gefühl bleibt. Als Instrumente im Dienste der Mempool-Verbreitung für egoistische Gene, die also auf die größtmögliche Maximierung des eigenen Vorteils abzielt, fungieren bekanntlich auch Bücher. Ein Autor, der sich angeblich in besonderer Weise für philosophische Fragen interessiert und sich zugleich einer Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Positionen verschließt, weckt damit schon den Eindruck, dass dies mit Überlebens-orientierter Sicherung von »Mem-Beständen« zu tun haben könnte, zumal diese sich offenbar eben doch nicht so einfach »vererben«. Doch wie auch immer: eine höchst bemerkenswerte Mempool-Verbreitungsaktion! Hat die Überlebensmaschine Dawkins Recht, dann sichert er sich mit seinem im Dienste der Mem-Verbreitung stehenden Buch lediglich einen Überlebensvorteil. Infolgedessen kann diese Dawkins’sche Theorie freilich auch nicht ernst genommen werden, sondern ist vielmehr als eine mehr oder weniger raffinierte Strategie zu durchschauen; und auch seine Beteuerung, »nichts als die Wahrheit« und das sachorientierte Gespräch mit den Lesern zu suchen, wäre somit nichts als ein mehr oder weniger schlaues Ablenkungsmanöver. Lediglich eine Konsequenz daraus ist in der Tat dies: »Ist seine [Dawkins’] Theorie richtig, dann kann er sein Buch nur geschrieben haben, um sich bzw. seinen eigenen Genen Vorteile irgendwelcher Art zu verschaffen. Man tut dann allerdings ganz unrecht, die Theorie unter dem Aspekt ihrer möglichen Wahrheit zu betrachten.« 135 Einfach, aber wahr. Völlig zu Recht kritisiert auch Graf Dawkins’ biologistisch kurzgeschlossene Mem-Theorie, die erneut eindrucksvoll die prinzipielle Differenz von Natürlichem und Geistigem nivelliert und übrigens auch seinen moralisierenden Ansprüchen einer Religionskritik im Grunde das Fundament entzieht: »Was in der Naturgeschichte die Gene, seien in der Geschichte von Kultur und speziell Religion die Meme. Meme, definiert als ›Einheiten der kulturellen Vererbung‹, sind gedankliche Konstrukte im derzeit modischen Versuch, in Kritik jeder kritizistischen, Grenzen des Wissenkönnens bedenkenden Erkenntnistheorie alle Wirklichkeit, gerade auch kulturelle Phänomene, in biologischen Begriffen zu deuten.« Seinem Anspruch zufolge wisse Dawkins »ganz genau, wie Kultur inklusive der Religion funktioniert: durch ›memetische natürliche Selektion‹. Sein Bild einer ›Welt 135
Spaemann/Löw 1982, 259.
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voller Gehirne, in der Meme darum kämpfen, diese »Lebensräume« zu besiedeln‹, entsteht durch genau jenen Objektivierungsmechanismus, den er für die Ursünde des religiösen Bewusstseins hält. Ein mentales Konstrukt, das Mem, wird reifiziert und gewinnt so den Status einer kulturellen Gegebenheit. Konkurrierende Religionen seien nur verschiedene ›Memplexe‹. ›Vielleicht entspricht der Islam einem Fleisch fressenden und der Buddhismus einem Pflanzen fressenden Genkomplex.‹« 136 Es hat sich gezeigt: Dass Kulturleistungen (und zwar als kulturelle Tätigkeiten und als Produkte) in ihrem »Tradieren« (d. h. ihrer Weitergabe und ihrem Verstehen) stets auf bewusster Aneignung und geltungsorientierter Einsicht beruhen, jedenfalls ihrem Anspruch nach (und auch in ihren Abänderungen) darauf bezogen bzw. angewiesen bleiben – während evolutionäre Naturprozesse einfach faktisch ablaufen, d. h. »naturwüchsig« sind, auch dies bleibt in einer solchen naturalistisch verkürzten »Mem-Theorie« völlig unberücksichtigt.
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Graf 2008, 25.
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3. Weitere Konsequenzen aus Dawkins’ Naturalismus: Sein energischer – und zugleich widersprüchlicher – Kampf gegen das Vorurteil, »Homo sapiens auf einen heiligen Sockel zu stellen, für immer getrennt von allen anderen Spezies« 137 Es hat sich schon erwiesen: Dawkins’ evolutionsbiologisch verankerter »Naturalismus« hat radikale Konsequenzen auch für seine leidenschaftliche Wahrheitssuche und den sie beflügelnden Redlichkeitssinn: »Ich [!] suche nichts anderes als die Wahrheit« 138. Dies mag ja 137 Dieses von Dawkins kritisierte Vorurteil, für das er gleichermaßen die »Tyrannei des Essentialismus« verantwortlich macht, steht freilich in einer nicht übersehbaren Spannung zur Beantwortung seiner eigenen Frage: »Gibt es irgendwelche guten Gründe für die Vermutung, dass unsere eigene Spezies [!] enzigartig ist? Ich glaube, die Antwortet lautet ja« – und wird von ihm sogleich damit begründet, dass es die »Kultur« sei, die »am Menschen ungewöhnlich« sei (wie es in der deutschen Übersetzung erstaunlicherweise heißt: Das egoistische Gen 223). Gleichwohl wird wenig später betont: »Kulturelle Vererbung gibt es nicht nur beim Menschen« (ebd.), wie ein Hinweis auf die Imitation von »Gesangmustern« bei Vögeln verdeutlichen soll, und so die kulturspezifische Sinn-Differenz offenbar wieder eher verdeckt. 138 Augustinus hätte – mit Platon – solchen unbeirrbaren Wahrheitssucher und Ahner der »tiefsten Vernunft« wohl damit getröstet (und ihm gleichermaßen entgegengehalten), dass die Seele des so Suchenden bzw. Ahnenden – »ahnend, es gebe so etwas« (Platon, Politeia, 505) – in gewisser Weise schon darum wissen muss, um es auch nur suchen zu können, weil es doch als Gesuchtes schon irgendwie bekannt sein muss – Dawkins: ein »Plato anonymus«? – Und auch wer sein vorläufiges unzulängliches Wissen in Differenz zu der bestaunten sich manifestierenden »tiefsten Vernunft« weiß, der muss um Letztere irgendwie wissen, um sich ihr nähern zu können; den staunenden Dawkins mag es deshalb trösten, dass Platon das Staunen bekanntlich als den Ursprung der Philosophie ausgewiesen hat. – Vielleicht mag dies Dawkins’ tiefe Abneigung gegen Platon mildern. Wer das eigene Wissen um die »tiefste Vernunft« auch nur erahnt und bislang als unzulänglich erweist, hat sich offenbar auf den platonischen Weg des Aufstiegs begeben und durchschreitet darin – sei es unfreiwillig – die Stufen der Erkenntnis bzw. des »Seins« – freilich »nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend« (Politeia 505 e). Und so mag Dawkins sich auch in Platons Einsicht wiederfinden: »Allein, ihr Herrlichen, was das ›Wahre‹ und die verborgene ›tiefste Vernunft‹ selbst ist, wollen wir für jetzt doch lassen; denn es scheint mir für unseren jetzigen Anlauf viel zu weit, auch nur bis zu dem zu kommen, was ich jetzt darüber denke« (Politeia 506d). Dawkins partizipiert offenbar am platonischen Eros, der dessen ungebändigte –
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löblich sein und hätte nicht zuletzt auch den hl. Augustinus sehr erfreut – zumal ihm zufolge bekanntlich die echte Wahrheitssuche ohnehin nichts anderes als »Gottsuche« ist; doch leider hat Dawkins’ löbliches Vorhaben der »Wahrheitssuche« einen prinzipiellen Haken: Denn es gibt jenes Wahrheit suchende »Ich« ja gar nicht (zumal dieses sich doch schon als »Illusion« bzw. als »Täuschung« erwiesen hat!) – und auch das »Suchen« ist, den naturalistischen Prämissen Dawkins’ zufolge, nichts anderes als ein neuronaler Prozess in seinem Gehirn, eben eine »Ausdrucksform« der Gehirnprozesse, weshalb seine Wahrheitssuche »in Wahrheit« doch nicht mehr als ein »neuronales Gehirnphänomen« ist, das uns (wer auch immer dies wieder sein mag) offenbar mit merkwürdigen Vorstellungen beharrlich und erfolgreich »narrt«. Eine »Illusion« kann wohl nicht die Wahrheit suchen – denn Letztere wäre dann zuletzt wohl nur eine Illusion dieser »Ich-Illusion«. Deshalb ist es unter den von Dawkins geltend gemachten naturalistischen Bedingungen um seinen Anspruch und Eifer, nichts als die Wahrheit zu suchen, schlecht bestellt; so bleibt vielleicht solchem »Wahrheitssucher« zwar auch in dieser Hinsicht ein gutes und erhebendes Gefühl – wobei er freilich nur recht genau darauf achten muss, dass er sich mit dieser uneingeschränkten »Wahrheitssuche« und den sie begleitenden Gefühlen jetzt nicht unversehens über die anderen Lebewesen erhebt und so unversehens selbst in solcher »erhebenden« uneingeschränkten »Wahrheitssuche« in den Fehler des von Dawkins so energisch bekämpften »Essentialismus« verfällt, »Homo sapiens auf einen heiligen Sockel zu stellen, für immer getrennt von allen anderen Spezies« (Dawkins 2014). Dies sei, und zwar im Namen der Wahrheit, ganz fern! Die von Dawkins in solchem »Sockelsturz« bekundete Selbstbescheidung steht freilich im Widerspruch dazu, was er selbst in Berufung auf »Wahrheitssuche« und Verpflichtung auf wissenschaftliche Gültigkeit und Redlichkeit treibt. Es ist offenkundig: Dass der Mensch selbst die evolutionäre Genese der »Arten« erforscht, seine eigene Weltstellung selbst daraufhin (im doppelten Wortsinn) »relativiert« und die verschiedenen artspezifischen Lebensräume, »Umwelten« und Nischen erforscht und vergleicht, ist nicht selbst wiederum ein evolutionär bedingter Standpunkt, sondern setzt ein Hinausschreiten über die weit über alle biologischen Fitness-Aspekte und niedere Vorteils-Strebungen hinausreichende – Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit auf dem weg von der »doxa« zur »episteme« heimlich – gleichsam incognito – beseelt.
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zahllosen artspezifischen tierischen Umwelten voraus 139. Dies zu behaupten läuft freilich nicht auf eine besondere Anmaßung hinaus, wie Dawkins suggeriert, zumal doch darin eine dem Menschen vorbehaltene sachliche Auseinandersetzung ermöglicht wird, die über alle Verflochtenheit in »Umweltlichkeit« hinausführt. Und so fällt dieser Sturz vom heiligen Sockel zu schlechter Letzt unweigerlich sogar noch radikaler aus als Dawkins wahrhaben will und ihm auch recht sein kann: »Die poetische Formulierung ›Wir sind Sternenstaub‹ stimmt also ganz buchstäblich. Ohne die gelegentlichen (aber sehr seltenen) Supernova-Explosionen würden die Elemente, die das Leben ermöglichen, nicht existieren« (Zauber 129). Aber, so möchte man einwenden, so »poetisch« ist diese Auskunft doch gar nicht – sondern vielmehr erbarmungslos-knallharte Prosa, die sich sogleich zu jener nicht weniger prosaischen nüchternen Spiegel-Erfahrung bzw. Gebrauchsanwendung verschärft: »Was ich hier sehe, ist eine raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene … Und wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, denke dir: Ich bin auch eine« (Zauber 73) – aus »Sternenstaub« zusammengesetzt –, das ist nicht wenig. 140 Doch nicht genug damit, dass wir buchstäblich »Sternenstaub sind«: Wir »Sternenstaub« wissen auch von uns als »Sternenstaub«, wir sind also gewissermaßen ein »sich begreifender Sternenstaub« – und dieses Wissen von uns als »Sternenstaub« ist dann wohl ebenso »Sternenstaub«, der jenen »Verflechtungen« unserer Gehirne in besonderer Ausdrucksgestalt entsteigt – Wissendes, Gewusstes und auch das Wissen selbst ist also »Sternenstaub« –, das ist nicht wenig: eine Sternenstaub-»Substanz« also in dreifacher Form! Die lediglich milde Inkonsequenz aus dieser ernüchternden Botschaft, buchstäblich »Sternenstaub zu sein«, besteht dann lediglich darin, dass wir offenbar jedoch nicht als solcher »Sternenstaub« behandelt – und als solcher »Du Sternenstaub!« auch nicht einmal 139 Darwin hat die weithin moralisch begründete Sonderstellung des Menschen durchaus anerkannt, vgl. Oeser 2013, 89 ff. – Ein handfesteres Argument hatte freilich der Aufklärer G. Ch. Lichtenberg parat: »Dass der Mensch das edelste Geschöpf sei läßt sich auch schon daraus abnehmen, daß es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat« (Lichtenberg 1984, 153 [D 331]). 140 Evolutionär ernüchterte Schock-Prosa hat vielmehr mit schonungsloser Sternenstaub- und Überlebensmaschinen-Erfahrung volkstümliche Poesie aufgeklärt und dieser zugleich endgültig den Garaus gemacht: »Ich bin und weiß nicht wer. Ich komm’ und weiß nicht woher. Ich geh’, ich weiß nicht wohin. Mich wundert’s, dass ich so fröhlich bin!«
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angeredet! – werden wollen und wir uns auch dem naheliegenden Gebot entziehen, jedes als seinesgleichen anzuerkennen, nämlich als »Sternenstaub«: Es ist eine ganz egalitär orientierte »SternenstaubMoral«, die uns der von den Moralphilosophen ohnedies enttäuschte Evolutionsbiologe eröffnet, falls es uns gelingen sollte, die von ihm diagnostizierte Selbsttäuschung zu durchschauen und zu überwinden, nicht zuletzt jene diese Selbsttäuschungen oftmals Mem-ansteckend verbreitenden Mythen: In Wahrheit sind wir also »Sternenstaub« und in einem evolutionär bedingten komplexeren AggregatsZustand desselben auch »Überlebensmaschinen« – ein zu »Überlebensmaschinen« evolvierter, selbstbewusster »Sternenstaub« also, der sich als diese »Maschinen« zuletzt selbst fortpflanzt und sich den »evolutionären Mechanismen« gemäß auch entwickelt? 141 So schnell kann es gehen – kaum von dem bloß menschlicher Eitelkeit verdankten »heiligen Sockel« gestoßen, erfahren wir, dank unserer Wahrheitssuche, die ernüchternde Wahrheit über uns selbst: »Ich bin Sternenstaub« oder, je nachdem, »Überlebensmaschine«, und unterliegen hoffentlich darin nicht erneut einer evolutionär bedingten Täuschung … Übrigens reicht unter den Dawkins’schen Prämissen unsere von 141 Von ihnen und ihrem »kategorischen Imperativ« hat Dawkins ja schon in seinem Buch »Das egoistische Gen« angemerkt: »Für eine Überlebensmaschine stellt eine andere Überlebensmaschine (die nicht ihr eigenes Kind oder ein enger Verwandter ist) einen Teil ihrer Umwelt dar, wie ein Felsen oder ein Fluss oder ein Brocken Nahrung. Sie ist etwas, das ihr in den Weg gerät, oder etwas, das ausgebeutet werden kann. Sie unterscheidet sich von einem Felsen oder einem Fluss in einem wichtigen Aspekt; sie neigt dazu, zurückzuschlagen. […] Die natürliche Auslese begünstigt Gene, die ihre Überlebensmaschinen so steuern, dass sie den besten Nutzen aus ihrer Umwelt ziehen. Dies schließt die bestmögliche Nutzung anderer Überlebensmaschinen ein, ob diese nun der eigenen oder einer fremden Art angehören« (Das egoistische Gen 79). Die Welt als »mechanismus cosmicus« enthält also ein Aggregat solcher »Überlebensmaschinen« und sichert deren Koexistenz durch die Gesetze einer Art »Sozialphysik«. Dem entspricht, auf den ersten Blick, durchaus die – von Dawkins lediglich inkonsequenterweise nicht geteilte – Auffassung der Moral: »Was wir unter Moral verstehen, ist eine Illusion, die uns unsere Gene vorgaukeln, damit wir kooperieren« (Wilson E. O./Ruse M. 1985, zit. n. Illies 2013a, 364). Zu Illies’ Auseinandersetzung mit den Ansprüchen einer »Naturalisierung der Moral« und der von ihm intendierten Vermeidung schlechter Alternativen s. bes. auch Illies 2013, 361–382; hier werden auch in erhellender Weise zirkuläre Argumentationsformen aufgedeckt. Denn ganz so schlimm, wie es hier in Dawkins’ Beschreibung der »egoistische[n] Maschine und … Stabilität« den Anschein hat, ist es dann ja doch wieder nicht, mutet Dawkins dieser »Überlebensmaschine« doch ebenso recht erstaunliche »moralische Höhenflüge« zu – nicht ganz stimmig zwar, aber immerhin: man tut, was man kann …
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ihm als so »fantastisch« gefeierte Verwandtschaft auch mit »Mäuse [n], Büffel[n], Schnecken, Pilze[n], Tulpen und Bakterien« (Zauber 50) im Grunde noch viel weiter – zu »fantastisch«, um wahr zu sein: Denn so wären wir – denn »Sternenstaub ist Sternenstaub«! – nicht nur mit Steinen, Edelsteinen (nicht zuletzt wohl mit Diamanten), Mineralien und Metallen aller Art, sondern gleichermaßen (lediglich über den Umweg menschlicher Technik) auch mit Bleistiften, Autos und Kanistern usw. verwandt – kurzum: alles, was ein materielles »Etwas« ist (und was wäre nicht ein solches?), wäre dann wohl mit allen anderen materiellen »Etwas« via gemeinsamer »Sternenstaub«Abkunft »substanziell« verwandt – dass »Ausdünstungen« und Gedanken gleichermaßen »Ausdrucksformen der Materie« von gewiss unterschiedlicher »Komplexität« sind, wäre lediglich das spätere evolutionäre Ergebnis unserer »Sternenstaub«-Verwandtschaft. 142 Nicht nur wäre so alles erfreulicherweise verwandtschaftlich vereint, sondern überdies wäre derart endlich die ebenso »geschwisterliche« Brücke über den vermeintlich »garstig breiten Graben« zwischen den Gipfelhöhen der modernen Wissenschaft und den tiefsten Tiefen der Esoterik geschlagen – und einer neuen, »holistisch«-umgreifenden Form von Spiritualität bzw. deren Einzug in die »clear thinking oasis« stünde somit nichts mehr im Wege … 142 Dawkins’ Argumentation liefert hier erneut ein gutes Beispiel für jene »Erklärungsart«, die Hegel als bloß »äußerlich-quantitative« charakterisiert hat; sie ist als solche deshalb reduktionistisch, weil sie der jeweils qualitativen Eigenart des Neuen und des entstandenen Anderen nicht gerecht wird, sondern in der darin buchstäblich quantitativ-maßgebenden Zugangsweise davon absieht (bzw. darin, zufolge diesem »gleichmachenden Vergleichen«, lediglich zunehmende »Komplexität« erkennen will), ohne die dieser Vorgehensweise zugrunde liegenden Abstraktionen als solche zu durchschauen (abstrahiert wird eben von dieser Eigenart des »qualitativ Neuen«) – vielmehr gilt: »Man will alles auf gleiche Stufe stellen … Aber durch diese Behandlung der Körper in einer Stufe ist die Natur der anderen Körper nicht erschöpft« (Hegel 1970, Bd. 9, 145: § 286 der Enzyklopädie, Zusatz). Die vermeintliche »Konkretheit« jener Vorgehensweise erweist sich somit vielmehr als ein bloß »abstraktes Denken«, für dessen Hinsichten das quantitativ orientierte »Auseinander« bestimmend ist (und dabei von allem anderen »abstrahiert«), und kann deshalb, wie Hegel betont, »die Natur der Dinge nicht erschöpfen« (ebd.) bzw. muss deren »systemische« Eigenart verfehlen bzw. verdecken, weil ein solches – überdehntes – »abstraktes Vergleichen« qualitativ-»eigenartige« Differenzen und nicht-reduzierbare »Komplexität« nivelliert, d. h. buchstäblich auf »quantitative Veränderung« einebnet. Ein zentrales Anliegen (auch) der Naturphilosophie Hegels ist dies: »Die Natur ist ein System von Stufen« (ebd. § 249 Enzykl.). Vgl. zu der erwähnten Reduktionismus-Thematik auch die Beiträge von Posch und Wandschneider in: Grießer 2012.
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Nicht zuletzt daraus ergeben sich auch interessante Optionen für diesen – sich selbst, im Namen der Wahrheit und ohne Schielen auf »Überlebensvorteile«, vom »heiligen Sockel« stoßenden – Menschen als einer aus »Sternenstaub« zusammengesetzten, überaus komplexen »Überlebensmaschine«, der als solche gleichwohl stolz und auch glücklich sein kann und sich so für die das Leben erhellende Frohbotschaft der »brights« durchaus empfänglich erweist: »Now stop worrying and enjoy your life!« 143 – wozu man offenbar andere evolutionäre »Überlebensmaschinen« gar nicht einmal auffordern oder ermutigen muss: Intakte »Überlebensmaschinen« also, die ohnedies nach der Pfeife der DNA tanzen und doch dank ihrer erworbenen Atheismus-Meme, vereint mit dem Selbstgefühl als »Sternenstaub« glücklich und stolz sind – was will man denn mehr, zumal dann, wenn dieser sich mitunter sogar zu »Seelischem« und dessen »erhabensten Erlebnissen« verdichtet? 144 143 An dieser an »Überlebensmaschinen« gerichteten Frohbotschaft Dawkins’ »Don’t worry – enjoy your life!« möchte freilich auch der berühmte lebensfrohe Kater Garfield aus der Comic-Welt auf seine Art teilhaben, der freudig einstimmt: »All I ever do is eat and sleep, eat and sleep … There must be more to a cat’s life – but I hope not«. – Es spricht in diesem Zusammenhang vieles dafür, sich an die Befürchtung einer – mit der »Abschaffung des Theologischen« einhergehenden – szientistisch-naturalistischen (Selbst-)Verstümmelung des Menschen (auf höchstem technischen Niveau) zu erinnern, die der durchaus nicht gläubige Philosoph M. Horkheimer damals in einem berühmt gewordenen Interview mit der Zeitschrift »Der Spiegel« (Jahrgang 1970/ Heft 1: »Was wir ›Sinn‹ nennen, wird verschwinden«) abschließend geäußert hat: »Man wird das Theologische abschaffen. Damit verschwindet das, was wir ›Sinn‹ nennen, aus der Welt. Zwar wird Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlose. Eines Tages wird man auch Philosophie als eine Kinderangelegenheit der Menschheit betrachten. Man wird mit dem Positivismus sagen, es sei läppisch, über die Beziehungen von Relativem und Transzendentem zu spekulieren.« SPIEGEL: »Es könnte doch aber auch sein, dass sich die Menschen – wenn ihre materiellen Bedürfnisse einschließlich der sexuellen völlig befriedigt sind – den Spielen zuwenden.« HORKHEIMER: »Die haben ja auch die Tiere. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich das bei den Menschen fortsetzt.« – Diese vor beinahe 50 Jahren geäußerte Diagnose Horkheimers hat in der (ja ebenfalls in den späten 70er-Jahren aufgetretenen) Figur des Katers Garfield merkwürdigerweise gewissermaßen eine berühmt gewordene »Symbolisierung« gefunden – genau in jener Zeit also, in der auch Dawkins-Leser erstmals durch seine Frohbotschaft etwas über ihre Bestimmung erfahren haben: »Wir sind als Genmaschinen gebaut worden, dazu [!] geschaffen, unsere Gene zu vererben« (Das egoistische Gen 235). Kater Garfield sieht dies angeblich zwar immer noch ähnlich – allein, so klagt er, mit dem »Vererben« sei es inzwischen schon schwieriger geworden, dafür schläft er jetzt noch mehr. 144 Der Kant nachfolgende Philosoph Fichte hatte eine recht lebendige zeitgenössische Vorstellung von diesem »Nach-der Pfeife-Tanzen«: »Ich weiß, was ich überhaupt bin,
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Es hat sich ja schon gezeigt: So ganz und gar bloß Selbsterhaltungs-fixierte »Überlebensmaschine« soll der Mensch nach Dawkins – auch wenn dies lediglich eine gedankliche Inkonsequenz darstellt – dann ja doch wieder nicht sein, zumal er von Dawkins selbst zu seiner Sonder-»Bestimmung« aufgerufen wird, sich als »Genmaschine« und als Memmaschine erzogenes »Gemächsel« (Kant), dennoch »gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auf[zu]lehnen« (Das egoistische Gen 237) 145: Zwar nach wie vor ziemlich konsequent, 146 wie sich noch zeigen soll, aber trotzdem ein irgendwie erfreulicher »evolutionärer Fauxpas«? Gleichwohl bleibt die Frage: Wer ist denn dieses daraus hervorgegangene geheimnisvolle »Wir«, dem hier – als »antigenetischem« Rebell gewissermaßen – doch ganz Erstaunliches zugetraut bzw. zugemutet wird, wenn es denn nicht jene gewissermaßen pluralisierte Selbst-Illusion sein soll? Überraschenderweise soll diese von Dawkins propagierte »Auflehnung« es jetzt doch erlauben, jene behauptete »erbarmungslose Nützlichkeit« zu durchbrechen. Erund worin das Wesen meiner Gattung besteht. Ich bin eine durch das Universum bestimmte Äußerung einer durch sich selbst bestimmten Naturkraft« (Fichte 1997, 31): »… denn ich handle ja überhaupt nicht, sondern in mir handelt die Natur; mich zu etwas anderem zu machen, als wozu ich durch die Natur bestimmt bin, dies kann ich mir nicht vornehmen wollen, denn ich mache mich gar nicht, sondern die Natur macht mich und alles was ich werde … Ich stehe unter der unerbittlichen Gewalt der strengen Notwendigkeit; bestimmt sie mich zu einem Toren und Lasterhaften« (Fichte 1997, 32). 145 In der englisch-sprachigen Ausgabe heißt es: »We, alone on earth, can rebell against the tyranny oft the selfish replicators« (Dawkins 1976, 201). Es ist nicht so ohne weiteres zu verstehen, wie dies mehr als eine bloße – gut gemeinte – Inkonsequenz sein soll. Zu Recht merkt Heinrich zu jener Behauptung Dawkins’ an: »Diese Aussage zieht den im selben Werk entfalteten Ansatz in Zweifel, der an keiner Stelle einen Ort für die Möglichkeiten menschlicher Freiheit lässt, von denen hier die Rede ist« (Heinrich 2004, 67). Auf diesbezügliche augenfällige Widersprüche in Dawkins’ Konzeption wurde in der Literatur wiederholt hingewiesen; s. dazu auch Clayton 2007. 146 Dawkins selbst erhebt offenbar erneut den Menschen auf den »hohen Sockel«, um ihn sodann umso schonungsloser davon herunterholen zu können. Nur der Mensch ist jener Dawkins’schen Diagnose fähig, dass »die Natur nicht grausam, sondern nur mitleidlos gleichgültig [ist]. Dies ist eine der Lektionen, die für uns Menschen am schwierigsten zu lernen sind. Wir können nicht eingestehen, dass etwas weder gut noch böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur gefühllos ist – gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne jeden Sinn« (Und es entsprang ein Fluss … 112). Indes, jenseits dieses psychologischen »Nicht-Eingestehen-Könnens« geht es mit Blick auf den Menschen und seine Erfahrung, »dass in der Natur von keinem Soll die Rede ist«, um Fragen, die ihn zu der moralischen Einschätzung führen: »Es ist, als ob sie eine Stimme wahrnähmen …«
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weist sich dann aber diese seltsame »Wir-Instanz« nicht doch selbst als bloßer »Schein«, eben als ein bloß »Anscheinendes« (Gotteswahn 226) – sind hier etwa als evolutionäres Nebenprodukt eingeschleuste geheimnisvolle »Anti-Gene« am Werk? Und droht hier eine neuerliche unheilvolle Inkonsequenz nicht insofern, als Dawkins selbst hier den Menschen als das »einzige Wesen auf der Erde« auszeichnet, das sich »gegen die Tyrannei der egoistischen Replikationen auflehnen« könne? Wird der Mensch solcherart, kaum vom »heiligen Sockel« heruntergeholt, nicht erneut – und zwar von Dawkins selbst! – dank jener sich »auflehnenden Gene« auf den »hohen Sockel« gehoben? Man sieht, die Argumentation Dawkins’ wechselt ganz nach Bedarf – schwankend zwischen hartem Naturalismus und Erbaulichkeitsrhetorik … Wie aber, wenn jene behauptete »Rebellion« gegen die »Gene«, dem konsequenten Dawkins’schen Naturalismus zufolge, doch selbst lediglich eine »Ausdrucksgestalt der Materie« ist, in dem sich lediglich erneut jene »Ich-Illusion« widerspiegelt? Es ist in der Tat erstaunlich, was Dawkins hier diesem soeben vom »hohen Sockel« geholten – von der Evolution mit seltsamen Geschenken ausgestatteten – Menschen sogleich wieder zumutet: »[Y]ou have the biggest gift of all: the gift of understanding the ruthlessly cruel process that gave us all existence; the gift of revulsion against ist implications; the gift of foresight – something utterley foreign to the blundering short-term ways of natural selection – and the gift of internalizing the very cosmos« (A Devil’s Chaplain 15). Ob damit der beste Altruismus der Menschenaffen auch nur annähernd mithalten kann? Genauer besehen hat sich da die Evolution mit diesem ihrem eigenen Sprössling etwas Eigenartiges eingebrockt – nämlich ein durch ihre eigenen Mechanismen hervorgebrachtes Produkt, das als solches – und zwar durch diese evolutionären Mechanismen selbst – dazu befähigt sein soll, sich selbst, gewissermaßen als Irrläufer oder als eine Art »Geisterfahrer« der Evolution, eben gegen diese evolutionären Mechanismen zu wenden – und dies, aus selbst nicht evolutionär abzuleitenden moralischen Gründen, auch tun soll: Solche offenbar nur diesem seltsamen Wesen von Dawkins zugemuteten Höchstleistungen verdienen doch wahrlich – wenigstens vorübergehend – einen »Sockelplatz« besonderer Art? Immer bemerkenswertere Eigenschaften lässt jener zu »Überlebensmaschinen« evolvierte seltsame »Sternenstaub« erkennen: »Überlebensmaschinen«, die sich selbst zum Objekt der Wissenschaft machen und darin ihre Weltstellung gegenüber anderen »Maschinen« mit Anspruch auf Wahrheit 152 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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und gebotene Selbstbescheidung relativieren und dies auch argumentativ gegenüber als »Du« angeredeten »Ihresgleichen« geltend machen … 147 Noch einmal zurück zu Dawkins’ Erklärung: »In einem Universum mit blinden, physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit … Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife« (Und es entsprang … 151). Damit gerät er genauer besehen in einen Widerspruch zu seiner eigenen Behauptung, zumal diese angeführte Erklärung jene oben genannten, von ihm selbst geltend gemachten Ansprüche im Grunde geradewegs dementiert. Umso seltsamer ist es, dass dieses Universum dennoch, erbarmungslos gleichgültig, ein Wesen hervorbringt, das nicht nur um diese »erbarmungslose Gleichgültigkeit« weiß und sich erstaunlicherweise zu bewussten Zwecktätigkeiten befähigt und überdies sogar dazu berufen erfährt, in seinem Handeln – das deshalb offenbar gerade nicht »nach der DNA tanzt« – sich von jener »DNA-Pfeife« distanzieren und, jenseits »erbarmungsloser Nützlichkeit«, sich an anderen moralischen Maßstäben bzw. Imperativen orientieren soll; ebendies beansprucht doch Dawkins selbst in mehrfacher Hinsicht – sowohl im Sinne jener einge147 In Dawkins’ Naturalismus ist genau dies uneinlösbar, was J. Habermas ihm gegenüber geltend macht: »Im alltäglichen Umgang richten wir den Blick auf Adressaten, die wir mit ›Du‹ ansprechen. Nur in dieser Einstellung gegenüber zweiten Personen verstehen wir das ›Ja‹ und ›Nein‹ der Anderen, die kritisierbaren Stellungnahmen, die wir einander schulden und voneinander erwarten. Dieses Bewusstsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der Kern eines Selbstverständnisses, das sich nur der Perspektive eines Beteiligten erschließt, aber einer revisionären wissenschaftlichen Beobachtung entzieht. Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie. Auch dem wissenschaftlich aufgeklärten Common sense wird es keine Wissenschaft abnehmen, beispielsweise zu beurteilen, wie wir unter molekularbiologischen Beschreibungen, die gen-technische Eingriffe möglich machen, mit vorpersonalem menschlichen Leben umgehen sollen. Der Common sense ist also mit dem Bewusstsein von Personen verschränkt, die Initiativen ergreifen, Fehler machen und Fehler korrigieren können. Er behauptet gegenüber den Wissenschaften eine eigensinnige Perspektivenstruktur« (Habermas 2001, 20).
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räumten bzw. geforderten Distanzierung von den »Genen« als auch gemäß seinem »moralisch aufgeladenen« Aufklärungs-Programm. 148 So viel ist klar: Der Hirnforscher, der Freiheit, Gewissen, Vernunft »naturalisiert« und als Selbstmissverständnisse des Menschen bestreitet, muss solche Ansprüche negieren bzw. als illusionär verabschieden. Dabei muss er jedoch für sich selbst in Anspruch nehmen, dass er nicht nur selbstsüchtigen Interessen, sondern moralisch begründeten Wahrheitsansprüchen folgt, d. h. wahrheitsorientierte Gründe (und nicht bloß geschickte Überredungsstrategien) verfolgt; er benötigt bzw. stützt sich insofern selbst für diese Entlarvung auf Gewissen und vernünftige Argumentation, die er bei den anderen (als »illusorisch«) bestreitet, und muss deshalb just das voraussetzen, was Kant Autonomie (im zweifachen Sinne des Urteilens und Handelns) nennt. Die hierfür vorausgesetzte »Spontaneität« ist nicht weiter erklärbar, sondern kann nur als Faktum unterstellt werden; wer anderer Meinung ist, macht von ihr Gebrauch« 149. Es ist nicht zu übersehen: Auch diese von höchster Wahrheitssuche inspirierten, mit diesem naturalistischen Programm einhergehenden Bestrebungen Dawkins’, den Menschen vom »heiligen Sockel« zu holen, verraten einerseits den auch in seinem naturalistischen Konzept sich widerspiegelnden – obgleich ohnehin widersprüchlichen – »genussvollen Desillusionierungseffekt« (Th. Pröpper) 150; andererseits müssen sie die desillusionierende – gleichwohl 148 Was Illies (2006, 181) mit Blick auf ein Selbstmissverständnis einer »Evolutionären Ethik« geltend macht, wäre wohl auf jede »naturalistische« Argumentation dieser Art anzuwenden: »Wenn in der Tat die vermeintliche Moral im philosophischen Sinne eine Schimäre unseres limbischen Systems ist, wenn sie sich auf unsere Gefühle und biologisch angelegten Reaktionen zurückführen lässt, dann ist es widersinnig zu meinen, man könne daraus verbindliche Werte und Normen ableiten. Der konsequente metaethische Emotivist kann nur feststellen, dass der eine diese, der andere jene Gefühlsreaktion zeigt. […] ›Die Sonderlinge folgen den Befehlen ihres Hypothalamus, wir folgen den unseren‹, mehr ließe sich nicht sagen, vor allem könnte man das Ergebnis nicht rational bewerten. Der Unterschied zwischen einer Neigung zu Respekt und einer respektlosen Grundhaltung müsste von der naturalisierten Ethik in gleicher Weise verharmlost werden wie der zwischen einer Vorliebe für Coca-Cola und einer für Wein«. 149 Brandt 2009, 136 f. 150 R. Musil staunt – offenbar in ähnlicher Weise – über die »eigenartige Vorliebe«, »die das wissenschaftliche Denken für mechanische, statistische, materielle Erklärungen hat …, die das, was freieste Entscheidung zu sein scheint, als zwangsmäßig zeigen«: »Die Güte nur für eine besondere Form des Egoismus anzusehen; Gemütsbewegungen in Zusammenhang mit inneren Ausscheidungen zu bringen … ; die berühmte
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selbst illusionäre – Ich-Instanz (d. h. sich selbst) von seinen IllusionsErklärungen ausnehmen, um damit überhaupt so etwas wie einen Erklärungsanspruch verbinden – d. h. einen solchen »behaupten« und zugleich jene »sich auflehnende Distanzierung« von seiner naturhaften Vorgegebenheit beanspruchen – zu können. Gegenüber Dawkins’ Bestrebung, den allzu selbstgefälligen Menschen vom »heiligen Sockel« zu holen, bleibt doch noch immer das Argument im Recht: »Natürlich kann die Biologie den Menschen nicht auszeichnen; aber wenn wir nach einer vernünftigen Deutung der Wirklichkeit fragen, dann haben wir ein Vernunftargument: Wir können nicht umhin, uns für besonders zu halten, weil allein wir über solche Fragen nachdenken. Es wäre selbstwidersprüchlich und darum auch unvernünftig, mit der Vernunft daran zu zweifeln, dass es was Besonderes ist, vernünftig zu sein.« 151 Damit ist auch dies gesagt: Die in Berufung auf die Wahrheit und intellektuelle Redlichkeit erfolgte Depotenzierung des Menschen ist eben als eine besondere Leistung jenem Lebewesen vorbehalten, das dies – eben als »animal rationale« – in ausdrücklicher Berufung auf Vernunftgründe zu leisten vermag. Darin ist impliziert: Die allein an der Wahrheit orientierte Vernunft kann darin nicht von anderen Faktoren schlechthin bedingt bzw. »determiniert« sein; und doch erklärt sie sich selbst, an ihrer eigenen Genese interessiert, als ein bloßes Produkt, als ein aus bloßen neuronalen Prozessen Erwachsenes, und leugnet so – in der Berufung auf die Vernunft selbst – ihre »Selbständigkeit«. Aber womöglich verfiele schon eine solche Reduktionismus-kritische Konzeption dem Dawkins’schen Verdacht, dass hier »übernatürliche Vorkommnisse« in »übernatürlichen Geschichten« (Zauber 245) eingeschleust bzw. bemüht werden. Ein die menschliche »Würde« begründender SubjektStatus muss in einem solchen »Naturalismus« freilich ortlos bleiben. sittliche Freiheit des Charakters als ein automatisch entstandenes Gedankenanhängsel des Freihandels zu erklären; Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zurückzuführen … Es ist allerdings die Wahrheit, was man da liebt; aber rings um diese blanke Liebe liegt eine Vorliebe für Desillusion … kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung, eine hämische Vorliebe …, die Stimme der Wahrheit hat ein verdächtiges Nebengeräusch, aber die am nächsten Beteiligten wollen nichts davon hören« (Musil 1952, 303 f.). 151 Illies 2008, 170 f. Dieses Argument ist hier die von Illies – in einem interessanten fingierten Gespräch – einem kritischen Theologen in den Mund gelegte Auffassung. Die von Illies an eine kritische – und nicht in die Erbaulichkeit flüchtende bzw. abgleitende – Theologie gerichteten Anfragen bzw. Herausforderungen bleiben freilich – im Unterschied zur unsachlichen Polemik Dawkins’ sehr bedenkenswert.
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Eine »übernatürliche Geschichte« ganz besonderer Art stellen freilich Dawkins’ naturalistische Erkundungen über ein eventuelles Gotteszentrum dar, die im folgenden Exkurs wenigstens erwähnt werden sollen.
3.1 Ein »Gotteszentrum« im Gehirn? Zu einer von Dawkins unentschiedenen »neuro-theologischen« Hypothese Nicht so ohne weiteres vereinbar ist Dawkins’ emanzipatorisch motivierter Kampf gegen die geistigen Fesseln des Atheismus mit einem anderen Befund, der freilich mit dem von ihm vertretenen Naturalismus engstens zusammenhängt. Verdanken wir ihm doch eine andere bemerkenswerte naturalistisch-neuro-theologische Erwägung der besonderen Art – auch wenn er dies nicht näher verfolgen will (Gotteswahn 234) 152: Sollten, wie Dawkins offenbar durchaus ernsthaft einräumen will, »die Neurowissenschaftler im Gehirn tatsächlich ein ›Gotteszentrum‹ finden, werden die darwinistischen Evolutionsforscher immer noch klären wollen, durch welchen Selektionsdruck es begünstigt wurde. Warum konnten diejenigen unter unseren Vorfahren, die eine genetische Disposition zur Entwicklung eines Gotteszentrums hatten, besser überleben … ?« Indes, heutzutage wird man den entschiedenen – und entsprechend der »Gruppenselektion« in atheistischen Organisationen auftretenden 153 – Atheisten gerechterweise wohl ebenfalls so etwas wie ein wachsendes/anwachsendes »AntiGotteszentrum« einräumen müssen und somit auch die Frage nach einem Selektionsdruck und Überlebensvorteil entsprechend modifizieren. Die Vorstellung etwa, dass die Überzeugung, wonach »mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit« Gott nicht exis152 »Die neurologische Idee eines ›Gotteszentrums‹ im Gehirn werde ich hier nicht weiter verfolgen, denn es geht mir nicht um vordergründige Erklärungen, ohne dass ich diese damit kleinreden wollte« (ebd.). Freilich wäre damit die notwendige Einsicht verbunden, dass gegen so ein einigermaßen evolutionär ausgewachsenes »Gotteszentrum« wohl auch die hartnäckigsten atheistisch-missionarischen Bekehrungsversuche auf verlorenem Posten stünden – und umgekehrt, woraus eine resignativ Folgerung bzw. Gesamtbilanz zu ziehen wäre. Dann verläuft aber auch seine – ohnedies gänzlich haltlose – Erklärung ins Leere: »Wenn nur eine solche verfeinerte nuancierte Religion [wie etwa diejenige der beispielhaft angeführten Theologen Bonhoeffers und Tillichs] vorherrschen würde, sähe die Welt sicher besser aus, und ich hätte ein ganz anderes Buch geschrieben« (Gotteswahn 525). Ob man darauf noch warten darf? 153 S. den Anhang bei Dawkins 2007, 535 f.
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Weitere Konsequenzen aus Dawkins’ Naturalismus
tiert, ohne ausgewachsenes »Anti-Gottes«-Zentrum ernsthaft – und überdies stolz und mutig – möglich sein könnte, lässt sich nicht aufrechterhalten, und auch eine bloße »übermäßige Aktivität irgendeines Gehirnareals« (Gotteswahn 234) reicht da nicht aus und kann die Beharrlichkeit nicht erklären. Gleichwohl liegen diese neurotheologischen Dinge, die Dawkins keinesfalls »kleinreden« will (ebd.), genauer besehen, noch ein wenig komplizierter: Weil man dann wohl auch die unschlüssigen, d. i. zwischen »Theismus und Atheismus« schwankenden wechselmütigen Skeptiker nicht einfach ausschließen darf, wird ihnen möglicherweise sogar ein raffiniertes Wechsel-Zentrum, wenn nicht sogar zwei verschiedene Zentren, zugestanden werden müssen; auch wenn Letzteres auf den ersten Blick als eine etwas verschwenderische Destabilisierung des psychischen Haushaltes (seines »Memplexes«) erscheinen mag, so sollte dies jedoch unter zunehmendem Selektionsdruck anpassungsstrategisch (je nach Umgebung und Gelegenheit aktivierbar) gewiss nicht unerhebliche evolutionsbiologische Vorteile bieten und überdies abwechselnd, je nachdem, die »Lust auf Götter« (Gotteswahn 235) 154 (möglicherweise, aus Lust-diätetischen »Gründen«, auf nur einen) oder auch die aufkeimende »Lust auf Atheismus« erklären. 155 Was aber
154 Der durch die unterschiedlichen gläubigen bzw. atheistischen »Lust-Haushalte« bedingte Streit und missionarische Eifer auf beiden Seiten sowie die darin verwendeten Mittel und Instrumente (z. B. auch Pamphlete, Kampfschriften) wären in der Folge als (eher friedensstörende) evolutionäre »Nebenprodukte von etwas anderem« (Gotteswahn 239 ff.) in Kauf zu nehmen. Auch Menschenrechte gibt es zufolge einem solchen Naturalismus, sie entpuppen sich als bloße Selbstbehauptungs-fixierte Meme, die sich als Auswirkungen ebenso neuronalen Prozesse verdanken wie die Verwerfung von Menschenrechten und deshalb nicht mehr gelten als diese – wobei freilich fraglich bleiben muss, was »gelten« hier noch heißen soll, wenn es doch selbst ein bloßer neuronaler Prozess ist. 155 Wenn Dawkins dementsprechend mit der Vermutung aufwartet: »Die naheliegende Ursache der Religion ist vielleicht die übermäßige Aktivität irgendeines Gehirnareals« (Gotteswahn 234), so müsste dem offenbar bei Religionslosen der Ausfall einer solchen »Aktivität« entsprechen, während hingegen bei missionarisch bestimmten Atheisten womöglich eine von entsprechenden Mem-Beständen begleitete »übermäßige Aktivität« eines anderen »Gehirnareals« verantwortlich zu machen wäre. Man sieht unschwer, dass mit solcher naturalistischen Erklärung bzw. Nivellierung die Geltungsfrage überhaupt nicht mehr gestellt werden kann. Freilich zeigt sich: Genauer besehen liefe Dawkins’ eigenes missionarisches Programm einer Bekämpfung des religiösen »Glauben[s] überhaupt« auf eine bloße Stimulierung der entsprechenden »Gehirnareale« durch die eigenen – offenbar höchst »aktivierten« – »Gehirnareale« hinaus; »Gehirnareale« und die befeuerten Synapsen reagieren aufeinander.
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wäre dann die plausible Erklärung für diejenigen »evolutionären Sonderlinge«, die weder mit einem »Gotteszentrum« noch mit einem »Anti-Gotteszentrum« ausgestattet wurden und mit diesem Handicap dauerhaft ihr Dasein fristen – was also mit all jenen evolutionär stiefmütterlich Benachteiligten, die offenbar überhaupt leer ausgingen, d. h. sowohl ohne Gottes-Mem als auch ohne Atheismus-Mem auskommen müssen –, sich aber auch nicht auf ein AgnostizismusZentrum stützen können und infolge solcher evolutionär bedingter »Handicaps« allzu leicht in die Nähe der »clear thinking oasis« der Dawkins-Stiftung geraten, d. h. für deren »Meme« anfällig werden? Indes, heutzutage ist durch ein stabiles »Atheismus-Mem« das Überleben womöglich sogar besser gesichert – jedenfalls dann, wenn manche mit solchen »Memen« ausgestatteten »Überlebensmaschinen« sich überdies auf anpassungsschlaue Buchtitel verstehen, dabei »nichts als die Wahrheit« suchen, sodann die »natürliche Selektion« das ihrige besorgt und die Virus-artige Übertragung bzw. Einnistung der passenden Meme in anfälligen Gehirnen gewährleistet ist. Genauer besehen müsste der objektive Befund resümierend ohnehin lauten: Membestände als »Ausdrucksformen« eines »Gottes-Zentrum«-freien Gehirns der einen »Überlebensmaschine« stoßen auf die »Gott-Meme« im Gehirn-Gotteszentrum anderer »Überlebensmaschinen« – was soll da noch Dawkins’ seltsame Beteuerung, nur an der Wahrheitsfindung – zu »wissen, was wirklich ist« – interessiert zu sein? Jene mit einem »Gotteszentrum« im Gehirn ausgestatteten »Überlebensmaschinen« stehen mithin solchen mit einem Anti-Gottes-Zentrum gegenüber, deren Gehirnströme bzw. deren »Ausdrucksformen« wechselweise aufeinander »reagieren« – buchstäblich »viel Lärm um nichts«; die ungleich interessantere Frage, ob für unentschlossene bzw. flexible Wechsel-(Un-)Gläubige hingegen ein Zentrum von besonderer Art verantwortlich ist, wird die neuro-theologische Forschung hoffentlich bald erweisen. Ebenso dies: Gehört zur besonderen Grausamkeit der Evolution nicht gleichermaßen dies, dass sich die verschiedenen Hirn-produzierten Gottes-Meme ja auch untereinander bekämpfen und allesamt den »struggle of life« in Berufung auf ein seltsames und offenbar hartnäckiges »Wahrheits-Mem« vollziehen? (Nur nebenbei sei ehrlicherweise dies angemerkt: Auch der Verfasser dieser »Streitschrift« wäre ja selber, wenigstens probeweise und vorübergehend, ab und zu schon einmal gerne Atheist und ebenso »Naturalist« geworden – doch hierfür sind, angeblich, die Hirnaktivitäten im vermuteten 158 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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»Gotteszentrum« einfach [noch?] zu stark, d.h. die »neuronalen Prozesse« sind einfach nicht danach …) Die Frage ist freilich auch unabweislich, was denn Dawkins’ Anspruch noch bedeuten kann, dass er »nichts als die Wahrheit suche« – und ebenso dies: Warum gibt er sich nicht damit zufrieden, dass es eben Menschen (Gehirne) mit neuronalen Prozessen gibt, deren produzierte »Ausdrucksformen« als atheistische Gedanken, Motive o. Ä. identifiziert werden – und dann eben wiederum andere Gehirne, deren neuronale Prozesse die religiöse »Ausdrucksformen« generieren? Einige haben eben (bedauerlicherweise oder auch nicht) ein solches Gotteszentrum, andere hingegen nicht: Bekämpft bzw. bekehrt Dawkins also in Wahrheit »Ausdrucksformen des Gehirns«? Fraglich bleibt zudem, ob denn gegen ein solches – eventuell evolutionär recht weit verbreitetes und möglicherweise sogar für Wucherungen anfälliges – »Gotteszentrum« (etwa im Unterschied zu Bewohnern anderer Planeten) dann überhaupt ein atheistisches Kraut (und umgekehrt) gewachsen ist und beispielsweise Dawkins mit der in seinem »Gotteswahn« erwähnten Zielsetzung vergeblich gegen intakte Gotteszentren ankämpft. Eher wäre doch im Sinne jener »eigentlichen Ursachen« erneut daraus zu folgern: Nicht »überzeugen«, sondern »therapieren« und »kurieren« müsste man sie, vielleicht nach Art einer Bestrahlung bei Gehirntumoren – ein weites Feld für Neurotheologie und künftig wohl auch Theopharmazie … Gottesbezüge bzw. -erfahrungen per Medikament und eine »Atheismus«-Kur auf Krankenschein? Geboten wären also medizinisch-gentechnologische Maßnahmen gegen die Ausbildung von Hirn-Gotteszentren und die pharmazeutische Bekämpfung von Religions-Viren, die auch gegen einschlägige memetische Infektionen immun macht – »über Wirkung und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen informieren Arzt und Apotheker …«. Dann könnte man sich langwierige und aufwendige Überzeugungen bzw. Überredungen ersparen – und die erzielten Wirkungen wären gewiss nachhaltiger und erfolgreicher als all die von der »clear thinking oasis« gesteuerten Atheismus-Kampagnen dieser Welt zusammen! Mühsame Bekehrungsversuche wären also durch die Entwicklung von Medikamenten bzw. Strahlentherapien zu ersetzen, die solche Gotteszentren im Gehirn verhindern bzw. abbauen; länderweise wären demgemäß vielmehr empirische Erhebungen über die Anzahl der mit einem »Gotteszentrum« belasteten »Überlebensmaschinen« durchzuführen; sie sollten es den regionalen Organisationen der »brights« sodann auch erlauben, die finanziellen Mittel 159 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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der Dawkins-Stiftung nicht für Bus-Kampagnen zu verschwenden, sondern gezielt für »Gotteszentrum«-Therapien einzusetzen. Was aber, wenn sich gegen jene Gotteszentren Dawkins’ Kampf als vergeblich erweist oder ein Nachwachsen derselben nicht auszuschließen ist? Und was, wenn es offenbar mit einem »Gotteszentrum« angesichts der von Dawkins bekämpften »vielen Götter« nicht getan ist – braucht es dann nicht eine Teilung oder Mehrzahl der Gotteszentren, zumal doch Dawkins’ »Gotteswahn« auf mehrere »übernatürliche Götter« Bezug nimmt (Gotteswahn 34) und er erstaunlicherweise nur diese als »Wahnvorstellungen« bezeichnet; sollten diese »übernatürlichen Götter« im Gotteszentrum neben den »natürlichen Göttern«, von denen man doch so gerne etwas Erhellendes erfahren hätte, in den entsprechenden Gehirnzentren angesiedelt sein? Und kann dann, angesichts dieser Götterkonkurrenz und des entsprechenden Gedränges in dem so kleinen Gehirnzentrum, für einen bescheidenen »monotheistischen Gott« überhaupt noch ein Platz bleiben angesichts eines solchen Konkurrenzdruckes? Wie aber steht es angesichts dessen mit Dawkins’ – doch wohl keine Ausnahme gestattenden – evolutionstheoretisch gespeisten Einsicht, dass »die natürliche Selektion jede Zeit- und Energieverschwendung« bestraft und eben »jene Konkurrenten« begünstigt, »die Zeit und Energie« statt nutzloser Tätigkeit »auf Überleben und Fortpflanzung verwenden. Die Natur kann sich leichtfertige Spielereien nicht leisten. Erbarmungslose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226). Wie aber sollte das Getummel im »Gotteszentrum« damit vereinbar sein? 156 Dawkins’ evolutionsbiologische Reflexionen über ein Gottes156 Dawkins hätte wohl die Auffassung seines Wiener Psychologie-Kollegen Rohracher energisch bekämpft, der sich auf die »Tatsache« beruft, »dass im menschlichen Gehirn Erregungsprozesse auftreten, aus denen der Gedanke an einen Gott und die Idee von der Würde und Freiheit des Menschen hervorgehen; auch hier darf man annehmen, dass die Zellsysteme, welche die Grundlage [!] für diese Begriffe und Ideen bilden, deshalb entstanden sind, damit [!] solche Gedanken möglich werden« (Rohracher 1967, 193). Ganz abgesehen von diesen offenbar doch irgendwie zielgerichteten »Erregungsprozessen« möchte man freilich auch vom Wiener Psychologen wissen, warum denn diese »Erregungsprozesse« so unterschiedliche – und gar gegensätzliche – Gottesgedanken »hervorgehen« lassen und warum der gleichermaßen daraus hervorgegangene Gedanke von der »Würde und Freiheit des Menschen« doch vergleichsweise sehr spät produziert wird und immer noch eher wenig verbreitet ist … Die »naturalistischen« Kurzschlüsse all dieser Erklärungen bedürfen wohl keines weiteren Kommentars.
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zentrum im menschlichen Gehirn – dessen Ausbildung sich offenbar selbst der in der Evolution maßgeblichen »erbarmungslosen Nützlichkeit« verdankt – wirft indes noch weitere Fragen auf, die Dawkins’ Atheismus-Mission nunmehr erneut als ein geradezu evolutionsfeindliches Vorhaben erscheinen lassen: Jenem »Gotteszentrum« und den religiösen Mem-Beständen wird also – und zwar in Berufung auf völlig evolutionsfremde, weil Überlebensvorteil-widrige Kriterien – im Namen der Wahrheit der Kampf angesagt, ohne dafür jedoch evolutionäre Maßstäbe zur Verfügung zu haben. Oder folgt auch dieser Kampf nicht so sehr dem Wahrheitsstreben als vielmehr den Maßstäben »erbarmungsloser Nützlichkeit«? Dann wäre dem Unternehmen ganz und gar jedes Fundament entzogen. Wenn auch die Religion selbst entsprechend dem evolutionären Grundsatz zu verstehen ist, dass Evolution nichts umsonst tut und somit der in der Natur vorherrschenden Losung jener »erbarmungslosen Nützlichkeit« wohl auch die Realität des Religiösen unterliegt, »und religiöses Verhalten … bei den Menschen die leicht erkennbare Entsprechung zum Ameisenbad oder dem Bau der Laubenvögel« (Gotteswahn 227) sein soll und andere Überlebensvorteile bietet – dann sind angesichts solcher »leicht erkennbaren Entsprechung« noch einige weitere Rückfragen unvermeidlich. So bleiben wohl schon die Entstehung und die hartnäckige Erhaltung dieses »geistigen Virus«, d. i. seiner »vitalen Zweckmäßigkeit«, erklärungsbedürftig, wobei der Hinweis auf die Religion als bloßes evolutionäres »Nebenprodukt« kaum ausreichen dürfte – ein solches bloßes »Nebenprodukt« ist mit der Existenz von »Gotteszentren« kaum vereinbar. Dawkins’ evolutionäre Erklärung der Religion ist bekanntlich dies: Er hält »Religion« lediglich für ein schädliches »Nebenprodukt« des an sich zwar zweckvollen »vertrauensvollen Gehorsams« (Gotteswahn 245 f.) gegenüber den »Erfahrungen früherer Generationen« und erläutert dies durch den engen funktionalen Zusammenhang von »Kindergehirn und Religion«, die als Kehrseite jenes biologisch zweckmäßigen Sachverhalts eine »sklavische Leichtgläubigkeit« zur Folge hat bzw. diese wenigstens begünstigt. Daran knüpft sich seine Diagnose über die »Anfälligkeit für Infektionen mit geistigen Viren« als daraus resultierenden »unvermeidlichen Nebenprodukten«, die die Realität der Religion erklären soll. Nicht nur bleibt hier wiederum zu fragen, welchen »Überlebensvorteil« Dawkins denn mit seiner Entlarvung für sich erreicht (dies scheint relativ einfach erratbar zu sein), sondern ob er nicht gleichermaßen ganz und 161 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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gar unverantwortliche Destabilisierungsfolgen bewirkt, indem er offensichtlich doch jenen notwendigen – menschliches Leben stabilisierenden – »vertrauensvollen Gehorsam« hingegen destabilisiert, indem er diesem doch das gute Gewissen nimmt. 157 Demnach wäre es also geradewegs unverantwortlich – und unklug obendrein – die Wahrheit über die Entstehung und Funktion der Religion ans Licht zu bringen. Erneut bleibt zu fragen: Wäre es denn nicht – hätte Dawkins Recht – viel plausibler, die Menschen bei ihrem Glauben an die Wahrheit der lebensstabilisierenden Traditionen zu belassen und dieses Vertrauen entsprechend auszunutzen – welchen Überlebensvorteil verspricht und folgt also Dawkins selbst mit seiner wahrheitsorientierten Entlarvung? Wie erklärt und rechtfertigt er unter diesen Gesichtspunkten also seine eigene Theorie? Richtet sich die Evolution in Dawkins’ Theorie gewissermaßen gegen sich selbst und gegen ihre von Dawkins als »darwinistische Zwangsläufigkeit« durchschaute Strategie, die der »Ökonomie der Natur« gleichsam ins Handwerk pfuscht und so die »Überlebensaussichten für die Gene eines Individuums« aufs Hinterlistigste beeinträchtigt, ja sogar untergräbt? Wäre nicht erst recht dieses Manko der eigentliche »Fehler der Evolution«? Und wie – durch welchen aufweisbaren Überlebensvorteil? – beantwortet Dawkins die Frage, warum so viele seiner Leser anfällig sind für die »Verlockungen« seiner Theorie, um eine seiner auf die Religion gemünzte Frage zu variieren? Was also ist die darwinistische Erklärung für Dawkins’ eigene Lust, die Religion zu entlarven und ihren Schein zu zerstören – und in welchem Gehirn-Zentrum, das es doch wohl ebenso geben wird, wäre sie lokalisiert? Die Entlarvung der »sklavischen Leichtgläubigkeit« als schädliches Nebenprodukt der Evolution könnte sich allzu leicht auf die anderen im Dienste der »Lebensstabilisierung« stehenden Membestände ausdehnen und diese Autoritäten sukzessive erschüttern. Und auch hinsichtlich der moralischen Grundlagen wäre doch zu fragen: Wenn auch die Überzeugung von der Gültigkeit moralischer Prinzipien bzw. Leitbilder unter evolutionsbiologischen Gesichts157 In eine ähnliche Richtung weist offenbar das von Spahn/Tewes geäußerte Bedenken: »Wir sollen durch die Illusion der Kategorizität und Objektivität der Moral zur Kooperation auch gegen egoistische Anflüge gezwungen werden, dies ist im Sinne eines evolutionär stabilen Verhaltens richtig. Doch wenn ich weiß, dass es nicht ein objektiver Grund ist, der mich verpflichtet, sollte ich mich dann nicht als rationaler Agent, der also nach wahren Gründen definitorisch zu handeln strebt, von jener falschen Beschränkung meines Egoismus freigestellt sehen?« (Spahn/Tewes 2011, 182).
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punkten selbst als funktional anzusehen, d. h. zu »erklären« ist, dann wirkt es doch ebenfalls destabilisierend, im Namen der Wahrheit durch ebendiese evolutionäre Erklärung diesen vermeintlichen »Prinzipien« den Anschein ihrer »objektiven Gültigkeit« nehmen zu wollen – oder erfüllt diese Berufung auf Wahrheit selbst wiederum lediglich eine evolutionäre Funktionalität? 158 Wenn der Glaube an die objektive-absolute Gültigkeit selbst evolutionär sinnvoll ist, dann ist es jedoch wohl erneut unklug und schädlich, darüber sowie über den illusionären Charakter der Moral aufzuklären – oder wird damit Wahrheit beansprucht, die wohl auch selbst lediglich erbarmungslos Nützlichkeitsaspekten folgt, d. h. Überlebensvorteile bietet? Die Illusionsthese über die bloß funktionale Bedeutung der Moral ist entweder selbst unklug-destabilisierend oder selbst bloß »vorteilsorientiert«. Also: Welchen evolutionären Überlebensvorteil bietet die Entlarvung der Religion als schädliches Nebenprodukt 159 selbst – oder ist Dawkins damit anderen Ansprüchen »verpflichtet«, und wie wären sie zu begründen? Ist also Dawkins’ Entlarvung selbst eine überlebensdienliche Strategie der Evolution, die sich darin gewissermaßen selbst durchschaut? Seine Theorie und ihre hierfür maßgebenden Meme müsste deshalb schlechterdings als schädlich und verwerflich angesehen werden, weil sie mit ihrer aufklärenden Entlarvung ja den Wahn entlarvt, der für seine bestehende Funktionstauglichkeit jedoch undurchschaut bleiben müsste. Verfällt Dawkins’ 158 Nur nebenbei: Ist demnach der energische Aufruf von Dawkins’ »bright«-Kollegen Schmidt-Salomon etwa so zu verstehen, dass die »brights« zur Bekämpfung eines im Gehirn lokalisierten Gottes-Zentrums »mobilisieren« – dann wäre auch hier die Konsequenz daraus dies: Nicht überzeugen, sondern therapieren und kurieren sollte man sie … »Es ist unverzichtbar, dass wir die lebensfeindlichen, kindlichen Mythen über Bord werfen. Wer dabei auf verletzbare religiöse Gefühle Rücksicht nimmt, zementiert nur die weltanschauliche Borniertheit« (zit. n. Religionsphilosophischer Salon: Die Götter müssen verschwinden. Warum die neuen Atheisten den Glauben fördern v. 13. 12. 2011, URL: http://religionsphilosophischer-salon.de/2061_die-gottermussen-verschwinden-warum-die-neuen-atheisten-den-glauben-fordern_religions kritik). Dies ist unter naturalistischen Prämissen ohnedies ganz unverständlich, weil gar nicht einsehbar ist, von welchen Maßstäben her Michael Schmidt-Salomon dies auch geltend machen könnte. Überdies schadet er damit offenbar der psychischen Befindlichkeit vieler Menschen, weshalb sein Rat auch als »überlebens«-nachteilig abzulehnen ist. 159 Wohlgemerkt: Nicht einmal die evolutionspsychologische Charakterisierung der Religion als Fitness-orientiertes evolutionäres Nebenprodukt müsste unbedingt einen Widerspruch zu der – solche Fitness-Aspekte und »Überlebensvorteile« freilich überschreitenden – möglichen Wahrheit der Religion bedeuten.
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entlarvende Theorie damit selbst im Grunde »Überlebens-abträglichen« Tendenzen, weil sie ja den notwendigen »vertrauensvollen Gehorsam« in die Traditionen relativiert und so selbst lebensfeindliche Wirkungen hat? Ist die Aufdeckung des biologisch zweckmäßigen Scheins der objektiven Gültigkeit der moralischen Prinzipien – etwa selbst ein evolutionär zweckmäßiges Produkt der Evolution, oder soll dies (und gegebenenfalls: weshalb?) als eine Einsicht gelten, die den evolutionären Mechanismen derart – sie relativierend – gewissermaßen in den Rücken fällt?
3.1.1 Exkurs: Vom »Gotteszentrum« im Gehirn zur neurobiologischen »Meditationsforschung« Dawkins’ evolutionstheoretische Erwägungen über die evolutionären Vorteile eines Gotteszentrums, das sich freilich weithin, so wie andere evolutionär überflüssig gewordene Relikte, im Aussterben befindet, weckt Assoziationen zu Berichten, denen zufolge in einem neurowissenschaftlichen Experiment mit einem »helmförmigen Apparat, der ein magnetisches Feld erzeugt«, die Schläfenlappen der Versuchspersonen mit der erfolgreichen Produktion von Phänomenen manipuliert wurden, die »dem entspricht, was Gläubige als Erscheinung eines göttlichen Wesens im Raum wahrnahmen« und gewisse »Überschneidungen mit Symptomen der Epilepsie« erkennen lasse. 160 Indes ist wohl auch in diesem Fall zu vermuten, dass sich ähnliche Ergebnisse in einschlägigen Gehirnuntersuchungen bei atheistischen Zeitgenossen zeigen – wäre es doch alles andere als überraschend, wenn einschlägige Untersuchungen und deren »bildgebende Verfahren« dabei zum Verwechseln ähnliche Gehirn-Befunde liefern sollten. Sowohl in den Gläubigen- als auch in den A-Theisten-Gehirnen und bei den diesbezüglich Indifferenten bzw. Agnostikern ist deshalb vermutlich zwar erneut ein heftiges Feuern der Neutronen zu registrieren; 161 Süddeutsche Zeitung v. 30. Mai 2007, 13. Ein wenig erinnern diese Erkundungen Singers und seines buddhistischen Gesprächspartners an jene Erklärungen des Ursprungs der Religion, für den religiöse Entzückungszustände auf das – durch künstliche Reizungen erzeugte – »NeutronenFeuer« in einer »Art Gott-Modul« im Schläfenlappen zurückgeführt wird (wie »Der Spiegel« berichtete: Der Spiegel 21/2002, 190). Nun haben jedoch sowohl die Standpunkte der Gläubigen als auch diejenigen der dezidiert Ungläubigen und ebenso die Agnostiker oder in diesen Fragen Gleichgültigen eine neurobiologische Basis »in« 160 161
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keineswegs ist allerdings (auf beiden Seiten) zu beobachten, dass diese etwa aufeinander »feuern«, vielmehr befinden sich beide untersuchte bzw. manipulierte Gehirnprozes-se wiederum durchaus schiedlich-friedlich (d. h. durchaus »widerspruchslos«) nebeneinander, auch auf den Bildschirmen (denn »neuronale Prozesse« als die »eigentlichen Ursachen« streiten 162 – man ist versucht zu sagen: vernünftigerweise – nicht miteinander); »aufeinander prallen« 163 vielmehr seltsamerweise lediglich die an Geltungsansprüchen orientierten Argumente 164 der miteinander streitenden Gläubigen und Atheisderen Gehirnen, die allesamt in gleicher Weise erforscht werden können. Was aber wird dann diesbezüglich durch diese Gehirnforschung eigentlich genauer besehen erklärt? Und noch einmal: all diese Gehirnprozesse widersprechen sich ja seltsamerweise (und erfreulicherweise) auch gar nicht! 162 In diesem Sinne betont auch Brandt (2009, 35): »Gehirnströme und Herzklopfen können sich sowenig wie Atome, Kristalle oder Bäume oder Bilder … widersprechen, weder äußerlich noch innerlich, auch Zeichen und Zeichensequenzen der Pflanzen, Menschen und Tiere sind (im Gegensatz zu Urteilen) Fakten, die widerspruchsimmun sind.« »Neurone realisieren unsere psychischen Erlebnisse – aber was Neurone und Erlebnisse und Denkakte sind, bestimmen wir, nicht das Hilfsmittel und Organ des Gehirns« (Brandt 2009, 56). 163 Und – um nochmals auf eine Argumentation in Platons »Alkibiades« zu verweisen (Alkibiades I, 130) – so wie nicht der Mund des Sokrates zu Alkibiades spricht und er nicht an das »Gesicht des Alkibiades«, sondern an Alkibiades seine Worte richtet, so wenig »redet« das Gehirn des Sokrates mit demjenigen des Alkibiades. – Ein ähnliches Motiv kommt offenbar auch in Wittgensteins Notiz zum Ausdruck: »Wenn Einer sagt: ›Ich habe einen Körper‹, so kann man ihn fragen: ›Wer spricht hier mit diesem Munde?‹« (Wittgenstein 1984, Bd. 8, 168). – Wenn, ähnlich wie Dawkins, auch Metzinger seine Leser darüber aufklärt, dass es in uns »kein substanzielles Selbst [gebe], das unabhängig vom Körper existieren könnte« (Metzinger 2009, 291), so ist daran zu erinnern, dass die Kritik an einem solchen »Selbst-Gespenst« aus der Philosophiegeschichte seit der Antike durchaus geläufig ist; gleichwohl erübrigen sich damit keineswegs jene angeführten Fragen des Sokrates und Wittgensteins (und Fichtes oben angeführte Einwände), vielmehr bleiben sie auch an jene naturalistischen »Selbst«Exorzisten zu richten und werden durch diese geradewegs bestätigt. 164 R. Brandt hat diesen Sachverhalt sehr eindringlich geltend gemacht: »Nerven und Gehirn sind nicht nur unserer inneren Wahrnehmung und unserem unmittelbaren Einwirken entzogen, sondern bilden auch keine Berufungsinstanz bei unseren Überlegungen und Entscheidungen. Wenn wir denken und handeln, dann folgen wir unseren Gefühlen, realisieren unsere Überlegungen und verwirklichen Vorsätze, aber hören auf keine Anweisungen, die uns von Neuronen und Synapsen übermittelt werden. Wer das Gegenteil behauptet, wird sich dabei nicht auf sein Gehirn berufen, das diese Gegenbehauptung verursacht, sondern auf Gründe, die im subjektiven Denken präsent sind und für dieses oder gegen jenes sprechen. Wenn das materielle Substrat die Regie übernimmt wie bei einem epileptischen Anfall oder im Zustand völliger Trunkenheit, dann hört unser Überlegen und Entscheiden auf, und auch ein Tier folgt
165 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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ten – solche Geltungsansprüche (bzw. »vermeintliche Gründe«) freilich, die es ohnehin nicht gibt, weil diese sich – in Wahrheit? – als feurige neuronale Prozesse nebeneinander erweisen und als solche – wie jedes »bildgebende Verfahren« vor Augen führt – offenbar eben auch problemlos nebeneinander (be)stehen können, 165 weshalb ein möglicherweise auf beiden Seiten auftretendes »ungutes Gefühl« sich in Wahrheit selbst lediglich als ein »evolutionäres Nebenprodukt« erweist. Dies bietet nunmehr auch naheliegende sachliche Anknüpfungspunkte für jene wissenschaftlichen Erträge, die W. Singer und sein buddhistischer Gesprächspartner aus ihren gemeinsamen neuro-biologischen Erkundungen über »Meditationen« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben, die allesamt den – freilich ohnehin unstrittigen – Sachverhalt bestätigen sollen: »Wir sind, was uns die biologische Evolution über die Gene und die kulturelle Evolution über Erziehung aufgeprägt hat« 166; infolgedessen haben ebendie einen diese, die anderen jene Gehirne bzw. entsprechende neuronale Zustände. Der unstrittige Sachverhalt der evolutionär bedingten biologischen Ausstattung und der damit verbundenen Dispositionen sowie der entsprechenden neuronalen »Realisierung« geistiger Prozesse kann in der Frage, »wer wir sind«, jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch gleichermaßen dazu befähigt ist, zu ebendieser Natur reflexiv Stellung zu beziehen – das tut er ja auch nicht zuletzt dadurch, dass er eben darüber wissenschaftliche Forschung betreibt, sich relativiert in Beziehung zu anderen Lebewesen und deren Evolunicht mehr seinen seelischen Dispositionen und Fähigkeiten, sondern gerät in die Gewalt seines erkrankten Körpers. Hier haben wir den von niemand bestrittenen Fall, in dem eine physische oder physiologische Kausalität die Gründe, über die Menschen, und die seelischen Dispositionen, über die Tiere und Menschen verfügen, ersetzen« (Brandt 2009, 12). 165 In ähnlicher Weise darf man gespannt sein, wie der »Streit« um die neurobiologischen Ansprüche sich entwickelt und ausgeht – falls ein solcher »Streit« denn mehr als ein neuronaler Prozess ist; denn wiederum: Was heißt hier »Streit«, und »wer oder was« wären die Streitenden (wie gesagt: neuronale Prozesse streiten bekanntlich nicht, sie schließen sich auch nicht aus) (vgl. Wingert 2006, 250)? Indes, »neuronale Prozesse« werden wohl bei Vertretern beider Seiten feststellbar sein; die unangenehme Vorstellung eines »Streits« beruht dann wohl selbst eher auf einem vom Hirnforscher unschwer aufzuklärenden Selbstmissverständnis und ist schlimmstenfalls ein »ungutes Gefühl« der Gesprächspartner (bzw. deren Hirnzustände) – doch wieder: Was heißt hier eigentlich noch »Gesprächspartner«? 166 Singer 2008, 14 f. Freilich ist dabei nicht ganz nebensächlich, dass wir dies auch wissen!
166 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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tion (und dies mit dem Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit) – und ebendiese reflexiven Wahrheits-orientierten Relativierungen als elementare Leistungen der kulturellen Entwicklung, die sich an theoretischen und praktischen Geltungs-Maßstäben orientiert, vollzieht. Singer zeigte sich dabei auch davon überzeugt, dass der Umgang mit »Emotionen« und die Kenntnis der »inneren Mechanismen von Glück und Leid« die »kognitive Kontrolle und Souveränität einer reifen Persönlichkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein«, erfordert, während sein buddhistischer Gesprächspartner diese Fähigkeiten eher einem »reifen Gehirn« zuschreibt, »um dauerhaft Stabilität in der emotionalen Kontrolle zu erreichen« 167 – was ja auch kein Wunder ist, zumal Singer das hartnäckige »Festhalten an dem mentalen Konstrukt eines Selbst« beklagt, »das sich wie eine autonome Einheit im Innersten unserer Erfahrung befindet« 168. Gleichwohl äußert er andernorts die Zumutung, dass »jemand in sich« hineinsehen und auch »aufrichtig« versuchen [sollte], ein besserer Mensch zu werden« 169 – das ist freilich leichter gefordert als getan: Wer oder was dieser nun doch wieder zur »Selbstbesserung« aufgerufene geheimnisvolle »jemand« ist, bleibt freilich rätselhaft, zumal ja ein »Selbst« als Kandidat für solche Besserung ausscheidet, sofern dieses »Konstrukt eines Selbst« längst als Illusion verabschiedet wurde und deshalb doch wohl das »reife Gehirn« selbst solche Besserung übernehmen muss. Inso167 Ebd. 47 f. – Als durchaus vielversprechend erscheint ein ergänzendes – »holistisches« – Angebot im gehobenen Wellness-Bereich: Neben Sauna- und Infrarot-Kabinen, werden je nach Bedarf und Laune, über Stimulierung bzw. Steuerung der Hirnaktivitäten in den entsprechenden Arealen gewünschte »atheistische« oder meditative »Zustände« verpasst; und eine psycho-hygienische Utopie wäre dies: Meditationsbzw. Sinn-Helme auf Krankenschein als Teil psychotherapeutischer Vorsorge-Medizin, verbunden mit neuer Freizeit-Gestaltung und Kuraufenthalten. 168 Ebd. 51. Fichtes Beschreibung des naturalistischen Standpunktes erweist sich als »ungemein aktuell: »das Bewusstsein ist hier nicht mehr jener Fremdling in der Natur, dessen Zusammenhang mit einem Sein so unbegreiflich ist; es ist einheimisch in derselben, und selbst eine ihrer notwendigen Bestimmungen« (Fichte 1997, 26). »Jene Freiheit, die gar nicht meine eigne, sondern die einer fremden Kraft außer mir, und selbst an dieser nur eine bedingte, nur eine halbe Freiheit war –, sie war es, die mir nicht genügte …« (ebd. 34). 169 Ebd. 132. Schon Fichte lässt seinen Naturalisten richtungsweisend sagen: »Im unmittelbaren Selbstbewusstsein erscheine ich mir als frei; durch Nachdenken über die ganze Natur finde ich, dass Freiheit schlecherdings unmöglich ist; das erstere muss dem letzteren untergeordnet werden, denn es ist selbst durch das letztere sogar zu erklären« (Fichte 1997, 25 f.).
167 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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fern scheint sich ohnedies die später erhobene Frage Singers, »wie wir uns das kontrollierende Ich vorstellen, das willentlich versucht, just das Organ zu verbessern, dem es sich verdankt« 170, zu erübrigen; und erst recht erweist sich auch die Forderung als sinnlos, dass die in der Meditationspraxis erworbenen Fertigkeiten »zu einem integralen Teil der Persönlichkeit und damit des Lebens« 171 werden sollten, wenn diese »Fertigkeiten« doch ohnehin solche des Gehirns sind. Genauer besehen bleibt wohl auch zu fragen, ob denn Singers weitere These, »dass das Fokussieren von Aufmerksamkeit mit einer Zunahme von Gamma-Oszillationen und neuronaler Synchronizität einhergeht« 172, unter seinen Voraussetzungen in Wahrheit nicht eher umzukehren wäre, d. h. diese Gamma-Oszillationen ebendies bewirken bzw. damit letztendlich ohnedies identisch sind; somit liefe die von ihm geltend gemachte »enge Beziehung zwischen synchroner oszillatorischer Aktivität, Aufmerksamkeit und bewusster Wahrnehmung« 173 im Grunde auf eine Gleichsetzung hinaus – freilich: anderen Äußerungen Singers zufolge wäre vielmehr zu sagen, dass Aufmerksamkeit usw. darauf »beruht«. Auch in diesem Zusammenhang sei nochmals betont: Freilich ist ein »methodischer Naturalismus« der Naturwissenschaft unverzichtbar – und demgemäß ist natürlich der Befund völlig unstrittig, dass während der Meditation »eine überraschende Zunahme hochkohärenter oszillatorischer Aktivität im Gamma-Frequenzbereich zwischen 40 und 60 Hertz« 174 festzustellen sein mag, daraus »dauerhafte Veränderungen in der synaptischen Übertragung« die Folge sind und auch das »Volumen der Hirnrinde in bestimmten Arealen der Großhirnrinde bei Menschen mit sehr großer Meditationserfahrung« 175 zunehmen mag. Unstrittig ist ebenso dies, dass »Meditation mit spezifischen Hirnzuständen einhergeht [!] und dauerhafte Modifikatio-
170 Ebd. 97. Die Frage liegt natürlich wiederum nahe, an wen sich diese Forderung der »Aufrichtigkeit« denn richtet – und wer ist eigentlich jene Instanz, die jene »Meditations«-Experimente durchführt, dabei offensichtlich entsprechende Regeln befolgen muss und die Ergebnisse dann, mit dem Anspruch auf »Wahrheit«, interpretiert – dafür ist eine »Freiwilligkeit« bzw. die deren fähige Instanz immer schon vorausgesetzt. 171 Ebd. 131. 172 Ebd. 53. 173 Ebd. 54. 174 Ebd. 60 175 Ebd. 65.
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Weitere Konsequenzen aus Dawkins’ Naturalismus
nen von Hirnfunktionen bewirkt« 176 – klärungsbedürftig bleibt indes, was denn solches der Meditation zugeschriebene »Bewirken« näherhin bedeuten soll, wenn sie doch vielmehr selbst ein neuronaler Prozess ist – sodass folglich ein neuronaler Prozess eben lediglich einen solchen »bewirkt«? Nicht weniger interessant ist die weitere Frage, wer denn diese geheimnisvolle Aktivierungs-Instanz ist bzw. sein soll, die in Singers Frage benannt wird: »ob es dir besser als untrainierten Probanden gelingt, selektiv Hirnstrukturen zu aktivieren, deren Funktion mit bestimmten Emotionen in Verbindung gebracht werden« 177? Nach diesem neuro-theologischen Intermezzo 178 wiederum zurück zur Kritik an den Kernthemen von Dawkins’ Naturalismus.
176 Ebd. 67. – All diese Aussichten mildern jedoch nicht das Los jener bedauernswerten, weil evolutionär gehandicapten Zeitgenossen, die womöglich, wenigstens einmal zur Abwechslung, so gerne »Atheisten« wären, denen es jedoch an den hierfür erforderlichen »neuronalen Prozessen« mangelt; »selig« hingegen jene, deren »Gehirnströme« allein eine »monotheistische Gläubigkeit« (mit geringfügigen Schwankungen) erlaubt – oder umgekehrt? 177 Ebd. 70. Auch der Neurophilosoph Metzinger bezieht sich auf die experimentelle Herstellung religiöser Erfahrungen und eröffnet hoffnungsvolle Perspektiven, denen zufolge man sich seine »meditativen« Erfahrungen gewissermaßen bestellen kann: »Könnte die streng reduktionistische Neurowissenschaft vielleicht eine Form der Turbo-Meditation entwickeln, die Mönchen dabei hilft, bessere Mönche zu sein, und Mystikern, bessere Mystiker zu sein?« (Metzinger 2009, 336) – und Atheisten, noch bessere Atheisten zu sein? Solche Möglichkeiten sollten längerfristig auch für (Wunsch-)Atheisten offen stehen; zur netten Abwechslung sollten dann also schon bald ein Turbo-Unglaube und damit verbundene Erlebnisse möglich sein. Eine schöne Vorstellung für die schöne neue Welt: Je nach Jahreszeit oder Wetterlage meditierend oder atheistisch! Auch Kater Garfield nickt wieder begeistert – da könnten ja vielleicht auch für ihn (bzw. für sein Gehirn) meditative Erfahrungen zugänglich werden und seine Lebensfreude noch erheblich steigern: »enjoy your life!« – Der Umstand, dass die von Metzinger erwähnten Versuche in Harvard durchgeführt bzw. erklärt wurden, ändert freilich nichts an der Unsinnigkeit der von ihm daran geknüpften Ansprüche, die offenbar zuletzt allesamt darauf hinauslaufen, die Religion »neurotheologisch« zu »biologisieren«: Möglicherweise verdanken sich einschlägige Perspektiven ja auch einer gedeihlichen und gewiss ausbaufähigen Kooperation mit Hollywood. 178 Eine weitere Erinnerung an Lichtenberg liegt auch in diesem Zusammenhang nahe: »Bei wachender Gelehrsamkeit und schlafendem Menschenverstand ausgeheckt« (Lichtenberg 1984, 153 [D 322]).
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4. Dawkins’ Naturalismus-Konzeption im Spiegel des von Th. Nagel beanspruchten Aufweises, »warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist« 179 Die Kritik an Dawkins’ reduktionistischen Naturalismus soll im Folgenden mit Blick auf das gegenwärtig viel diskutierte Buch von Thomas Nagel »Geist und Kosmos« noch weitergeführt und vertieft werden. Auf Dawkins’ reduktionistischen Naturalismus treffen auch all jene Einwände zu, die dieser einer Nähe zu Theologie, Religion und Kirche ganz unverdächtige amerikanische Philosoph in besonderer Zuschärfung und Weiterführung seiner früheren Versuche kritisiert hat. 180 Seine behutsam sondierende – wie er wiederholt betont: durchaus nicht religiös motivierte und auch nicht auf alternative Antworten festgelegte – Kritik an einem »materialistischen Reduktionismus« bezüglich eines umfassenden Verständnisses »der Beziehung zwischen Geist und physikalischer Welt« richtet sich vornehmlich gegen eine »bestimmte naturalistische Weltanschauung, die eine hierarchische Beziehung unter den Gegenständen dieser Wissenschaften postuliert und durch ihre Vereinigung die grundsätzliche Vollständigkeit einer Erklärung für alles im Universum geltend macht« 181. Damit wendet sich Nagels Teleologie-Konzeption indirekt auch gegen die von Dawkins’ Naturalismus erhobenen Ansprüche. Seine schon frühe Kennzeichnung des »Physikalismus« trifft offenbar direkt auf 179 In diesem Kapitel ist nicht eine umfassende Darstellung von (bzw. eine kritische Auseinandersetzung mit) Nagels Buch »Geist und Kosmos« beabsichtigt; deshalb können auch die inzwischen erfolgten – seien es affirmative, seien es auch sehr kritische – Stellungnahmen dazu ausgeblendet bleiben. Es werden hier allein diejenigen Aspekte von Nagels Naturalismus-Kritik näher thematisiert, die mit Blick auf Dawkins unmittelbar von Interesse sind. 180 Dass Nagels Buch so viel Aufmerksamkeit auch in den Feuilletons gefunden hat, obwohl einige seiner entscheidenden Einsichten und problemorientierten Argumente längst (und teilweise auch überzeugender) dargelegt sind (so etwa bei Spaemann/ Löw), könnte wohl damit zu tun haben, dass die Vorurteile des (von Nagel sogenannten) »naturwissenschaftlichen Establishments« und die daraus resultierende »Einäugigkeit« gerade auch im Wissenschaftsjournalismus weit verbreitet sind. 181 Nagel, Geist und Kosmos, 12 (im Folgenden abgekürzt: GuK).
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Dawkins zu: »Die Auffassung, dass Personen aus nichts als physikalischer Materie bestehen und dass ihre psychischen Zustände physikalische Zustände des Gehirns sind, nennt man Physikalismus (oder manchmal Materialismus)« 182. Im Unterschied zu Dawkins ist sich Th. Nagel der methodisch bedingten Grenzen (d. h. nicht nur der stets vorläufigen Schranken) naturwissenschaftlicher Forschung bewusst: »Wissenschaftler sind sich durchaus im Klaren darüber, wie viel sie nicht wissen, doch hier geht es um ein andersartiges Problem – es geht nicht bloß um die Anerkennung der Grenzen dessen, was tatsächlich verstanden wird, sondern um den Versuch zu erkennen, was sich prinzipiell mit bestimmten vorhandenen Methoden verstehen lässt und was nicht.« 183 Genau dieses kritische Bewusstsein lässt Dawkins vermissen – ungeachtet seines Anspruchs bzw. seiner Versicherung: »Das ist einer der großen Vorzüge der Wissenschaft: Wissenschaftler wissen, wann sie eine Frage nicht beantworten können. Und sie geben es fröhlich zu« (Zauber 186). Gegenüber der weitverbreiteten naturalistischen Auffassung, »dass der reduktive Materialismus die einzige ernsthafte Möglichkeit ist« 184, wirbt Nagel für die Anerkennung der »Grenze für die Reichweite der physikalischen Wissenschaften, die deshalb zur Erklärung der fehlenden Elemente mit etwas anderem ergänzt werden müssen« 185, diese die »Reichweite der Wissenschaft« markierenden »Grenzen« also zugleich auf »andere Formen des Verstehens« verwiesen, »die verständlich machen können, was die physikalische Wissenschaft nicht erklärt« 186. Die nachfolgenden Ausführungen zu Nagels Teleologie-Konzeption, die vor dem Hintergrund seiner Naturalismus-Kritik erfolgt, knüpfen in verschiedenen thematischen Hinsichten auch an die in Kap. 2.1 angezeigten Bezüge auf Aristoteles an. Dies liegt schon deshalb nahe, weil Nagel für Leitideen seines Buches »Geist und Kosmos« interessanterweise ausdrücklich auf die aristotelische TeleoloNagel 1990, 28. GuK 12. Dieser Aufweis ist freilich von ganz anderem Gewicht als die bloße Berufung auf die Autorität des »Alltagsverstandes«, die Nagel gegen die Ansprüche der »materialistischen neodarwinistischen Konzeption« mitunter in Anspruch nimmt. 184 GuK 13. 185 GuK 27. Dahin weist auch sein gegen alle wissenschaftlichen Einschüchterungen behauptetes Plädoyer für »ihrer logischen Form nach eher teleologisch statt mechanistisch« zu verstehende Prinzipien (GuK 17). 186 GuK 33. 182 183
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gie-Konzeption rekurriert. Die in Nagels »Geist und Kosmos« vertretene Teleologie-Konzeption impliziert jedenfalls auch eine nähere Differenzierung der darin leitenden Warum-Frage, im Sinne der aristotelischen Ursachen-Lehre, 187 die auf zu unterscheidenden Ebenen zu beantworten ist. 188
4.1 Zu der mit Nagels Naturalismus-Kritik verknüpften Begründung einer kritischen »Teleologie«-Konzeption Genau im Sinne einer methodisch besonnenen – gerade nicht reduktionistischen – »Bedingungsforschung« geht es Nagel vor allem darum, zu »wissen, wie der Geist und alles, was mit ihm zusammenhängt, abhängt von dem Auftreten und der Entwicklung lebendiger Organismen als einem Ergebnis der physikalischen, chemischen und schließlich biologischen Evolution des Universums. Ich werde den Standpunkt vertreten, dass diese Prozesse im Licht dessen, was sie hervorgebracht haben, neu überdacht werden müssen, wenn der psychophysische Reduktionismus falsch ist«, d. h. der »Reduktionismus in der Biologie skeptisch zu betrachten« ist. 189 Gegen diese reduktio187 Diese von Aristoteles wiederholt angeführte Unterscheidung, die auch als Aufnahme und Weiterführung einschlägiger platonischer Motive zu verstehen ist, besagt (einer besonders präzisen Bestimmung [nach der Übersetzung von Gohlke] zufolge: Aristoteles Met. IV 2, 1013 a 24 – 1013 b 28: »Ursache wird (1.) in einer Bedeutung der immanente Stoff genannt, woraus etwas wird; so ist das Erz der Bildsäule, das Silber der Schale Ursache und ebenso die allgemeineren Gattungen von diesen; (2.) in einer andern Bedeutung heißt Ursache die Form und das Musterbild – dies ist der Begriff des Soseins [besser wohl: seines »Wesensbegriffes«]. Ferner heißt Ursache dasjenige wovon her die die Veränderung oder die Ruhe ihren ersten Anfang nimmt […] (4.) Ferner heißt etwas Ursache als Zweck, d. h. als dasjenige, worumwillen etwas geschieht«. 188 Auffällig sind jedenfalls die zahlreichen sehr »realistisch« anmutenden »teleologischen« Wendungen, die Nagel hier verwendet, die keineswegs »metaphorisch« entschärft werden dürfen: So ist von dem »Auf-dem-Weg- Sein« die Rede – von einem Weg, »der zu bestimmten Ergebnissen führt« (GuK 101; 135) und »Tendenzen« der Natur bzw. der Naturdinge anzeige (GuK 100; 133; 140; 175; 178); auch ist davon die Rede, dass »das Universum grundsätzlich dazu neigt, Leben und Geist zu erzeugen« (GuK 182), ebenso von einem »Hang« der Welt der Natur, »Wesen von der Art entstehen zu lassen, die ein Wohl haben« (GuK 174) (wobei solches »Wohl« wohl überhaupt mehrdeutig ist). 189 GuK 14. »Mir fällt es allerdings schon seit langem schwer, die materialistische Erklärung dafür, wie wir und andere Organismen entstanden sind, zu glauben, die maßgebliche Version, wie der Evolutionsprozess funktioniert, eingeschlossen« (ebd.).
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nistischen Tendenzen wendet sich zunächst Nagels Plädoyer für die Nichtreduzierbarkeit »des Geistigen auf das Physikalische« 190 und alles dessen, was »mit dem Geistigen« einhergeht »wie etwa Wert und Ordnung«, ohne dass dies als bloß »sonderbare Zusätze« 191 eingeschleust wird. In solcher Hinsicht kritisiert Nagel auch die Borniertheit und Problemblindheit des von szientistischen Vorurteilen besessenen »naturwissenschaftlichen Establishments« 192 und verteidigt demgegenüber auch die durchaus berechtigten naturwissenschaftlichen und philosophischen Motive der insbesondere in den Vereinigten Staaten in Erscheinung getretenen Positionen, die jedoch aus weltanschaulichen Gründen von vornherein nicht ernst genommen wurden bzw. werden. Nagels problemorientierte Sensibilität zeigt sich diesbezüglich (im signifikanten Unterschied zu Dawkins) nicht zuletzt darin, dass er – ungeachtet seiner wiederholt geltend gemachten Ablehnung einer religiös inspirierten Kritik – gegen das vorherrschende (einzig anti-religiös begründete) ideologisch gefärbte Vorurteil für wissenschaftlich berechtigte Motive der »IntelligentDesign-Vertreter« Partei ergreift: Entgegen den vornehmen Tönen und dem von ihm als »offensichtlich unfair« empfundenen Spott 193 des wissenschaftlichen Establishments zeigt er sich offen für »die empirischen Argumente, die diese gegen die Wahrscheinlichkeit anführen, dass sich der Ursprung des Lebens und dessen evolutionäre Geschichte vollends durch die Physik und Chemie erklären lassen« und würdigt sie, »für sich genommen [als] von großem Interesse« 194. Der 190 GuK 27. Gleichwohl insistiert auch ein methodisch besonnenes Selbstverständnis als »Bedingungsforschung« darauf, dass auch die Wirklichkeit des »Geistigen« selbstverständlich in komplexen physikalischen bzw. neuronalen Prozessen eine notwendige Bedingung hat, die immer präziser erforscht werden müssen; das ändert nichts daran, dass das »Geistige auf das Physikalische« nicht reduzierbar ist bzw. aus der »Erklärung durch natürliche Auslese« (GuK 71) nicht zu leisten ist – seine »Realität« ist wohl das Kernmotiv seiner »Teleologie-Konzeption«. 191 GuK 29. 192 GuK 75. – Hinsichtlich der zugrunde liegenden Motive verteidigt Nagel die »Intelligent-design«-Anliegen gegen den »dominanten wissenschaftlichen Naturalismus«, der von den Vertretern des »säkularen theoretischen Establishments« und der »zeitgenössischen Kultur« (GuK 181) vertreten wird. Damit verweigert sich Nagel, dem löblichen Beispiel Dawkins’ folgend, ohnedies lediglich der nach Dawkins »in den Debattierklubs der Universitäten« vorherrschenden schlechten Üblichkeit, »dass man den Sprechern einfach vorschreibt, welche Sätze sie zu verbreiten haben« (Uhrmacher 8). 193 GuK 23. 194 GuK 21.
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von Dawkins erhobene Anspruch, dass die darwinistische Deszendenz-Theorie »die einzige bekannte Theorie ist, die das Geheimnis unserer Existenz überhaupt lösen konnte« (Uhrmacher 8) 195, bleibe hingegen, so Nagel, schlichtweg uneingelöst. Es sind vielmehr die hier zutage tretenden unbewältigten Sachprobleme, die auch seine kritische »Teleologie-Konzeption« inspirieren. Nagel bringt darin die »Teleologie« als eine »naturalistische Alternative« in Stellung, »die sich von allen drei anderen zur Wahl stehenden Erklärungen unterscheidet: von Zufall, Kreationismus und ungerichteter physikalischer Gesetzmäßigkeit« 196: »Teleologie bedeutet, dass es zusätzlich [!] zur physikalischen Gesetzmäßigkeit, wie sie uns vertraut ist, andere Naturgesetze [!] gibt, die ›zum Wunderbaren neigen‹« 197; demgemäß rekurriert er darauf, dass »Teleologie irreduzible Prinzipien zulassen« würde, »die eine zeitlich ausgedehnte Entwicklung bestimmen« 198. Zu fragen ist freilich, ob Nagel mit solchem Rekurs auf 195 Freilich, Dawkins’ Frage, »Wie sind wir entstanden?«, bleibt – wohl auch nach Nagel – davon noch zu unterscheiden. 196 GuK 133. 197 GuK 133 f. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Nagels Naturalismus-kritische Leitfrage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, von den auf die »Wahrscheinlichkeit« abzielenden Fragen genau zu unterscheiden bleibt, zumal es hier darum geht: »Erstens, wie groß ist in Anbetracht dessen, was über die chemischen Grundlagen der Biologie und Genetik bekannt ist, die Wahrscheinlichkeit, dass sich selbst reproduzierende Lebensformen allein aufgrund der Wirkung der Gesetze der Physik und Chemie in der Frühzeit der Erde spontan entstanden sind? Die zweite Frage betrifft die Quellen der Variation im evolutionären Prozess, der in Gang gesetzt wurde, als das Leben begann: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es infolge physikalischer Zufälle zu einer Reihe lebensfähiger genetischer Mutationen gekommen ist, die ausreichte, um der natürlichen Auslese in dem geologischen Zeitraum, der seit dem Auftreten von ersten Lebensformen auf der Erde verfügbar war, die Produktion der Organismen zu ermöglichen, die tatsächlich existieren?« (GuK 15 f; 19 f.). Es scheint, dass Nagel die hier unterschiedenen Fragehinsichten nicht immer hinreichend unterschieden hat und sich – insofern – auch dem wiederholt geäußerten Einwand Dawkins’ aussetzt, dass Darwins’ Theorie keine »Theorie des Zufalls« ist. Indes ist das Auftreten der Dimension des »Geistigen« als »Geistiges« ungeachtet der selbstverständlichen physikalisch-chemischen Bedingungen daraus noch nicht ableitbar bzw. unter evolutionären Aspekten als »zureichender Grund« verständlich zu machen. Darauf scheint Nagels – allerdings selbst wieder als eine »naturalistische Alternative« (GuK 133) verstandene – »Teleologie-Konzeption« im Kern abzuzielen, jedoch wird dieser Aspekt mitunter mit diesen »Wahrscheinlichkeits«-orientierten Erwägungen vermengt, sodass sich die »teleologische« Argumentation dann doch wieder auf die »genealogische« Ebene und somit auf die »Bedingungsforschung« verlagert. S. dazu o. I., Anm. 40. 198 GuK 134.
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»andere Naturgesetze« nicht doch ein schiefes »additives« Verständnis begünstigt, welches allzu leicht »vitalistisch« missverstanden werden könnte – was also seiner eigenen, völlig berechtigten Ablehnung eines »Vitalismus« völlig zuwiderliefe. 199 Dabei bleibt natürlich auch für Nagel ganz außer Streit: Ohne die elementaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten und die durch sie bestimmten Mechanismen ist die Entstehung der evolutionär maßgebenden und auch zweckmäßigen Evolutionsmechanismen nicht zu verstehen, 200 was bedeutet: Die schon in methodischer Hinsicht unverzichtbare durchgängige empirische Kausalforschung (und entsprechender Gesetzmäßigkeiten) steht jedoch zu einer berechtigten – und in gewisser Weise auch unverzichtbaren – teleologischen Konzeption keineswegs von vornherein im Widerspruch; denn selbstverständlich ist davon auszugehen, dass »natürlich Lebendiges« (Organisches), Bewusstsein, Geist und damit auch Kognition und Normbewusstsein ohne physikalisch-chemische Prozesse (als den elementaren empirischen Bedingungen) nicht »real« sein bzw. erklärt werden kann. Dass Lebendiges sich nur durch sie und in ihnen »realisiert«, bedeutet jedoch keineswegs, dass diese Phänomene sich darauf einfachhin reduzieren lassen. Es ist eben ein Unterschied, zu behaupten: Alles ist bloß physikalisch-chemisches Geschehen, und auch »Lebendiges« ist dessen Produkt – oder zu sagen, dass es ungeachtet dieser »Realisierung« ein Selbständiges ist, das gleichwohl notwendig an diese elementaren physikalisch-chemischen Abläufe gebunden bleibt, weil eben »Leben« immer auch Chemie ist – ohne es einfachhin auf chemische Prozesse zu reduzieren; so wäre freilich auch gar 199 Es sind diese Unklarheiten, die infolgedessen auch schiefe Alternativen jedenfalls begünstigen, wie folgender Passus sichtbar macht: »Entweder diese Entwicklung hängt selbst gänzlich von Wirkursachen ab, die sich in späteren Stadien durch die Mechanismen biologischer Evolution vollziehen, oder es gibt zusätzlich zu den uns vertrauten Gesetzen, welche das Verhalten von Elementen beherrschen, natürliche teleologische Gesetze, welche die Entwicklung von Organisation über die Zeit hinweg gesteuert haben« (GuK 99). Solche Denk-Alternativen bzw. Trennungen möchte offenbar Spaemann vermieden sehen, wenn er betont: »Teleologische Erklärungen konkurrieren nicht mit kausalen. Sie lassen uns nur verstehen, warum Kausalreihen auf eine Weise interferieren, dass das Ergebnis der Interferenz ein sinnvolles Gebilde ist. Natürlich kann diese Interferenz auch Zufall sein« (2007a, 61). 200 Freilich betonte schon Schrödinger: »Nach allem, was wir von der Struktur der lebenden Materie gehört haben, müssen wir darauf gefasst sein, dass sie auf eine Weise wirkt, die sich nicht auf die gewöhnlichen physikalischen Gesetze zurückführen lässt« (Schrödinger 1951, 133).
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nicht von »Biochemie« zu reden, zumal dafür doch die »systemische« Eigendimension des Lebendigen vorausgesetzt bleibt und so die Notwendigkeit der Unterscheidung verschiedener – irreduzibler bzw. eigenständiger – Ebenen anzeigt.
4.1.1 Die notwendige Unterscheidung verschiedener Ebenen Zu Nagels Feststellung, es gäbe in der empirischen Realität auftretende Phänomene, die jedoch nicht als physikalisch-chemische Prozesse fassbar sind, sei zunächst dies angemerkt: Wie soeben erwähnt, kann Nagels Position natürlich nicht besagen bzw. beanspruchen, dass es empirische Phänomene gibt, die als solche nicht physikalisch-chemischer Natur sind bzw. als solche nicht beschrieben werden können, ohne auf andere nicht-empirische Faktoren bzw. Erklärungen zu rekurrieren – jedoch sind sie nicht auf solche einfach zu reduzieren. Nur so ist Nagels wiederholter – wohl ein wenig missverständlicher – Hinweis zu verstehen, dem zufolge »Geist das Erzeugnis eines teilweise physikalischen Prozesses ist«, gleichwohl »nicht vollständig als solche beschreibbar« ist. Dies kann freilich nicht bedeuten, dass Lebendiges und auch der Mensch in ihrer Entstehung nicht aus physikalischen Vorgängen und den darin ablaufenden Mechanismen hierfür (als Bedingungen) verstanden werden können 201 – zumal jedenfalls nirgendwo der empirisch-physikalische Zusammenhang durchbrochen ist und natürlich daran festzuhalten ist, dass die mit dem Auftreten der Organismen und des bewussten Lebens verbundenen Kontingenzen gleichwohl »mit dem physikalistischen Charakter der Theorie vereinbar« bleibt 202. Nagel lässt natürlich keinen Zweifel 201 Für diese Ebene gilt natürlich all dasjenige, was Dawkins als Errungenschaften der Wissenschaften geltend macht (Die Leere der Theologie): »Die Wissenschaft ist verantwortlich für das folgende Wissen über unsere Ursprünge. Wir wissen annähernd, wann das Universum begann und warum es überwiegend aus Wasserstoff besteht. Wir wissen, warum sich Sterne bilden und was in ihrem Inneren geschieht, um Wasserstoff in die anderen Elemente umzuwandeln, wodurch die Chemie in eine Welt der Physik geboren wird. Wir kennen die grundlegenden Prinzipien, wie eine Welt der Chemie durch das Hervorbringen selbst-reproduzierender Moleküle zur Biologie werden kann. Wir wissen, wie das Prinzip der Selbst-Replikation durch die darwinistische Selektion alles Leben ermöglicht, auch das menschliche. Es ist die Wissenschaft und nur die Wissenschaft, welche uns dieses Wissen gab und sie gab es uns außerdem in faszinierendem, überwältigendem, sich gegenseitig bestätigendem Detail.« 202 GuK 74 f. – Dies entspricht durchaus der auch von Dawkins erhobenen Forderung:
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daran: Auch die für die evolutionären Prozesse maßgebenden biologischen – Evolution erst ermöglichenden – Mechanismen müssen in ihrer Genese lückenlos aus diesen elementaren physikalisch-chemischen Prozessen erklärt werden, weil anders physikalische Forschung auch gar nicht möglich wäre; deshalb dürfen auch nicht Empirie-fremde (»transzendente«) Faktoren als »Fremdlinge der Naturforschung« (so schon Kant) zu Erklärungszwecken illegitimerweise ad hoc eingeführt werden, die an die Stelle empirischer Kausalforschung treten könnten. Auch die für die Evolution maßgebende natürliche Selektion und ihre »Mechanismen« sind natürlich selbst als ein Ergebnis der physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen und sind so auch die unumgänglichen Voraussetzungen für das Entstehen neuer Qualitäten. Es ist offenbar die Angst vor einem drohenden Dualismus, die Nagel gleichwohl wiederum vom »Geist« als »Produkt der biologischen Evolution« sprechen lässt bzw. davon, dass »Organismen mit geistigem Leben keine wundersamen Anomalien, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Natur sind« und ebendies eine »Konzeption der Naturordnung« als vertretbar erscheinen lasse, »die … den Geist zum zentralen Faktum macht, anstatt zu einer Nebenwirkung der physikalischen Gesetzmäßigkeit« 203. Das dahinter erkennbare – allzu verständliche – Anliegen, dass es in der Naturerklärung stets »mit rechten Dingen zugehen müsse«, besagt eben die schon aus methodischen Gründen unverzichtbare Anerkennung bzw. Voraussetzung der Natur als ein »geschlossenes System«, dass die lückenlose Gültigkeit der physikalischen Gesetzmäßigkeit, die auch für die Entstehung bzw. das Bestehen des Lebendigen ausnahmslos »Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass lebende Materie die Gesetze der Physik verletzt. […] Es ist nur so, dass wir nicht sehr weit kommen, wenn wir die Gesetze der Physik unkritisch dazu benutzen, das Verhalten eines ganzen lebenden Körpers zu verstehen« (Uhrmacher 24). Und auch das anschließend von Dawkins angeführte Beispiel des Vogelfluges macht doch deutlich, dass die durchgehende Angepasstheit an die physikalischen Gesetzmäßigkeit doch für das Verständnis des Fliegenkönnens vorausgesetzt ist und auch die Realisierung von »Zweckmäßigkeit« in der Natur ohne diese physikalische Gesetzmäßigkeit nicht zu denken ist, also gewiss nicht in Konkurrenz dazu steht. Dazu sei nur noch angemerkt: Wenn die evolutionären Produkte sich selbst der »Anpassung« an die »physikalischen Gesetzmäßigkeiten« verdanken (und ohne Letztere eine »Anpassung« der Organismen weder möglich noch notwendig wäre), dann können diese »physikalischen Gesetzmäßigkeiten« nicht selbst aus der Evolution der Natur durch »Anpassung« hervorgehen, weil sie diese erst ermöglichen. 203 GuK 28 f.
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gilt, als unumgängliche Basis für das Auftreten komplexerer Strukturen voraussetzt (wie übrigens auch alle kritische Naturphilosophie stets betont hat). 204 Nagel scheint derart darauf zu insistieren, dass alle »Weltprozesse« als physikochemische Abläufe erklärbar sein müssen; der Fehler besteht ihm zufolge jedoch darin, diese unver-
204 Die von Nagel angeführten Beispiele, die auf die »teleologische« Konzeption abzielen bzw. dafür werben, variieren genauer besehen allesamt die klassische Unterscheidung zwischen »Ursache und Mitursache«, welche die falsche Trennung bzw. Alternative von Mechanismus oder Teleologie durchschaut und überwindet. In diesem Sinne betont Nagel am Bespiel des Taschenrechners: »Die physikalische Erklärung [der Abläufe beim Eingeben der Zahlen] allein würde die Ursache für die Ziffer, die auf dem Display erscheint, angeben, sie würde aber die Zahl als solche nicht erklären« (GuK 79) – eine Argumentation, die genauso auf die Reduktionismen eines »Psychologismus« (s. u. I., 5.1) anzuwenden wäre. Nagel variiert ohnedies lediglich die Auffassung Platons: »Wir dürfen durch die Erklärung der Mitursachen nicht zu Verächtern der Vernunft werden«, die er an dem bekannten Beispiel des im Gefängnis »sitzenden Sokrates« erläutert: Denn die Frage, »warum« denn Sokrates hier sitze, wo er doch längst hätte fliehen können, ist nicht durch die physikalischen bzw. anatomischen Gesetze (Schwerkraft, Hebelgesetze, Anatomie des Körpers, Anspannung der Sehnen und die Knochen) hinreichend zu beantworten, obgleich es natürlich richtig ist, dass die »wahre Ursache« ohne die »Mitursachen« sich nicht verwirklichen könnte; dies war ihm ja durchaus geläufig, wie seine Argumentation zum sitzenden Sokrates zeigt. Platons berühmter Argumentation zu dem im Gefängnis sitzenden Sokrates zufolge (wie auch Aristoteles, der diese Unterscheidung zwischen »Grund« und »Mitursache« übernimmt) ist es natürlich richtig, »wenn jemand sagte, dass ohne dergleichen [wie Sehnen, Knochen usw.] zu haben, … ich nicht imstande wäre meine etwaigen Absichten auszuführen … Aber dass ich auf Grund dieser äußeren Mittel tue was ich tue und dass ich insofern vernünftig handle, nicht aber insofern, als ich das Beste wähle, das zu behaupten wäre doch eine große und auffällige Gedankenlosigkeit. Denn das hieße nicht imstande sein zu unterscheiden zwischen der eigentlichen Ursache und dem, ohne welches die Ursache nicht wirken kann« (Phaidon 97c–99b). Kurzum: Der hinreichende Logos (die Erklärung für das Hiersitzen) sind nicht die »Mitursachen«. Denn natürlich hatte Platon keinen Zweifel darüber, dass das »HierSitzen« des Sokrates aus diesen anatomischen-physiologischen Faktoren vollständig beschrieben und »erklärt« werden könne – so wenig hätte er Zweifel daran, dass damit die Frage »Warum?« noch nicht beantwortet, d. h. das »Warum?« des Hier-Sitzens des Sokrates verstanden wäre. Der unstrittige Sachverhalt, dass das »Hier-Sitzen« des Sokrates natürlich durchgehend als ein physikalischer Vorgang analysierbar und beschreibbar ist, ändert nichts daran, dass dieses »Hier-Sitzen« gleichwohl anderes und mehr als ein physikalisches Ereignis ist. Jene Unterscheidung zwischen eigentlicher »Ursache« (besser: »Grund«) und »Mitursache« spielt in Dawkins’ Erläuterung freilich überhaupt keine Rolle; bezeichnenderweise ist es ihm zufolge zwar »wahr, dass alles aus einem bestimmten Grund [!] geschieht: ›Grund‹ bedeutet hier ›vorausgehende Ursache‹« (Zauber 232); genau dies ist aber im Sokrates-Beispiel nicht der »zureichende Grund« für das Hier-Sitzen des Sokrates.
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zichtbare Sichtweise zu verabsolutieren und jede andere – damit keineswegs konkurrierende – Perspektive auszuschließen. 205 Physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten bleiben – als Gesetzmäßigkeiten allgemeinerer Art – unumgängliche Voraussetzung für die spezifischeren biologischen Gesetzmäßigkeiten, zumal ohne sie eben auch die – daraus folgenden – »emergierenden« Qualitäten bzw. Erscheinungen nicht möglich wären. Deshalb lässt sich im Blick auf diese hier zunächst zu benennende erste Ebene im Blick auf Nagels Konzeption geltend machen, dass die realen physikalischen Gesetzmäßigkeiten sich insofern als »zweckmäßig« erwiesen haben bzw. als solche beurteilt werden können, als sie offensichtlich die Entstehung des Lebendigen und die für die Evolution des Lebendigen und zuletzt auch des Menschen 206 – also bis hin zu Bewusstsein, Kognition und Werten – maßgeblichen Mechanismen ermöglicht haben, die in der klassischen Evolutionstheorie und deren Weiterentwicklung in so faszinierender Weise erforscht werden. Auch Nagel betont ausdrücklich: Es gibt überhaupt keine rational ausweisbare Alternative zu den schon auf dieser elementaren Ebene maßgebenden evolutionären Gesichtspunkten – und auch jedwedes Bemühen um den Aufweis der Vereinbarkeit zwischen »physikalischer Gesetzmäßigkeit und Teleologie« setzt notwendigerweise diese Lückenlosigkeit der erstgenannten voraus; andernfalls wäre auch gar keine Naturwissenschaft möglich, zumal doch nur so von einer solchen »Vereinbarkeit« vernünftigerweise zu reden ist. Und nur in diesem Sinne lässt sich, ohne damit Missverständnissen Vorschub zu leisten, die in Nagels Buch leitende These verstehen: »Wenn das Auftreten von be205 Nagels Leitperspektive steht hier offenbar in der Spur von Leibniz: »Ich glaube, dass in der Natur tatsächlich alles auf mechanische Weise geschieht und sich aus Wirkursachen erklären lässt, dass gleichzeitig aber alles auch … sich aus Zweckursachen erklären lässt und dass sich diese beiden Reiche … durchdringen und miteinander vollkommen in Übereinstimmung sind« (Leibniz 1989, 105: Brief an G. F. Billetes v. 14. 12. 1696). 206 Genau so, wie Dawkins es formuliert (Gotteswahn 199): »Da wir existieren, müssen die Gesetze der Physik so freundlich sein, die Entstehung von Leben zuzulassen. Dass wir bei einem Blick zum Nachthimmel die Sterne sehen, ist kein Zufall: Sterne sind eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz der meisten chemischen Elemente, und ohne Chemie gäbe es kein Leben. Die Physiker habe es genau berechnet: Wären die physikalischen Gesetze und Konstanten auch nur geringfügig anders, hätte sich das Universum so entwickelt, dass Leben nicht möglich gewesen wäre«. Aus dieser »Freundlichkeit« der Gesetze der Physik allein ist allerdings unser Dasein noch nicht abzuleiten.
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wussten Organismen in der Welt auf Prinzipien der Entwicklung zurückgeht, die sich nicht aus den zeitlosen Gesetzen der Physik ableiten lassen, könnte das zudem ein Grund für Pessimismus sein, was die rein chemischen Erklärungen für den Ursprung des Lebens betrifft« 207. Eine verbleibende Ungeklärtheit dieser unterschiedlichen Problemaspekte spiegelt sich jedoch offenbar in Nagels Auffassung wider, dass Lebendiges, Bewusstsein und Geistiges »von den physikalischen Wissenschaften nicht vollständig erklärt werden könne« 208, obgleich Leben, Bewusstsein und »Geist das Erzeugnis eines teilweise physikalischen Prozesses« ist und er auf der Vereinbarkeit »mit dem physikalistischen Charakter der Theorie« insistiert – eine Einsicht, die offenbar die Unterscheidung und die zu vermittelnde Einheit der traditionellen Bestimmungen von »Mitursache« und »Ursache«, »causa efficiens« und »causa finalis« voraussetzt bzw. in naturphilosophischer Hinsicht daran anknüpft 209. Dies ist jeder philosophiGuK 25. Dieser Hinweis auf die »nicht vollständige« Erklärbarkeit (bzw. dass dies nicht »zur Gänze« möglich sei) (GuK 28), ist allerdings in gewisser Weise missverständlich, sofern darin die Ebene und der methodische Status dieser »Bedingungsforschung« nicht hinreichend deutlich wird. 209 In diesem Sinne darf man wohl auch den Versuch von Spaemann/Löw verstehen (1982, 274), der »Kausalnexus und Finalnexus als zwei Seiten in ihrer Wahrheit in sich aufgehoben enthält. Falsch werden diese, wenn man sie abstrakt auseinander- und gegeneinanderhält, als isolierte für das Ganze nimmt. Wenn man – aristotelisch – ›Kausalforschung‹ als ›Mittelforschung‹ interpretiert, dann tritt finale Interpretation mit dieser nicht in Konkurrenz.« Leibniz hat für diese von Dawkins völlig verkannte notwendige Unterscheidung und Vermittlung ein eindringliches Beispiel gebraucht, das beiden Seiten die Unmöglichkeit der Verabsolutierung ihrer jeweiligen »Erklärungsart« vor Augen führt und mit Blick auf Dawkins lediglich zu adaptieren wäre: »Dies ist ebenso, als wollte ein Historiker bei der Darstellung einer Eroberung, die ein großer Fürst durch die Einnahme einer wichtigen Stadt gemacht hat, sagen, das sei deshalb geschehen, weil die kleinen Teilchen des Kanonenpulvers der Berührung mit einem Funken ausgesetzt waren und mit einer Geschwindigkeit entwichen seien, dass sie in der Lage waren, einen harten und schweren Körper gegen die Mauern der Stadt zu schleudern, während die Haken der kleinen Teilchen, aus denen das Kupfer der Kanone besteht, fest genug miteinander verbunden waren, um sich durch diese Geschwindigkeit nicht voneinander zu lösen –, statt zu zeigen, wie die Voraussicht des Eroberers ihn die richtige Zeit und die geeigneten Mittel wählen ließ und wie sein Können alle Hindernisse überwunden hat« (Leibniz 1958, Nr. 19). Besonders eindringlich hat Leibniz die Borniertheit der einseitig fixierten Perspektiven und die daraus folgenden schiefen Disjunktionen in der Nr. 22 der »Metaphysischen Abhandlung« aufgewiesen. 207 208
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schen Teleologie-Konzeption, die philosophisch und naturwissenschaftlich ernst genommen werden will, notwendigerweise vorausgesetzt. Die auf dieser Basis von Nagel verfolgte »teleologische Perspektive« hat er gelegentlich auch folgendermaßen charakterisiert (was allerdings, wie schon erwähnt, ein bloß »additives« Missverständnis wohl eher begünstigen könnte): »Eine teleologische Darstellung wird auf dem Standpunkt stehen, dass es zusätzlich zu den Gesetzen, die das Verhalten der Elemente unter allen Umständen bestimmen, auch [!] Prinzipien der Selbstorganisation oder der Entwicklung von Komplexität über die Zeit hinweg gibt, die sich nicht allein mit diesen Elementargesetzen erklären lassen« 210 – ohne freilich diesen zu widersprechen bzw. ohne diese auskommen zu wollen. 211 Leitend ist darin seine Überzeugung, »dass die Idee teleologischer Gesetze kohärent ist und sich von der Idee einer Erklärung durch die Intentionen eines absichtsvollen Wesens … stark unterscheidet. Trotz des Ausschlusses der Teleologie aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft sollte sie sicherlich nicht apriori gestrichen werden« 212. Diese Teleologie-Bestimmung bleibt wohl zunächst eine bloße Problemanzeige und darüber hinaus freilich noch unterbestimmt; dies zeigt sich wohl auch in der Feststellung, dass die »Teleologie Teil einer anders verstandenen Naturordnung« sein soll 213. Die 210 GuK 89. Deshalb reicht auch die Auskunft Dawkins’ nicht aus: »only gradualistic, inch-by-inch walking through the genetic landscape is compatible with the sort of cumulative evolution that can build up complex and detailed adaptation« (Dawkins 2004, 102). Wenn Dawkins die Theorie Darwins immer wieder gegen das Missverständnis verteidigt, dass diese eine »Theorie des Zufalls« sei, so ist dieser berechtigte Hinweis jedoch dahingehend zu korrigieren, dass Darwins Theorie als »Bedingungsforschung« im Blick auf das »Licht, das sie auch auf den Menschen fallen lässt«, die »Geltungsdimension« nicht einholen kann, weil diese sich jeder evolutionären »Naturalisierung« entzieht. 211 Vgl. dazu nochmals die schon zitierte Bemerkung Kants über den auch in der Bestimmung der »sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit« des Lebendigen dem »Naturmechanism« gelassenen »unverkennbaren Anteil« (V 545), s. o. I., Anm. 45. 212 GuK 100. 213 Ebd. – Die in Nagels Buch leitenden Perspektiven berühren sich offenbar sehr eng mit den Auffassungen des englischen Paläobiologen Simon Conway Morris – nicht zuletzt in den an die Darwin’sche Evolutionstheorie gerichteten Rückfragen, wobei freilich auch Morris sich bezüglich der »evolutionären Mechanismen … eindeutig in dieser Tradition« versteht. Morris hat dieses bei Nagel offenkundig leitende Anliegen in folgendem Bild treffend veranschaulicht: »Selektion der am besten angepassten Organismen und Adaption an veränderte Umweltbedingungen – andere Mechanismen kann ich mir nicht vorstellen. Allerdings kann der Darwinismus die Resultate
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klärungsbedürftige Frage nach dem genauen Status dieser »Teleologie« drängt sich deshalb förmlich auf. 214 Indes, die in Nagels einschlägigen Argumenten damit verbundenen unübersehbaren Vagheiten und Zweideutigkeiten rühren offenbar daher, dass jener Sachverhalt, wonach alles Lebendige als lückenloser physikalisch-chemischer Prozess analysiert und beschrieben werden kann, von Nagel einerseits als unstrittig anerkannt wird und dies ihm zufolge von vernünftigen Teleologie-Konzeptionen nicht übersprungen werden kann – zumal von notwendiger bzw. erfolgreicher evolutionärer »Anpassung« ohne diese vorausgesetzten physikalisch-chemischen Gegebenheiten auch gar nicht die Rede sein könnte. Davon möchte er jedoch andererseits den Anspruch genau unterschieden wissen, dass Organisches »in Wahrheit« doch nichts anderes als physikalisch-chemische Prozesse ist, d. h. solcherart vollder Evolution nicht ausreichend erklären. […] Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Theater und beobachten das Beleuchtungssystem: Sie können die Reihenfolge, mit der die Scheinwerfer ein- und ausgeschaltet werden, genau analysieren. Aber das bringt Sie einem Verständnis des Dramas, das auf der Bühne gespielt wird, nicht näher. So ähnlich geht es uns in der Evolutionsbiologie.« Manche Äußerungen von Morris stehen Nagels Intentionen jedenfalls unübersehbar nahe: »Früher oder später wird die Evolution überall zwangsläufig bei einer intelligenten Spezies ankommen. Vielleicht dauert alles etwas länger auf anderen Planeten. Aber die Entwicklung hin zu Komplexität und Intelligenz ist Programm. Ich gehe sogar davon aus, dass dieses Prinzip auch für andere Planeten gilt.« Und auch der Befund lautet ziemlich ähnlich: »Das Leben ist ein Wunder. Und man soll das Staunen darüber nicht verlernen. Je genauer ich verstehen lerne, wie sich die einzelnen Moleküle im Laufe der Jahrmillionen zu diesen hochkomplexen Organismen zusammenfanden, desto beeindruckter bin ich. Und ich werde immer sicherer: Der klassische Darwinismus kann das allein nicht erklären.« Gleichwohl verwirft auch Morris entschieden den von den Kreationisten besetzten Begriff »intelligent design«. Morris verweist sodann auf drei Experimente, die eine Simulation der Evolution versuchten: »Sie verwendeten dafür spezielle Computerprogramme, die Jahrmillionen dauernde Prozesse auf der Basis von Selektion und Adaption im Zeitraffer simulieren. Ergebnis: lauter spektakuläre Fehlschläge! Es entstand keine Komplexität. Man bekommt allein mit Sektion und Adaption offensichtlich nichts wirklich Interessantes zustande. Die ›artifizielle Evolution‹ war ein totaler Flop.« (Interview mit Simon Conway Morris: Aliens wie du und ich. In: Die Zeit 35/ 2004). 214 Völlig zu Recht betont McGrath, dass die »Naturwissenschaften nicht in der Lage sind«, die Frage der Teleologie in der Natur »zu beurteilen, sofern sie ihre Methoden richtig anwenden. Die Frage kann nicht als unangemessen oder unsinnig verworfen werden; sie liegt nur ganz einfach außerhalb des Geltungsbereichs naturwissenschaftlicher Methodik. Wenn sie beantwortet werden kann, dann auf andere Weise« (McGrath 2007, 45 f.). Dieser Befund trifft genau auf Dawkins’ Polemik zu. S. dazu auch die Ausführungen zu Dawkins’ Kritik am »teleologischen Gottesbeweis«: III, 2.4.
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ständig darauf reduziert werden könnte, womit freilich dessen vermeintliche Eigenständigkeit wiederum prinzipiell negiert wäre, zumal diese sich in solcher Erklärung gleichsam »verflüchtigt« hätte – dann wäre im Grunde auch nicht mehr recht verständlich, was die Bezeichnung »Biochemie« noch bedeuten könnte. Nagels Teleologie-Konzeption geht jedenfalls von diesen nicht zu nivellierenden Problemstellungen aus. Ungeachtet der selbstverständlichen elementaren physikalisch-chemischen Basis erweist sich demzufolge, dass die konkrete Wirklichkeit des Lebendigen allein daraus – angesichts der Vielzahl anderer empirischer Möglichkeiten – nicht ableitbar ist: Jene »elementaren Gesetzmäßigkeiten« sind also zwar als notwendige Bedingungen anzusehen, sind aber nicht selbst »causae per quas« (d. h. Ursachen, durch die etwas ist). Das heißt, dass diese elementaren physikalischen Gesetze noch keinen zureichenden Grund für die Wirklichkeit von artspezifisch Lebendigem mit seinen spezifischen Umwelten (gemäß den entsprechenden bestimmten [nicht selbst bloß physikalischen] biologischen Gesetzmäßigkeiten) darstellen, obgleich es ohne sie nicht möglich wäre. »Maßgebend« wird also die gewissermaßen »Emergenz«-orientierte Hinsicht, dass die physiko-chemischen Abläufe selbst »funktional« zu lebensselbsterhaltenden Vollzügen sind, d. h., sie bleiben bezogen bzw. verwiesen auf die »Selbsterhaltung« eines »systemischen Ganzen« – das »Abstrahieren« davon wäre unweigerlich »reduktionistisch«, das den »Eigenwert« desselben verdeckt.
4.1.2 Nagels Teleologie-Konzeption – eine Spielart des »anthropischen Prinzips«? Eine indirekte Antwort auf Dawkins So zeigt sich – ungeachtet der oben geltend gemachten unhintergehbaren Aspekte – dies: Auf eine neue Ebene verweist allerdings die Frage bzw. das Problem, dass gemäß den die realen physikalisch-chemische Prozesse bestimmenden Gesetzen auch unendlich viele andere empirische Phänomene bzw. Abläufe und Ergebnisse möglich wären. Genau deshalb jedoch, weil aus den diese elementaren physikalischchemischen Prozesse bestimmenden Naturgesetzen auch eine unendliche Fülle anderer empirischer Phänomene und Entwicklungen als möglich erklärbar und im Experiment wohl auch produzierbar sind, ergibt sich die nicht nur berechtigte Frage nach dem »hinreichenden 183 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Grund« der Genese und Realität ebendieser konkreten empirischen Phänomene und ihrer Entwicklungen (bzw. ebender Nichtrealität von genauso gut möglichen anderen); dabei muss in der Erklärung hierfür natürlich ebenso »alles mit rechten Dingen zugehen«, d. h., es darf auch hier nicht Zuflucht in Empirie-fremde Erklärungen gesucht werden 215. Gleichwohl wird hier eine andere Ebene sichtbar, die selbst – ungeachtet des keineswegs unterbrochenen lückenlosen Kausalzusammenhanges – über die auf der ersten Ebene bestimmenden empirische Erklärung hinausweist. Dass ohne jene elementaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten und die selbst durch sie bestimmten Mechanismen die Entstehung der evolutionär maßgebenden und zweckmäßigen Evolutionsmechanismen nicht zu erklären sind – schon in methodischer Hinsicht ist die durchgängige Kausalforschung im Sinne empirischer Gesetzmäßigkeiten zu begreifen –, 215 Wohl nur darauf kann sich die von Nagel wiederholt geäußerte These beziehen, dass »die Physik und die Chemie Leben und Bewusstsein nicht vollständig erklären können« (Guk 17); damit ist nach Nagel freilich gerade nicht gesagt, dass sie davon separiert, in einem Sonderbereich jenseits von Physik und Chemie anzusiedeln wären. Nagel knüpft offenbar an Problembefunde an, die der Mediziner du Bois-Reymonds in seinem berühmten »Ignoramus et Ignorabimus« vor beinahe 150 Jahren formuliert hat: »Es tritt nunmehr, an irgendeinem Punkt der Entwicklung des Lebens auf Erden, den wir nicht kennen und auf dessen Bestimmung es hier nicht ankommt, etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas … Unbegreifliches […] Dies … Unbegreifliche ist das Bewusstsein. Ich werde jetzt, wie ich glaube, in zwingender Weise dartun, dass nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder [noch 130 Jahre nach Abfassung der Schrift] zugibt, sondern dass es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Beobachtungen nicht erklärbar sein wird« (In: E. du Bois-Reymond 1974, 65). Jenes »Ignoramus et ignorabimus« des Berliner Mediziners du Bois-Reymonds verweist auf die methodische Besonnenheit der Naturwissenschaft hinsichtlich der Erklärungsansprüche des »Bewusstseins und Selbstbewusstseins«, in den berühmten Worten, die auch durch das Hirnmanifest keineswegs überholt sind. Man sieht: Die von dem Physiologen Emil du Bois-Reymond hellsichtig geäußerte Kritik an dem programmatischen Reduktionismus, »geistige Realitäten« in der Weise zu reduzieren, dass »physikalisch-physiologische Tatbestände als ihre eigentliche Realität ausgegeben werden« (Art. »Ignoramus-Ignorabimus«, Sp. 198. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. a., Band 4, Basel 1971 ff.) hat an Aktualität nichts eingebüßt: »Wie es möglich ist, dass etwas so Bemerkenswertes wie ein Bewusstseinszustand als ein Resultat der Reizung von Nervengewebe entsteht, ist ebenso unerklärlich, wie das Erscheinen des Geistes, nachdem Aladin seine Lampe gerieben hat« (T. H. Huxley, Lessons in Elementary Physiology, London 1986, 193, zit. n. Block 2005, 37). Wichtig ist allerdings, dass Nagel in »Geist und Kosmos« auf Dimensionen abzielt, die über die Stufe unseres »eigenen mentalen Lebens« hinausweisen, weil nur dies der Frage, »wie wir in die Welt passen«, genügt.
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ebendies steht jedoch zu einer berechtigten (und, wie sich zeigen soll, in gewisser Hinsicht auch unverzichtbaren) teleologischen Konzeption keineswegs von vornherein im Widerspruch. 216 Indes hat es den Anschein, dass Nagel diese beiden – in unterschiedlicher Weise Teleologie-relevanten – Aspekte nicht immer ausreichend unterscheidet: Vom Aspekt der Nichtreduzierbarkeit dieser Phänomene bleibt jedoch, ungeachtet der unverzichtbaren »mitursächlichen« Bedingungen, die Kontingenz ihres Auftretens zu unterscheiden, zumal sie allein aus den physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht erklärbar sind, auch wenn sie ohne jene Bedingungen nicht »real« sein könnten. Zu unterscheiden ist folglich die Notwendigkeit des Verständnisses der Naturwissenschaft als Bedingungsforschung und die im Sinne des recht verstandenen »anthropischen Prinzips« verstandene Kontingenz ihres faktischen Auftretens. 217 Damit ist zunächst lediglich gesagt: Aus dem durchgängigen – freilich gemäß den Erkenntnissen der modernen Physik modifizierten – Kausalzusammenhang der empirischen Gesetzmäßigkeit ist jedenfalls selbst keinerlei Notwendigkeit für die – de facto eingetretene – Entstehung von artspezifischen Lebewesen und deren Evolution abzuleiten, die gemäß den – selbst durch jene empirischen Gesetzmäßigkeiten hervorgebrachten – evolutionären Mechanismen ablau216 Höchst aufschlussreich ist bezüglich dieser Verbindung Leibnizens Versuch, schlechte Alternativen zwischen wirk- und finalursächlicher Erklärung zu vermeiden: »So hält auch Leibniz nur kausale Erklärungen von Einzelereignissen für zulässig. Aber er rettet die teleologische Fragestellung, indem er sie von den Einzelereignissen auf das System der Naturgesetze überträgt. Da diese nicht rein logisch begründet werden können, stellt sich auf-grund des Prinzips des zureichenden Grundes die Frage, wieso sie so sind, wie sie sind. Leibniz’ Antwort lautet bekanntlich: weil sie zur besten aller möglichen Welten gehören. Zwar krankt sein Programm daran, dass er über keine ausgearbeitete Kriteriologie verfügt, die die diversen möglichen Welten zu bewerten gestattet; aber seine teleologische Wendung, die mit einer durchgehenden Kausalerklärung der physischen Welt kompatibel ist, bleibt vorbildlich für alle, die angesichts der Erfolge der modernen Naturwissenschaft an der Gottesfrage festhalten. Eine derartige Kompatibilität des Darwinismus mit dem Theismus scheint Darwin selbst noch erwogen zu haben – man denke an seine … Aussage über die Vereinbarkeit der von ihm entdeckten ›secondary causes‹ mit Gott als Erstursache; und es ist zu vermuten, dass Leibniz keine Schwierigkeiten gehabt hätte, den Darwinismus in sein System zu integrieren« (Hösle/Illies 1999, 71). 217 Dieser Status als »Bedingungsforschung« wird jedoch eher verstellt durch die Bemerkung, dass diese »Hirnprozesse an sich mehr als physisch« seien, »und die Unvollständigkeit ihrer rein physikalischen Beschreibung verdeutlicht die Unvollständigkeit der physikalischen Beschreibung der Welt« (GuK 87).
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fen und so den Blick auf das Ausloten von evolutionären Verträglichkeiten und des Zusammenbestehens, von möglicher »Koexistenz« und »Kompossibilitäten«, eröffnen. Andere empirische Konstellationen im Zusammenwirken physikalischer Gesetzmäßigkeiten – die ja selbst nicht rein logisch-mathematischer Natur sind – auf der Basis der »Naturkonstanten« hätten natürlich ganz andere, mit den faktisch vorhandenen Bedingungen bzw. Gegebenheiten jedoch unvereinbare – d. h. buchstäblich »unverträgliche« – empirische Ereignisse bzw. »Weltzustände« zur Folge; sie folgen allesamt selbst empirischphysikalischen – also nicht auf logische Gesetze reduzierbaren – Gesetzmäßigkeiten, deren »Natur« nicht anders als nur in entsprechenden naturwissenschaftlichen Experimenten erforscht werden kann, die zunächst konstruktiv-hypothetische Entwürfe über das Zusammenwirken bzw. über mögliche empirische Konstellationen physikalischer Gesetzmäßigkeiten erwägen und sodann nach Möglichkeit auch experimentell erproben. Demgemäß legt dies nun eine anders akzentuierte Warum-Frage nahe: »Warum ist die Welt so – und nicht anders bzw. eine andere?« 218, und verlangt so »zu erklären, wie sie [die natürliche Ord218 Auch H.-D. Klein hat gezeigt, dass nur scheinbar die Verwerfung teleologischer Perspektiven die notwendige Folge einer konsequenten Evolutionstheorie ist und wie wenig eine schiefe Alternative hier zwingend und zielführend ist – im Gegenteil: »Nähere Betrachtung zeigt uns, dass sich das Problem der Relation von causa efficiens und causa finalis durch die Deszendenztheorie nur verschoben hat. In der theoretischen Physik muss man Gesetzeshypothesen in verschiedenen Varianten ausarbeiten. Welche dieser Varianten haltbar ist, wird durch Beobachtung und Experiment entschieden: jene Hypothese, aus welcher jene Messungsprognosen abgeleitet werden können, die sich in Beobachtung und Experiment bestätigen, bewährt sich. Die Methode der Physik verlangt von uns demnach permanent das Gedankenexperiment, dass auch andere physikalische Gesetze gelten könnten als jene, die sich schließlich bestätigen. Wäre dies nicht so, dann wären übrigens die physikalischen Gesetze rein mathematisch demonstrierbar und die Physik wäre keine empirische Wissenschaft, was bekanntlich nicht der Fall ist. So aber müssen wir davon ausgehen, dass wir auch andere physikalische Gesetze uns ausdenken können und müssen als jene, die im Universum de facto – wie uns die Erfahrung dann zeigt – gelten. Rein theoretisch sind wir z. B. in der Lage, ein Universum zu konstruieren, in welchem es Gravitation, starke Wechselwirkung und Elektromagnetismus gibt, aber keine schwache Wechselwirkung. Wir können sagen, dass ein solches Universum Sterne mit nur ganz kurzer Lebensdauer hätte, sodass gar keine Zeit für Evolutionen von Organismen auf Planeten wäre. Aber auch andere Varianten, z. B. andere Werte für die kosmologische Konstante oder sonstige Variationen, hätten katastrophale Folgen für die Möglichkeit organischen Lebens. Daraus folgt, dass die physikalischen Gesetze teleologisch bewertet werden können in Hinblick auf die Möglichkeit von Evolutionen, welche den darwi-
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nung] entstehen lassen kann, die mehr als etwas Physisches sind« 219. So wenig also an dem durchgängigen physikalisch gesetzmäßigen (wie immer im Detail zu verstehenden) Zusammenhang auch in den Erscheinungsweisen des Lebendigen (und deren Organ-Angepasstheit) zu rütteln ist und ohne dieses methodische Postulat Naturwissenschaft auch gar nicht möglich wäre (wie schon Leibniz und Kant immer wieder eingeschärft haben 220), so wenig ist durch diese – durchgehend durch die unbegreiflichen mannigfachen Naturgesetze bedingten – physikalischen, chemischen und biologischen Abläufe, ihr Zusammenwirken und ihren Einheitszusammenhang die Wirklichkeit dieser Welt selbst in ihrem kontingenten Dass-Sein und in ihren faktischen besonderen Erscheinungsformen aus diesem konkreten »Bedingungsgefüge« hinreichend erklärt; 221 obwohl – noch einnistischen Prinzipen gehorchen. Wir können also sagen: Die geltenden physikalischen Gesetze sind zweckmäßig in Bezug auf die Evolution von Organismen und damit letztlich auch in Bezug auf die Möglichkeit einer Evolution zum Menschen hin. Dieses Zweckmäßigkeitsprinzip wurde daher von Physikern zur Diskussion gestellt und folgerichtig als anthropisches Prinzip bezeichnet« (Klein 2008, 143). – In eine grundsätzlich ähnliche Richtung weisen auch Hahn/Wiker (2012, 48): »Der Big Bang musste überhaupt nicht zwangsläufig zu einem Universum führen oder zumindest nicht zu einem, in dem Leben möglich ist. Hätte es zum Beispiel nur ein wenig mehr anfängliche Energie gegeben (oder etwas weniger Materie), so hätte der Big Bang zu einem kosmischen Konfettiregen geführt. Das Universum hätte sich mit einer solchen Kraft ausgedehnt, dass sich keine Sterne hätten bilden können. Sterne sind dort, wo sich chemische Elemente herausbilden, und ohne ein gewaltiges Gemisch verschiedener chemischer Elemente –Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff usw. – gäbe es keine chemischen Bausteine für das Leben. Blickte man in die andere Richtung und begänne mit etwas weniger Energie (oder ein wenig mehr Materie), so würde die Schwerkraft die Explosionswelle auf sich selbst zurückwenden und mit einem gewaltigen Krachen in sich zusammenstürzen lassen.« 219 GuK 71. Im Sinne dieser »Warum-Frage« wäre Nagels leitende Frage der These Posers wohl sehr nahe: »Die Deutungsleistung des Evolutionsschemas wird erkauft durch einen Verzicht hinsichtlich des Anspruchs, die Welt erklären zu wollen« (Poser 2012, 274). 220 Sie haben bemerkenswerterweise die Bedenken bzw. die Auffassung des kritischen Theologen vorweggenommen bzw. vorbereitet, dass »(b)eide Positionen, die atheistisch naturalistische und die theistisch hypernaturalistische … zu bequeme Verbuchungsposten« darstellen, zumal sich die Auffassung der ersteren: »Wir wissen nicht, wie es gegangen ist, und darum muss es eine schöpferische Intelligenz bzw. Gott gewesen sein«, und die Auffassung auf atheistischer Seite: »Wir wissen nicht, wie es gegangen ist, also muss es der Zufall (und kann es keine schöpferische Intelligenz und kein Gott) gewesen sein« (Lüke 2008, 126 f.), unübersehbar nahekommen. 221 In diesem Sinn wird eine für Nagels Teleologie-Konzeption leitende Perspektive durch die Bemerkung Hösles wenigstens ein Stück weit noch unterstützt – die durch-
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mal sei es betont – all diese unabsehbar mannigfachen empirischen Faktoren natürlich als zwar notwendige Bedingungen gelten müssen. Denn auch der durchgehend naturgesetzliche Kausalzusammenhang ist kein »zureichender Grund« für das faktische »Dass« und »Wie« von empirischen Gegebenheiten, die diesen Gesetzmäßigkeiten folgen. Dies bedeutet: Ungeachtet dessen, dass auch lebendige Organismen und Bewusstsein in physikalischen Prozessen eine unhintergehbare Basis bzw. Bedingung haben, erschöpfen sie sich in ihrer Eigenart nicht darin, weil hier gleichermaßen »nicht-physikalische Eigenschaften« auftreten, die auf jene nicht zu reduzieren sind, obgleich sie ohne sie nicht wirklich sind. 222 Es sind die faktisch geltenden physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeit und ihr komplexes Zusammenwirken, als deren »Effekt« dieses Lebendige in seiner »inneren Zweckmäßigkeit« erscheint. Dies führt auf weitere legitime und gleichermaßen unabweisliche Fragen, die als solche innerhalb der Naturwissenschaften selbst nicht zureichend beantwortbar sind. 223 Eine aus das traditionelle Problem der Differenz und Einheit von »Wirk- und Zweckursächlichkeit« (sachlich erneut in der Spur Leibnizens) neu akzentuiert: »Die Ursachen für die Entwicklung der verschiedenen Arten sind immanent. Aber solange wir Zwecke in der Welt als Ganzer sehen – nicht in den einzelnen Arten –, solange muss es uns gestattet sein zu fragen, weshalb die Welt so beschaffen ist, dass es in ihr so ehrfurchtgebietende Entitäten wie Organismen gibt. In dieser Form – so könnten wir sagen, auch wenn Darwin selbst keine solche Ausdrucksweise gebraucht – verbinden sich der kosmologische und der physikotheologische Beweis: Wir suchen weder nur nach der Ursache einer Welt, wie im kosmologischen Beweis, noch nach einer Ursache für die Anpassung der einzelnen Arten, wie in der traditionellen Physikotheologie, sondern nach der Ursache für eine Welt, die die Evolution der Organismen gestattet, wie wir sie kennen« (Hösle 2013, 254). Dass mit solcher Erfahrung auch diejenigen unvorstellbarer Grausamkeiten und Zerstörung verbunden ist und zu jener Zweckmäßigkeit offenbar das »Fressen und Gefressenwerden« gehört, ist freilich die nicht zu ignorierende Kehrseite davon. 222 In diesem Sinne wäre Platons berühmte Argumentation zu variieren, dass natürlich ohne diese mannigfach zusammenstimmenden »physikalischen Gesetzmäßigkeiten« die Wirklichkeit des Lebendigen und die evolutionär ausgebildete Zweckmäßigkeit seiner Organe nicht möglich wäre: Weshalb zu unterscheiden sei, »dass bei einem jeden Ding etwas anderes ist die Ursache und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte; und ebendies scheinen mir, wie im Dunklen tappend, die meisten mit einem ungehörigen Namen, als wäre es selbst die Ursache, zu benennen« (Platon, Phaidon 99b). 223 Mit Recht betont Kummer bezüglich des Stellenwertes einer »schwachen Version« des »anthropischen Prinzips«: »Nun, es hilft immerhin als regulativer Rahmen dazu, Szenarien der Entstehung des Kosmos zu vermeiden, die nicht zulassen würden, was tatsächlich der Fall ist. Anders gesagt: Das anthropische Prinzip in seiner schwachen Form bewahrt Kosmologen davor, in ihre Berechnungen für bestimmte Parameter
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davon zielt auf den offenkundigen Sachverhalt ab, dass die nur als kontingentes empirisches Faktum feststellbare »Kompossibilität« der mannigfachen Naturgesetze, welche die Realität des »Lebendigen« und die Möglichkeit der seine Evolution gewährleistenden Mechanismen hervorbringen, nicht selbst aus Naturgesetzen begründet, d. h. daraus abgeleitet werden kann 224. So bestätigt sich: Die Einsicht in die höchst komplexen Bedingungszusammenhänge dieser empirischen Prozesse erübrigt jedoch, in Anbetracht der als möglich zu denkenden und somit mit den elementaren physikalischen Gesetzen ja allesamt in Einklang stehenden »Universen«, keineswegs die Frage, woraus sich denn die faktische Realität dieses bestimmten Universums – hinsichtlich seines Dassund Soseins (also seiner »Kontingenz«, wie es in philosophischer Terminologie heißt) – in hinreichender Weise erklärt. So unverzichtbar jene naturwissenschaftlichen Erklärungen im Sinne der Erforschung der empirischen Bedingungen und Ursachen zweifellos auch sind, so wenig ist durch jene empirische Fakten jedoch die eigentlich zentrale Frage nach dem »Warum« dieses Kosmos, zuletzt auch unserer eigenen Existenz – und ebenso, »zuletzter« noch, unseres Wissens davon! – überflüssig bzw. obsolet geworden. Vielmehr weist dies noch in einer anderen Hinsicht auf die Frage nach dem »Ganzen der Wirklichkeit«, als dessen Teil wir uns auch selbst begreifen, und eröffnet Werte einzusetzen, die zwar manche ihrer mathematischen Probleme einfacher lösbar machten, aber mit denen am Ende nicht herauskommt, was tatsächlich gekommen ist« (Kummer 2009, 69). 224 Leibniz hat offenbar Fragen dieser Art mit seinem Hinweis vor Augen, der eine bequeme Zuflucht in »faule Vernunft« geradewegs verbietet: »Wie man aber die Seele nicht dazu benutzen darf, um über Einzelheiten des Körperbaus der Lebewesen Rechenschaft zu geben, so meinte ich ebenfalls, dass man diese Formen nicht dazu verwenden dürfe, um die besonderen Probleme der Natur zu erklären: obwohl sie unerlässlich sind, um wahre allgemeine Prinzipen aufzustellen« (Leibniz 1966b, 23 f.). Wie wichtig für Leibniz diese Unterscheidung ist, wird dadurch belegt, dass er sie ständig in einschlägigen Debatten geltend gemacht hat. Auch gegenüber Arnauld betonte Leibniz in Abwehr einer notwendigen Verwechslung der Ebenen, die gerade auch im Blick auf die Evolutionstheorie bedeutsam bleibt: »Sämtliche Phänomene der Körper können mechanisch bzw. durch die Korpuskularphilosophie erklärt werden, bei denen man sich nicht den Kopf darüber zerbricht, ob es Seelen gibt oder nicht; bei der letzten Zergliederung der Prinzipien der Physik und der Mechanik selbst aber stellt es sich heraus, dass man diese Prinzipien nicht durch die bloßen Bestimmungen der Ausdehnung verständlich machen kann, und die Natur der Kraft schon erfordert etwas anderes« (Leibniz Brief an Arnauld v. 8. Dezember 1686, zit. n. Leibniz 1958a, 80).
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uns so noch einen anderen – uns selbst einbegreifenden – Blick bzw. Ausgriff auf ein »Ganzes«, aus dem heraus wir uns verstehen können. Denn wie auch immer: Jedenfalls erweisen sich jene evolutionären gesetzmäßigen Mechanismen offensichtlich de facto in der bestimmten Hinsicht als »zweckmäßig«, als sie für das Entstehen und für die »Evolution des Lebendigen« notwendige Bedingungen waren; deshalb können sie in diesem Sinne auch so in empirischer Forschung »buchstabiert« werden, dass durch sie auch die für die Evolution maßgeblichen Mechanismen und dadurch zuletzt auch das Dasein des Menschen und somit auch die Entwicklung des menschlichen Gehirns möglich wurde. 225 Anders wäre auch die Ausbildung jener geistigen Fähigkeiten unerklärlich, die es dem Menschen ja letztendlich – höchst erstaunlicherweise – ebenso erlauben, nach sich selbst und seiner eigenen Herkunft zu fragen, d. h. Einsicht in diese evolutionäre Prozesse selbst zu gewinnen bzw. sein eigenes Auftreten darin zu bestimmen und auch zu »relativieren«. Dies verweist indes schon auf eine weitere Dimension der »Teleologie«, die Nagel sodann zur Geltung bringt. Bevor darauf Bezug genommen werden soll (s. u. I., 4.2), liegt im Kontext dieser Nagel’schen Teleologie-Konzeption eine Bezugnahme auf Dawkins’ einschlägige Teleologie-kritische Argumentation nahe. Freilich, diese voranstehend indirekt angezeigte Version des »anthropischen Prinzips« ist als eine solche Beurteilungsperspektive ungleich »schwächer« als die Annahme, »dass die in der Natur vorhandene Möglichkeit zu bewussten Organismen bereits der Beschaffenheit der Elemente innewohnt, aus denen diese Organismen zusammengesetzt sind, und vielleicht noch ergänzt wird durch Gesetze psychophysischer Emergenz« 226. In der Tat scheint sich Nagel mit jener Form eines »anthropischen Prinzips« noch nicht zu begnügen; 225 Dies erlaubt nun auch eine Antwort auf Kanitschneiders »Beweislast«-Forderung, die er mit dem »Naturalismus« verbindet: »Der Naturalismus ist der Überzeugung, dass es überall auf der Welt mit rechten, d. h. natürlichen Dingen zugeht, und wer anderer Meinung ist, der trägt die Beweislast« (Kanitschneider 2011, 37 ff.). Diese »Beweislast« lässt sich nun durch den Aufweis erfüllen, dass eine kritische »Teleologie«-Konzeption ja keineswegs im Widerspruch dazu steht, dass es »mit rechten Dingen zugehen müsse, weil dies einen Gegensatz suggeriert, den schon Leibniz und Kant überwinden wollten, weil es nur so philosophisch »mit rechten Dingen« zugeht. Das »Denkwürdige« besteht schon nach Leibniz und Kant gerade darin, dass alles »mit rechten Dingen zugeht« und dies gleichwohl eine teleologische Perspektive nicht nur nicht ausschließt, sondern diese sogar notwendig macht 226 GuK 138.
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seine Teleologie-Konzeption weist darüber offensichtlich noch hinaus und bringt so noch zusätzliche Erklärungsfaktoren auf eine Weise zur Geltung, die den genauen Status seiner Teleologie-Konzeption durchaus als klärungsbedürftig erscheinen lässt: Manches spricht jedenfalls dafür, dass sich seine behutsam-tastend vorgestellte Konzeption weder mit einem »regulativen« noch mit einem »anthropischen Prinzip« der genannten Art begnügt, zumal sie überdies ausdrücklich auf »Organisations- und Entwicklungsprinzipien« als »einen irreduziblen Teil der Naturordnung« rekurriert. 227 Im Sinne einer schwachen Version des »anthropischen Prinzips«, wonach die Naturgesetze (als notwendige Bedingungen) eine biologische Evolution und zuletzt auch das Auftreten des Menschen ermöglicht haben, wäre wohl Nagels Vorschlag in einer abgeschwächten Form zu verstehen: »Um nicht bloß die Möglichkeit, sondern auch die Aktualität rationaler Wesen zu erklären, muss die Welt darüber hinaus Eigenschaften haben, die ihr Auftreten nicht zu einem völligen Zufall machen: Die Wahrscheinlichkeit muss in der Natur der Dinge in gewisser Hinsicht latent vorhanden gewesen sein« 228, dass »die physikalische Gesetzmäßigkeit das Leben irgendwie wahrscheinlich macht« 229. Indes, auch wenn sich eine starke Version des »anthropischen Prinzips« 230 als naturwissenschaftliche Hypothese zweifellos schon 227 GuK 136. Dies zeigt sich auch in seinen real-»teleologischen« Argumenten: »Der Hypothese einer natürlichen Teleologie zufolge besäße die Welt einen Hang, Wesen von der Art entstehen zu lassen, die ein Wohl haben – Wesen für welche die Dinge gut oder schlecht sein können« (Guk 174). »Die Tendenz, dass sich Leben bildet, könnte ein Grundzug der Naturordnung sein, der von den nichtteleologischen Gesetzen der Physik und Chemie nicht erklärt wird. In Anbetracht der verfügbaren Beweislage erscheint dies als eine zulässige Vermutung« (GuK 178). Nagel kommt hier der naturphilosophischen Perspektive Wandschneiders (im Blick auf Hegel) erstaunlich nahe: »Was Hegel hier meint, ist der Trend zur Entstehung komplexerer Strukturen, von Leben, seelischem Sein und, im Auftreten des Menschen, schließlich von Formen des Geistigen. Das Natursein ist demnach so beschaffen, dass seelisch-geistiges Sein in ihm als Zielbestimmung angelegt ist – womit, nebenbei bemerkt, zugleich eine Affinität dieser Philosophie zum sogenannten anthropischen Prinzip erkennbar wird, das den menschlichen Geist als das eigentliche Telos der Natur begreift« (Wandschneider 2012, 83). 228 GuK 126 229 GuK 131. 230 So wie es etwa noch Kepler vertreten hatte, wonach »Zweck der Welt und jeglichen Geschöpfs … der Mensch« ist (J. Kepler, Das Weltgeheimnis, zit. n. Heisenberg 1962, 49) und darin noch in der Spur Ciceros steht: »kann denn ein vernünftiger Mensch glauben, dass diese ganze Anordnung der Gestirne und dieser großartige Schmuck des
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aus methodischen Gründen als untauglich erweisen muss, so ist im Blick auf die »Leben« ermöglichende und hervorbringende sogenannte »Feinabstimmung« wohl nicht zu bestreiten, dass allein unter bestimmten empirischen Bedingungen des Universums »Evolution« und auch das Auftreten des Menschen innerhalb derselben (als eines »Erforschers« dieser Evolution und seiner eigenen Stellung in ihr) möglich wurde. 231 Dies gilt eben schon in dem angeführten einfachen Sinne, dass die in der Entwicklung des Kosmos de facto wirksamen Gesetzmäßigkeiten offensichtlich auch so etwas wie erdgeschichtliche evolutionäre Prozesse, die entsprechenden evolutionären Mechanismen und deren Entwicklung inkl. das Dasein menschlicher Populationen ermöglicht haben. Jene oben angeführten Fragen – nicht zuletzt diejenige, warum just jene unendlich mannigfaltigen Naturgesetze gelten, die diesen faktischen Kosmos und die reale Evolution ermöglicht haben – sind jedenfalls durch jenen von Dawkins betonten unstrittigen Sachverhalt, dass »alles durch Gesetze hervorgebracht wird, welche fort und fort um uns wirken«, noch nicht beantwortet bzw. gar gegenstandslos geworden. Deshalb erweist sich auch Dawkins’ Forderung als zu voreilig, jedwede teleologische Scheinperspektive und daran geknüpfte Erklärungsansprüche zu verwerfen. Freilich, auch hier hängt alles vom kritisch-behutsamen – d. h. methodisch besonnenen – Gebrauch und von dem einer kritischen teleologischen Perspektive eingeräumten Status ab, wie schon Leibniz und Kant betont haben (s. u. I., 4.1; III., 2.4.1) 232. Eben eine solche teleologische Himmels dadurch entstanden ist, dass Atome durch Zufall und planlos in unterschiedliche Richtung treiben« (De natura deorum II 115). 231 Dies war bekanntlich auch der Kerngedanke des viel diskutierten »anthropischen Prinzips« in der von Barrow/Tipler (1986) vorgelegten Version. 232 Leibnizens kritische Vermittlung der Einheit von »Zweckursachen« und »bewirkenden Ursachen«, die ein schlechtes »entweder-oder« somit vermeiden lässt, wäre auch bezüglich des »anthropischen Prinzips« sehr beherzigenswert – gerade deshalb, weil er die Legitimität und Unverzichtbarkeit der teleologischen Perspektive betont hat und zugleich ausdrücklich gewarnt hat, diese »bei der Erklärung der Einzelerscheinungen« illegitimerweise zu strapazieren, zumal man die »Einzelheiten der Natur … mechanisch erklären« kann (daran näher interessierte Leser seien besonders auf seine kleine Abhandlung über das »Neue System der Natur« hingewiesen). – Hingegen suggeriert Dawkins völlig schiefe Alternativen von teleologischer und physikalischer Erklärung: »Seit Darwin jedoch sollten wir alle schon der Idee einer bewussten göttlichen Gestaltung zutiefst misstrauen. Die Illusion der Gestaltung ist eine Falle, in die schon viele getappt sind« (Gotteswahn 157 ff.); »Heute können wir mit Sicherheit sagen, dass die Illusion der gezielten Gestaltung von Lebewesen genau das ist: eine Illusion« (Gotteswahn 223).
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Konzeption sei, so Dawkins, durch Darwins Theorie der natürlichen Selektion gänzlich obsolet geworden, zumal diese gegenüber den Pseudo-Erklärungen des Zufalls oder Gestalters allein »eine echte Lösung« (Gotteswahn 168) ermögliche und überdies von verblüffender »Eleganz und Kraft« sei 233; freilich: »Es kam so unerwartet. Die zentrale Aussage – ›nichts, was wir kennen, sieht gestaltet aus, wenn es nicht gestaltet ist‹ – stimmt dank Darwin eben nicht mehr« (Gotteswahn 112). Damit sei eben, jedenfalls für seriöse Naturwissenschaft, die »Illusion« endgültig als haltlos erwiesen, »das Lebendige sei gezielt gestaltet«, denn dieses weise »keineswegs auf einen Gestalter hin, sondern sie lässt sich viel prägnanter und ungeheuer elegant mit der darwinistischen natürlichen Selektion erklären« (Gotteswahn 13). 234 Gleichwohl bleibt es dabei, dass die diese Mechanismen der natürlichen Selektion selbst ermöglichenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten sich offenbar als zweckmäßig erweisen hinsichtlich der durch sie erst ermöglichten evolutionären Prozesse. Und die diese evolutionären Mechanismen ermöglichenden »faktisch realen« physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten und ihre Verbindung sind selbst eben weder logisch noch durch andere Naturgesetze zu begründen. Es könnte sich in der Spur Nagels und im Rückblick auf klassische naturphilosophische Positionen erweisen, dass sich Dawkins’ Verwerfung »teleologischer Perspektiven« möglicherweise doch zu voreiligen Alternativen verdankt. Man begegnet dem naturwissenschaftliche Exaktheit bevorzugenden Naturwissenschaftler Dawkins – erst recht mit Blick auf diese von ihm beanspruchte »Prägnanz, Eleganz und Kraft« des Erklärungsanspruchs der »natürlichen Selektion« – zunächst vielleicht am besten mit einigen Rückfragen an seine auffällig blumig-anthropomorphe Redeweise: Was soll denn (den »Parabel«-Charakter dabei durchaus in Rechnung stellend) Dawkins’ Auskunft eigentlich heißen, die er gegen schiefe »Alles oder nichts«-Erklärungen richtet (welche die »natürliche Selektion« als einen »kumulativen, »additiven Prozess« verkennen müssen): »Die Evolution begibt [!] sich auf 233 Vielfach wird biologischerseits darauf hingewiesen, dass inzwischen dieses Prinzip der »natürlichen Selektion« als ein zwar außerordentlich wichtiges, aber keineswegs ausschließliches Prinzip angesehen werden müsse. 234 Problematisch ist diese Argumentation, wie erwähnt, schon deshalb, weil sie die »innere Zweckmäßigkeit« des Organischen verfehlt, der zufolge das Lebendige »sich organisierend und organisiertes« ist, was schon jede – am Maßstab des Artefaktes orientierte – Vorstellung der Gestaltung als unangemessen erscheinen lässt.
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die andere Seite des Berges und kriecht über die sanfte Steigung zum Gipfel – das ist ganz leicht. Das Prinzip des Aufstiegs über die sanfte Böschung … ist so einfach …« (Gotteswahn 169)? Nicht ganz so leicht ist es offenbar zu begreifen, was man sich denn unter dieser »auf die andere Seite des Berges sich begebenden« und dann noch dazu »kriechenden Evolution« näherhin vernünftigerweise vorzustellen hat – denn weder »begibt« sich die Evolution irgendwohin noch »kriecht« sie; und erneut stellt sich die Frage: Was wäre denn dieses darin bzw. dafür beanspruchte Pseudo-Subjekt »Evolution«? Die Evolution »begibt« sich weder noch evolviert sie selbst; wäre es denn diesem Dawkins’schen »Gedanken«-Experiment zufolge nicht so bzw. eher dies zu erwarten, dass doch solches behauptete »Begeben« und »Kriechen« offensichtlich doch selbst nichts anderes als der »evolutionäre Prozess« selbst sein soll? Und was soll denn genauer besehen diese von Dawkins verwendete »Gipfel«-Vorstellung und das angesprochene »Prinzip des Aufstieges« (Gotteswahn 169) bedeuten, wenn damit nicht eine sehr merkwürdige Zweck- bzw. Zielvorstellung stillschweigend vorausgesetzt oder dies auch begünstigt wird? Sowohl das von Dawkins verwendete »Gipfel«-Bild als auch die »›Wärmer, wärmer‹-Rufer« sowie die Vorstellung »der richtigen Einstellung« des »Zahlenschlosses« (s. u. 194 ff.) setzt offenkundig eine evolutionäre »Ziel«-Vorstellung – d. h. dasjenige, was gerade bestritten wird – voraus, weil andernfalls diese Beispiele überhaupt keinen Sinn haben bzw. völlig irreführend sind, worüber auch der beanspruchte »Parabel-Charakter« nicht hinwegtäuschen kann. Noch einmal: Was wäre denn ein ausweisbarer Maßstab für diese angeblich erreichte »Gipfel«höhe, wenn doch schon bzw. allein das Ökonomie-orientierte »Anpassungsprinzip«, d. h. »erbarmungslose Nützlichkeit« »Trumpf« ist, d. h. aber auch: als Maßstab der »Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen« fungiert (Gotteswahn 226)? Wer sich, wie Dawkins, fortlaufend über die Unverständlichkeit und wirres »Abrakadabra« mokiert (Gotteswahn 50) und demgegenüber auf der Exaktheit der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit insistiert, hat gewiss allen Anspruch darauf, selbst beim Wort genommen zu werden und sollte nicht zuletzt genauestens darauf achten, ob und wie weit eine gewissermaßen in pädagogischer Absicht in den Dienst genommene »anthropomorphisierende Redensart« die klärungsbedürftigen Sachprobleme nicht doch eher verschleiert. In einer ähnlichen Hinsicht hätte wohl auch Kant Dawkins’ Be194 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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hauptung als einen wissenschaftlich unstatthaften Anthropomorphismus mit einem noch dazu fingierten Pseudosubjekt verworfen, das Dawkins seiner Zurückweisung des sogenannten »Unwahrscheinlichkeits-Argumentes« und dem darin bemühten Vergleich (das »Zahlenschloss an einem Banktresor« als »beliebte Metapher für extreme Unwahrscheinlichkeit«: Gotteswahn 169 f.) zugrunde legt: »Das Zahlenschloss des Lebendigen ist eine ›Wärmer, kälter, wieder wärmer‹-Ostersuchmaschine. Das wirkliche Leben sucht sich die sanften Böschungen auf der Rückseite des Unwahrscheinlichkeitsberges«. Das von Dawkins angebotene diesbezügliche Gedankenexperiment lautet so: »Aber stellen wir uns einmal ein minderwertiges Zahlenschloss vor, das uns nach und nach kleine Anhaltspunkte liefert – die Entsprechung zu den ›Wärmer, wärmer‹-Rufen von Kindern beim Topfschlagen oder Ostereiersuchen mit verbundenen Augen. Angenommen, die Tür öffnet sich jedes Mal ein kleines Stück weiter, wenn man der richtigen Einstellung näher kommt, und jedes Mal fällt ein wenig Geld heraus. Dann hätte der Räuber den Tresor in kürzester Zeit ausgeräumt« (Gotteswahn 169). Es soll hier nicht gefragt werden, ob man, an evolutionären Ethik-Maßstäben bemessen, diesen Erfolg dem so raffinierten Räuber nicht durchaus gönnen darf oder gar soll (wenn er denn nur seine »Meme« solcherart erfolgreich zu verbreiten vermag, s. I., 2.2.1) – ungleich interessanter wäre wohl die Antwort darauf: Auch wenn man diesen von Dawkins hierfür ausdrücklich beanspruchten »Metaphern«-Sinn gewiss nicht überdehnen darf, so hätte man, wenigstens andeutungsweise, doch gerne etwas über diese – für diesen Vergleich bemühten und hier offenbar unentbehrlichen – »Kälter-wärmer«-Rufer erfahren: Wer übernimmt denn dankenswerterweise diese zweckmäßig dienende Rolle in der Evolution – und was hat man sich unter diesen genannten »Such«bewegungen des »wirklichen Lebens« näherhin vorzustellen? Setzt dieses Gedankenexperiment nicht eine Zielgerichtetheit als Ergebnis geradewegs voraus? Und worin hätte denn jene »Minderwertigkeit« des Zahlenschlosses, die hier ein dem »Ziel-näher-Kommen« doch erst ermöglicht, im evolutionären Prozess seine denkbare Entsprechung – was wäre denn eine solche Entsprechung für jene »richtige Einstellung«: Woran bemisst sich denn die »Richtigkeit« dieser Einstellung, wenn nicht an dem darin freilich schon vorausgesetzten Ziel des gesamten »Handlungszusammenhanges«? Was aber wäre die von Dawkins angebotene evolutionstheoretische Entsprechung hierfür? Und wie wären denn die im evolutionären Prozess »entspre195 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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chend« hilfreichen, ja unentbehrlichen Lieferanten der »kleinen Anhaltspunkte« bzw. die »Wärmer-kälter-wärmer-Zurufer« zu bestimmen, die ja selbst des offenbar schon vorausgesetzten Zieles kundig sein und – selbst als »zielkundig« existierend – wirklich sein müssten? Diese »Zurufer« müssten als selbst nicht nur schon existieren, sondern selbst gewissermaßen schon am Ziel sein; Ähnliches gilt dann bezüglich des von Dawkins verwendeten Beispiels des »Zahlenschlosses« und der »richtigen Einstellung«: »Angenommen, die Tür öffnet sich jedes Mal ein kleines Stück weiter, wenn man der richtigen Einstellung näher kommt, und jedes Mal fällt ein wenig Geld heraus. Dann hätte der Räuber den Tresor in kürzester Zeit ausgeräumt« (Gotteswahn 169). Doch wiederum: Was heißt hier: »die richtige Einstellung« – setzt dies nicht schon ein vorgegebenes Resultat bzw. Ziel voraus? Man sieht: Die von Dawkins in gewissermaßen pädagogischer Absicht zu Hilfe genommenen »Metaphern« und »Parabeln« erklären nicht nur nichts, sondern führen just selbst jene irreführenden Vorstellungen mit sich, die er doch geradewegs vermeiden bzw. angeblich ausmerzen will. Dawkins’ Beispiele setzen das »Wohin?« schon voraus, weil doch erst von daher ein »Wärmer« bzw. die Angabe einer »richtigen Einstellung des Zahlenschlosses« angebbar wird. 235 Setzen also die an Dawkins’ Beispiele geknüpften Argumente eine höchst abenteuerliche (obgleich nicht un-amüsante) »TeleologieKonzeption« nicht schon voraus, die auch hinsichtlich ihres Phantasie- und Belustigungswertes den Vergleich mit beinahe allen »Intelligent-design«-Vorstellungen gewiss nicht zu scheuen braucht und einmal mehr – und sogar hier, an ganz unverhofftem thematischen
235 Diese grundsätzlichen Bedenken vermag auch Dawkins’ Einwand nicht zu zerstreuen (Gotteswahn 156): »wenn man den wichtigsten Aspekt der natürlichen Selektion nicht begriffen hat und glaubt, diese sei nur eine Theorie der Zufälle, während sie in Wirklichkeit von Chancen im eigentlichen Sinn und damit genau vom Gegenteil handelt«; »Aber die denkbaren Lösungen für das Rätsel sind nicht, wie fälschlich nahegelegt wird, Gestaltung und Zufall. Es sind vielmehr Gestaltung und natürliche Selektion. Zufall ist angesichts der großen Unwahrscheinlichkeit, die wir bei den Lebewesen beobachten, keine Lösung, und kein geistig gesunder Biologe hat dies jemals angenommen« (Gotteswahn 165). Ähnlich (Gotteswahn 167): »Wenn man glaubt, Zufall sei die einzige Alternative zur Gestaltung – nein, dann ist es nicht vernünftig. Aber auch hier erwähnen die Autoren mit keinem Wort die wirkliche Alternative, die natürliche Selektion. Entweder begreifen sie es tatsächlich nicht, oder sie wollen es nicht begreifen.«
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Ort – Dawkins’ Geschick beweist, seine Leserschaft »mit einer guten Portion Humor« (Gotteswahn 524) zu verwöhnen? Es soll sich im Folgenden anhand einiger Philosophie-historischer Bezüge, aber auch im Blick auf gegenwärtige naturwissenschaftliche und theologische Stellungnahmen zeigen: Das durch jene notwendigen naturhaften Bedingungen also keineswegs erledigte Problem der absoluten Kontingenz der erfahrungsgemäß faktisch geltenden – d. h. das Universum in seinem »Dass-« und »So-Sein« ermöglichenden – Naturgesetze und ihres Zusammenwirkens, die ohne Widerspruch auch anders zu denken wären, erlaubt durchaus ein gestuftes »anthropisches« Prinzip, das freilich nicht im Sinne physikalischer bzw. biologischer Forschung missverstanden werden darf. Gleichwohl ist ein solcher behutsamer teleologischer Gesichtspunkt einer kritischen Einstellung zufolge auch nicht etwa als eine Ersatz- oder Konkurrenztheorie zu der an den physikalischen Gesetzmäßigkeiten orientierten Kosmologie bzw. zu der an natürlichen Mutations- bzw. Selektionsprozessen orientierten Evolutionsbiologie anzusehen – dies wäre vielmehr lediglich ein völliger Irrweg anderer Art! Dennoch lässt sich recht verstanden gerade nicht behaupten, dass »Darwins Evolution und insbesondere die natürliche Selektion … in der Biologie die Illusion der gezielten Gestaltung« zerstören und uns »lehren …, auch in der Physik und Kosmologie gegenüber jeder Gestaltungshypothese misstrauisch zu sein« (Gotteswahn 163). 236 Der Hinweis auf die abzulehnende »Gestaltungshypothese« ist in diesem Kontext einer kritischen »Teleologie«-Konzeption freilich ganz irreführend. Eine solche Auffassung würde selbst wieder ganz schiefe – für eine kritische Teleologie-Konzeption freilich gerade nicht zutreffende – Ausgangslagen voraussetzen, die auch in folgendem Argument Dawkins’ entgegentritt: »Indes, selbst wenn ein völlig befriedigender, dem biologischen ebenbürtiger ›Kran‹ noch fehlt, sind die relativ schwachen heutigen Kräne der Physik in Verbindung mit dem anthropischen Prinzip ganz offenkundig besser als die Himmelshaken-Hypothese von einem intelligenten Gestalter, die ich selbst widerlegt habe« (Gotteswahn 223). Auch daraus wird wiederum deutlich, dass Dawkins leider schiefe Alternativen nicht zu überwin-
236 Das mag im Sinne eines methodischen Postulates ja unumgänglich sein, wie auch Leibniz und Kant wussten, verkennt aber den Status einer kritischen »TeleologieKonzeption«, wie diese etwa bei Leibniz und Kant maßgebend ist.
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den vermag; 237 gewiss ist ihm insofern zuzustimmen (aber ohnedies unstrittig), dass teleologische Perspektiven, die an die Stelle empirisch-analytischer Kausalforschung treten (d. h. diese im Sinne eines Konkurrenzunternehmens ersetzen wollten), skeptisch zu beurteilen sind und sich in wissenschaftlicher Hinsicht schon dadurch disqualifizieren, dass sie schiefe Alternativen gleichermaßen voraussetzen und noch fixieren. Anmerkung: Ein bedeutsames – leider weithin unberücksichtigtes bzw. unbekanntes – Motiv aus Leibnizens Metaphysik wäre vielleicht in diesem engeren Kontext dahingehend fruchtbar zu machen, dass die den evolutionären Prozess der »natürlichen Auslese« allererst ermöglichenden mannigfachen Naturgesetze selbst – deren Zusammenhang ja selbst eine empirische Realität darstellt (also nicht auf logische Gesetzmäßigkeiten reduziert werden kann und als solche erforscht werden muss) – ihrerseits nicht ein Resultat des evolutionären Prozesses der »natürlichen Auslese« sein können, sondern dafür eben vorausgesetzt sind und so die Prozesse der Adaption und Evolution erst ermöglichen; und weil alles Lebendige eben auch elementaren physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeit unterliegt, ist auch so etwas wie Anpassung gleichermaßen möglich und notwendig. Ein Argument Leibnizens in seiner Schrift »Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade« 238 verdient diesbezüglich wohl besondere Beachtung, zumal es das von Leibniz immer wieder thematisierte Verhältnis von »mechanischer Erklärungsart« und »Teleologie« (»Zweckursache«) direkt berührt und ganz im Sinne des oben vorgestellten schwachen »anthropischen Prinzips« fruchtbar zu machen wäre: Der Umstand, dass die unumgängliche Frage nach dem »zureichenden Grund« im Falle des »Zusammenwirkens« der vorherrschenden »empirischen Gesetzmäßigkeiten« und ihrer dadurch bewirkten Ereignisse eben nicht durch den bloßen Rekurs auf die 237 Gegen diese hat vornehmlich Leibniz angekämpft in seinem Bestreben einer Versöhnung der beiden je für sich genommen berechtigten und auch unverzichtbaren Perspektiven; dieses Anliegen klingt auch in dem – sich sehr aktuell ausnehmenden – Hinweis an, »die mechanische Philosophie der Modernen mit der vorsichtigen Haltung einiger verständiger und wohlgesinnter Leute zu versöhnen, die nicht ohne Grund fürchten, man möchte sich zum Schaden der Frömmigkeit von den immateriellen Wesenheiten allzu weit entfernen« (Leibniz, Metaphysische Abhandlung Nr. 18). 238 Diese von Leibniz im Jahr 1714 in Wien verfasste Schrift sollte bekanntlich Prinz Eugen mit den Grundgedanken seiner Metaphysik vertraut machen; sie verdient immer noch besonderes Interesse.
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logischen und mathematischen »ewigen Vernunftwahrheiten« hinreichend beantwortet (»erklärt«) werden kann, veranlasste ihn diesbezüglich zu folgender Antwort, die natürlich im Blick auf die heute maßgebenden Erkenntnisse der Physik (»Naturkonstanten«) und der Evolutionsbiologie im Sinne einer kritischen »Teleologie-Konzeption« entsprechend zu modifizieren wäre. 239 Seine These, dass Gott »[d]ank seiner höchsten Weisheit … vor allem die passendsten und den abstrakten oder metaphysischen Gründen angemessensten Bewegungsgesetze gewählt« habe, begründet er folgendermaßen: »Nun ist es überraschend, dass man durch die alleinige Betrachtung der wirkenden Ursachen oder der Materie nicht von den Bewegungsgesetzen Rechenschaft geben kann, die man in unsren Tagen entdeckt hat und die ich zum Teil selbst gefunden habe. Man muss vielmehr, wie ich erkannt habe, hier zu den Zweckursachen Zuflucht nehmen, da diese Gesetze nicht von dem Prinzip der Notwendigkeit wie die logischen, arithmetischen und geometrischen Wahrheiten, abhängen, sondern von dem Prinzip der Angemessenheit [im Französischen: »principe de la convenance«], d. h. von der durch die Weisheit getroffenen Wahl.« 240 Solche »Zufluchtnahme« und das hierfür beanspruchte »Prinzip der Angemessenheit« darf wohl folgendermaßen verstanden werden: Die empirischen Gesetzmäßigkeiten, durch die Lebendiges ermöglicht bzw. verwirklicht wurde, sind als solche eben nicht lediglich logisch-mathematischer Natur wie »Vernunftwahrheiten«, sondern verweisen in ihrer »kompossiblen« Faktizität (und d. h. zuletzt ihrem faktischen »Zusammenwirken«) auf eine »zureichende Begründung«. Dies erst erlaubt bzw. verlangt es nach Leibniz, auf »Zweckursachen« zu rekurrieren, ohne dadurch indes den daran 239 Dass die Ergebnisse der Forschungen der modernen Physik »mathematisierbar« sind, d. h. sich dementsprechend darstellen lassen, bedeutet jedoch nicht, dass Physik auf Mathematik reduzierbar wäre, weil in diesem Fall auch jedes Experiment und entsprechende Hypothesenbildung bzw. die entsprechende empirische Falsifikation sich erübrigen würde. 240 Leibniz 1996, 598. Im Französischen steht für dieses »Prinzip der Angemessenheit« »principe de la convenance«; Leibnizens Absicht ist klar: Einerseits möchte er auch im Verständnis des »Lebendigen« natürlich beharrlich daran festhalten, dass auch für sie, d. h. für ihre »Selbsterhaltung« bzw. für ihre evolutionäre Genese, die lückenlose physikochemischen Gesetzmäßigkeiten bestimmend waren bzw. sind; andererseits soll ebendieses unbeirrbare Festhalten an dieser nirgendwo durchbrochenen »physikalischen Erklärungsart« eine teleologische Perspektive nicht nur nicht ausschließen, sondern soll Letztere damit »konvenieren« und d. h. auch »zuträglich« sein.
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geknüpften Begründungsanspruch zu überfordern; dies wäre nämlich dann der Fall, wenn dabei die Ebene der »Wirkursächlichkeit« übersprungen wäre, d. h. jene elementaren physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten, durch die allein die Realisierung dieser Produkte zu begreifen ist. Es ist das kontingent-faktische »Dass« dieses »Zusammenwirkens« und das daraus Entstandene, das solcherart nach Leibniz eine kritische »teleologische« Perspektive eröffnen soll, ohne damit einer schlechten Metaphysik (d. h. einer die Ebene der »Wirkursachen« ausblendenden bzw. überspringenden »faulen Vernunft«) Vorschub zu leisten. Interessant ist diesbezüglich nicht zuletzt dies, dass dabei von Leibniz – in erkennbarer Distanzierung von aller bequemen Zuflucht in bloß »faule Vernunft« – Gott mit großer Bedachtsamkeit von aller »Lückenbüßer«-Funktion ferngehalten wird; er spielt in diesem Kontext nur eine indirekt »mitwirkende« Rolle als der Schöpfer der Wirklichkeit, für die eben jene Naturgesetze durchgehend (»lückenlos«) bestimmend sind. Eine grundsätzliche Überlegung schließt sich daran an: Gewiss hat die neuzeitliche Wissenschaft – in außerordentlich beeindruckender Weise – vor Augen geführt, dass auf die wissenschaftlich erforschbare empirische Welt mathematische Prinzipien anwendbar sind, d. h. eben, soweit diese durchgehend mathematisierbar ist 241. In Galileis Motto: »Alles, was messbar ist, messen, messbar machen, was noch nicht messbar ist«, 242 ist dies in programmatisch-methodischer 241 Dies hat auch Nagel betont und zugleich auch geltend gemacht, dass die von ihm favorisierte Teleologie-Konzeption keinesfalls auf einen Rückfall bzw. auf eine Preisgabe dieser neuzeitlichen Naturwissenschaften hinauslaufen kann: Es zeigt sich bei Nagel stets die Einsicht, dass es die methodische Abstraktion der modernen »quantifizierenden« Naturwissenschaft ist, die ihre Erfolge zu allererst ermöglicht: GuK 18; vgl. die von Nagel skizzierte Quantizierung der modernen Naturwissenschaften und die damit verbundenen – erfolgreichen – methodischen Abstraktionen. So heißt es GuK 56: »Es war entscheidend, die subjektiven Erscheinungen und den menschlichen Geist – ebenso menschliche Absichten und Zwecke – aus der physikalischen Welt wegzulassen oder abzuziehen, damit sich diese überzeugende, aber sparsame raumzeitliche Vorstellung der objektiven physikalischen Realität entwickeln konnte«. Vgl. ebd. 62. 242 »Die Philosophie ist geschrieben in jenem großen Buche, das uns fortwährend offen vor Augen liegt – ich meine das Universum; das man aber nicht verstehen kann, wenn man nicht erst die Sprache verstehen lernt und die Züge kennt, in denen es geschrieben ist. Dies Buch ist geschrieben in mathematischer Sprache, und die Schriftzüge sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne deren Hilfe es unmöglich ist, nur ein Wort davon in menschlicher Weise zu verstehen« (Galilei Il Saggiatorie, Ed. Naz. VI, 232, zit. n. Mittelstraß 1962, 253). Für die neuzeitliche Ent-
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Hinsicht präzise zum Ausdruck gebracht. Gleichwohl sind die in den modernen Naturwissenschaften (und ihrem konstruktivistischen Erfahrungsbegriff) erforschten Gesetzmäßigkeiten nicht einfachhin auf mathematische Gesetze reduzierbar, d. h. in rein mathematische Größen aufzulösen, weil derart ihr »realer« empirischer Gehalt völlig verloren ginge, damit aber auch der für die naturwissenschaftliche Theoriebildung konstitutive Hypothesencharakter sich verflüchtigen müsste und Hypothesen infolgedessen auch nicht an der »realen Erfahrung« scheitern könnten. Wohl in diesem Sinne betonte zwar auch Kant, »daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« 243, dessen ungeachtet gilt jedoch, wie übrigens auch Kants Hinweis auf die Kontingenz des gegebenen Kausalverhältnisses betont, dass die derart zwar »mathematisierte« »besondere Naturlehre« sich nicht in Mathematik auflösen kann: »Ob wir gleich die Möglichkeiten, wie durch ein gewisses Dasein das Dasein eines anderen gesetzt werden, auf keine Weise begreifen, und uns deshalb lediglich an die Erfahrung halten müssen« 244, weil die konkrete empirische Realität und Konstellationen aus den allgemeinen Prinzipien und Gesetzen allein nicht deduzierbar sind. Dies bedeutet nicht nur, dass de facto freilich ständig mit einer Korrektur der empirischen Gesetzeshypothesen zu rechnen ist, sondern ebenso dies, dass eben auch ganz andere Konstellationen der möglichen gesetzlichen Zusammenhänge in den theoretischen Erwägungen und Hypothesenbildungen der theoretischen Physik in solchen Theorie-Entwürfen kalkuliert werden und ihre daraus folgenden Konsequenzenzen daraus abzuleiten wären, die dann möglicherweise auch ein ganz anders beschaffenes Universums zur Folge wicklung bedeutet dies: »Das Entwerfen des Wißbaren ohne maßgebliche Rücksicht auf das Wahrgenommene ist das Neue dieses Wissens. Weil das darin Entworfene mathematische Verhältnisse sind, hat man gemeint, dass der Grund dieses Vorgehens in der Anwendung der Mathematik auf die Natur zu suchen ist. In Wahrheit aber ist umgekehrt die Verwendung der Mathematik zur Darstellung und Bestimmung der wahren Naturverhältnisse eine Folge der neuen Bestimmung des Wissens und des Wißbaren. Das wird an keinem Punkte deutlicher als dort, wo diese Zusammenhänge erstmalig gedacht wurden, bei Descartes. Zwar hat dieser sich bei seiner Bestimmung der Idee des Wissens und des Wissbaren an der Mathematik orientiert, aber was hier als Leitfaden zur Auffindung der Idee dient, kann nicht als Ursprung angesehen werden« (Ulmer 1949, 298). 243 Kant V 14. 244 Kant II 431.
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hätte. Nun verhält es sich natürlich so – eine mit Blick auf Nagels »Teleologie«-Konzeption interessante Perspektive –, dass die faktischen physikalischen Gesetzmäßigkeiten und ihre mannigfachen Zusammenhängen die »reale« Evolution des Lebendigen und letztendlich auch das Dasein des Menschen als jenes Wesen bewirkten, das seltsamerweise über seine eigene Genese und die sie ermöglichenden empirischen Prozesse Überlegungen anzustellen vermag, ohne daraus jedoch irgendeinen Nutzen bzw. Überlebensvorteil zu ziehen. Demzufolge könnte sich eine »weichere« Kennzeichnung des – von Dawkins’ Version desselben allerdings radikal verschiedenen – »anthropischen Prinzips« 245 wohl ohne weiteres mit dem Anspruch begnügen, dass die faktisch geltenden mannigfaltigen naturgesetzlichen Zusammenhänge die vielfältigen Formen des Lebendigen und seine Evolution bis hin zu »Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Geist« im Menschen faktisch ermöglicht (insofern sich als »zweckmäßig« erwiesen) haben, weil sie zweifellos notwendige Bedingungen derselben darstellen. Bekanntlich würden schon ganz geringfügige Abweichungen der faktischen Konstellationen (physikalische, klimatische, biologische Verhältnisse bzw. Prozesse) – ohne Naturgesetze aufzuheben oder sie zu relativieren – das Auftreten und die (Höher-)Entwicklung dieses Lebendigen, seine Evolution des Gehirns und damit verbundene notwendige Prozesse vereiteln. Dies eröffnet eine im Sinne eines »weichen anthropischen Prinzips« verstandene kritische regulative »als-ob«-Perspektive, die sich einer naturwissenschaftlichen Unterstützung oder Verwerfung aus methodischen Gründen entziehen muss. Zurück zu Nagels Teleologie-Konzeption: Die in »Geist und Kosmos« von Nagel vorgelegte Naturalismus-Kritik geht jedoch auch in entscheidenden Punkten über seine frühere Position hinaus. 246 Darin spiegelt sich wohl auch Nagels nunmehr leitende Einsicht wider, dass eine lediglich auf die nicht reduzierbare Erlebnis-Qualität (die 245 Aber auch das kritische »anthropische Prinzip« in päpstlicher Perspektive verkennt den regulativen Charakter desselben, wenn der Prozess selbst als etwas »Rationales« behauptet und somit eine »Finalität« unterstellt wird, die zuletzt eben doch auf eine vorkritische Vernunftkonzeption verweist. 246 In einem früheren Aufsatz habe ich – im Ausgang von dem damals viel diskutierten Gehirn-Geist-Manifest und mit Bezugnahme auf einige einschlägig relevante Positionen der philosophischen Tradition (vornehmlich mit Blick auf Aristoteles und Leibniz) – eine grundsätzlich ausgerichtete Naturalismus-Kritik versucht: Langthaler 2008.
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Nichtreduzierbarkeit der »Qualia«), d. h. der sogenannten »Innenperspektive«, abzielende Kritik des »Naturalismus« eben noch nicht ausreicht (d. h. ungeachtet ihrer Berechtigung bloß »vorläufig« bleibt), weil die darin zwar unternommene Rettung der Eigenständigkeit des »Mentalen« gleichwohl selbst noch Gefahr läuft, dabei die Differenz zum »Geistigen« (und die allein dadurch thematisierbaren besonderen Ansprüche) zu nivellieren, bzw. eine solche Nivellierung doch jedenfalls begünstigt. Die einschlägigen früheren kritischen Überlegungen Nagels zum »psycho-physischen Problem« wurden dieser Unterscheidung mit der darin maßgebenden Kritik an einem naturalistischen Reduktionismus und den daran nunmehr geknüpften »Teleologie-Perspektiven noch nicht hinreichend gerecht. Die nunmehrige Erweiterung seiner Naturalismus-Kritik in jüngeren Arbeiten will offensichtlich diesen damaligen Defiziten Rechnung tragen; sie veranlasste ihn in seiner Theorie-Entwicklung zu weiteren Differenzierungen, die in der von ihm zuletzt favorisierten Teleologie-Konzeption (besonders in den Kapiteln 4 u. 5: »Kognition« und »Wert«) ihren Niederschlag findet. 247 Einige der nunmehr maßgebenden Gesichtspunkte derselben sollen im Folgenden noch zur Sprache kommen, zumal sie auch eine gewichtige Kritik an Dawkins’ Naturalismus enthalten. Gleichwohl sind auch jene vagen Formulierungen Nagels nicht zu übersehen, die jenes Verständnis der Bedingungsforschung doch wiederum relativieren: »Das Verständnis des Geistes kann nicht da247 In der Sache scheint Nagel damit auch einerseits der Kritik Habermas’ Rechnung zu tragen, dass sein früherer »Qualia«-Mentalismus »die Grenze der Selbstobjektivierung an der Subjektivität des Erlebens statt an Personalität festmacht« (Habermas 2009, 300); gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Nagel jedoch auch in »Geist und Kosmos« das zentrale Anliegen Habermas’ völlig unberücksichtigt lässt, in angemessener Weise »den über Kommunikation hergestellten Zusammenhang des subjektiven und objektiven Geistes ernst zu nehmen«, und so erst der »sozialen Verfassung des menschlichen Geistes« gerecht werden könnte (Habermas 2009, 320). Dagegen betont Habermas – und macht dies wohl auch noch mit Blick auf Nagels »Geist und Kosmos« geltend: »Es ist nicht die Subjektivität eines Bewusstseinslebens, die Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, sondern die Verschränkung der intersubjektiven Beziehungen zwischen Personen mit deren objektivierender Einstellung zu etwas in einer intentional auf Abstand gebrachten Welt« (Habermas 2009, 322) – eine Auffassung, die Habermas durch die evolutionsbiologischen Forschungen M. Tomasellos empirisch bestätigt sieht. Noch gegen Nagels neue Position hätte Habermas wohl geltend gemacht, »dass sich der subjektive Geist der Intentionen und Erlebnisse nicht von den symbolischen Formen des objektiven Geistes abtrennen lässt« (ebd. 330).
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rauf beschränkt bleiben, diesen im Bereich eines persönlichen Standpunkts zu belassen, weil der Geist das Erzeugnis eines teilweise physikalischen Prozesses ist; doch aus demselben Grund muss die Separiertheit der physikalischen Wissenschaft und deren Anspruch auf Vollständigkeit auf lange Sicht ein Ende haben. Und das wirft die Frage auf: In welchem Umfang wird die reduktive Form, die für die heutige physikalische Wissenschaft so zentral ist, diese Veränderung überleben? Wenn die Physik und die Chemie Leben und Bewusstsein nicht vollständig erklären können, wie wird dann ihre enorme Fülle an Wahrheit in einer erweiterten Konzeption der Naturordnung, die diesen Dingen Rechnung tragen kann, mit anderen Elementen zusammengebracht werden?« 248 Im Grunde knüpft Nagel mit seinem anti-reduktionstischen Anliegen offenbar auch an Einsichten der »Systemtheorie« an, die untrennbar mit dem Namen des Wiener Systemtheoretikers Ludwig v. Bertalanffy verbunden ist.
4.2 Nagels leitende Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen« 249 – und eine entsprechend erweiterte »Teleologie« Eine von den oben angeführten Ebenen 1 und 2 in prinzipieller Hinsicht unterschiedene Ebene – und auf sie zielen die besonders in den Kapiteln 4 und 5 von »Geist und Kosmos« im Vordergrund stehenden Erklärungen ab, die im Grunde auch erst diesen Buchtitel erklären – weist über die im vorigen Abschnitt benannte elementare Ebene noch hinaus, zumal letztere doch die unumgängliche Frage noch ganz unberührt lässt, warum es denn über die natürliche Evolution des Lebendigen hinaus noch Lebewesen gibt, die sich nicht nur an Maßstäben der biologischen Selbsterhaltung und biologischen Fitness 248 GuK 19. Diesbezügliche Vagheiten bzw. Zweideutigkeiten zeigen sich immer wieder; so auch, wenn Nagel in seinem Bemühen um eine »Alternative zum Materialismus« (GuK 29) und in seiner leitenden Perspektive, den »Geist« als einen »grundlegende[n] Aspekt der Natur« (GuK 30) anzusehen, betont: »Wenn das Geistige für sich genommen aber nicht bloß physikalisch ist, dann kann es von der physikalischen Wissenschaft nicht vollständig erklärt werden. Und dann ist es schwierig, die Schlussfolgerung zu vermeiden, dass jene Aspekte unserer physischen Konstitution, die das Geistige mit sich bringen, ebenfalls nicht zur Gänze von der physikalischen Wissenschaft erklärt werden können …« 249 GuK 44.
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orientieren, 250 sondern darüber hinaus in kognitiven und normativen Vernunftansprüchen stehen, für deren Auftreten es jedoch keinerlei evolutionäre Zweckmäßigkeit gibt – obgleich natürlich auch sie in ihrer Genese lückenlos den auf den Ebenen 1 und 2 maßgebenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterstehen, diese jedoch nicht der zureichende bzw. vollständige Erklärungsgrund für die Realität dieser »geistigen Vollzüge« sind. Denn so wie die präbiologische und biologische Evolution des Kosmos steht freilich auch die Einbettung der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen in die Geschichte des Lebendigen ganz außer Streit. Ebenso selbstverständlich ist dies, dass hochkomplexe physikalisch-biochemische Prozesse auch die unhintergehbaren Entstehungsbedingungen für die höher entwickelten Lebewesen sind – zuletzt eben auch für ein hochentwickeltes Gehirn, ohne welches das Auftreten von Bewusstsein, Intelligenz, Geist nicht möglich wäre; dass auch in diesem Sinne alles »durch Gesetze hervorgebracht wird, welche fort und fort um uns wirken« (Gotteswahn 22), wird wohl niemand ernsthaft bezweifeln wollen. 251 Damit tritt nun freilich eine neue Teleologie-Perspektive auf, die auf die beiden erstgenannten »Stufen« nicht zurückgeführt bzw. reduziert werden kann und auch, über seine frühere »mentalistische« Position hinaus, ein Novum in Nagels jüngeren Überlegungen darstellt – wenigstens in gewisser Hinsicht. 252 Offenbar wird sie als ein 250 In eine ähnliche Richtung weist auch Nagels Erklärung: »Die Auslese nach physisch reproduktiver Fitness mag das Auftreten von Organismen zur Folge haben, die tatsächlich über Bewusstsein verfügen und die die beobachtbare Vielfalt verschiedener spezifischer Arten von Bewusstsein aufweisen, aber es gibt keine physikalische Erklärung dafür, warum dies so ist – noch irgendeine andere Art von Erklärung, von der wir wissen« (GuK 71). 251 Dessen ungeachtet sind die Fragen des Theologen nicht von der Hand zu weisen: »Warum bringt die Evolution ein so komplexes Gehirn hervor, das … mit einer trans(nicht sub-)rationalen, meditierenden, vernehmenden Vernunft … sich den Gedanken ›Gott‹ leistet?« (Kessler 2009, 175). 252 Ch. Illies hat diese bei Nagel leitende Teleologie-Perspektive im Blick auf Kants Charakterisierung der Weltstellung des Menschen der Sache nach recht präzis vorweggenommen: »Wie ist die Natur zu denken, dass sie Wesen hervorbringt, die letzte Zwecke sind, die aus der engen Eingebundenheit ›hinausschreiten‹ in das Reich der Gründe und verantwortlichen Selbstbestimmung und so zu einem letzten Zweck der Natur werden? Und wieso drängt die Natur in den Urteilen, die sie uns als evolutionäres Erbe mitgibt, oft in dieselbe Richtung wie die Moral sie als Forderung erhebt?« (Illies 2013b, 194). Schon diese Frage selbst ist nicht selbst eine solche im Dienste des »Überlebensvorteiles«, sondern demonstriert die Befähigung des Menschen, nach der Wirklichkeit im Ganzen (und seinem eigenen Ort darin) zu fragen. Die motivliche
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solches von den beiden anderen Teleologie-Ebenen bzw. -Perspektiven nicht hinreichend in ihrem besonderen Status und Anspruch unterschieden und begünstigt infolgedessen möglicherweise auch Missverständnisse. Indes, erst mit dieser neuen Teleologie-Dimension erhält jenes »anthropische Prinzip« einen spezifischen Gehalt, sofern erst darin die Weltstellung des Menschen thematisiert ist, die alle bloß biologischen Maßstäbe übersteigt. 253 So ist die prinzipiell wahrheitsfähige – wenngleich immer fallible, d. h. revisionsbedürftige – Vernunft selbst eine Dimension der Wirklichkeit, die sich aus »bloß« evolutionären Maßstäben nicht begreiflich machen lässt – und erst recht dem evolutionären Grundsatz widerspricht, dass »in der Natur nichts umsonst geschieht« und jedenfalls aus Anpassungsleistungen nicht verständlich zu machen ist. Genau dieser Aspekt wäre, Nagel zufolge, durch die Erklärung von K. Lorenz noch nicht abgedeckt: »Für den Naturforscher ist der Mensch ein Lebewesen, das seine Eigenschaften und Leistungen, einschließlich seiner hohen Fähigkeiten des Erkennens, der Evolution verdankt, jenem äonenlangen Werdegang, in dessen Verlauf sich alle Organismen mit den Gegebenheiten der Wirklichkeit auseinandergesetzt und – wie wir zu sagen pflegen – an sie angepasst haben« 254. In eine grundsätzlich ähnliche Richtung weist Dawkins’ Erklärung: Nähe zu Nagel ist nicht zu übersehen, wenn Illies betont: »Es müsste … gezeigt werden, … warum es der Logik einer Evolution durch Selektion entspricht, Vernunftwesen hervorzubringen. Erst dann wäre eine teleologische Deutung der Evolutionsgeschichte wirklich plausibel. Und vielleicht ist es nicht ganz unsinnig das anzunehmen: Zum Beispiel lässt sich für einen Selektionsdruck in Richtung auf komplexere Lebensformen argumentieren« (Illies 2008, 171). 253 Für die Naturwissenschaften als Bedingungsforschung ergibt sich hier ein ungemein breites Forschungsfeld: Denn natürlich ist auch die Ausbildung des menschlichen Gehirns an elementare physikalisch-chemische Bedingungen gebunden; freilich, schon Leistungen der höher entwickelten warmblütigen Tiere sind an eine bestimmte Gehirngröße gebunden; für die in diesem Gehirn ablaufenden Stoffwechselprozesse sind die sie erst ermöglichenden Spielräume von Körpertemperaturen erforderlich, ohne die auch die notwendig zugrunde liegenden neuronalen Prozesse nicht möglich wären. 254 Lorenz 1981, 17. Schon in seiner Schrift über »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie« (Lorenz 1941, 103) hat Lorenz betont: »Durch die zur Bescheidenheit mahnende Erkenntnis, daß alle Gesetze der reinen Vernunft auf höchst körperlichen, wenn man so will, geradezu auf maschinellen Strukturen des menschlichen Zentralnervensystems beruhen, die in äonenlangem Werden wie irgendein anderes Organ entstanden sind, wird unser Vertrauen zu ihnen einerseits erschüttert, andererseits aber wesentlich erhöht.«
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»Jede kreative Intelligenz, die ausreichend komplex ist, um irgendetwas zu gestalten, entsteht ausschließlich als Endprodukt eines langen Prozesses der allmählichen Evolution« (Gotteswahn 46). Solche Hinweise auf die evolutionären Anpassungsprozesse stellen Nagel mit Blick auf den Menschen und die mit ihm aufgetretenen spezifisch menschlichen Vollzüge jedoch gerade deshalb nicht zufrieden, weil sie, wie sich im Folgenden zeigen soll, die entscheidenden Fragen unbeantwortet lassen. Sie sind es eben, die ihm zufolge vielmehr eine notwendige neue Teleologie-Ebene eröffnen, die jene beiden anderen Ebenen noch übersteigt. Darin rücken nach Nagel neue Wirklichkeitsdimensionen in den Vordergrund – gilt es doch, »Geist, Sinn und Wert« als »ebenso fundamental an[zu]setzen wie Materie und Raumzeit« 255 und sie dennoch ebenso als zur »Naturordnung« gehörig zu begreifen. Leitend ist dabei für Nagel vorrangig die Frage, »warum wir als solche [erkenntnis-, d. h. wahrheitsfähige und moralfähige] Wesen in die Welt passen«; 256 sie zielt so auf die Erklärung der »Tatsache« ab, »dass die Welt irgendwie bewusste Wesen erzeugt, die fähig sind, Gründe für ihr Handeln und ihre Überzeugungen zu erkennen, einige notwendige Wahrheiten auszumachen und die Beweise für alternative Hypothesen über die Naturordnung zu prüfen« 257. Warum und wie passt also das »animal rationale« in die Welt – und was sind für eine solche Frage die angemessenen Maßstäbe? Es ist deshalb auch völlig unerfindlich, weshalb Nagels Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, und auch die von Dawkins (dem 1. Kapitel seines Buches »Das egoistische Gen«) vorangestellte Frage »Wa255 GuK 36. Die neuronalen Prozesse und ihre immer komplexeren Vernetzungen fungieren so selbst auf dieser Ebene als »Mitursache« und ermöglichen so etwas prinzipiell Neues. 256 »Die Hoffnung richtet sich nicht darauf, eine Grundlage zu entdecken, die unser Wissen unangreifbar absichert, sondern eine Form des Selbstverstehens zu finden, die uns selbst nicht vollkommen untergräbt und die uns nicht abverlangt, das Offensichtliche zu leugnen. Das Ziel wäre, ein plausibles Bild davon zu geben, wie wir in die Welt passen« (GuK 42; 44) – und zwar als erkennende und an normativen Prinzipien orientierte Wesen, jenseits eines bloß biologischen Anpassungsvorteils. 257 GuK 51. Genau diese Frage ist von der Auskunft noch nicht abgedeckt, ja im Grunde davon noch nicht einmal berührt: »Unser Streben nach Erkenntnis (und damit das wissenschaftliche Ethos und die Institution Wissenschaft) lässt sich evolutionistisch begründen. Wenn Erkenntnis über die Welt die ›Fitness‹ des Menschen steigert – was kaum zu bezweifeln ist –, dann muss im Verlauf der biologischen Evolution des Menschen eine genetische Kodifizierung jener Verhaltensweisen, die ›Erkenntnis‹ gewährleisten, eingetreten sein« (Mohr 1995, 6).
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rum gibt es Menschen?« durch Darwins Lehre beantwortet sein soll – zumal diese Fragen eben prinzipiell keine durch die Evolutionstheorie beantwortbaren, also biologischen Fragen sind. Es ist folglich ausgesprochen missverständlich (und beruht auf einem Kategorien-Fehler bzw. auf einer Verwechslung der ganz unterschiedlichen FrageEbenen, 258 wenn Dawkins behauptet: »Darwin versetzte uns in die Lage, dem neugierigen Kind, dessen Frage dieses Kapitel einleitet, eine vernünftige [!] Antwort zu geben. Wir brauchen nicht mehr auf Aberglauben zurückzugreifen, wenn wir uns mit den unergründlichen Rätseln [die so »unergründlich« ja offenbar ja doch nicht sind!] konfrontiert sehen: Hat das Leben einen Sinn? Wofür sind wir da? Was ist der Mensch?« (Das egoistische Gen 1). Denn unabhängig davon, ob das, womit wir uns hier angeblich »konfrontiert sehen«, nicht ohnedies lediglich flüchtige »Manifestationen der Materie« sind, denen man mühelos standhalten kann, bleibt doch darauf zu sehen, dass Dawkins auch mehr als dreißig Jahre später, nachdem er diese Fragen aufgeworfen hat, darauf lediglich die Antwort parat hält: Wir sind gegenseitig bedrohende und gleichermaßen nutzbare »Überlebensmaschinen«, die seltsamerweise von sich wissen und sich angeblich auch irgendwie zu sich (seinen Genen?) in Distanz treten können (und dies angeblich auch sollen und sich an Dawkins’ Frohbotschaften erfreuen können: »Now stop worrying and enjoy your life!«, »schöpfen wir unser Leben aus!« 259 Eine von jener Frage, »warum wir in die Welt passen«, unabtrennliche Forderung, die aus der Abwehr aller separatistischendualistischen Konzeptionen resultiert, ist dies: »Eine Darstellung ihrer [der Organismen] biologischen Evolution muss das Auftreten bewusster Organismen als solcher erklären können«. 260 Nagels Leit258 Erneut wäre an die Differenzierungen der aristotelischen Ursachen-Lehre zu erinnern bzw. an die Beantwortung der Frage, »warum Sokrates hier sitzt …« (s. o. I., Anm. 204). 259 So lautet die von Dawkins in der Sendung »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur angebotene – etwas gemilderte – Version, für die eine evolutionistische Konzeption nach der Art Dawkins’ bedauerlicherweise jedoch ebenfalls keinerlei Maßstäbe anzubieten vermag. Diesem völlig maßstablosen Imperativ folgt ohnedies sowohl der in der Bibel angeführte Hedonist (»Lasst uns fressen und saufen, denn morgen sind wir tot!«: Jes 22,13) als auch der religiöse Terrorist, aber auch die von Dawkins bewunderten »moralischen Vorbilder« – freilich auf eine nicht ganz vergleichbare Weise. 260 GuK 69. – Eine evolutionstheoretische Erklärung verlangt der von Ch. Illies angeführte Befund, der in bezeichnender Weise einerseits genau Nagels Teleologie-Per-
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frage, »warum wir als solche Wesen in die Welt passen«, darf in solcher Hinsicht auch so verstanden werden, weshalb – über bloße biologische Selbsterhaltungsaspekte hinaus – Lebewesen als »Produkt der Evolution« auftreten, die nicht nur Bewusstsein, Erlebnisse u. Ä. haben (»qualia«), sondern, zufolge der ausgebildeten »Ich«-Perspektive, überdies in kognitiven und normativen Ansprüchen stehen, die unter biologisch-evolutionstheoretischen Maßstäben zwecklos und sinnlos sind. Nagels Leitfrage ist demnach näherhin: Wie »passen« also solche – alle bloßen »Anpassungsleistungen« der Natur übersteigende – Wesen in die Welt, die nicht nur zu Zweck-orientiertem (und »klugem«), sondern zu an unbedingten Normen orientiertem Handeln befähigt sind, die demgemäß nicht nur leben, sondern »ihr Leben führen« und daraus auch erst ihre personale Identität gewinnen? Dies ist der nunmehr leitende Gesichtspunkt Nagels, der ihn auch über seine frühere Kritik an der reduktionistischen Eliminierung der »Erste-Person-Perspektive« noch hinausführt – und sich deshalb auch noch nicht mit dem bloßen Einspruch gegen die reduktionistische naturalistische Auffassung begnügt, dass sich »Geist … in die physikalische Welt einfügen« lässt. Deshalb insistiert er (auch gegenüber dem »Behaviorismus«) auf der naturalismuskritischen Nichtreduzierbarkeit des »Standpunkts der ersten Person, aus der Binnenperspektive des bewussten Subjekts« 261 und betont dagegen: »Bewusste Subjekte und ihr mentales Leben sind unausweichlich Bestandteile der Wirklichkeit und von den physikalischen Wissenschaften nicht beschreibbar.« 262 spektive aufnimmt und zwischen Nagels Blickrichtung und kantischen Vorgaben gleichsam die Brücke schlägt: »Aber die Evolution hat uns ja zu einem freien Wesen werden lassen, das sich zur Natur urteilend und bewertend stellen kann, sie hat uns die reflexive Urteilskraft gegeben. Wir können also nach Gründen suchen. […] Wie ist die Natur zu denken, dass sie Wesen hervorbringt, die letzte Zwecke sind, die aus der engen Eingebundenheit ›hinausschreiten‹ in das Reich der Gründe und verantwortlichen Selbstbestimmung und so zu einem letzten Zweck der Natur werden? Und wieso drängt die Natur in den Urteilen, die sie uns als evolutionäres Erbe mitgibt, oft in dieselbe Richtung wie die Moral sie als Forderung erhebt?« (Illies 2013b, 194). 261 GuK 60. 262 GuK 64. – Ungeachtet der von Nagel geltend gemachten Differenz zu theologischen Konzeptionen ist doch eine sachliche Nähe nicht zu übersehen, wenn etwa der Wiener Kardinal Schönborn betont: »Vor allem geht es darum, eine Reduktion der Bereiche des Geistigen, Ethischen, Kulturellen und Religiösen auf die Ebene der rein materiellen Kausalität zu vermeiden. Wir werden weder den Schöpfer noch die Vernunft, weder das Erkennen noch das Ethos rein naturwissenschaftlich erklären können. Aber wir haben enorm viel über die evolutiven Rahmenbedingungen, von Ver-
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Obwohl auch diese Argumentation Nagels die geltend gemachte Differenz zwischen Mentalem und Geistigem auf den ersten Blick wiederum zu nivellieren scheint, geht seine Argumentation – jedenfalls in einer grundsätzlichen Hinsicht – unverkennbar über jene in der frühen Behandlung des »psychophysischen Problems« formulierte Reduktionismus-Kritik hinaus: Sie erschöpft sich somit nicht mehr mit dem Aufweis der Nicht-Reduzierbarkeit der in der »Qualia«-Debatte angezeigten Binnenperspektive, sondern rückt mit der Dimension des nicht psychologistisch zu verkürzenden »Geistigen« eine – prinzipiell neue – Dimension »bewussten Lebens« ins Blickfeld, die jedoch bemerkenswerterweise durch seinen Hinweis auf die von ihm schon früh geltend gemachte »Doppelaspekt-Perspektive« wiederum relativiert wird: »Wir selbst sind große, komplizierte Fälle von etwas, das objektiv physikalisch von außen und subjektiv mental von innen ist. Vielleicht durchdringt die Grundlage für diese Identität die Welt.« 263 Die von Nagel angeführten Leistungen des Menschen, »nach[zu] denken, was der Fall ist oder wie wir handeln sollten«, »die Fähigkeit unseres Denkens, die Subjektivität zu übersteigen und zu entdecken, was objektiv der Fall ist« 264, kurzum das, was traditionell das Spezifinunft und Willen, Ethos und Religion gelernt. Die Evolution des Lebens hat dies alles möglich gemacht, aber sie ist nicht der letzte Grund dafür. Geist, Wille, Freiheit können nicht ausschließlich das Produkt der materiellen Evolution sein, sonst könnten sie sich auch nicht von ihr bis zu einem gewissen Grad emanzipieren …« (Kardinal Schönborn, Vortrag über »Schöpfung und Evolution« v. 9. März 2009). Damit rekurriert auch der Wiener Kardinal auf jene Differenz von »Ursache« und »Mitursache« und betont den unverzichtbaren Status der Evolutionstheorie als »Bedingungsforschung«. 263 GuK 65 264 GuK 106. Bemerkenswerterweise hat ja auch schon Aristoteles in ähnlichem Sinne in seiner (in die »Philosophie des Lebendigen« eingebundenen) Seelenlehre geltend gemacht: »Dass also das Wahrnehmen und das Einsehen (verständiger Sinn) nicht dasselbe sind, ist deutlich. Am einen haben alle Lebewesen teil, am anderen nur wenige. Aber auch das vernünftige Erkennen, in welchem sich das Richtige und das Nicht-Richtige findet, ist nicht dasselbe wie das Wahrnehmen. Das Richtige findet sich als Einsicht, Wissenschaft und richtige Meinung, das Nicht-Richtige als das Entgegengesetzte hiervon. Die Wahrnehmung von ihren spezifischen Objekten ist nämlich immer wahr und liegt bei allen Lebewesen vor, das Denken hingegen kann auch fehlerhaft sein und liegt nur dort vor, wo auch Verstand: denn Vorstellung ist etwas anderes als Wahrnehmung und Denken« (Aristoteles, Über die Seele 427 b). Für das Sachverhalts-orientierte »Meinen« ist nach Aristoteles die Differenz zwischen »wahr« und »falsch« konstitutiv – und der »Meinung folgt Vertrauen – denn unmöglich kann jemand, der eine Meinung hat, dem, was ihm scheint, kein Vertrauen schen-
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kum des »animal rationale« ausmacht, verlangen ein Verständnis, das auch die Maßstäbe vitaler Zweckmäßigkeit (bzw. des »Überlebensvorteils«) noch überschreitet und deshalb über die evolutionären Mechanismen der »natürlichen Selektion« in ihrem Eigensinn nicht zureichend erklärt werden, d. h. nicht »mit einem reduktiven Naturalismus in Einklang gebracht werden« kann 265. Deshalb betont Nagel selbst wiederum: »Das Unverwechselbare an der Vernunft ist, dass sie uns direkt mit der Wahrheit verbindet.« 266 Das in der Natur unauflösliche angepasste Ineinander von Organismus und Umwelt ist im Wahrheitsanspruch und normativen Anspruch des Menschen stets schon durchbrochen durch die reflexive Distanz, die auch so etwas wie Wissenschaft und Wahrheitsorientierung erst ermöglicht. 267 Es sind zunächst die von Nagel unter »Kognition« zusammengefassten »mentale[n] 268 Funktionen wie Denken, Begründen und Urteilen, die [im Wesentlichen] auf den Menschen beschränkt sind«, für die er eine evolutionäre Erklärung sucht, zumal sie sich nicht in der biologischen Zweckmäßigkeit der Anpassungsleistungen an die Umwelt erschöpfen: »Es handelt sich um Funktionen, die uns in die Lage versetzt haben, über die Perspektive der unmittelbaren Lebenswirklichkeit hinaus zugehen und die umfassendere objektive Realität von Natur und Werten zu erforschen.« 269 Es ist also nicht zuletzt die Frage nach dem ken –, bei keinem Tier jedoch findet sich Vertrauen, bei vielen hingegen Vorstellung. Ferner, jeder Meinung folgt Zutrauen, dem Zutrauen das Überzeugtsein, der Überzeugung die begriffliche Rede. Von den Tieren aber kommt einigen Vorstellung zu, nicht aber Rede« (ebd. 428a). 265 GuK 106. 266 GuK 120 f. Eben darauf zielt die Bemerkung Spaemanns/Löws: »Denn als bloß natürliches Lebwesen wäre ja der Mensch gerade nicht vernünftig, bzw. Vernünftigkeit wäre nicht ›vernünftig‹, sondern nur ein biologisches Vorkommnis unter anderen« (Spaemann/Löw 1982, 275). In diesem Kontext ist eine Bemerkung Whiteheads aufschlussreich: »Those who devote themselves to the purpose of proving that there is no purpose constitute an interesing subject for study« (Whitehead 1929, 12). 267 Deshalb ist Erkenntnis auch nicht, wie Dawkins meint, als »Außenweltsimulation« zu begreifen, weil dies genau diese Geltungs-bezogene Dimension der »Subjektivität« ausblendet. S. dazu Spaemann/Löw 1982, 256 f. 268 Diese Kennzeichnung des »Mentalen« läuft jedoch wiederum Gefahr, die EbenenDifferenz zwischen dem »Mentalen« und »Geistigen« zu nivellieren, die Nagel in »Geist und Kosmos« jedoch selbst besonders betont. 269 GuK 105. Die diesem Vorhaben zugrunde liegende Unterscheidung lässt sich recht gut im Sinne der aristotelischen Differenz zwischen »psyche und nous« erläutern und bietet im Blick auf diese angeführte über »die unmittelbare Lebenswirklichkeit hinaus« führende Perspektive auch einen naheliegenden Anknüpfungspunkt für die
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»zureichenden Grund« der Existenz eines selbst als Teil der Evolution existierenden Wesens, das dennoch »kognitive« Leistungen vollbringt und auch solche Zwecksetzungen vollbringt, die biologische Zweckmäßigkeit und somit auch eine Orientierung an »Überlebensvorteilen« transzendiert. Es liest sich wie ein erläuternder Kommentar zu Nagel, wenn Hösle feststellt: »Die Hauptgründe dafür, weshalb die zeitgenössischen Vorschläge einer naturalistischen Weltanschauung seitens der Neodarwinisten wie Dawkins so unattraktiv sind, liegen in den zwei Sphären der Normativität und der geistigen Welt. Der Naturalismus wird der Tatsache nicht gerecht, dass wir als Personen unweigerlich letzte intellektuelle und moralische Zwecke haben, die sich nicht auf das Ausführen von biologischen Programmen zurückführen lassen. Man mag mit kausalen Mitteln, etwa mittels der Soziobiologie, die Entwicklung unserer moralischen Begriffe zu erklären versuchen, aber auch wenn diese Erklärungsversuche die Genese einiger unserer Ideen erhellt haben, z. B. im Bereich der Sexualmoral, so sind sie doch prinzipiell nicht in der Lage zu erklären, woher die Geltung unserer moralischen Überzeugungen stammt. Dies ist das allgemeine Problem, dem sich jede bloß evolutionäre Darstellung gegenübergestellt sieht: Die Welt der Gründe ist, sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich, nicht auf die Sphäre der Ursachen reduzierbar. Wir benötigen eine Theorie der Finalität, um uns als denkende und handelnde Wesen begreifen zu können, denn auch Denken und Argumentieren sind Handlungen, und Handlungen orientieren sich unweigerlich an Zwecken.« 270 Es ist wiederum jener schon wiederholt berührte denkwürdige Sachverhalt, dass dieser evolutionäre Prozess sehr spät ein Lebendiges hervorgebracht hat, das sich seltsamerweise ja nicht nur als eine Art »Überlebensmaschine« am Leben erhält, sondern sich nicht zuletzt Gedanken über sich selbst macht, seine genealogische Herkunft und seine eigentümliche Weltstellung selbst im Blick auf seine Lebensführung hinterfragt, sich nicht als Mittelpunkt der Welt fixiert und so nicht zuletzt seine eigenen Perspektiven gegenüber anderen relativiert: Dieses seltsame Wesen entwirft solcherart zuletzt sogar aristotelische Lehre vom »von außen kommenden nous«. Er ist es, der uns, nicht zuletzt als sprachliche Wesen, zu den von Nagel geltend gemachten Leistungen des »Unterschied[s] zwischen Schein und Wirklichkeit und die Existenz objektiv faktischer oder praktischer Wahrheit« befähigt, was also »über das hinausgeht, was uns Wahrnehmung, Verlangen und Emotion sagen« (GuK 108). 270 Hösle 2013, 276.
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eine gleichsam »luxurierende« – keinerlei Überlebensvorteil bietende – Theorie über seine eigene Genese und die empirischen Bedingungen der Entstehung von Selbstbewusstsein und Geist, und zwar auf eine Weise, dass es darin das Verhältnis des Menschen zu anderen Lebewesen vergleichend erforscht und insofern auch seine Weltstellung im wörtlichen Sinne »relativiert«; dies ist ein höchst merkwürdiger Sachverhalt angesichts der »darwinistischen Zwangsläufigkeit«, die alles Nutzlose eliminiert, zumal die »darwinistische Selektion … sich gewöhnlich gegen Verschwendung« richtet und diese »ausmerzt« (Gotteswahn 225 f.) 271 und sich dennoch offenkundig zuletzt sogar die – gewiss ebenso »Gehirnentwicklungs-bedingte« – »leichtfertige Spielerei« leistet, das gar auf die evolutions(bio)logisch gewiss unnütze, gleichwohl offenbar Sinn-orientierte Frage verfällt: »Warum ist überhaupt Vernunft und nicht Unvernunft?«, der offenbar selbst evolutionsbedingte neuronale Prozesse korrelieren. Eine interessante Perspektive wäre in diesem Zusammenhang doch dies: Wäre die Evolution in solcher Hinsicht vielleicht auch zu buchstabieren als – zwar nicht einfach linear verlaufende – zunehmende Differenzierung der »Lernfähigkeit der Arten« und ihrer jeweilig maßgebenden Umweltbezüge, 272 gewissermaßen als ein Prozess der »Entgrenzung« der je artspezifischen »Angepasstheit«, der mit Blick auf die Weltstellung des Menschen und seiner potentiell unbegrenzten Lernfähigkeit auch im Sinne des »anthropischen Prinzips« interpretiert werden könnte? 273 »Exzentrisch« hat die moderne 271 Ob Darwins Wendung »struggle for life« wirklich als »Kampf ums Dasein« übersetzt werden soll, so auch in Dawkins’ Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« (236), oder dies nicht doch eher irreführend ist (weil die vielfach faktisch bestehenden Überlebensvorteile durchaus auch kampflos »erzielt« werden), ist strittig. Gemeint ist damit jedenfalls die durch Mutation und Selektion bedingte faktische Auslese im Sinne des besseren Angepasstseins und den daraus resultierenden Überlebensvorteil, der durch die Fähigkeit zur Einfügung in das ökologische Gleichgewicht gewährleistet ist. 272 Bezüglich dieser »Lernfähigkeit« gibt es hier wohl Anknüpfungspunkte für die von Ch. Kummer erwähnten Kriterien einer »Höherentwicklung«, nämlich: »Zunahme von Differenzierung und Integration«, »Zunahme der Umweltunabhängigkeit«, »Zunahme der individuellen Autonomie« (Kummer 2009, 106). 273 Es wird sich zeigen, dass Nagel durchaus mit Dawkins’ Befund übereinstimmt, jedoch sich damit in seiner Konzeption nicht begnügt: So verweist Dawkins darauf hin, dass auch »die Entstehung der Eukaryonten-Zellen (d. h. der Zellen, aus denen auch wir Menschen bestehen, mit Zellkern, Mitochondrien und verschiedenen anderen komplizierten Einzelteilen, die bei Bakterien nicht vorhanden sind) … ein sogar noch folgenschwereres, schwierigeres und statistisch unwahrscheinlicheres Ereignis gewesen [sei] als die Entstehung des Lebens selbst. Ein weiterer wichtiger Sprung, der
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philosophische Anthropologie diese Weltstellung des Menschen genannt. Wäre diese »Exzentrizität« in dieser evolutionären Perspektive ebendas Ziel dieser zunehmenden Differenzierungs- und Entgrenzungs-Prozesse? 274 Demgemäß zeigt sich, dass die Ergebnisse der Evolution des Lebendigen durchaus eine teleologische Perspektive erlauben und diesbezügliche Fragen nicht nur nicht erübrigen, sondern sie geradezu unabweislich machen. Die besondere teleologische Akzentuierung ist demzufolge vornehmlich durch die klärungsbedürftige Frage inspiriert, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, d. h. auch: weshalb die Evolution des Lebendigen Wesen hervorbringt, deren spezifische Vollzüge sich nicht schon in vitalen Selbstbehauptungsleistungen erschöpfen. Dafür ist die Erklärung der Komplexität des Gehirns, die so etwas wie die menschliche Vernunft »erklären« soll, selbst keine evolutionär ausreichende Erklärung, weil das darin Hervorgebrachte unter den evolutionären Maßstäben des bloßen »Überlebensvorteils« gerade unerklärlich, weil »funktionslos« ist, also die Frage »Warum?« (im Sinne der »causa efficiens« zwar partiell, jedoch) nicht hinreichend beantwortet wird. Dann allerdings hätte die Evolutionstheorie die Aufgabe, dass eine »Erklärung der Vernunft die Wahrscheinlichkeit des Auftretens ihrer biologischen Bedingungen qua Bedingungen der Vernunft zu erklären haben« würde, »das heißt unter dieser Beschreibung« 275 – die als solche gerade nicht mehr unter den evolutionären Maßstäben des Überlebensvorteils steht. Diese Aspekte sind gerade nicht mehr durch die Antwort des Evolutionsbiologen hinreichend beantwortet: »Das Bewusstsein ist sicher durch den enormen Überlebensvorteil entstanden, durch die Fähigkeit, die Hypothesen anstatt seiner selbst sterben zu lassen« 276. Dies ist nicht nur eine zirkuläre Argumentation, die die Wirklichkeit des Bewusstseins schon möglicherweise ähnlich unwahrscheinlich war, könnte die Entstehung des Bewusstseins gewesen sein« (Gotteswahn 197). 274 In diesem Sinne lässt sich wohl auch die von Hösle angezeigte Perspektive interpretieren: »… es gibt nichts, was mit der modernen Naturwissenschaft unvereinbar wäre, wenn man die Entwicklung von anorganischen Objekten hin zu Organismen und selbstbewussten Geistwesen als Entfaltung immer komplexerer Zwecke deutet: Das Hervorbringen von Entitäten, die zunehmend komplexere Zwecke haben, ist sozusagen ein Zweck der Natur oder ihres Schöpfers; und der höchste Zweck ist die Erzeugung eines Wesens, das die Frage aufwerfen kann, was ein letzter Zweck ist« (Hösle 2013, 276) – und darauf auch eine vernünftige Antwort zu finden vermag? 275 GuK 129. 276 Kreuzer/Broda/Riedl 1981, 56.
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voraussetzt, und setzt offenbar voraus, dass es »bewusste Wesen« geben soll; überdies wird, im Blick auf Nagels Differenzierung, »Bewusstsein« hier stillschweigend mit »Kognition« identifiziert. Eine direkte Bestätigung hat das – im Blick auf die kognitiven und normativen Kompetenzen des Menschen gewendete – Naturalismus-kritisch gewendete Teleologie-Motiv Nagels und die damit ihm zufolge verbundenen Defizite der naturalistisch-reduktionistischen Evolutionstheorie indes durch die vorwegnehmende Kritik des Wiener Philosophen Erich Heintel erfahren, die sich freilich direkt gegen einschlägige Reduktionismen in der Argumentation von K. Lorenz richtet. Klärungsbedürftig ist Heintel zufolge nicht zuletzt dies: »Warum ist die Organisationswelt jemals über Bakterien, Heringe und Kaninchen hinausgelangt, deren ›differentielle Reproduktion‹ doch kaum übertroffen werden kann?[277] Ist die Evolution von der berühmten Amöbe zum ebenso berühmten Goethe wirklich nur eine Sache verbesserter Anpassung, Nützlichkeit und Fruchtbarkeit? Man kann doch auf jeder Organisationsstufe vollkommen angepasst sein …« 278 Dies ist offenkundig auch das in Nagels Buch »Geist und 277 Diese Frage stellt sich natürlich erst recht angesichts des Befundes, »dass wir die Erzeugnisse einer langen Geschichte des Universums seit dem Urknall sind, die über eine natürliche Auslese im Laufe von Milliarden Jahren von Bakterien abstammen. Das gehört zum wahren externen Verständnis unserer selbst. Die Frage ist nur, wie das mit den anderen Dingen, die wir wissen – unter Einbeziehung der Formen von Vernunft, auf welchen diese Schlussfolgerung selbst beruht –, in einer Weltanschauung zusammenbringen, die sich nicht selbst untergräbt« (GuK 51). Die Existenz von Vernunft, Kognition, normativem Bewusstsein, die selbst Teil der Wirklichkeit sind, müssen deshalb, so Nagel, so verstanden werden, dass »die Möglichkeiten dazu dem Universum inhärent« waren, »lange bevor die Tiere auftraten. Eine zufriedenstellende Erklärung würde zeigen, dass die Realisierung dieser Möglichkeiten nicht im Geringsten unwahrscheinlich war, sondern in Anbetracht der Naturgesetze und der Zusammensetzung des Universums eine erhebliche Wahrscheinlichkeit besaß. Sie würde Geist und Vernunft als grundlegende Aspekte einer nichtmaterialistischen Naturordnung erkennbar machen« (GuK 53). Eine solche teleologische Konzeption geht mit diesem Anspruch freilich weit über das hinaus, was eine kritische Konzeption des »anthropischen Prinzips« selbst einzuräumen vermag. Dies gilt wohl auch angesichts der These Nagels, das Auftreten von Lebendigem, Mentalen und Geistigem »als eine erwartbare, wenn nicht gar zwangsläufige Konsequenz der Ordnung« zu erklären, »welche die natürliche Welt von innen beherrscht« und ihn diesbezüglich über physikalische und chemische Prozesse hinaus auf »teleologische Prinzipien« rekurrieren ließ (GuK 53 f.). Es waren wohl vor allem »starke« Äußerungen dieser Art, die Nagels Kritiker auf den Plan gerufen haben. 278 Heintel 1984 I, 240. – Dies gilt nicht weniger für die gewiss nicht abwegige – und auch durch den Verweis auf den Mega-Kran der »natürlichen Selektion« abzuwür-
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sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage …« 282 Weshalb es, an biologischen Maßstäben bemessen, über die evolutionären Anpassungsleistungen der Organismen (und daran bemessene »Überlebensvorteile« hinaus) ein solches in Geltungsansprüchen stehendes Wesen geben soll, das seine eigene Weltstellung thematisiert und auch relativiert und als »Freigelassener der Schöpfung« auch seine am »Angenehmen«, »Nützlichen« und »Zuträglichen« Maß nehmenden Ansprüche überschreitet, bleibt unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten unbeantwortet und wirft in solcher Hinsicht auch notwendigerweise auf die Frage (Nagels), »wie ein solches Wesen in die Welt passe«, ein besonderes Licht. (ad a): Dazu gehört nicht zuletzt auch das unstillbare Forscherinteresse des Menschen, das sich gleichermaßen ins unermesslich Kleine und unermesslich Große erstreckt; ebendies stellt nicht selbst wiederum ein naturwissenschaftlich erklärbares Phänomen dar, obgleich natürlich auch diese Forschungsleistungen ohne neuronale Gehirnprozesse nicht möglich sind. Es ist ein höchst bemerkenswerter – obgleich vermeintlich ganz selbstverständlicher und deshalb oft übersehener – Sachverhalt, dass es die keineswegs lebensdienlichen Theorien des Menschen selbst sind, in denen er seine eigene Weltstellung thematisiert, darin auch sich selbst – sei es als »Zigeuner am Rande des Weltalls« – vollends relativiert und eben für diese »selbstbezüglichen« Theorien einen Wahrheitsanspruch stellt: eine Auszeichnung, die offenbar dem sich selbst als Tier missverstehenden »animal rationale« vorbehalten ist. Fragen dieser Art sind durch Dawkins’ Bezüge auf die verschiedenen Versionen des »anthropischen Prinzips« keinesfalls gegenstandslos geworden. 283 Zu den staunenswerten Fragwürdigkeiten gehört wohl auch dies, dass, als verschwindend kleiner 282 Herder [1893], 140: »Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisiert.« Unmittelbar vor jener Kennzeichnung als »erster Freigelassener der Schöpfung« heißt es: »Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasst uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Freiheit liegt und wieviel die Natur gleichsam wagte, da sie dieselbe einer so schwachen, vielfach gemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute. Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß notdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten.« 283 Zu Recht kritisiert Mynarek (2010, 111 f.) Dawkins’ Auffassung, die die Gottesthematik alternativ zum »anthropischen Prinzip« ansetzt – d. h. als »zwei Lösungs-
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und auch sehr spät in Erscheinung getretener Teil dieser Welt, zuletzt seltsamerweise Lebewesen auftreten, die einerseits ohne die vorausliegenden mannigfaltigen physikalischen, biologischen, klimatischen usw. Bedingungen natürlich nicht existieren könnten; andererseits erhalten sich diese merkwürdigerweise aufgetretenen sonderbaren »Spätlinge« der Evolution nicht nur, so wie andere natürliche Arten, in ihren mannigfachen Umweltbezügen am Leben und pflanzen sich fort. In einem gewiss sehr späten Stadium ihrer kulturellen Entwicklung stellen sie erstaunlicherweise und zu allem Überfluss solche »unnötigen-luxurierenden« Fragen nach der Welt im Ganzen und ihrer eigenen Stellung in derselben. Dass sie sich dazu gleichermaßen befähigt und gedrängt fühlen, ist offensichtlich nicht nur eine zufällige Eigenschaft, sondern gehört unabweislich zur »conditio humana« – eben eines »animal rationale«. Gerade unter den von Dawkins selbst angelegten evolutionären Maßstäben, dass nämlich »die natürliche Selektion jede Zeit- und Energieverschwendung« bestrafe und in der Evolution der Natur »erbarmungslose Nützlichkeit … Trumpf« sei, »auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226), müssen diese kognitiven und moralischen Fähigkeiten und Leistungen – nicht zuletzt das an Geltung orientierte Wahrheitsstreben – unverstanden und ortlos bzw. überflüssig bleiben. 284 Daraus resultiert für diese Teleologie-Ebene die Forderung: Eine Erklärung verlangt Nagel zufolge also »das Auftreten von Organismen …, die nicht nur physisch an die Umgebung angepasst sind, sondern auch bewusste Subjekte sind … Was erklärt werden muss, ist vorschläge … Der eine ist Gott, der andere das anthropische Prinzip« (Gotteswahn 191). 284 Man müsste schon eine stichhaltige Antwort auf die Frage haben, warum denn so ein seltsames Wesen, wie es der Mensch ist, überhaupt existieren soll, um der (an Dawkins erinnernden) Antwort Metzingers (2007, 215) einen Sinn abgewinnen zu können, wonach die in der bzw. als »geistlose[n], gnadenlose[n] Selbstorganisation« ablaufenden Evolution seinem »Selbstmodell« zufolge zuletzt »Subjektivität« als »neurocomputationale Waffe« zu [!] Überlebenszwecken hervorgebracht habe. Das in den verschiedenen Formen des »Naturalismus« ungelöste Problem bleibt: »Sie können uns nicht wirklich verständlich machen, warum in einer rein materiellen Erfahrungswelt eines Tages erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte mit ihrer spezifischen Ich-Perspektive die Bühne betreten haben« (Tetens 2015, 22) – und sich zuletzt, einigermaßen ratlos, mit Wittgenstein gar vor die Frage gestellt sehen: »Wenn Einer sagt: ›Ich habe einen Körper‹, so kann man ihn fragen: ›Wer spricht hier mit diesem Munde?‹« (Wittgenstein 1984, Bd. 8, 168). Wo erweist sich in einschlägigen Fragen die »erbarmungslose Nützlichkeit« als der in der Evolution vorherrschende »Trumpf« (von der Antwort noch einmal ganz abgesehen)?
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nicht bloß die Versetzung des organischen Lebens mit einer Spur von Qualia, sondern die Entstehung von subjektiv individuellen Standpunkten – ein Typ von Existenz, der sich logisch [!] von allem unterscheidet, das sich allein durch die physikalischen Wissenschaften beschreiben lässt« 285, und deshalb die von Nagel als unverzichtbar angesehene »teleologische Perspektive« begründet: »So wie sich das Bewusstsein nicht als eine bloße Erweiterung oder Komplikation der physikalischen Evolution erklären lässt, so lässt sich die Vernunft nicht als bloße Erweiterung oder Komplikation des Bewusstseins erklären. Um unsere Rationalität zu erklären, wird zusätzlich zu dem, was nötig ist, um unser Bewusstsein und dessen offenkundig anpassungsförderlichen Formen zu erklären, noch etwas erforderlich sein – etwas auf einer anderen Ebene [also nicht so wie der berühmte »Huf an die Steppe«]. Die Vernunft kann uns über die Erscheinungen hinausführen, weil sie ganz allgemeine Gültigkeit besitzt, statt nur lokal begrenzte Nützlichkeit. Wenn wir über sie verfügen, erkennen wir, dass sie von einer Theorie ihrer evolutionsbedingten Herkunft weder bestätigt noch untergraben werden kann und auch nicht durch irgendeine andere Außenansicht ihrer selbst. Wir können uns nicht von ihr distanzieren.« 286 Schon die Vermeidung von Widersprüchen geschieht im Namen der Wahrheit, nicht aus Gründen der Fitness 285 GuK 68. Dies scheint doch der eigentlich entscheidende Gesichtspunkt der Frage zu sein, »wie Wesen wie wir in die Welt passen« – und deshalb ist dies auch eine andere Ebene als die auf die »Wahrscheinlichkeit« des Auftretens von »Lebendigem« und »Geistigem« abzielende Argumentation. Gleichwohl sind eigentümliche Vagheiten in Nagels Argumentation nicht zu übersehen – so etwa wenn er erklärt, dass »das Geistige für sich genommen … nicht bloß physikalisch ist« und so »von der physikalischen Wissenschaft nicht vollständig erklärt werden« könne, obgleich der »Geist ein Produkt der biologischen Evolution ist« und »Organismen mit geistigem Leben keine wundersamen Anomalien, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Natur sind« (GuK 28), »der Geist nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur [!]« (GuK 30); gleichwohl, so Nagel andernorts, können Bewusstsein und Geist »unter dem Aspekt der rein physikalischen Eigenschaften des Organismus nicht analysiert werden«, auch wenn dessen »Entstehung im Rahmen des größeren Projekts, die Welt zu verstehen, dennoch erklärt werden« muss (GuK 68) und es dann sogar heißt, dass »der Geist aber gleichwohl ein biologisches Phänomen ist« (!) (ebd. 70) oder »der Geist das Erzeugnis eines teilweise [!] physikalischen Prozesses ist [!]« (GuK 19); diese unübersehbaren Unschärfen sind jedoch wohl nicht nur sprachlicher Natur, sondern indizieren vermutlich doch die von Nagel noch nicht zureichend geleistete Vermittlung verschiedener Begründungsebenen. S. dazu auch o. I., Anm. 197. 286 GuK 119 f.
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bzw. des Anpassungsvorteils, der keine normative Kraft hat: »Bei der Kritik und Korrektur des Vernunftgebrauchs ist die letzte Berufungsinstanz stets die Vernunft selbst.« 287 Demnach lässt sich, darauf scheint Nagel abzuzielen, »Wahrheit« nicht – im Sinne des »survival of the fittest« – auf bloße Angepasstheit und auf das bloße Faktum des »Sich-durchgesetzt-Habens« sowie auf daran geknüpfte Überlebensvorteile reduzieren, weil damit, wie Nagel einschärft, die Geltungsdimension selbst völlig eingeebnet, die Differenz von »Genesis und Geltung« nivelliert wäre. 288 Noch einmal sei der m. E. für Nagels Argumentation entscheidende Punkt benannt: Es ist die von Nagel in dem Rekurs auf »Subjektivität« 289 offenbar anvisierte unbedingte
287 Guk 123. Die »Gültigkeit« der logischen Prinzipien (»quid juris?«) ist nicht selbst aus den evolutionären Prozessen und den diese selbst wiederum ermöglichenden Bedingungen zu rechtfertigen; die Erklärung ihrer eigenen »evolutionären Genese« setzt diese Prinzipen selbst schon voraus. 288 J. Habermas hat die Konsequenzen eines unreflektierten reduktionistischen Naturalismus bzw. den dafür zu bezahlenden »hohen Preis« (vornehmlich mit Blick auf W. Singer) deutlich benannt: »Wenn Gründe und die logische Verarbeitung von Gründen aus neurobiologischer Sicht keine kausale Rolle spielen, bleibt aus evolutionstheoretischer Sicht rätselhaft, warum sich die Natur den Luxus eines ›Raums von Gründen‹ (Wilfrid Sellars) überhaupt leistet. Gründe schwimmen nicht wie Fettaugen auf der Suppe des bewussten Lebens. Vielmehr sind die Prozesse des Urteilens und Handelns für die beteiligten Subjekte selbst stets mit Gründen verknüpft. Wenn das ›Geben und Nehmen von Gründen‹ als Epiphänomen abgetan werden müsste, bliebe von den biologischen Funktionen des Selbstverständnisses sprach- und handlungsfähiger Subjekte nicht mehr viel übrig. Warum müssen wir uns gegenseitigen Legitimationsforderungen stellen? Welche Funktionen erfüllt der ganze Überbau von Sozialisationsagenturen, die Kindern eine kausal leerlaufende Nötigung dieser Art andressieren?« (Habermas 2007, 109). Diese Frage trifft indirekt natürlich auch Dawkins’ »Mem-Theorie«. 289 Allerdings hat es den Anschein, dass bei Nagel eine mehrdeutige Verwendung von »Subjektiv« zu beobachten ist: Einerseits ist mit dieser »Subjektivität« offenbar das Fundament der »Geltungsdimension« angezeigt, die jenen »logischen Unterschied« zu allem markiert, »das sich allein durch die physikalischen Wissenschaften beschreiben lässt« (GuK 68); andererseits ist es ihm zufolge »im Fall der Werte und der praktischen Vernunft … kohärent, subjektivistisch zu sein, das heißt, alle Eindrücke objektiver Werte oder Handlungsgründe als illusorisch zu betrachten« (GuK 179 f.); sodann wird der »Subjektivismus« als die Auffassung interpretiert, die »unsere Werturteile als einen Auswuchs und eine Weiterentwicklung unserer natürlichen motivationalen Veranlagungen« versteht, »die durch unsere linguistischen und rationalen Fähigkeiten ermöglicht wurden, und als sonst nichts« (GuK 166). Es spricht einiges dafür, dass mit diesem Schillern der Bestimmung des »Subjektiven« bzw. des »Subjektivistischen« auch die prinzipielle Unterscheidung von »quid facti?« und »quid juris?« (und somit »Genesis und Geltung«) mitunter wiederum ins Wanken gerät.
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(obgleich »Fallibilität« natürlich einschließende) Dimension der Geltung (in »theoretischer« und »normativer« Hinsicht), welche sich (dem oben angeführten Zitat zufolge) »logisch von allem unterscheidet, das sich allein durch die physikalischen Wissenschaften beschreiben lässt« – und für diese Geltungsdimension als solche sieht er, und zwar eben aus prinzipiellen Gründen, »eine Erklärung durch natürliche Auslese, die auf physischer Fitness zum Überleben beruht, [als] nicht ausreichend« an 290; diese von Nagel in dem Verweis auf den »logischen Unterschied« angezeigten »prinzipiellen Gründe« bleiben deshalb jedoch auch von allen noch so gravierenden »Wahrscheinlichkeits«-Erwägungen unterschieden – ein Sachverhalt, den Nagel (in seinen »Wahrscheinlichkeits-Bezügen«) vielleicht nicht immer mit der gebotenen Deutlichkeit erkennbar macht. Es ist demzufolge also nicht um die »Unwahrscheinlichkeit« bzw. »Zufälligkeit« des faktischen Auftretens des »Geistigen« zu tun, sondern um die prinzipielle »Unableitbarkeit« desselben – was, wohlgemerkt, natürlich nichts dagegen besagt, dass die empirischen Bedingungen für dieses Auftreten nicht möglichst exakt erforscht werden können (und auch sollen). Der bloße Hinweis darauf, dass die Existenz von »Geistigem« natürlich an diese Realität »bestimmter Materieeigenschaften« gebunden ist und diese deshalb »kein Zufall« sein könne, ist für sich genommen freilich nicht hinreichend. Nagel betont auch völlig zu Recht, dass der Psychologismus-nahe Rekurs auf das evolutionäre Geworden-Sein unserer kognitiven, logischen Fähigkeiten – ihre evolutionäre Funktionalität eingeschlossen – jedoch gerade keine Geltungsbegründung zu leisten vermag, weil die bloße Faktizität Geltung nicht begründen kann: Es würde erklären, dass wir de facto so denken, aber nicht, ob dieses unter Geltungsgesichtspunkten auch richtig ist, und gäbe keinen Grund, der 290 GuK 71. Und genau deshalb richtet sich Nagels Bedenken in der Sache auch gegen eine nichtssagende (»anthropomorphisierende«) Erklärung von der Art Dawkins’: »Sobald die Ursuppe die Voraussetzungen geschaffen [!] hatte, unter denen die Moleküle Kopien ihrer selbst anfertigen konnten, übernahmen die Replikatoren selbst die Regie. Mehr als drei Milliarden Jahre war die DNS der einzige erwähnenswerte Replikator auf der Welt. Aber es ist nicht zwangsläufig so, dass sie diese Monopolstellung für alle Zeiten innehat. Wann immer die Bedingungen dafür gegeben sein mögen, dass eine neue Art von Replikator Kopien von sich machen kann, werden die neuen Replikatoren dazu tendieren, die Initiative zu übernehmen und eine neue, eigene Art von Evolution in Gang zu setzen. […] Die alte genselektierte Evolution hat dadurch, dass sie das Gehirn erzeugte, die ›Ursuppe‹ geliefert, in der die ersten Meme entstanden« (Das egoistische Gen 228 f.).
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»Vernunft zu trauen«: »Es reicht nicht aus, denken zu können, dass mir die natürliche Auslese höchstwahrscheinlich die Fähigkeit gegeben hätte, logische Wahrheiten zu erkennen, falls es sie geben würde.« 291 Denn, so schon Kant, wir wollen nicht nur wissen, wie wir denken, sondern ob wir richtig denken – die Stützung auf bloße evolutionäre Herkunft hätte unvermeidlich die Skepsis zur Folge. Dies besagt näherhin auch – nicht zuletzt gegenüber allen Psychologismus-nahen Argumenten: »Die Mechanismen der Überzeugungsbildung, die im alltäglichen Existenzkampf einen Selektionsvorteil verschaffen, rechtfertigen jedenfalls nicht unser Vertrauen in die Konstruktion theoretischer Erklärungen für die Welt als Ganzes« 292 – auch nicht die Dawkins’sche Wahrheitssuche und die damit verbundene Zuversicht –, weil die »evolutionistische Erzählung … die Autorität der Vernunft in eine viel schwächere Position« bringe: »Der evolutionistische Naturalismus impliziert, dass wir keine unserer Überzeugungen ernst nehmen sollten, auch nicht das wissenschaftliche Weltbild, auf dem der evolutionisti-sche Naturalismus selbst beruht.« 293 Damit wird von Nagel erneut der bedeutsame Sachverhalt betont, dass »Vernunft« sich nicht darin erschöpft, ein selbst durch die evolutionären Mechanismen »Mutation« und »natürliche Selektion« hervorgebrachtes Instrument im Dienste des Überlebenskampfes zu sein. 294 Die über bloße Überlebensvorteile, d. h. Anpassungswerte, hinausweisenden »kognitiven Fähigkeiten« gehen über artspezifische Umwelten hinaus, sprengen also den Rahmen einer herkömmlichen, den Prinzipen der Darwin’schen Theorie folgenden Erklärung, die sich an der »Auslese nach dem Kriterium der Fitness« orientiert. DaGuK 119. GuK 46. 293 GuK 47. Nagel stützt diese Argumentation in seinem Verweis auf den amerikanischen Theologen Plantinga vermutlich auf dessen Argumentation: »Wenn Dawkins damit recht hat, dass wir das Produkt eines geistlosen, ungesteuerten natürlichen Prozesses sind, dann hat er uns einen starken Grund gegeben, an der Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu zweifeln und damit auch an der Gültigkeit jeglicher Überzeugung, die sie hervorbringt – einschließlich Dawkins’ eigener Wissenschaft und seines Atheismus. Seine Biologie und sein Glaube an den Naturalismus würden damit im Konflikt miteinander stehen – einem Konflikt, der nicht das Geringste mit Gott zu tun hat« (vgl. www.plato.stanford.edu/entries/religion-science). 294 Auch diesbezüglich warnt der kritische Paläobiologe: »Wenn Leute die Evolution benutzen, um Aussagen zu Problemen der menschlichen Gesellschaft zu machen, sollte man generell sehr vorsichtig sein« (Morris 2004, s. o. I., Anm. 213). 291 292
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rauf zielt auch seine Argumentation, dass die Entdeckung, Wahrheit selbst über die Welt zu entdecken, nicht zuletzt über die evolutionären Mechanismen derselben, »keinen Beitrag zur reproduktiven Fitness leisten« 295, insofern also gänzlich sinnlos und überflüssig wären. Dies gilt natürlich gleichermaßen für das nach Dawkins »den erhabensten Erlebnissen, deren die menschliche Seele fähig ist« (Regenbogen 10), 296 zugehörige »Gefühl des ehrfürchtigen Staunens« – was auch immer solches »ehrfürchtige Staunen« und die dessen fähige »Seele« nach den Prämissen Dawkins’ sein soll (bzw. sein darf) … Man fragt sich erneut: Wo – in und aus aller Welt – kommt denn jetzt diese evolutionär geheimnishafte »Seele« und ihre Ehrfürchtigkeit her? Man möchte doch solcher »Ehrfürchtigkeit« nichts mehr wünschen als dies, dass sie sich, genauer besehen, nicht selbst als ein – womöglich gar »religiösen Zuständen« ähnliches (s. o. 3.1.1) – Neuronen-Feuer und die dafür zuständige »Seele« sich nicht als nichtige Ausgeburt bloßer Phantasie (vgl. Gotteswahn 60) entpuppt. Und wenn Dawkins seinen Lesern doch zugleich zumutet, mit dem bedrängenden Bewusstsein nüchtern zu leben, dass die »Natur … sich leichtfertige Spielereien nicht leisten [kann]. Erbarmungslose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226), dann ist doch die Frage unausweichlich: Warum nur treibt solche das evolutionäre Geschehen durch herrschende »erbarmungslose Nützlichkeit« derartige »Ausdrucksformen der Materie« hervor, als welche wohl auch jene von Dawkins beanspruchten »erhabensten Erlebnisse« und »ehrfürchtiges Staunen« anzusehen sind – oder verdanken solche »Seelen-Erhebungen« dieser offenbar keineswegs stupiden »Überlebensmaschinen« sich etwa lediglich einem »Anschein« der besonderen Art, der leider als solcher auch durchschaubar ist? Sind es etwa solche »Erhebungen«, die jeder evolutionären »Funktionalität« derselben gewissermaßen »ein Schnipp295 GuK 154. Wohl in ähnlicher Absicht betont auch Strasser, dass wir die Bedeutung »geistiger Konzepte adäquat nur erfassen, wenn wir sie nicht ihrerseits wieder in Begriffen der evolutionären Nützlichkeit analysieren. Die Evolution des Geistes führt also zu Konsequenzen, deren Bedeutung … transevolutionär ist« (Strasser 2008, 89). 296 Dies erscheint beinahe so, als ob Dawkins in solchem Aufschwung zu diesen »erhabensten Erlebnissen, deren die Seele fähig ist«, den lediglich weltlich fixierten »Ausdrucksformen der Materie« entfliehen wollte und dabei unversehens selbst in die Nähe jener »Seelengröße« (»megalopsychia«) gelangt, die nach Aristoteles freilich nur besonderen Menschen vorbehalten ist. Doch der Schein täuscht erneut, wie sich sogleich erweist.
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chen schlagen«, sodass auf solche Weise diese besonderen »Ausdrucksformen der Materie« andere solche »Ausdrucksformen« also in ihrem »Schein«-Charakter durchschauen? Da schlägt jetzt wohl erneut die Stunde der stärkeren Meme: Ob jene edleren »Meme« gegenüber diesen letztangeführten ernüchterten »Memen« angesichts der »erbarmungslosen Nützlichkeit« auch dauerhaft Bestand haben werden – welche »minds« werden da wohl ihre »freundlichere« Umgebung finden? Voranstehend ist also ein erster Aspekt dieser erweiterten Teleologie-Konzeption zur Sprache gebracht, der auf die Beantwortung der Frage abzielt: »[W]ie müssen das Universum und der Evolutionsprozess beschaffen sein, um solche Wesen hervorzubringen?« 297 – nämlich »Wesen«, für die offenbar gerade nicht lediglich Anpassung und Fitness maßgebend sind, sondern jenseits davon, wie Nagel es formuliert, »objektive Wirklichkeit und objektive Werte erfassen« 298 können, ohne also daraus einen evolutionären Anpassungsvorteil zu gewinnen. 299 Unerklärt bleibt andernfalls Nagel zufolge auch dies, dass »der Prozess der natürlichen Auslese« selbst jene neuartigen Fähigkeiten in evolutionären Prozessen produziert, die just jene biologisch zweckmäßigen Anpassungsleistungen überschreiten, indem sie darüber reflektieren – auch ein entscheidendes Problem in dem Versuch, das Wesentliche dieser kognitiven Vollzüge und somit »das Vermögen der Vernunft« naturalistisch zu verstehen. 300 Es ist das erkenGuK 161. GuK 125. 299 Dies besagt deshalb auch noch mehr als die Frage nach dem Auftreten von Wesen, »die ein Wohl haben, Wesen für welche die Dinge gut oder schlecht sein können« (GuK 174) – eine Unterscheidung, die schon Aristoteles (Politik 1253 a) betont hat, weil sich die »Tendenz zum Guten« (ebd.) auf diese »wohligen« Aspekte nicht reduzieren lässt, zumal »gut oder schlecht« sich jedenfalls nicht im »Erhaltungsdienlichen« (des »Zuträglichen«, »Nützlichen«) erschöpft, sondern, kantisch gesprochen, auf eine »Selbsterhaltung ganz anderer Art« verweist. Ob das englische »to have a good« die unbedingte (moralische) Dimension klarer anzeigt, soll hier offen bleiben. 300 Es stellt sich die Frage, was es heißt, »Geist und Vernunft als grundlegende Aspekte einer nichtmaterialistischen Naturordnung« zu bestimmen; ungeklärt bleibt die Zielrichtung der Frage Nagels: »wie wir den Geist im vollen Sinne als ein Erzeugnis der Natur verstehen können – oder anders gesagt, wie wir die Natur als ein System verstehen können, das fähig ist, Geist zu erzeugen« (GuK 107) – ohne damit selbst einem »naturalistischen Kurzschluss« zu verfallen. – Ebenso bleibt bei ihm noch klärungsbedürftig, ob und wie der Geist als das »die Naturordnung« Erkennende denn seinerseits ein »Teil« dieser Naturordnung sein soll – und ob ebendiese Vorstellung nicht selbst eine Nivellierung der zu unterscheidenden Ebenen eher begünstigt. Die 297 298
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nende Subjekt selbst, das seine eigenen Erkenntnisleistungen selbst thematisiert bzw. rechtfertigt und diese aus dem Prozess der Evolution bzw. der hierfür bestimmenden Mechanismen abzuleiten bzw. in diese einzubinden versucht. Das Vermögen, die evolutionären Mechanismen selbst zu reflektieren und hinsichtlich ihrer kognitiven Plausibilität abzuwägen, ist selbst kein evolutionär nützlicher Aspekt, sondern, bemessen an diesen Maßstäben, ein funktionsloser Luxus. 301 Die kognitive Befähigung, die biologische Zweckmäßigkeit verschiedener evolutionär gewordener Phänomene bzw. Kompetenzen selbst zu erkennen, lässt sich deshalb nicht evolutionär hinreichend erklären, weil ebendiese Erkenntnis selbst keine evolutionär produktive Bedeutung hat, also in solcher Hinsicht selbst ein überflüssiges Phänomen darstellt und somit offensichtlich anderen Maßstäben bzw. Ansprüchen untersteht. Dies verweist nicht zuletzt auf das bedrängende Problem einer evolutionären Erklärung der wahrheitsorientierten »Art von Freiheit – die Freiheit, die uns das reflexive Bewusstsein gegenüber der Herrschaft angeborener perzeptorischer und motivationaler Veranlagungen zusammen mit der Konditionierung gibt. Rationale Lebewesen können von diesen Einflüssen Abstand nehmen und versuchen, sich selbst ein Urteil zu bilden.« 302 Es ist nicht zu übersehen, dass die dieser Stufe der Nagel’schen TeleologieKonzeption entsprechenden spezifisch humanen Vollzüge gleichermaßen eine Kritik an Dawkins’ Mem-Theorie implizieren. (ad b) Nagel problematisiert – ausgehend von jener Frage, »wie wir in die Welt passen« – zu Recht, dass das Auftreten eines »einheitlichen Subjekts« 303 und der hierfür konstitutiven Funktionen unter den für eigentümlichen diesbezüglichen Spannungen in Nagels Argumentation zeigen sich nicht zuletzt auch in seiner Suche nach einer Konzeption, »die den Geist und alles, was er impliziert, nicht als den Ausdruck göttlicher Intention, sondern zusammen mit der physikalischen Gesetzmäßigkeit als ein fundamentales Prinzip der Natur anerkennen würde« (GuK 39). 301 Ein Hinweis für die an Fragen der »philosophischen Anthropologie« interessierten Leser sei hier erlaubt: Immer noch höchst lehrreich ist auch in diesen evolutionsbiologischen Zusammenhängen die Kritik von Th. Litt an A. Gehlens naturalistischer Konzeption des Menschen als eines »homo compensator«. S. dazu näherhin seinen ausdrücklich auf eine Kritik an Gehlen abzielenden Anhang in seinem Buch »Mensch und Welt« (= Litt 1948b). 302 GuK 123. 303 Ganz in diesem Sinne betonen Heintel/Broer 2005, 351: Zwar mag es Reaktionsmuster »als ›Evolutionsreste‹ durchaus auch in uns geben, aber auch sie haben Zuord-
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die herkömmliche Evolutionstheorie bestimmenden Maßstäben nicht erklärbar ist, weil auch die darin sich manifestierende Zentrierung bloß naturalistische Perspektiven des Überlebens – der Selbsterhaltung und Selbststeigerung – sprengt, die deshalb nach Nagel »eine emergente Antwort« nahelegen 304 und insofern bestätigen, dass es »der materialistischen Form des Naturalismus nicht gelingt, eine vollständige Darstellung der Natur des Menschen zu geben« 305. Die unvermeidlich in den Vordergrund rückende Version jener »WarumFrage« ist demnach nunmehr: Warum soll es Wesen geben, d. h. das »Auftreten von Lebewesen wie uns, die ihr Handeln in Reaktion auf Gründe steuern können« 306, »selbstbewussten Wesen … die zu urteilssensitiven Handlungen fähig sind, auf diese Werte reagieren können und durch ihr Bewusstsein davon rational motiviert sein können«? 307 Nagel verlangt demnach von einer solchen nicht-reduktionistischen Evolutions-Perspektive gleichermaßen eine Erklärung für das »Auftreten der Fähigkeit, Handlungsgründe zu erkennen und auf sie zu reagieren, und nicht bloß eine allgemeine kognitive Fähigkeit. Die praktische Vernunft ist eine Entwicklung des motivationalen Systems und des Willens, nicht lediglich eine Entwicklung des Systems zur Ausbildung von Überzeugungen.« 308 Ist, mit Kant gesprochen, schon die Existenz eines vernünftigen Wesens, das als solches der Erkenntnis fähig ist und in Wahrheits-Geltungsansprüchen steht, eine unter evolutionsbiologischen Maßstäben nicht so ohne weiteres erklärbare Tatsache, so gilt dies erst recht im Blick auf »vernünftige Wesen«, die unter unbedingten moralischen Ansprüchen stehen – denn »in der Natur ist von keinem Soll die Rede« 309. Letztere unternung, Bezogenheit zu einem Selbst, das sich in all diesen Abläufen, Erfahrungen etc. erhält und weiß … Dieses Selbst ist einerseits seine Erfahrungen und sein Erleben und ist es andererseits auch gerade nicht.« 304 GuK 165. 305 GuK 166. 306 GuK 168. 307 GuK 168. 308 GuK 170. 309 Kant II 498. Interessant ist, dass diese Nagel’sche Unterscheidung zwischen kognitiv-wahrheitsorientierten Fähigkeiten und moralisch-normativen Ansprüchen der kantischen Kennzeichnung des Menschen als »vernünftiges Wesen« und als »Vernunftwesen« bemerkenswert nahekommt: »Der Mensch betrachtet sich, in dem Bewusstsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subjekt derselben, in zwiefacher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Tierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach
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stehen, als nicht zu leugnende Faktizität, dennoch nicht lediglich evolutionären Auslesekriterien: »Werturteile und moralisches Denken gehören zum menschlichen Leben und sind deshalb Teil der Tatsachenbelege für das, wozu Menschen fähig sind« 310; darin tritt die normative Tiefenstruktur der menschlichen Vernunft zutage, die freilich selbst eine geschichtliche Entwicklung durchläuft. Freilich: Die bloße Faktenaußenwelt ist normativ taub; dies impliziert auch – aber eben nicht nur – die These des amerikanischen Philosophen J. Searle: »Nur für ein bewusstes Wesen kann es so etwas wie Wichtigkeit geben.« 311 Schließlich darf auch daran erinnert werden: Es ist keinesfalls trivial, dass wir offenbar in der Welt »immer schon« existieren, bevor wir uns auf sie und unser Dasein in ihr denkend – »re-flektierend« – beziehen und darin stets auf unsere »Vernünftigkeit« vertrauen bzw. diese »voraussetzen«, d. h. ihr im Denkvollzug »zustimmen« – sei es auch im Grübeln oder »Urteilen«, sei es über die »beste« oder auch die »schlechteste aller Welten« und über die darin implizierten »normativen« Maßstäbe, die sich offenbar nicht in biologischer Zweckmäßigkeit schon erschöpfen. Dass ein solches seltsames Wesen existiert und sich darüber auch »intellektuelle Sorgen« macht, ist jedenfalls des Staunens wert, ja unter biologischen Gesichtspunkten höchst kurios; mit dem lapidaren Hinweis auf die Existenz und lückenlose Gültigkeit der »Naturgesetze« ist diesbezüglich freilich gar nichts erklärt. Offenbar widerspricht es weder den »Naturgesetzen«, solche Fragen aufzuwerfen, noch widerspricht es ihnen, sie als »sinnlos« oder »vergeblich« zu verwerfen … Es berührt offenbar eine kantische Sichtweise, wenn Nagel betont: »Wir leben in einer Welt der Werte und reagieren mit normativen Urteilen auf sie, die unsere Handlungen anleiten. Dies ist, genau wie unsere allgemeineren kognitiven Fähigkeiten, eine höhere Entwicklung unserer Natur als bewusste Lebewesen. Vielleicht ist darin auch die Fähigkeit eingeschlossen, auf ästhetische Werte zu reagieren.« – All dies sind Kriterien, von denen, nochmals in Anlehnung an Kant gesprochen, »in der Natur nicht die Rede« ist; sie verweisen ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluss der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen lässt« (IV 550); s. u. I., Anm. 319 u. Anm. 326. 310 GuK 153. 311 Searle 2004, 170.
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auf Fragen, die unser Selbstverständnis und unsere Lebensorientierung betreffen – ein Selbstverständnis freilich, das (wie schon erwähnt: s. o. I., 1.1) nicht folgenlos bleibt, zumal jene naturalistische Konzeption auch indirekte Konsequenzen für unser »Bild von uns selbst« und sodann auch für unsere »Lebensführung« hat, wie schon früher im Kontext von Dawkins’ früher Ernennung des Menschen zur »Überlebensmaschine« zu sehen war. Es ist nicht zuletzt Dawkins’ naturalistische Konzeption (und der darin geäußerte IllusionsVerdacht), die die Befürchtung Nagels überaus eindrucksvoll bestätigt: »Die Erklärungen, die sie [die materialistischen Theorien] vorbringen, sind jedoch nicht ausreichend vergewissernd. Der evolutionistische Naturalismus gibt eine Darstellung unserer Fähigkeiten, die deren Verlässlichkeit untergräbt und auf diesem Wege auch sich selbst unterminiert.« 312 Zu diesen kognitiven Leistungen gehört übrigens erstaunlicherweise ja auch das Durchschauen des illusionären Charakters der Moral, das damit doch – und zwar ausdrücklich im Namen der Wahrheit und Wahrhaftigkeit – der Moralität den Anschein ihrer objektiven Gültigkeit nimmt und demgegenüber eine »Naturalisierung der Moral« betreibt. Auch wenn die Orientierung an Wahrheit und normativen Ansprüchen ebenso irgendwie eine biologische Funktion erfüllen mag, so sind sie jedoch nicht in ihrem Eigensinn auf solche Perspektiven zu reduzieren. Es mag dies also durchaus in evolutionärer Hinsicht funktional zweckmäßig sein – ungeachtet dessen kann es auch begründungstheoretisch gültig sein, denn evolutionäre Funktionalität konkurriert nicht mit der Begründungebene, d. h. Letztere wird dadurch nicht evolutionsbiologisch außer Kraft gesetzt. Also auch dies, dass der Anschein moralischer Gültigkeit selbst evolutionär funktional sinnvoll ist, spricht nicht von vornherein gegen eine gleichermaßen unverzichtbare geltungstheoretische Fundierung. Die evolutionär begründete Funktionalität moralischer Normen widerspricht keineswegs a priori dem Geltungsaspekt, allerdings bleibt die erstgenannte in dieser Hinsicht gleichgültig – auch hinsichtlich der in diesem Fall eingeräumten »Konvergenz« von Natur und Moral; begründungstheoretisch bleibt der evolutionäre Funktionalitätsaspekt der biologischen Vorteilhaftigkeit bzw. »Fitness« demzufolge irrelevant. 313 312 313
GuK 45. In diesem Sinne, so Hahn/Wiker (und ganz im Sinne Nagels), »verlangt die
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Wenn Nagel zu Recht darauf insistiert, dass dem evolutionären Aspekt hinsichtlich der Wahrheitsfähigkeit, d. h. Begründbarkeit dieser praktischen Wahrheitsansprüche, 314 keine begründender Stellenwert zukommt, so äußert er damit – und zwar ungeachtet dessen, dass in seinem Buch nicht immer hinreichend zwischen dem Mentalen, Bewusstsein, Intelligenz und Geistigem unterschieden wird – indirekt auch eine Kritik an der (immer wieder in neuen Kleidern auftretendenen) Position des »Psychologismus«, der auch gegenwärtig in sehr vielen Spielarten, als eine Art »Common Sense«-Philosophie dominant ist und sich gerne »aufgeklärt« inszeniert. Dieser will bekanntlich in seiner Berufung auf die Psychologie als »Tatsachenwissenschaft« beispielsweise ebenso die Gesetze der Logik sowie auch normativ-moralische Ansprüche aus der psychischen Nötigung, eben so denken zu müssen, ableiten und versucht sodann, diese psychologischen Gesetze – die wiederum unseren kognitiven und moralischen Urteilen und deren Bedeutungs-Gehalte zugrunde liegen – letztendlich auf die evolutionär bedingte Struktur unseres Gehirns zurückzuführen (s. dazu auch u. I., 5.1). Die evolutionsbiologisch unternommenen Versuche einer »Naturalisierung« der Moral, die sich diesbezüglich auf die evolutionären Erklärungen für die Entwicklung moralischer Urteile bzw. Vorstellungen beruft, teilen mit solchem »Psychologismus« durchaus dieselben unkritischen Voraussetzungen, indem beide die Differenz der Fragen »quid juris?« und »quid facti?« vollends einebnen – in Dawkins’ Naturalismus (und nicht zuletzt auch in seiner »Mem-Theorie«) treten diese Defizite besonders deutlich zutage. Dagegen ist erneut daran zu erinnern: Unbedingter Geltungssinn lässt sich nicht durch Anpassungsvorteil erklären, die Geltung moralischer Urteile ist nicht rückführbar auf psychologische Fakten; deshalb kann Nagel auch betonen, dass das »Urteil …, dass unsere Vernunft verlässlich
menschliche Existenz nach ganz bestimmten und ziemlich eindeutigen Bedingungen, die sich bis zurück auf den ersten Anfang des Universums erstrecken. Es ist unmöglich, dass komplexe biologische Wesen Wissenschaft betreiben [d. h. als Beobachter des Universums], sofern diese Bedingungen nicht zusammenkommen. Da es aber Wissenschaftler gibt, die tatsächlich das Universum beobachten, so können wir erwarten, dass wir entdecken werden, in einem Universum zu leben, in dem diese fein aufeinander abgestimmten Bedingungen zusammengekommen sind; ansonsten … wären wir nicht hier« (Hahn/Wiker 2012, 50 f.). 314 GuK 155.
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ist, weil ihre Verlässlichkeit zu unserer Fitness beiträgt« 315, kein tragfähiges Fundament darstellt, weil darin ein Unbedingtes als Mittel zum Bedingten wird und dies die Frage erst recht nicht zu beantworten vermag, weshalb »vernünftige Wesen« in solchen unbedingten Geltungsansprüchen überhaupt existieren (Kant). Die beanspruchte Wahrheit, die wir in unseren kognitiven und normativen Überzeugungen zugrunde legen, hat eben keinen zureichenden – d. h. über die bloße »Faktizität« hinausreichenden – Geltungs-Grund in dem Rekurs auf ihre »biologischen Ursprünge« bzw. auf den evolutionär bedingten Anpassungsvorteil, der als Rechtfertigung eben gerade nicht ausreicht. Genauer besehen relativiert auch eine einzuräumende evolutionäre Funktionalität keineswegs eo ipso die damit verbundenen Geltungsansprüche – ebenso wenig werden Letztere damit freilich begründet bzw. erschöpfen sie sich darin. Dies gilt offenbar nicht zuletzt für die evolutionsbiologische Erklärung dieser evolutionären Zweckmäßigkeit selbst, die ja auch den Anschein der vermeintlichen objektiven Gültigkeit dieser Leitbilder »evolutionär-funktional« erklären will – dadurch jedoch an ihrer Gültigkeit »kratzt« und somit eine evolutionsbiologisch eher destabilisierende Rolle einnimmt. Ähnliches muss dann wohl auch für »Freiheit und Selbstbewusstsein« gelten: Dass auch das Bewusstsein der freien »Entscheidung« (und somit eines »Ich«) evolutionär funktional sein mag, dies ändert, wie erwähnt, nichts daran, dass ich ein »Selbst« bin und als solches (und nicht das Gehirn) Entscheidungen treffe – was übrigens ja auch diejenigen voraussetzen müssen, die ebendies als Illusion/Fiktion behaupten, d. h. dafür Geltung beanspruchen und hierfür nicht neuronale Gehirnprozesse »verantwortlich« machen. Die derart nach Geltungsmaßstäben urteilende »Instanz« ist weder ein »homunculus« noch selbst wiederum ein neuronaler Prozess, 316 setzt doch ein solcher GuK 179. »Dazu nun gehört doch ein Beweis auch dafür, dass Atome, Moleküle, Zellen Neuronen usw. nicht bloß solche materielle Gebilde sind, sondern eben auch die Theorien über sich (die Atomtheorien usw.) zuwege bringen … Theorien, die nun aber keineswegs bloß dieses eine (gar nicht so Spezifische) an sich haben, dass es sie gewiss nur gibt, sofern sie – und zwar von Exemplaren der Spezies homo sapiens L. – hervorgebracht werden, die vielmehr vor allem dieses andere (nun wirklich für sie eben als Theorien Spezifische) an sich haben, unter die Geltungsdifferenz von Wahr und Falsch zu fallen. Es genügt darum eben nicht, so wie das Gehirn jenes Körpers nur darauf sich zu beschränken, dass Gehirnprozesse die ›Ursache für die Emission von Sätzen‹ sind, wenn diese ›Sätze‹ …, in denen Theorien ihre sprachlichen Formulie315 316
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erhobener Geltungsanspruch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit vielmehr voraus. In Anknüpfung an die oben genannte Leitfrage wären die voranstehend entfalteten Aspekte von Nagels Teleologie-Konzeption im Blick auf thematisch einschlägige traditionelle Motive vielleicht folgendermaßen zu resümieren: Sind für höher entwickelte (tierische) Organismen (als Individuen und Gattungswesen) in zunehmender Komplexität und Differenziertheit Selbsterhaltungs-dienliche Anpassungsleistungen maßgebend, so weiß sich der Mensch in Ansprüche des »guten Lebens« gemäß den Leitideen der Wahrheit und des »Guten« gestellt, an denen er sich als »animal rationale« aus »guten Gründen« orientiert, die sich nicht auf Kriterien des »Nützlichen und Zuträglichen« reduzieren lassen. Nagels diesbezügliche Leitfrage wäre in diesem Kontext dahingehend zuzuspitzen: Warum existiert ein solches Wesen – und »wie passt es in diese Welt«, wenn es doch alle bloßen »Anpassungsleistungen« und demgemäße Lernprozesse transzendiert und wissen will, was »wirklich« (und nicht nur so »scheint«) und »gut« (und nicht nur »vorteilhaft«) ist? Denn jene Aspekte von Selbsterhaltungs-transzendierenden Ansprüchen und Normen lassen sich im Rahmen einer darwinistischen Evolutionskonzeption nicht mehr so ohne weiteres »verorten«, d. h. »unterbringen«: deshalb »müssen wir das Auftreten und die Evolution von Leben als etwas betrachten, was, anders als in der darwinistischen Version, mehr ist als die Entwicklung von sich selbst reproduzierenden Organismen« 317. Es ist dies ebendie Frage nach dem zureichenden rungen finden, dieses merkwürdige Spezifikum an sich haben, entweder wahr oder falsch zu sein, wenn in der Folge also jene materiellen Gehirnprozesse, die einerseits ebenso falsche wie wahre ›Sätze‹ zu emittieren pflegen, andererseits doch gerade auch jene Kriterien zur Verfügung haben sollen, mittels derer diese materiellen Gehirnprozesse ihre eigenen Produkte hinwiederum auch auf etwas so wenig Materielles hin sollen prüfen und sondern können, wie es die Geltungsalternative von Wahr und Falsch ist« (Wagner 1992, 56 f.). Diese in den Differenzen von »wahr/falsch«, »sein/ sollen« ausgesprochene unbedingte – obgleich stets ihre Fehlbarkeit implizierende – Geltungsdimension ist vornehmlich in der Philosophie der Neuzeit mit der Kategorie der »Subjektivität« gemeint; dies ist demnach das gerade Gegenteil von »Relativismus« bzw. der Etikettierung »bloß subjektiv«. 317 GuK 175. – Auch deshalb legen es die in Nagels Teleologie-Konzeption geltend gemachten Differenzierungen nahe, den Vorschlag von H.-D. Klein aufzugreifen, »terminologisch zwischen Evolution und Deszendenz zu unterscheiden. Man könnte den Terminus Evolution vorwiegend gebrauchen, um die kosmische und biologische Entwicklung auf den definierten Endzweck, die Existenz von Ichen, zu beziehen. Zu Recht hat Darwin darauf bestanden, dass sich die biologische Forschung von Wertun-
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Grund dafür, dass etwas über Selbsterhaltungswerte Hinausgehendes (d. h. Angenehmes, Nützliches und Zuträgliches, Transzendierendes) entsteht – nämlich Wesen, die »geltungsorientiert« auch in der Lage sind, »Imperative der Biologie zu überwinden« 318 und so ihr spezifisches »Wohl« bewusst anstreben, welches an sich – unbedingt – »gut« und nicht nur gut (heißt: förderlich, nützlich) »für anderes« ist. Damit ist aber auch gesagt, dass der Mensch allein dadurch »in die Welt passt«, dass er sich nicht der Dynamik eines anonymen, ungesteuerten Evolutionsprozess ausliefern bzw. überlassen kann – dies wäre eine »faule Vernunft« besonderer Art – und deshalb dieses normativ orientierte Ziel-orientierte Handeln nicht aus den Mechanismen der Evolution abzuleiten bzw. darauf zurückzuführen ist. »In die Welt passt« der Mensch allein als Sinn-orientiertes Wesen, d. h. als ein solches, das sich erkennend und handelnd als Sinn-orientiert erweist und das sich in solchem (nicht lediglich an artspezifische Umwelt angepassten) »In-die-Welt-Passen« sich gerade nicht auf die deskriptiv zu beschreibende Natur verlassen kann. 319 Die von Nagel gen freihält, und daher auch Begriffe wie ›höher‹ und ›niedriger‹ strikt vermeidet. Als Terminus für diesen, auf die causa efficiens methodisch beschränkten Begriff der kosmischen und biologischen Entwicklung bietet sich eher das Wort Deszendenz an« (Klein 2013, 58 f.). 318 GuK 179. Interessant ist die diesbezügliche Stellungnahme des Biologen Huxley, der einem Anliegen Nagels offenbar nahesteht: »Dem klaren Licht der Wissenschaft, so sagt man uns oft, hat das Mysterium nicht standgehalten, und nur Logik und Vernunft sind übrig geblieben. Das ist völlig falsch. Die Wissenschaft hat den verhüllenden Schleier des Geheimnisses … von vielen Phänomenen gelüftet; aber sie konfrontiert uns mit einem grundlegenden und universalen Geheimnis – dem Mysterium der Existenz überhaupt, und der Existenz des Geistes im besonderen. Warum existiert die Welt? Warum ist die Welt so und nicht anders beschaffen? Warum weist sie geistige oder subjektive Aspekte ebenso auf wie materielle und objektive? Wir wissen es nicht. Wir können diese Tatsache nicht deuten, wir können sie nur feststellen. Das heißt, dass wir das Universum als gegeben hinnehmen« (Huxley 1964 f., 59 f.). 319 Einer solchen kritisch differenzierten Hinsicht zufolge sieht H.-D. Klein – grundsätzlich durchaus mit Nagels Teleologie-Konzeption übereinstimmend – die Möglichkeit, »die Existenz von Naturwesen mit logisch-mathematischer Kompetenz, das heißt also von Ichen, als Endzweck der kosmischen Evolution in Erwägung zu ziehen. Nun müssen wir bei der Prüfung dieses Gedankens ein Argument heranziehen, welches der Analyse unserer Handlungszwecke entstammt und insbesondere von Kant in der Ethik vorgebracht wurde: wir müssen unterscheiden zwischen Handlungszwecken, welche als Mittel für andere Zwecke gewählt werden (hypothetische Zwecke) und solchen Handlungszwecken, welche wir um ihrer selbst willen und nicht bloß als Mittel zu anderen Zwecken anstreben (kategorische Zwecke). Nun zeigt die philosophische Ethik, dass wir unsere logisch-mathematische Kompetenz nicht nur zur Er-
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angezeigte aristotelische Perspektive wäre demgemäß noch zu erweitern: »Eine naturalistische Teleologie würde bedeuten, dass Organisations- und Entwicklungsprinzipien dieser Art einen irreduziblen Teil der Naturordnung bilden und nicht das Resultat des beabsichtigten oder bezweckten Einflusses von irgendjemand sind. Ich bin mir nicht sicher, ob diese aristotelische Idee einer Teleologie ohne Intention sinnvoll ist, aber augenblicklich sehe ich nicht, warum sie es nicht sein sollte.« 320 Nagels leitende Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, erlaubt – und verlangt sogar – noch eine weitere besondere Akzentuierung. Sie legt es nahe, an seine Bezugnahme, auf »uns selbst und andere bewusste Organismen als spezifische Ausdrucksformen der zugleich physikalischen und mentalen Beschaffenheit des Universums zu sehen«, 321 in weiterführender Weise anzuknüpfen, und vermag dabei noch einen besonderen teleologischen Aspekt zu berücksichtigen. Zuvor sei jedoch noch dies kritisch gegen den soeben zitierten Vorschlag Nagels angemerkt: Würden wir tatsächlich »uns selbst … als spezifische Ausdrucksformen der zugleich physikalischen und mentalen Beschaffenheit des Universums« ansehen, so würden wir freilich gerade nicht »in die Welt passen«, weil sich so auch unsere Autonomie-orientierten normativen Leitbilder allesamt als illusorisch erweisen müssten und auch das in solchen »Ausdrucksformen« begründete Wertbewusstsein in Wahrheit Freiheit negieren bzw. stillschweigend unterlaufen würde. Dies gilt dann aber auch angesichts der von Nagel vertretenen Auffassung, »es sei schwer, die Annahme aufzugeben, dass all das, was für den Komplex gilt, durch das erklärt werden muss, was für dessen Elemente gilt«. 322 Hinzuweisen ist nicht zuletzt auch auf einen ganz grundlegenden Aspekt: »In die Welt passt« der Mensch allein dadurch, dass seinen »geistigen Vollzügen« und auch den damit verbundenen Lernprozessen (sowie dem hierfür vorauszusetzenden Bewusstsein der mittlung hypothetischer, sondern vor allem zum Erkennen kategorischer Zwecke einsetzen. Vernünftigkeit, logisch-mathematische Kompetenz, erweist sich so als Endzweck. Daraus folgt, dass es moralisch geboten ist, Wesen mit logisch-mathematischer Kompetenz, Iche, Vernunftwesen stets als Endzwecke zu behandeln« (Klein 2013, 58). 320 GuK 136. Dies besagt freilich mehr als die zuletzt wieder sehr zurückhaltende Versicherung: »Diese teleologischen Spekulationen werden lediglich als Möglichkeiten dargeboten, ohne feste Überzeugung« (GuK 178). 321 GuK 103. 322 GuK 85.
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»Identität«) im Gehirn neuronale Prozesse korrespondieren, welche wiederum auf elementaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten basieren – d. h. beispielsweise, dass mit den vollzogenen logischen Operationen unseres Denkens auch eine sie ermöglichende Verknüpfung biochemischer Abläufe in unseren Gehirnen genau »korreliert«, zumal schon bei der geringsten Beeinträchtigung dieser ungeheuer komplexen Prozesse diese kognitiven Vollzüge unmöglich wären und jene empirischen Prozesse sich, einer solchen Hinsicht gemäß, durchaus als »zweckmäßig« erwiesen. Dies ist allerdings keinesfalls im Sinne des Reduktionismus eines sogenannten »eliminativen Materialismus« misszuverstehen, sondern verweist vielmehr auf eine eigentümliche »Konvergenz« des »Reichs der Ursachen« und des »Reich der Gründe« bzw. der in beiden maßgebenden Gesetzmäßigkeiten; demzufolge sind diese beiden Aspekte vielmehr lediglich als nicht isolierbare Momente eines »konkreten Ganzen« zu verstehen und machen so eine »Zusammenstimmung« besonderer Art sichtbar. Wären andere biochemische Gesetzmäßigkeiten und ihr »Zusammenstimmen« bestimmend, so wären indes auch jene von Nagel geltend gemachten besonderen teleologischen Aspekte im Sinne von Kognition und Normativität gar nicht möglich. Die Analogie liegt auf der Hand: Waren es die besonderen physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten, die Lebendiges und dessen Entwicklung gemäß den für die natürliche Auslese bestimmenden Faktoren erst ermöglicht haben, so ist es gleichermaßen jene Verträglichkeit bzw. »Kompossibilität« neuronaler Abläufe, ohne die jene kognitiven Fähigkeiten und die hierfür maßgebenden Gesetze (die jedoch nicht auf physikalisch-chemische Prozesse reduziert werden können) nicht »realisiert« werden können. Solche Argumentation lässt im Blick auf jene Frage, wie »der Mensch in die Welt passt«, gleichermaßen einen reduktionistischen »Naturalismus« und eine »psychologistische« Kurzschließung der kognitiven Kompetenz bzw. Ansprüche vermeiden. Wiederum bleibt zu betonen: Dass ohne diese – selbst durch physikalische Gesetzmäßigkeiten bedingten – neuronalen Prozesse im Gehirn jene logischen Operationen nicht möglich wären (und sich insofern als zweckmäßig erweisen), bedeutet indes, ganz im Sinne der von Dawkins’ Erzfeind Platon nahegelegten Argumentation zum »sitzenden Sokrates« (s. o. I., Anm. 204), gerade nicht, dass logische Denkvollzüge einfachhin Hirnprozesse sind. So zeigt sich: Die Frage, wie der Mensch als spätes Produkt der Evolution als ein in theoretischen und praktischen Geltungsansprü234 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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chen stehendes Lebewesen (animal rationale) »in die Welt passe« und in ihm die Natur nicht nur, wie Nagel wiederholt betont, gewissermaßen »die Augen aufschlägt«, sondern auch normative Ansprüchen in die Welt treten, 323 dies ist nicht nur der Fluchtpunkt seiner »Teleologie«-Konzeption, sondern auch die Leitperspektive des darin verorteten »anthropischen Prnzips«, die sich jedoch unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten bzw. Maßstäben als völlig sinnlos erweist. Dies berührt beiläufig freilich auch Dawkins’ Auskunft: »So gern wir auch etwas anderes glauben wollen, universelle Liebe und das Wohlergehen der Arten insgesamt sind Begriffe, die evolutionstheoretisch gesehen einfach keinen Sinn ergeben« (Das egoistische Gen 3); indes, es geht dabei weder um »universelle Liebe« (was auch immer dies sein mag) und erst recht nicht um das »Wohlergehen der Arten«, sondern überhaupt um maßgebende normative Aspekte, die »evolutionsbiologische« Maßstäbe überschreiten, besser: diese – buchstäblich prinzipiell – »sprengen« müssen und in biologi(sti)scher Hinsicht tatsächlich schlechthin »Sinn-los« sind. Jedoch erst vor diesem Hintergrund gewinnt Nagels Frage gleichermaßen ihren besonderen Stellenwert und ihre Dringlichkeit, wie wir als solche in unabweislichen »theoretischen« und »praktischen Vernunftansprüchen« stehende »Wesen in die Welt passen« … Vor dem Hintergrund des Dawkins’schen reduktionistischen Naturalismus lässt sich im Kontext von Nagels Teleologie-Konzeption und seiner Kritik an der »materialistischen neodarwinistischen Konzeption der Natur« und mit Blick auf jene von ihm wiederholt erwähnte Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, resümierend sagen: Außer Streit steht für ihn natürlich der Sachverhalt, dass der Mensch eingebunden ist in die unendlich lange Geschichte der Evolution des Lebendigen und ihr somit natürlich auch die Entwicklung des menschlichen Gehirns und seiner Abläufe bzw. spezifischen Leistungen zugehörig ist. So unstrittig diese evolutionäre Einbindung des Gehirns und seiner Strukturen zweifellos auch ist (zumal auch der »Geist« gewiss nicht »vom Himmel fiel«, um es mit einer bekannt gewordenen Wendung Hoimar v. Ditfurths zu sagen), so
323 Hier wäre an eine Bemerkung Wittgensteins anzuknüpfen: »Gut und Böse tritt erst durch das Subjekt ein. Und das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt … Wie das Subjekt kein Teil der Welt ist, sondern eine Voraussetzung ihrer Existenz, so sind gut und böse Prädikate des Subjekts, nicht Eigenschaften in der Welt« (Tagebuch v. 2. 8. 1916, in: Wittgenstein 1984, Bd. 1, 174).
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bleibt nach Nagel indes klärungsbedürftig (wozu ihm zufolge jedoch der Rekurs auf die »natürliche Auslese« als »zureichender Grund« nicht ausreicht), warum dieses seltsamerweise (als »animal rationale«) »in die Welt passende« Wesen »Mensch« indes Gedanken logischer und mathematischer Natur hervorbringt, die ohne jene »Strukturen des Gehirns« (und die zugrunde liegenden empirischen Prozesse) gewiss nicht möglich wären, jedoch selbst gerade allgemeingültig, erfahrungsunabhängig und notwendig sind und dem »zeitlosen Gebiete der Logik und Mathematik …« angehören: »Es ist schwierig, all dies mit traditionellen naturalistischen Begriffen verständlich zu finden.« 324 Eine nicht-reduktionistische Theorie müsste demzufolge die empirische Genese mit der Allgemeingültigkeit jener Prinzipien bzw. Regeln so vereinbaren können, dass die die Prozesse der natürlichen Evolution (inklusive der Strukturen des Gehirns) bedingenden empirischen Gesetzmäßigkeiten in unauflöslicher Korrelation mit jenen nicht empirischen Gesetzen der Logik und Mathematik stehen; gleichwohl werden aber Letztere nicht erst durch die Evolution des Gehirns produziert, d. h. »empirisch hervorgebracht«. Sie sind deshalb in ihrer Gültigkeit auch durch jene evolutionäre Gehirnentwicklung weder zu relativeren noch zu »legitimieren«, weil dies zuletzt auf eine Verwechslung bzw. Einebnung der Unterscheidung von »empirischer Faktizität« und »Geltung« hinausliefe. Nagel selbst hat die Unterscheidung und notwendige Vermittlung dieser Ebenen vielleicht nicht immer hinreichend verdeutlicht. 325 Wie »passen also Wesen wie wir in die Welt«, die einerseits selbst spätes Produkt der Evolution des Lebendigen sind und als solche doch zu Gedanken, Prinzipen und Regeln befähigt sind, die unbedingte Gültigkeit haben, die nicht aus jener evolutionären Genese »erklärt«, d. h. daraus nicht abgeleitet – aber auch nicht dadurch in ihrer Geltung »relativiert« – werden können, weil sie für eine solche Relativierung ihrer selbst vorausgesetzt werden müssen? 326 324 GuK 106. »Die Frage lautet nun, ob sich unsere kognitiven Fähigkeiten in den Rahmen einer Evolutionstheorie einfügen lassen, der in dieser Form nicht mehr ausschließlich materialistisch ist, die darwinistische Struktur aber beibehält« (GuK 109). 325 Für philosophisch interessierte Leser sei hier darauf hingewiesen, dass diese Fragestellung auch die traditionelle Thematik der Vermittlung von »empirischem Realismus« und »transzendentalem Idealismus« (die Vermittlung der Fragen nach dem empirischen »quid facti?« und dem apriorischen »quid juris?«) betrifft. 326 Wiederum mit Blick auf Kant ist ja nicht nur dies interessant, dass auch er diese Frage aufwirft, »wie der Mensch [als »vernünftiges Weltwesen«] in der Welt« bzw.
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4.2.1 Eine Anmerkung: Nagels Naturalismus-Kritik im Spiegel der philosophischen Anthropologie – einige Beispiele aus der Antike und Gegenwart Nagels nunmehrige Fragestellung knüpft in der Sache an jene traditionellen Differenzierungen der philosophischen Anthropologie an, die offenbar in seiner Naturalismus-Kritik lediglich bestätigt und aktualisiert werden: Zur Vermeidung einer »mentalistisch« eingeengten Naturalismus-Kritik bleibt mit Rücksicht auf notwendige Differenzierungen der schon berührte Sachverhalt zu beachten, dass es ja nicht nur, wie bei anderen höher entwickelten Tieren auch, psychische Ereignisse (»Qualia«), Vorstellungen u. ä. sind, die der Mensch produziert, sondern dass mit seinen (eben nicht auf »mentale Zustände« bzw. Erlebnisse zu reduzierenden) Wahrheits-orientierten Aussagen ein Anspruch auf Gültigkeit verbunden ist: Als »animal rationale« hat er eben nicht nur Bewusstseins- und Gemütszustände mannigfaltiger Art, 327 sondern ist als solches »Wesen, das Gründe »in ein System der Zwecke passe« (II 687) und d. h. innerhalb der unzähligen empirischen Bedingtheiten und Formen der Kontingenz ein Lebewesen mit theoretischen und normativen Unbedingtheitsansprüchen auftritt; aufschlussreich und denkwürdig ist im Blick auf jene Frage insbesondere der schon erwähnte Sachverhalt, dass es Kant zufolge nicht die theoretischen Vernunftansprüche (d. i. der »Erkenntnis«) sind, die ihn als »Endzweck der Schöpfung« bzw. in seiner »Würde« auszeichnen, sondern die Befähigung zu einer unbedingten moralischen Forderung bzw. Verpflichtung (s. o. I., Anm. 309) – die übrigens auch Dawkins für sich mit seiner Berufung auf unbedingte Wahrhaftigkeit und Redlichkeit in Anspruch nimmt, die sich als solche jedoch auf keine »evolutionäre Nützlichkeits-Perspektive« reduzieren lässt. 327 »Inmitten der weiten Welt des Lebendigen taucht erst und allein mit dem Menschen das Prinzip der Geltungsdifferenz auf, ein Prinzip, das maßgebend ist für etwas, was tatsächlich von uns erzeugt wird (für unsere Gedanken, Meinungen, Handlungen usw.), das selber aber mit Realität, Existenz, ›Sein‹ nichts zu tun hat, auch auf derartiges keineswegs rückführbar ist … sie ist ihm (und nur ihm) wichtig: und dies, weil eben all jene spezifisch menschlichen Leistungen unverbrüchlich unter diese Differenz fallen und jede von ihnen je nachdem Wert hat oder nicht … Mit alldem weiß sich der Mensch von prinzipiell anderer ›Natur‹ als alles sonstige Lebendige. Von zusätzlicher Wichtigkeit ist in diesem Punkt noch dies: die Geltungskriterien (ob theoretisch oder praktisch) nehmen in ihrer bewertenden Kraft – Gültigkeit oder aber Ungültigkeit bescheinigend – auf irgendwelche Belange des Naturwesens Mensch keinerlei Rücksicht: sie gelten gerade auch jenseits aller seiner Lebensbelange, ja auch seinen Lebensbelangen entgegen nicht weniger als innerhalb dieser Lebensbelange« (Wagner 2011, 134). »Nun ist diese Vernunftnatur es eben, die allen Naturalismus im Begriff des Menschen unzulänglich und unhaltbar macht. Weil aber jener Empirismus alles aus der
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hat«, überdies dazu befähigt, seine Aussagen gemäß der Geltungsdifferenz wahr-falsch, gültig-ungültig zu überprüfen, sofern sie als solche auch argumentativ einlösbar sind (dies gilt von »mentalen Phänomenen« als solchen, wie z. B. »Erlebnissen«, freilich gerade nicht, weshalb man über diese bekanntlich ja auch nicht streiten kann). Als das »Wesen, das Gründe hat«, produziert der Mensch eben nicht nur mentale Phänomene, Vorstellungen, Gemütszustände, sondern Geltungs-orientierte Gedanken, die sich auf Sachverhalte beziehen, 328 d. h. nach gültig/ungültig, wahr/falsch beurteilt werden sollen; deshalb bleiben solche »Gedanken von allem Psychischen, von allen Vorstellungen zu unterscheiden«, weil der »Gedanke« eben »auf etwas verweist«, was gewiss nicht in den »Realbereich psychischen Geschehens und psychischer Gegebenheiten fällt«. 329 Gegenüber einer »mentalistischen« Engführung bzw. Abstraktion, welche die spezi›Natur‹ des Menschen ausschließt, was nicht an dem empirisch beobachtbaren Lebewesen Mensch gegeben ist, impliziert er in aller Form den anthropologischen Naturalismus. Die Vernunft-›Natur‹ des Menschen ist in ihm nicht unterzubringen; für eine ›Metaphysik vom Menschen‹ hat er schlechterdings keinen Platz« (Wagner 2011, 135). »Der Empirismus leugnet, was die Empirie nicht entdecken kann … Es liegt an der in ihr planmäßig eingeschränkten Methodik des Denkens, dass die Empirie Nichtempirisches tatsächlich nicht entdecken kann« (ebd.). 328 »Was ist eine Tatsache? Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist« (Frege 1976, 50) – eine These, die natürlich auch im Kontext von Freges berühmter Psychologismus-Kritik zu verstehen ist: Zwar könne man »der Meinung sein, es handle sich in der Logik um den seelischen Vorgang des Denkens und um die psychologischen Gesetze, nach denen es geschieht. Aber damit wäre die Aufgabe der Logik verkannt; denn hierbei erhält die Wahrheit nicht die gebührende Stellung. Der Irrtum, der Aberglaube hat ebenso seine psychologischen Ursachen wie die richtige Erkenntnis« (Frege 1993, 30). – Zu den unkritischen Ansprüchen eines »evolutionstheoretischen Naturalismus« hinsichtlich der Erklärung von »Rationalität« durch »natürliche Auslese« vgl. auch Nagel 1999, 186–210. 329 Wagner 1992, 140. Weil eben »Gedanken keineswegs Psychisch-Reales, ja nicht einmal bloß Produkte psychischer (Denk)-Prozesse sind, sondern entscheidend durch ein Strukturmoment ausgezeichnet sind, das über alles Psychisch-Reale prinzipiell hinausweist: durch die jedem Gedanken notwendig zukommende Geltungs- (oder Wahrheits-)Differenz« (ebd.). (Wagner kritisiert damit auch den nach wie vor weit verbreiteten Reduktionismus eines »Psychologismus«, wovon noch die Rede sein soll, s. u. I., 5.1.) Deshalb kann der einen Erkenntnisanspruch erhebende und auf Wahrhaftigkeitsansprüche verpflichtete Gehirnforscher seinen eigenen Erkenntnisakt gerade nicht als bloß »naturales Phänomen« ansehen – d. h., er muss etwas voraussetzen (als Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen rationalen Tätigkeit), was es seiner reduktiven Erklärung zufolge gerade nicht gibt: Er setzt für seine eigene Tätigkeit eben jene »Autonomie« voraus, die Kant in deren »Doppelgestalt« ausweist: nämlich (a) die »Unabhängigkeit … von aller Materie des Gesetzes« (d. h. dem moralischen
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fisch-geistig-personale Dimension noch ausgeblendet lässt, ergibt sich eine notwendige weitere Differenzierung, die auch der aristotelischen Unterscheidung zwischen »psyche« und »nous«, vor allem aber der Sphäre von »Intersubjektivität, Sprache und Anerkennung« gerecht zu werden vermag. Diese von Aristoteles geltend gemachte Unterscheidung bzw. seine daran geknüpfte Betonung des »von außen« kommenden »nous« (der natürlich keine räumliche Abtrennung meint, aber auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen »Lebendigem, Mentalem und Geistigem« insistiert, impliziert aber gleichwohl einen kritischen Vorbehalt gegenüber der von Nagel in Aussicht gestellten »Möglichkeit einer alles durchdringenden Konzeption der Naturordnung, die sich vom Materialismus stark unterscheidet – eine, die den Geist zum zentralen Faktum macht, anstatt zu einer Nebenwirkung der physikalischen Gesetzmäßigkeit«. 330 Dieser Vorbehalt hängt engstens mit dem ebenfalls schon von Aristoteles angezeigten anthropologische Sachverhalt zusammen, wonach in der Wirklichkeit des Menschen als Subjekt betrachtet – den bekanntlich Aristoteles aus einschlägigen Gründen als »Sinn-fähiges«, weil vernunft- und sprachbegabtes Wesen auszeichnete – ein nicht eliminierbares Geltungsmoment, ein nicht reduzierbares »ideales Sinn-Moment« 331, zu berücksichtigen bleibt. Es ist dieses unbedingte Geltungsmoment, das sich nicht auf einen bloß naturhaften Geschehensablauf jener – sei es auch noch so komplexen – inneren »Faktenaußenwelt« neuronaler Abläufe reduzieren lässt und als solches jedem empirischen Zugriff in grundsätzlicher Hinsicht entzogen Gesetz als alleiniger »Triebfeder« folgend) sowie (b) das »Vermögen, … frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen, die Vernunft« (VI 290). 330 GuK 28 f. 331 Was Th. Litt gegenüber allen schlechten Abtrennungen des (nicht reduzierbaren) »idealen Moments« allgemein im Sinne der zu bewahrenden »Ideal-Realität« geltend macht, wäre bezüglich der neurobiologischen Thematik entsprechend zu konkretisieren: »So streng also auch der Sinn in seiner Idealität sich von jedem äußerlich-räumlichen Sachverhalt unterscheidet, so unlösbar ist doch das innere Tun, in dem der Sinn sich aufbaut, mit dem äußeren Vorgang verbunden, in dem das ausdrückende Gebilde sich gestaltet«; denn: »Was immer zur hörbaren oder sichtbaren Darstellung des Sinnes geschieht, das gehört zu den Gegenständen der Wissenschaft vom Räumlichen. Es kann kein Sprachlaut erzeugt, kein Schreibstrich gezogen, keine sinnanzeigende Gebärde ausgeführt werden, über deren Hervorbringung nicht auch diese Wissenschaft uns etwas mitzuteilen hätte« (Litt 1948a, 76 f.). Ungeachtet dieser methodisch unverzichtbaren Aspekte muss freilich »unweigerlich gerade das verborgen« bleiben, »worauf es hier ankommt: dass und wie in diesem Räumlichen ein Sinn sich ausprägt und zu verstehen gibt« (ebd.).
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bleibt. 332 Die für das »animal rationale« konstitutiven Geltungsdifferenzen wahr/falsch, gültig/ungültig, Sein/Schein (und nicht zuletzt: Sein/unbedingtes Sollen), die den elementaren Subjekt-Status 333 des 332 Genau deshalb hätte sich Leibniz – durchaus in der Spur des Aristoteles – aufgrund der notwendigen Besinnung auf die methodische Differenz auch nicht mit der Feststellung einer »Erklärungslücke« zwischen »neuronalen Zuständen« und »mentalen Phänomenen« begnügt; eher hätte er eine solche Erklärung als irreführend abgewiesen, weil dies doch die Vorstellung begünstigt, durch den Fortschritt der Wissenschaften sei diese Lücke zu schließen. In diesem Sinne betont Düsing: »In neuerer Zeit wird vorsichtiger eine ›Erklärungslücke‹ zwischen Geist- und Gehirntätigkeit zugegeben, was aber oft mit der Hoffnung verbunden wird, diese Lücke dereinst physikalistisch schließen zu können. Dabei macht gerade sie … auf die qualitative Verschiedenheit jener Tätigkeiten aufmerksam, so dass physikalisch erforschbare Gehirnprozesse zwar eine Basis für geistige Leistungen bilden, diese aber als qualitativ andersartige und weitaus komplexere subjektive Tätigkeiten nicht aus jenen einfacheren, generell physikalischen Vorgängen hinreichend kausal hergeleitet werden können« (Düsing 2008, 176). 333 Hans Wagner war in seiner (schon wiederholt zitierten) großen Studie über »Die Würde des Menschen« deshalb darum bemüht, eben den »Beweis für die Würde des Menschen mittels des Beweises seines Subjektcharakters zu führen« (Wagner 1992, 348). Menschen sind Subjekte, »die, wie schon in der Erkenntnistheorie unter dem Titel der Idee der Wahrheit bewiesen, prinzipiell die Grenzen aller puren Lebensbelange sprengen, sich unendliche Möglichkeiten eröffnen und unendliche (unabschließbare) Aufgaben stellen können«; als Subjekte stehen sie, dem zweiten Aspekt der Geltungsdifferenz folgend, freilich auch unter der »Idee der Sittlichkeit«, durch die wir mit jener »Idee der Wahrheit« »prinzipiell mehr als bloße Lebewesen und bloße Naturstücke« sind, und »besitzen ebendeswegen jene allein uns Menschen eigene unantastbare Würde« (Wagner 1992, 364). Ein wenig anders sieht dies offenbar J. Kagan (zit. n. Illies 2006, 173): »Ein moralisches Motiv und die damit verbundenen Motive sind ebensosehr ein Produkt der Evolution wie Verdauung und Atmung«; dies gilt dann wohl auch für die Produkte dieser Evolutionsprodukte selbst. Ganz im Sinne des Anliegens seines Lehrers H. Wagner betont Aschenberg: Es bleibt völlig außerhalb des Blickfelds der naturalistischen Entsorgung des Menschen, »dass wir Menschen, obgleich zweifellos in-der-Welt-seiend und als Natur- und Weltstücke vorhanden, kein Bestand nach der Art bloßer Natur- und Weltdinge sind, dass vielmehr die Existenzweise konkreter Subjekte stets prozessuale Performanz bewussten Lebens, permanent erneuerter, sich erneuernder Selbstentwurf ist. Die Subjektivität solchen Lebensvollzugs und Selbstentwurfs aber kann den empirischen Wissenschaften, die, was immer sie thematisieren und erforschen, eben damit zum Objekt der Erfahrungserkenntnis machen, nicht zugänglich werden (so sehr sie übrigens für die Möglichkeit auch dieser Wissenschaften selbst erforderlich und konstitutiv ist): Erkenntnis und Wissenschaft sind ja nie von allein auf der Welt, sondern einzig als Leistung und Produkt erkennender Subjekte. Allenfalls eine Weise des Denkens, welche in reflexiver Wendung die Bedingungen aufzuklären sucht, die in konkretes Wollen und Handeln, in faktisches Denken und Erkennen, in alltägliche Beziehung zu anderen immer schon so investiert sind, dass ohne sie weder die Verbindlichkeit mo-
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Menschen konstituieren und als solche keinesfalls auf bloße »Selbsterhaltungsfunktionen des Lebens« reduziert werden können, sind deshalb innerhalb der Neurowissenschaften (bzw. deren »Innerem«, das selbst nichts anderes als äußerst komplexe »Faktenaußenwelt« ist) auch gar nicht zu thematisieren; deshalb wäre es auch »völlig widersinnig …, wollte jemand etwas, was mit dem Anspruch auftritt, eine Erkenntnis (etwa ein korrektes Argument oder eine konsistente Theorie) zu sein, auf das Recht dieses Anspruchs hin dadurch prüfen, dass er die Prozesse rekonstruierte, die in Psyche und/oder Gehirn dessen, der jetzt jenes Argument oder jene Theorie vertritt, zu der prätendierten Erkenntnis geführt haben mögen.« 334 Andernfalls wäre doch jener elementare Sachverhalt ignoriert, dass wie auch immer komplexe »Funktionen des Gehirns« als empirische Geschehensabläufe eben nicht gelten, sondern lediglich »faktisch« sind; eine unvermeidliche Folge aus diesen Verwechslungen wäre dies, dass die von manchen naturalistischen Ansprüchen »vertretene« Auffassung (von welcher »vertretenden« Instanz eigentlich?), einer solchen monistischen Auffassung gemäß, selbst nichts anderes als geltungsindifferente »Funktionen des Gehirns« wäre, 335 auf die man allenfalls ralisch bestimmten Bewusstseins noch die intentionale Sachhaltigkeit und Gültigkeit der Erkenntnis oder die Authentizität der Anerkennung anderer und des zu anderen in Beziehung-seins verständlich zu machen wäre, darf hoffen, Subjektivität als Performanz des Entwurfs, statt bloß in objektivierender Verfehlung, sie als fungierendes Prinzip, statt bloß als Faktum, zur Sprache zu bringen. Diese Weise des Denkens aber ist Philosophie« (Aschenberg 2003, 26). 334 Wagner 1992, 149. Gemeint ist der schon erwähnte schlichte Sachverhalt, »dass Gedanken … das Charakteristikum an sich haben, wahr oder falsch zu sein, denn es kann sein, dass in einem Gedanken die gegenständlichen Sachverhalte so gedacht sind, wie sie wirklich sind, es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein; im einen Fall ist der Gedanke wahr und eine Erkenntnis, im andern Fall ist er irrig und falsch. Dieses Charakteristikum aller Gedanken, die Erkenntnis sein wollen/sollen, heißt Wahrheitsdifferenz« (Wagner 1992, 156); die »Geltungsdifferenz lässt … sich durch nichts auf eine Seins- oder Realitätsdifferenz zurückführen; sie ist allen Seins- oder Realitätsverhältnissen gegenüber, in denen die Gedanken … gewiss auch stehen, an den Gedanken ein absolutes kategoriales Novum« (ebd. 156 f.). »Was uns aus der Menge dieser Prozesse speziell interessiert, das sind die materiellen Prozesse, die in der Produktion (›Emission‹) eines Satzes ihren (relativen) Abschluss finden« (ebd. 157). 335 »Erkenntnisse sind ausschließlich Produkte von Menschen; Menschen sind der ausschließliche Grund dafür, dass es Erkenntnisse in der Welt gibt – neben den Dingen sozusagen, die den Gegenstand für diese Erkenntnisse bilden oder doch bilden können: Es ist eine kaum irgendeinem Zweifel unterwerfbare Unterscheidung, wenn man also die erkenntnisproduzierenden Menschen, die produzierten Erkenntnisse
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»reagieren« kann – und dies nennt man vermeintlich bzw. irreführenderweise ein »Gespräch«? Neuronale Prozesse »reagieren« aufeinander, lösen sich in dem Kausalgeflecht gegenseitig aus, Gehirne reden jedoch nicht miteinander und stimmen deshalb einander auch nicht zu. Neuronale Prozesse widersprechen sich auch nicht, sie schließen sich gegenseitig nicht aus, 336 wie jedes »bildgebende Verfahren« in den entsprechenden Kurven zeigt, die wunderbar nebeneinander Platz finden. Neuronale Prozesse haben bekanntlich jedoch auch keine »Würde« – und jene alt-ehrwürdige Instanz, der man traditionellerweise diese Auszeichnung zugestehen wollte, ist inzwischen ohnedies als illusionär bzw. als Homunkulus entlarvt 337 bzw. unter den scharfen Messern der Hirnforscher schon gestorben – oder doch wenigstens in Museen der Volkspsychologie als seltsames – und entsprechend bestauntes – Ausstellungsstück aufbewahrt.
und die Gegenstände dieser Erkenntnisse unterscheidet. Und es ist sicherlich auch eine völlig harmlose Einführung von Fachausdrücken, wenn man … für die menschliche Seite … den Titel ›Subjekt (der Erkenntnis)‹ und für die Gegenseite … den Titel ›Objekt‹ oder auch ›Gegenstand (der Erkenntnis)‹ einführt« (Wagner 1992, 138). 336 So plausibel deshalb Nagels Polemik gegen die »wissenschaftliche Gleichsetzung mentaler Zustände mit Gehirnzuständen« (GuK 27) auch ist, so fragwürdig ist seine – ungeachtet der behaupteten Falschheit des »Reduktionismus« geltend gemachte – Auffassung, dass »der Geist aber gleichwohl ein biologisches Phänomen ist« (GuK 70). Es ist deshalb zweideutig, wenn Nagel betont, dass »die biologische Evolution für die Existenz bewusster mentaler Phänomene verantwortlich ist, wobei die übliche Sicht auf die Evolution jedoch revidiert werden muss, da solche Phänomene physikalisch nicht erklärbar sind. Es ist nicht bloß ein physikalischer Prozess« (GuK 76). 337 Von »homunkulösen« Erblasten mehr geplagt als Transzendentalphilosophen sind ja bemerkenswerterweise manche Evolutionsbiologen, welche durch die Evolution merkwürdigerweise in ein seltsam zwiespältiges Selbstverhältnis – emergentes Nebenprodukt? – hineinmanövriert wurden, wie Dawkins bezeugt, der noch dazu »gleichzeitig als Mensch auch ein Tier« ist und sich diesen belastenden Umstand so erklärt: »Weil ich [!] mit meiner Vernunft gelernt habe, Monist zu sein, während ich gleichzeitig auch ein Tier bin, bei dem sich in der Evolution dualistische Instinkte entwickelt haben. Der Gedanke, dass hinter meinen [wessen?] Augen ein Ich steckt, das zumindest im Roman in einen anderen Kopf wandern kann, ist in mir und jedem anderen Menschen tief verwurzelt [aber offensichtlich doch nicht bei allen gleich stark] – ganz gleich, wie stark wir intellektuell den Monismus bevorzugen« (Gotteswahn 252). Hegels »Übersetzung« der klassischen Bestimmung des Menschen als »animal rationale« als »um sich wissendes Tier, das als solches gerade kein Tier ist«, ist offenbar geradezu harmlos im Vergleich zu der von Dawkins (bzw. seinem Gehirn) erlebten bzw. zugemuteten »Gleichzeitigkeit«.
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5. Exkurs: »Naturalismus«: Ein viel – und auch sehr kontrovers – diskutiertes Thema an der Universität Wien in den letzten 50 Jahren. Eine »Jubiläums«-Erinnerung in einigen Beispielen Das (schon im Vorwort erwähnte) 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien (im Jahr 2015) mag den Hinweis darauf rechtfertigen, dass die voranstehend behandelten Naturalismus-Themen und die darin zutage tretenden Schwierigkeiten bzw. Aporien freilich so neu nicht sind. Den Anschein des ganz Neuen erweckend kehren sie vielmehr in neuen Gestalten und Varianten regelmäßig und hartnäckig wieder und bestätigen so die ungebrochene Aktualität eines seit der Antike andauernden Kampfes. Dafür, dass sie auch in der Gegenwart eine besonders bedeutende Rolle spielen, ist der von Dawkins vertretene Naturalismus lediglich ein derzeit prominentes Beispiel, bei dem dieser »Naturalismus« zugleich die Basis für seinen Atheismus darstellt. Diese Themenfelder des Naturalismus waren jedenfalls auch in den letzten 50 Jahren an der Universität Wien stets präsent. Im Ausgang von der in Nagels jüngster Kritik des reduktionistischen »Naturalismus« und seiner daran geknüpften Teleologie-Konzeption seien in diesem Exkurs beispielhaft einige Positionen vergegenwärtigt.
5.1 Der reduktionistische »Naturalismus« (und darin zutage tretende erhellende Aporien bzw. Widersprüche) beim Wiener Psychologen und »Gehirnforscher« Hubert Rohracher Dass, ungeachtet der rasanten Entwicklung der Gehirnforschung in den letzten Jahrzehnten, die vorherrschende Auffassung unseres Denkens, Erkennens usw. als »Ausdrucksformen« der Gehirnprozesse und die damit häufig einhergehenden Ansprüche – aber auch das Bewusstsein der damit verbundenen Aporien – in prinzipieller Hinsicht nicht ganz neu sind, dies demonstrieren eindrucksvoll die vor ziemlich genau 50 Jahren vorgelegten Untersuchungen der »Arbeitsweise des Gehirns und die psychischen Vorgänge« des Wiener Psy243 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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chologen H. Rohracher. 338 So kommt er in seiner psychologischen »Theorie des Denkens« 339 »ohne Voreingenommenheit« zu dem richtungsweisenden Ergebnis, »dass allen diesen Erlebnissen, die man mit ›Denken‹, ›Verstehen‹, ›Schlussfolgern‹ bezeichnet, bestimmte Erregungsprozesse zugrunde liegen, ohne die sie nicht stattfinden können«, weshalb diese allesamt als »Ergebnis dieser Hirnprozesse« anzusehen seien; 340 daraus zieht der Wiener Psychologe sogleich die bemerkenswerte Konsequenz: »Nicht unser Denken vollzieht sich nach den Gesetzen der Logik, sondern die Erregungsprozesse des Denkens vollziehen sich nach den Gesetzen, aus denen das logische Denken resultiert. Die ›logischen Gesetze‹ bestehen nirgends als wirkende Faktoren, sie sind eine Fiktion – wirklich besteht nur das [in der Hirnforschung analysierte] Erregungsgeschehen, das sich nach seinen eigenen Gesetzen in solcher Weise abspielt, dass daraus Denkerlebnisse [als »Ausdrucksformen«] hervorgehen, die wir als ›logisch richtig‹ bezeichnen«. Die – logische (?) – Schlussfolgerung daraus, die als solche freilich selbst wiederum – so wie das gesamte Buch Rohrachers und die darin vorgebrachten Argumente, Schlüsse, Folgerungen u. Ä. – auf im Gehirn ablaufenden »Erregungsprozessen« beruhen, ist dann natürlich dies: »Die Gesetze der Logik sind in Wahrheit [: ist dies selbst ein Erregungsprozess der besonderen Art?] Gesetze des zerebralen Erregungsgeschehens, sie sind nicht nur [?!] logische, sondern auch physiologische Gesetze. Die Frage des logischen Denkens ist ein Grundproblem der Gehirntheorie, weil es zu einer prinzipiellen Entscheidung zwingt [die allerdings selbst wiederum ein Erregungsprozess sein dürfte?], die weitreichende Konsequenzen hat« 341. Die »ver338 Nagels Naturalismus-Kritik liest sich wie ein direkter Kommentar dazu bzw. zu den von ihm daraus abgeleiteten Ansprüchen. 339 Rohracher 1967, 113 ff. 340 Rohracher 1967, 114 f. – Der Wiener Neurobiologe Seitelberger hat den damit einhergehenden Reduktionismus seines Wiener Kollegen klar durchschaut, wenn er betont: Zwar können »die neurophysiologischen Trägervorgänge, ihre körperlichen Begleiterscheinungen und materiellen Wirkungen beobachtet und untersucht werden; die Programme selbst aber sind nicht meß- oder wägbar und somit der exakten naturwissenschaftlichen Beschreibung entzogen. Zur obligaten natürlichen Ausstattung der Gehirnfunktion gehört daher die metaorganische Qualität der Information als Essential. Zum Unterschied von allen übrigen Organen sind somit Prozesse, Funktionen und Produkte der Hirntätigkeit einer vollständig physikalisch-chemischen Erklärung nicht zugänglich« (Seitelberger 1993, 371). Besonders betonte Seitelberger die in der »Informationsverarbeitung« beim Menschen erreichte »Symbolstufe«. 341 Die Zitate finden sich allesamt bei Rohracher 1967, 115.
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Exkurs: »Naturalismus«
meintlichen« Prinzipien der Logik und auch der Mathematik sind also genauer besehen gar keine »Prinzipien«, sondern sind vielmehr physikalisch »bedingt«; sie haben, als durchaus Dawkins-ähnliche »Ausdrucksformen der Materie«, eine biologische bzw. letztendlich eine physikalische Basis, ihre vermeintlich unbedingte Gültigkeit wäre – so wie auch der berühmte »Satz des Pythagoras« – »in Wahrheit« letztendlich bedingt durch physikalisch-chemische Prozesse. 342 Schon hier wird die grundlegende – später noch ausführlicher aufzunehmende – Frage unausweichlich: Sind also die Regeln unseres Denkens, der Logik, – nicht zuletzt diejenigen, die eben auch der evolutionären Erklärung des Menschen zugrunde liegen – selbst lediglich biologischen Ursprungs, sofern sie eben Produkte des Gehirns sind, ebenso wie die Fundamente bzw. Grundsätze der Moral? Diese Konsequenzen hat die moderne Gehirnforschung mit ihren deklarierten Ansprüchen (und den damit verbundenen Konsequenzen für »ein neues Menschenbild«) ja dann ausdrücklich gezogen, die damit die dergestalt resultierende Auffassung des »Gehirn[s] als Organ der Logik« 343 expliziert; die Auffassung, dass die »Vorgänge in ihm [dem Gehirn] sich nach den Gesetzen der Erregungsdynamik in solcher Weise abspielen, dass daraus [wohl wiederum als »Ausdrucksform«] 342 Es geschieht damit genau das, was Th. Litt als eine – aus der undurchschauten eigenen methodischen Vorgehensweise resultierende – Absurdität aufgewiesen hat: »Es wäre eine Absurdität, anzunehmen, dass die Vorgänge am Organismus, in denen ein Sinngehalt seine hörbare oder sichtbare Darstellung findet, nichts weiter wären als ein Zusammenspiel von Abläufen, die sich, wenn erst die Forschung weit genug fortgeschritten sei, restlos auf kausale Verkettungen physikalischer und chemischer Art würden zurückführen lassen. Dass sie so sind, wie sie sind, das erklärt sich zuletzt nur aus dem zentralen Willen zur Sinnverlautbarung, der sie hervorbringt und steuert, und alles, was Physik und Chemie über ihren Verlauf zu sagen haben, betrifft nur die Oberflächenerscheinung eines ihnen unzugänglichen Tiefengeschehens« (Litt 1948a, 87). Infolge dieser Blindheit ist freilich die Konsequenz unvermeidlich: »Ob das, was die Lebenswissenschaften aus einem Lebewesen herausklingen hört, ein Wort ist oder ein unartikulierter Naturlaut, ob das, was sie aus ihm hervorgehen sieht, eine Schreibbewegung ist oder eine Reflexbewegung, das macht für sie keinen Unterschied von grundsätzlicher Art aus« (ebd. 84). Von einer solchen Kritik ist nicht zuletzt auch eine naturalistische Konzeption betroffen, wie sie in der Charakterisierung A. Beckermanns beschrieben ist: »Die gesamte Realität besteht nur aus natürlichen Dingen; in der Realität gibt es weder Götter noch Geister noch Seelen noch andere übernatürliche Mächte und Kräfte. 2. Philosophie und Wissenschaft gehören enger zusammen als gemeinhin angenommen wird; letztlich sind es die Wissenschaften, die uns sagen, was es in der Welt gibt und wie das, was es gibt, beschaffen ist« (Beckermann 2012, 6). 343 Rohracher 1967, 116.
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das bewusste logische Denken entsteht«, ergibt sich zwingend aus dem Befund: »Erregung und Erlebnis sind untrennbar und die Erregung ist immer die Voraussetzung des Erlebens.« 344 Dies gilt in der Folge ebenso für religiöse Gefühle: »Es ist eine ganz falsche Einstellung, wenn man glaubt, der Gedanke an einen Weltenschöpfer könne mit den Ganglienzellen, die wir im Mikroskop sehen, gar nichts zu tun haben; diese seien etwas Materielles, jener aber etwas so Großes und über aller Materie Stehendes, dass man solche Zusammenhänge nicht behaupten könne, ohne das Göttliche zu entwürdigen. Wer mit solchen gefühlsmäßigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, möge bedenken, dass auch die Ganglienzellen im Plane Gottes, an den er glaubt, vorgesehen sind (vielleicht sogar zu dem Zwecke, dass der Gedanke ›Gott‹ entstehen könne). Im übrigen ist nicht einzusehen, warum der Inhalt eines Gedankens dadurch an Wert und Größe verlieren solle, weil dieser Gedanke aus Gehirnvorgängen entsteht.« 345 Dabei wäre natürlich gleichermaßen zu bedenken, ob nicht nur »die Ganglienzellen im Plane Gottes« sind, sondern auch »Gott« in den »Ganglienzellen«, in bestimmten Gehirnarealen, sitzt. Wie aktuell diese Befunde gerade im Blick auf jenes von Dawkins erwogene »Gotteszentrum« ist, wird sich sogleich erweisen, obgleich er daraus ganz andere Konsequenten zieht. Rohrachers spätere Ausführungen über die »Theorie des bewussten Erlebens« wiederholen lediglich diese grundlegenden Aspekte, wenn darin etwa betont wird: »Die Erregungsprozesse im Gehirn sind die letzte fassbare Ursache der Bewusstseinsvorgänge. Der Aus344 Ebd. – Zweifel über die Plausibilität dieser Hirn- bzw. Denktheorie werden vom Wiener Psychologen verständnisvoll gemildert: »Wenn man Schwierigkeiten hat, sich mit der Gehirnabhängigkeit des geistigen Geschehens abzufinden, weil sie den Bedürfnissen des Gemütes oder der subjektiven Wertung nicht entspricht, dann bedenke man [wenn dies nur nicht wiederum bloß ein Erregungsprozess wäre!], dass die Vorgänge in unserem Gehirn etwas ganz Neues, über Raum und Zeit Hinausreichendes [!] hervorzubringen vermögen und dass die Ehrfurcht vor dem menschlichen Geist ebenfalls aus Hirnprozessen entsteht, müsste die Bewunderung auch des reinen Geisteswissenschaftlers erregen [sic!]« (Rohracher 1967, 117); in der Tat – und zwar durchaus in mehrfacher Hinsicht … 345 Rohracher 1967, 182. Die Nähe zu Dawkins’ einschlägigen Auffassungen ist jedenfalls unübersehbar, wenn Dawkins bezüglich des Memes »Glauben an das Leben nach dem Tod« (auch nah jenem »Hirnmanifest«) zustimmend einen Kollegen zitiert: »›dieses Mem ist tatsächlich physikalisch verwirklicht – Millionen vom Malen besteht es als eine bestimmte Struktur in den menschlichen Nervensystemen auf der ganzen Welt‹« (Das egoistische Gen 227).
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druck ›Ursache‹ ist dabei in seinem vollen und echten Sinne zu verstehen: das Psychische und geht aus den Erregungsprozessen hervor, es wird von ihnen bewirkt […] Es ist sicher – d. h. mit einwandfreien wissenschaftlichen Methoden erwiesen –, dass bewusste Erlebnisse nur dann auftreten, wenn sich im Gehirn Erregungsprozesse abspielen. Daraus ergibt sich nach den menschlichen Denkformen, … dass das Psychische aus den Erregungsprozessen hervorgeht, diese also seine Ursachen sind. […] So ergibt sich eine geschlossene biologische Kontinuität: Leben – Organismus – Ganglienzellen – Erregungen – psychische Vorgänge (bewusste Erlebnisse) […] Man kann von den zerebralen Erregungsprozessen nichts anderes sagen, als dass sie die letzte fassbare organische Grundlage des psychischen Geschehens darstellen, dasjenige, was sich … unmittelbar vor dem Auftreten eines Bewusstseinsvorganges im menschlichen Gehirn abspielt.« 346 Eine bloße Konsequenz daraus ist dies: »Der Gedanke an Gott, die Gefühle von Liebe und Hass, der leidenschaftliche Drang zur Erkenntnis – sie sind Resultate von bestimmten Atom- und Molekülbewegungen.« 347 Indes, davon macht wohl auch der den Psychologen Rohracher auszeichnende Erkenntnisdrang keine Ausnahme – nur schade eben, dass jene »Atom- und Molekülbewegungen« im Gehirn nicht wahr oder falsch sind, sehr wohl aber, jedenfalls dem Anspruch nach, die beanspruchten Erklärungen Rohrachers über diese Phänomene. Dies gilt natürlich auch für seine anschließende Bemerkung: »Der menschliche Geist als die höchste Form des Naturgeschehens – dieser Gedanke hat nichts Herabsetzendes« 348. Dies mag so sein – doch auch dieser Gedanke ist ja ein Produkt des »Naturgeschehen«, und ein solches hat ohnedies auch nichts »Herabsetzendes«. Es ist nicht zu übersehen: Damit dementiert Rohracher freilich selbst den von ihm selbst noch kurz zuvor ausdrücklich beteuerten »prinzipiellen Unterschied zwischen körperlichem und geistigem Geschehen« 349, während nunmehr lediglich vom Psychischen als einer »Begleiterscheinung der Erregungsprozesse« die Rede ist, »die sich im Gehirn abspielen, aber eine Begleiterscheinung, die aus den Erregungsprozessen hervorgeht, also von ihnen erzeugt wird« 350; an-
346 347 348 349 350
Rohracher 1967, 178 f. Ebd. 184. Ebd. 185. Ebd. 181. Ebd. 188.
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schließend ist freilich wiederum von den »Gehirnvorgängen« als einer »unerlässliche[n] Voraussetzung des psychischen Geschehens« die Rede, obgleich diese jedoch »nicht die einzige Voraussetzung« sei, »die erfüllt sein muss, damit bewusstes Erleben entsteht; es muss noch etwas dazukommen. Gehirnvorgänge allein können nichts Psychisches hervorbringen, sie sind zwar eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für bewusstes Erleben – es muss noch etwas anderes da sein, damit das immaterielle, geistige Leben entsteht. Was ist dieses ›Andere‹ ? Mit dem Versuch, diese Frage zu beantworten, überschreitet man die Grenzen der Naturwissenschaft.« 351 Rohracher vollzieht diesen doch ein wenig überraschenden – sachlich ganz und gar unvermittelten – Überschritt nun jedoch in verhängnisvoller Weise mit einer erstaunlichen »vis extrinsecaTheorie«, die keine Frage »unbeantwortet« lassen will und die über den bisherigen Rekurs auf die »Erregungsprozesse« hinausweist – und zwar mit einer »überaus einfache[n] Antwort: »man muss eine neue, von außen wirkende Kraft annehmen, die durch ihren Einfluss auf das Erregungsgeschehen im Gehirn das bewusste Erleben hervorbringt«. Doch zuletzt beschleicht den Hirnforscher selbst, allen vorangehend geweckten Hoffnungen entgegen, der ernüchternde Verdacht: »Befriedigend ist die skizzierte ›Extrinseca-Theorie‹ – wenigstens für den naturwissenschaftlich denkenden Menschen – trotzdem nicht.« 352 So bleibt es zuletzt also doch bei dem – alle zunächst so energisch vertretenen Thesen im Grunde widerrufenden – Befund: »Das Gehirn ist nicht mehr und nicht weniger als das Organ, das – allein oder unter dem Einfluss einer kosmischen Kraft – die Vorgänge erzeugt, aus denen auf unbekannte Weise alles Geistige hervorgeht; das Geistige selbst ist etwas Neues und Anderes – neben Materie und Leben der ›dritte Bereich‹ des Naturgeschehens [!]. In diesem dritten Bereich spielen sich die Vorgänge ab, die – von organischen Hirnprozessen ausgelöst – zur Entstehung aller Kulturleistungen führten.« 353 Etwas »Neues und Anderes [!]«, das gleichwohl »Naturgeschehen« ist – eine Auffassung, die also selbst »Naturgeschehen« ist. Wiederum zeigt sich, ganz im Sinne der Reduktionismus-Kritik Nagels, 354 351 Ebd. 188 f. – Dieses Resümee Rohrachers nimmt sich jedenfalls im Vergleich zu Dawkins auffällig zurückhaltend aus. 352 Rohracher 1967, 190. 353 Rohracher 1967, 191. 354 Unübersehbar nimmt der Wiener Hirnforscher Seitelberger einen entscheidenden Aspekt von Nagels damaliger Naturalismus-Kritik vorweg, die sich damals an der
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dass der Charakter bzw. Status der Bedingungsforschung verkannt und entsprechend die Bedingungen mit der Wirklichkeit selbst verwechselt bzw. identifiziert werden. Noch Dawkins’ Erklärung über die »Ausdrucksformen« liegt – 50 Jahre später – offenbar recht genau auf dieser programmatischen naturalistischen Linie. In wünschenswerter Deutlichkeit hat der Wiener Hirnforscher Hubert Rohracher schon vor 40 Jahren programmatische – für die spätere Hirnforschung richtungsweisend gewordene – Vorhaben und Ansprüche benannt; ebenso sind bei ihm aber auch alle gegenwärtig sichtbar werdenden einschlägigen Aporien vorweggenommen. Gerne reicht man auch seine Fragen an die gegenwärtigen Autoren des »Gehirn-Manifestes« weiter: »Damit ist neuerlich gezeigt, dass die materialistische Auffassung des Psychischen unhaltbar ist. Übrigens lässt sich jeder Versuch einer solchen Deutung mit viel einfacheren und unmittelbarer wirksamen Argumenten widerlegen. Man braucht nur an die Tatsachen zu denken, die dem Menschen in Wirklichkeit viel wichtiger sind als alle Philosophie und Erkenntnislehre: an sein Glück und Unglück, an Freude und Leiden, an Sorge, Angst und Hoffnung. Wer ist glücklich oder unglücklich? Vielleicht das Gehirn? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Die Ganglienzellen und die Atome, aus denen sie bestehen, können nicht leiden oder sich freuen: die ›Materie‹ des Gehirns fühlt keine Angst und kennt keine Hoffnung. Es müssen sich in den Gehirnzellen bestimmte Prozesse abspielen, damit das Glücklich- oder Unglücklichsein entsteht; aber nicht die Zellen sind glücklich oder unglücklich, sondern der Mensch, in dessen Kopf sie sich befinden. Er ist es, der leidet, er muss die Härten des Daseins ertragen und sehen, wie er mit ihnen fertig wird. Der Mensch ist mehr als sein Gehirn.« 355 Die unvermeidliche Rückfrage an die Naturwissenschaft, die diese Frage doch zu beantworten beansprucht, ist unweigerlich die: Wer oder was ist das: »der Mensch«? Doch Vorsicht ist geboten: Die »Homunkulus«-Verdächtiger lauern vor der Tür … Rohrachers eigentümliches – widersprüchNichtreduzierbarkeit der »Qualia« orientierte: »Die der naturwissenschaftlichen Untersuchung zugänglichen Gehirnvorgänge entsprechen nicht den subjektiven Bewusstseinserlebnissen. […] Physiologisches Hirngeschehen und hirngetragenes psychisches Erleben sind zwar zweifellos interdependent, haben aber als selbständige Phänomenebenen keine konkrete funktionale Beziehung und interferieren nicht miteinander« (zit. n. Barth 2003, 451). – Vgl. auch die kritischen Überlegungen v. P. Hoff 2006. 355 Rohracher 1967, 192.
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liches – »Hin und Her« zwischen einem bei ihm selbst zutage tretenden handfesten »Reduktionismus« und dem bezeichnenderweise gleichzeitig von ihm selbst vollzogenen Einspruch dagegen ist jedenfalls auch im Blick auf gegenwärtige einschlägige Debatten sehr lehrreich – nicht zuletzt natürlich auch in Erinnerung an Dawkins’ naturalistische Erläuterungen über das »Geistige« als »Ausdrucksformen der Materie«. Manche Argumentationslinien Rohrachers stehen jedoch offenbar auch jener Position besonders nahe, die im 20. Jahrhundert als »Psychologismus« bezeichnet wurde. Ihm zufolge sollen auch die Operationen und Grundgesetze des logischen Denkens auf von der Psychologie (als einer »Tatsachenwissenschaft«) zu erforschende empirische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden. 356 Diese für den »Psychologismus« maßgeblichen Auffassungen haben in der Philosophie vielfache Kritik erfahren – besonders prominent durch den Mathematiker bzw. Logiker G. Frege und E. Husserl, dessen Name untrennbar mit der philosophischen Strömung der »Phänomenologie« verbunden ist (s. o. I., Anm. 328 u. 329). 357 Rohrachers eigentümli356 Vgl. für eine erste Orientierung dazu die kritischen Überlegungen des Innsbrucker Wissenschaftstheoretikers W. Stegmüller (1969, 51–55). Stegmüller kritisiert den Psychologismus als eine »Sonderform des spezifischen Relativismus oder Anthropologismus, da er mit seinem Hinweis auf den naturgesetzlichen Charakter der logischen Gesetze an der prinzipiellen Möglichkeit eines andersartigen Denkens mit anderen Gesetzen festhält. Eine Konsequenz daraus, so Stegmüller, ist dies, »dass derselbe Urteilsinhalt für die eine Spezies wahr, für die andere falsch sein könnte. Nun ist es aber evident unmöglich, dass ein Urteilsinhalt zugleich das Prädikat ›wahr‹ sowie ›falsch‹ aufweisen kann. Es kann nicht für den einen das Urteil ›Gott existiert‹ wahr sein, für den anderen hingegen das Urteil ›Gott existiert nicht‹. Den Begriff der Wahrheit mit der Präposition ›für‹ zu verbinden ergibt keinen Sinn; was wahr ist, ist absolut und ›an sich‹ wahr.« Die Gültigkeit (der »ideale Gehalt«) der logischen Gesetze kann nicht aus empirisch-»realen Vorgängen« (Stegmüller spricht, vielleicht ein wenig missverständlich, von »Denkverläufen«, die von der Psychologie erforscht werden) abgeleitet bzw. begründet werden – weshalb die Auffassung, »die Erkenntnis sei durch die spezifisch menschliche Eigenart des Denkens relativ auf die species homo, ohne allen Sinn ist. Der Psychologismus hat diesen Gedanken, der sich erst beim Überblicken seiner Konsequenzen als evident absurd erweist, ganz oder teilweise in seine Voraussetzungen aufgenommen. Er enthüllt sich daher selbst als evident widersinnige Lehre.« (Alle Zitate finden sich in Stegmüller 1969, 51 ff.) 357 Sowohl die Position der evolutionären Erkenntnistheorie (in der oben vorgestellten Argumentation) als auch Dawkins’ Berufung auf ein »Gotteszentrum« kommen diesem »Psychologismus« offenbar wider Willen bemerkenswert nahe. Die bedeutende ausführliche philosophische Psychologismus-Kritik bei Husserl und Frege ist hier nicht weiter zu verfolgen.
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ches Schwanken zwischen einem handfesten naturalistischen Reduktionismus einerseits und der Einsicht in die ihm immanenten Aporien wird nicht zuletzt aus seiner Bemerkung ersichtlich, die zu jener geltend gemachten »geschlossene[n] biologische[n] Kontinuität: Leben – Organismus – Ganglienzellen – Erregungen – psychische Vorgänge (bewusste Erlebnisse)« sodann als ein »additum« gewissermaßen »von außen« noch das »Reich der Gedanken« hinzutreten lässt – in augenfälligem Widerspruch zu schon genannten anderen Bemerkungen: »Niemals fließt in den Nervenfasern ein Gedanke und niemals wird eine Ganglienzelle durch ein Gefühl in Funktion versetzt; in den Fasern fließen nur Erregungen und die Zellen werden ebenfalls nur durch Erregungen oder durch äußere Reize dazu gebracht, neue Erregungen zu erzeugen« 358. Wie das mit den obigen naturalistischen Erklärungen vereinbar sein soll, steht freilich auf einem anderen Blatt. 359 Es soll sich zeigen: Lediglich eine direkte Fortsetzung dieser Auszeichnung des Gehirns als »Organ der Logik« war die relativ kurze Zeit später – wiederum in Wien – ausdrücklich vollzogene evolutionsbiologische Wendung dieser Frage nach der »Arbeitsweise des Gehirns«, die sich so buchstäblich für die evolutionsbiologischen Ge-
358 Rohracher 1967, 187. – Man fühlt sich angesichts dieser Argumentation unweigerlich an Leibnizens Mühlengleichnis erinnert: »Stellen wir uns einmal vor, es gäbe eine Maschine, deren Struktur es vermöchte zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben; man könnte sie nun vergrößert unter Wahrung derselben Proportionen so ersinnen, dass man in sie hineintreten könnte, wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, wird man darin bei einer Besichtigung nur Stücke finden, die sich gegenseitig stoßen, niemals aber etwas, was eine Perzeption zu erklären vermag« (Leibniz 1970, Nr. 17). Leibnizens »Mühlengleichnis« ist offensichtlich unschwer als eine Vorwegnahme der gegenwärtig prominent gewordenen Behandlung des »psycho-physischen Problems« (und der »Qualia«-Debatten) zu verstehen bzw. zeitgemäß zu »übersetzen«. 359 E. Schrödinger hat die dieser bedeutungsleeren »Faktenaußenwelt« der Naturwissenschaft zugrunde liegende »methodische Abstraktion« und die mit dieser »Objektivierung« einhergehende Eliminierung des »Erste-Person-Aspektes« klar erkannt und an einem Beispiel illustriert: Die objektivierende »naturwissenschaftliche Weltansicht … vermag uns nicht zu sagen, warum Musik und entzückt, warum ein altes Lied uns zu Tränen rühren kann. Zwar trauen wir zum Beispiel der Physiologie zu, dass sie im Prinzip alle Vorgänge im letztgenannten Fall in unserem Sensorium und ›Motorium‹ in allen Einzelheiten beschreiben könnte, vom Augenblick an, da die Verdichtungsund Verdünnungswellen das Ohr treffen, bis zu dem Augenblick, da gewisse Drüsen eine salzige Flüssigkeit absondern, die aus den Augenwinkeln austritt. Aber von den Gefühlen der Lust und Wehmut, die den Vorgang begleiten, weiß die Naturwissenschaft nichts – darum schweigt sie davon« (Schrödinger 1955, 168).
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sichtspunkte als richtungsweisend erwiesen hat – in sachlich enger Nähe zu Rohrachers Auffassung, wonach gegen die These, »dass das Denken Erregungsprozesse im Gehirn zugrunde liegen und dass das richtige, logische Denken durch den ›richtigen‹ Ablauf dieser Prozesse zustande kommt, … ein Zweifel nicht möglich« ist 360. Bevor dies in Bezugnahme auf die prominenten Wiener Biologen K. Lorenz und R. Riedl schlaglichtartig angezeigt werden soll, jedoch noch eine kurze Anmerkung zur offenkundig naturalistischen Position eines anderen aus Wien gebürtigen Nobelpreisträgers: Auch der aus einer Wiener jüdischen Familie stammende, 1939 nach Amerika geflüchtete Neurobiologe (und Medizin-Nobelpreisträger) Eric Kandel lässt die Leserschaft im Zeitungs-Interview wissen 361: »Es ist das Gehirn, das uns [!] zu dem macht, was wir [wer oder was ist das denn?] sind«, denn: »alles ist Biologie[362], alles, was wir [?!] tun, auch die Philosophie. Weil ja alles vom Gehirn kommt. Denken ist Biologie, wenn wir nicht denken, sind wir ohne Bewusstsein.« Man sieht, das Gehirn übernimmt also genauer besehen die Rolle des »Ich«. Mit Blick auf die schlimmen antisemitischen Erfahrungen, die der junge Kandel in Wien machen musste, stellt Kandel (gewiss nicht ohne Grund) fest, die Österreicher hätten »früher … verleugnet, dass sie etwas Böses getan haben, jetzt wissen sie, dass es so war« – obgleich man sich freilich »mit dem Thema Schuld … sehr lange nicht 360 Rohracher 1967, 118. Hier ist offensichtlich aber doch in einem ganz verschiedenen Sinne von »richtig« die Rede – denn jedenfalls ist jenes »Denken« nicht in dem Sinne »richtig« wie die der empirischen Gesetzmäßigkeit gemäßen »Gehirnprozesse«. Dass diese Bemerkung nicht bloß eine Spitzfindigkeit darstellt, die allenfalls auf eine bloße sprachliche Ungenauigkeit verweist, dies belegt auch die angeführte These Rohrachers, wonach der »menschliche Geist … die höchste Form des Naturgeschehens« sei (ebd. 185) – eine Auffassung, die wohl an Dawkins’ »Naturalismus« erinnert; gleichwohl insistierte Rohracher im letzten Kapitel seines Buches auf der Unhaltbarkeit einer »materialistischen Position« (ebd. 191) und bringt dagegen zunächst eine von ihm sogenannte »vis-extrinseca«-Theorie in Stellung, die sich ihm zufolge zuletzt jedoch ebenso als unbefriedigend erweist. 361 Die Zitate in dieser Anm. sind entnommen dem Interview: »Meine Romantik ist in meinem Gehirn«: »Der Standard« v. Sa./So. 13./14. Oktober 2012, 29. Ja, aber wer oder was ist das denn, der da von »seinem Gehirn« redet: »sein (?!) Gehirn«? Es spricht viel dafür, an diesen prominenten Wiener Hirnforscher in entsprechend modifizierter Weise die Frage eines anderen prominenten gebürtigen Wieners zu richten, die in der Anm. 364 angeführt ist. 362 Das ist erfreulicherweise schon deshalb (bzw. erneut) nicht der Fall, weil Sätze der Biologie bzw. das Reden über Biologie richtig oder falsch sein können, neuronale Prozesse jedoch nicht …
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auseinandergesetzt«, dies sich dies inzwischen »aber auch gebessert« habe, und obgleich er den Österreichern von damals »nicht verzeihen« könne. Indes, nimmt man den Neurobiologen Kandel beim Wort, dass »das Gehirn uns zu dem macht, was wir sind«, dann waren es ja doch (a) die österreichischen Gehirne, die »verleugnet« haben, »etwas Böses getan zu haben«: Neuronale Prozesse im Gehirn »verleugnen« aber auch nichts, ebenso wenig tun sie »Böses«, sondern sie laufen entweder ab oder eben nicht, »weil ja alles vom Gehirn kommt«; neuronale Prozesse werden auch nicht »schuldig«, weshalb man sich damit auch nicht »auseinandersetzen« kann (weil sich neuronale Prozesse natürlich auch nicht mit etwas »auseinandersetzen«, sondern ebenfalls einfach ablaufen). Die Frage bleibt: Hatten und haben die damaligen bzw. heutigen »Antisemiten« eben lediglich anders funktionierende (bzw. nicht »intakte«) Gehirne bzw. entsprechende neuronale Prozesse, die sie »zu dem machen, was sie sind«, nämlich: »Antisemiten«? Dass die Prozesse des Gehirns, »das uns zu dem macht, was wir sind«, 363 dann auch nicht »verzeihen«, versteht sich so schon von selbst. Freilich weiß der berühmte Neurobiologe (oder 363 Kandel geht also unübersehbar weiter als sein Wiener Kollege Rohracher, der eine »Gleichsetzung von Gehirn und Mensch« strikt verwarf und seine Materialismuskritische These: »Der Mensch ist mehr als sein Gehirn« mit den daran anschließenden Sätzen folgendermaßen zu erörtern versuchte: »Diese Feststellung enthält für die aufgestellte Theorie keine Schwierigkeiten. Das ›mehr‹ bedeutet nur, dass das Psychische [das hier allerdings überhaupt nicht mehr vom »Geistigen« unterschieden wird], dessen Gesamtheit den Menschen ausmacht, etwas von Grund aus anderes ist als das Gehirn und seine Erregungsprozesse. Die Kontinuität: ›Organismus-Gehirnvorgänge-Seelenleben‹ bleibt trotzdem bestehen. Dass die Entstehung des bewussten Erlebens aus den Gehirnvorgängen [zumal ja der menschliche Geist (!) die »höchste Form des Naturgeschehens« sein soll] ein ungelöstes Geheimnis darstellt, wurde ausdrücklich zugegeben, deshalb ist aber an ihrer Tatsächlichkeit nicht zu zweifeln. Nicht die Ganglienzellen oder die Erregungsprozesse in den Gehirnen großer Menschen [und wohl auch nicht dort angesiedelte »Gotteszentren«] haben Religionen und Weltanschauungen begründet, Symphonien komponiert oder die Bahnen der Planeten berechnet, sondern die Menschen, denen diese Gehirne gehörten. Damit diese Menschen denken, komponieren und rechnen konnten, müssen aber Atome, Ganglienzellen und Erregungsprozesse ganz bestimmter Art vorhanden gewesen sein; ohne sie hätte keine Religion … entstehen können. Die kausale [!] Kontinuität ist gegeben, aber mit dem Wunder, dass in der Wirkung immer mehr und immer Höheres liegt, als wir in der Ursache finden können« (Rohracher 1967, 192). Diese »Kontinuität« thematisiert demnach im Grunde lediglich den freilich unüberspringbaren empirischen »Bedingungszusammenhang«, weshalb sich so lediglich bestätigt: »Das Ergebnis ist in der Tat immer das gleiche: ›Geistiges‹ ist nicht ohne Psychisches, Psychisches ist nicht Physi(kali)sches (Organisches), aber auch nicht ohne dieses«.
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sein Gehirn?): »Nach dem Tod kommt Nichts. Ich [!] glaube nicht an die Seele. Sie können ruhig daran glauben, ich brauche das nicht.« Doch, wie es schon sein will: Auch dieses keiner »Seele« bedürfende »ungläubige« »Ich« ist leider bloß ein »Gehirnprozess« – und solche »Gehirnprozesse« »glauben« auch nichts und sind aber auch nicht »atheistisch«! Weder »glauben« Gehirnprozesse an die Seele noch »glauben« sie nicht daran – ebenso wenig führen sie jedoch staunenswerte Experimente über das »Gedächtnis« durch und überprüfen diese auch nicht gemeinsam. Bleibt nur noch die Frage, wer denn eigentlich dieses geheimnisvolle »Ich« ist, das in diesem Interview geduldig und launig (in zahlreichen »Ich«-Sätzen) die Fragen beantwortet (und doch zugleich dieses Ich als vorwissenschaftlichen Rest der »Alltagspsychologie« in Berufung auf die Hirnforschung aus der modernen Wissenschaft verbannt): Sind dies das Gehirn bzw. die in ihm ablaufenden und feuernden neuronale Prozesse – doch solche »Prozesse« beantworten ja auch keine Fragen, so wenig sie sich (und einander) widersprechen –, weshalb sich konsequenterweise das vermeintliche Interview mit dem Medizin-Nobelpreisträger letztendlich als eine Wechselreaktion zwischen zwei Gehirnprozessen entpuppt, denn »Hirnprozesse« geben auch keine Interviews und bedanken sich auch nicht dafür. 364 Also erneut: Zuletzt »viel Lärm um nichts« – wenn sich jenes zwar »nicht an die Seele glaubende«, aber sich doch wenigstens an schöner Kunst erfreuende »Ich« nur ja nicht schon wieder als eine heimtückische Ich-Illusion, so wie bei Dawkins, erweist, die offenbar so schwer wie ein »Virus« abzuschütteln ist und gegen die offenbar noch kein Kräutlein gewachsen ist. Und die abschließende Beantwortung der »letzten Frage: Worum geht’s im Leben?« lautet sodann: »Darum, eine gute Zeit zu haben« 365 – dies »sagt« also Kandels Gehirn (d. h. die darin ablaufenden »neuronalen Prozesse«); indes, ablaufende Hirnprozesse sagen nach wie vor nichts und haben auch keine »gute Zeit« – jedenfalls und schon gar nicht eine solche, die sich etwa von der »guten Zeit« der Hirnprozesse von artgerecht gehaltenen zufriedenen – und schmerzfrei getöteten – Rindern wesentlich unterscheidet. Einmal mehr ist nicht zu über364 Auch in diesem Kontext fühlt man sich an die schon zitierte Bemerkung eines anderen Wieners, Ludwig Wittgenstein, erinnert: »Wenn Einer sagt: ›Ich habe einen Körper‹ [oder auch: ein Gehirn], so kann man ihn fragen: ›Wer spricht hier mit diesem Munde?‹« (Wittgenstein 1984, 8. Band, 168). 365 Das gefällt wiederum auch Kater Garfield – sein Gehirn nickt, es ist damit also ganz einverstanden (s. o. I., Anm. 143).
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sehen, dass ein völlig unreflektiertes naturalistisches Weltbild auch alle einem »aufgeklärten Humanismus« verpflichteten Bestrebungen selbstwidersprüchlich untergräbt.
5.2 Eine Anmerkung zum »naturalistischen« Programm einer »Naturgeschichte des menschlichen Geistes« bei den Wiener Evolutionsbiologen Konrad Lorenz und Rupert Riedl Das ebenfalls in Wien – in einer Art »österreichischer Denkschule« 366 – verfolgte und sodann als »evolutionäre Erkenntnistheorie« 367 sehr dominant gewordene Forschungsprogramm einer »Naturgeschichte des menschlichen Geistes« knüpft hier – jedenfalls in einer programmatischen Hinsicht – an. Jene schon im voranstehenden Abschnitt erwähnte Kennzeichnung des Gehirns als »Organ der Logik« findet darin gewissermaßen in der Spur Rohrachers seine evolutionstheoretische Bestätigung bzw. Einlösung, der zufolge »unsere Denkmuster [so] in die Natur passen« wie die Flosse in das Wasser bzw. der Huf zur Steppe: »Und jetzt sagt die Evolutionäre Erkenntnistheorie: Ich bin, also denke ich. Weil ich ein Gehirn habe, das die Evolution so gemacht hat, denke ich so. Das ist natürlich ein Schreck« (so der Interviewer) – der jedoch sogleich durch die Auskunft des Evolutionsbiologen gemildert wurde: »Wenn eine Struktur so gemacht ist wie wir, wenn in unseren Hirnen 10 hoch 11 kleine graue Zellen da sind, da sein können, dann läuft da drinnen etwas ab, was wir Denken nennen … weil die Evolution dieses Denken und dieses Bewusstsein hervorgebracht hat […] Evolution ist ein erkenntnisgewinnender Prozess.« 368 Man sieht, die Analogie ist rasch hergestellt: Unsere Logik »passt« in die Welt, so wie der »Huf in die Steppe« bzw. die Fischflosse ins Wasser; sie ist eine funktionale Anpassungsleistung, beruhend auf der Beschaffenheit, d. h. der genetischen Struktur des GeKreuzer/Broda/Riedl 1981, 77. Diese »evolutionäre Erkenntnistheorie«, die von K. Lorenz und R. Riedl maßgeblich bestimmt wurde, ist hier jedoch nicht näher zu verfolgen; vgl. die angeführte Literatur von Lütterfelds und Pöltner. 368 Kreuzer/Broda/Riedl 1981, 54 f. Freilich: In der Argumentation »sum, ergo cogito« (ich habe dieses – mein – Gehirn, und deshalb denke ich so) ist die Unterscheidung von »ich« und Gehirn« vorausgesetzt, wobei dieses Gehirn ja nicht einfachhin ein Gehirn, sondern »meines« ist. 366 367
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hirns. 369 Mit Konsequenz führt dies sodann auf eine evolutionsbiologische Stützung der Bestimmung des Gehirns als »Organ der Logik« – freilich mit weitreichenden Konsequenzen. Genau dieser Schritt wurde sodann auch vom Wiener Evolutionsbiologen Riedl ausdrücklich vollzogen: »Ich würde folgendes sagen: Die Logik betrachten wir versuchsweise nicht als ein eternales, seit jeher vor der Welt gegebenes Ding [!], sondern als ein Produkt des suchenden Menschen. Und es könnte sich herausstellen, dass diese Logik gar nicht die beste Logik ist, die man haben möchte.« Die Weiterführung dieser »Logik-Logik« durch den Diskussionspartner lässt nicht auf sich warten – nämlich als die Relativierung der vermeintlich unstrittigen Auffassung, »dass es doch im ganzen Kosmos eine Logik gäbe, eine vorgegebene, einzige Logik, während aus der Evolutionstheorie doch eigentlich hervorgeht, dass in jedem Evolutionsvorgang auch eine andere Logik hervorkommen könnte. Das ist gar nicht wenig: Es gibt nach der neuesten Theorie zehn Milliarden Galaxien mit je zehn Milliarden Sternen und so und so vielen Planeten pro Sonne; es könnte also demnach 10 [hoch zwanzig oder 21] Evolutionen geben – mit je einer anderen Logik« 370. In der Tat, das ist nicht nur »nicht wenig«, sondern womöglich auch schon wieder um einiges zu viel, wie sich noch zeigen soll (s. den nächsten Abschnitt 5.3.): Freilich auch der Evolutionsbiologe würde – entgegen der Fixierung auf nur eine »Logik« – »erwarten, dass es verschiedene Formen der Logik oder Vernunft geben könnte, wenn so viele Versuche möglich waren oder sind in diesem Kosmos, dass aber sehr wahrscheinlich entsprechend der Struktur dieser Welt nur einige wenige sich bewähren konnten. Diese Welt ist von einer Struktur. Will 369 Alle in diesem Abschnitt angeführten naturalistischen Konzeptionen bleiben der Rückfrage von J. Habermas ausgesetzt, wie sich die »Auszeichnung des Wissenschaftssystems, dessen Mitglieder in besonderer Weise auf die kooperative Wahrheitssuche und das Abwägen von Gründen trainiert sind, mit dem illusionären Charakter von Gründen und Rechtfertigungen« verträgt. »Wenn wir evolutionstheoretische Prämissen ins Spiel bringen, um den Reproduktionswert der naturwissenschaftlichen Forschung zu erklären, schreiben wir dieser eine bedeutende kausale Rolle für das Überleben der Spezies zu. Das widerstreitet einer neurobiologischen Sicht, aus der diese Praxis wie jede andere Praxis der Rechtfertigung als Epiphänomen eingestuft wird. Diese epiphänomenalistische Auffassung ergibt sich zwingend aus einem reduktionistischen Forschungsansatz. Gründe sind keine beobachtbaren physischen Zustände, die nach Naturgesetzen variieren; sie können deshalb nicht mit gewöhnlichen Ursachen identifiziert werden« (Habermas 2004, 109). 370 Kreuzer/Broda/Riedl 1981, 59.
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man von dieser Welt lernen – und wovon sollte man sonst lernen? –, kann man nur von bestimmten Strukturen lernen. […] Ich würde erwarten, dass ein Kosmos, so wie er strukturiert zu sein scheint [!], nur einige wenige und miteinander sehr verwandte Formen von Lernmöglichkeiten zulässt und damit auch nur einige ganz wenige Formen der Logik. Und es kann durchaus sein, dass die Logik, mit der wir operieren, schon wieder eine außerordentliche Vereinfachung ist. 371 Die Folgerung drängt sich geradezu auf: Hätte es bei der Evolution von »homo sapiens« nur geringfügigst andere physikalische, biologische, klimatische Bedingungen gegeben, so hätte sein Gehirn, sofern überhaupt die Entstehung und Entwicklung eines solchen möglich geworden wäre, jedenfalls eine andere biologische Struktur – und weil ja, wie erwähnt, »Gedanken, Gefühle des Menschen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn« erwachsen, hätte dieses seltsame Wesen – genauer wohl: sein Gehirn als Produkt der Evolution? – unweigerlich zuletzt nicht nur eine andere »Logik«, sondern auch keine »Ich-Illusion«, keine »Identität« und infolgedessen dann überhaupt irgendeine – Identität voraussetzende – Logik, weil die »Identität des Bewusstsein« hierfür vorausgesetzt ist und ohne diese weder »Logisches« noch »Unlogisches« zu denken wäre?
5.3 Eine philosophische Antwort und Naturalismus-Kritik aus Wien – mit Blick auf Nagels Teleologie-Konzeption und mit nochmaliger Bezugnahme auf Dawkins’ »Naturalismus« Die in der oben angeführten Argumentation des Evolutionsbiologen geltend gemachte Rückführung der Logik auf genetisch bedingte Mechanismen unseres Gehirns – »ich bin, also denke ich«: »weil ich ein so und so strukturiertes Gehirn habe usw.« – und eine darauf rekurrierende psychologistische Argumentation, die im Grunde ebenfalls auf das Gehirn als »Organ der Logik« rekurriert, hat eine m. E. überzeugende Problematisierung durch den ebenfalls an der Universität Wien tätigen Philosophen H.-D. Klein erfahren – die in der Sache freilich ebenso an jene frühe platonische Unterscheidung zwischen »Ursache und Mitursache« (ohne die diese Ursache nicht Ursache sein könnte) bzw. indirekt an einschlägige Motive Leibnizens an371
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knüpft 372: Denn ganz unstrittig war ja dies, dass ohne das funktionierende Gehirn als spezifische Erb-Ausstattung der Spezies »homo sapiens« so wie andere kognitive Fähigkeiten auch logisches Denken nicht möglich wäre – das bedeutet aber mitnichten die Möglichkeit einer Relativierung der Gültigkeit der logischen Prinzipien, zumal diese, wie sich noch zeigen soll, eben für die Möglichkeit einer solchen Relativierung selbst vorausgesetzt wären und ebendies zugleich nicht sein dürften, weil andernfalls eben dafür das »Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs« schon gültig sein müsste … Doch zunächst bleibt darauf zu achten, dass jene evolutionsbiologische bzw. Psychologismus-nahe – »Logik-relativierende« – Vorstellung ja zuletzt auf jener erwähnten hypothetischen Annahme beruht: Wären jene empirischen Verhältnisse in der Evolution des Lebendigen und dann auch der Hominiden nur geringfügig anders gewesen, so wäre eine andere Gehirnstruktur das unvermeidliche Resultat – und mithin auch eine andere Logik? Das – evolutionär bedingt – andere biologische Fundament der genetischen Ausstattung würde demzufolge den Gedanken einer biologischen Fundierung (Begründung) nahelegen: Die biologische Fundierung wäre also zugleich die Begründung für mögliche andere logische Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten und deren Gültigkeit – woraus die Konsequenz ebendies wäre: Die unhintergehbare Kontingenz der biologischen Ausstattung und die darin durch die phylogenetisch erworbene – bedingte – Kontingenz der logischen Regeln würde so die Mutmaßung begünstigen (selbst eine psychologische Nötigung?), dass auf anderen Planeten jedoch möglicherweise nicht nur Lebewesen mit anderen Gehirnen existieren, sondern diese infolgedessen auch eine andere psychische Verfassung bzw. Dispositionen aufweisen. Die unvermeidliche Frage (bzw. Folgerung daraus) wäre dann wohl dies, ob sie dementsprechend auch einer anderen Logik folgen (bzw. deren Gesetze als »zwingend« erleben) könnten bzw. müssten und beispielsweise nicht an die Gültigkeit des »Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch« bzw. des »Satzes vom ausgeschlossenen Dritten« gebunden wären? Zweifellos ein Ensemble von evolutionär bedingten »Kontingenzen« von ganz 372 Dass Dawkins diese elementaren Unterscheidungen – sowie die aristotelische »Vier-Ursachen-Lehre« – offenbar völlig unbekannt ist, wird auch durch seine schlichte Auskunft nahegelegt: »Alles geschieht aus einem Grund – Ereignisse haben Ursachen, und die Ursache liegt stets vor dem Ereignis« und dass »Grund … hier ›vorausgegangene Ursache‹« bedeute (Zauber 233), vom »zureichenden Grund« ist hier seltsamerweise gar nicht die Rede.
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besonderer Art, die durch jene evolutionsbiologische Gedankenfigur jedenfalls nahegelegt wird und somit zuletzt jene erwogene Vorstellung einer Vielzahl möglicher Logiken als durchaus plausibel erscheinen lassen mag. Es wäre dies jedenfalls eine naheliegende, ja »zwingende« Konsequenz aus der schon von Riedls Lehrer Konrad Lorenz in der »Rückseite des Spiegels« geäußerten These, die freilich in engster sachlicher Nähe zu der vorgestellten »Theorie des Denkens« des Wiener Psychologen Rohracher steht; sie zeigt übrigens recht deutlich, dass jene schon gegen den »Psychologismus« erhobenen grundsätzlichen Bedenken in recht ähnlicher Weise auch auf diese Argumentation von K. Lorenz zutreffen, 373 so etwa, wenn dieser betont: »Wir sind überzeugt davon, dass alles, was sich in unserem subjektiven Erleben spiegelt, aufs engste mit objektiv erforschbaren physiologischen Vorgängen verflochten und auf diesen begründet, ja mit ihnen in geheimnisvoller Weise identisch [!] ist.« 374 Jedenfalls hat auch nach Lo373 Dies gilt somit für den von Lorenz in seinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« unternommenen »Versuch, den menschlichen Geist zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung zu machen, ein Unterfangen, das vielen Geisteswissenschaftlern, wenn nicht geradezu als gotteslästerlich, so zumindest als eine Überschreitung der Kompetenz der Naturforschung, als ›Biologismus‹ erscheinen wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine auf naturwissenschaftlichem Wege gewonnene Einsicht in das Wirkungsgefüge physiologischer Funktionen dem Werte jener höheren Leistungen, die sich auf sie begründen, keinen Eintrag tut. Ich hoffe auch dem der Biologie und der Stammesgeschichte nicht wohlgesonnenen Anthropologen philosophischer Prägung zeigen zu können, wie einzigartig sich die spezifisch menschlichen Eigenschaften und Leistungen des Menschen gerade dann darstellen, wenn man sie mit den Augen des Naturforschers als Erzeugnis eines natürlichen Schöpfungsvorganges [sic!] betrachtet. Diesem Ziel dient dieses Buch« (Lorenz 1981, 15). Ob dies nicht schon mit jener kurz zuvor geäußerten (oben zitierten) Behauptung unverträglich ist, »dass alles, was sich in unserem subjektiven Erleben spiegelt, aufs engste mit objektiv erforschbaren physiologischen Vorgängen verflochten und auf ihnen begründet, ja mit ihnen in geheimnisvoller Weise identisch [!] ist«, steht freilich auf einem anderen Blatt; ein wenig rätselhaft und seltsam bleibt auch die zitierte Lorenz’sche Absicht, die »spezifisch menschlichen Eigenschaften und Leistungen des Menschen … als Erzeugnis eines natürlichen Schöpfungsvorganges« anzusehen – was ist mit einem solchen »natürlichen Schöpfungsvorgang« genau gemeint? 374 Lorenz 1981, 14. – H. Wagners kritische Kommentierung einschlägiger Argumentationsweisen trifft diese naturalistische Reduktionismen präzis: »Der Identitätsmaterialismus erlaubt es uns ohne Bedenklichkeit, dass wir von dem, was der Nichtmaterialist für nicht-materiell hält, in ›mentalistischer‹ Sprache, also in mentalistischen Ausdrücken zu reden; das sei durchaus sinnvoll. Aber eben nur sinnvoll. Wir dürfen über die erlebnismäßige Leib-Geist-Einheit je nach der ›Gegebenheitsweise‹ derselben sowohl ›physikalisch‹ wie ›mentalistisch‹ reden, und jede der beiden Redeweisen hat
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renz die Geltung der logischen Prinzipien ihre evolutionäre Basis in der kontingenten stammesgeschichtlichen Entwicklung und den sie wiederum ermöglichenden elementaren Gesetzmäßigkeiten, d. h. letztendlich in physikalischen Prozessen. Ein notwendiger Einspruch gegen die Lorenz’sche Position ergibt sich näherhin schon daraus, dass er das Erkenntnisproblem sogleich auf »angeborene »Reaktionsweisen« des Organischen und dessen »Anpassungsleistungen« reduziert: »Wenn man nun die angeborenen Reaktionsweisen von untermenschlichen Organismen kennt, so liegt die Hypothese ungemein näher, dass das ›Apriorische‹ auf stammesgeschichtlich gewordenen, erblichen Differenzierungen des Zentralnervensystems beruhet, die eben gattungsmäßig erworben sind und die erblichen Dispositionen, in gewissen Formen zu denken, bestimmen. Man muss sich klar darüber sein, dass diese Auffassung des ›Apriorischen‹ als Organ die Zerstörung seines Begriffs bedeutet« 375. Erst recht ist deshalb die von Lorenz geltend gemachte Auffassung zu kritisieren, »dass alles menschliche Erkennen auf einem Vorgang der Wechselwirkung beruht, in dem sich der Mensch, als durchaus reales und aktives lebendes System und als erkennendes Subjekt mit den Gegebenheiten einer ebenso realen Außenwelt auseinandersetzt, die das Objekt seines Erkennens sind« 376. Dagegen erheben sich jedoch fundamentale Bedenken, die, wie sich sogleich zeigen soll, nicht zuletzt auch jene schon erwähnte Analogisierung des Verständnisses unserer Logik als Anpassungsprodukt (im Vergleich mit der Anpassung des Hufes an die Steppe) betreffen. ihren spezifischen ›Sinn‹. Aber ›Bedeutung‹ (wahrhaften Bezug auf einen bestimmten Gegenstand) haben die einen wie die anderen Ausdrücke nur eine einzige: es gibt nicht Leib und Geist, Hirn und Seele, Gehirnprozesse und Bewusstseinsakte; es gibt nur einen einzigen Gegenstand, auf den sich die beiden Redeweisen lediglich mit unterschiedlichem ›Sinn‹ beziehen. So kann ein Vertreter dieses Identitätsmaterialismus ohne weiteres etwa sagen, was es wirklich gebe, das sei ein Dualismus der Sprache (in einer physikalistischen und einer mentalistischen Terminologie), keineswegs aber ein Dualismus von Entitäten, Vorgängen oder Eigenschaften« (Wagner 1992, 55); zu diesen Fragen darf ich auf meine Ausführungen verweisen: Langthaler 2008. 375 Lorenz 1941, 95 f. »Das Apriori, das die Erscheinungsformen der realen Dinge unserer Welt bestimmt, ist, kurz gesagt, ein Organ, genauer: die Funktion eines Organes« (ebd. 99). 376 Lorenz 1981, 11. Zu den offenkundig zirkulären Begründungen, in die sich die »evolutionäre Erkenntnistheorie« diesbezüglich verstrickt, siehe die grundlegenden Erwägungen von W. Lütterfelds 1982; Pöltner 1993 (die beide in Wien am Institut f. Philosophie lehrten).
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Ebenso wird darin – nicht zuletzt bezüglich der mit Blick auf den Menschen eröffneten Perspektive der »potentiell unbegrenzten Lernfähigkeit« – auch ein bedeutsamer Anknüpfungspunkt zu Nagels Teleologie-Perspektive sichtbar, die dadurch wohl auch noch eine bedeutende Vertiefung gewinnt und überdies die Möglichkeit einer sehr wichtigen Verbindung von evolutionsbiologischen Perspektiven und philosophischen Aspekten eröffnet, die auch im Zusammenhang des Problems einer »Letztbegründung« theoretischer und normativer Geltungsansprüche eine wichtige Rolle spielen. Dass diese Fragen indes nicht so einfach in der von Lorenz vorgeschlagenen Weise zu beantworten sind, dies sei für die an den damit zusammenhängenden philosophischen Fragen näher interessierten Lesern im Anschluss an H.-D. Klein noch durch folgende Hinweise vor Augen geführt. So zeigt ihm zufolge schon eine einfache Reflexion, dass gleichermaßen der Gedanke einer Kritik an »unserer Logik« bzw. die alternative Vorstellung einer »anderen« Logik (die also dann nicht »unsere« wäre, aber so wie diese Teil einer »allgemeinen Logik« wäre!) »unsere« Logik jedoch voraussetzt – und zwar deshalb, weil »unsere« so wie eine »andere« Logik dann offenbar eben »besondere« Fälle jener »allgemeinen Logik« wären; dieser Gedanke einer »besonderen Logik« setzt freilich eben genau unsere Logik (und die ihr »immanente« Differenz »Eines-Anderes«, »Allgemeines–Besonderes«, »Vieles-Eines« u. Ä. bzw. die »logischen Prinzipien« selbst) voraus – dies gilt gleichermaßen für die in der modernen Logik bestimmende Idee einer »Logiken-Kreation«, die im Sinne einer geforderten Entscheidbarkeit und der Kriterien für dieselbe auf so etwas wie eine nicht relativierbare »Kernlogik« verweist bzw. diese voraussetzt, ohne die letztendlich auch so etwas wie »Lernen« gar nicht möglich wäre. Daraus resultieren Klein zufolge eine – auch mit Blick auf Dawkins’ Naturalismus – besondere Problemperspektiven, die sich für ein differenziertes Verständnis der Evolutionstheorie als höchst aufschlussreich erweisen und deshalb auch vollständig angeführt werden sollen: »Interessant ist hier schon, dass man von evolutionärem Lernen spricht. Lernen ist ja nicht auf den Menschen eingeschränkt. Es bezieht sich nicht nur auf Individuen von Arten, der Begriff ›Lernen‹ ist auch auf die Errungenschaften, welche die Stammesgeschichte insgesamt hervorbringt, auszudehnen, und das Verhalten zwischen Mutation und ihrer Bewährung im Kampf der Arten ums Dasein (Selektion) hat eine dem intelligenten Lernen durchaus analoge Struktur. Beim menschlichen Lernen findet Evolution gewissermaßen in einer 261 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Art und in einem Individuum statt, welches in bezug auf seine Verhaltensformen artspezifische Grenzen nicht mehr kennt, d. h. potentiell unbegrenzt lernfähig ist. Diese potentiell unbegrenzte Lernfähigkeit haben aber auch die nichtintelligenten Organismen in bezug auf die Genese der Arten. Wir können so der Auffassung von Konrad Lorenz, dass das Apriori des Menschen zugleich stammesgeschichtliches Aposteriori sei, zustimmen und müssen dieser These zugleich widersprechen. Die Zustimmung ergibt sich aus der Tatsache, dass der genetische Befund einwandfrei feststeht. Die These von Lorenz muss aber auf folgende Weise korrigiert werden: Das Apriori des Menschen, welches seiner logischen Kompetenz zugrunde liegt und diese ausmacht, ist nicht einfach ein beliebiges Aposteriori der Stammesgeschichte, wie die Anpassung des Pferdehufs an die Steppe, sondern es handelt sich um ein stammesgeschichtliches Aposteriori, welches zugleich das Apriori der Stammesgeschichte ist. Intelligenz besteht eben darin, dass das, was als Apriori der Stammesgeschichte selbst und ihren Mechanismen zugrunde liegt, hier von einer einzigen Art in jedem ihrer Individuen als stammesgeschichtliches Aposteriori erworben wurde. Wir können also sagen, beim Menschen (in bezug auf die Intelligenz) ist das stammesgeschichtliche Aposteriori zugleich das stammesgeschichtliche Apriori« 377. Dieser entscheidenden Problemperspektive zufolge (welche die evolutionären Lernprozesse und somit auch »Bewährung« einschließt) wäre also in diesem notwendigen Rekurs auf einen »evolutionären Lernprozess« gleichermaßen die Einheit von »quid facti?« und »quid juris?« untrennbar vereint (und somit »Darwin mit Kant« verknüpft), und ohne diesen erst dadurch gewonnenen – Prinzipien-orientierten – »universalistischen« Gesichtspunkt wäre auch der in anthropologischen Kontexten verbreitete Rekurs auf die »Weltoffenheit« und »Exzentrizität« menschlichen Daseins nur verkürzt bestimmt und könnte so auch der darin implizierten stammesgeschichtlichen »Ent-Grenzung« und der Überwindung spezifischer »umweltlicher Nischen« nicht gerecht werden. 378 Klein 1984, 67 f. – Genau in diesem Sinne ist wohl ein für seine Teleologie-Konzeption entscheidender (schon zitierter) Passus Nagels zu verstehen: »Die Vernunft kann uns über die Erscheinungen hinausführen, weil sie ganz allgemeine Gültigkeit besitzt, statt nur lokal begrenzte Nützlichkeit. Wenn wir über sie verfügen, erkennen wir, dass sie von einer Theorie ihrer evolutionsbedingten Herkunft weder bestätigt noch untergraben werden kann und auch nicht durch irgendeine andere Außenansicht ihrer selbst. Wir können uns nicht von ihr distanzieren« (GuK 119 f.). 378 So gewinnt vermutlich auch Nagels (oben angeführte: s. I., Anm. 286) »Kogni377
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Eine weitere Folgerung daraus wäre dann dies: Wenn sich im Sinn der angezeigten »Letztbegründung« zeigen lässt, dass die Idee einer Selbstrelativierung der geltenden logischen Prinzipien und die daran geknüpfte Vorstellung anderer »Logiken« nur unter der Voraussetzung ebendieser Logik gedacht werden kann und deren Prinzipien sich insofern als nicht relativ bzw. relativierbar erweisen (weil sie eben dafür vorausgesetzt wären), so ergibt sich daraus, dass ebendiesen ihr gemäßen logischen Operationen neuronale Prozesse (gemäß den entsprechenden empirischen Gesetzmäßigkeiten) korrespondieren, ohne die diese logischen Operationen in ihrer unbedingten Geltung nicht realisierbar sein könnten. 379 Dies führt direkt auf die Frage, welche physikalisch-chemisch-biologischen Bedingungen des Universums notwendig waren, die die Entwicklung unserer kognitiven und rationalen Fähigkeiten doch erst ermöglicht haben – Fähigkeiten, die dennoch nicht einfach aus jenen Bedingungen herleitbar sind. Wären also die den geltungsorientierten Operationen korrespondierenden physikalisch-chemischen Abläufe aufgrund empirischer Gesetzmäßigkeiten nicht als »neuronal realisierbare« möglich, so wäre folglich auch ein geltungsorientiertes Denken und Handeln (bzw. auch Selbstkorrektur) gar nicht möglich. Diese kontingent-faktischen – und als solche auch nur empirisch erforschbaren – mannigfachen empirischen Gesetzmäßigkeiten in ihrem faktisch-empirischen Zusammenstimmen sind so die unumgängliche Voraussetzung (im Sinne jener »Mitursachen«) für die in ihrer Gültigkeit nicht relativierbaren Regeln der logischen Operationen, weil diese eben für ihre Relativierung selbst vorausgesetzt sind. Die empirische Faktizität der Bedingungen jener nicht-relativierbaren logischen Prinzipien würde dergestalt auf eine Korrespondenz bzw. ein Zusammenstimtions«- bzw. »Geltungs«-orientierte Argumentation im Kontext seiner »Teleologie«Konzeption erst ihre stringente Begründung, die in der Sache ebenfalls auf eine zu vermittelnde Einheit der Fragen »quid facti?« und »quid juris?« hinausläuft: »Die Vernunft kann uns über die Erscheinungen hinausführen, weil sie ganz allgemeine Gültigkeit besitzt, statt nur lokal begrenzte Nützlichkeit. Wenn wir über sie verfügen, erkennen wir, dass sie von einer Theorie ihrer evolutionsbedingten Herkunft weder bestätigt noch untergraben werden kann und auch nicht durch irgendeine andere Außenansicht ihrer selbst. Wir können uns nicht von ihr distanzieren« (GuK 119 f.). 379 H. Heckmann bringt ein einfaches Beispiel: »Jedesmal wenn ich denke, dass 1 + 1 = 2, muss dem etwas in meiner Physis entsprechen, aber es muss nicht jedesmal dasselbe sein […] Die Eigenschaft, zu denken, dass 1 + 1 = 2, ist, wie man auch sagt, multipel realisierbar, sie kann durch unterschiedliche physische Eigenschaften verkörpert oder implementiert werden« (Heckmann 2008, 51).
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men (concursus) von ganz besonderer Art verweisen: Es wäre dies eine unvorstellbar komplexe Zusammenstimmung von empirischen Bedingungen, ohne die indes gerade die davon genau zu unterscheidende Ebene der unbedingten Geltungsdimension und der sie entfaltenden Operationen nicht zu denken wäre; dergestalt wären die Fragen »quid facti?« und »quid juris?« (»Reich der Ursachen« und »Reich der Gründe«) in grundsätzlicher Weise vereint und auch aneinander gebunden. 380 Denn das sich im »Reich der Gründe« vollziehende rationale Abwägen und Beurteilen von bzw. das logische Entscheiden nach »Gründen« wäre ohne die entsprechenden »neuronalen Realisierungsprozesse« im Gehirn als dem »materiellen Substrat« gar nicht möglich; 381 dies indiziert im Blick auf das offenbar wirkliche »Reich der Gründe«, in dem das »animal rationale« denkend und handelnd sein Leben führt, eine besondere »Korrespondenz« von »Geist und Gehirn«, die eine einseitig-reduktionistische (»kausalistische«) Abspannung dieses »Bedingungs-Verhältnisses« – und somit auch einen bloßen »Epiphänomenalismus« des Geistigen sowie einen damit zusammenhängenden Determinismus strikt verbieten muss. Jenes Problem der Konvergenz der für das »Reich der Ursachen« und des »Reichs der Gründe« maßgebenden Gesetzmäßigkeiten gewinnt in diesem Zusammenhang noch eine besondere Akzentuierung. Noch einmal sei betont: Dass auch der (logische) Vollzug der Denkregeln ein intaktes Gehirn voraussetzt, das als ein evolutionäres Produkt sich somit deren – selbst evolutionär entwickelten – Mechanismen und entsprechenden Anpassungsprozessen verdankt, bleibt dabei ganz außer Streit – ebenso dies, dass diese evolutionären Abläufe des Lebendigen wiederum an elementare Naturgesetzmäßigkeiten gebunden sind, ohne die sie gar nicht möglich wären. Ohne diese vorausgesetzten Gesetzmäßigkeiten und ihr Zusammenspiel wäre 380 Auch bezüglich der in der Evolution des Lebendigen sich entwickelnden Entgrenzung der Lernprozesse bleibt darauf hinzuweisen, dass für diese Einsicht-geleitete individuelle »Lernfähigkeit« freilich auch eine Selbstbezüglichkeit eigentümlicher Art vorausgesetzt ist, zumal ohne die darin implizierte autobiographische »Identität« ein solcher »Lernprozess«, der anderes und mehr als bloße »Verhaltensänderung« ist, nicht möglich wäre; weshalb auch der solcherart »Lernende« sich selbst nicht als bloß »neuronalen Prozess« verstehen kann; diesbezüglich stellt freilich schon das »Lebendige« und seine Anpassungsleistungen vor ein besonderes Problem. 381 Das damit berührte Problem einer weder reduktionistisch abgespannten noch dualistischen Konzeption einer »mentalen Verursachung«, das in der »Philosophie des Geistes« ein Hauptthema darstellt, ist hier nicht näher zu verfolgen.
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Exkurs: »Naturalismus«
demzufolge Evolution nicht möglich, weshalb sie in solcher Hinsicht auch als »zweckmäßig« für Letztere angesehen werden dürfen – nicht zuletzt mit Blick auf den nach seinem »In-die-Welt-Passen« fragenden Menschen und somit inklusive der mit ihm auftretenden unbedingten theoretischen und praktischen Geltungsansprüche. Auch so bestätigt sich: Derart wären die »genealogische« Frage des faktischen Auftretens und diejenige ihrer »unbedingten« Geltung (»quid facti« und »quid juris«) in eigentümlicher und unzertrennbarer Weise miteinander verbunden.
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II. Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie Vorbemerkung
Der im ersten Teil dargestellte »Naturalismus« in Dawkins’ Position bedeutet zugleich eine entscheidende Weichenstellung für nahezu alle Hauptthemen in Dawkins’ Atheismus bzw. seiner Religionskritik. In den folgenden Überlegungen soll sich vor allem zeigen, wie die in Dawkins’ »Naturalismus« maßgebende Wissenschaftsgläubigkeit (»Szientismus«) auch die prinzipiellen, d. h. methodischen Grenzen der Naturwissenschaften konsequent ignoriert (bzw. diese als bloß vorläufige Grenzen verkennt). Dieser Mangel hat, aufgrund einer fehlenden methodischen Selbstreflexion, immer wieder auch eine unkritische Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Ansprüche zur Folge, die sich dann eben auch bezüglich der Gottesthematik als höchst bedeutsam erweist, 1 wie Dawkins’ Herangehensweise an diese Themen eindrucksvoll vor Augen führt. Gerade die diesbezüglich von ihm beanspruchte »kritische Auseinandersetzung« mit dem Thema »Gottesbeweise« gibt aber auch einen nachhaltigen Eindruck davon, was dieser prominente Wortführer der »brights« unter »intellektueller Redlichkeit« versteht, zumal er jedenfalls für sich beansprucht, diese Auseinandersetzung »einigermaßen vollständig« geleistet zu haben; dass dies mit anderen, ungleich bescheideneren Erklärungen über seine leitenden Absichten – denen zufolge er sich hauptsächlich gegen einen evangelikal-»fundamentalistischen« Kreationismus wenAuch Henkel argumentiert so – in konsequenter Missachtung gegenteiliger Befunde auch in der theologischen Tradition –, als ob der Hinweis auf die methodisch bedingte Unzuständigkeit der Naturwissenschaften für die Frage nach dem Dasein Gottes, darauf hinausliefe, »Religion als etwas hinzustellen, bei dem Argumente nichts zu suchen haben und es allein auf eine persönliche Glaubensentscheidung ankommt« (Henkel 2012, 197). Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass manche Stellungnahmen von gläubigen Naturwissenschaftlern einen solchen Eindruck erwecken könnten. Henkel hat eine solche Vorgehensweise, ganz im Sinne des Dawkins’schen Schutzzonen-Arguments, freilich mühelos entlarvt, sei eine solche Strategie doch lediglich »zu dem Zweck erfunden, Religion gegen die Einrede von Wissenschaft zu schützen« (ebd.).
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
det – nicht so ohne weiteres verträglich ist, ist freilich eine andere Frage (s. o. Einleitung, 2.) Zunächst gilt es also zu zeigen, wie Dawkins’ Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Ansprüche – worin Rationalitätsansprüche eben stillschweigend mit der Methodik der modernen Einzelwissenschaften identifiziert werden – auf die völlige Verkennung bzw. Ignoranz der methodischen Grenzen der Naturwissenschaften hinausläuft. Dies wird in seinem Buch »Der Gotteswahn«, ungeachtet gegenteiliger Versicherungen, gerade auch bezüglich der Gottesthematik in besonders krasser Weise sichtbar und dokumentiert so eindrucksvoll, dass die hohe fachwissenschaftliche – d. h. »evolutionsbiologische« – Kompetenz dieses prominenten Wortführers der »brights« sich offenbar durchaus mit einer bemerkenswert »unaufgeklärten« Denkungsart verträgt und so auch ein verstümmeltes Verständnis von »Aufklärung« zur Folge hat.
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1. Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen und die damit einhergehende Problemblindheit
Zu Recht wurde von den meisten Kritikern Dawkins’ vor allem der prinzipielle Einwand einer fehlenden methodischen Selbstreflexion auf die methodischen Grenzen der Naturwissenschaften und ihrer Ansprüche erhoben. Diese plausible Kritik hat jedoch rein gar nichts mit Dawkins’ Erklärung zu tun, »dass Theologen eine Qualifikation zur Beantwortung von Fragen besitzen, die für die Naturwissenschaft zu tiefschürfend sind« (Gotteswahn 82). Vielmehr bestätigt gerade auch seine von den Kernproblemen eher ablenkende gereizte Stellungnahme lediglich dies, dass Dawkins das elementare methodische Problem nicht zur Kenntnis nehmen will 2: Keineswegs um die allein Dawkins’ Strategie ähnelt ein wenig der Vorgehensweise desjenigen, der, über den wahren Wert seines Bargeldes verunsichert, der Sache wissenschaftlich seriös auf den Grund gehen möchte und deshalb seine Geldscheine im chemischen Labor auf ihren wahren Wert untersuchen lassen möchte – dann jedoch über den Befund maßlos enttäuscht ist, dass die genaueste chemische Analyse leider keinen Wert feststellen konnte (der Geldschein also wertlos sei). Niemand wird dabei wohl behaupten, diese Aufgabe sei für den Chemiker eben zu »tiefschürfend« gewesen, sondern dass er eben für die Eruierung des Geldschein-Wertes aus methodischen Gründen nicht zuständig sei; in ähnlicher Weise wäre wohl auch seiner völlig unsinnigen Kritik am christlichen Verständnis der »Wiedergeburt« bzw. der »Wandlung« zu begegnen, die lediglich unfreiwilligerweise belegt, was von seinem Anspruch zu halten ist, dass ihm die christliche Religion »zufällig am vertrautesten« (Gotteswahn 54) sei. Solcher Anspruch wird sich als eine maßlose Selbstverkennung erweisen. Es wäre gewiss ein »dummer Glaube«, dass sich ein wertloses, seltsam gefärbtes Stück »Papier« von recht eigenartiger »Qualität« über Nacht in ein Stück »Nicht-Papier«, d. h. in wertvolles »Geld«, das bekanntlich die ganze Welt beherrscht, »verwandelt« haben sollte – für einen außen stehenden »Beobachter« ein kurioses »Geschehen«: Zauberer in den Notenbanken am Werk – oder eben glatter Betrug (denn es hat sich offenbar an der Papier-Beschaffenheit rein gar nichts geändert!), im Vergleich dazu sich die von Dawkins diagnostizierte Verzauberung von Wasser in Wein geradezu harmlos ausnimmt (s. dazu u. III., 2.6.3)? Daran fühlt man sich jedenfalls erinnert, wenn Robert Seidel in der Spur (und zur Verteidigung) Dawkins’ sein seltsames Sakraments-Verständnis erläutert und darin unfreiwillig ein recht eindrucksvolles Beispiel einer über sich selbst »unaufgeklärten Aufklärung« liefert: »Millionen von Katholiken glauben da-
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
Philosophen und Theologen vorbehaltenen (bzw. von ihnen für ihre ausschließliche Zuständigkeit reklamierten) »tiefschürfenden« Fragen ist es zu tun, sondern lediglich um den Anspruch, dass es eben ran, daß Hostie und Wein sich beim Abendmahl buchstäblich in den Leib und das Blut Jesu verwandeln. Das ist ein dummer Glaube, so intelligent einzelne von ihnen anderweitig sein mögen« (Seidel 2014). In nicht überbietbarer Weise bestätigt Seidel mit diesem »kritischen Bewusstsein« jene Borniertheit, die Hegel hier der über sich selbst unaufgeklärten und deshalb »törichten« Aufklärung entgegenhält: »Allein die Aufklärung ist hier völlig töricht: der Glaube erfährt sie als ein Sprechen, das nicht weiß, was es sagt, und die Sache nicht versteht, wenn es von Pfaffenbetrug und Volkstäuschung redet. Sie spricht hiervon, als ob durch ein Hokuspokus der taschenspielerischen Priester dem Bewusstsein etwas absolut Fremdes und Anderes für das Wesen untergeschoben würde, und sagt zugleich, dass dies ein Wesen des Bewusstseins sei, dass es daran glaube, ihm vertraue und sich es geneigt zu machen suche«. Von solchem – »Wahnvorstellungen« recht nahekommenden – Missverständnis, das offenbar die Hostie des Sakraments mit einem Stück »Brotteig« buchstäblich »verwechselt«, mag die Lektüre von Hegels Lehrstück über »befriedigte und unbefriedigte Aufklärung« befreien. Dort charakterisiert er die Borniertheit einer über sich selbst unaufgeklärten Aufklärung und ihre undurchschaute Verkehrung der Maßstäbe in den bekannten Sätzen: »Die[se] Aufklärung … macht hier das, was dem Geiste ewiges Leben und heiliger Geist ist, zu einem wirklichen vergänglichen Ding und besudelt es mit der an sich nichtigen Ansicht der sinnlichen Gewissheit – mit einer Ansicht, welche dem anbetenden Glauben gar nicht vorhanden ist, so dass sie ihm dieselbe rein anlügt. Was er verehrt, ist ihm durchaus weder Stein oder Holz oder Brotteig, noch sonst ein zeitliches sinnliches Ding« (Hegel 1952, 392 f.). – Ein »profaneres« Beispiel: Angenommen, einem Liebespaar steht eine unvermeidliche lange Trennung bevor; beide zerbrechen bei ihrem Abschied gemeinsam einen Ring in zwei Hälften und versprechen einander, die zerbrochene Hälfte als Ausdruck ihrer Liebe und Treue bei sich zu tragen; tragen sie denn »in Wahrheit« lediglich ein (ganz wertloses) Stück Metall bei sich, das sich über Nacht »verwandelt« hat – und wären sie im Falle des Verlustes je ihrer Hälfte etwa leicht »tröstlich« über die absolute Wertlosigkeit desselben – eine »nichtige Ansicht der sinnlichen Gewissheit«, welche in den beiden Liebenden gewiss gar »nicht vorhanden ist«? Muss man nicht von der eigentümlichen »Wirklichkeit« dieses Ringes – die sich doch nur aus dem Verständnis des konkreten »Sinngeschehens« selbst ergibt bzw. sich zeigt – gänzlich »abstrahiert« haben, um solche Ringhälften als ein kaputtes Metall-Stück, als bloße »Metallscherben«, ansehen zu können, für deren »Wirklichkeit« der Chemiker zuständig ist und deren »Bedeutung« doch »bloß subjektiv« sei? Was heißt hier: »eigentlich wirklich«? Niemand wird wohl bezweifeln, dass der chemische Befund über die Ringteile für das Verständnis dieses die »Wirklichkeit dieser Liebenden« betreffenden Sinngeschehens nicht unbedingt erschließend ist und auf einer ganz unangemessenen/verkehrten Sichtweise beruht; ebendies gilt jedoch um nichts weniger für die oben angeführte »aufgeklärte Entlarvung« des christlichen »Sakraments« durch R. Seidel: Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was Hegel mit einer »über sich selbst unaufgeklärten« (vermeintlich »aufgeklärten«) Geistesart gemeint und deren pseudo-kritischen »Entlarvungsgestus« er lächerlich gemacht hat: Offenbar immer noch sehr aktuell … Dawkins’ ganz einschlä-
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für den Menschen unabweisliche – und durchaus rational beantwortbare – Fragen gibt, die tatsächlich ganz einfach außerhalb der (methodischen) Zuständigkeit der Naturwissenschaft liegen. 3 Dies bedeutet jedoch kein illegitimerweise beanspruchtes besonderes Privileg, sondern verlangt lediglich die unumgängliche Besinnung auf den Status und die methodische Eigenart der Naturwissenschaften. Dies impliziert dahingehend eine Abgrenzung in thematischer und methodischer Hinsicht, dass eine sich selbst verstehende Naturwissenschaft tatsächlich so vorgehen muss, »als ob es Gott nicht gäbe« (»etsi deus non daretur«); diese unumgängliche methodische Selbstreflexion und -begrenzung hat indes mit einem der Naturwissenschaft angeblich anhaftenden Mangel an »Tiefschürfigkeit« rein gar nichts zu tun. Obgleich Dawkins den Vorwurf, eine unkritische »engstirnignaturwissenschaftliche Denkweise« (Gotteswahn 219) zu vertreten, entschieden zurückweist, haben ihn solche Beteuerungen – jedenfalls bisher – jedoch nicht davon abgehalten, unbeirrt auch die Frage nach der »Existenz Gottes« naturwissenschaftlichen Fragestellungen zuzuordnen und sie auf diesem Terrain auch in angemessener Weise entscheiden zu wollen 4. So stemmt er sich unnachgiebig dem ihm gige Äußerungen in seinem Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« folgt jedenfalls genau den Erklärungen bzw. Entlarvungen Seidels, die auch nicht zufällig über die »Dawkins-Stifung« ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. 3 Auch dem Wiener Nobelpreisträger für Physik E. Schrödinger bleibt wohl die Aufnahme in die Reihe der von Dawkins anerkannten Wissenschaftler verwehrt, zumal auch er in Verweis auf die methodischen Grenzen der Naturwissenschaften verdeutlichen will, dass und »warum die naturwissenschaftliche Weltansicht von sich aus nichts von ethischen und ästhetischen Werten enthält, kein Wort über unsere eigene Bestimmung, unser letztes Ziel und, mit Verlaub, keinen Gott. ›Weiß nicht, woher ich kommen bin, weiß nicht, wohin ich geh …‹ […] Die Naturwissenschaft wird sehr oft atheistisch gescholten. Nach dem Gesagten ist das nicht verwunderlich … Wenn alles Persönliche daraus methodisch [!] entfernt ist, wie soll es da den erhabensten Gedanken enthalten, der dem Menschengeschlecht sich darbietet?« (Schrödinger 1955, 168). 4 Schon dies macht deutlich: Dawkins ignoriert völlig die aristotelische Einsicht, wonach die Klarheit und Beweisbarkeit nach Maßgabe des Gegenstandes zu bestimmen ist: »Es ist vernünftigerweise nur so viel Genauigkeit zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt« (Aristoteles, Metaphysik 1094 b 23). »Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene Stoff erlaubt. Der Genauigkeitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, … der logisch geschulte Hörer wird nur insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen Gebiet verlangen, als es die Natur des Gegenstandes erlaubt« (Aristoteles, Metaphysik 1094 b 16 ff,). Dies bleibt auch hinsichtlich der Gottesthematik und der daran geknüpften »Beweis«-Ansprüche entsprechend zu beachten. Einmal mehr wird sich im Blick auf Dawkins auch bestätigen: »Es ist
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durchaus geläufigen Vorwurf entgegen: »Die energischste Erwiderung lautete jedoch, ich würde der Theologie gegen ihren Willen eine naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie [was immer das sein mag?] überstülpen. Die Theologen hätten Gott immer als einfach definiert. Was ich, der Naturwissenschaftler, mir denn herausnähme, den Theologen vorschreiben zu wollen, dass ihr Gott komplex sein müsse? Naturwissenschaftliche Argumente, an deren Anwendung ich aus meinem eigenen Fachgebiet gewohnt sei, eigneten sich hier eben nicht, denn die Theologen hätten schon immer gesagt, dass Gott außerhalb der Naturwissenschaft angesiedelt sei« (Gotteswahn 216). 5 Schon diese Klage Dawkins’ über das theologischerseits bekundete Unverständnis für seine These, dass »ihr [der Theologen] Gott komplex sein müsse« – »und ›komplex‹ ist nur ein anderes Wort für ›unwahrscheinlich‹« –, ist einigermaßen seltsam und bestätigt unfreiwillig, dass Dawkins’ Frage nach einem solchen »komplexen Gott« sich offenbar einem besonderen »Gotteskomplex« verdankt – nämlich: nach Gott als einer Art überkomplexen »Superdinges« und dessen »Ursache« zu fragen, ohne indes die Unsinnigkeit eines solchen »Komplex«-Denkens einzusehen: »Das Gebilde, das man durch die Berufung auf einen Gestalter erklären will, mag noch so unwahrscheinlich sein, der Gestalter selbst ist es mindestens ebenso … So wenig wir auch über Gott wissen, er muss in jedem Fall sehr, sehr komplex sein« (Gotteswahn 157; 174). Freilich, schon ein Blick etwa auf die Argumentation des (von ihm ja erwähnten) Thomas v. Aquin in den einschlägigen »quaestiones« über die »Einfachheit Gottes« u. Ä. hätte den – angeblich ja philosophisch besonders interessierten – Oxforder Professor für »Public Understanding of Sciences« von der Sinnlosigkeit dieser »Komplex-Argumente« überzeugen können. Aber so groß war Dawkins’ philosophisches Interesse dann ja doch wieder nicht, dass der Polemik-Bedarf nicht deutlich überwogen hätte. Von dem atheistischen Philosophen Th. Nagel muss er sich über den eher schlichten Sachverhalt belehren lassen: »Aber Gott, was immer er auch sein mag, ist kein komplexer, gegenständlicher Beschon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle« (II 102). 5 Schon dies bestätigt auch, dass Dawkins bezüglich der Gottesthematik die von ihm beanspruchte Einsicht selbst mit bewundernswerter Deutlichkeit dementiert: »Das ist einer der großen Vorzüge der Wissenschaft: Wissenschaftler wissen, wann sie eine Frage nicht beantworten können. Und sie geben es fröhlich zu« (Zauber 186). Dass dies nicht der Fall ist, demonstriert Dawkins selbst in eindrucksvoller Weise.
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Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
wohner der natürlichen Welt. Die Erklärung seiner Existenz als eine zufällige Verbindung von Atomen ist keine Möglichkeit, für die es eine Alternative zu finden gilt, denn so stellt sich niemand Gott vor. Wenn die Hypothese Gott überhaupt einen Sinn macht, dann nur, insofern sie eine andere Art von Erklärung als die der Naturwissenschaft anbietet: die Absicht oder den Plan eines körperlosen Geistes, der dennoch die Fähigkeit besitzt, die ganze materielle Welt hervorzubringen und zu gestalten. Die Hypothese zielt also auf die Behauptung ab, dass nicht jede Erklärung auf rein materiellen Voraussetzungen beruht und dass es da eine Erklärung durch das Geistige, Absichts- und Planvolle gibt, die den Grundgesetzen der Natur vorausgeht, weil sie selbst diese noch erklärt« 6. Dawkins’ diesbezügliche Strategie ist in der Tat bemerkenswert: Wer es wagt, sein Vorhaben, die Gottesthematik auf dem Weg naturwissenschaftlicher Hypothesenbildung behandeln bzw. entscheiden zu wollen, 7 aus methodisch-wissenschaftstheoretischen Gründen in Frage zu stellen, d. h. dessen methodische Angemessenheit zu bezweifeln, verfällt sogleich dem von ihm bereitgehaltenen Verdacht einer illegitimerweise beanspruchten »erkenntnistheoretischen Schutzzone« (Gotteswahn 217) 8: Denn darin manifestiere sich, so Dawkins’ entlarvender Spürsinn, in Wahrheit eine lediglich getarnte Nagel, The Fear of Religion, 26. Eine solche auf die Behauptung abzielende Hypothese, »dass nicht jede Erklärung auf rein materiellen Voraussetzungen beruht«, liegt freilich auch noch Nagels eigener »Teleologie«-Konzeption zugrunde, obgleich sie jeden Rekurs auf eine »intentionalistische« theistische Begründung strikt ablehnt. 7 Dass Dawkins’ Behandlung der »Gotteshypothese«, die ihm zufolge wissenschaftlich zu entscheiden sei, berechtigt ist, gilt offenbar auch für Peetz als ausgemacht. Insofern ist ihre Bemerkung allerdings irreführend, weil sie voraussetzt, was erst zu erweisen wäre: »Vor allem Dawkins’ kognitivistische Interpretation der Gotteshypothese kann als Herausforderung für die Theologie verstanden werden. Verzichtet die Theologie darauf, Gott als wissenschaftliche Hypothese zu verstehen, so verzichtet sie auch darauf, die Aussage: ›Gott hat das Universum erschaffen‹ als wahrheitsfähig und kognitiv sinnvoll zu verstehen« (Peetz 2013, 305; ähnlich schon 51 ff.). Die von Kant geltend gemachten grundlegenden Bedenken bleiben derart völlig unberücksichtigt; und doch war gerade er es, der die Gottesidee als unverzichtbares Vernunftthema geltend gemacht hat – aber eben nicht als eine »Gotteshypothese«, weil Gott eben kein »zur Theorie der Natur gehöriger Begriff« ist, wie Kant immer wieder einschärft. 8 Wovor der katholische Theologe Lüke warnt, ebendies tut – höchst erfolgreich und angepasst – Dawkins mit Vorliebe: »Man kann nur dringend davor warnen, weiterhin theologischer- wie biologischerseits ideologiebelastete Ladenhüter der Vergangenheit ins wissenschaftliche Schaufenster der aktuellen Aufmerksamkeit zu stellen« (Lüke 2008, 138). 6
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– mehr oder weniger bequeme bzw. raffinierte, und doch vergebliche »Immunisierungsstrategie«, durch die sich ein von intellektuell wachsamen Zeitgenossen zunehmend entlarvter Missbrauch der Vernunft gegen bedrohliche Kritik abzuschirmen versucht: »Bei meiner Diskussion in Cambridge begaben sich die Theologen per definitionem in eine erkenntnistheoretische Schutzzone, in der man sie mit vernünftigen Argumenten nicht mehr erreichen konnte, weil sie kategorisch erklärt hatten, dass dies nicht möglich sei.[ 9] Wer war ich denn, dass ich behauptete, rationale Argumente seien die einzig zulässige Art von Argumenten? Neben naturwissenschaftlichen Kenntnissen gebe es eben noch andere Arten des Wissens, und eine davon müsse man anwenden, um Gott kennen zu lernen.« 10 Schon dies ist freilich eine – selbst »Immunisierungs«-orientierte – polemische Unterstellung, die ihn auch den zirkulären Charakter seiner Argumentation übersehen ließ. Wer wollte denn seinem seltsamen Plädoyer, dass »rationale Argumente … die einzig zulässige Art von Argumenten« seien, etwa ernsthaft widersprechen? Dies ist wohl kaum das eigentliche Problem, denn natürlich sind »rationale Argumente« die einzig zulässigen Argumente – was denn sonst? Was wären denn »Argumente«, die sich einem diskursiv einzulösenden Begründungsanspruch verweigerten? In seinem offenbar dominierenden Empörungsbedarf verdreht Dawkins den entscheidenden Sachverhalt hier auf eine geradezu groteske Weise, die im Grunde Sowohl die Auskunft des berühmten Physikers wie auch diejenige des berühmten Theologen hätte Dawkins wohl als bedauerliches Selbstmissverständnis bzw. als bloße Ausflucht abgetan: »Wohin und wieweit wir also auch blicken mögen, zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch, wohl aber gerade in den entscheidenden Punkten volle Übereinstimmung. Religion und Naturwissenschaft – sie schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander« (M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, Leipzig 1938, 31; »Theologie und Naturwissenschaft können grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten, weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden« (K. Rahner, Wissenschaft und christlicher Glaube. In: Schriften zur Theologie, Bd. 15, Zürich/Einsiedeln 1983, 24–62, hier: 26); beide zit. n. R. Schönberger 2008, 171 (Anm. 2 u. 3). 10 Dawkins’ Argumentation bzw. Position ähnelt diesbezüglich derjenigen des kritischen Rationalisten H. Albert, der sich ebenfalls die Existenz Gottes als eingeführte Hypothese, »um das wirkliche Geschehen ausreichend zu erklären« (Albert 1968, 117), nicht ausreden lassen will. Dass er eine »Annahme der Existenz Gottes, die im Rahmen der heutigen Kosmologie zu irgendwelchen Erklärungszwecken brauchbar [!] ist, habe … bisher nicht identifizieren können« (Albert 1968, 83 Anm.), versteht sich dann von selbst. 9
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Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
seine eigenen unausgewiesenen Voraussetzungen bzw. Vorentscheidung deutlich erkennbar macht – dass nämlich ihm zufolge »vernünftige Argumente« eben allein diejenigen der Naturwissenschaften sind, die deshalb auch bezüglich der Gottesthematik »zuständig« seien. Der oben angeführte Passus besagt doch dies: Zulässige Argumente sind Dawkins zufolge allein »naturwissenschaftliche Argumente« – was nicht in den Letzteren ausweisbar ist, kann eben auch nicht als »rational« gelten; man sieht, der »szientistische Zirkel«, der »Rationalität« auf naturwissenschaftliche Methodik reduziert, schließt sich rasch – ohne freilich dabei zu bemerken, wie damit stillschweigend einem wissenschaftlichen Aberglauben und Reduktionismus Tür und Tor geöffnet wird. Schon der angeführte Einspruch Dawkins’ verrät ganz deutlich seinen szientistischen Kurzschluss, der besonders klar in jener von ihm seinen theologischen Gesprächspartnern unterstellten Ansicht sichtbar wird, dass man die Gottesfrage »mit vernünftigen Argumenten nicht mehr erreichen konnte, weil sie kategorisch erklärt hatten, dass dies nicht möglich sei«. Niemand wird doch behaupten, wie Dawkins unterstellt, dass die Gottesthematik mit »vernünftigen Argumenten« nicht »erreichbar« sei – im Gegenteil; zurückgewiesen wird lediglich der oben zitierte Dawkins’sche Kurzschluss, dass »rationale Argumente« von ihm stillschweigend mit »naturwissenschaftlichen Kenntnissen« gleichgesetzt werden. Der Hinweis auf den darin zutage tretenden »szientistischen Fehlschluss« hat freilich rein gar nichts damit zu tun, dass man sich derart in eine »erkenntnistheoretische Schutzzone« begebe. Eine damit einhergehende kuriose Problemverkennung (bzw. Problemverdrehung) verrät auch die von Dawkins vertretene Auffassung, wonach »Fragen, die außerhalb des Bereichs der Naturwissenschaften liegen«, auch »außerhalb der Theologie« liegen. Soll dies etwa heißen, dass Theologie eine Erklärungsabsicht verfolgt, die dem naturwissenschaftlichen »Erkenntnisinteresse« vergleichbar wäre oder in Konkurrenz dazu stünde? Auch jene Auffassung bestätigt noch einmal eindrucksvoll, dass Dawkins jede kritische Selbstbesinnung auf Gegenstand und Methode der Naturwissenschaft und die daran geknüpfte Selbstbegrenzung vermissen lässt. Noch einmal sei betont: Worauf jener theologischerseits erhobene – von Dawkins erwähnte, jedoch zurückgewiesene – Einwurf plausiblerweise abzielt, ist offensichtlich lediglich die Einsicht, dass »Rationalität« nicht einfachhin auf diese naturwissenschaftliche Methodik eingeengt werden kann, weil auf diese Weise die Gottesfrage – so wie auch andere Fra275 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
gen, die von »höchstem Interesse« für das menschliche Dasein sind – nicht einmal angemessen gestellt werden kann (s. u. II., 2.). Hinter einer solchen Einschätzung – sie gehört freilich unabtrennbar zu einem über sich selbst (und seine Ansprüche) aufgeklärten Denken – verbirgt sich nach Dawkins lediglich die agnostizistische Auffassung, d. i. »die irrige Vorstellung, die Existenz oder Nichtexistenz Gottes sei eine Tabufrage, die für alle Zeiten außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege«. Ein solcher Hinweis auf diese methodischen Grenzen ist indes alles andere als bloße unerlaubte »Tabuisierung«, sondern insistiert lediglich auf der notwendigen genauen Abgrenzung der Problem-Ebenen, wie im Folgenden noch verdeutlicht werden soll. 11 Auch dieser Tabuisierungs-Vorwurf macht – unfreiwilligerweise – jenen szientistischen Kurzschluss sichtbar, der den »Bereich der Wissenschaft« mit demjenigen der Naturwissenschaft einfachhin identifiziert. Methodisch besonnenen Naturwissenschaftlern ist dies freilich durchaus bewusst: Dass der gegen Dawkins zu erhebende Vorwurf einer mangelnden methodischen Selbstbesinnung sich keineswegs einer metaphysischen Ignoranz bzw. einer erkenntnistheoretischen »theologischen Immunisierung« verdankt, sondern vielmehr einer Einsicht folgt, die auch von den Vertretern einer methodisch reflektierten Naturwissenschaft selbst geltend gemacht wird (sofern dieser das methodisch bedingte Abstrahieren von bestimmten Fragen ja durchaus bewusst ist), dies zeigt in erhellender Weise die prägnante Problembeschreibung des prominenten – auch philosophisch kompetenten – Physikers C. v. Weizsäcker: »Philosophie [und wohl auch kritische Theologie] stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt. Diese Ebenfalls wird Dawkins es deshalb nach wie vor als unlautere Tabuisierung bzw. als billige Ausflucht den Hinweis ansehen, dass »Seele« und »Freiheit« in der Psychologie ebenso wenig vorkommen wie Gott in der Naturwissenschaft, weil diese von allem »Seelischen« abgesehen haben muss, damit sie empirische Erforschung des Gegebenen sein kann. »Ich, Gott, Freiheit« sind keine aufweisbaren empirischen Faktoren (Gegebenheiten) und fallen entsprechend den Messern der Hirnforschung (sei es als Homunkuli, Illusionen oder jenseitige Gespenster) zum Opfer; es ist ebenso unsinnig zu fragen, wo sich das »Ich« befindet (s. Fichtes Bemerkung über das »Ich«: s. o. I., Anm. 54), wie auch »Freiheit« und »Gott« nicht als ein Gegebenes aufweisbar ist, und trotzdem muss man »ich« und Freiheit seltsamerweise voraussetzen, um beide überhaupt vernünftigerweise bestreiten zu können.
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sind insbesondere die eigenen Grundfragen des jeweiligen Faches.« 12 Es ist nicht zu übersehen, dass Dawkins genau jene kritische methodische Selbstreflexion verweigert, die selbstbesonnene Naturwissenschaftler stets ausgezeichnet hat. Wie weit ist er beispielsweise Weizsäcker 1978, 167. – Vgl. zu diesen prinzipiellen Grenzen auch die Überlegungen von H. Pietschmann in dem schon angeführten Sammelband zu Dawkins’ »Gotteswahn« (Langthaler/Appel 2010, 341–366). – Während der Arbeit an diesem Buch lese ich ein Interview mit dem renommierten österreichischen Biochemiker und früheren österreichischen Wissenschaftsminister Hans Tuppy, der genau dieses notwendige kritische Methodenbewusstsein (auch im Blick auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie) und die diesbezüglichen Defizite auf beiden Seiten benennt: »Ich glaube, dass sich die katholische Kirche als Bollwerk verstanden hat, im Wesentlichen mit Verteidigungspositionen – gegen die Ungläubigen etc. Auch die Dogmen waren ja Verteidigungsdogmen und nicht eigentlich lebensweisende Überzeugungen. Das verträgt sich nicht mit dem Stil einer Wissenschaft, die versucht, das Ergründbare zu ergründen. Wenn man gemeint hat, der Wissenschaft Grenzen setzen zu müssen, damit Glaubenswahrheiten nicht gefährdet werden, dann war das die falsche Einstellung. Es gibt prinzipiell Dinge, die der Naturwissenschaft nicht zugänglich sind. Es wäre viel schöner gewesen, das herauszuarbeiten, was die Fragen sind, die die Wissenschaft nicht ›noch nicht‹, sondern prinzipiell nicht bewältigen kann. Es gab kluge Positivisten, die das genau gewusst haben. […] Wenn man auf dem Standpunkt beharrt, dass das, was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, nicht ist, dann kann man so argumentieren [nämlich: »es gebe nichts, was die Wissenschaft nicht beantworten könne, schlechtestenfalls sei man mit der Erkenntnis nicht so weit. Aus diesen Gründen sei die Religion obsolet«]. Aber das Leben geht anders vor sich. Auch derer, die diese Meinung vertreten. Hier wird ideell ein Bereich verabsolutiert, obwohl der existenziell auch bei den Betroffenen gar nicht das Alleinige ist. Auch Richard Dawkins lebt nicht nach diesem Prinzip« (Interview mit Hans Tuppy: »Für viele Lebenswege bahnweisend«, in: Die Furche, Nr. 34 v. 21. August 2014, 14 f.). Wie wohltuend besonnen – und durchaus diesbezüglich Kant und Wittgenstein nahe! – nimmt sich diese Argumentation des methodisch besonnenen Naturwissenschaftlers im Vergleich zu den blinden Attacken und Hüftschüssen Dawkins’ aus! – Offenbar ganz ähnlich wie Tuppy sah dies bemerkenswerterweise auch der von McGrath zitierte Nobelpreisträger für Medizin, Sir Peter Medawar: »Er unterscheidet zwischen ›transzendenten‹ Fragen, die man besser der Religion und der Metaphysik überlassen solle, und Fragen zur Organisation und Struktur des materiellen Universums. Im Hinblick auf Letztere behauptet er, seien keine Grenzen gesetzt.« Gleichwohl bleibe zu beachten: »›Dass der Wissenschaft wirklich Grenzen gesetzt sind, ist aufgrund der Tatsache, dass es Fragen gibt, die die Wissenschaft nicht beantworten kann, sehr wahrscheinlich. Es ist auch nicht vorstellbar, dass wissenschaftlicher Fortschritt sie jemals beantworten können wird. Ich denke dabei an Fragen wie: Wie hat alles angefangen? Warum gibt es uns überhaupt? Was ist der Sinn des Lebens? Doktrinärer Positivismus – der mittlerweile der Geschichte angehört – tat solche Fragen allesamt als Unfragen oder Pseudofragen ab, die nur Einfaltspinsel stellen und von denen nur Scharlatane behaupten, sie beantworten zu können‹« (McGrath 2007, 46 f.). Dawkins’ hat eben für diese Fragen unbeirrbar die Zuständigkeit der Wissenschaft reklamiert – mit viel Erfolg, wie man sieht.
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von der kritischen Einsicht des Wiener Physik-Nobelpreisträgers E. Schrödinger entfernt: »Als nach und nach einerseits die religiöse Lehre erstarrte und verknöcherte, andererseits die Naturwissenschaft durch ihre radikale Umgestaltung, um nicht zu sagen Verunstaltung, des täglichen Lebens in jedermanns Bewusstsein eindrang, musste sich ein gegenseitiges Misstrauen zwischen Religion und Naturwissenschaft einstellen … Es stand zu befürchten, dass das naturwissenschaftliche Weltbild daran sei, heimlich und unvermerkt den Händen der Gottheit mehr und mehr Einfluss zu entwinden und schließlich eine selbstgenügsame Abgeschlossenheit zu erreichen, die Gott in Gefahr brachte, zu einer entbehrlichen Ausschmückung zu werden.« 13 Diese Kennzeichnung trifft zweifellos auch auf Dawkins zu, der zweifellos diesbezüglich in gewisser Hinsicht auch in der Spur Freuds steht: »Der wissenschaftliche Geist erzeugt eine bestimmte Art, wie man sich zu den Dingen dieser Welt einstellt; vor den Dingen der Religion macht er eine Weile halt, zaudert, endlich tritt er auch hier über die Schwelle. In diesem Prozess gibt es keine Aufhaltung, je mehr Menschen die Schätze unseres Wissens zugänglich werden, destomehr verbreitet sich der Abfall vom religiösen Glauben, zuerst nur von den veralteten, anstößigen Einkleidungen desselben, dann aber auch von seinen fundamentalen Voraussetzungen.« 14 Es ist in diesem Zusammenhang wohl nicht uninteressant, dass schon Goethe diese Eigenart der »methodischen Abstraktion« und Reduktion der modernen Naturwissenschaft ebenso klar erkannt hat wie die unvermeidlich ins »Weltanschauliche« abgleitenden Folgen, die daraus für einen sich selbst missverstehenden (obgleich der Sache nach nicht nur berechtigten, sondern auch unumgänglichen) »methodisch bedingten Atheismus« mangels kritischer Selbstreflexion resultieren: »Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles, was sich durch Zahl und Maß bestimmen lässt, und also gewissermaßen auf das äußerlich erkennbare Universum. Betrachten wir aber dieses, insofern uns Fähigkeit gegeben ist, mit vollem Geiste und aus allen Kräften, so erkennen wir, dass Quantität und Qualität als die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten müssen; daher denn auch der Mathematiker seine Formelsprache so hoch steigert, um insofern es möglich, in der messbaren und zählbaren Welt die unmeßbare mitzubegreifen. Nun erscheint ihm alles greifbar, fasslich 13 14
Schrödinger 1955, 16 f. Freud 1972, 119.
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Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
und mechanisch, und er kommt in den Verdacht eines heimlichen Atheismus, indem er ja das Unmessbare, welches wir Gott nennen, zugleich mitzuerfassen glaubt und daher dessen besonderes oder vorzügliches Dasein aufzugeben scheint.« 15 Wie das Beispiel Dawkins’ selbst besonders eindringlich belegt, haben diese Überlegungen Goethes in grundsätzlicher Hinsicht nichts an Aktualität verloren; sie zeigen einerseits die ungeahnten Möglichkeiten an, die diese naturwissenschaftliche Methodik eröffnet, andererseits verweisen sie jedoch auf die latente Gefahr, die eben in dem »Vergessen« dessen besteht, wovon diese Methodik abgesehen hat bzw. was sie eben aufgrund dieser Methode voraussetzt. 16
1.1 Anmerkung: Jüngere kritische kirchlich-theologische Stellungnahmen zum sogenannten »Evolutionismus« Sein mit weitschweifiger Phantasie ausgestatteter Empörungsbedarf und die damit einhergehende Problemblindheit (sowie vermutlich sein besonders ausgeprägter anti-katholischer Affekt) erlauben es Dawkins – ungeachtet seiner Berufung auf »rationale Argumentation« und Wahrheitssuche – offenbar leider nicht, wenigstens das sachliche Anliegen wahrzunehmen, das auch von kirchlicher bzw. theologischer Seite bezüglich dieser Themen geltend gemacht wird 17: Die von Dawkins – auch nach seinem Buch »Der Gotteswahn« – so J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen 486. Sehr zu Recht merkt der katholische Theologe Lohfink mit direktem Blick auf Dawkins dazu an: »Damit wurde aus einer richtigen und durchaus sachgerechten methodischen Selbstbeschränkung eine Welttheorie, und zwar eine rein naturwissenschaftliche Welttheorie, die ein Monopol beanspruchte, nämlich das Monopol, die Welt adäquat erklären zu können – und zwar ohne Gott. Aus einer methodisch sinnvollen selektiven Sicht der Welt wurde eine Gesamt-Theorie der Wirklichkeit. Und das war ein schwerer methodischer Fehler, der seriösen Wissenschaftlern nicht passieren darf« (Lohfink 2013, 20). Das Urteil klingt vielleicht hart, jedoch trifft es zu: »Es gibt aber Naturwissenschaftler wie etwa Richard Dawkins, welche die vorgegebenen Grenzen ihrer Methoden nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen. Sie machen aus der Naturwissenschaft einen Universalschlüssel für die Erklärung der Welt und des Menschen« (Lohfink 2013, 28). 17 Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass nachfolgend lediglich einschlägige Stellungnahmen von hohen Amtsträgeren und Theologen der römisch-katholischen Kirche angeführt werden (die Dawkins ja ganz besonders im Visier hat). Weil Dawkins’ Polemik sich in besonderer Weise gegen die römisch-katholische Kirche wendet, kommen auch nur sie im Folgenden zu Wort – nicht zuletzt deshalb, weil Dawkins hier 15 16
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unbeirrt behauptete »Schöpfungslüge« ignoriert beharrlich die auch kirchlicherseits geltend gemachte »klare Abgrenzung« gegen den sogenannten »Kreationismus«, »der sich der Wissenschaft grundsätzlich verschließt«. Dawkins spielt hier augenfällig mit falschen Karten, wie man unschwer auch aus seiner Stellungnahme in der Fernsehsendung »Sternstunde Religion« ersehen kann: Hier behauptet er ausdrücklich, dass sich auch sein Buch »Die Schöpfungslüge« (aus dem Jahr 2010) vornehmlich gegen fundamentalistische »evangelikale« bzw. »kreationistische« Kreise wende – bzw. an jene kirchlich-theologischen Kreise, die zwar als solche die Evolutionstheorie akzeptieren, gleichwohl in der Verkündigung noch immer gewissermaßen »kreationistischen Nonsens« verbreiten. Die Frage liegt nahe: Erschöpft sich dann auch Dawkins’ Vorwurf einer »Schöpfungslüge« in dem – freilich nur allzu berechtigten, allerdings dann auch recht harmlosen – Einspruch dagegen, die Bibel in diesen Schöpfungstexten »wörtlich zu nehmen« 18? Dann hätte er freilich in einer aufgeklärten Theologie, aber natürlich auch in den christlichen Kirchen hilfreiche Verbündete, was ihm allerdings vermutlich nicht unbedingt zur Freude gereicht. Wer dann freilich von dieser harschen Kritik und dem Vorwurf einer »Schöpfungslüge« getroffen sein soll, bleibt unerfindlich; hartnäckig verschließt sich Dawkins jedenfalls dem Sachverhalt, dass auch höchste kirchliche Kreise in Katechesen und Vorträgen u. Ä. sich ganz ausdrücklich von diesem von ihm so leidenschaftlich bekämpften »Kreationismus« distanzieren. Dawkins’ sture Behauptung so wie der – natürlich wieder sehr kämpferisch angelegte, »Memtheoretisch« schlaue, obgleich völlig irreführende – Titel »Die Schöpfungslüge« lässt sich nur aus der Sorge verstehen, dass ihm das Zielwohl nicht behaupten wird, dass es sich dabei lediglich um nicht-repräsentative abtrünnige Theologen jenseits der Rechtgläubigkeit handelt. 18 Dagegen richtet sich Dawkins’ zufolge sein Buch »Die Schöpfungslüge« (so seine Auskunft in »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur. – Großzügigerweise erwähnt er in dieser im Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Sendung, dass es eines Buches wie »Die Schöpfungslüge« in einem Land wie der Schweiz auch nicht bedarf – womit er zweifellos nicht nur im Blick auf die Schweiz Recht hat. Sodann macht er geltend, dass sich sein Buch aber vorrangig gegen die kreationistischen Strömungen Amerikas richtet – das rechtfertigt jedoch mitnichten den gewählten Titel dieses Buches; dessen Zielsetzung und der erklärte »Adressatenkreis« dieses Buches verträgt sich auch nicht ganz mit dem für die deutsche Übersetzung gewählten reißerischen Titel. Dieses Beispiel macht aber recht gut die Strategien Dawkins’ sichtbar und verdeutlicht sein Mem-theoretisch gestütztes Ziel, möglichst viele Menschen zu überreden bzw. mit »geistigen Viren« zu infizieren (s. o. I., 2.2.1).
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Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
Objekt seiner Polemik bzw. seines erbärmlichen Spotts abhandenkommen könnte. Und man muss sich wundern, dass auch die Mitglieder der »Richard Dawkins-Stiftung«, die sich als eine »Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« versteht, ihrem Vorsitzenden diese weltanschaulichen Ausritte offenbar bedenkenlos durchgehen lassen – im Unterschied zu wichtigen (zum Teil ehemaligen) Mitgliedern der deutschen »Giordano-Bruno-Stiftung«, die auch inzwischen zu Dawkins aus sachlichen Gründen auf entschiedene Distanz gegangen sind. 19 Als ein profunder Analytiker einschlägiger Themen wurde er offenbar auch von ihnen nicht geschätzt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Dawkins’ scharfe Polemik gegen die »Schöpfungslüge« und damit unmittelbar verbundene Themen erweist sich, erneut ganz in der Spur jenes berühmten »Ritters von der traurigen Gestalt«, als ein beherzt und aufwendig geführter Kampf – gegen »Windmühlen«. Einige kirchliche Stellungnahme gegen die Nivellierung des Unterschieds zwischen einer methodisch besonnenen naturwissenschaftlichen Theoriebildung über die »Evolution des Lebendigen« und einer metaphysischen Gesamtdeutung der Welt sollen dies belegen bzw. verdeutlichen: So stellte schon bei einem Symposium (im Jahr 1985) Kardinal Ratzinger beispielsweise unmissverständlich fest: »Auf keinen Fall sollte der Anschein eines neuen Streits zwischen Naturwissenschaft und Glaube entstehen, um den es in der Tat in diesem Gespräch in keiner Weise geht. Die eigentliche Gesprächsebene ist die des philosophischen Denkens: Wo Naturwissenschaft zur Philosophie wird, ist es die Philosophie, die sich mit ihr auseinandersetzen muss. Nur so stehen die Gesprächsfronten richtig; nur so bleibt deutlich, worum es sich handelt: um einen rationalen philosophischen Disput, der auf die Sachlichkeit rationalen Erkennens abzielt, nicht um einen Einspruch von Glaube gegen Vernunft« 20. Vielmehr eröffne die kritische Einschränkung der Erkenntnisansprüche ein mit dem Gottesglauben durchaus vereinbares Wirklichkeitsverständnis. Der allgemeine »Fortschritt« im Bewusstsein der wissenEs ist zu bedauern, dass ein – anlässlich jenes schon erwähnten 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien von der Katholisch-Theologischen Fakultät ausdrücklich gesuchtes Gespräch zum Thema »Der Atheismus als intellektuelle Herausforderung des 20. Jahrhunderts« auch mit Vertretern des »Modernen Atheismus«, an dem auch Vertreter der Giordano-Bruno-Stiftung teilnehmen sollten, aus finanziellen Gründen nicht zustande kommen konnte. 20 Ratzinger 1986, VIII. 19
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schaftlichen Methoden (somit auch ihrer Ansprüche und Grenzen) erlaube – und erfordere – es demnach, den »Streit der Fakultäten« in ein konstruktives Gespräch zwischen Wissenschaft und Religion zu verwandeln. Ausdrücklich betonte Papst Benedikt XVI. in solcher Hinsicht, dass »es für den Glauben heute keine Schwierigkeit mehr [!] bereitet, die naturwissenschaftliche Hypothese Evolution sich gemäß ihrer eigenen Methoden ruhig entfalten zu lassen« 21, und anerkennt dabei durchaus den Status der Evolutionstheorie als einer Theorie über die Entwicklung und den gestuften Zusammenhang aller Gestalten des Lebendigen und seiner jeweiligen »Umwelten«. Wiederholt hat der spätere Papst klargestellt: Keinesfalls sei die exakte wissenschaftliche Arbeit an der Evolutionstheorie als einer naturwissenschaftlichen Theorie ein strittiges Problem, vielmehr deren stillschweigend vollzogene »Umfunktionierung« in ein philosophisches Erklärungsmodell mit Totalanspruch bzw. »Generalzuständigkeit«. Ähnlich hat er in der Schlussfolgerung einer Rede an der Sorbonne ausdrücklich die Forderung erhoben, schiefe Alternativen zu vermeiden bzw. endlich zu überwinden: »Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie [22] und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muss daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist.« 23 Allerdings scheint der (relativierende?) Hinweis darauf wenig zielführend – weil selbstverständlich –, dass die Evolutionstheorie So J. Ratzinger (1986, VII) in seinem Geleitwort zu R. Spaemann u. a. 1986. So eindeutig diese Stellungnahmen jüngeren Datums auch sind, so kann dies freilich nicht darüber hinwegsehen bzw. vergessen lassen, dass noch ca. 100 Jahre zuvor (im Jahr 1875) Charles Darwin beispielweise nur gegen großen kirchlichen Widerstand zum Ehrenmitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften ernannt werden konnte – gewiss kein bloß »österreichisches Phänomen« … Das darf nicht einfach verschwiegen werden. 22 Den Eindruck eines solchen vermessenen Anspruchs erweckt in der Tat Dawkins’ Rekurs auf »letztgültige darwinistische Erklärungen« (Gotteswahn 234), die dabei allerdings weit über eine methodisch besonnene naturwissenschaftliche Theorie hinauszielt und dabei den Boden ihrer Theoriebildung verlässt. 23 Benedikt XVI. 2003, 144. Dawkins’ abwehrende Stellungnahme zu diesen affirmativ-anerkennenden Bezugnahmen von päpstlicher bzw. kirchlicher Seite (vgl. dazu Peetz 2013, 41 f.) ist deshalb alles andere als überzeugend bzw. berechtigt, sondern läuft auf eine bloße Immunisierung hinaus. 21
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noch viele Fragen »offen lässt« 24 – für welche naturwissenschaftliche Theorie trifft dies nicht zu? Indes, in einer wissenschaftstheoretischen Hinsicht geradezu irreführend bzw. verfehlt ist der seitens des Papstes gegen die Evolutionstheorie geäußerte Vorbehalt, »dass die Evolutionstheorie noch keine komplette, wissenschaftlich verifizierte [!] Theorie ist« 25 – siebzig Jahre nach Poppers »Logik der ForDass die Evolutionstheorie – so wie alle auf empirischer Forschung beruhende Theoriebildung – mit »Hypothesen« operiert (und selbst hypothetisch ist), ist natürlich kein Einwand gegen sie, sondern kennzeichnet eben lediglich ihren Status als empirische Theorie – ebendies impliziert auch die darin verbleibenden Erklärungslücken, ihre Korrekturbedürfigkeit und ihren stets unabschließbar provisorischen Charakter, ohne den wissenschaftlicher Fortschritt in der wissenschaftlichen – stets falliblen – Forschung nicht denkbar wäre. Niemandem wird es jedoch vernünftigerweise einfallen, daraus einen Einwand gegen die naturwissenschaftliche Alternativlosigkeit der Evolutionstheorie ableiten zu wollen. Ist der »hypothetische Charakter« für empirische Forschung bzw. Theoriebildung (und entsprechendes Fortschreiten) konstitutiv, so erklärt sich schon daraus, weshalb die Frage nach dem »Dasein Gottes« – im Unterschied zur Frage nach der Existenz von Phlogiston oder des Äthers – keine sinnvolle wissenschaftliche Hypothese sein kann. Niemandem wird es – ungeachtet der selbstverständlich offenen Fragen – deshalb einfallen, die »Evidence for Evolution« (so der Untertitel eine neuen Dawkins-Buches) anzuzweifeln; gleichwohl bleibt es lächerlich – wie weithin üblich –, dies im Gefolge Dawkins’ gegen den Schöpfungsglauben ins Treffen zu führen. 25 Horn/Wiedenhofer 2007, 151. Dass diese Erwartung nicht so ganz der »Logik der Forschung« entspricht, sollte sich auch in höchsten kirchlichen Kreisen inzwischen herumgesprochen haben – ebenso wie das durchaus Verfehlte des vermeintlich einsichtigen Zugeständnisses: »Die Evolutionstheorie ist mehr als eine Hypothese« (Horn/Wiedenhofer 151), an dem wohl kaum ein wissenschaftstheoretisch einigermaßen besonnener Evolutionstheoretiker – mehr als 70 Jahre nach Poppers »Logik der Forschung« – eine besondere Freude haben, sondern eher ein elementares wissenschaftstheoretisches Missverständnis erkennen wird … Dass dieser Einwand in modifizierter Form freilich auch Dawkins’ Rekurs auf die »gescheiterte Gotteshypothese« betrifft, kann nicht einmal ein schwacher Trost sein. Und natürlich ist es ebenso falsch, wenn Dawkins behauptet: »Die Evolution ist eine falsifizierbare und deshalb wissenschaftliche Theorie« (Schöpfungslüge 119): denn die Evolution ist ja keine keine Theorie, sondern die Evolutionstheorie ist eine sehr gut belegte, falsifizierbare Theorie über die Evolution des Lebendigen und die darin bestimmenden Gesetzmäßigkeiten; andernfalls könnte Dawkins ja auch nicht andernorts behaupten: »Evolution ist nicht nur faktisch ein allmählicher Prozess, sie muss auch allmählich ablaufen, wenn man mit ihr irgendetwas erklären will« (Schöpfungslüge 177); erklären will man aber wohl etwas mit der Evolutionstheorie über die Evolution? Aus den genannten wissenschaftstheoretischen Gründen ist auch die Bemerkung Henkels nicht nur irreführend, sondern sinnlos: »Die Evolutionstheorie, die aufgrund unzähliger Belege längst weitaus mehr ist als eine Theorie, kann zwar nicht als Beweis gegen den Gottesglauben dienen« (Henkel 202) – im Gegenteil: Aufgrund der zahllosen empirischen Befunde kann und muss die Evolutionstheorie gerade als eine sehr gut belegte und 24
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schung« nimmt sich eine solche Bemerkung doch ein wenig eigenartig aus – doch das ist hier nicht das Thema. 26 Ebenso wies Kardinal Schönborn (in direkter Bezugnahme auf Papst Benedikt XVI.) ausdrücklich darauf hin, »was wohl in der öffentlichen Debatte meist übersehen wird: Die Alternative lautet doch nicht: entweder Kreationismus oder Evolutionismus! Sie heißt auch nicht: Entweder Glaube oder Wissenschaft! Es geht vielmehr um die philosophische Frage, was denn Reichweite und Grenzen der streng quantitativen Methode der Naturwissenschaften sei: Zwischen Glauben und Naturwissenschaften bedarf es als vermittelnder Instanz der Philosophie. Die Philosophie ist gefragt, um Grenzen der naturwissenschaftlichen Methoden und ihrer Reichweite zu formulieren, um Grenzüberschreitungen aufzudecken, um Verengungen des Vernunftbegriffs zu öffnen. Eine gute Philosophie der Natur kann helfen, die heute auf beiden Seiten drohenden Fundamentalismen zu vermeiden, den religiösen und den wissenschaftlichen.« 27 In diesem Sinne ist bewährte wissenschaftliche Theorie gelten, zu der es nach dem Stand der Forschung offenbar überhaupt keine plausible Alternative gibt. Es ist seltsam, dass man gegenüber Atheisten, die sich hierfür auf die Entwicklung und Errungenschaften der modernen Wissenschaften berufen, den sehr gut begründeten Theorie-Status der »Evolutions«- bzw. »Deszendenztheorie« erläutern bzw. würdigen und somit auch verteidigen muss … – Völlige Ahnungslosigkeit verrät freilich auch die – absatzorientierte – Ankündigung des Dawkins-Buches »Die Schöpfungslüge« durch den Ullstein-Verlag, wenn es da – lediglich mit umgekehrten Vorzeichen – heißt: »Richard Dawkins tritt den Beweis an, dass die Evolutionstheorie keine bloße Hypothese oder gar Glaubenssache ist, sondern dass sie schlicht und ergreifend stimmt«. Entsprechend wird die Auffassung, »warum Darwin Recht hat«, mit viel »memetischem« Spürsinn (und an den Sachproblemen punktgenau vorbei) für die These in Anspruch genommen: »Es gibt keine Schöpfung«. Nicht weniger »schlicht und ergreifend« ist dazu anzumerken, dass man sich derart in Disjunktionen bewegt, die sich einer völligen Verzerrung der Sachfragen verdanken. 26 Schwer nachvollziehbar ist Mynareks erstaunliche Auskunft, »dass man die Evolutionslehre darwinistischer wie neodarwinistischer Provenienz als interessantes, vielleicht sogar ästhetisches Weltbild betrachten kann, aber nicht als Wissenschaft« (Mynarek 2010, 120): »Darwinismus und Neodarwinismus können nicht als Wissenschaft gelten, weil sie die grundlegenden Kriterien jeder Wissenschaft nicht erfüllen: Beobachtung, experimentelle Wiederholbarkeit (Reproduzierbarkeit), Überprüfbarkeit« (Mynarek 2010, 118). Da stehen offenbar z. B. Papst Benedikt XVI. und Kardinal Schönborn der Evolutionstheorie als einer naturwissenschaftlichen Theorie näher als Mynarek. 27 Kardinal Schönborn über »Schöpfung und Evolution« in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. – Dass auch kirchliche Instanzen ausdrücklich vor einem fundamentalistischen Bibelverständnis warnen, hätte Dawkins wohl in Erfahrung bringen können; Ähnliches gilt für ein theologisches bzw. kirchliches Verständnis
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es für den Papst natürlich ganz selbstverständlich, »dass es nicht darum geht, sich entweder für einen Kreationismus zu entscheiden, der sich der Wissenschaft grundsätzlich verschließt, oder für eine Evolutionstheorie, die ihre eigenen Lücken überspielt und für die über die methodischen Möglichkeiten der Naturwissenschaft hinausreichenden Fragen nicht sehen will. Es geht vielmehr gerade um dieses Zusammenspiel von verschiedenen Dimensionen der Vernunft, in dem sich auch der Weg zum Glauben öffnet«; demzufolge machte Benedikt XVI. jedoch auch geltend, dass die Evolutionstheorie »sich nicht Fragen verschließen darf, die über ihre methodischen Möglichkeiten hinausgehen. Denn die Evolutionstheorie impliziere entscheidende Fragen, »die der Philosophie zugeordnet werden müssen und von sich aus über den Innenbereich der Naturwissenschaften hinausführen« 28. Dass die Klärung solcher Fragen mit Dawkins dem Gesagten zufolge nicht ganz einfach sein dürfte, zumal dieser, ungeachtet seiner angeblichen besonderen philosophischen Interessen, »einen Philosophen fast als jemanden definieren« möchte, »der den gesunden Menschenverstand als Antwort nicht anerkennt« (Gotteswahn 116), 29 versteht sich wohl von selbst; dass nicht zuletzt solche polemische Äußerungen und auch sein tatsächlicher Umgang mit philosophivon Offenbarung und Inspiration (z. B. die Offenbarungskonstitution »Dei verbum« des II. Vat. Konzils) – noch dazu, wo Dawkins selbst besonders die katholische Kirche zu dem bevorzugten Objekt seiner Polemik auserwählt hat. 28 Horn/Wiedenhofer 2007, 149 f. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Th. Nagel: Nagel sucht nach Möglichkeiten jenseits von »Materialismus und Theismus« (GuK 39) und plädiert dabei nicht so sehr für fertige Lösungen, sondern für ein sachgemäßes Offenhalten der Probleme, d. h. »für die Anerkennung des Problems zu argumentieren, nicht Lösungen anzubieten« (GuK 54). In diesem Sinne vermag er auch motivliche – nicht reduktionistische – Anliegen von manchen Intelligent-design-Vertretern partiell zu würdigen: »Das am Theismus selbst für einen Atheisten Interessante ist, dass er das, was in der physikalischen Wissenschaft offenbar keine Erklärung findet, auf andere Weise zu erklären versucht« (GuK 38). 29 Indes bedarf dieser »gesunde Menschenverstand« – und mehr noch: die Berufung auf ihn! – nicht selten einer »medicina mentis«. Auf den »gesunden Menschenverstand« sich zu berufen, ist deshalb freilich eine heikle Sache – denn dass diese Berufung auf den vermeintlich »gesunden Menschenverstand« oftmals selbst eher »ungesund«, jedenfalls mitunter »von des Gedankens Blässe angekränkelt« ist, ebendies hat das kritische Geschäft der Philosophie als »Polizei der Vernunft« zu erweisen. Dawkins’ angeführte polemische Auskunft über den »gesunden Menschenverstand« steht freilich wiederum in einer auffälligen Spannung zu seiner Beteuerung, dass ihn in ganz besonderer Weise »die philosophischen Fragen« interessieren; seine auffällige ausgeprägte Ignoranz der thematisch einschlägigen philosophischen Sachthemen bzw. der relevanten Positionen lässt wohl eher das Gegenteil vermuten.
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schen Themen das von ihm bekundete philosophische Interesse erneut eher als zweifelhaft erscheinen lassen, sei nur beiläufig erwähnt. Über sich selbst aufgeklärte »Aufklärer« – die im Dienst an der Wahrheit angeblich »alles in Frage stellen« – sehen jedenfalls anders aus. Das von Benedikt XVI. ausdrücklich als unverzichtbar angesehene Gespräch wird freilich schon durch polemische Titel wie »Die Schöpfungslüge« vereitelt, zumal dieser sich offenbar nicht vorrangig von »Wahrheitssuche« leiten lässt, sondern sich eher um die erfolgreiche Verbreitung von anderen »geistigen Viren« bemüht. Man darf sich nicht täuschen lassen: Wer so agiert, sollte sich jedenfalls über »Wissenschaftsfeindlichkeit« nicht beklagen. Ein ernsthaftes Gespräch wird eben durch derartige Aktionen und durch die von Dawkins und seinen blinden Parteigängern unsinnigerweise suggerierten Alternativen geradewegs verhindert. Nur nebenbei: Dawkins’ hemmungsloser Entrüstungsbedarf – der die von ihm beteuerte Wahrheitssuche offenbar mitunter erheblich beeinträchtigt – verführt ihn auch zu sehr abschätzigen persönlichen Bemerkungen (die übrigens auch recht eindrucksvoll vor Augen führen, was von seiner Beteuerung zu halten ist, es sei ihm überhaupt nicht um persönliche Beleidigungen zu tun …) – so etwa seiner Äußerung über den Wiener Kardinal Schönborn: »Dieser törichte Mensch langweilt mich so.« 30 Indes, solche von Dawkins beklagte »Langeweile« ließe sich durch geeignete Lektüre unschwer überbrücken oder überhaupt vermeiden; den mit solcher »Langeweile« einhergehenden gesteigerten Empörungsbedarf hätte wohl auch die Problemeinschätzung des Wiener Kardinals wenigstens mildern können, der sich gegenüber hartnäckigen primitiven Klischees ausdrücklich und wiederholt zu der Feststellung veranlasst sah: »Nein, die Idee der Erschaffung fertiger einzelner Wesen oder Arten ist absurd. Sie ist so unhaltbar wie die kreationistischen Thesen von einer Erschaffung der Welt in sechs 24-Stunden-Tagen, wie die pseudowissen»Die Presse«, Print-Ausgabe v. 10. 08. 2013. Dieser gelangweilte Überdruss könnte freilich, genauer besehen, auch damit zusammenhängen, dass Dawkins’ Polemik gegen die angebliche »Schöpfungslüge« ganz einfach schon deshalb ins Leere läuft, weil natürlich auch Kardinal Schönborn die naturwissenschaftliche Befunde der Evolutionstheorie keineswegs in Frage stellt und damit vielleicht für Enttäuschung sorgt bzw. beim kämpferischen Eifer Dawkins’ ungewollt besondere »Langweiligkeits«-Erfahrungen auslöst. Man wünscht sich die Gegen-Position möglichst primitiv – dies ist es nicht selten, was den Polemik-Bedarf mit Leben erfüllt, begleitet von der Sorge, es könnte das Objekt der Polemik abhandenkommen.
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schaftlichen Spekulationen über eine ›junge‹ Erde, über eine historische Deutung der Sintflut, etc.[31] … Es ist auffallend, dass in Darwins Kritik an den einzelnen Schöpfungsakten diese ganz wie materielle Ursachen verstanden (und daher zu Recht abgelehnt) werden. Gott erscheint als eine Ursache neben anderen, ›innerweltlichen‹, materiellen Ursachen. Das kann aber nicht der Sinn von ›Schöpfung‹ sein. Wenn der Begriff der Schöpfung einen Sinn haben soll, dann nicht als eine Ursache unter anderen in der Kette der Wirkursachen. Genau hier liegt m. E. der Fehler der ›Intelligent Design‹-Schule (mit der ich zu Unrecht immer noch in Verbindung gebracht werde). Der Versuch dieser Schule, hohe Komplexität in der Natur als Aufweis oder Beweis für ein ›intelligent design‹ zu bewerten, krankt an dem fundamentalen Denkfehler, dass ›design‹, Plan, Zielgerichtetheit nicht auf der Ebene der Kausalität gefunden werden kann, mit der sich die naturwissenschaftliche Methode befasst« 32. Damit ist freilich lediglich ein Problem formuliert – wurde dies jedoch schon zur Kenntnis genommen? Es fällt offenbar manchen Kreisen der »brights« nicht ganz leicht, einschlägige Klarstellung kirchlicherseits zur Kenntnis zu nehmen (ist es die notwendige Klischee-Pflege, die ihn daran hindert?): »Es ist aber eine … unstatthafte Simplifizierung, den bibelfundamentalistischen Kreationismus mit einem fundierten Schöpfungsglauben ›in einen Topf zu werfen‹, was häufig geschieht. Das Bibelverständnis des Kreationismus ist sicher nicht das der Katholischen Kirche und das der großen christlichen Denktradition« 33. Der hartnäckigen Weigerung, dies zur Kenntnis zu nehmen, verdanken sich – unter dem evolutionären Aspekt der »Mem-Tauglichkeit« ge-
Für die theologischen Laien unter den Leser/-innen sei hier auch darauf hingewiesen, dass der um eine Vermittlung von Bibel und griechischer Philosophie (bes. Platon) bemühte jüdische Philosoph Philon v. Alexandrien (gestorben ca. 50 n. Chr.) zwischen dem »buchstäblichen« und dem »geistigen Sinn« der Bibel unterschieden hat und die Vorstellung als »einfältig« verwarf, dass die Erschaffung der Welt in sechs Tagen wörtlich zu nehmen sei; ebenso finden sich schon bei ihm bemerkenswerte Hinweise darauf, dass die »Schöpfung« der Welt nicht selbst »in der Zeit« zu denken sei und die Zeit nicht der Schöpfungswirklichkeit vorausliegen könne. 32 Vortrag von Kardinal Schönborn über »Schöpfung und Evolution« v. 9. März 2009. – Das sich hartnäckig erhaltende und (offensichtlich nicht ganz frei von weltanschaulichen Interessen) auch »gepflegte« Gerücht, dass Kardinal Schönborn mit der »Intelligent Design«-Position sympathisiere bzw. diese selbst vertrete, hat der Wiener Kardinal also eindeutig als falsch zurückgewiesen. 33 Ebd. 31
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wiss erfolgreiche – Titel wie »Die Schöpfungslüge«. Nur: Auf »intellektuelle Redlichkeit«, auf vorbehaltslose »Wahrheitssuche« im Dienste der »Aufklärung«, auf angebliches großes »philosophisches Interesse« sollte man sich dann allerdings nicht länger berufen … Bemerkenswert scheint mit Blick auf diese seit seinem »Gotteswahn« erschienen Bücher doch vor allem dies zu sein, dass Dawkins mit antikreationistischem Impetus auch darin hartnäckig einen Kreationismus bekämpft, den, außer in fundamentalistisch-sektiererischen Kreisen, in einem akademischen Umfeld ohnehin nicht nur niemand vertritt, sondern der auch von kirchlicher und theologischer Seite entschieden kritisiert wird. 34 Dawkins, der unermüdlich die »Leere der Theologie« diagnostiziert, ist wohl das prominenteste – und medienwirksamste – Beispiel dafür, dass man sich dieser für eine kritische Theologie selbstverständlichen Haltung auch dauerhaft erfolgreich entziehen kann – wie gesagt: möglicherweise auch, um den mühsam angereicherten und stabilen Klischee-Membestand nicht zu gefährden. Er weigert sich ganz einfach, wie auch seine jüngsten einschlägigen Publikationen belegen, 35 hartnäckig dagegen, diese kirchlichen Stellungsnahmen zur Evolutionstheorie zur Kenntnis zu nehmen; stattdessen scheut er auch vor groben Beleidigungen nicht zurück – ein eindrucksvoller Beleg dafür, was man sich unter dem Leitbild der Dawkins-Stiftung »Mehr Vernunft und weniger glauben« bzw. der »intellektuellen Redlichkeit« näherhin vorzustellen hat, auf die man sich doch so viel zugutehält? Was bleibt genauer besehen also übrig von Übrigens anerkennt selbstverständlich auch der von Dawkins vielgescholtene Oxforder Theologe R. Swinburne den Status und die Unverzichtbarkeit der Evolutionstheorie als einer empirischen Theorie, auch wenn seine Auffassung in anderen Hinsichten schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt bleibt. 35 Auch in der Öffentlichkeit beschwört Dawkins im Blick auf sein Buch »Die Schöpfungslüge« falsche Alternativen und unterstellt Auffassungen, die kaum jemand von theologischer und kirchlicher Seite vertritt; er verwechselt offenbar einen ihm lieb – und auch unverzichtbar – gewordenen »Memkomplex« mit den tatsächlich nach wie vor zwischen Evolutionsbiologie, Philosophie und Theologie diskussionsbedürftigen Fragen; auch in den Medien scheut er sich nicht (s. die Sendung »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur) zu behaupten, dass kirchlicherseits »Religion als Konkurrenz gegen die Wissenschaft ins Feld geführt wird mit Hilfe der Erklärung: Das hat Gott gemacht« – und dagegen, so Dawkins, richtet sich sein Hauptinteresse bzw. seine Hauptkritik. Wenn dies tatsächlich so ist, dann muss man allerdings sagen, dass sein »Hauptinteresse« und das Objekt seines Protestes – buchstäblich – gegenstandslos ist. 34
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seinem Vorwurf einer »Schöpfungslüge« – außer dem, dass diese biblischen Texte offenbar völlig unsinnig werden, wenn sie als Konkurrenzunternehmen zur Evolutionstheorie verstanden werden? Wer aber behauptet dies außer den in der »clear thinking oasis« Beheimateten und Dawkins, der sich darüber auch in seinem Comic-Bilderbuch »Der Zauber der Wirklichkeit« in pädagogischer Absicht entsprechend auslässt? Der in Berufung darauf, dass »Darwin Recht hat«, geäußerte Vorwurf einer »Schöpfungslüge« ist jedenfalls durch nichts gerechtfertigt. 36 Es hat sich erwiesen: Was Dawkins’ suggestive Tonlage als wissenschaftsfeindliche Haltung unterstellt, steht vielmehr selbst in direktem Gegensatz zu kirchlicherseits geltend gemachten Problemeinschätzungen. Hingegen pflegt Dawkins unverdrossen seine offenbar ja sehr erfolgreichen Klischees – unterstützt von bzw. vereint mit gleichermaßen Überlebensvorteil-orientierten Medien im harten Kampf um weltanschauliches Terrain und um »Marktanteile« angesichts knapper werdender Ressourcen. Dawkins’ Empörungseifer macht ihn aber auch blind und immun gegen die kirchlicherseits durchaus eingeräumte und empfohlene Zurückhaltung und Ratlosigkeit, die sich im ungetrübten Blick auf die Wirklichkeit einstellt: »Es gibt … noch einen weiteren Grund, der den Darwinismus plausibel macht. Der Glaube an einen guten Schöpfer … wird durch die schier endlosen Grausamkeiten in Frage gestellt: – warum dieser mühevolle Weg der Evolution, mit zahllosen Versuchen, Sackgassen, mit den Milliarden von Jahren an Zeit und Expansion des Universums; die gigantischem Explosionen der Supernovae, das Kochen der Elemente in den Kernfusionen der Sterne, die Knochenmühle der Evolution mit ihren endlosen Anläufen und Vernichtungen, ihren Katastrophen und Grausamkeiten, bis hin zu den unfassbaren Brutalitäten des Lebens und Überlebens? Ist es da nicht sinnvoller, das Ganze als das blinde Spiel von Zufällen einer planlosen Natur zu sehen? Ist das nicht ehrlicher als die Theodizee-Versuche eines Leibniz, die in große Argumentationsnot kommen? Ist es nicht plausibler, einfach zu sagen: ja, so grausam ist die Welt eben? … Versuchen wir nicht vorschnell, apologetisch überall das ›intelligent design‹ zeigen zu wollen. Nicht zuletzt mit Blick auf diese behauptete »Schöpfungslüge« erweist sich übrigens N. Hoersters Kritik daran, dass Dawkins zu Unrecht bzw. zu vordergründig die Evolutionstheorie gegen den »Gottesglauben« ausspiele, als völlig berechtigt (Vgl. FAZ, v. 26. 11. 2011, 36).
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Wie Hiob wissen wir die Antwort auf das Leid nicht. Wir haben nur eine Antwort bekommen. Die hat Gott selber gegeben.« 37 Auch wer der daran geknüpften – erwartungsgemäß am christlichen Kreuzes- bzw. Erlösungsmotiv orientierten – Antwort des Wiener Kardinals zu der – tatsächlich den »Fels des Atheismus« darstellenden – Theodizee-Frage nicht zustimmen will, d. h. sie nicht für überzeugend hält, wird ungeachtet dessen jedoch wohl einräumen müssen, dass die darin artikulierte Sensibilität und redliche Ratlosigkeit Respekt verdient und jedenfalls auch jene aggressive – und vor böswilligen Unterstellungen nicht zurückscheuende – Tonlage verbietet, die Dawkins gegenüber kirchlichen Amtsträgern, Theologen, aber auch überhaupt gegenüber religiösen Menschen anschlägt. 38 Sein a priori leitender Verdacht, dass die theistische Position sich lediglich einer intellektuellen Unredlichkeit verdankt, ist das sicherste Schutzschild und die schlechteste Ausrede dafür, sich eine ernsthafte Auseinandersetzung zu ersparen. Kein ernsthaft gläubiger Mensch wird vor der Herausforderung und »Anfechtung«, die das Theodizee-Problem als »Fels des Atheismus« für den Glauben in der Tat bedeutet, die Augen verschließen bzw. dieses »kleinreden« oder durch Zuflucht in gedankenlose »Erklärungen« erledigen wollen; indes, als ein solcher »Fels« wird die Frage »Warum leide ich?« wohl kaum gelten dürfen, zumal doch auch dies, lediglich spiegelverkehrt zu einer bloß wunschfixierten »Hoffnung«, den leid-sensiblen Anspruch einer »teilnehmenden Vernunft« (Kant) geradewegs verrät… (s. dazu auch u. II., Anm. 121).
Schönborn 2007a, 97. Auch wenn man die Kontroverse bzw. Alternative »Evolutionstheorie – Schöpfungsglaube« weithin als Scheinproblem ansieht, bleiben freilich die durch den nüchternen Blick auf die Natur und Geschichte genährten Irritationen über diese ungeheuren Dimensionen von Grausamkeit, Leiden und Widersinn, die in naturgeschichtlichen und weltgeschichtlichen Katastrophen in so bedrängender Weise entgegentreten. Niemand wird das Theodizee-Problem übersehen, es wegreden oder theologisch glätten wollen – aber für Mem-gesteuerte »Überlebens-Maschinen« gibt es diese Probleme erfreulicherweise ohnehin nicht. 38 Auch in dieser Hinsicht wohltuend ist im Gegensatz zu Dawkins die – zur Theologie und Vereinnahmungen entschieden auf Distanz bedachte – Position von Th. Nagel, der freilich auch diese Theodizee-sensiblen Seiten der Evolution anspricht. 37
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1.2 Dawkins’ Insistieren auf der »Gotteshypothese«, seine Verkennung der Notwendigkeit eines »methodischen Atheismus« und seine verfehlte Kritik an »agnostizistischen Halbherzigkeiten« und Inkonsequenzen Indes, auch ein Agnostizismus, der die Gottesfrage nicht nur als wissenschaftlich unentscheidbar offen halten und dabei nicht nur der stets vorläufigen »Schranken«, sondern insbesondere auch der prinzipiellen »Begrenztheit« der menschlichen Vernunft in gebotener Weise Rechnung tragen will, wird von Dawkins als ganz unzulänglich – d. h. als nur vermeintlich kritisch – abgetan. Ebenso hat er die naheliegende Auffassung, dass die Gottesthematik nicht als wissenschaftliche Hypothese zu formulieren bzw. zu entscheiden sei, 39 weil »die Naturwissenschaft über die Existenz Gottes nicht das Geringste zu sagen« habe (Gotteswahn 83), gegenüber seinen zeitgenössischen Kritikern unnachgiebig verworfen und dies geradewegs als »Armut des Agnostizismus« 40 abgetan. Letzteren hat er auch folgendermaßen charakterisiert: »›Wir können es weder bestätigen noch bestreiten; wir können als Naturwissenschaftler einfach keinen Kommentar dazu abgeben.‹ Das hört sich nach dauerhaftem, unabänderlichem Agnostizismus an, also nach einem richtigen PPA.[41] Es besagt, dass Bemerkenswerterweise teilt auch der Theologe bzw. Religionswissenschaftler Mynarek, ungeachtet seiner scharfen Kritik an Dawkins, dessen Einschätzung der Frage nach dem Daseins Gottes als eine wissenschaftliche Hypothese – so, wenn er als Einwand gegen Dawkins lediglich dies als »Schwäche« geltend macht: »Wenn er [Dawkins], etwas unpräzis, Gott als ›unendliche Regression‹ bezeichnet, dann übersieht er, dass jede Wissenschaftsdisziplin auf letzten Annahmen beruht, die wir voraussetzen müssen und nicht mehr hinterfragen, weil wir sonst in eine unendliche Regression geraten. Gott ist also [!] mindestens genauso eine Hypothese wie all die anderen letzten Annahmen der Wissenschaft, auch und nicht zuletzt der Naturwissenschaft« (Mynarek 2010, 83 f.). Man müsste wohl Verständnis dafür haben, wenn Dawkins diese Argumentation als eine bloße »petitio principii« zurückgewiesen hätte. 40 Vornehmlich auf den Aufweis von Inkonsequenzen in Dawkins’ Abgrenzung von der so entschieden verworfenen Position des Agnostizismus zielt H. Mynarek ab (der hingegen bei Dawkins selbst Spuren eines »schwachen Agnostizismus« ausmachen will): ders. 2010a. Von Dawkins’ Agnostizismus-Kritik ist freilich auch Darwin betroffen, so wenn dieser in seinen berühmten Sätzen anmerkt: »The mystery of the beginning of all things is unsoluble by us; and I for one must be content to remain an Agnostic« (Darwin 1958, 94). Auch hat sich Dawkins die Bezeichnung »Agnostiker« für ihn selbst (in dem Interview mit der Zeitschrift »Stern« ja durchaus gefallen gelassen. 41 »VPA« ist Dawkins’ Abkürzung für »vorübergehenden pragmatischen Agnostizis39
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die Naturwissenschaft in religiösen Fragen nicht einmal Wahrscheinlichkeiten beurteilen kann. In diesem bemerkenswert weit verbreiteten Irrtum – viele wiederholen ihn wie ein Mantra, aber nach meiner Vermutung haben nur die wenigsten gründlich darüber nachgedacht« (Gotteswahn 83). Jener »Armut des Agnostizismus« begegnet er mit dem Hinweis auf den geistigen Reichtum seines Atheismus’ und der befreienden Frohbotschaft der »brights«; gegen einschlägige agnostizistische Inkonsequenzen sowie agnostizistisch angekränkelte Einschüchterungsversuche erhebt Dawkins seinen energischen Einspruch: »Warum sollen wir als Naturwissenschaftler keine Kommentare über Gott abgeben?« Demgegenüber soll sich zeigen – und ein Blick auf Kant soll dies auch bestätigen (s. u. II., 1.2.2): Ein auch wissenschaftstheoretisch besonnener »methodischer Atheismus« ist einerseits für die Naturwissenschaften aus methodischen Gründen unverzichtbar (weil sie nicht mit »nicht-empirischen« Faktoren operieren darf), andererseits aber auch für eine sich selbst recht verstehende (d. h. für eine nicht »vermessene«) Theologie, die auch nur so, von falschen Ansprüchen – bzw. auch Erwartungen – befreit, ihren besonderen Herausforderungen und Aufgaben gerecht zu werden vermag.
1.2.1 Zu Dawkins’ Befund: »There’s probably no god« (but certainly: »Dawkins is his prophet«) Schon in der Vorrede seines »Gotteswahns« hat Dawkins der Leserschaft die Überwindung von einem faulen »agnostizistischen« Kompromiss als einer vermeintlich »ewigen Wahrheit« (Gotteswahn 70) in Aussicht gestellt: »Doch wie steht es mit der Frage nach Gott? Sollten wir auch da Agnostiker sein? Dies wurde vielfach mit einem klaren Ja beantwortet, und oft schwang dabei eine Selbstsicherheit mit, die an Überheblichkeit grenzte. Ist eine solche Einstellung richmus«, »PPA« besagt »permanenten prinzipiellen Agnostizismus« (Gotteswahn 73). Dawkins folgert daraus freilich dies: »Und manche Wissenschaftler und andere Intellektuelle sind – nach meiner Überzeugung allzu eifrig – überzeugt, dass auch die Frage nach der Existenz Gottes in die für alle Zeiten unzugängliche PPA-Kategorie gehört. Wie wir noch sehen werden, ziehen sie daraus häufig den unlogischen Schluss, die Hypothese von Gottes Existenz und die Hypothese von Gottes Nichtexistenz könnten mit genau der gleichen Wahrscheinlichkeit richtig sein. Ich werde hier einen ganz anderen Standpunkt vertreten: Der Agnostizismus hinsichtlich der Existenz Gottes gehört eindeutig in die VPA-Kategorie« (Gotteswahn 69).
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tig?« (Gotteswahn 68). Die Einnahme einer »agnostizistischen Position« sei, so Dawkins, nur dann mehr als eine bloße »intellektuelle Halbherzigkeit« bzw. nicht überhaupt falsch, »wenn es weder für die eine noch für die andere Seite handfeste Belege« gebe; ebendies sei jedoch bezüglich der Gottesfrage keineswegs der Fall, weshalb sich ein solcher vermeintlich kritischer »Agnostizismus« für seinen diagnostischen Blick geradewegs als intellektuelle Unredlichkeit erweise, wie ja schon seine verheißungsvolle Ankündigung im Vorwort seines »Gotteswahns« andeutet (Gotteswahn 12) und diesbezüglich unschlüssigen Zeitgenossen die endgültige Befreiung von quälenden Zweifeln in Aussicht stellt: »Vielleicht glauben Sie, der Agnostizismus sei eine plausible Haltung, aber Atheismus sei genauso dogmatisch wie religiöser Glaube? Dann hoffe ich, dass das zweite Kapitel Sie zum Umdenken bewegt und Sie überzeugt, dass die ›Gotteshypothese‹ eine wissenschaftliche Hypothese über das Universum ist, die man genauso skeptisch analysieren sollte wie jede andere auch.« 42 Demnach insistiert Dawkins darauf, »dass die Existenz Gottes eine wissenschaftliche Hypothese ist wie jede andere … sie gehört in dieselbe Kategorie … wie die Kontroversen über das Artensterben am Ende von Perm oder Kreidezeit« (Gotteswahn 72). Denn »die Gegenwart oder Abwesenheit einer schöpferischen Überintelligenz« sei »eindeutig eine wissenschaftliche Frage, auch wenn sie in der Praxis nicht – oder noch nicht – entschieden ist« (Gotteswahn 85). Man sieht: Dawkins vergleicht hier erneut die Gottesidee mit einzelwissenschaftlichen – wenngleich inzwischen längst falsifizierten – Hypothesen und deren wissenschaftlichen »Erklärungswert«. Freilich, schon das von Dawkins selbst bevorzugte Verständnis der Evolutionstheorie als einer »Hypothese, die durch Beobachtungen oder Experimente bestätigt oder Experimente bestätigt oder begründet wurde« und so »eine Aussage [macht] über die bekannten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, Prinzipien oder Ursachen von etwas, das man weiß oder beobachtet« (Schöpfungslüge 19), sollte demgegenüber klar machen, dass und weshalb schon aus solchen methodischen Gründen die Gottesthematik keine Hypothese sein kann. 43 Freilich hat die Bezeichnung »Gotteshypothese« bei Dawkins auch einen sehr unspezifischen Sinn, sieht er diese doch »nicht auf Belege [ge]stützt, sondern auf lokale Überlieferungen und private Offenbarungen«, sodass es »nicht verwunderlich« sei, »dass sie in vielen Versionen existiert« (Gotteswahn 46). 43 Völlig zu Recht wendet der Wiener Verhaltensbiologe K. Kotrschal ein: »Kein Naturwissenschaftler, der seine Sinne beieinander hat, benutzt seine Wissenschaft, um 42
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Gleichwohl insistiert er unbeirrbar darauf: »Ich bin allerdings der Ansicht, dass selbst ein nicht eingreifender … Gott, der viel weniger gewalttätig und unbeholfen ist als der abrahamitische Gott, bei fairer, unvoreingenommener Betrachtung immer noch eine wissenschaftliche Hypothese ist« (Gotteswahn 87 f.). Das mag ja gut gemeint sein, gleichwohl läuft es auf eine ganz falsche Weichenstellung hinaus, die durch Dawkins’ Verwechslung einer bloß vorläufigen Begrenztheit (die deshalb genauer besehen lediglich eine jeweils faktisch bestehende, aber überwindbare Schranke markiert) mit der prinzipiellen methodischen Grenze geradewegs bestätigt wird: »Und selbst, wenn es sich um eine echte Frage handelt, und wenn die Naturwissenschaft sie nicht beantworten kann, heißt das noch lange nicht, dass die Religion dazu in der Lage wäre. Vielleicht gibt es tatsächlich tief greifende, sinnvolle Fragen, die für alle Zeiten außerhalb des Bereichs der Naturwissenschaft liegen werden. Vielleicht klopft schon die Quantentheorie an die Tür des Unergründlichen« (Gotteswahn 81 f.). Dieses von Dawkins hier betonte »vielleicht« macht diese fundamentale Verwechslung wohl besonders deutlich, weshalb er offenbar Gefahr läuft, nach falschen Klopfzeichen zu lauschen. Schon hier sei beiläufig angemerkt: Es war nicht das geringste Verdienst Kants, auf diesen prinzipiellen Unterschied zwischen vorläufigen (d. h. dem Stand der Forschung entsprechend immer neu zu überwindenden bzw. verschiebbaren) »Schranken« und prinzipiellen »Grenzen« hingewiesen zu haben; nur bei den erstgenannten ist die Rede von mehr oder weniger wahrscheinlichen »Hypothesen« überhaupt sinnvoll, zumal doch auch nur hier ein Fortschreiten in der Überprüfung derselben möglich ist. Aus diesen prinzipiellen Gründen ist eine – rationale – Behandlung und Entscheidbarkeit der Gottesthematik auf diesem Gebiet der Naturwissenschaft nicht möglich und auch der Gottesfrage gar nicht angemessen und verlangt nach Kant ein anderes Fundament (s. u. II., 2.). Der von Dawkins diagnostizierten »trivialen Erkenntnis« (Gotteswahn 77), gleichwohl seines Erachtens »schrecklich wenig stichhaltige Aussage, dass man die Existenz Gottes nicht widerlegen kann« (Gotteswahn 78), 44 weil angeblich die »Gottesfrage mit wissenschaftzu beweisen, dass es Gott gibt oder nicht. In der Wissenschaft geht es um testbare Hypothesen, die Existenz Gottes ist keine testbare Hypothese« (Stellungnahme nicht mehr textmäßig belegbar, aber mündlich bestätigt). 44 Auch diese Bemerkung widerlegt seine schon erwähnte Beteuerung bzw. seinen
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lichen Methoden nicht [zu] lösen sei« (ebd.), 45 hält Dawkins als Hauptargument für die »Armut des Agnostizismus« deren völlige Ignoranz »der Abstufungen der Wahrscheinlichkeit« entgegen, 46 um derart die vermeintliche Plausibilität dieser – vor allem von Th. Huxley und St. Goulds »NOMA«-Prinzip 47 vertretene – Position endgülselbstsicheren Anspruch: »Das ist einer der großen Vorzüge der Wissenschaft: Wissenschaftler wissen, wann sie eine Frage nicht beantworten können. Und sie geben es fröhlich zu« (Zauber 186). 45 Und auch Kants prinzipielle Klarstellung hätte Dawkins offenbar nicht recht beeindruckt: »Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann. Sie gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten, zu bestimmen), bewusst zu sein glaubt. Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig, als Verteidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben, und darum die Freiheit dreust vor unmöglich erklären« (Kant IV 96). 46 »Dennoch wird dieser verbreitete Fehler immer wieder begangen: Von der Voraussetzung, dass die Frage nach der Existenz Gottes prinzipiell nicht zu beantworten ist, vollziehen wir den Sprung zu der Schlussfolgerung, seine Existenz und Nichtexistenz seien gleichermaßen wahrscheinlich« (Gotteswahn 74). 47 Es ist dies die Abkürzung für »non-overlapping magisteria«, d. i. die Auffassung, wonach Naturwissenschaft und Theologie zwei gänzlich verschiedene Wissensbereiche darstellen, die sich also nicht »überschneiden« und deshalb (so St. Gould) auch nicht in Konkurrenz bzw. Widerspruch zueinander geraten können sollen – was Dawkins freilich entschieden ebenfalls als Anzeichen jener »Armut des Agnostizismus« verwirft. – Freilich ist es höchst bemerkenswert, dass in der Verwerfung von »NOMA« die äußersten Gegensätze sich berühren; denn den von »NOMA« nahegelegten »Konkordismus«, »dass die Theologie und die Evolutionstheorie nie in Konflikt geraten können, weil die beiden Disziplinen sich in zwei völlig getrennten Bereichen bewegen«, hat auch der Wiener Erzbischof, Christoph Kardinal Schönborn, nicht weniger entschieden als »nicht haltbar« zurückgewiesen: »Es muss zwischen Theologie und Naturwissenschaften, zwischen Glauben, Denken und Forschen, ›Überschneidungen‹ geben. Der Glaube an einen Schöpfer, an Seinen Plan, Seine ›Weltregierung‹, seine Hinführung der Welt auf ein von Ihm gesetztes Ziel kann nicht ohne Berührungspunkte mit der konkreten Erforschung der Welt bleiben. Daher gilt: Nicht jede Variante der Evolutionstheorie ist mit dem Schöpfungsglauben vereinbar.« Deshalb hält Kardinal Schönborn fest: »Der katholische Glaube hält, mit der Bibel des Alten und des Neuen Bundes, daran fest, dass die Vernunft die Existenz des Schöpfers aus seinen Spuren in der Schöpfung mit Gewissheit, wenn auch nicht ohne Mühe erken-
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tig zu zerstören: »Die Tatsache, dass wir die Existenz von etwas weder beweisen noch widerlegen können, hebt die Existenz und Nichtexistenz dieses Etwas nicht in den gleichen Rang. Ich glaube nicht, dass Huxley mir hier widersprechen würde; als er scheinbar eine andere Ansicht vertrat, machte er nach meiner Vermutung nur einen Rückzieher und gestand einen Punkt zu, um sich einen anderen zu sichern. So etwas hat jeder von uns hier und da schon einmal getan. Anders als Huxley vertrete ich die Ansicht, dass die Existenz Gottes eine wissenschaftliche Hypothese ist wie jede andere. Sie in der Praxis zu überprüfen ist zwar schwierig, aber sie gehört in dieselbe Kategorie des VPA wie die Kontroversen über das Artensterben am Ende von Perm oder Kreidezeit. Gottes Existenz oder Nichtexistenz ist eine wissenschaftliche Erkenntnis über das Universum, die man zumindest im Prinzip gewinnen kann, auch wenn es in der Praxis vielleicht nicht möglich ist. Wenn Gott existiert und sich entscheidet, diese Tatsache zu offenbaren, kann er selbst die Diskussion lautstark und eindeutig zu seinen Gunsten entscheiden« (Gotteswahn 71 f.). Mit agnostizistischen Halbheiten der genannten Art will Dawkins sich freilich nicht begnügen: »Ich dagegen vertrete im Gegensatz zur höflichen Zurückhaltung Huxleys, Goulds und anderer die Ansicht, dass die Gottesfrage nicht prinzipiell und für alle Zeiten dem wissenschaftlichen Zugriff entzogen ist. Wie im Fall der Zusammensetzung von Sternen (entgegen Comte) und der Wahrscheinlichkeit, dass es in ihren Umlaufbahnen Leben gibt, kann die Wissenschaft auch in das Revier des Agnostizismus zumindest Schneisen der Wahrscheinlichkeitsaussagen schlagen« (Gotteswahn 71 f.). 48 Man muss sich freilich nen kann.« (In dem lehramtlichen Text »Dei filius« des I. Vaticanum heißt es freilich lediglich, dass die katholische Kirche daran »fest[hält] und lehrt, dass Gott, der Grund und das Ziel aller Dinge, im natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen sicher erkannt werden kann« [DH 3004] – dass dies »nicht ohne Mühe« möglich sei, davon ist hier allerdings noch nicht die Rede.). Der Wiener Kardinal verweist diesbezüglich vor allem auf den fünften Weg des hl. Thomas als einen »denkerischen Weg …, der hier weiterführt« (Schönborn 2007; die Zitate finden sich hier auf den Seiten 86–90). – Indes spricht vieles dafür, dass Kant sowohl gegen die Ablehnung des »NOMA« durch einen Reduktionismus (der wie Dawkins seine eigenen methodischen Voraussetzungen ignoriert) wie auch gegen überzogene Ansprüche einer »natürlichen Theologie« mit seiner Erklärung darüber Recht behält, weshalb ein kritischer – den Vernunftansprüchen genügender – Gottesbegriff nicht aus einer »Theorie der Natur« gewonnen ist. 48 Auch hier wird deutlich, dass Dawkins den prinzipiellen Unterschied zwischen dem jeweils vorläufigen »ignoramus« und dem prinzipiellen »ignorabimus« verkennt, die
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auch dessen bewusst bleiben: Die gelegentliche Auskunft, »ob Gott existiert, sei eine rein persönliche Entscheidung«, kann schon deshalb nicht genügen und begünstigt im Grunde Dawkins’ Position. Dawkins macht also nunmehr Wahrscheinlichkeitsgründe für die Entscheidbarkeit der »Gotteshypothese« geltend. Dies soll es auch erlauben, an der Gotteshypothese als einer wissenschaftlich entscheidbaren Frage festzuhalten (Gotteswahn 85) und dem aufmerksamen und möglicherweise mit einem Agnostizismus sympathisierenden Leser die Verminderung der allfälligen »Unsicherheit über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes« als reichen Lohn für Lesetreue und Geduld in Aussicht zu stellen: »Entscheidend ist nicht, ob Gottes Existenz widerlegbar ist (das ist sie nicht), sondern ob sie wahrscheinlich ist. Das ist eine ganz andere Frage« (Gotteswahn 77 f.) – gleichwohl ist diese Frage Dawkins’, wie sich sogleich zeigen soll, nicht weniger sinnlos. Daraus wird die methodische Vorgehensweise Dawkins’ recht deutlich erkennbar, der zufolge sich die Alternative eben so darstellt: Entweder ist die Gottesfrage als »wissenschaftliche Hypothese« zu stellen und dann als »Indiz zugunsten des religiösen Glaubens« (Gotteswahn 86) anzusehen, was freilich mit »ziemlicher Sicherheit« auszuschließen sei; oder sie ist eben, weil extrem unwahrscheinlich, abzulehnen: »Entweder Gott existiert, oder er existiert nicht. Es ist eine wissenschaftliche Frage. Eines Tages werden wir die Antwort kennen, und bis es so weit ist, können wir einige sehr stichhaltige Aussagen über die Wahrscheinlichkeit machen« (Gotteswahn 69). 49 »Gut Ding braucht Weil’« – es ist also Dawkins zufolge lediglich eine Frage der Zeit, bis Gottes Nicht-Existenz durch den Fortschritt der Wissenschaften endgültig bewiesen ist. 50 Nicht so ohne der berühmte Physiologe Emil du Bois-Reymond in seiner Rede »Über die Grenzen des Naturerkennens« (im Jahr 1872) geltend gemacht hat. 49 Die von Dawkins beanspruchte »Stichhaltigkeit« dieser Aussagen ähnelt möglicherweise allzu sehr jenen »stichhaltigen« Argumenten, die Kant der Unlauterkeit, d. h. seines heimlichen Atheismus, überführen sollten, den er lediglich aus Angst vor der Zensur verborgen hielt (s. u. 302 f.). 50 Auch von dem englischen Literaturtheoretiker T. Eagleton muss Dawkins sich sagen lassen: »Dawkins hält daran fest, dass die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes eine naturwissenschaftliche Hypothese sei, die für eine rationale Beweisführung offen ist. […] Was immer auch Dawkins denken mag, der Gottesglaube ist nicht vergleichbar mit der Schlussfolgerung, dass es Außerirdische oder die Milchzahnfee gibt. Gott ist kein himmlisches Super-Objekt oder ein göttliches UFO, über dessen Existenz wir agnostisch im Unklaren bleiben müssen, bis die Beweislage klar ist.« (So T. Eagleton in seiner Rezension von Dawkins’ »Gotteswahn«).
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weiteres verträglich ist damit freilich die oben angeführte Behauptung Dawkins’ über die Unwahrscheinlichkeit der Existenz Gottes. Freilich, schon das bislang auf diesem Weg erzielte – gewiss noch vorläufige – Ergebnis erscheint dem Befreier vom »Gotteswahn« als durchaus verheißungsvoll. Denn als ersten Ertrag seiner Mühe, in intellektueller Unbestechlichkeit »in das Revier des Agnostizismus zumindest Schneisen der Wahrscheinlichkeitsaussagen [zu] schlagen«, feiert Dawkins den erhellenden Vergleich, wonach jedenfalls die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes so wie diejenige von Feen und »unsichtbaren Wesen in rosa Uniform unter 50 % sinken« müsse; 51 daraus speist sich sodann auch die unbeirrbare Zuversicht in seiner Beantwortung der schlauen journalistischen Frage: »Und weil niemand bewiesen hat, dass es Feen oder einen Gott gibt, haben wir auch keinen Grund zu glauben, dass es sie gibt?« »Richtig« 52 – so lautet die gar nicht zögerliche Antwort. Man sieht, Dawkins’ Argumentation erweckt in der Tat den Eindruck, dass es ihm zufolge offensichtlich möglich ist, »das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig [zu] erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre« 53. Oder eben, wie im Falle Dawkins’ und Dennetts, von »Feen« und »Osterhasen«: Konsequente A-Theisten, A-Feeisten und
Eine Weissagung des Aufklärers Lichtenberg findet in Dawkins eine eindrucksvolle Bestätigung: »Unsere Welt wird noch so fein werden, dass es eben so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster« (Lichtenberg 1984, 153 [D 326]). 52 So Dawkins im Stern-Interview v. 6. 10. 2007. Dies mag das von ihm signalisierte Verständnis für die Position seines Bekannten verdeutlichen: »Er hält Gott für nicht wahrscheinlicher als die Fee, die kleinen Kindern die ausgefallenen Milchzähne wegnimmt und ihnen Geschenke dafür gibt. Beide Hypothesen kann man nicht widerlegen, und beide sind gleichermaßen unwahrscheinlich. Er ist A-Theist in genau dem gleichen Umfang, wie er A-Feeist ist. Und in beiderlei Hinsicht ist er in dem gleichen geringen Maß ein Agnostiker« (Gotteswahn 75). In Anbetracht einschlägiger Erklärungen Dawkins’ im Namen der Aufklärung wird man Striets Befund sehr verständnisvoll aufnehmen müssen: »Der seine Gottesausnüchterung treibende evolutionstheoretische Alleinerklärungsanspruch aller zu beobachtenden Phänomene ist von einer nicht gerade herzerweichenden, sondern angesichts des Umstandes, dass Dawkins immerhin in Oxford lehrt, von einer herzzerreißenden Schlichtheit« (Striet 2008, 104 f.). Man muss für aufkommenden Überdruss gewiss Verständnis haben, zumal Striets Diagnose einer »Schlichtheit« im Grunde noch eine höfliche Untertreibung darstellt. 53 Man sieht: Nicht an die Adresse Kants, sondern an Dawkins wäre dieser Befund Jean Pauls zu richten (Jean Paul, Siebenkäs. Hg. v. C. Pitzcker. Stuttgart 1983 (Reclam 274 [8], Erstes Blumenstück, 295). 51
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Osterhasen-Zweifler unter sich in der »clear thinking oasis«. Als bloßes »Wunschdenken« längst durchschaut, erleidet die »Gotteshypothese« erwartungsgemäß ein ähnliches Schicksal wie andere traditionelle Phantasievorstellungen – nicht zuletzt auch Feen und andere Gespenster; bestenfalls ist ihnen das Los beschieden, sich so wie andere in der Wissenschaftsgeschichte längst verabschiedete Annahmen (wie etwa der »Wärmestoff«, »Phlogiston«, »Äther« und spezielle »Lebenskräfte«) aufzulösen. Besonders sein mit jenen Wahrscheinlichkeitserwägungen ausdrücklich verknüpfter Anspruch, dass die Frage nach »Gottes Existenz oder Nichtexistenz … eine wissenschaftliche Erkenntnis über das Universum« sei, verdeutlicht erneut: Dawkins lehnt jenen in kritischer Selbstreflexion auf die methodischen Grenzen begründeten »Agnostizismus« keineswegs etwa aus psychologischer Ungeduld ab, sondern – wie könnte es bei einem Wortführer der »brights« auch anders sein! – allein wissenschaftliche Redlichkeit sei dafür maßgebend, zumal an der »Gotteshypothese« als einer »eines Tages« eindeutig beantwortbaren Frage festzuhalten bzw. die »Frage nach der Existenz Gottes … als wissenschaftliche Hypothese der Untersuchung zumindest [als] prinzipiell zugänglich« anzusehen sei (Gotteswahn 149). Obwohl Dawkins sich bislang noch nicht genauer darüber erklärt hat, was man sich unter dieser »prinzipiellen Zugänglichkeit« genauerhin vorzustellen hat, verteidigt er diese Ansicht nicht nur gegen alle von ihm diagnostizierten theologischen Immunisierungsversuche, die die Gottesthematik dem Zugriff bzw. der Zuständigkeit und der Entscheidbarkeit durch die Wissenschaft abschirmen wollen; darüber hinaus macht er sich dankenswerterweise sogar anheischig, die Gotteshypothese in eine besser verteidigbare und insofern passendere Form zu bringen: »Ich möchte die Gotteshypothese, damit sie besser zu verteidigen ist, wie folgt definieren: Es gibt eine übermenschliche, übernatürliche Intelligenz, die das Universum und alles, was darin ist, einschließlich unserer selbst, absichtlich gestaltet und [?] erschaffen hat« (Gotteswahn 46). 54 Freilich, eben genau »Die Gotteshypothese besagt, es gebe in der uns umgebenden Realität eine übernatürliche Handlungsinstanz, die das Universum entworfen hat und es – zumindest in vielen Versionen der Hypothese – auch verwaltet und sogar mit Wundern eingreift, das heißt mit vorübergehenden Verletzungen seiner ansonsten erhabenen, unabänderlichen Gesetze« (Gotteswahn 84). Auch dies bestätigt: »Gott als Hypothese« suggeriert den Anspruch eines quasi-naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruchs und sollte deshalb, wie auch J. F. Haught (2008, 41 f.) betont, vermieden werden.
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diese Vorstellung sei von kritischem wissenschaftlichen Denken längst als wissenschaftlich »obsolet« anzusehen und dementsprechend nunmehr eher in der »Psychologie der Irrtümer« und der Psychopathologie anzusiedeln; allenfalls bleibe es im Sinne einer »evolutionsbiologischen« Erklärung der »Wurzeln der Religion« noch von einem gewissen Interesse. 55
1.2.2 Ein Ausblick: Ist Dawkins der von Kant »längst gesuchte Mann«? Eine kantische Antwort auf Dawkins’ problematisches Verständnis der Gottesfrage als einer »wissenschaftlichen Hypothese« Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert hat allerdings u. a. auch Kant darüber nachgedacht, ob denn die Frage nach dem Dasein Gottes vernünftigerweise in wahrscheinlichkeitstheoretischer Hinsicht gestellt und entschieden werden könne. Doch auch unter diesem besonderen – für seine Argumentation zentralen – Gesichtspunkt hat Dawkins, ungeachtet seines philosophischen Interesses, eine auch nur erste Kenntnisnahme von kantischen Gesichtspunkten nicht der Mühe wert gefunden (dem stand, wie sich sogleich zeigen wird, vermutlich nicht zuletzt seine abgründige Empörung über Kants moralische Unlauterkeit im Wege, s. u. 302 f.). Man muss freilich gar nicht die wahrscheinlichkeitstheoretisch nachweisbaren Unzulänglichkeiten bemühen, um die Frage nach der »Wahrscheinlichkeit der Existenz« als prinzipiell verfehlt zu durchschauen. 56 Wer zu wissen vorgibt, dass »Gott … mit ziemlicher Sicherheit« nicht existiert, dafür obendrein »handfeste Belege« bereithält und damit noch dazu die begründete Aussicht auf »Freude am Sein« zu verknüpfen vermag, hätte sich schon deshalb der von Kant gesuchten Nähe und dessen ungeteilter
In der Tat: »Die Pathologisierung der Gläubigen spiegelt sich in biologistischer Sprache. Dawkins kennt ›geistige Viren‹, die ›Gehirne infizieren‹, und entwickelt eine evolutionspsychologische Theorie von Hirn-Modulen, der zufolge Gottesvergiftung ›durch Fehlfunktion einzelner Module‹ entsteht« (Graf 2008, 24). 56 Einen Wahrscheinlichkeits-theoretischen Aufweis der Unhaltbarkeit der Dawkins’schen Hauptthese, dass bzw. »warum es mit ziemlicher Sicherheit keinen Gott gibt«, unternehmen Anglberger/Feldbacher/Gugerell, in: Anglberger/Weingartner 2010, 181–197. Erkenntnistheoretische Defizite bezüglich dieser Wahrscheinlichkeits-Thematik hat bei Dawkins auch H. Albert diagnostiziert. 55
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Aufmerksamkeit sicher sein können 57: »Wie die Wissenschaft zeigt, dass es Gott nicht gibt« 58 – ebendies war es doch, was der berühmte Königsberger Philosoph schon immer wissen wollte! So hat Kant schon vor mehr als 200 Jahren – in einer für diesen Zusammenhang offenbar nach wie vor höchst aktuellen Weise – festgestellt bzw. von »hellen«, d. h. »nicht gemeinen« Köpfen sehnlichst Auskunft darüber erwartet: »Wenn ich höre, dass ein nicht gemeiner [sondern heller] Kopf die Freiheit des menschlichen Willens, die Hoffnung eines künftigen Lebens, und das Dasein Gottes wegdemonstriert haben solle, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, dass er meine Einsichten weiter bringen werde. Das weiß ich schon zum voraus völlig gewiß, daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht darum, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Beweise dieser wichtigen Sätze zu sein glaubete, sondern weil mich die transzendentale Kritik, die mir den ganzen Vorrat unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig überzeugt hat, dass, so wie die zu bejahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger werde sie wissen, um über diese Fragen etwas verneinend behaupten zu können. Denn, wo will der angebliche Freigeist seine Kenntnis hernehmen, daß es z. B. kein höchstes Wesen gebe? Dieser Satz liegt außerhalb dem Felde möglicher Erfahrung, und darum auch außer den Grenzen aller menschlichen Einsicht. Den dogmatischen Verteidiger der guten Sache [also den Vertreter der Gottesbeweise] gegen diesen Feind würde ich gar nicht lesen, weil ich zum voraus weiß, daß er nur darum die Scheingründe des anderen angreifen werde, um seinen eigenen Eingang zu verschaffen, überdem ein alltägiger Schein doch nicht so viel Stoff zu neuen Bemerkungen gibt, als ein befremdlicher und sinnreich ausgedachter. Hingegen würde der nach seiner Art auch dogmatische Religionsgegner meiner Kritik gewünschte Beschäftigung und Anlaß zu mehrerer Berichtigung ihrer Grundsätze geben, ohne daß seinetwegen im min-
Es bestätigt sich: Dawkins hätte gewiss zu den von Kant so dringend gesuchten Gesprächspartnern in diesen Fragen gehört. 58 So der plakative, gleichermaßen verheißungsvolle wie auch Verkaufs-trächtige Titel des Buches von Dawkins’ Lieblingsautor P. Atkins: »God, the Failed Hypothesis: How Science Shows that God Does Not Exist« (»Die gescheiterte Gotteshypothese: Wie die Wissenschaft zeigt, dass es Gott nicht gibt«). Schon der Titel liegt ganz auf dieser Linie Dawkins’ und legt es nahe, das Motto »Mehr Vernunft, weniger Glauben« an ihn selbst zu richten. 57
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desten etwas zu befürchten wäre« 59. In beide hier angesprochene Richtungen hat diese Bemerkung Kants offenbar nichts an Aktualität eingebüßt. Demzufolge hat Kant es bekanntlich abgelehnt – er richtet sich damit gleichermaßen gegen schiefe theologische wie auch gegen atheistische Ansprüche –, dass die Gottesthematik als »Hypothese« angesehen und entschieden werden könne; unermüdlich hat er Gründe dafür angeführt, weshalb diesbezügliche Wahrscheinlichkeits-Erwägungen in prinzipieller Hinsicht als verfehlt erscheinen müssen, weil sich die zu erwägende Wahrscheinlichkeit eben stets nur auf mögliche Erfahrung beziehen kann – denn wie anders wäre sie zu entscheiden? –, abgesehen davon jedoch prinzipiell unangemessen ist und insofern eher eine »Vermessenheit« besonderer Art demonstriert. Man sollte vermuten, dass Kant, der – ohne konfessionelle Bindungen und Zugeständnisse an die geschichtlichen Religionen – die »Religion als reine Vernunftsache« erklärt und sich auch dabei an D. Hume, einem der philosophischen Gewährsmänner Dawkins’ abgearbeitet hat, das Interesse Dawkins’ findet. Doch weit gefehlt – stattdessen verweigert er, gewissermaßen aus moralischem Protest, jede sachliche Auseinandersetzung mit den Argumenten Kants. Kant hätte wohl schon den Aufnahmetest für »brights« nicht bestanden – ereilte doch diesen vermeintlichen Vertreter einer »aufgeklärten Geistesart« leider das bittere Schicksal, von Dawkins in mehrfacher Hinsicht nicht ernst genommen zu werden. Er hätte Kant wohl den Zugang zur »clear thinking oasis« verwehrt – hat Letzterer sich doch von vornherein aufgrund seiner wissenschaftlichen Unredlichkeit und mangelnder moralischer Integrität die Disqualifikation und Verachtung durch den Wortführer der »brights« zugezogen: So rechtfertigt Dawkins jedenfalls den Sachverhalt, dass er sich weder in seiner Kritik der Gottesbeweise noch sonst wo mit der Philosophie Kants – eine in diesen Themenfeldern ja nicht ganz unwichtige Position – auseinandergesetzt hat, mit der bemerkenswerten – und gewiss auch »Mem-theoretisch« bemerkenswerten – Erklärung, die zugleich wieKant II 640 f. Nicht weniger Ironie hatte er freilich für ebenso unkritische Ansprüche der entgegengesetzten Art übrig: »Auf solche Weise bleibt uns, nach Vereitelung aller ehrsüchtigen Absichten einer über die Grenzen aller Erfahrung hinaus herumschweifenden Vernunft, noch genug übrig, dass wir damit in praktischer Absicht zufrieden zu sein Ursache haben. Zwar wird freilich sich niemand rühmen können: er wisse, dass ein Gott und dass ein künftig Leben sei; denn, wenn er das weiß, so ist er gerade der Mann, den ich längst gesucht habe« (ebd. II 693).
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der einen Beleg dafür bietet, wie es um seine eigene intellektuelle Redlichkeit und sein feines Entlarvungs-Gespür bestellt ist: »Der angesehene Philosoph A. C. Grayling vertrat allerdings mit stichhaltigen [hat da womöglich gar Dawkins die Probe gemacht und selbst »gestochen«?] Gründen in New Humanist (Juli/August 2006) die Überzeugung, Kant habe sich zwar öffentlich an die religiösen Konventionen seiner Zeit gehalten, sei aber in Wirklichkeit Atheist gewesen« (Gotteswahn 322, Anm.). Jetzt weiß man also, was man sich unter Dawkins’ Maßstäben unter »stichhaltigen Gründen« näher vorzustellen hat und dass so manches in der Tat zwar sehr »stechend«, jedoch selbst nicht unbedingt »stichhaltig« ist. 60 Noch so viele derartige »Stiche« reichen freilich noch lange nicht für eine wirklich stichhaltige »rationale Argumentation« aus, auf die Dawkins so viel hält – sie waren indes für ihn offenbar dafür ausreichend, um auch in der von ihm ausdrücklich für sich beanspruchten Auseinandersetzung mit jenen Positionen, »die den Gedanken, es könnte Gott nicht geben, ernst nehmen und dann Argumente für seine Existenz anführen« (Gotteswahn 524), Kants Konzeption – trotz deren unrechtmäßiger Berufung auf »Aufklärung« – auszuschließen. Dass Kant selbst ausdrücklich – gewissermaßen als indirekte Antwort an Dawkins – betont hat: »Gott ist doch kein Wahn« 61, ist dann ja weiters nicht so wichtig – und schon gar nicht schlimm, bestätigt dies doch ohnehin lediglich jene Entlarvung dieses komischen Moralisten Kant als einen Anpassungs-schlauen opportunistischen Heuchler. Solch »stichhaltige« Entlarvung wird freilich nur geltend machen können, wer eine womöglich Mem-infektiöse Lektüre Kants beharrlich meidet bzw. verweigert – welch ein bequementlastender Rückzug in eine (von ihm selbst allerdings – fälschlicherweise – so energisch kritisierte) »Schutzzone«, die unter überlebensstrategischen Gesichtspunkten sich als evolutionär durchaus Dawkins, der sich nirgendwo mit Kant auseinandergesetzt hat und offensichtlich auch mit Grundgedanken der kantischen Philosophie nicht vertraut ist, beruft sich auf »stichhaltige Gründe« auch dafür, dass Kant »in Wirklichkeit Atheist gewesen« sei; man sieht: als »stichhaltig« erscheint auch etwas umso leichter, wenn es so erscheinen soll, d. h. »Meme« empfängliche Gehirne finden: Eine bemerkenswerte Bestätigung der von Dawkins’ berühmtem Landsmann F. Bacon aufgestellten Lehre von den »Trugbildern«, zu denen ihm zufolge auch jene Vorurteile zu zählen sind, die sich vornehmlich persönlichen Befangenheiten, Abneigungen und Vorlieben u. Ä. verdanken – ein auch in Evolutions-psychologischer Hinsicht sehr bemerkenswerter Sachverhalt. 61 Kant, Refl. 6220, AA XVIII, 510. 60
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vorteilhaft erweist, sofern dies jedenfalls einer behutsamen Sorge und Pflege für die von Dawkins bevorzugten und verbreiteten MemBestände dient. Und auch noch Kants späte Auskunft: »Es ist unmöglich, dass der Mensch ohne Religion seines Lebens froh werden könne«, ist deshalb Dawkins’ stechender Diagnose zufolge wohl lediglich erneut ein besonderes anpassungsschlaues Tarnungsmanöver des von der Zensur eingeschüchterten Kant. Noch ein Grund mehr dafür, ihn in die »clear thinking oasis« nicht aufzunehmen und sich am besten eine nähere Auseinandersetzung mit ihm überhaupt zu ersparen. Eine konsequente Vorgehensweise ist nicht zu bestreiten: So hat Kant, gewissermaßen aus Gründen intellektueller Redlichkeit, auch nicht einmal die Aufnahme in das Literaturverzeichnis von Dawkins’ »Gotteswahn« geschafft – ungeachtet seines ausdrücklichen Anspruchs einer Auseinandersetzung mit jenen Positionen, die bezüglich der Gottesthematik besonders bedeutsam sind, und der beteuerten pflichtgetreuen Prüfung jener »positiven Argumente für den Glauben …, die im Laufe der Geschichte genannt wurden« (Gotteswahn 106 f.). Man sieht: Wo das Vermögen zu sachlich orientierter Kritik und Überzeugungskraft nicht ausreicht, hilft offenbar nur mehr die Zuflucht zu untergriffigem – diffamierendem – Psychologisieren. Im Kampf um Mempool-Bestände und -vorherrschaft ist auch dies ein probates Mittel (»of the fittest«). Einmal mehr ein beeindruckender Beleg dafür, was man sich unter dem ganz auf unvoreingenommene Wahrheitssuche und der intellektuellen Redlichkeit verpflichteten Unternehmen Dawkins’ vorzustellen hat, das sich ganz im Dienste der Verbreitung von mehr Licht über die »clear thinking oasis« hinaus versteht – und auch diesbezüglich behält Kant somit Recht: »In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede …« 62 Freilich, in gewisser Hinsicht hätten sich die Vertreter dieser von Dawkins verworfenen Auffassungen durchaus auch auf Kant berufen können, ist doch bezüglich dieses Anspruchs, die Frage nach dem Dasein Gottes als »wissenschaftliche Hypothese« zu formulieren und die Unentschiedenheit eines halbherzigen Agnostizismus zu überwinden, ein Blick auf Kants Argumentation immer noch lohnend. Denn schon die für sein Programm leitende Absicht, das »Wissen aufzuheben, um für den Glauben Platz zu bekommen«, impliziert freilich auch eine Erklärung dafür, weshalb die Gottesthematik 62
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grundsätzlich nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Hypothese aufgefasst werden kann – weil eben Gott definitionsgemäß als kein möglicher Gegenstand des naturwissenschaftlichen Erfahrungswissens gelten kann, das grundsätzlich auf den Bereich des raumzeitlich Gegebenen begrenzt ist. Wer dem nicht folgt, kann sich, wie das Beispiel Kants zeigt, der sicheren Diagnose Dawkins’ sicher sein: entweder intellektueller Kollaps oder/und moralische Korruption. Nach Kant gehört jedenfalls auch die Frage nach der Existenz Gottes sinnvollerweise nicht zu den »Meinungssachen«, denn: »Meinungssachen können daher immer nur Gegenstände einer Erfahrungserkenntnis sein, die an sich zwar möglich, aber nur für uns unmöglich ist nach den empirischen Einschränkungen und Bedingungen unseres Erfahrungsvermögens und dem davon abhängenden Grade dieses Vermögens, den wir besitzen. So ist z. B. der Äther der neuern Physiker eine bloße Meinungssache. Denn von dieser, so wie von jeder Meinung überhaupt, welche sie auch immer sein möge, sehe ich ein: dass das Gegenteil doch vielleicht könne bewiesen werden. Mein Fürwahrhalten ist also hier objektiv sowohl subjektiv unzureichend, obgleich es, an sich betrachtet, vollständig werden kann.« 63 Genau dies ist bezüglich der Gottesthematik in grundsätzlicher Hinsicht (und nicht bloß vorläufig) nicht der Fall, weil sich die zu erwägende – und dann auch entscheidbare bzw. prüfbare – Wahrscheinlichkeit doch nur auf mögliche Erfahrung bezieht (wie anders wäre sie zu entscheiden?). Deshalb muss es auch nicht lediglich vorläufig, d. h., »bis es so weit ist« (wie Dawkins mutmaßt), unentschieden bleiben. Daraus mag deutlich werden, weshalb Kant Dawkins’ Insistieren, Gott als Hypothese zu formulieren und seine Forderung nach einem »Beleg für die Gotteshypothese« (Gotteswahn 86), als ein grobes Missverständnis zurückgewiesen hätte. Seine immer noch unüberholte Antwort wird von Dawkins leider völlig ignoriert: »Wenn ich das bloß theoretische Fürwahrhalten hier auch nur Hypothese nennen wollte, die ich anzunehmen berechtigt wäre, so würde ich mich dadurch schon anheischig machen, mehr von der Beschaffenheit einer Weltursache und einer anderen Welt, begriffen zu haben, als ich wirklich aufzeigen kann: denn was ich auch nur als Hypothese annehme, davon muss ich wenigstens seinen Eigenschaften nach soviel Kant III 495 f. Meinungssachen sind »jederzeit Objekte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungserkenntnis (Gegenstände der Sinnenwelt)« (Kant V 598), deshalb ist »Meinen« und »Wahrscheinlichkeit« auch darauf beschränkt.
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kennen, dass ich nicht seinen Begriff, sondern nur sein Dasein erdichten darf.« 64 Deshalb müssen auch diesbezügliche Wahrscheinlichkeits-Erwägungen prinzipiell als verfehlt erscheinen und erweisen sich in buchstäblichem Sinne als »gegenstandslos«, weil eben schon der »Ausdruck der Wahrscheinlichkeit … in dieser Anwendung völlig ungereimt« ist: »Denn wahrscheinlich (probabile) ist das, was einen Grund des Fürwahrhaltens für sich hat, der größer ist, als die Hälfte des zureichenden Grundes, also eine mathematische Bestimmung der Modalität des Fürwahrhaltens, wo Momente derselben als gleichartig angenommen werden müssen, und so eine Annäherung zur Gewissheit möglich ist, dagegen der Grund des mehr oder weniger Scheinbaren … auch aus ungleichartigen Gründen bestehen, eben darum aber sein Verhältnis zum zureichenden Grunde gar nicht erkannt werden kann. Nun ist aber das Übersinnliche von dem sinnlich Erkennbaren, selbst der Spezies nach … unterschieden, weil es über alle uns mögliche Erkenntnis hinaus liegt. Also gibt es gar keinen Weg, durch ebendieselbe Fortschritte zu ihm zu gelangen, wodurch wir im Felde des Sinnlichen zur Gewissheit zu kommen hoffen dürfen: also auch keine Annäherung zu dieser, mithin kein Fürwahrhalten, dessen logischer Wert Wahrscheinlichkeit könnte genannt werden.« 65 Solche Kritik Kants richtet sich, wohlgemerkt, gleichermaßen gegen schiefe theologische und gegen atheistische Ansprüche (wie sich gleich noch genauer erweisen soll). Dawkins verkennt prinzipiell Kants Mahnung, dass »wohl bemerkt werden« müsse, »dass von dem was über alle mögliche Erfahrungsgrenze hinausliegt, weder gesagt werden kann, es sei unwahrscheinlich, noch es sei unwahrscheinlich, mithin auch das Wort Glaube in Ansehung eines solchen Gegenstandes in theoretischer Bedeutung gar nicht statt findet. – Unter dem Ausdruck: dieses oder jenes ist wahrscheinlich, versteht man ein Mittelding (des Fürwahrhaltens) zwischen Meinen und Wissen; da geht es ihm so wie allen andern Mitteldingen: dass man daraus machen kann was man will. – Wenn aber jemand z. B. sagt: es ist wenigstens wahrscheinlich, dass die Seele nach dem Tode lebe, so weiß er nicht was er will. Denn wahrscheinlich heißt dasjenige, was für wahr gehalten mehr als die Hälfte der Gewissheit (des zureichenden Grundes) auf seiner Seite hat. Die Gründe also müssen insgesamt ein partiales Wis64 65
Kant II 692. Kant III 637.
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sen, einen Teil der Erkenntnis des Objekts, worüber geurteilt wird, enthalten. Ist nun der Gegenstand gar kein Objekt einer uns möglichen [!] Erkenntnis (dergleichen die Natur der Seele, als lebender Substanz auch außer der Verbindung mit einem Körper, d. i. als Geist ist): so kann über Möglichkeit derselben weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, sondern gar nicht geurteilt werden. Denn die vorgeblichen Erkenntnisgründe sind in einer Reihe, die sich dem zureichenden Grunde, mithin dem Erkenntnis selbst, gar nicht nähert, indem sie auf etwas Übersinnliches bezogen werden, von dem, als einem solchen, kein theoretisches Erkenntnis möglich ist.« 66 Ebendies markiert aber nach Kant den entscheidenden Punkt der Nichtvergleichbarkeit und veranlasste ihn dazu, eine plausible Hypothesenbildung bezüglich der Gottesfrage entschieden in Frage zu stellen, weil dies eben prinzipiell solcherart nicht entscheidbar ist, d. h. damit auch alle diesbezüglichen Wahrscheinlichkeits-Erwägungen als unangemessen abzuweisen sind. Für eine naturwissenschaftlich relevante Hypothese muss die Angabe möglich sein, dass bzw. unter welchen Bedingungen durch empirische Untersuchungen die Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit einer naturwissenschaftlichen Hypothese als erhöht anzusehen wäre – d. h. ebendies muss auch empirisch geprüft werden können. Aus den genannten Gründen hat Kant auch das Ansinnen als völlig unsinnig verworfen, die Frage nach dem Dasein Gottes mit derjenigen nach der Existenz von Bewohnern auf anderen Planeten zu vergleichen. Im Unterschied zu solchen verfehlten Ansprüchen eines »Wahrscheinlichkeitsaufweises« bezüglich der »Existenz Gottes« hat er die Frage nach der Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten – diesbezüglich in Übereinstimmung mit Dawkins 67 – durchaus als eine wissenschaftlich entscheidbare, weil prinzipiell mit Kant III 385 f., Anm. Wiederum ist darauf hinzuweisen, dass die ausführlichen Kant-Zitate ihre Aktualität für die hier diskutierten Einwände Dawkins’ erweisen sollen. 67 »Was das Leben auf anderen Himmelskörpern angeht, müssen wir bisher noch Agnostiker bleiben – aber wir sind schon etwas weniger agnostisch, weil unser Unwissen sich ein wenig vermindert hat. Die Wissenschaft kann also den Agnostizismus Stück für Stück abbauen, und zwar auf eine Weise, die Thomas Huxley im Sonderfall Gottes widerwillig leugnete« (Gotteswahn 103). – Freilich, so enthusiastisch wie Dawkins war Kant dabei nicht: »Ob wir jemals von ihnen erfahren werden oder nicht: Es gibt höchstwahrscheinlich außerirdische Zivilisationen, die übermenschlich und auf eine Weise gottähnlich sind, wie es sich heute kein Theologe vorstellen kann« (Gotteswahn 105). Was man sich unter einer solchen (von Dawkins in Aussicht ge66
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den Methoden und Instrumenten der Naturwissenschaften beantwortbare Wahrscheinlichkeitshypothese anerkannt: »Die Frage nach außerirdischem Leben ist offen. Man kann für beide Seiten stichhaltige Argumente anführen, und da wir keine Belege besitzen, können wir nur die Wahrscheinlichkeiten in der einen oder anderen Richtung abschätzen. Ein gewisser Agnostizismus ist die angemessene Haltung in vielen wissenschaftlichen Fragen, beispielsweise wenn es um die Ursachen des großen Aussterbens am Ende des Perm geht, das größte Artensterben der Erdgeschichte« (Gotteswahn 68). Bemerkenswerterweise findet sich dieser – freilich von ihm lediglich zu Abgrenzungszwecken vorgenommene – Vergleich zwischen »Leben auf anderen Planeten« und der »Existenz Gottes« übrigens ja auch bei Kant – allerdings bezeichnenderweise in einer zu Dawkins’ Argumentation diametral entgegengesetzten Abgrenzungsabsicht, denn, so betonte er hier noch einmal deutlicher: »Wenn wir sagen wollten: es ist höchst wahrscheinlich, dass ein Gott sei, so wäre dieses ein Urteil, welches der Beschaffenheit des Erkenntnisses gar nicht gemäß wäre und auch, wenn man es zuließe, viel zu wenig sagen würde. Denn Wahrscheinlichkeit kann nur in einer Art von Verknüpfungen gedacht werden, deren Möglichkeit übrigens gewiss ist, z. E. dass Planeten auch bewohnt sein. Aber die Möglichkeit einer Kausalverbindung kann nur durch Erfahrung, mithin von Ursachen in der Welt gelten; aber von einer Ursache außer derselben und nicht … einer in der Natur, sondern der Natur selbst, haben wir nach der Analogie der Natur zu schließen keinen Grund. Wahrscheinlichkeit ist nur ein Urteil bis auf nähere Kenntnis.« 68 Damit ist noch einmal verdeutlicht: Erkenntnis- und somit auch Wahrscheinlichkeitsansprüche sind auf den Bereich der empirischen Wissenschaften zu beschränken (d. i. auf das prinzipiell in Raum und Zeit Erfahrbare). Solche Einschränkung ist vorausgesetzt, um den Sinnanspruch des Glaubens freilegen zu können, der ja nicht bloß als eine Form des »theoretischen« Fürwahrhaltens – näherhin: als nommenen) »Gottähnlichkeit« näherhin vorzustellen hat, hat Dawkins den Lesern leider verschwiegen. 68 Kant AA XVIII, 457. »Wenn es möglich wäre, durch irgend eine Erfahrung auszumachen, so möchte ich wohl alles das Meinige darauf verwetten, dass es wenigstens in irgend einem von den Planeten, die wir sehen, Einwohner gebe. Daher sage ich, ist es nicht bloß Meinung, sondern ein starker Glaube (auf dessen Richtigkeit ich schon viele Vorteile des Lebens wagen würde), dass es auch Bewohner anderer Welten gebe« (II 691).
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eine Mangelform desselben: »Glauben heißt nichts wissen« – angesehen werden darf (bzw. »mehr wissen, weniger glauben« im Sinne der »brights«). Kant hat die für Dawkins kennzeichnende Geisteshaltung treffsicher vorweggenommen: »Unglaube ist die Maxime, keinen andern Erfahrungsgebrauch der Vernunft (mithin gar keinen Gebrauch der Vernunft) einzuräumen als in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung. Also muß er alles, was nicht Gegenstand der Sinne ist, entweder für unmöglich halten (dies kann er nur tun, wenn er die Sinne als die Erkenntnisart ansieht, wodurch allein die Gegenstände unmittelbar vorgestellt werden, wie sie sind) oder dem Erfahrungsgebrauche der Vernunft und also den Maximen ihres Gebrauchs überhaupt zuwider, wenigstens als entbehrlich und ganz grundlos, solches anzunehmen, z. B. Gott als, der kein Gegenstand der Erfahrung ist, darum für nichts oder doch (seine Voraussetzung) als der Vernunft ganz entbehrlich und unnötig ansehen. Der erstere Unglaube ist der empiristische, der Zweite der sophistische oder rationalistische, der alles glaubt meint erklären zu können« 69. Damit ist offensichtlich auch die Geistesart Dawkins’ und vieler anderer »brights« recht zutreffend beschrieben, jedenfalls kommt sein heroischer Kampf gegen das »Übernatürliche« diesem von Kant so bezeichneten szientistisch-»dogmatischen Unglauben« erstaunlich nahe. Schon Kant war ein im Mäntelchen der Aufklärung auftretender »Szientismus« durchaus geläufig, der in seltsamer Weise über sich selbst, über seine Maßstäbe und Ansprüche, unaufgeklärt bleibt und gerade deshalb auch sehr helle Köpfe in Selbstbornierung und in Refl. 6219, in: AA XVIII, 508 f. »Unglaube ist der Grundsatz alles zu leugnen, was nicht Erfahrungsgegenstand sein kann« (AA XVIII, 507). Vgl. dazu auch das – gegen die ganz und gar unkritische Einstellung beider Positionen gerichtete – wuchtige Urteil Kants: »So verschwindet denn ein über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus versuchtes und doch zum höchsten Interesse der Menschheit gehöriges Erkenntnis, so weit es der spekulativen Philosophie verdankt werden soll, in getäuschte Erwartung; wobei gleichwohl die Strenge der Kritik dadurch, daß sie zugleich die Unmöglichkeit beweiset, von einem Gegenstande der Erfahrung über die Erfahrungsgrenze hinaus etwas dogmatisch auszumachen, der Vernunft bei diesem ihrem Interesse den ihr nicht unwichtigen Dienst tut, sie eben sowohl wider alle mögliche Behauptungen des Gegenteils in Sicherheit zu stellen; welches nicht anders geschehen kann, als so, daß man entweder seinen Satz apodiktisch beweiset, oder, wenn dieses nicht gelingt, die Quellen dieses Unvermögens aufsucht, welche, wenn sie in den notwendigen Schranken unserer Vernunft liegen, alsdenn jeden Gegner gerade demselben Gesetze der Entsagung aller Ansprüche auf dogmatische Behauptung unterwerfen müssen« (II 355 f.).
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eine neue Unmündigkeit bzw. »Vermessenheit« verfallen lässt. Die Ablehnung solcher Schwundstufen, ja Verkehrungen einer – in eigentümlicher Weise über sich selbst unaufgeklärten – »Aufklärung« verknüpfte er mit der Absicht, »nicht nur die Schranken, sondern die bestimmten Grenzen« des Vernunftvermögens aufzuweisen, und zwar gegen einen nicht weniger unkritischen »Unglauben« – gewissermaßen als einen »Aberglauben mit umgekehrten Vorzeichen«. Damit verbunden ist der Hinweis, dass nicht zuletzt das Wissen davon, wofür man denn rechtens einen »Beweis« fordern bzw. liefern kann, als ein unumgängliches Kriterium für »Vernünftigkeit« gelten muss. Daran bemessen ist jedenfalls auch jener szientistische Unglaube »jederzeit gar sehr dogmatisch« 70, weil er gleichermaßen auf die kritische Prüfung der Reichweite und Grenzen menschlicher Erkenntnisansprüche verzichtet und ebendies eine besondere »Vermessenheit« zur Folge hat. Diese Einsicht – ein ganz elementares Resultat seiner Erkenntniskritik – ist nach Kant auch die unumgängliche Voraussetzung dafür, um zunächst überhaupt die Frage nach Gott angemessen stellen zu können und das darin »Erfragte« nicht von vornherein (als einen in naturwissenschaftlicher Forschung aufweisbaren »Befund«) zu verfehlen. Dies ist freilich keine raffinierte Immunisierung gegen Kritik, sondern ein ganz elementares Resultat seiner Vernunftkritik; deshalb trifft sein Urteil auch auf die beanspruchten gestuften Wahrscheinlichkeitskalküle zu. Gegen einschlägige Missverständnisse richten sich nicht zuletzt Kants eindringliche Sätze: »Wenn es also mit einer nach Maßgabe der Kritik der reinen Vernunft abgefassten systematischen Metaphysik eben nicht schwer sein kann, der Nachkommenschaft ein Vermächtnis zu hinterlassen, so ist dies kein für gering zu achtendes Geschenk; man mag nun bloß auf die Kultur der Vernunft durch den sicheren Gang einer Wissenschaft überhaupt, in Vergleichung mit dem grundlosen Tappen und leichtsinnigen Herumstreifen derselben ohne Kritik sehen, oder auch auf bessere Zeitanwendung einer wißbegierigen Jugend, die beim gewöhnlichen Dogmatism so frühe und so viel Aufmunterung beKant II 33. Ebendies ist eine Vermessenheit besonderer Art; dies wäre wohl auch eine kantische Antwort auf H. Oberhummers Losung: »Wer nichts weiß, muss alles glauben« – nämlich mit umgekehrten Vorzeichen: »Wer alles wissen und nichts glauben will, weiß weder was Wissen noch was Glauben heißt« –, und bestätigt so lediglich Kants treffliche Einschätzung. Dass sich die von Oberhummer angeführte »boygroup« um die »science busters« auf der Homepage der Dawkins-Stiftung (und deren Motto: »Mehr Vernunft und weniger Glauben«) findet, kommt nicht überraschend.
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kommt, über Dinge, davon sie nichts versteht, und darin sie, so wie niemand in der Welt, auch nie etwas einsehen wird, bequem zu vernünfteln, oder gar auf Erfindung neuer Gedanken und Meinungen auszugehen, und so die Erlernung gründlicher Wissenschaften zu verabsäumen; am meisten aber, wenn man den unschätzbaren Vorteil in Anschlag bringt, allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art, nämlich durch den klarsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen« 71. Freilich, die Kehrseite dieses kritischen Unternehmens ist nach Kant auch das notwendige Scheitern aller Gottesbeweise. Kants Erkenntniskritik zielte ja nicht nur auf das geforderte Eingeständnis der faktischen menschlichen Unwissenheit (die natürlich auch Dawkins für redliche Wissenschaftler geltend macht), sondern es geht in Kants Kritik um eine prinzipielle Begründung nicht nur unserer Wissensansprüche, sondern gleichermaßen um den prinzipiellen Aufweis des Nichtwissens, also weshalb wir nichts wissen – und d. h.: nichts wissen können. Dies besagt freilich noch einmal anderes und mehr als lediglich dies, dass »Wissenschaftler wissen, wann sie eine Frage nicht beantworten können. Und sie geben es fröhlich zu« (Zauber 186). Auch über Fehlformen der Religion, über Schwärmerei und Frondienst muss man sich nicht von den »brights« belehren lassen. Kant hat den »Aberglauben« in bündiger Weise folgendermaßen formuliert: »Aberglaube ist der Hang[,] in das, was als nicht natürlicher Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären lässt – es sei im Physischen oder Moralischen.« 72 Diese kritische Charakterisierung impliziert sowohl die entschiedene Zurückweisung aller »supernaturalistischen« Anleihen in der Erklärung der Naturphänomene (das hat Kant in der Spur Leibnizens als »faule Vernunft« verurteilt) 73 als auch die UnterKant II 33; vgl. auch II 446. Kant VI 335, Anm. 73 Leibniz hat sehr genau den Irrweg durchschaut, wenn nichts-sagende pseudo-philosophische Erklärungen an die Stelle der notwendigen empirischen (methodisch gesicherten) Forschung treten (d. h. diese ersetzen) wollen; er hat diesen Missbrauch wiederholt entschieden zurückgewiesen und auch schonungslos geradezu dem Spott ausgesetzt; jedoch hat er sich auch entschieden dagegen ausgesprochen, dass »metaphysische« Ansprüche am falschen Ort an die Stelle naturwissenschaftlicher Kausalforschung treten wollen. Ein besonders schönes und witziges Beispiel für solchen Missbrauch hat Leibniz im Abschnitt 10 seiner »Metaphysischen Abhandlung« angeführt; diese längere Textpassage ist im Kontext der Auseinandersetzung mit Dawkins’ Kritik des »teleologischen Gottesbeweises vollständig angeführt, s. u. III., 2.4. 71 72
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scheidung der »Religion von Superstition; welche letztere nicht Ehrfurcht für das Erhabene, sondern Furcht und Angst vor dem übermächtigen Wesen, dessen Willen der erschreckte Mensch sich unterworfen sieht, ohne ihn doch hochzuschätzen, im Gemüte gründet: woraus denn freilich nichts als Gunstbewerbung und Einschmeichelung statt einer Religion des guten Lebenswandels entspringen kann.« 74 Dass »Religion« auf keine »Theorie der Natur« abzielt und deshalb auch keine Ersatz-Theorie zu den wissenschaftlichen Erklärungsansprüchen sein kann (bzw. sein will), ist offenbar noch nicht bis zu Dawkins vorgedrungen. Religion ist keine »Welterklärung«, sondern zielt vielmehr auf eine Selbstverständigung und Orientierung des Menschen in der Welt ab, die in der Nötigung, sein Leben führen zu müssen, und in den damit verbundenen mannigfachen Kontingenzerfahrungen begründet ist. Dies macht für den Menschen die Frage nach dem guten und gelingenden Leben ungeachtet der Erfahrung von vermeidbarer und unvermeidbarer Schuld, Leid und Tod unumgänglich; dabei ist ihm in solchem Blick auf den »moralischen Lauf der Dinge in der Welt« 75 vornehmlich daran gelegen, sich in diesen Erfahrungen jenseits bloßer Überlebensstrategien verständlich zu werden bzw. zu bleiben – es sind dies allesamt Fragen, die in der szientistisch-wissenschaftsgläubigen Perspektive Dawkins’ gar nicht angemessen zu thematisieren sind. 76 Der Status religiöser Aussagen ist deshalb stets in Beziehung auf das an jenem »moralischen Lauf der Dinge« orientierte Selbstverständnis zu verstehen und wird davon losgelöst jedoch unweigerlich missverstanden. Dawkins bemisst indes auch die Theologie unbeirrt just an jenen schiefen Maßstäben (bzw. setzt diese voraus), welche Kant energisch als unangemessen zurückgewiesen hat: »Wenn man fragt, warum uns denn etwas daran geKant V 353. Auch dies lässt vermuten, dass Kant sich mit Stephen Hawking wohl lieber über physikalische bzw. kosmologische Fragen unterhalten hätte – jedenfalls, wenn die Hawking zugeschriebene Äußerung richtig ist: »Es gibt keinen Himmel und kein Leben nach dem Tod für defekte Computer. Das ist ein Märchen für Menschen, die sich vor der Finsternis fürchten.« Man mag ergänzen: Für »Überlebensmaschinen« gibt es derartiges wie einen »Himmel« wohl auch nicht – man wüsste auch nicht, was die dort zu suchen hätten. 75 Kant VI 176. 76 In der Tat: »Selbst die Hoffnung auf eine Optimierung der Weltgeschichte kann das Elend der in der Vergangenheit Entrechteten niemals beseitigen. Atheisten müssten also den Mut haben zu sagen: Ja, wir leben in einer im Grunde sinnlosen, grotesken und absurden Welt, an deren Absurdität auch unsere kleinen privaten Wunscherfüllungen nichts ändern können« (Lohfink 2013, 140). 74
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legen sei, überhaupt eine Theologie zu haben: so leuchtet klar ein, dass sie nicht zur Erweiterung oder Berichtigung unserer Naturerkenntnis und überhaupt irgend einer Theorie, sondern lediglich zur Religion, d. i. dem praktischen, namentlich dem moralischen Gebrauch der Vernunft in subjektiver Absicht nötig sei.« 77 Die von Dawkins verfolgte Strategie ist gewiss bemerkenswert: Man legt Religion/Theologie vorweg in szientistischer Kurzschlüssigkeit auf schiefe Welterklärungsansprüche fest, stellt sodann enttäuscht fest, dass sie dies nicht hinreichend leistet und betreibt daraufhin im Namen wissenschaftlicher Redlichkeit beherzt und erfolgreich ihre Verabschiedung. 78 Es wird sich noch zeigen, dass Kant
Kant V 616. Besonders deutlich wird dies auch dort, wo Dawkins an die Theologie völlig unangemessene Maßstäbe anlegt (s. dazu Dawkins, Die Leere der Theologie: s. DawkinsStiftung im Internet, übersetzt ins Deutsche): »Was hat die Theologie jemals von sich gegeben, das für irgend jemanden auch nur von allerkleinstem Nutzen wäre? Wann hat die Theologie jemals etwas festgestellt, das nachweisbar korrekt und nicht offensichtlich ist? Ich habe Theologen zugehört, ihre Bücher gelesen und mit ihnen debattiert. Ich habe noch niemals von keinem [!] von ihnen auch nur irgend etwas von allerkleinstem Nutzen gehört, nichts, das nicht entweder schon längst völlig offensichtlich ist oder von vorne bis hinten falsch. Wenn all die Errungenschaften der Wissenschaft morgen ausgelöscht wären, dann gäbe es keine Mediziner, sondern Medizinmänner, kein schnelleres Transportmittel als Pferde, keine Computer, keine gedruckten Bücher, keine Landwirtschaft, die für mehr als zum purem Überleben reicht. Wenn all die Errungenschaften von Theologen morgen ausgelöscht wären, könnte irgendjemand auch nur den allerkleinsten Unterschied feststellen? Sogar die schlechten Errungenschaften der Wissenschaft, wie Bomben oder sonar-gelenkte Wahlfängerschiffe [sic], funktionieren! Die Errungenschaften von Theologen tun nichts, verändern nichts, bedeuten nichts. Wie kommt überhaupt jemand auf die Idee, dass ›Theologie‹ ein Fachgebiet ist?« Solch diagnostischer Scharfsinn wird sich freilich in seiner Klischee-Pflege auch durch die theologische Perspektive nicht ablenken lassen: »Zu hoffen ist, dass die Geschichtsbehauptung vom angeblich essentiellen Widerspruch zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie eine kleine an historischen Fakten orientierte Glaubwürdigkeitskrise durchmacht, um als das erkennbar zu werden, was sie ist, eine um einen historischen Kern herum aus- und weitergebaute [und gepflegte] Wanderlegende. Was es in der Tat gibt, ist eine unbestreitbar solide und höchst detail- und umfangreiche wissenschaftliche Datenbasis für eine Theorie der Evolution. Was es des Weiteren gibt, ist eine mit höchster Sorgfalt und philologischer Umsicht ausgearbeitete Exegese biblischer Schöpfungsaussagen und ihre philosophisch-theologische Explikation. Und zwischen beiden liegt nicht der kreationistisch – evolutionistische Frontverlauf mit seiner derzeit so medienwirksam inszenierten Kriegsberichterstattung. Denn so wenig wie das eine zum Gottesbeweis reicht, ebenso wenig reicht das andere zum Gottesverweis« (Lüke 2008, 140).
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die Einbeziehung der in dem »praktischen, namentlich de[m] moralischen Gebrauch der Vernunft« verankerten Religion, die sich als »reine Vernunftsache« 79 an dem »moralischen Lauf der Dinge in der Welt« orientiert, für eine unverkürzte »aufgeklärte Denkungsart« geradezu unverzichtbar hält, zumal Letztere sich keineswegs schon darin erschöpft, sich des Verstandes »ohne Leitung eines andern zu bedienen«, weil damit für die menschliche Vernunft unabweisliche Orientierungfragen noch gar nicht berührt wären, die deshalb notwendig über das »Land des (wissenschaftlichen) Verstandes« hinausweisen (s. u. II., 2.). Auch vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass und weshalb Dawkins’ Hüftschüsse notwendig ihr Ziel verfehlen. Dass auch diese recht prinzipiellen Erwägungen Kants (noch ganz unabhängig von der Stringenz der Gottesbeweise bzw. der kantischen Kritik daran) von Dawkins leider völlig unberücksichtigt bleiben, muss zweifellos als ein schweres und grundlegendes Defizit angesehen werden – jedenfalls dann, wenn man so weitreichende Ansprüche wie Dawkins erhebt. Seine saloppe Erklärung darüber, weshalb er sich auf die »erkenntnistheoretischen Unterschiede zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus« nicht einlassen wollte (Gotteswahn 523) – man fragt sich: Wozu denn auch? –, erscheint in Anbetracht dessen als eine leicht durchschaubare Ausflucht und taugt jedenfalls nicht als eine plausible Erklärung für diese Versäumnisse. Schon die Kenntnisnahme der Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft« hätte da genügt – stattdessen kritisiert Dawkins jedoch unbeirrt den »religiösen Glauben« als einen »Glauben ohne Beweise«. Dass das »Dasein Gottes« nicht gewusst bzw. »bewiesen« werden kann, dies bedeutet nach Kant eben gerade nicht, dass der »Gottesglaube« nicht (als) sinnvoll ausgewiesen, d. h. vernünftig begründet werden könne – dies sollte sich auch bis zur Dawkins-Stiftung durchgesprochen haben; Kant möchte vielmehr gleichermaßen »dem Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben« wie auch der »Schwärmerei und Aberglauben« »die Wurzel« abschneiden, 80 um so erst »zum Glauben Platz zu bekommen«. Eine solche Argumentation sollte jedenfalls, so sollte man meinen, bei jemandem Interesse finden, der (wie Dawkins) für sich eine Auseinandersetzung mit Positionen beansprucht, »die den Gedanken, es könnte Gott nicht
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geben, ernst nehmen und dann Argumente für seine Existenz anführen« (Gotteswahn 524). Damit ist zugleich die mit seinem »Weltbegriff der Philosophie« 81 verbundene Einsicht formuliert, die Dawkins’ Atheismus beharrlich ignoriert: Erst dann, wenn die Gottesfrage nicht mehr auf diesem (Natur-)wissenschaftlichen Terrain angesiedelt wird, sah Kant überhaupt eine Möglichkeit, (a) das in der Gottesfrage eigentlich Erfragte angemessen thematisieren zu können 82 und sodann auch (b) die Frage nach dem »Dasein Gottes« sinnvoll zu stellen und auch entscheidbar zu machen. Auf diesem Weg versuchte er bekanntlich über den Aufweis der »höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft« und einer vernünftig begründbaren »Rangordnung der Zwecke des menschlichen Daseins« zu zeigen, weshalb nicht aus dem Interesse der naturwissenschaftlichen Welterklärung, sondern »aus dem moralischen Gesetz, welches uns [freilich] unsere eigene Vernunft [!] vorschreibt, nun der Begriff von Gott hervor[geht], welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt« 83. Derart wollte Kant Fragen von höchstem Interesse klären und somit auch die Gottesthematik vor einer unkritischen Preisgabe durch eine sich selbst missverstehende Wissenschaft bewahren und gleichermaßen ihre Auslieferung an die Irrationalität des Aberglaubens und der Schwärmerei vermeiden. 84 Hierfür sei es freilich erforderlich, wissenschaftliche Welterklärungsansprüche (ihr »erkenntnisleitendes Interesse«) von den von der menschlichen Existenz« unablöslichen Fragen des Sinnes und der Bewandtnis des Lebens zu unterscheiden, weil eine Kant bestimmt diesen »Weltbegriff der Philosophie« folgendermaßen: »In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« (II 700). 82 Auch dies hätte Dawkins freilich auch von Wittgenstein erfahren können: »Was weiß ich über Gott und den Zweck des Lebens? […] Dass etwas an ihr [d. i. »dieser Welt«, R. L.] problematisch [im kantischen Sinne, R. L.] ist, was wir ihren Sinn nennen« (Wittgenstein, Bd. 1: Tagebücher. Tagebuch-Aufzeichnung vom 11. 6. 1916, 167). 83 Kant III 391, Anm. 84 So kritisierte Kant ja nicht weniger die Ansprüche zeitgenössischer »Geisterseher« und deren Tagträume sowie den Eigendünkel spiritueller Kraftleute und deren »übersinnliche Eskapaden«, ebenso energisch verwarf er die materialistisch-naturalistischen Auffassung derer, die »gar keinen Gebrauch der Vernunft einräumen« als eben »in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung« (Kant, Refl. 6219, in: AA XVIII, 508 f.). S. dazu u. II., 2.3. 81
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
Vermengung der durchaus unterschiedlichen Ansprüche und leitenden Interessen unweigerlich auch eine Verengung menschlicher Vernunftansprüche und eine – sei es auch in Berufung auf höchste Rationalitätsansprüche begünstigte – »Irrationalität« von besonderer Art unvermeidlich zur Folge hätte. Diese voranstehend skizzierte kantische Problemsicht sollte, weil dies für die nachfolgenden Überlegungen von besonderem Interesse sein wird, vor dem Hintergrund der Dawkins’schen Kritik eines seines Erachtens lediglich inkonsequenten »Agnostizismus« noch einmal vor Augen führen: Was Dawkins völlig verkennt, ist die grundsätzliche – d. h. keineswegs bloß dem vorläufigen gegenwärtigen Wissensstand entsprechende – unaufhebbare Grenze, die (im Unterschied zu einer bloßen »Schranke«) als solche eben auch durch keinen wissenschaftlichen Fortschritt überwunden werden kann und infolgedessen auch ihre Bestimmung als Hypothese bzw. Wahrscheinlichkeitserwägung verbieten muss. Die obigen Hinweise (und nicht zuletzt die ausführlichen Kant-Zitate) sollten – insbesondere für philosophisch weniger vorgebildete Leserinnen und Leser – dies deutlich machen: Es geht ja keineswegs etwa darum (wie Dawkins insinuiert), dass bzw. ob Naturwissenschaftler keinen Kommentar zur Gottesthematik abgeben »sollen« (s. o. II., 1.), vielmehr ist es ausschließlich darum zu tun, ob Letztere in methodischer Hinsicht ein möglicher Gegenstand der wissenschaftlichen Theoriebildung bzw. Entscheidung seiner Existenz sein kann. 85 Dafür ist freilich vorrangig die besonnene – keinesfalls auf die Errichtung einer »erkenntnistheoretischen Schutzzone« abzielende – Einsicht bestimmend (die in grundlegender Weise gleichermaßen bezüglich der »Beweisbarkeit« der Freiheit und auch der Gottesthematik zu beherzigen bleibt): »Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Verteidigung, d. i. Abtreibung In diesem Sinne ist wohl auch die Bemerkung von Papst Benedikt XVI. zu verstehen: »Die Naturwissenschaft hat große Dimensionen der Vernunft erschlossen, die bisher nicht eröffnet waren, und uns dadurch neue Erkenntnisse vermittelt. Aber in der Freude über die Größe ihrer Entdeckung tendiert sie dazu, uns Dimensionen der Vernunft wegzunehmen, die wir weiterhin brauchen. Ihre Ergebnisse führen zu Fragen, die über ihren methodischen Kanon hinausreichen, sich darin nicht beantworten lassen. Dennoch sind es Fragen, die die Vernunft stellen muss und die nicht einfach dem religiösen Gefühl überlassen werden dürfen. Man muss sie als vernünftige Fragen sehen und dafür auch vernünftige Weisen des Behandelns finden« (Horn/Wiedenhofer 2007, 151 f.).
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Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben …« 86, die gerade auch gegenüber den »brights« seine gelassene Zuversicht bestätigt: »… widerlegt zu werden, ist in diesem Falle keine große Gefahr, wohl aber, nicht verstanden zu werden« 87. Diese soeben erwähnte Grenzziehung Kants, »wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört«, – und sein darin geknüpfter prinzipieller Hinweis auf die »zu begreifende Unbegreiflichkeit« – enthält zugleich eine Antwort auf den von Dawkins so beherzt geführten Kampf gegen das »Übernatürliche«, das als solches freilich »keine echte Erklärung liefern kann« und gleichwohl von ihm für die Erklärung in Anspruch genommen wird. »Alles ›Übernatürliche‹ muss definitionsgemäß außerhalb der Reichweite einer natürlichen Erklärung liegen. Es muss außerhalb der Reichweite der Wissenschaft und der gut bewährten und bewährten wissenschaftlichen Methodik liegen, der wir die gewaltigen Wissensfortschritte der letzten 400 Jahre verdanken. Wer behauptet, irgendetwas sei auf übernatürliche Weise geschehen, sagt nicht nur: ›Wir verstehen es nicht‹, sondern auch: ›Wir werden es nie verstehen und versuchen es darum erst gar nicht‹« (Zauber 21). Damit ist nur nochmals jener schon in Dawkins’ »Gotteswahn« geäußerte Anspruch bekräftigt, auch die Gottesthematik innerhalb dieses Bereichs der »natürlichen Erklärungen« der modernen Naturwissenschaften anzusiedeln und jedenfalls hier die Entscheidung derselben zu erwarten. Deutlicher als in solcher Stellungnahme kann Dawkins sein Unverständnis jener so bedeutenden kantischen Auffassung: »Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf«, gar nicht demonstrieren; dabei verkennt er völlig den schlichten Sachverhalt, auf den Kants Erklärung abzielt: Wenn »Erklären« in diesem Sinne darauf abzielt, Phänomene der Natur auf die Naturgesetze zurückzuführen, die eben für die Naturerscheinungen Kant IV 96. Dies betonte Kant gegen die – unreflektiert-anmaßenden – »frechen und das Feld der Vernunft verengenden Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus« (III 240) – nach wie vor offensichtlich höchst aktuell! Deren philosophische Kritik bzw. Zurückweisung ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, ohne die der begründete Aufweis der »Rationalität« (d. h. nicht: der »Beweisbarkeit«) des »Glaubens« nicht gelingen kann. 87 Kant II 40. Davon ist freilich nicht zuletzt auch der schon genannte Titel des Buches von Dawkins’ Lieblingsautor Atkins: »God, the Failed Hypothesis: How Science Shows that God Does Not Exist« (»Die gescheiterte Gotteshypothese: Wie die Wissenschaft zeigt, dass es Gott nicht gibt«) betroffen. 86
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
uneingeschränkte Gültigkeit haben, dann sind Erklärungsansprüche schon definitionsgemäß dort sinnlos, d. h. unmöglich, wo sie sich eben nicht auf »Naturphänomene« und diesbezügliche »Gesetzmäßigkeiten« beziehen können – denn in diesem Fall würden seltsamerweise Erklärungsansprüche erhoben ohne dasjenige zu »Erklärende«, auf das sie sich doch allein beziehen können. Dies ist auch der nochmalige Grund dafür, warum sich nach Kant auch Wahrscheinlichkeitskalküle in solchen Erklärungen beschränken müssen auf den derart abgegrenzten Bereich des einer Erklärung allein prinzipiell »Zugänglichen«, d. h. einer solchen Erklärung »Fähigen«. Auch diese von Dawkins noch jüngst unbeirrbar vertretenen einschlägigen Thesen – sie bestimmen nicht zuletzt auch seine in dem Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« leitende Argumentation – bestätigt, dass er infolgedessen auch die Rechtmäßigkeit und Unverzichtbarkeit eines »methodischen Atheismus« ebenso verkennt wie die Legitimität und den Stellenwert einer kritischen teleologischen Perspektive, die er in Berufung auf Darwin’sche Motive als wissenschaftlich obsolet geworden verabschiedet. Im Sinne eines in der kritischen methodischen Selbstreflexion der Naturwissenschaften und eines daraus gewonnenen methodischen Atheismus lässt sich – anders als Dawkins allerdings meint – in der Tat sagen: »Die Gotteshypothese ist in all ihren Formen überflüssig« (Gotteswahn 66). Bezogen auf die wissenschaftlichen Welterklärungsansprüche (kantisch: in Bezug auf die »Natur der Dinge«) hat Dawkins auch zweifellos Recht, denn es bestätigt sich lediglich erneut: Naturwissenschaft muss – schon definitionsgemäß – aus methodischen Gründen dasjenige ausschließen, was außerhalb ihres Gegenstandsbereiches, d. i. ebender empirischen Realität, liegt, und darf zur Erklärung derselben auch nicht auf nicht-empirische Faktoren rekurrieren – d. h. eine sich selbst verstehende Naturwissenschaft muss in der Tat so vorgehen, »als ob es Gott nicht gäbe« (»etsi deus non daretur«). Dann darf die naturwissenschaftliche Forschung aber – und dies ist nur die andere Seite dieser methodisch notwendigen Vorgehensweise – auch nicht behaupten bzw. in einer Art »Selbstvergessenheit« beklagen, dasjenige nicht finden zu können, wovon sie ja ausdrücklich und aus methodischen Gründen vollkommen zu Recht abgesehen (»abstrahiert«) hat und absehen muss. Damit ist auch gesagt, dass dieser »methodische Reduktionismus« nicht nur legitim, sondern unverzichtbar ist, sofern er eine notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Verfahrensweise selber ist. Das wird auch von Dawkins völlig 318 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die von Dawkins verweigerte Reflexion auf methodisch bedingte Grenzen
ignoriert – und so gerät für ihn die Frage nach Gott bezeichnenderweise unversehens neben diejenige nach der chemischen Beschaffenheit der Sterne, ausgestattet mit einer verheißungsvollen »Nochnicht-Perspektive«: »In der Geistesgeschichte gibt es viele Beispiele für Fragen, von denen man früher glaubte, sie seien der Wissenschaft für alle Zeiten unzugänglich, und später wurden sie dennoch beantwortet« (Gotteswahn 78). Hier wird der völlige Ausfall einer kritischen methodischen Selbstbesinnung bei Dawkins erneut besonders deutlich – ebenso in seiner Bemerkung: »Und manche Wissenschaftler und andere Intellektuelle sind – nach meiner Überzeugung allzu eifrig – überzeugt, dass auch die Frage nach der Existenz Gottes in die für alle Zeiten unzugängliche PPA-Kategorie gehört. Wie wir noch sehen werden, ziehen sie daraus häufig den unlogischen Schluss, die Hypothese von Gottes Existenz und die Hypothese von Gottes Nichtexistenz könnten mit genau der gleichen Wahrscheinlichkeit richtig sein. Ich werde hier einen ganz anderen Standpunkt vertreten: Der Agnostizismus hinsichtlich der Existenz Gottes gehört eindeutig in die VPA-Kategorie« (Gotteswahn 69). So gerät die Frage nach der Existenz Gottes bei Dawkins sehr rasch in die Nähe von allen möglichen gespenstischen oder zauberhaften Phantasieprodukten, und die daraus von ihm empfohlene Konsequenz in seiner Beantwortung der Fragen »Was ist Wirklichkeit? Was ist Zauber?« sowie die damit verbundene (schon bekannte) Weichenstellung lässt auch nicht lange auf sich warten – die Frage nach Gott erhält unerwartete Konkurrenz: »Wir können uns Millionen Dinge ausmalen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wirklich existieren – Feen und Kobolde, Riesen und Hippogreife. Wir sollten immer aufgeschlossen sein, aber um die Existenz von etwas zu glauben, muss es dafür Beweise geben« (Zauber 14). Das verhält sich Dawkins zufolge offenbar in der Frage nach Gott im Grunde nicht anders als bei der Erkundung der Existenz des berühmt gewordenen »fliegenden Spaghetti-Monsters«. So einfach ist das also, wenn man nur hinreichend »aufgeklärt« und mutig ist.
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2. Die »brights« und die Aufklärung: Was Kant von einer »aufgeklärten Denkungsart« gefordert hat 88
2.1 Kants Kritik an einer szientistisch verkürzten Rationalität und an einem »dogmatischen Unglauben« Ungeachtet dessen, dass Kant auch den Anspruch der traditionellen Gottesbeweise als uneinlösbar zurückgewiesen (s. u. III., 2.2–2.5) und ebenso entschieden – ganz im Sinne jenes kritischen »methodischen Atheismus« – die Vorstellung verworfen hat, innerhalb der empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung auf nicht-empirischen Erklärungsfaktoren (als »Fremdlingen in der Naturforschung«) zu rekurrieren, wollte er jedoch die Gottesthematik bekanntlich keineswegs verabschieden – ganz im Gegenteil: War es doch gerade Kant, der die Gottesfrage als ein unabweisliches Vernunftthema verteidigte, das als ein solches eben gerade nicht im Sinne einzelwissenschaftlicher Theorie- bzw. Hypothesenbildung angemessen thematisiert oder gar entschieden werden könnte. Aus seinem schon erwähnten Aufweis, dass Gott keinesfalls ein aus der »Theorie der Natur hervorgehender Begriff« sei, 89 weil ebendies dem »Bedürfnis der fragenden Vernunft« nicht genügt, folgt zuletzt dies: »Da nun der Begriff von In den nachfolgenden Abschnitten sollen Grundzüge des von Kant geltend gemachten Zusammenhanges von »Moral und Religion« vergegenwärtigt bzw. kurz skizziert werden, die er auch als Grundgerüst einer aufgeklärten Religionsbegründung angesehen hat. 89 Genau das Gegenteil davon behauptet offensichtlich Dawkins’ philosophischer Gewährsmann Dennett, der die Frage, ob Darwins Theorie notwendig in Atheismus münde, ohne jedes Zögern so beantwortet: »Eindeutig. Dass es in der Welt Design gibt, war immer das stärkste Argument für die Existenz Gottes – und Darwin hat dem den Boden entzogen« (so Dennett in einem Spiegel-Interview [Der Spiegel Nr. 52, 24. 12. 2005]. Die Haltlosigkeit dieser Behauptung wird schon allein durch die angeführten Kant-Zitate erwiesen. Wie die von Dennett in Aussicht gestellte Moraltheorie (Darwin’s Dangerous Idea [New York 1995, bes. 304 ff.]) auf darwinistischer Basis zugleich auch mit seiner explizit materialistischen Geist-Konzeption (die Geist und Gehirn identifiziert) vereinbar sein soll, ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar. 88
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Die »brights« und die Aufklärung
Gott, der für die Religion tauglich sein soll (denn zum Behuf der Naturerklärung, mithin in spekulativer Absicht brauchen wir ihn nicht [!]) ein Begriff von ihm als einem moralischen Wesen sein muss« 90. Beachtenswert bleibt in diesem Kontext auch dies: Kant wusste jedenfalls noch darum, dass »Bescheid wissen« in der Sache auch mit »Bescheidenheit« zu tun hat und das Gegenteil von »Vermessenheit« ist; immer noch – und in jeder Hinsicht – beherzigenswert ist deshalb seine im Sinne einer »gelehrten Unwissenheit« (»docta ignorantia«) zu verstehende Einsicht: Das »Wissen bläht auf, das Wissen bis zu den Grenzen desselben macht demütig« 91 – ein sowohl an die Verteidiger der Gottesbeweise als auch an »dogmatisch Ungläubige« gerichteter Satz, der gleichermaßen gegen sich selbst missverstehende bzw. überzogene Ansprüche theologischerseits wie auch gegenüber einem unkritischen reduktionistischen Szientismus Beachtung verdient. Es war schon davon die Rede: Dass Kant gegen unreflektiertvermessene 92 Wissensansprüche in gewisser Weise tatsächliche eine »agnostische« Haltung einnahm, bedeutet ja keineswegs, dass er damit etwa einen Glaubens-Irrationalismus begünstigen wollte; ebenso Zu Darwins differenzierter Sichtweise, die gerade in seiner Auseinandersetzung mit seinem gläubigen Freund Asa Gray sichtbar wird, s. Hösle 2013. 90 Kant VI 106. Für die mit Kant weniger vertrauten Leser seien im Folgenden wiederum für das Verständnis der Sachfragen wichtige Passagen ausführlich zitiert. 91 S. dazu nochmals Kants eindringliche Abwehr von »über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus« erhobenen Erkenntnisansprüchen: Kant II, 355 f (vgl. o. II., Anm. 69). – Darauf zielt die Einsicht in die Grenzen der Vernunft »in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art …, die nicht etwa nur vermutet, sondern aus Prinzipien bewiesen werden. So ist der Skeptizismus ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte; denn dieser kann nur in einer völligen Gewissheit angetroffen werden, es sei nun der Erkenntnis der Gegenstände selbst, oder der Grenzen, innerhalb derer alle unsere Erkenntnis von Gegenständen eingeschlossen ist« (Kant II, 646 f.). 92 Für beide Seiten trifft ja bemerkenswerterweise Kants Kennzeichnung der »Vermessenheit« recht genau zu: »Das deutsche Wort vermessen ist ein gutes bedeutungsvolles Wort. Ein Urteil, bei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte (des Verstandes) zu überschlagen vergißt, kann bisweilen sehr demütig klingen, und macht doch große Ansprüche, und ist doch sehr vermessen. Von der Art sind die meisten, wodurch man die göttliche Weisheit zu erheben vorgibt, indem man ihr in den Werken der Schöpfung und der Erhaltung Absichten unterlegt, die eigentlich der eigenen Weisheit des Vernünftlers Ehre machen sollen« (Kant V 497).
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wenig wollte er damit in Zweifel ziehen, dass es durchaus »gute Gründe« für die Bejahung eines von ihm sogenannten »moralischen Theismus« gibt; dessen innere Rationalität setze freilich die kritische Haltung voraus, die allein davor bewahrt, ein unabweisliches »Vernunftbedürfnis« mit »Einsicht« im Sinne kognitiver Ansprüche bzw. »Beweisen« zu verwechseln. Die Klärung der damit verbundenen Verbindlichkeitsansprüche sei vielmehr für beide im Streit befindlichen Parteien eine Aufgabe, die sich nicht zuletzt für einen vernünftigen Umgang mit dem Thema »Gottesbeweise« als unumgänglich erweise. Jene schon zitierte Mahnung Kants erweist sich nach wie vor als höchst aktuell: »Der da sagt, dass ein Gott sei, sagt mehr, als er weiß, und der das Gegenteil sagt, imgleichen. Niemand weiß, dass einer sei, sondern wir glauben es.« 93 Aber auch über den schlichten Sachverhalt, dass die Welt »keine Kinderstube ist« und »wir gerne glauben, was wir wünschen«, 94 (die »Rationalität« der Gottesfrage folglich nicht eine bloße Sache menschlicher Wünsche sein kann), musste sich Kant von Dawkins nicht belehren lassen – war es doch Refl. 4941: AA XVIII, 36. Dawkins’ Ansinnen erfährt durch die doppelte Abgrenzung Kants eine Absage, die an Deutlichkeit nicht zu überbieten ist: Kant wendet sich nicht nur gegen die »vermessene« Erwartung, »dass man hoffen könne, man werde dereinst noch evidente Demonstrationen der zwei Cardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben, erfinden. Vielmehr bin ich gewiss, dass dieses niemals geschehen werde. Denn wo will die Vernunft den Grund zu solchen synthetischen Behauptungen, die sich nicht auf Gegenstände der Erfahrung und deren innere Möglichkeit beziehen, hernehmen? Aber es ist auch apodiktisch gewiss, dass niemals irgendein Mensch auftreten werde, der das Gegenteil mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch behaupten könne. Denn weil er dieses doch bloß durch reine Vernunft dartun könnte, so müsste er es unternehmen, zu beweisen: dass ein höchstes Wesen, dass das in uns denkende Subjekt als reine Intelligenz unmöglich sei. Wo will er aber die Kenntnisse hernehmen, die ihn, von Dingen über alle mögliche Erfahrung hinaus so synthetisch zu urteilen, berechtigen? Wir können also darüber ganz unbekümmert sein, dass uns jemand das Gegenteil einstens beweisen werde, dass wir darum eben nicht nötig haben, auf schulgerechte Beweise zu Sinnen, sondern immerhin diejenigen Sätze annehmen können, welche mit dem spekulativen Interesse unserer Vernunft im empirischen Gebrauch ganz wohl zusammenhängen und überdem es mit dem praktischen Interesse zu vereinigen die einzigen Mittel sind. Für den Gegner (der hier nicht bloß als Kritiker betrachtet werden muss) haben wir unser non liquet in Bereitschaft, welches ihn unfehlbar verwirren muss, indessen dass wir die Retorsion desselben auf uns nicht weigern, indem wir die subjective Maxime der Vernunft beständig im Rückhalte haben, die dem Gegner notwendig fehlt, und unter deren Schutz wir alle seine Luftstreiche mit Ruhe und Gleichgültigkeit Ansehen können« (II 633 f.). 94 Kant III 503. 93
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Die »brights« und die Aufklärung
gerade Kant, der die Gottesfrage als ein unabweisliches Vernunftthema behauptete, das als ein solches freilich gerade nicht im Sinne einzelwissenschaftlicher Theorie- bzw. Hypothesenbildung auch nur angemessen thematisiert oder gar entschieden werden kann. Was Kant von einer »Geistesart«, die wahrhaft »aufgeklärt« (und nicht nur »bright«) zu sein 95 für sich rechtens beansprucht, erwartete, war offenbar nicht zuletzt dies, »Rationalität« nicht mit empirischer oder mathematischer Beweisbarkeit bzw. Wahrscheinlichkeit einfachhin gleichzusetzen, weil andernfalls – ganz im Sinne jenes von Kant kritisierten »dogmatischen Unglaubens« 96 – von den wesentlichsten Fragen geradewegs abgesehen werden müsste, die jedoch mit einer bewussten Lebensführung und daran geknüpften Grenzfragen unzertrennlich verbunden sind und infolgedessen in jener Dawkins’schen Erklärung des »Besonderen« der Gottesidee und deren »Überleben« offenbar noch nicht einmal berührt sind 97: »Die Fragen: ob die Welt einen Anfang und irgend eine Grenze ihrer Ausdehnung im Raume habe, ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehen bleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit
Insofern hätte Kant es durchaus für möglich gehalten, dass sehr helle Köpfe zugleich höchst unaufgeklärt sind. 96 Refl. 2783 (XVI, 508 f.): »Ungläubisch ist der, welcher auf Zeugnisse nichts annehmen will, was nicht bis zum Wissen hinreichend bestätigt ist. (Man muss hier vieles durch willkürliche Annehmung supplieren, um den Versuch, zu gewissen Erkenntnissen zu gelangen, machen zu können.) Gemeiniglich ist er misstrauisch und argwöhnisch. Ungläubig ist der, welcher aus moralisch (Zur practischen Befolgung der Pflicht) hinreichenden Gründen etwas nicht einräumen will, bloß darum, weil er theoretisch davon nicht gewiss werden kann. Zeigt Mangel an moralischem Interesse. Der Ungläubige tut nichts auf Glauben (einer andern Welt); er verlangt Siegel und Briefe. und Baar.« 97 Kant spricht von einer »metaphysischen Naturanlage«, die in diesen unabweislichen Fragen sich artikuliert, in denen sie sich aber auch, ohne eingehende Prüfung ihrer Grenzen, in dann unvermeidliche Widersprüche verstrickt. 95
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keine Befriedigung verschaffen.« 98 Die Reduktion von »Rationalität« auf die Ebene des wissenschaftlich »Beweisbaren« hätte ihm zufolge den Preis, dass eine umgreifende Vernunft-orientierte Selbstverständigung des Menschen unmöglich bzw. der bloßen Irrationalität ausgeliefert wäre. Die Berufung auf »wissenschaftliche Rationalität« müsste unversehens selbst in einen wissenschaftlichen Aberglauben bzw. in eine damit verbundene Borniertheit umschlagen, die das Interesse an einer solchen umgreifenden vernünftigen Daseins-Orientierung vereiteln bzw. Letztere der irrationalen Beliebigkeit preisgeben. Deshalb sucht das – nach wie vor aktuelle – kantische Programm der Aufklärung, zunächst einmal vorrangig Klarheit darüber zu verschaffen, worauf sich denn wissenschaftliche Erkenntnisansprüche überhaupt rechtens beziehen können – wovon also grundsätzlich etwas im strengen Sinne zu »erkennen« bzw. zu »beweisen« ist und wovon nicht –, ohne jedoch diejenigen Fragen, die einer solchen naturwissenschaftlichen Entscheidbarkeit prinzipiell entzogen sind, deswegen als unsinnig, »irrational« zu verwerfen –, wie dies Dawkins ohne weitere Selbstkritik ganz selbstverständlich tut (s. o. II., 1.). Jenseits von pseudowissenschaftlichen Erklärungsansprüchen und einer ebenso haltlosen religiösen Moralbegründung brachte Kant also – ganz im Sinne jenes programmatischen Satzes: »Ich musste das Wissen aufheben [d. h. auf den Bereich des »Raumzeitlich«-Gegebenen einschränken, weil nur dies im strengen Sinne erkennbar ist], um zum Glauben Platz zu bekommen« – vielmehr Fragen zur Geltung, die mit einer bewussten Lebensführung und dessen »Bewandtnis im Ganzen«, d. h. mit dem »Interesse der Vernunft« (und nicht bloßem Wunschdenken), unzertrennlich verbunden sind. Nach Kant stehen darin menschliche Sinnansprüche von höchstem Interesse auf dem Kant II 441. »Die Vernunft würde lieber alle andre Wissenschaften aufgeben wollen als diese [Metaphysik]« (AA XXIX, 765). In einem Brief an einen befreundeten Mathematiker und Philosophen (seinen früheren Schüler S. Beck) gibt sich Kant in diesem Sinne »teils durch eigene Erfahrung, teils, und weit mehr, durch das Beispiel der größten Mathematiker überzeugt, dass bloße Mathematik die Seele eines denkenden Mannes nicht ausfülle, dass noch etwas anderes sein muss, was das Gemüt durch Beschäftigung der übrigen Anlagen desselben teils nur erquickt, teils ihm auch abwechselnde Nahrung gibt und was kann dazu, und zwar auf die ganze Zeit des Lebens, tauglicher sein, als die Unterhaltung mit dem, was die ganze Bestimmung des Menschen betrifft; wenn man vornehmlich Hoffnung hat, dass sie systematisch durchgedacht und von Zeit zu Zeit immer einiger bare Gewinn darin gemacht werden kann« (AA XI, 290).
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Spiel, die der Mensch sich deshalb auch nicht abgewöhnen kann, zumal diese das menschliche Leben als ein »gelingendes Ganzes« berühren, d. h. auf die »wesentlichen und höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft« abzielen (Recht, Moralität, Liebe, Religion). Die nach Kant mit diesem Programm, »das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«, verbundene Frage ist also: Wie kann und muss von Gott gesprochen werden, obgleich ihm zufolge »evidente Demonstrationen der zween Kardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben« 99, aus prinzipiellen Gründen nicht zu erwarten sind, ebendies jedoch für eine »moralische Lebensführung« des Menschen und somit für seine »ganze Bestimmung« auch nicht angemessen wäre (s. dazu u. II., 2.2). Auch wenn sie sich einer »wissenschaftlichen« Auflösung grundsätzlich entziehen, dürfen sie jedoch keineswegs von einem szientistischen Kurzschluss, der »Rationalität« mit empirischer oder mathematischer Beweisbarkeit bzw. Wahrscheinlichkeit einfachhin gleichsetzt, als »irrational« verworfen werden. So bestätigt sich nach Kant lediglich: »Wir können dem Verstand [genauer wohl: der Vernunft] die Fragen nicht abgewöhnen. Sie sind so sehr in der Natur der Vernunft [!] verwebt, dass wir ihrer nicht loswerden können.« 100 Dies impliziert freilich geradewegs eine entschiedene Abwehr einer »psychologischen Auflösung« bzw. Verabschiedung derselben, wie er ja auch schon gegen D. Hume geltend gemacht hat. Ebendies lässt auch die Folgerung zu: Es muss gegenüber Dawkins’ doktrinärem Positivismus gezeigt werden können, dass diese »gewissen Fragen« ungeachtet des durch diesen Verzicht erst ermöglichten Erfolges unverzichtbar sind, wenn man nicht auf seinen umfassenden Vernunftgebrauch verzichtet bzw. Vernunft nicht stillschweigend auf den wissenschaftlichen Verstandesgebrauch reduziert. Der Aufweis dieser für einen umfassenden Vernunftgebrauch und für ein entsprechendes Selbstverständnis des Menschen unabweislichen Fragen erweist sich somit selbst als ein Desiderat einer aufgeklärten Denkungsart, wie sich gerade anhand des kantischen »Aufklärungs«-Programms zeigen lässt, das deshalb nicht bloß verkürzt wahrgenommen werden darf (wie dies jedoch weithin üblich ist). Denn eine bemerkenswerte Konsequenz bzw. Pointe desselben ist doch gerade dies, dass eine Gleichgültigkeit (Indifferentismus) 99 100
Kant II 633. Kant AA XXIX.1.2, 765.
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oder Verwerfung dieser Fragen mit einer aufgeklärten Denkungsart geradezu unverträglich ist! Allein auf dem sicheren Fundament einer kritischen Ausmessung des Vernunfthorizontes vermag demzufolge solche aufgeklärte »Weltweisheit« menschlichem Denken und Handeln und Hoffen Orientierung zu geben – nur so wird es aber auch möglich, sich in Erkenntnisansprüchen sowie in Ansprüchen menschlicher Praxis und des Hoffens mit dem ihm Möglichen und Angemessenen zu begnügen, um so gemäß jener Absicht, »für den Glauben Platz zu bekommen«, die Gottesthematik für den Menschen als mit existenziell relevanten Daseinserfahrungen unabweislich verbunden auszuweisen, wie sogleich (s. u. II., 2.2) skizziert werden soll. Im Gegensatz zu Kants Würdigung der Gottesthematik als ein unabweisliches Vernunftthema (und seiner Zurückweisung ihrer »psychologischen Auflösung«) hält Dawkins ohne langes Zögern eine Antwort auf seine eigene Frage bereit: »Die Frage heißt eigentlich: Was ist an der Vorstellung von einem Gott so Besonderes [!], das ihr in der kulturellen Umwelt ihre Beständigkeit und Wirksamkeit verleiht? Der Überlebenswert des Gott-Mems im Mempool ergibt sich aus seiner großen psychologischen Anziehungskraft. Es liefert eine auf den ersten Blick einleuchtende Antwort auf unergründliche und beunruhigende Fragen über das Dasein« (Das egoistische Gen 227). Ebensolche »psychologisierende« Argumentation hält jedoch dem kritisch »gebrochenen« Begründungsanspruch und der kantischen Bestimmung der »Gottesidee« nicht stand. Ihr gegenüber hat Kant zunächst schon darauf hingewiesen, dass die Idee Gottes als des »allerrealsten Wesens« nicht nur nichts Widersprüchliches enthält, ja diese sich schon insofern als kein bloßes »Hirngespinst« erweist, als die Idee des »allerrealsten Wesen« als ein »fehlerfreies« Ideal und als solches als notwendiger Vernunftinhalt ausgewiesen werden kann: Es sei diese menschliche Vernunft selbst, die »ein Bedürfnis fühlt, den Begriff des Uneingeschränkten dem Begriffe alles Eingeschränkten, mithin aller anderen Dinge, zum Grunde zu legen« 101. Damit nahm Kant offenkundig das berühmte Motiv aus Descartes’ »dritter Meditation« auf, wonach die »Idee des Unendlichen in gewisser Weise der Idee des Endlichen [freilich nicht in einem zeitlichen Sinne] voraus liegt«, d. h. dieses erst ermöglicht – so wie »Unvoll101 Kant III 272. Hier berührt auch Kant in der Sache die Thematik des von Dawkins bis zur Unkenntlichkeit entstellten »vierten Weg« des Thomas v. Aquin, s. dazu u. III., 2.3.
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Die »brights« und die Aufklärung
kommenes« eben nur von dem schon vorausgesetzten Maßstab des »Vollkommenen« her begreiflich wird. Freilich war er auch hier darauf bedacht, dass mit dieser zwar als Maßstab fungierenden Idee des »Uneingeschränkten« jedoch noch nichts über das »Dasein« desselben entschieden sei, weil dieser zwar notwendigen Idee des »Uneingeschänkten« nicht – gewissermaßen stillschweigend – »Dasein« unterschoben werden darf; 102 vor solchen in mancher Hinsicht verführerischen und naheliegenden »Erschleichungen« müsse man sich nach Kant eben hüten, wofür eine kritische Philosophie als Vernunftkritik unverzichtbare Hilfestellungen anzubieten vermag. Ungeachtet der »Denknotwendigkeit« jener Idee bleibt es also dabei: »Der da sagt, dass ein Gott sei, sagt mehr, als er weiß, und der das Gegenteil sagt, imgleichen. Niemand weiß, dass einer sei, sondern wir glauben es« (s. o. II., Anm. 93). Über den Aufweis der Denkbarkeit Gottes als des »allerrealsten Wesens« führt nach Kant freilich kein gangbarer Weg hinaus. Dass die Existenz Gottes für »endliche Vernunftwesen« zwar nicht erkennbar ist, ändert ihm zufolge jedoch nichts daran, dass wir uns selbst als »vernünftige, aber endliche Wesen« in der Welt, in der wir leben, ohne diesen Bezug zu dieser Vernunftidee Gott nicht verständlich werden bzw. bleiben können und nur dies eine umfassende Lebensorientierung und die »Selbsterhaltung der Vernunft« gewährleistet. Es wird sich noch zeigen, dass genau in diesem nicht trivialen – die »Religion« vornehmlich zu einer bloßen »WohlfühlAngelegenheit« verstümmelnden – Sinne nach Kant der Mensch »ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könne« 103 und ebendies demnach auf den von ihm gesuchten Aufweis führt: »Gott ist doch kein Wahn« 104.
102 »Denn alle Verneinungen (welche doch die einzigen Prädikate sind, wodurch sich alles andere vom realesten Wesen unterscheiden lässt) sind bloße Einschränkungen einer größeren und endlich der höchsten Realität, mithin setzen sie diese voraus, und sind dem Inhalte nach von ihr bloß abgeleitet«. Freilich betont Kant ausdrücklich: »Alles dieses aber bedeutet nicht das objektive Verhältnis eines wirklichen Gegenstandes zu andern Dingen, sondern der Idee zu Begriffen, und lässt uns wegen der Existenz eines Wesens von so ausnehmenden Vorzuge in völliger Unwissenheit« (Kant II 519 f.). 103 Refl. 8106, AA XIX, 649. 104 Refl. 6220, AA XVIII, 510.
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
2.2 Bedrängende Interessen und Fragen des Menschen, die nach Kant auch von einer »aufgeklärten Vernunft« nicht zu verabschieden sind Der Aufweis, dass die Fragen nach »Gott, Freiheit, Seele« unabweisliche Themen der menschlichen Vernunft sind, in denen sich eine »metaphysische Naturanlage« des Menschen widerspiegelt, und es dies deshalb verbieten muss, sich diese Fragen etwa durch die Entwicklungen und Errungenschaften der modernen Wissenschaften »ausreden« bzw. »austreiben« zu lassen (wie der Pseudo-Aufklärer Dawkins, nicht zuletzt in Berufung auf den »Zauber der Wirklichkeit«, seiner Leserschaft empfiehlt), steht in engstem Bezug zu der von Kant immer wie-der geforderten »aufgeklärten Denkungsart«. Gegenüber einer in diesen Themenfeldern oftmals zutage tretenden »Vermessenheit« machte er ebenso entschieden geltend, dass jene Fragen jedoch weder Gegenstand der modernen Naturwissenschaft sein noch in dem Sinne als »bewiesen« angesehen werden können, wie dies in der Tradition philosophischen Denkens, in der Kant selbst sich verortet, vielfach beansprucht wurde. Eine entscheidende Pointe seines kritischen Unternehmens (und somit seines Programms der »Aufklärung«) besteht demgegenüber gerade darin, die aufgewiesene Notwendigkeit eines recht verstandenen »Agnostizismus«, der auf der »Nicht-Beweisbarkeit« bzw. der »Nicht-Erkennbarkeit« (im strengen Sinne) dieser genannten Ideen »Gott, Freiheit, Seele« insistiert, mit der schon erwähnten Einsicht zu verbinden, dass und weshalb eine solche Erkennbarkeit Gottes prinzipiell unmöglich – und, wie Kant betont, für den Menschen als »moralisches Wesen« auch gar nicht sinnvoll – ist; ebensolches »wissendes Nichtwissen« erlaubt es nach Kant – und fordert dies geradezu –, diese Themen nicht einfach als sinnlos zu verabschieden, und verlangt den daran geknüpften Aufweis, wie diese auch in einer philosophischen Besinnung als vernünftig und unverzichtbar zu legitimieren sind. Es hat sich schon erwiesen: Klärungsbedürftig ist somit vor allem dies: Wie sind diese Themen und die sich darin artikulierende »metaphysische Naturanlage« als »vernunftgemäß« auszuweisen, wenn sie weder Gegenstand der Einzelwissenschaften sind noch in philosophischer Erkenntnis »bewiesen« werden können? Ebendies ließ Kant bekanntlich nach einem gesicherten »Fundament« Ausschau halten, von dem aus diese unabweislichen Fragen als »Vernunftthemen« vernünftig behandelt und auch – jenseits einer diesbezüglich sinnvollerweise nicht zu for328 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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dernden »Beweisbarkeit« – entschieden werden können. In jenem Vorhaben, das »Wissen aufzuheben [d. h. nicht: es zu negieren, sondern in seinen »Grenzen« zu bestimmen], um zum Glauben Platz zu bekommen«, hat dieses Vorhaben auch eine knappe programmatische Formel gefunden. Das Vorhaben, jene Fragen bzw. Themen als vernünftig zu legitimieren (ohne also »den Intellekt zu opfern«), ist so mit dem ungekürzten Programm einer »Aufklärung« untrennbar verbunden. Kants diesbezügliche Überlegungen nehmen von ganz elementaren (auch gegenwärtige Debatten vorwegnehmenden) Fragen ihren Ausgang: Ob der Mensch – ganz so wie auf dem Buchumschlag von Dawkins’ »Das egoistische Gen« – lediglich eine Marionette seiner natürlichen Antriebe, ein Produkt seiner Gene, der ablaufenden neuronalen Prozesse ist, d. h., ob er womöglich nur das schöne, aber eben doch täuschende Gefühl der Freiheit hat oder wirklich frei und somit auch verantwortlich ist und nur so sich ernsthaft vor die Frage nach der Bewandtnis seines Lebens im Ganzen und seinen höchsten Zwecken gestellt wissen kann. Ebenso ist es auch die Unmöglichkeit, vor den widersinnigen Erfahrungen die Augen zu verschließen, die den Menschen in seiner moralischen Lebensführung unausweichlich mit Schuld, Leid und Tod konfrontieren – »es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsste anders zugehen« 105. Jener zuvor erwähnte Hinweis darauf, »dass unsere Vernunft … ein Bedürfnis fühlt, den Begriff des Uneingeschränkten dem Begriffe alles Eingeschränkten … zum Grunde zu legen« 106, darf so wohl auch auf das Feld praktischer Vernunftansprüche übertragen und dementsprechend zugeschärft werden. Es entspricht dies ohnehin recht genau dem erwähnten kantischen Verweis auf jenes »etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft« 107, dem zufolge (gegenüber bloßer »Natur«) allein »von einem Soll die Rede ist«, das sich auch in jenem »es müsste anders zugehen« unbeirrbaren Ausdruck verschafft. Es sind dies allesamt Fragen, die mit einer bewussten Lebensführung und einer umfassenden Daseinsorientierung unabweislich verbunden sind und so die Besinnung auf Grund und Sinn seines Existierens – sein »worumwillen« – engstens mit der Gottesthematik verknüp-
105 106 107
Kant V 587. Kant III 272. Kant IV 150.
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II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
fen, 108 d. h. von einer Besinnung auf die eigentümliche Weltstellung des Menschen und auf den »moralischen Lauf der Dinge« nicht abzulösen sind. Es ist vornehmlich Kants unbestechlicher Blick auf diese menschlichen Gegebenheiten – nicht zuletzt auf die Erfahrung des Menschen, dass das »bewusste Leben«, das als solches geführt werden muss, eben doch nicht nur ein »Spiel« ist und dass er, seiner selbst bewusst, sich nicht nur beliebige Zwecke im Dienste seiner Glückseligkeit (des Angenehmen, Nützlichen und Zuträglichen, Lebensdienlichen und Lebenssteigernden) setzt, sondern sich noch in anderen Ansprüchen erfährt, für die ihm die netten, jedoch völlig maßstablosen Ratschläge »Enjoy your life!« – auch in der gemilderten Version »Schöpfen wir unser Leben aus!« – nicht nur nicht genügen, sondern diese geradezu als banal erscheinen lassen; indes, für reproduktionsbedachte »Überlebensmaschinen«, als die zu verstehen Dawkins uns zumutet und damit auch Glücksgefühle in Aussicht stellt, mag dies ja auch genügen. Freilich, so genau darf man offenbar Dawkins’ Befunde auch in diesen Dingen wohl nicht nehmen, denn immerhin ist seine Aufforderung, sich als »Überlebensmaschine« zu verstehen und sich als solche zu erhalten, erstaunlicherweise ja doch wiederum mit Seelen-erhebenden Selbstvergewisserungen verbunden – dass dies mit Dawkins’ naturalistischem Menschenbild nicht so ohne weiteres zusammenstimmt, ist ja dann nicht mehr so wichtig. Und wenn er erklärt: »Ich bin ein Gegner der Religion. Sie lehrt uns, damit zufrieden zu sein, dass wir die Welt nicht verstehen«, so ist dies nicht zuletzt deshalb kurios, weil Kant auf die – gerade nicht als naturwissenschaftliche Fragen thematisierbaren – Vernunftideen als notwendig zu denkende Voraussetzungen rekurrierte, damit der Mensch sich als »vernünftiges, endliches Wesen« verstehen und sich als ein solches auch »im Ganzen seines Lebens« nicht nur akzeptieren, sondern auch bejahen kann. Dies setzt freilich voraus: In einer nach streng naturwissenschaftlicher Methode erfolgenden »Selbst«Erklärung könnte er sich nämlich gerade nicht verstehen, und zwar auch nicht als ein solcher, der Wissenschaft betreibt und wie Dawkins
108 Auf den Ausfall dieser existenziellen Verankerung und die damit verbundenen »grundlegenden Fragen« in der Gottesthematik – mit Kant gesprochen: dass Gott ein zur Moralität gehöriger Begriff ist, und darin nicht die Theorie der Natur, sondern der »moralische Lauf der Dinge« in Frage steht – bei den »neuen Atheisten« hat besonders auch Striet (Striet 2008, 101 ff.) hingewiesen.
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»nichts als die Wahrheit sucht« und »Welt verstehen« will – denn solches »Suchen« und »Verstehen« wäre doch selbst nichts als ein »neuronaler Prozess«. Kant hat es demzufolge, in entschiedenstem Gegensatz zu Dawkins, geradezu als eine unverzichtbare Aufgabe der »Aufklärung« bzw. als Ziel einer »aufgeklärten Denkungsart« angesehen, im Horizont der Moderne die »wesentlichen und höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft« und die darin sich manifestierenden vielfältigen Ansprüchen zu explizieren und in differenzierter Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Dass das Bedenken dieser die »höchsten Zwecke des Menschen« berührenden Fragen nach Kant zu einer »aufgeklärten Denkart« gehört, soll im Folgenden in Grundzügen vergegenwärtigt werden; daraus mag deutlich werden, wie eng die kantische Frage »Was ist der Mensch?« mit der Gottesthematik zusammenhängt. Demnach sind es nicht nur jene – oben angeführten – dem Menschen nicht abzugewöhnenden Fragen, »die so sehr in der Natur der Vernunft verwebt« sind, »dass wir ihrer nicht loswerden können«. Letzteres gilt erst recht für jene abgründigen Irritationen, die den gewiss nicht zum Obskurantismus neigenden Kant auf ebenfalls diesem »Weltbegriff der Philosophie« eingeschriebene Fragen führten, in denen ein unabweisliches Interesse des Menschen (und der »Menschheit«) an sich selbst sichtbar wird. Mit dem durch den eingeschränkten Bereich der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung und Erkenntnis genau abgesteckten »Land der Wahrheit« kann ein orientierungs-bedürftiges »vernünftiges Weltwesen« weder zufrieden sein noch darf es sich damit begnügen. Kant sah die denkwürdige »Weltstellung des Menschen«, in dessen Vernunftansprüchen die Natur sich selbst gleichsam überschreitet, als den besonderen »Ort« inmitten naturwüchsiger Faktizität und ihrer »Unschuld des Werdens« ausgezeichnet, in dem neben der Geltungsdifferenz von »wahr/falsch«, »Sein/Schein« diejenige von »Sein/Sollen« und somit »gerecht/ungerecht«, »gut/böse« aufbricht. Letztere ist es, die damit den Menschen zu einer orientierungsbedürftigen Lebensführung nötigt und so jene in praktischen Vernunftansprüchen verwurzelte »Mitwisserschaft« von dem begründet, was »nicht sein soll«, was »fehlt«. Der von Kant unternommene Aufweis des »Daseins Gottes« (der freilich nicht mit einem theoretischen Beweis verwechselt werden darf) führt so freilich allein über die Notwendigkeit des Menschen, sich im »Denken, (moralischen) Handeln und Hoffen« umfassend zu 331 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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orientieren – und allein im Ausgang von diesem existenziell verankerten Orientierungsbedürfnis wird von ihm auch die Begründung dafür vollzogen, dass und wie »Moral unumgänglich zu Gott« führe. Diesen existenziellen Hintergrund einer dem »Bedürfnis der fragenden Vernunft« allein genügenden Gottesfrage hat Kant einmal in den eindringlichen Sätzen verdeutlicht: »Wir können also einen rechtschaffenen Mann (wie etwa den Spinoza) annehmen, der sich fest überredet hält: es sei kein Gott, und (weil es in Ansehung des Objekts der Moralität auf einerlei Folge hinausläuft) auch kein künftiges Leben; wie wird er seine eigene innere Zweckbestimmung durch das moralische Gesetz, welches er tätig verehrt, beurteilen? Er verlangt von Befolgung desselben für sich keinen Vorteil, weder in dieser noch in einer andern Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allen seinen Kräften die Richtung gibt. Aber sein Bestreben ist begrenzt; und von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln (so wie innerlich seine Maximen sind und sein müssen) eintreffende Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt. Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren. – Den Zweck also, den dieser Wohlgesinnte in Befolgung der moralischen Gesetze vor Augen hatte und haben sollte, müsste er allerdings, als unmöglich, aufgeben; oder will er auch hierin dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich bleiben, und die Achtung, welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorchen einflößt, nicht durch die Nichtigkeit des einzigen ihrer hohen Forderung angemessenen idealischen Endzwecks schwächen (welches ohne einen der moralischen Gesinnung widerfahrenden Abbruch nicht geschehen kann): so muss er, welches er auch gar wohl tun kann, indem es an sich wenigstens nicht widersprechend ist, in praktischer Absicht, d. i. 332 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen.« 109 Dies enthält im Kern auch schon Kants Antwort auf den viel späteren Befund: »Alle Geschichten werden im Nichts enden; alles Leben wird schließlich darauf hinauslaufen, eine flüchtige und sinnlose Grimasse gewesen zu sein in dem Idiotenantlitz der unendlichen Materie« 110. Unerklärlich bleibt freilich, dass die »erbarmungsloser Nützlichkeit« folgende Evolution des Lebendigen sich den – unverantwortlichen – Luxus erlaubt, ein Wesen hervorzubringen, dass solcher Selbsterfahrung fähig ist, d. h. darin seine Weltstellung erkennen soll und dennoch diesen Befund – aus moralischen Gründen, nicht aus emotionalen Nöten – nicht mit Zustimmung zu denken vermag: ja, »so sei es«, »so soll es sein«. Es liefe dies nämlich letztendlich auf die Zustimmung dazu hinaus, dass jener von Kant angeführte »Rechtschaffene« – und mit ihm alle zahl- und namenlosen Opfer der Geschichte – endgültig Unrecht behalten und so zuletzt auch die »Schlachtbank der Geschichte« das letzte Wort behalten sollte: ein jener evolutionären »Logik« entsprechender Imperativ: »Vorwärts, über Gräber hinweg«, worüber auch das von Dawkins empfohlene »Don’t worry, enjoy your life!« nicht hinwegsehen lassen kann – und auch nicht darf. Es bedeutet somit nicht zuletzt auch die Verweigerung einer stillschweigenden Zustimmung zu einer Weltordnung, der gemäß alle Generationen jeweils lediglich zur Verbesserung der späteren Generationen dienen, d. h. lediglich als »Mittel« des ge109 Kant V 579 f. – Als unvergleichlich problemsensibler als einschlägige Äußerungen Dawkins’ nimmt sich beispielsweise der Befund des ungläubigen Philosophen M. Horkheimer aus. Seine oftmals zitierte Bemerkung (in dem schon zitierten Interview: »Der Spiegel«: Jahrgang 1970/Heft 1) »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel« bleibt freilich mit der Auffassung verbunden, dass »die Gewissheit von Gott … unmöglich sei«. Gleichwohl insistierte Horkheimer auf diesen Themen als unabweislichen »Fragen der Philosophie«: »›Wenn es keinen Gott gibt, braucht es mir nichts ernst zu sein‹, argumentiert der Theologe. Die Schreckenstat, die ich verübe, das Leiden, das ich bestehen lasse, leben nach dem Augenblick, in dem sie geschehen, nur noch im erinnernden menschlichen Bewußtsein fort und erlöschen mit ihm. Es hat gar keinen Sinn zu sagen, dass sie dann noch wahr seien. Sie sind nicht mehr, sie sind nicht mehr wahr: beides ist dasselbe. Es sei denn, dass sie bewahrt blieben – in Gott. – Kann man dies zugestehen und doch im Ernst ein gottloses Leben führen? Das ist die Frage der Philosophie« (Horkheimer 1974, 11). 110 Lewis 1954, 17. Hans Blumenbergs markante Notiz verdient auch in diesem Kontext Beachtung: »Man ist nicht wichtig, zugegeben; aber nichts ist wichtiger als man« (H. Blumenberg, Höhlenausgänge. Frankfurt/Main 1989, 11).
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schichtlichen Fortschritts funktionalisiert werden, indem sie, jenem genannten Imperativ gemäß, als bloße »Wasserträger« des gesellschaftlichen Fortschritts oder als bloße »Vehikel« der sinnlosen Fortpflanzung der Gene und Meme von »Überlebensmaschinen« fungieren. Es ist moralisch geboten, dem die Zustimmung zu verweigern oder auch nur gleichgültig zu bleiben – eben daraus speist sich das von Kant angeführte »Bedürfnis der fragenden Vernunft«: »es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsste anders zugehen«. Dabei stehen also mitnichten bloß »eigennützige Interessen« auf dem Spiel, wie man fälschlicherweise immer wieder unterstellt hat. 111 Demgemäß hat Kant darauf insistiert (und hätte dies erst recht 111 Kant wehrt den Vorwurf bloßer Eigennützigkeit wiederholt als Missverständnis ab: »Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aber kann ich nicht zu bewirken hoffen, als nur durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers, und, obgleich in dem Begriffe des höchsten Guts, als dem eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit, als in der genauesten Proportion verbunden vorgestellt wird, meine eigene Glückseligkeit mit enthalten [!] ist: so ist doch nicht sie, sondern das moralische Gesetz (welches vielmehr mein unbegrenztes Verlangen darnach auf Bedingungen strenge einschränkt) der Bestimmungsgrund des Willens, der zur Beförderung des höchsten Guts angewiesen wird« (IV 261). Und vielleicht noch bestimmter: »Beim Menschen ist daher die Triebfeder, welche in der Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der Welt möglichen Guts liegt, auch nicht die eigene dabei beabsichtigte Glückseligkeit, sondern nur diese Idee als Zweck an sich selbst, mithin ihre Verfolgung als Pflicht. Denn sie enthält nicht Aussicht in Glückseligkeit schlechthin, sondern nur einer Proportion zwischen ihr und der Würdigkeit des Subjekts, welches es auch sei. Eine Willensbestimmung aber, die sich selbst und ihre Absicht, zu einem solchen Ganzen zu gehören, auf diese Bedingung einschränkt, ist nicht eigennützig« (VI 132 f., Anm.). Doch nicht nur dies: Diese moralisch begründete Idee des »höchsten Gutes« impliziert auch das kritische Bewusstsein darüber, daran auch selbst moralisch bemessen zu werden. Denn: »weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde«, so ist darin auch impliziert, dass der Mensch sich zugleich »nach dieser Idee selbst in Gefahr sieht, für seine Persönlichkeit sehr einzubüßen, weil es möglich ist, dass er vielleicht der Forderung der letztern, welche die Vernunft zur Bedingung macht, nicht adäquat sein dürfte; mithin würde es dieses Urteil ganz parteilos, gleich als von einem Fremden gefällt, doch zugleich für das seine anzuerkennen sich durch die Vernunft genötigt fühlen, wodurch der Mensch das in ihm moralisch gewirkte Bedürfnis beweist, zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg desselben, zu denken« (IV 651 f.). Daraus gewinnt menschliche Existenz erst ihre besondere »Bewandtnis« – und genau deshalb ist es nach Kant auch in moralischer Hinsicht »zweckmäßig«, das Dasein Gottes nicht wissen zu können (s. dazu u. II., 2.3). Man sieht: Kants Begründung der Religion ist weit entfernt von leicht entlarvbarem »Wunschdenken«! Dass bei Kant mit der Idee des »Endes aller Dinge« der Gedanke eines »Gerichts« verbun-
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gegenüber dem genannten Einwurf Dawkins’ doch auch geltend gemacht), dass allein der von ihm sogenannte »Vernunftglaube« die »Selbsterhaltung der Vernunft« des Menschen gewährleistet, weil er das »Dasein Gottes« zwar nicht zu erkennen vermag, aber ohne den Rekurs auf Gott als »weisen Welturheber« sein moralisch-personales Dasein auch nicht als »bewandtnishaft« zu bejahen, d. h. dazu »einzustimmen« vermag – ebendies ist es, das sodann »moralisch konsequent« auf das Postulat des »Daseins Gottes« führt. In eindringlichen Formulierungen wollte Kant dieses »Postulat« in einem »Bedürfnis der fragenden Vernunft« moralisch verankern und von bloßem »Wunschdenken« unterschieden wissen: »Ich will [d. h. ich »wünsche« nicht bloß], dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch dass meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen, denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich [!] bestimmt« 112. »Unvermeidlich« bestimmt nach Kant »mein Urteil« freilich deshalb, weil es selbst in dem sich im »kategorischen Pflichtimperativ« kundtuenden »Bewusstsein seiner Freiheit« 113 »subjektiv [letzt-]begründet« ist, d. h. sich als ein »Urteilen-Müssen« (gemäß der »Vorschrift der moralischen Gesetze« durch den »reinen praktischen Gebrauch der Vernunft« 114) artikuliert. den ist, ist freilich bei ihm kein Instrument der Unterjochung bzw. Furcht, sondern lediglich die Kehrseite der Bewandtnishaftigkeit menschlichen Lebens, das darin »definitiv« wird. 112 IV 277 f; Hervorhebungen v. Verf. Diesem Vernunftpostulat zufolge ist der Satz »Es ist ein Gott« als solcher zwar »ein theoretische[r], als solche[r] aber nicht erweisliche[r] Satz …, so fern er einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (IV 253). 113 VI 429, Anm. 114 III 274. Der Philosoph Dieter Henrich hat im Ausgang »von sittlich-praktischen Überlegungen und Erfahrungen« und durchaus im Blick auf diese kantischen Aspekte »Annahmen über die Verfassung der Welt, in der Subjekte existieren«, geltend gemacht und die darin zutage tretende Hoffnungsperspektive folgendermaßen erläutert: »Ein solches Motiv ergibt sich aus der Besorgnis, aller Aufwand guten Willens, auch bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung, könne wirkungslos bleiben. Ein anderes stützt sich auf die Empörung über den Anschein, im Geschick der Menschen gebe es keinerlei Ausgleich gegenüber Zufallsgunst und Durchsetzungskraft. Wer ein Ziel ernsthaft verfolgt, kann nicht zugleich meinen, dass er ihm nicht einmal nahekommen kann. Wer also aus sittlicher Verantwortung handelt, kann dabei nicht davon ausgehen, dass dies Ziel in der Welt auf keine Weise begünstigt ist und alles ihm
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In diesem thematischen Kontext hat Kant auch auf eine drohende »moralische Absurdität« hingewiesen, die nicht allein »Sinnlosigkeit« bedeutet, sondern schlechthin auf eine »moralische Sinnwidrigkeit« hinausliefe und so jeder Frage nach einem »Worumwillen« der Existenz eines solchen »vernünftigen Wesens« spotten müsste. Ebendeshalb betonte er auch stets, Religion sei wohl nicht zur Moral, jedoch durch sie notwendig; Dawkins’ völlig haltlose – und obendrein böswillige – Unterstellung, dass Kant »in Wahrheit« ja ohnedies Atheist gewesen sei (s. o. 303), setzt sich ganz ungeniert über diese für sein Denken so bedeutenden Motive und somit auch über den zentralen Gedanken hinweg, dass für eine »aufgeklärte« Religion die autonome Moral selbst das Fundament einer vernunftverankerten Religion sein muss, weshalb nach Kant die Moralität auch das unverzichtbare Fundament der Religion ist und »Moral unumgänglich zur Religion führt« 115 – ein Maßstab, den Kant bekanntlich auch an die einzelnen Religionen angelegt hat. Mag es ja so sein (dies räumt er auch gegenüber Hume durchaus ein), dass die Entstehung und die Ausbildung der Vorstellung von Göttern mit erfahrener Ohnmacht und Furcht zu tun hat, so lässt sich jedoch der Geltungsgrund der »Vernunftreligion« als einer »reinen Vernunftsache« darauf keinesfalls reduzieren. »Dass wir gerne glauben, was wir wünschen« – dieses Gemeinplätzchen der Religionskritik war, wie schon erwähnt (s. o. II., Anm. 94), freilich auch Kant nicht ganz unbekannt. Wiederum nur beiläufig sei noch dies angemerkt: Vom existenziellen Ernst jener kantischen Darlegungen zeigt sich offenbar auch noch ein auf Kant folgender Philosoph, F. W. J. Schelling, sehr beeindruckt, erwähnt er doch – offenkundig ganz im Sinne Kants – schon in der ersten Vorlesung seiner »Philosophie der Offenbarung« mit Blick auf die eigentümliche Weltstellung des Menschen und auf das »trostlose Schauspiel« der Geschichte die existenzielle Anfechtung, entgegenwirkt. Wer Menschen, gar Kinder, um einer Lustbefriedigung willen Leiden unterworfen oder um ihr Leben gebracht sieht, muss als sittliche Person wollen, dass er auf diese Situation anders reagieren kann als mit resignierten Gedanken über den Weltlauf, in dem die Leben von Opfer und Täter nun einmal gleichermaßen letztlich sinnleere Fakten sind – nur dass der eine eben leidet, während der andere den Lustgewinn, zu dem es ihn treibt, erreicht. Wer aber mehr unterstellt, bekundet damit einen wie immer bangen Glauben an eine Konkordanz zwischen den Menschenleben und einer Art von Sinnordnung im Weltgefüge« (D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt/Main 2007, 134 f.). 115 Kant IV 652; 654, Anm.
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in Anbetracht der Abgründigkeit trostlos-schlechter Unendlichkeiten »demnach an einem wahren Grunde der Welt vollends« zu verzweifeln: »Denn wenn jedes andere Wesen der Natur an seiner Stelle oder auf seiner Stufe das ist, was es sein soll, und demnach seinen Zweck erfüllt, so ist vielmehr der Mensch, weil er das, was er sein soll, nur mit Bewusstsein und Freiheit erreichen kann, solang er, seines Zweckes unbewusst, von dieser ungeheuern, nie ruhenden Bewegung, die wir Geschichte nennen, gegen ein Ziel fortgerissen wird, das er nicht kennt, wenigstens für sich selbst zwecklos, und da er der Zweck alles andern sein soll, so ist durch ihn auch alles andere wieder zwecklos geworden. Die ganze Natur müht sich ab, und ist in unaufhörlicher Arbeit begriffen. Auch der Mensch seinerseits ruht nicht, es ist, wie ein altes Buch sagt, alles unter der Sonne so voll Mühe und Arbeit, und doch sieht man nicht, daß etwas gefördert, wahrhaft erreicht werde, etwas nämlich, wobei man stehen bleiben könnte. Ein Geschlecht vergeht, das andere kömmt, um selber wieder zu vergehen. Vergebens erwarten wir, daß etwas Neues geschehe, woran endlich diese Unruhe ihr Ziel finde; alles, was geschieht, geschieht nur, damit wieder etwas anderes geschehen könne, das selbst wieder gegen ein anderes zur Vergangenheit wird, im Grunde also geschieht alles umsonst, und es ist in allem Tun, in aller Mühe und Arbeit der Menschen selbst nichts als Eitelkeit: alles ist eitel, denn eitel ist alles, was eines wahrhaften Zwecks ermangelt. Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Tun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste, und treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seins, einer Meinung, die in so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit sich kundgeben. Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« 116; und andernorts heißt es, in dieser unübersehbaren Steigerungsform jener oben erwähnten kantischen Endzweck-Thematik noch näher: »Warum ist Sinn überhaupt, warum ist nicht Unsinn statt Sinn?« 117 Auch diese Frage Schellings fügt sich – so wie ihre Variation »Warum ist denn
116 K. F. A. Schelling (Hg.), Friedrich Wilhelm Josephs Schellings sämtliche Werke. 14 Bände. Stuttgart-Augsburg 1856–1861: XIII 6 f. 117 In späteren Vorlesungen Schellings heißt es sodann in noch zugeschärfter Form: »Warum ist Sinn überhaupt, warum ist nicht Unsinn statt Sinn?« (F. W. J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung aus dem WS 1832/33 und SS 1833. Hg. v. H. Fuhrmans. Torino 1972, 222).
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Vernunft und nicht Unvernunft?« 118 – offenbar recht gut zu jenen kantischen Themen; sie finden allesamt im Kontext jener Nagel’schen Perspektive, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, ihren Ort und verleihen ihr noch eine unüberhörbare existenzielle Zuschärfung … Es sind Fragen dieser Art, die den Menschen als das »sichtbar herumwandelnde Problem der Philosophie« auszeichnen, aber auch umtreiben; freilich, solche Sorgen und Abgründe haben die sich als »Überlebensmaschinen ihrer Gene und Meme« wissenden aufgeklärten Menschen längst hinter sich gelassen, d. h. aus ihren irgendwie ererbten Mem-Beständen ausgeschieden. An ihre Stelle ist zuletzt das befreit-befreiende »Schöpfen wir unser Leben aus!« getreten – ein »Leben« von spaßfähigen »Überlebensmaschinen«, das doch offenbar schon immer »ausgeschöpft« ist. Der gestufte kantische Begründungsgang, der jenen angeführten – in der Tat sehr existenziell anmutenden – Gedankenfiguren zugrunde liegt, lässt sich vor diesem Hintergrund in den Hauptmotiven vielleicht folgendermaßen zusammenfassen – auf eine Weise, zu der jedenfalls nach Kant auch »die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch eben so leicht gelangen kann, und sich also auf die Cultur dieser allgemein fasslichen und in moralischer Absicht hinreichenden Beweisgründe« stützt: 119 Weil (a) weder die »Gottesidee« selbst noch »das »Dasein Gottes« sowie die Idee des »höchsten Gutes« in sich unmöglich sind (und die Vernunftidee des »allerrealsten Wesens« sogar denknotwendig ist) und wir überdies – und zwar aus moralischen Gründen! – (b) die unser Handeln leitende Idee »eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in der genauesten Proportion verbunden vorgestellt wird«, 120 nicht als bloße Chimäre bzw. »Phantasterei« verwerfen dürfen – denn, wohlgemerkt, wir dürfen nicht zustimmen, d. h. nicht »wollen«, dass diese Idee des »höchsten Gutes« ein bloßes Hirngespinst ist! –, ergibt sich (c) die »unausbleibliche« Frage nach den unumgänglichen Bedingungen, unter denen dieses »höchste Gut« als möglich und wirklich gedacht und auch erhofft werden kann: Eben daraus resultiert (d) der von Kant (nicht als Beweis, sondern als Vernunftpostulat (d. i. keine Wunschvorstellung!) geltend gemachte Satz, es sei »moralisch notwendig, 118 119 120
Schelling XIII, 247. Kant AA III, 20. Kant IV 261.
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Die »brights« und die Aufklärung
das Dasein Gottes anzunehmen«. Dass das »Dasein Gottes« keineswegs bewiesen werden kann, sondern von Kant als ein unverzichtbares Postulat der Vernunft legitimiert wird, besagt demnach (e), dass der Satz »Es ist ein Gott« zwar nicht »beweisbar« ist, aber mit unserem moralischen Vernunftgebrauch notwendig insofern verbunden ist, als dieser sich auf die Möglichkeit des »höchsten Gutes« erstreckt und allein unter der Voraussetzung des Daseins Gottes als möglich gedacht werden kann. Es ist dies ein »Vernunftglaube«, der gleichermaßen aus der Einschränkung theoretischer Wissensansprüche und der Unabweisbarkeit praktischer Sinnansprüche (sowie aus der Verbindung beider Aspekte) resultiert und demgemäß in dem Aufweis Gestalt gewinnt, dass zwar Religion keineswegs zur Begründung der Moral erforderlich ist (bzw. dazu taugt), jedoch »Moral unausbleiblich zur Religion« führe. Zuletzt ist dies nach Kant freilich kein blinder Hurra-Glaube, der vor den bedrängenden Widerfahrnissen der Welt in Natur und Geschichte die Augen verschließt oder ihnen gegenüber gleichgültig bleibt, sondern ein von ihm bezeichnenderweise so genannter »Zweifelglaube«, in dem gleichwohl Religion als eine unabweisliche Angelegenheit der »Existenz« ausgewiesen wird. Kants Ausweis und seine nähere Charakterisierung dieses »Vernunftglaubens« als »Zweifelglaube« nimmt sich ohnedies wie eine indirekte Antwort auf Dawkins aus und mag deshalb die ausführliche Zitation rechtfertigen: »Er ist ein freies Fürwahrhalten nicht dessen, wozu dogmatische Beweise … anzutreffen sind, noch wozu wir uns verbunden halten, sondern dessen, was wir zum Behuf einer Absicht nach Gesetzen der Freiheit annehmen; aber doch nicht wie etwa eine Meinung ohne hinreichenden Grund, sondern als in der Vernunft (obwohl nur in Ansehung ihres praktischen Gebrauchs), für die Absicht derselben hinreichend, gegründet: denn ohne ihn hat die moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise (der Möglichkeit des Objects der Moralität) keine feste Beharrlichkeit, sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln. Ungläubisch sein, heißt der Maxime nachhängen, Zeugnissen überhaupt nicht zu glauben; ungläubig aber ist der, welcher jenen Vernunftideen, weil es ihnen an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt, darum alle Gültigkeit abspricht. Er urteilt also dogmatisch. Ein dogmatischer Unglaube kann aber mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Ver339 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
II · Dawkins’ schonungslose Abrechnung mit Religion und Theologie
nunft nicht gebieten); wohl aber ein Zweifelglaube, dem der Mangel der Überzeugung durch Gründe der spekulativen Vernunft nur Hindernis ist, welchem eine kritische Einsicht in die Schranken der letztern den Einfluß auf das Verhalten benehmen und ihm ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten zum Ersatz hinstellen kann.« 121 Demzufolge hat Kant seinen Aufweis der zwar widerspruchsfrei zu denkenden Gottesidee im Blick auf unabweisliche praktische Vernunftansprüche auch damit verknüpft, dass »praktische Vernunft« sich notwendig auch an dem, »was dasein soll«, und somit an der moralischen Idee des »höchsten Gutes« – d. i. der Leitidee der »im Weltganzen mit der reinesten Sittlichkeit auch verbundene[n], allgemeine[n], jener gemäße[n], Glückseligkeit«, also aus keineswegs bloß eigennützigen Interessen (s. o. II., Anm. 111) – orientiert, die über die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit sinnvoller (und d. h. auch: moralisch begründeter gebotener) Hoffnung – und zwar aus »überwiegenden« praktischen Gründen – auf das »Dasein Gottes« als den zureichenden Grund »begründeten Hoffens« führt. Das vom späten Kant daran geknüpfte »Credo« ist lediglich die Konsequenz daraus – die darauf ohne falsche Wissensansprüche auf eine Lebensführung abzielt, die sich geradezu im Gegensatz zu jener oben angeführten Bemerkung Dawkins’ artikuliert: Das Credo dieses Vernunftglaubens ist auch als »Zweifelglaube« »ein freies Fürwahrhalten, ohne welches es auch keinen moralischen Wert haben würde [!]. Es verstattet also keinen Imperativ (kein crede), und der Beweisgrund dieser seiner Richtigkeit ist kein Beweis von der Wahrheit dieser Sätze, als theoretischer betrachtet, mithin keine objektive Belehrung von der Wirklichkeit der Gegenstände derselben, denn die ist in Ansehung des Übersinnlichen unmöglich, sondern nur eine subjektiv-, und zwar praktisch-gültige, und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände wirklich wären, welche Vorstellungsart hier auch nicht in technischpraktischer Absicht als Klugheitslehre (lieber zu viel, als zu wenig anzunehmen) für notwendig angesehen werden muss, weil sonst der Glaube nicht aufrichtig sein würde, sondern nur in moralischer Ab-
121 Kant V 603 f. Diese kantische Kennzeichnung des »Zweifelglaubens« ist nicht zuletzt im Kontext der Theodizee-Thematik von besonderem Interesse; seine nähere Charakterisierung als »überwiegendes praktisches [d.h. moralisch verankertes] Fürwahrhalten« darf freilich nicht im Sinne eines »Wahrscheinlichkeits«-Kalküles missverstanden werden.
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Die »brights« und die Aufklärung
sicht notwendig ist …« 122 Aber all dies darf man ja nach Dawkins (bzw. seinem philosophischen Gewährsmann Grayling) offenbar nicht so ganz ernst nehmen, zumal es sich dabei doch lediglich um leicht durchschaubare Täuschungs-Manöver des unaufrichtigen, sich lediglich vor der Zensur ängstigenden Kant handelt. So einfach ist das – wenn man nur in der rechten Weise »aufgeklärt« ist … Gegenüber Dawkins’schen Entlarvungsstrategien der genannten Art sei nochmals daran erinnert: Mit Kants »Bewandtnis«-, d. h. Sinn-orientierter Frage nach dem »Worumwillen« ist in dieser Spur auch diejenige Schellings gestellt: »Warum ist überhaupt Vernunft und nicht vielmehr Unvernunft« (s. o. II., Anm. 118), d. h. sinnleere bloße »Faktenaußenwelt« als das, »was bloß der Fall ist«? So zu fragen ist für den Menschen nicht zuletzt deshalb unabweislich, weil ihn jene Ansprüche buchstäblich als »verantwortliches Subjekt« angehen und ihm auch »zugemutet« sind: Sie muten ihm, mit Blick auf das »Ganze seiner moralischen Lebensgeschichte«, jedoch gleichermaßen dies zu, so zu leben, als ob er – und zwar ohne Fremdbestimmung – auch im Blick auf dieses »Ganze« seiner Existenz zuletzt noch der Frage standhalten müsste: »Was hast Du mit der Zeit deines Lebens gemacht?« – und gegenüber einer das »Innerste des Menschen« erkennenden Instanz (einem »Herzenskundigen«, wie Kant auch sagt) über dieses »Ganze seines Lebens« Rechenschaft abzulegen hätte. Deshalb sah er übrigens auch Grund für den pädagogischen Rat: »Auf die Notwendigkeit endlich der Abrechnung mit sich selbst an jedem Tage, damit man am Ende des Lebens einen Überschlag machen könne, in betreff des Werts seines Lebens« 123. Der Ernst dieser angeführten existenziellen Fragen Kants macht jedenfalls deutlich, dass auch die darin verankerte religiöse Vorstellung einer Rechenschaftspflicht weit entfernt von bloßem Wunsch- oder Lohndenken ist. Vielmehr weiß er sich im »Ganzen seiner Lebensgeschichte« in einer »Rechenschaftspflicht«, ohne dabei freilich den willkürlichen Maßstäben eines Despoten und Tyrannen ausgesetzt zu sehen, weil dies auch mit der Freiheit und Würde des Menschen ganz unverträglich wäre. Mit einer versklavenden Drohbotschaft hat all dies jedenfalls gar nicht zu tun; darin sieht er sich als freies, zurechnungsfähiges und moralisch autonomes Wesen anerkannt, für das sein »Existieren« weder die Selbstbehauptung bzw. -erhaltung einer »joy«- und »fun«-be122 123
Kant III 636. Kant VI 761.
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dürftigen »Überlebensmaschine« noch ein bloß belangloses, eitlesleeres Spiel ist, sondern das sich, an qualifizierten Freiheitsansprüchen (wie Recht, Moral, Liebe), auch verfehlen kann. Nur nebenbei bemerkt: Gewiss, Überlebensmaschinen »verfehlen« sich selbst auch nicht, sie bleiben sich nicht »schuldig«, sofern sich denn überhaupt ihre Gene und »Meme« am Leben erhalten und »vererben«, ihre Ansprüche an dieses – gemäß jener Losung: »Enjoy your life!« – steigern und ihre Möglichkeiten entsprechend »ausschöpfen«. Indes, nicht nur religiöse Menschen wissen es, sondern auch einer von den Prinzipien einer autonomen Moral bestimmten »Lebensführung« bleibt nicht nur die Erfahrung der Fehlbarkeit und des Schuldigwerdens nicht verschlossen; sie weiß auch um die Möglichkeit, dass ein solches Leben, »das geführt werden muss«, sich verfehlen kann. Eine solche radikale Selbstverfehlung einer »Lebensgeschichte«, ein entsprechendes »Sich-schuldig-Bleiben« im »Ganzen seiner Existenz«, wurde in dem durch die jüdisch-christliche Tradition bestimmten Verstehenshorizont als »Sünde« bezeichnet – das hat freilich nichts mit einem lächerlichen Verstoß gegen einen buchstäblich »vorgeschriebenen« Sünden- oder Vorschriftenkatalog zu tun: Auch solche Möglichkeit zu einer radikalen Selbstverfehlung und der darin sich manifestierenden »Selbstverkehrung«, die sich womöglich als »Selbstbehauptung« und ihren Leitbildern inszeniert, ist gleichsam ein »Vorrecht« des Menschen – dessen konkrete Selbstentfaltung freilich stets unter nicht selbst geschaffenen bzw. gewählten Umständen und Verhältnissen, d. h. innerhalb von Lebensräumen, geschieht, die immer schon durch ein reales »Klima« und Strukturen von Schuld, Unrecht, Verblendung, Verstellung und Gleichgültigkeit geprägt ist und solcher »Verflochtenheit« und Verstricktheit sich auch nicht zu entziehen vermag, sondern darin sich auch schicksalshaft selbst »erhält«. Zweifellos, für das Selbstverständnis von Repro-gesteuerten »Überlebensmaschinen« hinsichtlich des »Worumwillen« ihres Vorhandenseins mag all dies ein wenig anders sein. Da kann dann wohl auch die auf einem Grabstein zu lesende Inschrift ausreichen: »Er hat sein Leben reichlich genossen«; indes eine solche Lebensbilanz hätte wohl nicht nur Kant dahingehend kommentiert, dass dies wohl auch für ein Rindvieh zutreffen mag. 124 Schon Aristoteles hat freilich in 124 Dem Lebensmotto der »brights« folgten freilich auch jene – in Grabinschriften verewigten – Leitbilder hedonistischer Gemüter, die jenem »enjoy!« der brights of-
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seinen ethischen Überlegungen über ein »gelungenes Leben« gewusst und betont, dass für ein »vernunftbegabtes Lebewesen« der Rat »Enjoy your life!« bzw. »Schöpfe dein Leben aus!« buchstäblich irrelevant bzw. nichtssagend bleibt; denn für dieses kann ein »gelungenes Leben« doch nur ein solches »gemäß der Vernunft« sein, während er andernfalls über den Status eines mehr oder weniger »klugen Tieres«, dem die Frage nach seiner »Glückseligkeit« nicht mehr vom »Gängelband des Instinkts« vorgeschrieben bzw. abgenommen wird, nicht hinauskäme – woraus nach Aristoteles folgt: »Die Glückseligkeit besteht mithin nicht in den Vergnügungen, nicht in Spiel und Scherz. Es wäre ja ungereimt, wenn unsere Endbestimmung [als »sprach- und vernunftbegabte Wesen«] Spiel und Scherz wäre, und wenn die Mühe und das Leid eines ganzen Lebens das bloße Spiel zum Ziele hätten« 125 – die »Vernunftfähigkeit« des Menschen wäre in diesem Fall völlig unerklärlich und sinnlos, weshalb auch die »Glückseligkeit« des Menschen und sein ihm gemäßes »Lebenswerk« ihm zufolge nicht ohne den Rückbezug darauf bestimmt werden kann. Einigermaßen weit entfernt von jener ernüchternden Selbsterfahrung der Dawkins’schen »Überlebensmaschinen« und deren »Enjoy-Perspektiven« ist nach Kant ja auch jene eigentümliche Selbsterfahrung des Menschen, die ihn seiner – in einer eigentümlichen Spannung stehenden – »Doppelnatur« inne werden lässt und so sein »Existieren« konstituiert: Demgemäß sah er darin die Erfahrung der »kosmischen Nichtigkeit« und diejenige der »Erhabenheit« über alle »bloße« Natur, in der »von keinem Soll die Rede ist«, unauflöslich verknüpft; die derart buchstäblich konkrete Wirklichkeit des »vernünftigen, aber endlichen Wesens« führt so, durchaus im Sinne der selbstbezüglich-teilnehmenden Frage: »Wer bin ich?«, auf unabweisliche Fragen, die auch den Dawkins’schen »Nerv des transzendenten Staunens«, das er seinen »Überlebensmaschinen« seltfenbar zur Vorlage dient: »Führe ein angenehmes Leben, Kamerad! Warum? Nach dem Tod gibt’s kein Lachen mehr, noch Scherzen noch irgendeinen Genuss«; oder: »Bäder und Liebe und Wein, sie richten uns freilich zugrunde, aber das Leben sind doch: Bäder und Liebe und Wein« (zit. n. Lohfink 2013, 132 f.); dagegen wusste freilich nicht nur die Bibel auch noch andere Lebensorientierung anzubieten – nicht zuletzt im klaren Bewusstsein, dass das »Er/Sie hat sein/ihr Leben genossen« wohl auch auf dem Grabstein eines hoffentlich schmerzfrei verendeten Rindviehs hätte stehen können. 125 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X. Buch, 1176b, 25 ff.
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samerweise zutraut, zwar durchaus berühren, sich aber darin doch nicht erschöpfen. Kant hat diese eigentümliche Selbsterfahrung in dem berühmten »Beschluss« der »Kritik der praktischen Vernunft« in berühmten eindringlichen Sätzen in einer besonderen existenziellen »Zuschärfung« zum Ausdruck gebracht, die für eine philosophisch weniger versierte Leserschaft deshalb wiederum ungekürzt angeführt werden sollen und wohl den Kontrast zu jener »Spiegel«Erfahrung Dawkins’scher »Überlebensmaschinen« in unüberbietbarer Weise sichtbar machen: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheit verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande [richtiger wohl: der »praktischen Vernunft«] spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muss, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen lässt.« 126 126
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Die »brights« und die Aufklärung
Darüber staunte Kant offenbar gar nicht wenig: Es ist diese in der menschlichen Existenz gegründete »gegenläufige Erfahrung« und das darin verankerte »Bedürfnis der fragenden Vernunft« (und nicht eine bloße Angelegenheit des »Wünschens«), das ihm zufolge auf die Religion (und auf deren Legitimation als eine »reine Vernunftsache«) führt und somit auch die Kurzschließung der Gottesfrage im Sinne eines bloßen »Gotteswahnes« strikt verbieten muss. Weil und sofern »Religion« in der Gestalt des »Vernunftglaubens« einerseits den Blick für jene angezeigten unabweislichen Fragen schärft und diese somit gegenüber allen szientistischen Reduktionismen der Vernunft offenhält, andererseits jedoch selbst »Schwärmerei« und »Aberglauben« entschieden verwirft, ist diese als »reine Vernunftsache« ausgewiesene Religion nach Kant sogar ein unverzichtbarer Bestandteil des »Weltbegriffs der Philosophie« und somit selbst einer »aufgeklärten Denkungsart« zugehörig, die sich durchaus an dem orientiert, »was jedermann notwendig interessiert«. Daran knüpft sich ein weiterer Hinweis: Kant hat ja nicht nur das Dasein Gottes als de facto unbewiesen behauptet, sondern dessen prinzipielle Unbeweisbarkeit – und dennoch hat er gute Gründe für einen moralisch begründeten »Vernunftglauben« geltend gemacht, der auch der Weltstellung des Menschen allein angemessen ist. Denn auch wenn eine Begründung der Moral keiner religiösen Verankerung bedarf – weil Religion eben weder zur inhaltlichen Bestimmung des moralisch Gebotenen noch für dessen Befolgung (als »Triebfeder« derselben) notwendig sei (s. dazu u. II., 2.2.1) –, so sei hingegen umgekehrt sehr wohl der Aufweis zu erbringen, dass die »Moral unumgänglich zur Religion« führe, Religion also vielmehr durch Moral notwendig sei, weil eben sie allein die Realisierbarkeit moralisch gebotener »Zwecke« gewährleisten könne – eben genau dies besagt in einem nicht banalen Sinne jener schon angeführte kantische Hinweis, dass der Mensch »ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könne« 127 (das gilt wohl auch für Dawkins’sche Menschen als sich selbst wissende »Überlebensmaschinen ihrer Gene und Meme«). Hierfür sei es jedoch unumgänglich, wissenschaftliche Erklärungsansprüche sowie entsprechende Wahrscheinlichkeitserwägungen eben auf diesen Bereich des raumzeitlich Gegebenen zu beschränken, um so die Frage nach Gott überhaupt erst einmal in einer für den Menschen als »moralisches, aber endliches Wesen« angemessenen 127
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Weise stellen zu können. Folglich könne auch die im Sinne des theoretischen Fürwahrhaltens (lateinisch: putare) verstandene Weltgewissheit (das »hypothetisch-empirische Wissen«) nicht Modell für die Gottesgewissheit des Glaubens sein und müsse auch dem Sinnanspruch der Religion unangemessen bleiben: »Nehme ich das Glauben ohne diese moralische Rücksicht bloß in der Bedeutung eines theoretischen Fürwahrhaltens …, so ist ein solcher Glaube, weil er weder einen besseren Menschen macht noch einen solchen beweiset, gar kein Stück der Religion« 128. Kants Grundintention ist vor diesem Hintergrund wiederum sehr einfach nachzuvollziehen: Nur wenn gezeigt werden kann, dass die Religion in einem unbedingten – eben »moralisch« verankerten – Anspruch des bzw. an den Menschen gründet, ist der Nachweis erbracht, dass es darin um etwas geht, »was jedermann notwendig interessiert«. Nur so lässt sie schiefe epistemische Ansprüche ebenso vermeiden wie dies, dass sie zu einer psychologischen Angelegenheit verkommt bzw. der Religionskritik verfällt. Jener gewiss leicht misszuverstehende (und scheinbar der Religionskritik geradezu ins offene Messer laufende) kantische Satz, dass »der Mensch ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könne«, ist offenbar in den existenz-verankerten Fragen begründet: »Wer bin ich und wer soll ich sein?« – und wie darf ich als »Individuum« und »Gattungswesen« begründetermaßen darauf hoffen, mein Dasein in dieser Welt nicht nur »akzeptieren« zu müssen, sondern es auch »als ein Ganzes« bejahen zu können? Was Kants unbeirrbares Staunen hervorrief, war eben nicht nur dies, dass es in dieser Welt nicht nur »organisierte und sich selbst organisierende« Wesen gibt – an sich schon erstaunlich genug! –, sondern dass unter diesen Lebewesen offenbar auch solche sind, die sich selbst bewusst »Zwecke zu setzen« vermögen und diese handelnd realisieren; darüber hinaus ist es nach Kant der Mensch als »vernünftiges Wesen«, das als solches nicht allein ein »theoretisches Vermögen« besitzt und ihn so zur Erkenntnis dessen, »was ist«, befähigt; vielmehr sieht Kant dieses eigentümliche Wesen dadurch ausgezeichnet, dass er sich an »unbedingten Zwecken« (d. h. nicht allein an am »Nützlichen, Zuträglichen und Angenehmen« orientierten »relativen Zwecken«) zu orientieren vermag, die die Dimension des Moralischen konstituieren: Angesichts eines solchen »Wesens« und seiner Weltstellung ergibt sich nach Kant die unver128
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meidliche Frage, wie denn ein solches Wesen »in die Welt passt« – sie ist es auch, die ihm zufolge (jenseits allen bloßen »Wunschdenkens«) »unumgänglich« zur Religion führt, d. h. jenem von ihm gesuchten Nachweis zugrunde liegt, dass bzw. wie »Moral unausbleiblich zur Religion führt«. 129 »Staunenswert« schien ihm nicht nur dies, dass es in unbedingten moralischen Ansprüchen stehende »vernünftige Wesen« eben »de facto« gibt und diese Faktizität indes aus keinen evolutionären Maßstäben begründbar ist; »denkwürdig« war ihm zufolge darüber hinaus nicht zuletzt auch dies, dass ein in solchen Ansprüchen existierendes Wesen – danach befragt, »welche Welt e[s] wohl durch die praktische Vernunft [die darauf zielt, »was dasein soll«] geleitet erschaffen würde, wenn es in seinem Vermögen wäre« – auch aus moralischen Gründen (in Ablehnung einer »normativ tauben Faktenaußenwelt«) wollen müsse, »dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste, durch uns mögliche Gut bewirkt werde …« 130 – eine »teleologische« Perspektive, die erst recht über die Nagel’sche Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, noch einmal hinausweist. All diese angeführten Kant-Bezüge stehen also in engstem Zusammenhang zu dem von ihm intendierten Aufweis, dass bzw. weshalb »Moral unumgänglich zur Religion führt«, und sollen so seine Überzeugung stützen, dass »Gott gerade kein Wahn ist« – auch wenn dies der moralpsychologische Kant-Entlarver Dawkins nicht gerne wahrhaben will. Wie weit ist doch eine solche kritische Religionsbegründung im Sinne Kants von dem von Dawkins rasch diagnostizierten »objektiv unplausiblen« »Wunschdenken« (Gotteswahn 266) bzw. »Wahnvorstellungen« entfernt! Man sieht, klarer könnten die Fronten gar nicht verlaufen: Während Kant die Gottesidee als notwendige Idee der menschlichen Vernunft bezeichnet, die diese »abschließt und krönt« (ohne dass damit freilich schon über das Dasein Gottes etwas entschieden sei: das ist freilich ein wichtiger Punkt seines kritischen Unternehmens), erklärt Dawkins mit »erhobenem S. o. II., Anm. 115. – Im Ausgang von dieser kantischen Version der Frage, »wie der Mensch in die Welt passe« und der darin von Kant vollzogenen Religionsbegründung wäre wohl – auch mit Blick auf die von Nagel aufgeworfenen »mortal questions« – zu fragen, weshalb Kant über die Nagel’sche Frage, »wie Wesen wie wir in die Welt passen«, gerade mit seiner Religions-Thematik hinausgeht bzw. sich nicht mit Nagels Position bzw. Antwort begnügt. 130 Kant IV 652; s. zu den Folgen aus der damit verbundenen kantischen Religionsbegründung auch o. II., Anm. 111. 129
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Haupt« den Titel »god-delusion« gleichsam »psychopathologisch«: »delusion« sei eine »dauerhaft falsche Vorstellung, die trotz starker entgegengesetzter Belege aufrechterhalten wird, insbesondere als Symptom einer psychiatrischen Erkrankung« (Gotteswahn 18).
2.2.1 Zu Dawkins’ kurzschlüssiger – unaufgeklärter – Moral-Kritik Ein vorrangiges »populäres« Anliegen des »Aufklärers« Kant war bekanntlich jenem erwähnten Aufweis gewidmet, dass Religion nicht im Sinne einer dann unvermeidlichen fremdbestimmenden Moralbegründung missverstanden werden darf. 131 Schon im Eröffnungssatz seiner Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« hat er dies in besonders eindringlicher Weise zum Ausdruck gebracht: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfnis an ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anderes abgeholfen werden kann; weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgibt. Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objektiv, was das Wollen, als subjektiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst genug.« 132 Deutlicher lässt es sich wohl gar nicht sagen: Die moralische Verpflichtung ist inhaltlich ohne Religion zu begründen – und ebenso wenig darf Gott für die moralische 131 Die von Dawkins gewürdigte Einsicht Einsteins: »Wenn die Menschen nur deshalb gut sind, weil sie sich vor Strafe fürchten und auf Belohnung hoffen, sind wir wirklich ein armseliger Haufen« (zit. n. Gotteswahn 315), hätten Dawkins und die »brights« beispielsweise freilich auch bei Thomas von Aquin finden können. Denn auch Thomas v. A. hat stets betont, dass etwas nicht deshalb als »moralisch gut« zu gelten habe, weil es von Gott »geboten« ist, sondern umgekehrt ein »göttliches Gebot« nur dann als solches anzusehen ist, wenn bzw. weil es allein vernunft-begründet »moralisch geboten« ist. Ausdrücklich betont Thomas übrigens: »Wer die bösen Taten unterlässt, nicht weil sie böse sind, sondern nur, weil es Gott geboten hat, ist nicht frei« (Th. v. A., Expositio super II epist. ad Cor 3,2). 132 Kant IV 649.
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Die »brights« und die Aufklärung
Motivation zur Befolgung des moralisch Gebotenen herangezogen werden – denn das führt immer zu der (jedenfalls seit Platon immer wieder betonten) Schwierigkeit, ob Gott das Gute befiehlt, weil es gut, oder ob es gut ist, weil es geboten ist; im letzteren Fall wäre es ein reiner Willkür-Gott, und es gäbe keinen vernünftigen Grund, sich daran zu halten, weil schon im nächsten Moment das Gebotene widerrufen werden könnte; zudem wäre die Befolgung ein rein fremdbestimmter Kadavergehorsam – frei nach dem Motto: Also loben wir ihn laut, weil er uns sonst niederhaut! Dass weder zur Erkenntnis des moralisch Richtigen noch zum Tun des moralisch Guten eine religiöse Begründung erforderlich sei, betont Dawkins natürlich ganz zu Recht. 133 Und ebenso berechtigt ist natürlich seine Kritik daran, dass ein pseudo-»moralisches« Verhalten, das aus Schielen auf himmlische Belohnung oder Furcht vor Strafe erfolgt, deshalb gar nicht »moralisch« zu nennen ist; infolgedessen verpasst er der in der Tat unsinnigen Vorstellung, »Gott sei nötig, um gut zu sein«, sogleich einen »tödlichen Schlag«, weil dies auf »Opportunismus« und »Einschleimerei« (Gotteswahn 315) hinausliefe. Indes, auch gläubige Menschen mussten offenbar nicht auf die moralische Nachhilfe durch den Aufklärer Dawkins warten, um dessen suggestiv-triumphierende Anfrage »Oder glauben Sie, Religion sei notwendig, damit wir unsere moralischen Grundsätze rechtfertigen können?« (Gotteswahn 13) ohne Zögern mit »Nein« zu beantworten. Dass »wir unsere Moral nicht aus der Heiligen Schrift beziehen und auch nicht beziehen sollten« (Gotteswahn 347), 133 Die überraschende Problematisierung einer nicht-religiösen Begründung der Moral und der daran orientierten Prinzipien der Aufklärung durch J. Lennox und seine damit verbundene Aufklärungs-Kritik relativiert m. E. viele sehr berechtigte Punkte seiner Kritik am »Neuen Atheismus« und gibt seiner Position einen »fundamentalistischen Anstrich«. Auch Lennox’ erstaunliches Zugeständnis an Dawkins, dass Gott durchaus »Objekt der Naturwissenschaft« sei und der Glaube dafür auch »Indizien« liefere, begünstigt vermutlich einschlägige Missverständnisse. Lennox’ Argument der Notwendigkeit des Gottesglaubens für die Begründung moralischer Normen ist nicht stichhaltig. In der Tat ist es so – was er an Dawkins kritisiert –, »dass wir Gott nicht brauchen, um gut – oder böse zu sein« (Lennox 2013, 127). Dass Lennox hier offenbar dem angeführten Dostojewski-Wort zustimmt, muss irritieren; gleichwohl fügt es sich zu anderen Aufklärungs-kritischen Äußerungen. So heißt es etwa: »Dostojewski erkannte vor langer Zeit, dass der hohe Preis für die Ablehnung Gottes die Zerstörung der Moral ist« (Lennox 2013, 147). Übrigens: Die in einschlägigem Kontext erfolgte Berufung Lennox’ auf Habermas beruht offensichtlich auf einem Missverständnis bzw. stellt eine unsachgemäße Vereinnahmung dar.
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war durchaus auch schon den Kirchenvätern geläufig 134 – im klaren Bewusstsein der misslichen Konsequenzen, die andernfalls eine theologische Kurzschließung bzw. Vereinnahmung der Moralität unweigerlich hätte. Schon der deutsche Philosoph Leibniz hat knapp und eindringlich die misslichen Konsequenzen benannt, die jedenfalls dann unvermeidlich sind, wenn das moralisch Gesollte in seiner inhaltlichen Bestimmtheit auf eine Festsetzung (Dekret) durch den göttlichen Willen zurückgeführt, d. h. daraus sein normativer Anspruch abgeleitet wird: »Wie mir scheint, zerstört man auch gedankenlos alle Liebe zu Gott und seine ganze Herrlichkeit, wenn man sagt, die Dinge seien nicht durch eine Regel der Güte gut, sondern allein durch Gottes Willen. Denn weshalb sollte man ihn für das, was er geschaffen, loben, wenn er bei gegenteiligem Tun gleichermaßen lobenswert wäre? Wie wäre es um seine Gerechtigkeit und Weisheit bestellt, wenn nichts bleibt als eine despotische Macht, wenn der Wille an die Stelle der Vernunft tritt und wenn – der Definition des Tyrannen gemäß – das, was dem Mächtigsten gefällt, ebendeshalb gerecht ist? Außerdem hat es den Anschein, dass jeder Wille einen Grund des Wollens voraussetzt, und dass selbstverständlich dieser Grund dem Willen naturgemäß vorhergeht. Deshalb finde ich auch die Aussagen einiger anderen Philosophen ganz seltsam, die sagen, dass die ewigen Wahrheiten der Metaphysik und der Geometrie und folglich auch der Güte, der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit nichts als Wirkungen des göttlichen Willens seien; stattdessen scheint mir, dass sie Folgen seines Verstandes sind, der ebenso wenig wie sein Wesen von seinem Willen abhängt.« 135 134 Jene Frage: Ist etwas ein moralisches (und deshalb auch ein göttliches) Gebot, weil es in sich gut ist – oder ist etwas moralisch gut, weil es als solches durch ein göttliches Gebot deklariert ist, ist eben eine lang bekannte – und in der Tradition heftig diskutierte Frage, die auch von kirchlicher Seite stets dahin beantwortet wurde: Etwas ist göttliches Gebot, weil es in sich gut ist (und nicht erst durch göttliche Setzung); andernfalls liefe dies auf eine völlige Absage einer vernünftigen, d. h. Prinzipien-orientierte Moralbegründung hinaus – und es gäbe so auch keinen vernünftigen Grund, einem durch bloße Willkür dekretiertem Gebot Gottes zu folgen. 135 Leibniz 1958, Nr. 2. – Es sei eben ein Irrtum jener Philosophen, zu meinen, »dadurch die Freiheit Gottes zu verfechten; als ob nicht die höchste Freiheit darin bestünde, der höchsten Vernunft gemäß in Vollkommenheit zu handeln. Denn zu glauben, Gott handle in irgendeinem Falle, ohne einen Grund für seinen Willen zu haben, das ist, abgesehen davon, dass es unmöglich scheint, eine Ansicht, die seiner Herrlichkeit wenig angemessen ist. Nehmen wir beispielsweise an, Gott wähle zwischen A und B
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Unnachgiebig verfolgte Kant ebenso alle hartnäckigen Versuche einer theologischen Vereinnahmung der Moralität, die deren Autonomie nicht anerkennt (bzw. als »Relativismus«, »Subjektivismus« diffamiert) und sich so der grundlegenden Einsicht verweigert, dass Religion zur Begründung der Moralität nicht nur nicht erforderlich ist, sondern einschlägige Ansprüche vielmehr eine (von Kant später so bezeichnete) »Euthanasie der Moral« geradewegs begünstigen. Und es läuft auch keineswegs (wie häufig kirchlicherseits befürchtet bzw. kritisiert wird) auf einen Skeptizismus und Relativismus hinaus, wenn in der Aufklärung das moralisch Gesollte bzw. Gute nunmehr aus keiner anderen Vorgabe als der Freiheit selbst abgeleitet wird (die Idee des »Guten« dem moralischen Anspruch der Freiheit nicht vorausliegt); denn nicht aus einer »Schöpfungsordnung« vermag der Mensch in seinem Gewissen abzulesen, was er tun soll, sondern allein aus der durch den Anspruch des unbedingten moralischen Gesetzes qualifizierten Freiheit. Genau diese entscheidende Begründungsdimension wird vermutlich durch die Auffassung eher verdeckt: »durch die Schöpfung spricht er [Gott] den Menschen, sein Geschöpf, an, gibt er ihm Wegweisung, zeigt ihm, was er tun soll. In der Neuzeit verblasst der metaphysische Horizont der Welt.« 136 Eine solche Argumentation läuft doch wenigstens Gefahr, ihrerseits lediglich auf eine andersgestaltige Form eines »naturalistischen Fehlschlusses« hinauszulaufen, weil doch auch hier gelten muss, dass aus bloßer »Faktizität« kein »unbedingtes Sollen« begründet werden kann. Vielmehr ist es Aufgabe und Ziel, auf diese Weise überhaupt erst den Aspekt einer »unbedingten« Verbindlichkeit, die so auch universalen Geltungsansprüchen genügt, einzuholen. Diese Unbedingtheit des Freiheitsanspruches bedeutet ebenso dies, dass es für das moralische Handeln des Menschen kein so vorgegebenes Maß seines »Plansolls« als »Norm« geben kann wie für eine »ontologisch« verankerte Naturordnung der Welt, zumal eine Kosmos-orientierte Seinsordnung nicht ohne Fehlschluss die Sollensordnung unbedingter Freiheitsansprüche begründen kann. Die Forderung: »Mensch werde wesentlich!« wirft im Blick auf den unbedingten Anspruch des Gewissens und entscheide sich für A, ohne irgendeinen Grund zu haben, es B vorzuziehen, so sage ich, dass diese Handlung Gottes zumindest nicht lobenswert wäre; denn alles Lob muss einen vernünftigen Grund haben, der hier ex hypothesi nicht zu finden ist. Ich hingegen glaube, dass Gott nichts tut, wofür er nicht des Rühmens wert ist« (ebd. Nr. 3). »Gelobt« wird Gott wegen des »Lobenswerten«, nicht aus Unterwürfigkeit. 136 Kardinal Schönborn 2009.
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bedeutsame Fragen auf, die mit Kants Frage nach der »Bestimmung des Menschen« engstens verbunden sind. Die angeführten längeren Passagen Kants und Leibnizens sind offenkundig auch eine radikale Absage an Dostojewskis berühmten Satz: »Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt«. Hätte Dostojewki damit Recht, so wäre dies freilich, mit jener kantischen Wendung gesprochen, die »Euthanasie aller Moral«, weshalb Kant sich auch gegen eine so verstandene »theologische Ethik« stets energisch gewendet hat (und dies prominent an der biblischen Abraham-IsaakGeschichte verdeutlicht hat). Darin ist die schlichte Einsicht leitend, die auch seiner Kennzeichnung unserer »sittlichen Pflichten als göttlicher Gebote« zugrunde liegt: Etwas ist nicht moralisch richtig und gut, weil es von Gott als solches deklariert bzw. dekretiert wird, sondern es kann nur als göttliches Gebot angesehen werden, weil es in sich richtig und gut ist – alles andere impliziert auch eine ganz schiefe Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Religion. Eine Begründung der unbedingten Geltung moralischer Normen ohne Religionsbezug ist nicht nur möglich – im Unterschied zu Dawkins’ »Illusionsthese«, deshalb verpufft auch sein Protest gegen religiöses Lohndenken: Statt jene für eine »aufgeklärte Denkungsart« eher selbstverständlichen Einsichten aufzunehmen, lässt Dawkins’ Entlarvung religiöser Unmoral nicht lange auf sich warten: Religiöse handelten letztlich nur gut, um göttlicher Strafe zu entgehen (bzw. sich himmlische Freuden zu erarbeiten); sie sähen sich unter steter Beobachtung durch die Überpolizei Gott; das sei aber gar kein wirklich moralisches Handeln: »Most thoughtful people would agree that morality in the absence of policing is somehow more truly moral than the kind of morality that vanishes as soon as the police go on strike or the spy camera is switched off …« (Gotteswahn 263). Noch einmal ein Blick auf Kant: Mit jener oben angeführten Einsicht, dass es zur Begründung des Moralischen (weder in inhaltlicher Hinsicht noch bezüglich der Befolgung des als moralisch richtig Erkannten) keines Rekurses auf die Religion bedarf, Religion also nicht zur Moral erforderlich sei, hat er sich freilich nicht begnügt, sondern daran einen weiteren interessanten Hinweis geknüpft: Er hat nicht nur die mit den Gottesbeweisen verbundenen schiefen Ansprüche zurückgewiesen, sondern auch darauf insistiert, dass schon aus Gründen »moralischer Authentizität« und des »moralischen Werts der Handlungen« es durchaus angemessen ist, dass das Dasein Gottes nicht »beweisbar« ist, weil ebendies auch solcher »Authentizi352 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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tät« entgegenkommt – und schon deshalb auch die Unmöglichkeit eines solchen »Beweises« nicht zu beklagen ist; denn, so argumentiert bekanntlich Kant, »würden Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen liegen (denn, was wir vollkommen beweisen können, gilt, in Ansehung der Gewißheit, uns so viel, als wovon wir uns durch den Augenschein versichern)«, so würde zwar die »Übertretung des Gesetzes … freilich vermieden, das Gebotene getan werden«; jedoch würde das infolgedessen lediglich lohnbzw. furchtbestimmte »Verhalten der Menschen … in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde« 137. Damit ist gesagt – nur auf den ersten Blick mag es als paradox erscheinen: Die Nichtbeweisbarkeit des Daseins Gottes ist nach Kant deshalb der »moralischen Bestimmung« geradezu angemessen und insofern sogar eine moralisch bedeutsame »Zweckmäßigkeit der Vernunft«, die diese so auch vor einer bloßen Reduktion auf berechnende Klugheit bewahrt. Seine »Bestimmung« erfüllt der Mensch eben vornehmlich dadurch, dass er sich von den durch das »Gängelband des Instinkts« markierten Fesseln befreit, als potenziell unbegrenzt lernfähig alle bloße Umweltadaption insofern überschreitet, als er erkennend und wollend sich an Ansprüchen orientiert, die allesamt bloß vitale Interessen der Selbstbehauptung und -steigerung übersteigen, und so »in ständiger Progression« als Individuum und Art lebt – wie gesagt, für »Überlebensmaschinen von Genen und Memen« mag dies anders sein. Allein als »Endzweck der Schöpfung« vermag er sich zuletzt auch über alle bloß »relativen Zwecke der Glückseligkeit« (des Angenehmen, Nützlichen und Zuträglichen im Dienst der »Selbsterhaltung« und »Lebenssteigerung«) zu »unbedingten« (d. h. nicht bloß »relativen«) Zwecken zu erheben, wie dies auch in dem »kategorischen Imperativ« der Achtung des Anderen als »Selbstzweck« zum Audruck gebracht ist – über die »Klugheits«-orientierten pragmatischen Zwecke hinaus, andere Menschen geschickt und unauffällig zu seinem Vorteil zu gebrauchen, ganz wie es zu klugen »Überlebensmaschinen« und deren Verhalten zu ihrer jeweiligen Umwelt passt 138. 137 Kant IV 282. Mit Kant als zweifelnde Frage formuliert: »Wenn es möglich wäre zu wissen, dass ein Gott sei, bliebe denn noch Moralität im Menschen?« (Refl. 6099, AA XVIII, 451). 138 Dawkins’ Beteuerung läuft ins Leere, weil es doch um anderes geht: »Wenn wir
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Es hat sich gezeigt: Jene Selbstverständigung des Menschen weiß in ihrem Bemühen um eine umfassende aufgeklärte Orientierung in Erkennen, Handeln und Hoffen freilich auch darum, dass die Gottesthematik bzw. Religion nicht zur Begründung moralischer Gebote bzw. als Motivationsgrund für deren Befolgung herangezogen bzw. missbraucht werden darf – darüber musste sich auch Kant nicht von zeitgenössischen »hellen Köpfen« belehren lassen. Dass und wie er den Unbedingtheitsanspruch des Moralischen aus guten Gründen gerade nicht »religiös begründet« (was nach Dawkins jedoch »schwierig« sei), kümmert Dawkins weiters nicht – müsste es auch nicht, wenn er nur darauf verzichten wollte, darüber seinen Spott auszugießen. Deshalb sollte er sich auch mit der in der Tat zentralen These Kants befassen – »heiliger Sockel«, von dem Dawkins den eitlen Menschen stoßen will, hin oder her –, denn »das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt« 139. Schon Kants Forderung für das moralisch Gute, im Unterschied zum Nützlichen, »dass etwas von einer Sache an sich selbst betrachtet und also innerlich gelte« 140, hat in Dawkins’ Moraltheorie gar keinen Platz – nicht ohne Grund verstrickt er sich hier in eine ihm offenbar selbst nicht verborgen gebliebene eigentümliche Widersprüchlichkeit, wie sich zeigen wird. Doch davon einmal abgesehen: Völlig ungeklärt bleibt jedoch auch dies, von welchen Kriterien bzw. Maßstäben her Dawkins jene Kritik einer »Lohnmoral« begründetermaßen zu äußern vermag. »Überlebensdienlich« und vorteilhaft-nützlich im schonungslosen »struggle of life« ist solches Verhalten doch allemal – wogegen möchte Dawkins nun eigentlich polemisieren? Und steht diese Polemik denn nicht selbst im Dienste jener von ihm selbst – zu welchem »Überlebensvorteil« übrigens? – diagnostizierten »erbarmungslose Nützlichkeit«, mag auch dies »nicht den Anschein« haben, obgleich Dawkins selbst wohl auch hier brav »nach der Pfeife der DNA tanzt«? Es hat sich schon gezeigt, dass er sich bezeichnenderweise zur VerMenschen alle miteinander (ich ebenso wie die ›anderen‹) ausschließlich Naturstücke sind, so kann man mir nicht prinzipiell irgendeinen Verzicht auf meine Lebensbelange zumuten (ich bin bedroht genug, um alle meine Vorsorge auf mich und die Meinen zu konzentrieren) und kann man Menschen nicht prinzipiell so hohen Rang und Wert einräumen, dass ich allein ihnen gegenüber … es zu meiner moralischen Pflicht machen sollte, ihren Nutzen und ihr Glück zu fördern« (Wagner 1992, 124). 139 Kant II 498. 140 Kant II 329.
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teidigung seiner aufgeklärten Moralansprüche auf etwas berufen muss – und zwar aus Gründen der Rechtfertigung –, was sich seiner eigenen evolutionären Konzeption zufolge als »Fehlfunktion« erweist – nämlich jene schon erwähnte kontra-»darwinistische« Einstellung des zwar als »Genmaschine« gebauten und als »Memmaschine« erzogenen Menschen, der gleichwohl befähigt sein soll, seinen eigenen »Schöpfern« die Gefolgschaft zu verweigern (s. o. I., 1.1). So beschließt Dawkins sein Buch über »Das egoistische Gen« mit dem den Menschen offenbar erneut auf den verpönten »hohen Sockel« hebenden Befund, »dass noch eine weitere einzigartige Eigenschaft des Menschen darin besteht, dass er zu echtem [also wohl im Vergleich zu »unechtem«!], uneigennützigem, aufrichtigem Altruismus fähig ist. […] Das Entscheidende, was ich sagen will, ist folgendes: selbst wenn wir die düstere Seite betrachten und davon ausgehen, dass der einzelne Mensch im Grunde egoistisch ist, könnte uns unsere bewusste Voraussicht – unsere Fähigkeit, die Zukunft in unserer Vorstellungskraft zu simulieren – vor den schlimmsten egoistischen Exzessen der blinden Replikatoren bewahren.[141] Wir besitzen zumindest das geistige Rüstzeug, um nicht so sehr unsere kurzfristigen als vielmehr unsere langfristigen egoistischen Interessen zu fördern. Wir sind in der Lage, die langfristigen Vorteile der Beteiligung an einer ›Verschwörung der Tauben‹ zu erkennen, und wir können uns zusammensetzen und Mittel und Wege diskutieren, wie die Verschwörung zum Funktionieren gebracht werden kann. Wir haben die Macht, den egoistischen Genen unserer Geburt und, wenn nötig, auch den egoistischen Memen unserer Erziehung zu trotzen. Wir können sogar erörtern, auf welche Weise sich bewusst ein reiner, selbstloser [!] Altruismus kultivieren und pflegen lässt – etwas, für das es in der Natur keinen Raum gibt, etwas, das es in der gesamten Geschichte der Welt nie zuvor gegeben hat. Wir sind als Genmaschinen gebaut und werden als Memmaschinen erzogen[142], aber wir haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen. Wir allein Das ist natürlich recht aussichtsreich – nur: warum dies moralisch, gar echt »aufrichtig altruistisch«, und nicht bloß einigermaßen klug sein soll, d. h. den Menschen nicht bloß als schlaues und »kluges Tier« auszeichnet, bleibt unerfindlich … 142 Das 5. Kapitel in Dawkins’ »Das egoistische Gen« über »Aggression: Die egoistische Maschine und die Stabilität« macht dies ja recht deutlich. – Es ist übrigens ein interessantes Bild der Erziehung, das der Aufklärer Dawkins hier von der Erziehung der Zöglinge zeichnet – von dem man nur hoffen kann, dass diese Erziehungstheorie schlechter als die gelebte Praxis ist … 141
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– einzig und allein wir auf der Erde – können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen« (Das egoistische Gen 237). Ja, man muss sich also diese »Überlebensmaschinen« als anständige und wohl auch als »glückliche« vorstellen … Wenn sich dieses fortlaufend »behauptend« äußernde »Wir« in diesen zitierten Sätzen nur ja nicht wiederum als eine »Illusion« erweist … Indes, dieses unüberbietbar pathetische Finale seines Buches »Das egoistische Gen« wirft nicht nur die weitere Frage auf, wie all dies denn zu seiner so energischen Weigerung passt, den »Menschen auf den hohen Sockel« zu stellen; vor allem bleibt die Frage, was denn diese den Menschen als »kluges Tier« auszeichnenden Voraus-»Kalküle« mit »Moral«, gar mit dem von Dawkins beschworenen »aufrichtigen Altruismus« zu tun haben soll – auch in dieser Hinsicht widerspricht er sich offensichtlich selbst; einmal ganz abgesehen davon, dass er für eine wirklich »moralisch« zu nennende Lebensführung doch überhaupt keine Kriterien bzw. Maßstäbe hat. Freilich: Weder »begegnen« sich solche »Überlebensmaschinen« noch achten sie einander, vielmehr treten sie sich als durch Überredung und »Mem«-Strategien manipulierbares – eben als »Genmaschinen gebautes« und als »Memmaschinen erzogenes [!]« – »Gegebenes« gegenüber, zu dem man sich gemäß jenem Klugheitsimperativ und in den eingeübten Mem-stabilisierten Formen dressierter Höflichkeit verhält. 143 Als »Memmaschinen erzogene Überlebensmaschinen«, als die man sich Dawkins zufolge zu begreifen hat, funktionieren und koexistieren sie gemäß einer solchen »Lohnmoral« doch recht gut und bedürfen, wenn man den einschlägigen Berichten glauben darf, auch in ihrer Endphase einer vergleichsweise weniger aufwendigen bzw. belastenden Wartung. Diesem bemerkenswerten (obgleich widersprüchlichen) Befund Dawkins’ zufolge sind es ja die Mechanismen der Evolution selbst, die ein Wesen hervorbringen, das sich offenbar eben gegen diese in ihr herrschende »erbarmungslose Nützlichkeit …, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226), zu wenden vermag – und dies Dawkins zufolge ja auch soll! Demnach bleibt es dabei: »In der Natur ist alles, hier ist von keinem Soll die Rede« 144; verhält es 143 Dies passt übrigens recht gut zu den einschlägigen Diagnosen und Programmen, die der Behaviorist J. B. Skinner in seiner Schrift »Jenseits von Freiheit und Würde« im Jahr 1973 vorgelegt hat. 144 Kant VI 341.
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sich Dawkins zufolge so, dass die Evolution mit dem ihre »Mechanismen« gleichsam unterbrechenden Menschen (als spätes Produkt derselben) demnach im Grunde selbst einer »leichtfertigen Spielerei« verfällt? Auch sein – mit der Konzeption der »Überlebensmaschinen« freilich nicht leicht vereinbares – Vorhaben, die Mitglieder der Gesellschaft zu »aufrichtigem Altruismus« und ähnlichen Großtaten zu ermutigen bzw. aufzufordern, ist ja rührend und gewiss lobenswert, zumal es sich ja auch dabei offenkundig um anderes und mehr als um eine bloße »leichtfertige Spielerei« handeln soll; noch mehr aber ist dies in verschiedener Hinsicht verwunderlich, zumal eine solche »ad hoc« geltend gemachte Relativierung der biologischen Disposition in der Sache selbst gar nicht ausgewiesen wird – aber was macht dies schon aus, wenn es sich nur gut ins Gesamt-Mem-Setting fügt. Insofern trifft Lohfinks Kommentar zweifellos zu: »Es ist erquickend, dass Dawkins, ohne es zu merken, am Ende seine eigenen Ergebnisse in den Wind schlägt und von den segensreichen, von den kostbaren Fehlleistungen der Evolution spricht. Fehlleistungen? Nein, es sind neue Wegstrecken der Evolution« 145. Mit Recht weist Lohfink auf die Inkonsequenzen und Widersprüchlichkeiten hin, in die sich seine »biologistische Ableitung des menschlichen Ethos« verstrickt. Sie beruhen im Grunde allesamt auf der prinzipiellen Nivellierung jener schon wiederholt zitierten kantischen Einsicht: »In der Natur ist alles, in ihr ist von keinem Soll die Rede« – ein Gesetz, das jedoch, Dawkins zufolge, durch einen »segensreiche[n], kostbaren Fehler« (Gotteswahn 306 f.) korrigiert wird. Dass Dawkins unter den Vorzeichen des von ihm geteilten harten Naturalismus »Autonomie« bzw. die hierfür und für »Zurechnung« bzw. »Verantwortung« vorausgesetzte Freiheit gar nicht denken kann, obgleich er selbst sich ständig auf Freiheit, Selbstbestimmung, Würde und Moral beruft (während nach seiner eignen 145 Lohfink 79. – Völlig zu Recht wendet sich Lohfink auch gegen Dawkins’ evolutionäre Moral-Begründung: »Im Grunde zeigt diese Ableitung des Sittlichen die Einseitigkeit, ja das ganze Elend einer ausschließlich biologischen Betrachtung des Menschen. […] Wenn evolutives Denken derart wichtig ist und (mit Recht!) eine so große Rolle im Verstehen der Welt spielt – weshalb rechnet Dawkins dann nicht auch im Bereich des Sittlichen mit einer Entwicklung? Nämlich mit einer allmählichen Höherentwicklung und Verfeinerung rein tierischer Verhaltensweisen zu wahrhaft menschlicher Sittlichkeit? Warum rechnet er nicht mit einer Sublimierung von überkommenen Verhaltensweisen, die noch durch reinen Instinkt gesteuert waren, zu einem Handeln aus Freiheit und aus Einsicht in das Gute?« (Lohfink 2013, 70).
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Auskunft er keine andere Wirklichkeit als die physikalische Geschehensabläufe anerkennt), steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Auch wenn Dawkins’ seltsame Bemerkung: »Die Fachleute für Gedanken über Richtig und Falsch sind die Moralphilosophen« (Gotteswahn 323), vermutlich wiederum abgründig ironisch gemeint ist, so ändert dies in der Sache nichts an ihrer Unsinnigkeit; und was immer Dawkins unter einem »moralischen Absolutismus« verstehen mag – seine Kennzeichnung der (offenbar auch Kant zugeschriebenen) Ansichten der von ihm sogenannten moralischen »Absolutisten«, nach denen es angeblich »absolute Maßstäbe für Richtig und Falsch« gibt (Gotteswahn 324), erreicht nicht einmal annäherungsweise die in Kants »universalistischer« Moralbegründung leitenden Intentionen bzw. dasjenige, was mit seiner Kennzeichnung der »Autonomie« gemeint ist. Bedeutsamer als der schon erbrachte Nachweis, dass Dawkins’ Moral-Kritik großteils lediglich Einwände formuliert, die für ein aufgeklärtes gläubiges Bewusstsein offenkundig ohnedies selbstverständlich und insofern für es gegenstandslos sind, ist jedoch ein anderer Punkt. Denn vor allem bleibt Dawkins mit der kritischen Rückfrage zu konfrontieren, ob er denn, von seinen naturalistischen Maßstäben her, seine Kritik an einer fremdbestimmten (»heteronomen«) Lohnmoral überhaupt zu begründen bzw. zu rechtfertigen vermag. Sachlich gewichtiger als jene in Dawkins’ Argumentation zutage tretenden Inkonsequenzen ist insbesondere der schon berührte Sachverhalt, dass sich auch der oben angeführte moralische Einspruch Dawkins’ gegen eine Lohnmoral keineswegs evolutionsbiologisch begründen lässt – fehlen ihm doch, wie erwähnt, auch alle Maßstäbe, von denen aus er ein solches Lohn-fixiertes Schielen einer Scheinmoral kritisieren könnte, denn: »Es mag intuitiv hoch plausibel sein, jemanden mehr zu schätzen, weil er das Gute um seiner selbst willen tut, aber Dawkins kann diese Hochschätzung nicht aus seinen eigenen Annahmen ableiten. Im Einklang mit der Evolutionswissenschaft geht er gerade davon aus, dass sich in unserer Entwicklungsgeschichte eine Fülle verschiedener Anlagen mit jeweils ganz unterschiedlichen Motiven herausgebildet habe, damit wir so handeln, wie es im Interesse unserer Gene ist.« 146 Hinzu kommt dies, dass Daw146 Illies 2006, 290. Illies verfolgt in seinen einschlägigen Arbeiten das Ziel, einerseits die Ergebnisse der Evolutionsbiologie in ihrer Bedeutung zu würdigen und auch für philosophisch-ethische Fragen fruchtbar zu machen – und dennoch andererseits über-
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Die »brights« und die Aufklärung
kins’ evolutionären Moralbegründungs-Ansprüche dafür völlig blind bleiben müssen: »Einerseits bleibt die Evolutionsgeschichte normativ stumm; sie erklärt, warum sich was entwickelt hat, aber nicht, warum irgend etwas dabei gut oder schlecht sein soll. Vom Gewordensein auf ein Seinsollen zu schließen, ist stets ein naturalistischer Fehlschluss. Selbst wenn wir Anlagen zum Altruismus haben, kann daraus nicht direkt geschlossen werden, dass es moralisch gut ist, ihnen zu folgen – allenfalls, dass es in der Regel ›gut‹ für die Vermehrung der Gene ist. Aber das hat mit moralischem Gutsein zunächst nichts zu tun.« 147 Und so sehr Dawkins’ Ablehnung der Auffassung zuzustimmen ist, dass es zur Begründung des Moralischen keiner religiösen bzw. theologischen Verankerung bedarf, so sehr ist jedoch eine evolutionistische Begründung der Dimension des Moralischen in geltungstheoretischer Hinsicht zu kritisieren; einschlägige Ansprüche werden freilich von Dawkins vertreten – nicht zuletzt in seinen »Altruismus-Theorien«, die fortwährend empirische »Genese« mit der Dimension der »Geltung« vermischen bzw. verwechseln und natürlich infolge solcher Nivellierung des Ebenen-Unterschieds erst recht dem Universalisierungsanspruch moralischer Prinzipien in keiner Weise gerecht zu werden vermögen. 148 zogene Ansprüche derselben zurückzuweisen, die die Ethik biologisch beerben bzw. erübrigen wollen, und zwar ungeachtet seiner Thesen: »Evolutionäre Erklärungen erhöhen die Begründungslast für moralische Urteile« bzw. »Evolutionäre Erklärungen erhellen die natürliche Grundlage der menschlichen Moral« (Illies 2013a, 363). 147 Illies 2006, 288. 148 Entsprechend erstaunliche Erklärungen in seiner Moralbegründung hat Dawkins anzubieten, wo er auch vor dem Hinweis auf gewissermaßen evolutionäre Entgleisungen als »Fehlfunktionen« nicht zurückscheut: »In alter Zeit hatten wir Gelegenheit zum Altruismus nur gegenüber unseren Verwandten und denen, die es uns potentiell vergelten konnten. Heute existiert diese Einschränkung nicht mehr, aber die Faustregel ist immer noch da. Warum sollte es sie nicht mehr geben? … Wenn wir einen unglücklichen Menschen weinen sehen, müssen wir einfach Mitleid empfinden (auch wenn dieser Mensch nicht mit uns verwandt ist und uns unsere Hilfe nicht vergelten kann), ganz ähnlich [!] wie wir uns sexuell zu einem Angehörigen des anderen Geschlechts hingezogen fühlen (auch wenn diese Person vielleicht unfruchtbar oder aus anderen Gründen nicht zur Fortpflanzung in der Lage ist). Beides sind Fehlkonstruktionen, darwinistische Fehler – segensreiche, kostbare Fehler« (Gotteswahn 306 f.). Wenn einmal die darwinistischen Ausleseprinzipien stillschweigend als Norm angesehen werden, bleibt nur noch dieser Ausweg einer Erklärung als evolutionärer »Fehlleistung« über; was aber, wenn – aufgrund eines Gen- oder Mem-Defekts – z. B. jene Mitleid-Empfindung ausfällt oder jedenfalls beeinträchtigt ist? Die von Dawkins aufgebotenen »vier stichhaltige[n] darwinistischen Gründe, warum Individuen untereinander altruistisch, großzügig oder ›moralisch‹ handeln« (Gotteswahn 304), sind
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Dazu kommt die der ganzen Tradition der philosophischen Ethik geläufige Einsicht, dass ohne die Rücksicht auf die Motivation bzw. Gesinnung von »egoistisch« oder »altruistisch«, d. h. in einem »moralisch qualifizierbaren« Sinne (in Fixierung auf den »Effekt der Handlungen«) überhaupt nicht die Rede sein kann – auch dies ist natürlich in jenem schon wiederholt angeführten kantischen Satz impliziert: »In der Natur ist alles, hier ist von keinem Soll die Rede«; auf jener Einsicht beruht auch die Unterscheidung, dass ein »actus hominis« von einem »actus humanus« zu unterscheiden ist und infolgedessen »von Altruismus und Egoismus« in Fixierung auf das »objektive Verhalten« gar nicht die Rede sein kann. Auch deshalb ist die für Dawkins’ gesamtes Buch »Das egoistische Gen« grundlegende anschließende Argumentation in der Sache völlig irreführend (obgleich sie recht genau seinem naturalistischen Menschenbild entspricht): »Eine anscheinend selbstlose[149] Handlung ist eine Handlung, die oberflächlich so aussieht, als müsse sie dazu führen, dass der Altruist mit größerer Wahrscheinlichkeit (so gering der Unterschied auch sein mag) stirbt, und der Nutznießer mit größter Wahrscheinlichkeit überlebt. Häufig stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass scheinbar selbstlose Handlungen in Wirklichkeit eher versteckt selbstsüchtige Handlungen sind. Noch einmal: ich meine nicht, dass die zugrunde liegenden Motive im geheimen eigennützig sind, sondern dass der tatsächliche Effekt einer Handlung auf die Überlebensaussichten sich als das Umgekehrte dessen erweisen kann, was wir ursprünglich gedacht haben« (Das egoistische Gen 5). Bei noch genauerem Hinsehen auf diese »scheinbar selbstlosen Handlungen« könnte sich allerdings herausstellen, dass hier zwar von »versteckten [!] selbstsüchtigen Handlungen« die Rede ist, jedoch ohne »jemand«, dem man ein – Absicht voraussetzendes – »Verstecken« und ein selbstsüchtiges – d. h. darin »sich selbst suchendes« – Handeln zuschreiben könnte. Infolgedessen ist es auch sinnlos oder doch wenigstens sehr irreführend, die Prädikate »egoistisch« bzw. »altruis-
(in ihrem »Biologismus«) für eine Moralbegründung völlig unzulänglich und auch begründungstheoretisch irrelevant; sie untergraben übrigens auch seinen eigenen »moralisch« inspirierten Protest gegen eine bloße »Schein-Moral«. 149 »Selbstlos« – ein mehrdeutiges Wort: auch in der Hinsicht, dass ohne Motivation von einer Handlung doch gar nicht die Rede sein kann und ein »selbstloser Altruismus« in dieser Hinsicht ein »hölzernes Eisen«, d. h. eine »contradictio in adjecto«, wäre.
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tisch« zur Beschreibung des von Dawkins sogenannten »objektiven Verhaltens« zu verwenden. Nur nebenbei bemerkt: Auch der Aufweis der biologischen Genese und der faktischen biologischen Zweckmäßigkeit bestimmter Verhaltensmuster besagt deshalb noch keinen stichhaltigen Einwand dagegen, dass das entsprechende evolutionär erklärte Verhalten zugleich auch unter moralischen Gesichtspunkten begründet sein könnte – also nicht nur akzeptabel, sondern auch geboten ist; so richtig dies auch ist, so wenig besagt andererseits die noch so eindeutige biologische Zweckmäßigkeit selbst über den moralischen Charakter des entsprechenden Verhaltens; die Geltungsfrage moralischer Normen kann eben nicht aus der Faktizität des evolutionären Gewordenseins abgeleitet bzw. darin aufgelöst werden. Noch dies sei angemerkt: Dass auch »intellektuell hervorragende Menschen« »in ihrer großen Mehrheit (zwar) nicht an die christliche Religion« glauben, aber »in der Öffentlichkeit … diese Tatsache geheim« halten, weil sie »Angst haben, ihr Einkommen zu verlieren«, hat der Dawkins’ atheistische Mission beseelende Redlichkeitssinn und der ihn begleitende psychologische Spürsinn natürlich längst durchschaut bzw. entlarvt und ist darin freilich kaum zu widerlegen. Indes ist – und zwar unter den Prämissen seines Naturalismus – völlig rätselhaft, was denn daran anstößig sein soll; hierfür fehlen jedenfalls einer solchen von ihm beanspruchten Entlarvung dieser ScheinMoral schlichtweg alle erforderlichen Kriterien.
2.3 Zu weiteren Motiven einer unverkürzten Aufklärung – mit Blick auf Kant Kants Aufklärungs-orientierte Zeitdiagnose ist bekannt: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« 150 Weniger bekannt – jedoch nicht weniger interessant und auch brisanter – ist gerade mit Blick auf die von Dawkins 150
Kant II 13.
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und den »brights« geäußerten Aufklärungsansprüche wohl dies, dass Kant mit dem Anspruch einer »aufgeklärten Denkungsart« genau jene im vorigen Abschnitt dargelegten unabweislichen Themen verknüpft hat, die »jedermann notwendig interessieren« und denen man sich auch nur um den Preis freiwilliger Borniertheit entziehen kann. Demzufolge ist es dieser »aufgeklärten Denkungsart« nicht allein darum zu tun, sich in der Urteilsbildung nicht lediglich »dem Verstand anderer« auszuliefern bzw. sich darauf zu verlassen, sondern sich demgegenüber des »eigenen Verstandes« zu bedienen; vielmehr geht es nach Kant – über die üblicherweise maßgebenden Kennzeichnungen einer »aufgeklärten Denkungsart« hinaus – im Sinne einer »vernünftigen Weltorientierung« vorrangig auch darum, darin sich der »Leitung der Vernunft« und ihren »letzten« bzw. »höchsten« Zwecken zu unterstellen – Fragen, die Kant unter den Titel jenes »Weltbegriffs der Philosophie« gestellt hat, auch wenn ihre Eigenart es nicht erlaubt, sie im Sinne der Rationalität moderner Wissenschaft zu stellen bzw. zu beantworten. Das primäre Anliegen dieses »Weltbegriffs der Philosophie« sah Kant vornehmlich darin, die »wesentlichen und höchsten Zwecke« des menschlichen Daseins zu klären, zu differenzieren und aufeinander zu beziehen, und führt dies deshalb auch auf jene Fragen – weshalb »eine solche Erkenntnis … nicht bloß für die Schule, sondern auch für die Welt« bestimmt ist. 151 Es ist auch in diesem Kontext recht aufschlussreich, dass der späte Kant seine Bestimmung einer »aufgeklärten Geistesart« mit der gebotenen Besinnung auf jene »Rangordnung der Zwecke« verknüpft hat, weil anders ein vernunftorientiertes Leben jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche nicht möglich ist: »Philosophia (doctrina sapientia) ist nicht eine Kunst von dem was aus dem Menschen zu machen ist, sondern was er aus sich selbst machen soll ›sapere aude‹. Versuche dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen« 152. Dieses »sapere aude!« 151 Kant AA XXIV, 820. Der pathetische Ton Kants darf das aufklärerische Motiv nicht überhören lassen, das schon in seiner frühen These entgegentritt: »Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen, wie er seine Stellung in der Welt gehörig erfülle und recht verstehe, was man sein muss, um ein Mensch zu sein.« »Wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die, die ihn lehret, die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist, und aus der er lernen kann, was man sein muss, um ein Mensch zu sein« (AA XX, 45). 152 Kant AA XXI, 117. »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Ver-
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enthält also die Aufforderung, sich an »Vernunftansprüchen« und den darin maßgeblichen »Zwecken« zu orientieren, und weist insofern über die stets gebotene Forderung, »selbst zu denken«, noch hinaus. In diesem Verweis auf die eigentlichen und »höchsten Zwecke« des Menschen ist auch enthalten, dass die über den einzelwissenschaftlichen Verstand hinausweisenden Sinnfragen weder geleugnet noch in die bloße Irrationalität und bloß individuelle Beliebigkeit abgeschoben werden und Rationalität somit auch nicht auf Berechnung und Steigerung natürlicher Interessen reduziert wird. Darin ist eine Kritik an einem »Szientismus« und an einer Reduktion der Vernunft auf »instrumentellen Verstand« ebenso enthalten wie eine Absage an eine abstrakte – maß-, weil vernunftlose – Fortschrittsgläubigkeit. Dabei hat eine »aufgeklärte Geistesart« freilich der veränderten Situation Rechnung zu tragen, die M. Weber in den berühmten Sätzen formuliert hat: »… am größten und prinzipiellsten wird schließlich die bewusste Spannung der Religiosität gerade zum Bereich des denkenden Erkennens … Wo immer … rational-empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulats: dass die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor. Denn die empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, welche überhaupt nach einem ›Sinn‹ des innerweltlichen Geschehens fragt. Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaften wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.« 153 Genau dies ist aber auch die Folge bzw. der Preis für die Reduktion der Wirklichkeit auf den abstrakten Realitätsbegriff der bloßen »Faktenaußenwelt«, in der freilich auch der Mensch in seinem personalen Selbstverständnis zu einem bloßen »Anthropomorphismus« verkommt bzw. – mit erbaulichen Unterbrechungen – als spaßfähige »Überlebensmaschine« sein Dasein fristet. standes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant VI 53). 153 Weber 1922, 564. »Und ob diese Welt … wert ist, zu existieren: ob sie einen ›Sinn‹ hat, und ob es einen Sinn hat: in ihr zu existieren« (Weber 1922, 541), ist von diesen Wissenschaften selbst nicht zu beantworten.
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Gerade vor diesem Hintergrund erweist sich Kants Programm nach wie vor als aktuell, ist mit jener »aufgeklärten Denkungsart« doch nicht zuletzt dies verbunden: Theoretische Wissensansprüche wie auch praktische Sinnansprüche des Menschen zu prüfen – sei es, um diese zu legitimieren, ihre Grenzen zu bestimmen bzw. sie auf solche Weise auch zueinander ins Verhältnis zu setzen und dergestalt, gegen positivistische Frageverbote wie auch gegen naturalistische Entlarvungsversuche, den Raum für ein vermitteltes Nicht-Wissens zu eröffnen; vor allem dies gehört nach Kant auf unverzichtbare Weise zur Entfaltung des Gesamtraumes der Humanität: ein entscheidender Aspekt seines »Weltbegriffs der Philosophie«, der auf die »wesentlichen und höchsten Zwecke des Menschen« abzielt und somit darauf, was »jedermann notwendig interessiert«. Dies wird bekanntlich von ihm geleistet am Leitfaden der Fragen nach dem Wissenkönnen, dem Tun-sollen und dem Hoffen-dürfen, zumal darin gar nichts anderes als die kantische Frage »Was ist der Mensch?« ihre Entfaltung und Antwort findet, wobei in dieser Frage ja nicht primär ein »theoretisches Interesse« zum Ausdruck bringt (das dann ja auch primär den Einzelwissenschaften zuzuordnen wäre). Vielmehr sind in diesem »Weltbegriff der Philosophie« jene unabweislichen, »notwendig interessierenden« – weil existenziell relevanten – Fragen angesprochen, die auch mit seiner Bestimmung des moralisch verankerten »Vernunftglaubens« engstens verbunden sind. Vornehmlich diese moralisch inspirierten und »Bewandtnis«-orientierten – d. h. engstens mit »der menschlichen Vernunft verwebten« existenziellen – »Sinnperspektiven« legen es nahe, diese Fragen von »höchstem Interesse« auch mit der Gottesthematik zu verknüpfen, um sie solcherart vor einer unkritischen Preisgabe durch eine sich selbst missverstehende Wissenschaft zu schützen und gleichermaßen ihre Auslieferung an die Irrationalität des Aberglaubens und der Schwärmerei zu vermeiden. Nicht weniger energisch verwarf Kant, wie schon erwähnt, die materialistisch-naturalistische Auffassung jene »positivistisch« verstümmelte Aufklärung, die – als eine »Borniertheit von Geistersehern« unter negativen Vorzeichen gewissermaßen – im Namen bzw. unter der »Fahne der Aufklärung« auftreten und lediglich eine »Vermessenheit« besonderer Art repräsentieren bzw. zur Geltung bringen. 154 154 Noch der späte Kant hat bekanntlich die in den vornehmen Tönen von »mystagogischen Kraftmännern« und vermeintlichen Himmelsgünstlingen laut gewordenen
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Für Kant ist es nun entscheidend – und nicht zuletzt dies macht ihn auch in dieser Hinsicht zu einem kritischen Anwalt der Aufklärung –, dass jener »moralische Vernunftglaube« eben keineswegs eine »elitäre« Angelegenheit ist bzw. bleibt, für die es gar besondere Kompetenzen und »höhere Einsichten« braucht. Ganz im Gegenteil, die Verbindlichkeit und Vernünftigkeit desselben zeigt sich nach Kant gerade darin, dass sie dem (von Dawkins so gerne beschworenen) »gesunden Menschenverstand« angesonnen wird und nur so auch für alle Menschen Lebensorientierung zu geben vermag – und zwar ohne ihn in die Subtilitäten und verschlungenen Argumentationsstrukturen der Gottesbeweise u. Ä. zu verstricken. In entschiedener Absage an die von elitärem (und d. h. auch: esoterischem) Dünkel besetzten religiösen Ansprüche, denen er gleichermaßen belustigt und mit Spott begegnete, machte sich Kant gerade auch in diesen elementaren Orientierungsfragen zum Anwalt der »allgemeinen Menschenvernunft«, indem er zunächst einige sich allzu »vornehm gebärdende« Einwände – als buchstäblich vermessen – in die Schranken weist: »Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet? nichts mehr als zwei Glaubensartikel [d. i. des Daseins Gottes und der »Unsterblichkeit der Seele«]? So viel hätte auch wohl der gemeine Verstand, ohne darüber die Philosophen zu Rate zu ziehen, ausrichten können! Ich will hier nicht das Verdienst rühmen, das Philosophie durch die mühsame Bestrebung ihrer Kritik um die menschliche Vernunft habe; gesetzt, es sollte auch beim Ausgange bloß negativ befunden werden; denn davon wird in dem folgenden Abschnitte noch etwas vorkommen.« Und geradezu erbost weist er anschließend diesbezügliche Sonderansprüche ab, zumal es doch dabei um Lebensfragen und »lebenstragende Überzeugungen« geht, die jeden »Menschen ohne Unterschied« berühren und ihn deshalb, wie Kant sagt, »auch notwendig interessieren« (s. o. II., 2.2): »Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntnis [des Daseins Gottes und der Möglichkeit des »höchsten Gutes«], welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entAnsprüche einer »Ahnung des Übersinnlichen« und »fühlbarer Geheimnisse« und einen »salto mortale«, die Berufung auf »mystische Erleuchtungen« und »übernatürliche Mitteilungen« ebenso energisch verworfen wie jenen schon erwähnten Irrweg, die Gottesfrage innerhalb der »drei Stufen des Fürwahrhaltens, bis zum Verschwinden desselben in völlige Unwissenheit … Wissen, Glauben, und Meinen« ansiedeln und dann auch entscheiden zu wollen (vgl. Kant III 385 ff Anm.).
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deckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich dass die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.« 155 Der »egalitäre« Grundton Kants ist hier gewiss nicht zu überhören – und auch die Stoßrichtung seiner Argumentation ist eine ganz einfache: Wenn diese Fragen eben tatsächlich »jedermann notwendig interessieren« und ihm zufolge das Interesse daran auch »nicht nachlassen darf« (s. u. II., 2.2), weil sie mit der Lebensführung und auch mit dem Schicksal »vernünftiger, aber endlicher Wesen« unauflöslich verbunden sind – dann kann doch auch eine wahrhaft Orientierung-gebende Antwort darauf nicht irgendwelchen vermeintlichen »Eliten« vorbehalten sein, zumal dies den diesen Fragen immanenten Anspruch geradewegs verfehlen müsste, wie Kant auch gegen allzu »vornehme Töne« von sich »elitär Gebärdenden« – als vermeintlich besonders »Begünstigten und Favoriten Gottes« – mit beißendem Spott betont und gerade auch in diesen menschlichen Dingen sich entschieden zum Anwalt der »allgemeinen Menschenvernunft« gemacht hat … Auch in diesem ganz und gar »unspektakulären« Sinne hat Kant – also gerade gegen ein unzureichendes Verständnis von Aufklärung und Rationalität! – das Programm einer nicht »szientistisch« verkürzten Aufklärung auf die Wahrnehmung von Interessen und Ansprüchen der menschlichen Vernunft verpflichtet (bzw. entsprechend erweitert), die auf eine umfassende Daseinsorientierung des Menschen abzielen. Dieser an einem differenzierten Vernunftgebrauch interessierten aufgeklärten »Denkungsart« steht zuletzt die Beantwortung jener schon berührten Fragen vor Augen, was es denn für den Menschen in seiner Weltstellung bedeutet, sich denkend, handelnd und hoffend sinnvoll und umfassend zu orientieren, sofern dieser – als ein vernunftbegabtes, moralfähiges und schuldig-werdendes, hoffendes und um seine Sterblichkeit (»Endlichkeit«) wissendes Lebewesen – sein Leben führen muss und dabei nicht nur als kluges und gerissenes Tier am Überleben, an vitaler Selbsterhaltung und »Lebenssteigerung« und Reproduktion nach Art einer bloßen »Über155
Kant II 695.
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lebensmaschine« Maß nimmt: Es sind dies allesamt Fragen, die nach Kant für eine aufgeklärte Geistesart unverzichtbar sind und die er deshalb auch jenen »brights« zumuten wollte, die sich nicht nur für selbstbewusste »Roboter« halten, »blind programmiert, zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden« (Das egoistische Gen VIII), sondern auch wirklich für »aufgeklärt« gelten wollen. Somit erweist sich für eine »aufgeklärte Denkungsart« in der Spur Kants gerade dies als bestimmend: Die ihr zugemutete umfassende Daseins-Orientierung an »den wesentlichen und höchsten Zwecken« verweist gleichermaßen auf eine »Rangordnung des Wissens« und bezieht sich insofern auch noch einmal notwendigerweise auf die kritische »Beurteilung und Bestimmung dessen, was der Mensch wissen kann, was er wissen darf und was er wissen soll [!]« 156. Dies impliziert die kritische Auseinandersetzung mit »im Interesse des Menschen« liegenden Fragen, die über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Demonstration (sei es Beweisbarkeit oder Widerlegung) hinausführen, 157 also in theoretischer Verifikation oder Falsifikation nicht entscheidbar sind, gleichwohl sich als vernünftig Kant III 466. Wittgenstein steht selbst noch durchaus in der Tradition einer solchen aufgeklärten Denkungsart, wenn es bei ihm bekanntlich heißt: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind« (Wittgenstein 1984, Bd. 1, 85 (= Tractatus 6.52), weil es eben »mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist« (ders. 1984, Tagebücher. In: Bd. 1, 168). Die diesbezügliche Geistesverwandtschaft Wittgensteins mit einem Wiener Zeitgenossen, dem Nobelpreisträger für Physik, E. Schrödinger ist unübersehbar – so, wenn dieser über das in der Physik maßgebende »Bild der realen Außenwelt« befindet: »Es liefert eine Menge faktischer Information, bringt all unsere Erfahrung in eine wundervoll systematische Ordnung, aber es hüllt sich in tödliches Schweigen über alles und jedes, was unserem Herzen wirklich nahesteht, was uns wirklich etwas bedeutet. Es sagt uns kein Wort über rot und blau, bitter und süß, körperlichen Schmerz oder körperliche Lust; es weiß nichts von schön und häßlich, gut und schlecht, nichts von Gott und Ewigkeit. Die Naturwissenschaft gibt gelegentlich vor, auf Fragen aus diesen Bereichen zu antworten, aber die Antworten sind oft so albern, dass wir sie nicht ernstnehmen mögen« (Schrödinger 1955, 165 f.). Freilich wusste der keineswegs gläubige Wittgenstein darum: »Das Wort ›Gott‹ … wird benutzt wie ein Wort, das eine Person repräsentiert. Gott sieht, belohnt etc. […] Wenn die Frage nach der Existenz von Göttern oder Gott auftaucht, dann spielt das eine gänzlich andere Rolle als die Frage nach der Existenz irgendeiner Person oder irgend eines Gegenstandes. […] Was immer der Glaube an Gott sein mag, es kann kein Glaube an etwas, was wir prüfen können, oder für das wir Prüfmethoden finden könnten, sein« (Wittgenstein 2000, 83). 156 157
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rechtfertigen und entscheiden lassen, jedoch in der Lebensführung auch erst existenziell bewährt werden müssen. Darin bringt sich erneut die Einsicht zur Geltung, dass Vernünftigkeit nicht zuletzt in der besonnenen Abschätzung besteht, wovon Beweise, Hypothesen und Wahrscheinlichkeitskalküle und -stufen möglich bzw. auch unumgänglich sind – und wo eine solche Forderung verfehlt, ja geradezu unsinnig wäre, ohne damit freilich der »Irrationalität« Tür und Tor zu öffnen. Auch in diesem Kontext der kantischen Konzeption der »Aufklärung« und ihrem engen Zusammenhang mit Kants »Weltbegriff der Philosophie« sollte erkennbar sein, dass dies den »aufgeklärten« Ansprüchen Dawkins’ widerspricht, d. h. seiner reduktionistischen Berufung auf die Idee der »Aufklärung« eine direkte Absage erteilt. Ein nochmaliger Hinweis auf Dawkins’ Wahrscheinlichkeits-Kalküle bezüglich des »Daseins Gottes« mag dies verdeutlichen: Im Rahmen seines angeführten Wahrscheinlichkeits-Spektrums für die »Existenz Gottes« benennt Dawkins (unter Stufe 6) die (von ihm selbst eingenommene) Position: »Sehr geringe Wahrscheinlichkeit [dass Gott existiert], knapp über null. De facto atheistisch. ›Ich kann es nicht sicher wissen, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Gott existiert, und führe mein Leben unter der Annahme, dass es ihn nicht gibt.‹« Der letzte, unter Anführungszeichen gesetzte Satz darf deshalb wohl auch – falls das darin angeführte »Ich« sich nicht erneut als heimtückische »Illusion« entpuppt (s. o. I., 1.1) – als eine Art Selbstbekenntnis Dawkins’ gelesen werden. Einmal abgesehen davon, dass Kant sich aus den schon angeführten Gründen sich über dieses von Dawkins dargebotene »Wahrscheinlichkeits-Spektrum« mehr als gewundert hätte (s. o. II., 1.), ist jedoch dies besonders bemerkenswert, dass die von Kant geltend gemachte Position das Dawkins’sche Selbstbekenntnis geradewegs auf den Kopf zu stellen scheint. Gerade in Anbetracht der prinzipiellen Unangemessenheit, die Frage nach der »Existenz Gottes« nach Wahrscheinlichkeits-Skalen zu beantworten, und angesichts der auch von Kant zurückgewiesenen – sowohl in »positiver« als auch in »negativer« Hinsicht zu diagnostizierenden – »Vermessenheit« menschlicher Wissensansprüche, wollte er diese Themen keinesfalls der »Irrationalität« ausliefern, sondern eine vernünftige Entscheidbarkeit derselben eröffnen, obgleich dies keineswegs auf theoretische Beweisansprüche hinauslaufen könnte – »Niemals wird’s Wissen!« – und ebendies auch der »moralischen Bestimmung« des Menschen ganz unangemessen wäre (s. o. II., 368 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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Anm. 137). Kants Leitfrage war also: Wie ist diese Gottesfrage philosophisch zu klären und das heißt auch: rational entscheidbar, wenn sich eine diesbezügliche Forderung nach »Beweisbarkeit« und »Wahrscheinlichkeit« als sachlich inadäquat erweist? Dieser methodisch besonnene Zu- und Umgang mit diesen Themen markiert den grundsätzlichen und deshalb gar nicht feinen Unterschied zu Dawkins‘ »Behandlung« der Frage, »ob es Gott gibt« … Es bestätigt sich: Der Anspruch auf »Aufgeklärtheit« ist nach Kant an die notwendige kritische Besinnung und Ausmessung des unverkürzten Vernunftraumes gebunden und vermag nur so für menschliches Denken, Handeln und Hoffen verlässliche Orientierung zu bieten – allein auf diese Weise wird es aber über das durchschrittene »System der Vorsicht und Selbstprüfung« 158 auch möglich, sich in Erkenntnisansprüchen sowie in Ansprüchen menschlicher Praxis und des Hoffens mit dem ihm Möglichen, Angemessenen und Zumutbaren zu begnügen. Daran sind unabweisliche Fragen geknüpft, die sich nicht in der Weise naturwissenschaftlicher Rationalität entscheiden lassen und mit einer bewussten Lebensführung unzertrennlich verbunden sind. Darin geht es deshalb auch um eine vernunftbegründete Orientierung der »wesentlichen und höchsten Zwecke« des Menschen – der Kultur, Politik, Recht, Moral, Liebe, Religion (nicht zuletzt um Schuld, Tod und Leid) – und somit vornehmlich darum, theoretische Wissensansprüche wie auch praktische Sinnansprüche des Menschen zu prüfen – sei es, um diese zu legitimieren, ihre Grenzen zu bestimmen bzw. sie auf solche Weise auch zueinander ins Verhältnis zu setzen. Dergestalt soll, gleichermaßen gegen positivistische Frageverbote wie auch gegen naturalistische Entlarvungsversuche, ein Raum für ein begründetes – und zwar prinzipielles, und nicht nur vorläufiges – Nicht-Wissens eröffnet werden, das aber keinesfalls als Zuflucht in »faule Vernunft« oder in »Irrationalität« missverstanden werden bzw. eine solche begünstigen darf (s. o. II., 1.2). In diesem Kontext bestätigt sich: Kants berühmte Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?«, die seinen »Weltbegriff der Philosophie« entfalten und dabei dem Programm der Aufklärung verpflichtet sind, orientieren sich in diesem Sinne an einer philosophischen Entfaltung des Gesamtraumes der Humanität und somit an der »Bestimmung des Menschen«, weil 158
Kant II 612.
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doch erst im Durchgang durch diese Fragen die umfassende – jede einzelwissenschaftliche Antwort überschreitende – Leitfrage »Was ist der Mensch?« zu beantworten ist. Eine denkwürdige Konsequenz daraus wäre demnach dies, dass der Anspruch einer »aufgeklärten Denkungsart«, die sich von diesen Fragen dispensiert wissen oder gar »Desinteresse heucheln« wollte, nach Kant ganz zu Unrecht das Prädikat »aufgeklärt« für sich reklamieren würde, d. h. gleichsam erst über sich selbst »aufgeklärt« werden müsste – nicht zuletzt darüber, die unverzichtbaren Funktionen bzw. Leistungen des wissenschaftlichen Verstandes nicht unbedacht mit dem Standpunkt bzw. der Perspektive der Vernunft zu identifizieren, weil dies unvermeidlich eine prinzipielle »Vermessenheit« zur Folge hätte. »Vernünftig« zu sein bedeutet nach Kant (und auch schon nach Aristoteles) eben auch zu wissen, wofür Beweise oder Wahrscheinlichkeitskalküle gesucht bzw. gefordert werden können; dies impliziert überdies die Einsicht, das »Vernünftige« nicht mit dem in diesem Beweisbaren zu verwechseln bzw. zu identifizieren. Mit dieser aufgeklärten Denkungsart, der damit verbundenen Legitimation und Limitation von Vernunftansprüchen und der darin vollzogenen Grenzziehung zwischen dem Wissbaren und dem grundsätzlich »Nicht-Wissbaren«, wird jedenfalls auch deutlich, dass schon hinsichtlich einer angemessenen Formulierung der Gottesfrage das philosophische Bewusstsein maßgebend war, dass diese nicht einmal angemessen zu stellen ist, wenn in ihr der Bezug zur menschlichen Existenz ausgeblendet bleibt – weshalb Kant zufolge, wie erwähnt, die Gottesfrage auch »nicht zur Erweiterung oder Berichtigung unserer Naturerkenntnis und überhaupt irgend einer Theorie über die Natur« 159 strapaziert, d. h. missbraucht werden darf. Gegenwärtige Debatten über den »Neuen Atheismus« sind nicht selten dadurch gekennzeichnet, dass sowohl energische Wortführer als auch entschiedene Kritiker desselben das mit Kant markierte Niveau der Aufklärung bei weitem unterbieten. 160 Kant V 616. Dies gilt vor dem Hintergrund der skizzierten kantischen Konzeption der »Aufklärung« auch für die temperamentvolle programmatische Verkündigung eines anderen Hauptvertreters des »Neuen Atheismus«, die sich jedenfalls mit Blick auf den Aufklärer Kant geradezu kurios ausnimmt: Dringend nötig sei »eine Rückbesinnung auf den Geist der Aufklärung, die dem 18. Jahrhundert seinen Namen gegeben hat« (Onfray 2006, 23). Schon dieses in dem ebenfalls Verkaufs-schlauen Titel angeführte »Brauchen« lässt den Charakter dieser Aufklärung erahnen. Kant selbst ist das beste Beispiel dafür, dass für eine aufgeklärte Religion Onfrays Charakterisierung völlig 159 160
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Anmerkung: Bemerkenswerterweise war (der von Dawkins wiederholt attackierte) Augustinus in dieser bestimmten Hinsicht offensichtlich kritischer und »aufgeklärter« als Dawkins. So hat Augustinus ausdrücklich eine Dreiteilung des Wissens (Naturwissenschaft, Erkenntnislehre und Moral) unterschieden 161 und in diesem Sinne sodann auch Wissenschaft von Weisheit abgegrenzt. Bezeichnenderweise spielen diese Differenzierungen – die auch diejenige von »Wissenschaft und Weisheit« und somit auch die zwischen bloßer »curiositas« und »Wissbegierde« betreffen – bei Dawkins gar keine Rolle mehr. Dass Augustinus – gegenüber einem selbstverliebten Kreisen um sich selbst und der damit verbundenen weltverfallenen Neugier an nichtigen Sensationen des Augenscheins – in diesem Sinne eine solche hektische »curiositas« von der echten »Wissbegierde« unterschieden sehen wollte, fällt Dawkins’ Empörungsbedarf leider ebenfalls zum Opfer, zumal er sich auch hier offensichtlich weniger von der ihm aufgetragenen Förderung des »öffentlichen Verständnisses der Wissenschaften«, sondern sich möglicherweise selbst zu sehr von einem Bedarf an »Kuiositäten« leiten lässt. Jedenfalls verkennt bzw. ignoriert er völlig Augustins Anliegen, dass »Wissenschaft« stets rückgebunden an die Lebensführung bleiben soll, weil ihm zufolge stets das »Wissen im Dienste des guten, menschenwürdigen Lebens stehen und insofern nützlich« sein soll. Derart hat der Kirchenlehrer die Forderung geltend gemacht, dass wissenschaftliches Wissen auf die ethischen Zwecke des menschlichen Lebens bezogen bleiben muss, wenn dieses sich nicht in die bloße Befriedigung einer sterilen und selbstsüchtigen Neugierde verkehren und einer damit verbundenen »Vermessenheit« bzw. Maßlosigkeit verfallen soll, die in ihrer Aufgeblähtheit und Orientierungslosigkeit alles der »Eitelkeit« und der geschwätzigen Selbstsucht unterordnet und insofern trotz alles vermeintlichen Wissens »leer« (d. h. eine »vana curiositas«) bleiben müsste. Dem erhöhten Entrüstungs- und Entlarvungsbedarf Dawkins’ fällt infolgedessen auch die eigentliche Intention des Augustinus zum Opfer, dem er – in völliger Verkennung der leitenden Motive – eine Flucht in die be-
unzutreffend ist: »Der besänftigende Glaube erhält also gegenüber der beunruhigden Vernunft den Vorzug, auch wenn der Preis dafür ein ewiger mentaler Infantilismus ist« (ebd. 19). Die in der Tat höchst dringliche Aufklärung muss deshalb eine solche sein, die eine vermeintliche »Aufklärung« über sich selbst aufklärt. 161 Augustinus, De civitate dei XI, 25 f.
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queme »faule Vernunft« unterstellt; anders ist es nicht zu erklären, dass er dem Kirchenlehrer fälschlicherweise die Ansicht zuschreibt, die wissenschaftliche Arbeit an den offenen Problemen durch den bequemen Rekurs auf Gott zu ersetzen: »Wir brauchen diese prachtvollen Lücken – als letzte Zuflucht für Gott. Der heilige Augustinus sprach es ganz offen aus: Es gibt noch eine weitere Versuchung, die noch stärker mit Gefahren verbunden ist. Es ist die Krankheit der Neugier. Sie treibt uns dazu, dass wir die Geheimnisse der Natur aufdecken wollen, jene Geheimnisse, die außerhalb unseres Verständnisses liegen, die uns nichts nützen und die zu kennen wir uns nicht wünschen sollten« (Gotteswahn 185 f.). Dass Dawkins hier – in völliger Verkennung jener erwähnten Unterscheidung zwischen »Wissbegierde« und bloßer »curiositas« – Augustinus als Vertreter der »faulen Vernunft« exemplarisch anführt, besagt freilich weit mehr über seine mangelnde Kenntnis der Zusammenhänge als über die angeblichen Fehlleistungen des Kirchenlehrers: Auch an der von Dawkins angeführten Stelle geht es Augustinus keinesfalls um die »Anbetung von Lücken« und um einen entsprechenden LückenbüßerGott, sondern um jene rechte Unterscheidung zwischen »curiositas« und »studiositas«, wie Dawkins unschwer schon aus einschlägigen Nachschlage-Werken hätte erfahren können, der gemäß die der bloßen Selbst-sucht und Eitelkeit verfallene Neugier von der eigentlichen »sapientia« unterschieden wird. Auch diesbezüglich liefert Dawkins ein unfreiwilliges Beispiel dafür, wie Polemik und gesteigerter Empörungsbedarf den Blick auch für geistesgeschichtlich relevante Zusammenhänge trübt. 162 Auch daraus wird sichtbar: Die auch in diesen Zusammenhängen bei Dawkins zutage tretende eigentümliche Mischung aus Unkenntnis und Unterstellung darf wohl als ein besonders deutliches Beispiel für Dawkins’ Umgang mit Texten und Quellen gelten, die nicht ganz auf der weltanschaulichen Linie liegen. Er scheut – »Mem-strategisch« ja nicht unklug – auch nicht davor zurück, durch einen solchen seltsamen und fahrlässigen Umgang mit Texten reichlich ungeniert »Stimmung« zu machen und seinem Entlarvungs- und Entrüstungs-
162 In vielerlei Hinsicht bestätigt Dawkins die große Aktualität der Lehre von den »Idolen« (»idola«: »Trugbilder des menschlichen Geistes«) seines berühmten Landsmannes Francis Bacon (1561–1626), wobei nicht zuletzt auch an die »persönlichen Befangenheiten« zu denken wäre, die durch individuelle Abneigungen bzw. Vorlieben den Blick auf die Sache verdunkeln.
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bedarf darüber freien Lauf zu lassen, »dass es zu den wirklich schlimmen Auswirkungen der Religion gehört, dass sie uns lehrt, es sei eine Tugend, sich mit dem Nichtwissen zufriedenzugeben« (Gotteswahn 175). Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigen schon die angeführten wenigen Beispiele der theologischen Tradition. Ebenso ignoriert Dawkins völlig die bedeutsame Kritik des Augustinus, der ein lediglich den »Eingeweihten« vorbehaltenes – d. h. exklusives – »Geheimwissen« scharf kritisiert und demgegenüber die Zugänglichkeit und öffentliche Prüfung und Rechtfertigung verlangt, weil nur dies der Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit von Erkenntnisansprüchen genügt und demgegenüber eine bloß »esoterische Geheimwisserei« überdies auf Missachtung bzw. Verweigerung von Anerkennung hinauslaufen müsste. All dies findet in Dawkins’ polemischem Abrechnungsbedürfnis keinerlei Berücksichtigung – so wenig wie die notwendige Besinnung darauf, dass natürlich Augustinus nicht schon der methodisch neu orientierte neuzeitliche Wissenschaftsbegriff unterstellt werden darf, dessen maßgebender »Gesetzesbegriff« überhaupt erst von »Erklärungslücken« zu reden erlaubt. Auch diesbezüglich setzt Dawkins offenbar vor allem auf seine polemische und suggestive Überredungskunst und auf die Unkenntnis seiner Leser.
2.3.1 Was Kant von einer »aufgeklärten« Theologie gefordert hat – und weshalb auch die von päpstlicher Seite eingemahnte »Weite der Vernunft« den kantischen Erwartungen nicht genügt: »Flügel«-Verleihung oder »Flügel«-Beschneidung? Zwei Beispiele So sehr die kirchlicherseits bzw. theologischerseits auch an die Evolutionstheorie – an ihr (methodisches) Selbstverständnis und ihren damit verbundenen Anspruch – gerichteten Rückfragen als legitim und auch notwendig erscheinen, so sehr bleibt im Blick auf die mit Kants Aufklärungsprogramm verbundene Kritik vermessener Ansprüche auch an die Adresse von Theologie und Kirche gerichtet: Die (vom Kantianer Reinhold benannte) zweifache Vermessenheit, »der Vernunft zu viel und zu wenig zuzutrauen«, begegnet wohl auch in schiefen Ansprüchen einer natürlichen Theologie. Denn so berechtigt die Rückfragen nach den Voraussetzungen der Naturwissenschaften auch sind, so wenig ist der daran geknüpfte Anspruch haltbar, die in der Neuzeit ausgebildete Unterscheidung und Grenzziehung zwi373 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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schen Wissen und Glauben im Sinne einer (bei Augustinus und Thomas v. Aquin realisierten) »Symbiose« rückgängig zu machen. Dann ist es, wenn man die methodischen Voraussetzungen vergessen hat, freilich nicht mehr weit zu den Fragen: »Wieso ist die Materie ›lesbar‹ ? Wieso hat der ganze Prozess der Evolution etwas [!] Rationales? Woher stammt diese Rationalität? … Woher kommt das evidente Design der Natur?« 163 – und man ist so unversehens auf eine Denkbahn mit Begründungsansprüchen geraten, die sich von den herkömmlichen Gottesbeweisen nicht mehr hinreichend abgrenzen lassen. Damit ist man freilich erst recht der Kritik der Gottesbeweise ausgeliefert, die in besonders prominent gewordener Gestalt Hume und Kant geübt haben. Deshalb trifft Kants Programm der Aufklärung, die sich in besonderer Weise auch als Absage an die vermessenen (d. h. überzogene) Ansprüche jedweder Art und Herkunft versteht, ebensolche Vermessenheit aufseiten der Theologie bzw. der Religionen, die etwa in Berufung auf die einzufordernde »Weite der Vernunft« erhoben werden, und verlangt – gewiss nicht weniger unnachgiebig als gegenüber einem »szientistischen Unglauben« – auch von ihnen eine »Disziplinierung der Vernunft«: Denn nur eine »diszplinierte« Vernunft, die also auf ihre Reichweite reflektiert und somit auch die Gültigkeit ihrer Prinzipien überprüft und sie entsprechend einschränkt, bleibt »vernünftig«, d. h. wird vor bloßem »Vernünfteln« bewahrt; andernfalls wäre ein »Missbrauch« der Vernunft die unvermeidliche Folge, der so allzu leicht einem »Skeptizismus« zum Opfer fällt: Solche »Grenzbestimmungen« sind deshalb gerade für diese »Selbsterhaltung der Vernunft« unverzichtbar, wenn jene in ihrem Namen erhobenen Ansprüche nicht dem Vorwurf der »vernünftelnden Schwärmerei« ausgesetzt sein sollen. Daran ist nicht zuletzt auch angesichts der päpstlichen Ermunterung zu erinnern, dass »die Vernunft jene Weite hat, durch die sie über die Grenzen hinausreicht, in denen wir alle unweigerlich [!] leben und denken«. 164 Was aber vermag jene über die »Grenzen hinausreichende Vernunft« zu leisten – und vor Kardinal Schönborn 2008. Der Papst denkt in diesem Bestreben, der Vernunft »Flügel zu verleihen«, offenbar an eine Stelle in Platons Phaidros, der zufolge die »Seele des Philosophen« beflügelt wird, »denn sie ist immer durch Erinnerung so viel als möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindend eben deshalb göttlich ist. Solcher Erinnerungen also sich recht bedienend, mit vollkommener Weihung immer geweiht, kann ein Mann allein wahrhaft vollkommen werden« (Phaidros 249 c). 163 164
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allem: Wohin reicht sie denn genauer besehen – und wo gerät sie jedoch unversehens, noch festen Boden unter den Füßen wähnend, ebenso »unweigerlich« in jene Regionen des »Scheins«, wo lediglich »manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt« (vgl. das lange und erhellende Kant-Zitat u. in Anm. 170)? Kant warnte jedenfalls unermüdlich vor dem Aufbruch in das »Reich bloßer Möglichkeiten«, »wo sie auf den Flügeln der Ideen demjenigen nahe zu kommen hoffen, was sich aller ihrer empirischen Nachsuchung entzogen hatte« 165. Er blieb deshalb auch von zeitgenössischen neuplatonisierenden Klagen darüber ganz unbeeindruckt, dass »allen Ahnungen, Ausblicken aufs Übersinnliche, jedem Genius der Dichtkunst die Flügel abgeschnitten werden sollen (wenn es die Philosophie angeht!)« 166, stutzt doch seine »Kritik dem Dogmatism gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände« 167, weil andernfalls der (rückwärtsgewandte) Anspruch, »der Vernunft ihre ganze Weite wieder zu eröffnen« 168, von bloßer »Schwärmerei« nicht mehr unterscheidbar wäre. Überdies stellte Kant gegenüber einschlägigen Einwänden bekanntlich in Aussicht, dass, »wenn diesem [Dogmatismus] in Ansehung des Übersinnlichen durch strenge Kritik die Flügel beschnitten werden, jener Glaube in einer praktisch-wohlgegründeten, theoretisch aber unwiderleglichen Voraussetzung völlig gesichert sein kann. Daher ist eine Widerlegung jener Anmaßungen, so gut sie auch gemeint sein mögen, der Sache selbst, weit gefehlt nachteilig zu sein, vielmehr sehr beförderlich, ja unumgänglich nötig.« 169 Sehr entschieden verfolgte Kant bekanntlich das Ziel der »Befreiung vom Aberglauben« 170 als jener Blindheit, die »den Zustand 165 Kant II 555. Kant warnte jedenfalls vor »Vermessenheit«, »damit sie [die Vernunft] auch nicht in dem für sie leeren Raum transzendenter Begriffe unter dem Namen der intelligibelen Welt kraftlos ihre Flügel schwinge, ohne von der Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinsten verliere« (Kant IV 100). 166 Kant III 414. 167 Kant III 279. 168 So lautet – zuletzt – der Titel der viel diskutierten Regensburger Rede von Benedikt XVI. s. Benedikt XVI. 2007, 124 ff. 169 Kant AA VIII, 151 f. 170 Kant V 390. Mit seiner Kritik an »Vermessenheiten«, die das »Längenmaß« der menschlichen Möglichkeiten (der Erkenntnis ebenso wie der moralischen Praxis) verkennt, hat Kant bekanntlich seine eigene Tätigkeit als »Landvermesser« eng verbunden gesehen. Wiederum für die mit Kant weniger vertrauten Leser sei Kants eigene berühmte und erhellende Einschätzung der unverzichtbaren kritischen Aufgabe die-
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einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht«, um solcherart alle »Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten« 171. In diesem Sinne kritisierte er nicht nur die Ansprüche zeitgenössischer »Geisterseher« und deren Tagträume sowie den Eigendünkel spiritueller »Kraftmänner« und deren »übersinnlichen Eskapismus«. Ebenso unnachgiebig wies er »überschwängliche«, d. h. ihre Grenzen ignorierende – und eben in diesem Sinne unkritische – Wissensansprüche zurück, die in der Berufung auf eine gegen diese Reduktionismen geltend gemachte bzw. wieder zu gewinnende »Weite der Vernunft« Letztere gewissermaßen »beflügeln« will; ein wenig genauer besehen liefert sie sich derart allzu leicht unbedachterweise überzogenen Ansprüchen aus, die jene beanspruchte »Weite« jedoch nicht mehr von bloßem »Vernünfteln« unterscheidbar macht. Insofern richtet sich Kants Aufklärungs-Programm auch gegen die in solcher Berufung auf die »Weite der Vernunft« bzw. »Ausweitung unseres Vernunftbegriffs« zutage tretenden »Vermessenheiten«, die auch noch in einschlägigen jüngeren kirchlichen Stellungnahmen sichtbar werden. Kants Haltung und Befürchtung gegenüber »überfliegenden« Ansprüchen ist klar und bleibt wohl auch gegenwärtig gegenüber diesbezüglichen Ansprüchen immer noch beachtenswert: Jene propagierte Ausweitung der Vernunft, die sich gewiss zu Recht gegen eine Verkürzung bzw. Verstümmelung von Vernunftthemen ausspricht, kann indes nicht zügellos sein und läuft infolge der drohenser »Landvermessung« angeführt: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes [d. i. des im strengen Sinne »Wissbaren« bzw. »Erkennbaren«] nicht allein durchreiset und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflicht, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen und gewiss zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten, zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen und uns wider alle feindselige Ansprüche gesichert halten können« (II 267 f.). 171 Kant III 279.
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den »Vermessenheit« selbst Gefahr, in einen puren »Dogmatismus« umzuschlagen; derart fallen auch solche in der Gegenwart geäußerten päpstlichen Ansprüche – ungeachtet der berechtigten Rückfragen an die »Evolutionstheorie« – gleichermaßen hinter die in der »kantischen« Gestalt der Aufklärung geleisteten Differenzierungen zurück. Was bedeutet unter solchen Vorzeichen dann aber noch der päpstliche Einwand, dass »in der Neuzeit der metaphysische Horizont der Welt verblasse«? Es bleibt also zu fragen, ob nicht die von Papst Benedikt XVI. erhobene Forderung einer »Selbstkritik der Vernunft« hinter die im Sinne Kants geleistete »Selbstkritik« zurückfällt, zumal jener päpstliche Neuzeit-Befund offenbar schon die elementare kritische Differenz zwischen »Verstand und Vernunft« ignoriert. Weil einem »positivistisch« verkürzten Vernunftverständnis schon mit dieser kantischen Unterscheidung der Boden abgegraben ist, erweist sich infolgedessen auch der päpstliche Rekurs auf ein »naturwissenschaftliches Vernunftverständnis« im Grunde als widersprüchlich und jedenfalls als erläuterungsbedürftig: Denn die von Benedikt XVI. kritisierte selbstverfügte Beschränkung der »Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare« 172 ist doch – gerade im Blick auf Kant – keineswegs »Vernunft«, sondern der »empirischer Verstand« der Erfahrungswissenschaften; darin gründet nach Kant die (von Benedikt XVI. ebenfalls verkannte) Differenz von Erkennen und Denken, 173 weshalb eben, wie erwähnt, auch die Gottesfrage ihm zufolge nicht der naturwissenschaftlichen Theoriebildung (bzw. entsprechenden »Hypothesen«) zugerechnet werden darf. Ebendiese unverzichtbare Grenzziehung ist eine unverlierbare Leistung der »Aufklärung«, die auch der Freisetzung von Vernunftansprüchen zugrunde liegt, welche darauf abzielen, das Wissen aufzuheben, um »zum Glauben Platz zu bekommen«. Kants unermüdliche Mahnung, dass ohne vorausgehende »Disziplinierung« und »Kritik der reinen Vernunft« Letztere »vergeblich ihre Flügel ausspanne, um über die Sinnenwelt durch die bloße Macht der Speculation hinaus zu kommen« 174 und andernfalls jenem unkritischen »Dogmatismus« verfällt, der ohne diese Kritik auskommen will und dem deshalb »in Ansehung des
Benedikt XVI. 2007, 136. In seiner zitierten Regensburger Rede hat Papst Benedikt XVI. irrigerweise Kant die Auffassung unterstellt, »er habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen« (Benedikt 2007, 132). 174 Kant II 528. 172 173
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Übersinnlichen durch strenge Kritik die Flügel beschnitten werden müssen«, hat an Aktualität und Dringlichkeit offenkundig nichts verloren. Die Kritik von Papst Benedikt XVI. an der Entkoppelung von »Glaube und Vernunft« ist hingegen insofern verfehlt, als doch Vernunftansprüche gerade dort über diese kritische Grenzziehung von Kant ausdrücklich erst zur Geltung gebracht werden, wo der wissenschaftliche »Verstand« nicht zureicht – aber auch nicht zuständig ist; dass diese Ansprüche gerade in jene »unbedingte« Verbindlichkeit verwiesen werden, wo zunächst lediglich eine Einschränkung der Ansprüche der theoretischen Vernunft geleistet ist, bedeutet jedoch keineswegs, dass diese zentralen Themen nunmehr bloß »ins Subjektive verlegt« werden müssen – d. h. wohl: dahin »abgeschoben« werden 175. Dass, so der Papst, die moderne Wissenschaft diese Öffnung der »Vernunft auf die ganze Weite in sich birgt«, lässt sich dann schon aus methodischen Gründen nicht behaupten, ohne die im Durchgang durch sie errungenen Differenzierungen von Rationalität und nicht einzelwissenschaftlichen theoretischen Vernunftansprüchen erneut stillschweigend rückgängig zu machen. Die päpstlicherseits – in Kritik der Aufklärung – wiederholt diagnostizierte »Verengung des Vernunftbegriffs« läuft deshalb infolge mangelnder Selbstreflexion wohl selbst Gefahr, sehr rasch ins »Vernünfteln« zu geraten, und zieht somit unvermeidlich Kants Einspruch auf sich: »Ich werde dartun: dass die Vernunft vergeblich ihre Flügel ausspannt, um über die Sinnenwelt durch die bloße Macht der Spekulation hinaus zu kommen.« 176 Auch gegen päpstliche Bedenken bleibt also daran festzuhalten: Es war gerade Kants Aufklärungs-orientierte Vernunft-Konzeption, die sich gegen eine positivistisch verkürzte Vernunft zur Wehr setzte und Vernunft-Ansprüchen gleichermaßen in naturphilosophischen, ethischen und auch ästhetischen Hinsichten ihr Recht verschaffen wollte. Wohlgemerkt: Kant hat diese Vernunft-Dimension gegenüber Verengungen und Kurzschlüssen (etwa im Sinne naturwissenschaftlicher Rationalität) stets in Schutz genommen, d. h. sie gleichermaßen – und zwar innerhalb der »Bewegung der Aufklärung« selbst! – zur Geltung gebracht und ebenso entschieden den im Namen der Vernunft erhobenen »grenz-vergessenen« Ansprüchen die Flügel ge175 176
Benedikt XVI. 2007, 134. Kant II 528.
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stutzt. Ausdrücklich betonte Kant: »Denn Metaphysik ist vielleicht mehr, wie irgendeine andere Wissenschaft, durch die Natur selbst ihren Grundzügen nach in uns gelegt, und kann gar nicht als das Produkt einer beliebigen Wahl, oder als zufällige Erweiterung beim Fortgange der Erfahrungen (von denen sie sich gänzlich abgetrennt) angesehen werden.« 177 Auch dies bestätigt übrigens recht eindeutig, weshalb auch die Einschätzung des kantischen Programms durch Papst Benedikt XVI. unzutreffend ist: »Im Hintergrund [dieses Wissenschaftsverständnisses] steht die neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft, wie sie in Kants Kritiken klassischen Ausdruck gefunden hatte, inzwischen aber vom naturwissenschaftlichen Denken weiter radikalisiert wurde.« 178 Kant wollte doch die »Vernunftansprüche« gerade vor einer Reduktion derselben auf »Beweis-Ansprüche« einzelwissenschaftlicher »Rationalität« ebenso bewahren wie davor, dass diese sich ohne ihre kritische Disziplinierung und kritische »Selbstbegrenzung« allzu leicht dem »Vernünfteln« verfällt und so das Gegenteil dessen leistet, was sie gegenüber drohenden »Verengungen« zu leisten vorgibt. Der seitens des Papstes gegen Kant gerichtete Vorwurf einer illegitimen »Selbstbeschränkung der Vernunft« wird ebenso wenig der unumgänglichen Forderung des kritischen Programms gerecht, »den Umfang, den Inhalt und die Grenzen« der menschlichen Erkenntnis auszumessen. Der Verzicht darauf läuft zuletzt darauf hinaus, dass geltend gemachte Vernunftansprüche ohne Legitimation bleiben und sich allzu oft in Wahrheit als »vermessen« erweisen, d. h. leicht einem »Vernünfteln« verfallen und so dazu verurteilt sind, zwischen einem ungeprüften »unbegrenzten Vertrauen der Vernunft auf sich selbst« und einem »grenzenlosen Mißtrauen« 179 hin und her zu schwanken. Die konsequente »Disziplinierung der Vernunft« ist die notwendige Bedingung für ihre »Selbsterhaltung«, weil andernfalls in der Folge auch alle noch so gut gemeinten päpstlichen Aufrufe »Rette die Vernunft!« nicht nur vergeblich bleiben müssen, sondern Letztere vielmehr selbst unbedachterweise geradewegs der »Schwindsucht« ausliefern bzw. der Versuchung des »Vernünftelns« verfallen. Ohne Rücksicht auf Kants Mahnung, »dass die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der Tat nicht Erweiterung, sondern, 177 178 179
Kant III 228. Benedikt XVI. 2007, 133. Kant III 595.
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wenn man sie näher betrachtet, Verengung unseres Vernunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben« 180, ist die Vernunft gerade nicht zu »retten«; vielmehr bleibt es dabei: »dass die menschliche Vernunft, welche schon durch die Richtung ihrer Natur dialektisch ist, einer solchen Wissenschaft niemals entbehren könne, die sie zügelt, und, durch ein szientifisches und völlig einleuchtendes Selbsterkenntnis, die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als Religion, anrichten würde« 181. Schon Kants Einleitung widerspricht dem päpstlichen Vorwurf: »Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir, der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht für viel erhabener halten, als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir, sogar auf die Gefahr zu irren, eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten.« 182 Das Problematische der Berufung von Papst Benedikt XVI. auf die erst wieder zu gewinnende »Weite der Vernunft« und ihre damit verbundene »Flügelverleihung« wird aber auch noch – nicht weniger folgenschwer – in einer ganz anderen Hinsicht erkennbar. Bringt er diese von ihm philosophisch eingemahnte »Vernunftweite« doch auch mit quasi-kosmologischen Überlegungen in Verbindung, die auf den zuletzt erwartungsgemäß theologisch inspirierten Aufweis der »mathematischen« Struktur der Schöpfung abzielen. Der päpstlicherseits – vornehmlich in den Debatten zu »Evolution und Schöpfung« – wiederholt unternommene Rekurs auf die »mathematische Struktur« der Schöpfung bzw. auf die »rationale Struktur der Materie« (»Rationalität der Materie selbst«, sofern diese »eine Mathematik in sich« habe) 183 scheint freilich nicht nur kaum stichhaltig zu sein Kant II 30. Kant II 707. 182 Kant II 49. 183 »Sie (i. e. die naturwissenschaftliche Vernunft) muss die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz zwischen unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen ganz einfach als Gegebenheit annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht. Aber die Frage, warum dies so ist, die besteht doch und muss von der Naturwissenschaft weitergegeben werden an andere Ebenen und Weisen des Denkens – an Philosophie und Theologie.« So Papst Benedikt XVI. in der 180 181
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– zumal dies bei ihm gar in einer theologischen Berufung darauf erfolgt, dass der »Logos [nicht nur, aber doch auch] … als mathematische Vernunft auf dem Grunde aller Dinge« erschien. Der Verdacht, dass diese Sichtweise offenbar auf einer fundamentalen Verwechslung bzw. Unterschiebung der mathematisch-konstruktivistischen Methode mit der empirischen Realität selbst beruht, wird vermutlich durch päpstliche Thesen wie der folgenden sogar noch erhärtet: »Dass die Materie mathematische Struktur in sich trägt, geisterfüllt ist, ist die Grundlage, auf der die moderne Naturwissenschaft beruht. Nur weil Materie geistig strukturiert ist, kann unser Geist sie nachdenken und selbst gestalten.« 184 Indes, dies zu behaupten ist wohl in mehrfacher Hinsicht problematisch, zumal darin erneut elementare Verwechslungen sichtbar werden: Wer so argumentiert, macht sich wohl selbst genau jenes Fehlers schuldig, der an einer die notwendige methodische Selbstbesinnung entbehrenden Naturwissenschaft zu Recht kritisiert wird – nämlich einer heimlichen »Ontologisierung« der wissenschaftlichen Methodik, wodurch die an der »Mathematisierbarkeit« der Natur orientierten »methodischen Abstraktionen« stillschweigend für ein metaphysisch grundiertes »Kosmos«-Denken in den Dienst genommen werden. Dies tritt auch in der Feststellung zutage: »Es gibt zum einen eine Rationalität der Materie selbst, man kann sie lesen. Sie hat eine Mathematik in sich, sie ist selbst vernünftig« 185. Dergestalt gerät man überdies noch in einer anderen Hinsicht unweigerlich – obgleich freiwillig – aufs Glatteis: Denn dass »Materie als solche lesbar ist«, dies besagt keinesfalls so ohne weiteres deren gewissermaßen ontologische »Vernünftigkeit«, 186 weil in diesem Falle Regensburger Rede: Benedikt XVI. 2007, 136 f. Schon der Umstand, dass offensichtlich beide Wendungen in synonymer Bedeutung gebraucht werden, erscheint in mancher Hinsicht als nicht unproblematisch. 184 Interessant ist die Frage, ob bzw. wie sich dieses päpstliche Plädoyer von der bei Nagel so entschieden vertretenen Auffassung von der »Intelligibiliät der Welt«, »dass die Welt intelligibel ist«, d. h. nicht nur »beschrieben, sondern auch verstanden werden« könne (GuK 30 f.), und dem Rekurs auf eine »zugrunde liegende intelligible Ordnung« sich unterscheidet und so sogar auf eine »rationale Intelligibilität« der »Naturordnung« (GuK 32) rekurriert, die ihn in idealistisches Fahrwasser bringt: Vieles spricht offenbar dafür, dass bei Nagel darin eben die kognitive Dimension angesprochen ist, die über bloß »Mentales« noch hinausweist. 185 Horn/Wiedenhofer 2007, 152. 186 Dies ist auch gegen Hahn/Wiker einzuwenden, die hier der genannten Argumentation von Papst Benedikt XVI. folgen (Hahn/Wiker 2012, 112 ff.).
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diese »Vernünftigkeit« mit Mathematisierbarkeit einfachhin gleichgesetzt wäre – mit der dann wohl unvermeidlichen Konsequenz, dass eben auch mathematisch recht genau messbar bzw. berechenbar gewordene Phänomene wie Erdbeben, Tsunamis, Karzinome und vieles mehr als »vernünftig« anzusehen wäre, sofern all dies ja zweifellos »mathematisierbar« ist – ebenso natürlich die zahllosen »Versuche, Sackgassen«, die »endlosen Anläufe und Vernichtungen, Katastrophen und Grausamkeiten« 187 – ohne dass man indes deren »mathematische Struktur« bewundern wollte; denn wer würde daraus jene »schöpfungstheologisch«-teleologischen Konsequenzen ziehen? Papst Benedikt XVI. verkennt insofern offenbar nicht nur die methodische Eigenart der modernen Naturwissenschaft. Seine These, dass »die Materie eine Mathematik in sich hat«, ist deshalb keineswegs nur eine ungenaue Ausdrucksweise. Dies kann im Blick auf die Methode der modernen Naturwissenschaft wohl lediglich besagen, dass sie »mathematisierbar« ist – eine im Sinne des »konstruktivistischen« Zugangs zu verstehende Möglichkeit an der schon vorausgesetzten Wirklichkeit. Diese methodisch verankerte und legitimierte Zugangsweise darf jedoch nicht unversehens »ontologisiert« werden, indem ihr methodischer Charakter selbst gewissermaßen »vergessen« und so gleichsam in die Wirklichkeit selbst projiziert, d. h. »Wirklichkeit« selbst mit der methodischen Zugangsweise verwechselt bzw. gleichgesetzt wird. Desgleichen bestätigt sich: Der Papst übersieht die von Einstein sehr deutlich formulierte Einsicht, die in der Beantwortung der Frage zum Ausdruck kommt: »Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt? Kann denn die menschliche Vernunft ohne Erfahrung durch bloßes Denken Eigenschaften der wirklichen Dinge ergründen? Hierauf ist nach meiner Ansicht kurz zu antworten: Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Die volle Klarheit über die Sachlage scheint mir erst durch diejenige Richtung in der Mathematik Besitz der Allgemeinheit geworden zu sein, welche unter dem Namen ›Axiomatik‹ bekannt ist. Der von der Axiomatik erzielte Fortschritt besteht nämlich darin, dass durch sie das Logisch-Formale vom sachlichen oder an187
Schönborn 2007a, 97.
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schaulichen Gehalt sauber getrennt wurde; nur das Logisch-Formale bildet gemäß der Axiomatik den Gegenstand der Mathematik, nicht aber der mit dem Logisch-Formalen verknüpfte anschauliche oder sonstige Inhalt.« 188 Damit ist im kritischen Blick auf die problematischen Äußerungen des Papstes über die »mathematische Struktur der Wirklichkeit« auch gesagt, dass die in den Einzelwissenschaften »erfahrend« erforschte empirische Gesetzmäßigkeit sich gerade nicht in mathematische Strukturen »auflösen« lässt, zumal andernfalls empirische Einzelwissenschaft sich auf Mathematik reduzieren würde, d. h. ihr empirischer Charakter derart vollends verloren ginge; damit verträgt sich die durchgehende »Mathematisierbarkeit« der Realität durchaus. Anders noch: Der unstrittige Sachverhalt, dass die Natur gewissermaßen für die Mathematisierung zugängliche »Seiten« hat, darf nicht stillschweigend in die Behauptung einer »mathematischen Struktur« derselben verkehrt werden. Dass die »empirische Realität« auf die Fragen des Wissenschaftlers »antwortet«, dies liegt eben darin, dass er selbst es ja ist, der experimentell »die Natur nötigt«, auf seine Fragen zu »antworten«, sofern er »konstruktiv« an die Wirklichkeit herangeht und sie so gleichsam ins »Verhör nimmt«. Genau dies, »die Natur nötigen müssen, auf ihre Fragen zu antworten«, besagt aber auch, dass erst der durch konstruktive Hypothesen begründete Erfahrungsbegriff diese besondere Form der Erkenntnis durch die durchgehende »Mathematisierung der Wirklichkeit« methodisch, d. h. eben »logisch-mathematisch« konstituiert und Erfahrung demgemäß tatsächlich »gemacht« wird. 189 Demzufolge bleibt zu bedenken: Im Sinne dieses neuzeitlich entwickelten Erfahrungsbegriffs bedeutet dies, dass dieserart (zufolge Einstein 1921, 3 f. H. Weyl hat diesen methodischen Charakter folgendermaßen charakterisiert: »Die im Gegensatz zur aristotelischen Philosophie in der Neuzeit sich durchsetzende Ansicht, dass ein Erkenntniszusammenhang in der wirklichen Welt nur gefunden werden kann, soweit qualitative Bestimmungen auf quantitative zurückgeführt werden, ist für die Naturwissenschaft von fundamentaler Wichtigkeit geworden … Das Maß unserer Erkenntnis liegt in ihrer Annäherung an die ›nudae quantitates‹. Und Galilei spricht explizite als seinen Grundsatz aus: ›Alles messen, was messbar ist, und versuchen messbar zu machen, was es noch nicht ist.‹ Eine glänzende Bewährung des zweiten Teils dieses Postulats ist seine Erfindung des Thermometers« (Weyl 1927, 100). Gleichwohl wäre es ein grundlegender Fehler, dieses »Maß unserer Erkenntnis« und diese »nudae quantitates« zu »ontologisieren« und es der »Verfassung« der Wirklichkeit selber zu unterstellen, die die methodisch bedingte Zugangsweise zur Wirklichkeit gleichsam »vergisst«. 188 189
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den berühmten Sätzen Kants) »allen Naturforschern ein Licht auf [ging]. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.« 190 Kants Hinweis, dass in aller »Naturwissenschaft nur so viel Wissenschaft anzutreffen ist, als in ihr Mathematik ist«, besagt eben, dass – buchstäblich »dergestalt« – die Natur sich in ihren mathematisierbaren Dimensionen »zeigt«, d. h. in solcher »Mathematisierbarkeit« begriffen und auch beherrscht werden kann. Diese im konstruktivistischen Erfahrungsbegriff in methodischer Hinsicht begründete Mathematisierbarkeit der Wirklichkeit darf jedoch nicht in dem erwähnten Sinne missverstanden werden, dass damit etwa eine »mathematische Struktur« der Wirklichkeit selbst behauptet wäre; denn so wäre – noch einmal sei es betont – die zwar in der methodischen Zugangsweise der modernen Naturwissenschaften programmatisch begründete »Mathematisierbarkeit« stillschweigend mit ihrer »mathematischen Verfassung« selbst verwechselt bzw. liefe so unversehens auf eine undurchschaute »Ontologisierung« der methodisch bedingten »Hinsicht« hinaus. Resümierend sei zum letztgenannten Punkt festgehalten, dass in diesen thematischen Zusammenhängen eine »päpstliche« Verkennung der methodischen Eigenart des konstruktivistisch begründeten Zuganges zur Wirklichkeit nicht zu übersehen ist, die den besonderen methodischen Charakter der mathematisierten neuzeitlichen Naturwissenschaft verfälscht.
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Kant II 23.
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III. Dawkins und die »Schöpfungstheologie«: Sein Einspruch gegen die »Schöpfungslüge« und seine pflichtbewusste »Auseinandersetzung« mit den traditionellen Gottesbeweisen Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf jene Abschnitte des Dawkins-Buches, die der Gottesthematik im engeren Sinne gewidmet sind und dabei auch philosophisch relevante Aspekte dieses Themas berühren. Im Vordergrund steht dabei seine auf den Geist moderner Wissenschaft gestützte Verwerfung des Gottesglaubens sowie seine Behandlung der Gottesbeweise in seinem »Gotteswahn« (3. Kapitel). Die einschlägigen Argumente Dawkins’ sollen einer genaueren Prüfung ausgesetzt werden, um der an den Sachfragen interessierten Leserschaft eine Urteilsbildung über die Argumentationsweise und wissenschaftliche Seriosität des Dawkins’schen Unternehmens zu ermöglichen. Zuvor sollen jedoch die in Dawkins’ jüngeren Publikationen geäußerten Proteste gegen »Die Schöpfungslüge« und seine Entlarvung der Sinnlosigkeit einschlägiger »Mythen« behandelt werden. Letztere möchte der Oxforder Professor für »öffentliches Verständnis der Wissenschaften« und Kulturfreund erfreulicher- und großzügigerweise – freilich vornehmlich zu »Unterhaltungszwecken« – sogar als »Kulturgut« aufbewahrt wissen, obgleich sie ihm zufolge natürlich, an rationalen Maßstäben bemessen, jeder Wahrheit entbehren und in wissenschaftlicher Hinsicht völlig wertlos sind und allenfalls in den Kuriositäten-Museen ihren Ort haben können.
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1. Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge« und sein dagegen aufgebotener »Zauber der Wirklichkeit«: Ein heroischer und auch erfolgreicher Kampf – gegen »Windmühlen«? In Dawkins’ Umgang mit der Schöpfungsthematik und seinem darin erhobenen Vorwurf einer »Schöpfungslüge«, die er auch noch in jüngeren Buchpublikationen unverdrossen geäußert hat, werden eine ganze Reihe von schwerwiegenden Fehlern sichtbar. Dass er sich dabei damit begnügt, den souveränen Kenner der maßgeblichen entscheidenden Sachthemen herauszukehren und erstaunlicherweise mit entsprechendem Selbstbewusstsein die Leserschaft darüber belehrt, dass eine nähere Beschäftigung mit der Literatur in der Sache fruchtlos bleibe, kann über diese groben Versäumnisse und Fehlleistungen nicht hinwegsehen lassen, die jedenfalls schlecht zu jenem »erhobenen Haupt« und zu seinem atheistischen »Stolz« passen. Von jener erwähnten Selbstbescheidung, der zufolge sich Dawkins’ »Gotteswahn« vornehmlich gegen jene hartnäckigen KreationistenKreise richte, ist hier allerdings gar nicht mehr die Rede. Auch in diesem Themenfeld zeigt sich sehr rasch, dass Dawkins’ diesbezügliche Sichtweisen ein hohes Maß an Unkenntnis erkennen lassen und vor falschen Unterstellungen geradezu strotzen. Übrig bleibt, wie sich im Folgenden in einigen Hauptpunkten näher zeigen soll, dass Dawkins sich unbeirrbar und unverdrossen gegen eine Schöpfungstheologie bzw. eine Schöpfungslüge wendet, die ohnehin von niemandem auf akademischem Boden ernsthaft vertreten wird und deshalb auch seine polemische Kritik daran im Grunde ins Leere gehen lässt. Auch hier rächt sich seine – allerdings recht gut zu jenem von ihm beanspruchten »erhobenen Haupt« passende – Auskunft, dass die Auseinandersetzung mit einschlägiger philosophisch-theologischer Literatur sich ohnedies nicht lohne – ein schon geläufiger Überredungs-orientierter Mem-Trick der besonderen Art.
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
1.1 Dawkins als biblischer »Hermeneut«: Sein Missverständnis der biblischen Schöpfungstexte und sein unangemessenes »Mythos«-Verständnis (a) Schon Dawkins’ Behauptung, dass die »natürliche Theologie« bzw. die »Schöpfungstheologie« sich als Bestandteil einer kosmologischen Auffassung, näherhin als »erklärungsrelevante Komponente einer Kosmologie« verstanden hat, die jedoch auch in diesen Ansprüchen durch die Entwicklung der Naturwissenschaften längst überholt worden sei, lässt jedes für ein fruchtbares interdisziplinäres Gespräch notwendige Verständnis vermissen. Unbeirrt und unbelastet von einschlägiger Literatur unterstellt Dawkins, »dass eine theologische Schöpfungslehre und eine physikalische Kosmologie nach demselben fragen« 1. An schon Gesagtes anknüpfend ist gegenüber einer solchen groben Verzerrung philosophisch-theologischer Ansprüche zunächst noch einmal daran zu erinnern, dass die »natürliche Theologie« sich als »metaphysische Denkform« niemals als ein – auf ein und derselben Sachebene operierendes – mit einzelwissenschaftlicher Forschung vergleichbares Konkurrenz-Unternehmen verstanden hat. Die in schöpfungstheologischer Hinsicht im Vordergrund stehende Frage der »Kontingenz« der Welt und nach deren »zureichenden Grund« – in der berühmt-berüchtigten Frage: »Warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts?«, und »Warum verläuft es nach diesen Gesetzen und nicht nach anderen?« – darf nicht als Erklärungsanspruch auf der Ebene bzw. im Sinne des empirischen Kausalprinzips missverstanden werden, weil alle auf innerweltliche Geschehensabläufe gerichteten Erklärungsleistungen diese Wirklichkeit ja schon voraussetzen. In diesem Sinne darf wohl auch die viel belächelte philosophische Frage (Leibnizens) »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« verstanden werden, die deshalb gerade nicht als eine naturwissenschaftlich zu beantwortende Frage gelten kann 2. Mit der elementaren hermeneutischen Besinnung darauf, was Körtner, in: Körtner/Popp 2007, 71. In diesem radikalen »Kontingenz«-Sinn darf wohl auch Wittgensteins Diktum verstanden werden: »Nicht, wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist« (Wittgenstein 1984, Bd. 1, 84 = Tractatus 6.44) – schon deshalb weil dies sich selbst allen »Erklärungsansprüchen« entzieht, zumal dafür die Berufung auf »Naturgesetze« völlig irreführend ist. Auch deshalb muss die Dawkins zugeschriebene Behauptung der »Gotteshypothese« als einer »für ihn … wahrheitsfähige[n], kognitiv sinnvolle[n] Tatsachenbehauptung« (so charakterisiert Peetz die Auffassung Dawkins’:
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denn eigentlich die grundlegenden und leitenden Fragen sind, auf die ein Text eine Antwort gegeben will, hält sich Dawkins in seiner Förderung des »öffentlichen Verständnisses der Wissenschaft« leider gar nicht auf; ihre Klärung ist allerdings unverzichtbar, wenn das beanspruchte bzw. angeblich ernsthaft gesuchte Verständnis eines Textes nicht von vornherein in die Irre gehen soll. Nicht zuletzt wird es sein Umgang mit biblischen Texten bestätigen: Dawkins’ Unbekümmertheit und sein rasender Spottbedarf verweigert sich ebenso unbekümmert der Kenntnisnahme elementarer hermeneutischer Rücksichten und Einsichten. So ignoriert er diesbezüglich schon den elementaren Sachverhalt: »Ein theoretisches Interesse am Schöpfungsvorgang oder an der Weltentstehung ist nicht vorhanden, die kosmologischen und kosmogonischen Vorstellungen der Umwelt [des biblischen Schöpfungsmotivs] haben nur indirekt Spuren hinterlassen, mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Daten kann hier nichts kollidieren.« 3 So wenig also das theologische Thema »Schöpfung« selbst unbefragt in naturwissenschaftliche Erklärungsansprüche verlagert werden darf, so wenig können Letztere den theologischen Sinn von »Schöpfung« als obsolet geworden hinstellen bzw. selbst dessen Stelle einnehmen wollen, d. h. in Konkurrenz dazu treten. Beide Anmaßungen liefen infolge eines solchen elementaren Kategorienfehlers unweigerlich auf eine Verwechslung bzw. reduktionistische Einebnung der Argumentationsebenen hinaus. Weil Dawkins genau diesen fundamentalen Sachverhalt völlig verkennt, ist auch seine Einschätzung der Absichten und Ansprüche der »natürlichen Theologie« offensichtlich doch ein wenig kurzsichtig und allzu hastig vollzogen und steht infolgedessen auch einer zielführenden interdisziplinären Verständigung im Wege. Es ist kaum zu glauben, dass es sich inzwischen nicht auch schon 244 u. Ä.) als prinzipiell verfehlt erscheinen. Es ist deshalb grundsätzlich fragwürdig, von einem »im Hinblick auf die Gotteshypothese« zu vertretenden »kognitivistischen Ansatz« zu sprechen (Peetz 2013, 247) und diesem eine »nonkognitivistische Interpretation der Gotteshypothese« (ebd. 252) gegenüberzustellen; diese Gegenüberstellung verrät selbst ein verkürztes Rationalitäts-Verständnis, wie wiederum besonders von Kant zu lernen ist. 3 Seckler 1997, 176. In der Tat trifft es zu: »Dadurch, dass er [Thomas] den Begriff der Schöpfung von dem zeitlichen Anfang der Welt loslöste, hat er ihn ungemein präzisiert und vertieft« (B. Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie. Tübingen 1951, 12. Aufl. [zit. n. Seckler 2008, 310]).
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
in der »clear thinking oasis« herumgesprochen hat, dass »alle fundamentalistischen Versuche, naturwissenschaftliche Versuche, naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien mit dem Hinweis auf Aussagen der Bibel zu bestreiten, ebenso verfehlt [sind] wie die Behauptungen mancher Naturwissenschaftler, ihre Ergebnisse hätten die biblische Schöpfungstheologie definitiv falsifiziert.« 4 Eine solche, von dem prominenten katholischen Bibelwissenschaftler Erich Zenger ganz zu Recht kritisierte schiefe Herangehensweise an die »Schöpfungstexte« ist jedoch auch anachronistisch in dem bestimmten Sinne, dass sie den Autoren dieser »Schöpfungstexte« eine Absicht bzw. ein Interesse – bzw. auch eine Abgrenzung – unterschiebt, das doch irgendwie vergleichbar mit demjenigen der modernen Naturwissenschaft ist – damit ist, zufolge solcher Blindheit, natürlich alles vorentschieden. Es ist nicht zuletzt ein »Mem«-schlauer Titel wie »Die Schöpfungslüge«, der suggeriert, als ob die biblischen Schöpfungstexte – aber auch die schöpfungstheologischen Aussagen der theologischen Tradition – sich in Konkurrenz bzw. als Alternative zu evolutionstheoretischen Konzeptionen verstanden bzw. geltend gemacht hätten; just damit werden Abgrenzungen bzw. Gegensätze unterstellt, die es so einfach schon deshalb nicht gegeben hat, weil sie – als solche – schlichtweg noch außerhalb des damals maßgebenden Denk-Horizontes waren. Dass die Erwähnung dieser weithin bekannten – allgemein gehaltenen – bibelwissenschaftlichen Einsichten indes nicht ganz überflüssig ist, belegt die erstaunliche Hartnäckigkeit, mit der sich sogar ein um das »öffentliche Verständnis der Wissenschaften« bemühter Gelehrter erfolgreich dagegen immunisieren kann, d. h. sich gegen alle einschlägige Belehrung als resistent erweist. Eindrucksvoll bestätigt dies Dawkins’ Verständnis der biblischen Mythen bzw. der von ihm sogenannten »mythischen Erzählungen«. Dawkins’ Zugang zur Schöpfungsthematik bzw. zu den SchöpZenger, 2008, 81. Zu einer fundamentaltheologisch-philosophischen Interpretation der »Zeit« im »biblischen Schöpfungsbericht« s. Appel 2013. Dass die lebensweltlich orientierende Ordnung der – im Sabbat gipfelnden – Wochenzeit (im Buch »Genesis«) als in der Ordnung des »Sechs-Tage-Werkes« gegründete vorgestellt wird und auch die darin erwähnten »Tages«- bzw. »Nachtangaben« nicht kalendarische bzw. astronomische Datierungen sind, sollte inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden dürfen; dass es nicht so ist, zeigen indes immer wieder kämpferische aufgeklärte Beiträge in Magazinen, die sich darin allzu oft unfreiwillig als bemerkenswert unaufgeklärt »outen«.
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fungs-Texten bleibt völlig unbekümmert um den zu beachtenden Bezugsrahmen der einschlägigen Lehrstücke bzw. Texte, ohne dessen Beachtung die Bedeutung derselben entweder überhaupt verschlossen bleibt bzw. unvermeidlich deren Fehlverständnis zur Folge hat. So sind diese Texte nicht abzulösen von ihrem inneren Bezug zur Frage »Wer bin ich?« und der damit verbundenen Selbstvergewisserung der eigenen und kollektiven Lebensgeschichte und deren Identitäts-stiftenden, d. h. Selbstverständnis gewährleistenden Bewandtnis. Abgekoppelt davon bzw. unreflektiert angebunden an andere Lebensformen und die für diese maßgebenden Orientierungshorizonte werden sie unvermeidlich sinnleer bzw. führen unvermeidlich in die Irre. Dawkins’ Zugangsweise zu diesen Themen bestätigt, dass offenbar nach wie vor der Hinweis darauf nicht überflüssig ist, dass diese »Schöpfungs-Texte« nicht kosmologische Befunde über das Dasein und die Entwicklung der Weltphänomene sind, sondern vielmehr – als theologische Aussagen auf einer fundamental verschiedenen Ebene – eine Resonanz, eine Antwort auf bedrängende Widerfahrnisse und unumgängliche Fragen darstellen, in denen sich gleichermaßen Erfahrungen des Ausgesetztseins, aber auch der staunenden Erfahrung des Schönen und des »geordneten Ganzen« widerspiegeln, die die pure »Faktizität« und Kontingenz der Welt als »Schöpfung« bzw. »Kreatürlichkeit« wahrnehmen lässt und »lebbar« macht. Vornehmlich daran lassen es sich diese Texte buchstäblich gelegen sein – weshalb ihnen auch nicht andere, ihnen ganz und gar fremde Interessen bzw. Maßstäbe unterschoben werden dürfen. Anders noch: Losgelöst von diesem notwendigen Bezug auf individuelle und kollektive Selbstverständigung und -vergewisserung (»Wer bin ich?«) kommt in ihnen auch nichts Sinnerschließendes zur Sprache – so etwa, wenn die Schöpfungstexte auf die Ebene eines kosmologischen Berichtes oder eines chronologischen biologischen Reports bezogen bzw. dem zugeordnet wären. In diesem Kontext darf deshalb auch an Kants hermeneutische Einsicht erinnert werden, dass auch diese religiösen Aussagen – so wie diejenigen über das »Ende aller Dinge« – nicht als Bestandteile einer »Theorie der Natur« missverstanden werden dürfen, sondern auf den »moralischen Lauf der Dinge« abzielen und so unablösbar sind von diesen konstitutiven existenziellen Bezügen einer »moralischen Lebensgeschichte«, sodass solche Rückbindung bedeutet: »tua res agitur« … Anhand von Dawkins’ Umgang mit den Schöpfungs-Texten und auch seiner phantasievollen »Hermeneutik« der neutestamentlichen Wunder-Texte lässt sich dies beson390 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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ders gut verdeutlichen (s. dazu u. III., 2.6.3). Dass aus der Missachtung dieser Problemaspekte unvermeidlich der kuriose Vorwurf einer »fakten-widrigen« »Schöpfungslüge« bzw. eines Zaubertricks bzw. einer bloßen Erfindung resultieren muss, versteht sich unter diesen Vorzeichen dann schon von selbst. Just diese groben Missverständnisse pflegt Dawkins freilich offenbar auch in jüngeren Publikationen behutsam, ja geradezu hingebungsvoll – wie besonders auch sein Buch »Der Zauber …« verrät, mit dem er offenbar auch schon jüngere Leser in seine »AufklärungsMission« einbinden will, in Wahrheit jedoch solche junge Leser zu einem völligen Missverständnis verführt. Auch in diesem Buch, das offenbar eine breite Leserschaft mit der »faszinierenden Wahrheit hinter den Rätseln der Natur« (so im Untertitel) vertraut machen will, sind Hohn und Gelächter, die von ihm bevorzugten Instrumente bzw. Waffen in der »Befreiung vom Aberglauben«, besonders deutlich: Indes, Dawkins spielt auch hier mit falschen Karten und »verzaubert« die Leserschaft – so unterschiebt er den biblischen »Schöpfungstheologien« eine völlig schiefe Intention, um diese sodann umso energischer lächerlich zu machen, d. h. als vorwissenschaftliche Phantasien und Kuriositäten erledigen zu können. Auch ohne besondere theologische Spezialstudien sollte jedoch auch in den Bibliotheken Oxfords für Dawkins die schlichte – und inzwischen gewiss nicht mehr ganz neue – hermeneutische Einsicht bezüglich der biblischen »Schöpfungs«-Texte zugänglich gewesen sein: »Es geht nicht um die naturwissenschaftlichen Fragen nach dem Anfang, sondern um den Beginn der Beziehung Gottes zu der Größe, die Gen 1,1 mit dem Merismus ›Himmel und Erde‹ bezeichnet, was wir alltagssprachlich mit ›Welt‹ wiedergeben. Es geht also nicht um die Frage, wann und wie ›alles‹ entstanden ist, sondern um den Anfang der Beziehung Gottes zu unserer ›Welt‹ […] Es ist ein Anfang, dessen Dynamik daraus erwächst, dass er von dem Ziel her konstituiert ist, auf das hin diese den Schöpfergott und ›seine‹ Welt verbindende Beziehung angelegt ist. So ist dieser ›Anfang‹ ein Ursprung als Ziel.« 5 Darin bringt sich freilich auch die grundsätzlichere – von Dawkins beharrlich verweigerte bzw. verdrängte – hermeneutische EinZenger 2008, 82. Zenger zitiert zu diesen inzwischen weithin geläufigen Auffassungen, die kein theologisches Spezialwissen erfordern, O. H. Steck, Zwanzig Thesen als alttestamentarischer Beitrag zum Thema ›Die jüdisch-christliche Lehre von der Schöpfung in Beziehung zu Wissenschaft und Technik‹ : KuD 23, 1977, 283.
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sicht zum Ausdruck: »Der Mythos als Göttergeschichte ist nicht, wie bisweilen gesagt wird, eine vor-naturwissenschaftliche und deshalb heute längst überholte Erklärung der Weltwirklichkeit, sozusagen primitive Naturwissenschaft, die Naturprozesse mit Göttergestalten statt mit Formeln beschreibt … Diesem Mythos geht es nicht um rationale Erklärung der Weltphänomene und ihrer Ursachen, sondern er erzählt von den guten Anfängen der Welt im Sinne des Gründens, des Grundgebens, des Grundfesthaltens. Der Schöpfungsmythos ist nicht die ›Ausfabulierung eines vor-geschichtlichen, de facto allem Wissen entzogenen Zeitraumes, in dem erste Ursachen bestimmt oder die Prototypen gegebener Weltphänomene auf Gott (oder die Götter) zurückgeführt werden‹. Seine Aufgabe ist vielmehr, ›die Tiefendimension der gegenwärtigen Erfahrungswelt auszusagen und diejenigen Grundgegebenheiten und Grundbestimmungen freizulegen, die für Welt und Mensch im Ganzen und immer schon gelten.‹« 6 In diesem Sinne charakterisiert Zenger diese Schöpfungsmythen – denen als solchen natürlich kein wissenschaftliches Erklärungsinteresse unterschoben werden darf – als solche, die »in Erzählungen und in Visionen transformierte sinnliche Wahrnehmungen der alltäglichen Welt« seien: »Es sind narrative und poetische Bilder der Welt-Eindrücke, die die Welt auf uns macht. Wer diese Texte verstehen will, muss sich deshalb auf ihre Bildsprache einlassen. In ihrer Bildsprache kommen sie dem nahe, was wir ›Weltbild‹ oder ›Weltanschauung‹ nennen, wovon das naturwissenschaftliche ›Weltmodell‹ der Neuzeit radikal zu unterscheiden ist. Gewiss haben es beide, das Weltbild der Antike und das Weltmodell der modernen Naturwissenschaft, mit der gleichen Realität zu tun. Doch schon im Ansatzpunkt unterscheidet sich die Weise ihrer Wahrnehmung. Diese zwei grundverschiedenen Weisen der Wahrnehmung von Welt müssen bewusst gemacht werden, damit keine der beiden missverstanden und verachtet wird. Vor allem die theologische Weltdeutung der altorientalischen und ersttestamentlichen Schöpfungsüberlieferungen kann im Wissen um diese Unterscheidung vor dem Vorwurf der Primitivität oder der Überholtheit geschützt werden.« 7 Dies gilt offenbar freiZenger 2008, 83 f. Zenger 2008, 88. – Der keineswegs gläubige Philosoph K. Jaspers hat es – hermeneutisch ungleich sensibler – zweifellos besser als Dawkins gewusst: »Der Gedanke der Weltschöpfung durch Gott ist ein Symbol, kein Wissen. Im Weltschöpfungsgedanken wird der Abgrund offen, in den wir mit all unserem Weltwissen und Welttun verschlagen werden und zugleich uns geborgen finden. Dieser Weltschöpfungs-
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lich nicht für Dawkins, obgleich auch er sich wohl in Oxford aus einschlägigen theologischen Erläuterungen über den Sinn der verschiedenen alttestamentlichen Texte – z. B. über die »Sintflut« oder die »Sprachverwirrung« – hätte informieren können und ihm damit gewiss so manche Blöße erspart geblieben wäre. Wie gesagt: Dawkins missversteht in seiner hermeneutischen Unbekümmertheit völlig den Sinn der biblischen Schöpfungstexte bzw. der darin sich manifestierenden Schöpfungstheologien, bemisst er sie doch an einem Maßstab bzw. unterstellt er eine ihnen völlig fremde Intention, die sie infolgedessen unweigerlich in einen Konflikt mit kosmologischen Welterklärungsansprüchen bringen muss. Er stempelt also diese Schöpfungstexte gewissermaßen zu quasi-erklärungsrelevanten kosmologischen Aussagen über den »Weltanfang« und quasi-empirische chronologisierte Periodisierungen des Schöpfungsgeschehens und bringt sie damit natürlich von vornherein in Misskredit gegenüber naturwissenschaftlichen Erklärungen, weshalb sie unvermeidlich als obsolet gewordene Kosmologien verspottet und verabschiedet werden – Folge einer bemerkenswerten »Ignoranz«, die hier allerdings nicht »uninteressiert« zu sein scheint, sondern durchaus »Methode« hat. Genau der von Dawkins – in einer überdies völlig ungeschichtlichen Weise vollzogene – Vergleich des »Unvergleichbaren« macht wiederum die völlige Ignoranz der unterschiedlichen Ansprüche erkennbar und lässt die von ihm behaupteten Streitpunkte schlichtweg als »anachronistisch« erscheinen. Dawkins entlarvt damit offenbar weniger die Unwissenschaftlichkeit des »Mythos«, sondern wohl eher die wissenschaftliche Seriosität und sein darin leitendes Interesse. Deshalb ist in seinem Buch »Die Schöpfungslüge« von »Schöpfung« auch nirgendwo die Rede. In der Tat – eine sehr merkwürdige Situation: Dawkins macht den »Fundamentalisten« genau dasjenige zum Vorwurf, was er selbst ununterbrochen tut, um die Abstrusität der Bibel dokumentieren zu können: »Er wirft den Kreationisten (mit Recht) vor, die Bibel wörtlich zu nehmen; und gedanke aber hat seine Wahrheit nur unter der Bedingung, dass ein Symbolcharakter festgehalten wird. Der Gedanke, weil Symbol, liegt nicht auf der Ebene unserer Welterkenntnis. Der symbolische Gedanke wird durchdacht als Erhellung des Nichtwissens in ihm. Etwa so: Die Weltschöpfung ist kein Vorgang in der Welt. Vor der Welt gab es keine Zeit, keinen Raum, keine Materie. Wir aber, gebunden mit all unserem Vorstellen an das Weltsein, denken unausweichlich, dass es eine Zeit vorher gab und etwas vorher. Aber diese unsere Gebundenheit können wir erkennen« (Jaspers 1954, 144).
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dann tut er genau dasselbe, um sie lächerlich zu machen!« 8 Wer dies, wie Dawkins, noch immer nicht zur Kenntnis genommen hat, obwohl er fortlaufend gegen die biblische »Schöpfungslehre« polemisiert, muss sich schon Rückfragen gefallen lassen, wie es denn um die beanspruchte »Wahrheitssuche« und »intellektuelle Redlichkeit« bestellt ist. (b) Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel dafür liefert wiederum Dawkins’ geschickte Überredungsstrategie in dem Bilderbuch »Der Zauber der Wirklichkeit«, das, ganz unberührt von diesen genannten theologischen Gedanken, unbekümmert, beherzt und phantasiereich gegen die spaßigen Torheiten der Schöpfungsmythen polemisiert, die er dennoch als unverlierbares »Kulturgut« erhalten wissen möchte. Unfreiwillig bietet Dawkins darin erneut ein besonders lehrreiches Musterbeispiel für ein Missverständnis biblischer Texte als bloßer »Pseudowissenschaft«. Ein paar besonders markante Kostproben – die zugleich seine absolute Immunität gegen elementare bibelwissenschaftliche Einsichten bekundet – müssen hier genügen. 9 Pietschmann 2010, 359. – Kritische Journalisten, die sich zu einschlägigen Religionsthemen äußern, wissen natürlich, was Dawkins offenbar auch in den jüngsten Büchern noch verborgen blieb. So merkt U. J. Wenzel in dem schon zitierten NZZArtikel (s. o. Einleitung, Anm. 31) kritisch an: »Insbesondere Dawkins und Hitchens befleissigen sich gern, wie ihre dümmsten Widersacher im Lager der Kreationisten, einer Bibellektüre, die jedes Wort für bare Münze nimmt – als wäre die kritische Hermeneutik nie in die Welt gekommen«. Zu Dawkins’ Kritik an der biblischen – bes. alttestamentlichen – Gottesvorstellung s. die kritischen Erwiderungen von Lohfink (2013, 98 ff, bes. 103 ff, sowie 117 ff.) und sein Plädoyer dafür, »die alttestamentlichen Texte zunächst einmal richtig zu lesen« (ebd. 108). 9 Zu Dawkins’ Einwand, dass die Theologen bzw. Gläubigen einen seltsamen Umgang mit der Bibel pflegen, sofern sie dasjenige »wörtlich« nehmen, was ihnen »in den Kram passt«, anderes jedoch »nicht wörtlich genommen« wissen wollen und dafür andere Auslegungsstrategien bemühen – dass sie hier also in der Entscheidung beliebig, jedenfalls ohne Kriterien verfahren: »Wie entscheiden Gläubige, was wörtlich zu nehmen ist und was nicht?« – vgl. die kritischen bibelwissenschaftlichen Stellungnahmen v. G. Lohfink (2013) und L. Schwienhorst-Schönberger (2010). Dieser Einwand Dawkins’ ist schon deshalb fadenscheinig, weil es doch die Bereitschaft voraussetzt, die elementare bibelwissenschaftliche Einsicht der notwendigen Beachtung der verschiedenen Textgattungen in der Bibel zur Kenntnis zu nehmen – davon ist bei Dawkins keine Spur zu erkennen. In diesem Sinne betont Lohfink gleichermaßen gegen christliche Fundamentalisten und gegen Dawkins: »Denn ›wörtlich‹ nimmt man die Bibel gerade dann, wenn man die Art, in der sie redet, ernst nimmt, – das heißt, wenn man ihre Textgattungen beachtet. Den Text von der Schöpfung in Genesis 1 zum Beispiel nehmen wir nur dann wörtlich, wenn wir ihn nicht als naturhis8
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
Als völlig irreführend – weil eine falsche Intention unterstellend – erweist sich schon Dawkins’ Auskunft, die das Kapitel »Warum gibt es so viele Tierarten?« einleitet: »Viele Mythen wollen erklären, warum bestimmte Tierarten gerade so und nicht anders sind – zum Beispiel, warum Leoparden ein geflecktes Fell haben oder Kaninchen einen weißen Schwanz. Über die schiere Zahl und Vielfalt der Tierarten dagegen gibt es offenbar nicht viele Mythen« (Zauber 52). In diesem Sinne konstatiert und bedauert Dawkins deshalb auch sogleich die eklatanten biblischen Erklärungs-Defizite hinsichtlich der Artenvielfalt: »Im jüdischen Schöpfungsmythos kommt zwar so etwas wie Artenvielfalt vor, aber auch er unternimmt keinen echten Versuch, sie zu erklären« (Zauber 55). Die schlichte Überlegung, ob denn dies auch nur irgendwie beabsichtigt war, unterbleibt; stattdessen wird dabei ganz einfach vorausgesetzt, dass der »Schöpfungsmythos« eine solche quasi-biologische Aufgabe zu erfüllen hat und eben daran jedoch gescheitert ist. Solche Diagnose über biblische Erklärungsdefizite ließe sich freilich schon durch die schlichte Besinnung darauf mildern, dass die einschlägigen Texte vermutlich doch nicht als ein Biologie-Lehrbuch bzw. als frühes Lehrbuch der Evolutionstheorie verstanden werden wollten – just dies unterstellt offenbar Dawkins, um sich sodann über diese Defizite zu mokieren und ihre Unbrauchbarkeit bzw. wissenschaftliche Obsoletheit schlagend vor Augen zu führen. Man sieht: Aufklärungsarbeit im Dienste des torische Dokumentation lesen, sondern als eine hochtheologische Erzählung, die Gott als den Schöpfer Himmels und der Erde zeigen und zugleich die Institution des Sabbats von der Schöpfungsordnung her begründen will. Deshalb arbeitet Gott sechs Tage lang und ruht sich am siebten Tag von seiner Arbeit aus. Die biblische Schöpfungsgeschichte zeigt übrigens selbst, dass sie nicht als kosmologische beziehungsweise biologische Dokumentation gelesen sein möchte. Es gibt nämlich in Genesis 1– 2 zwei Schöpfungserzählungen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden« (Lohfink 2013, 53 f.). »Die Bibelwissenschaft hat längst erkannt: Beide Texte stammen aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren. Nun haben aber die Redaktoren der Genesis beide Schöpfungserzählungen aneinandergereiht und miteinander verfugt. Sie wussten durchaus, dass sie dabei mit unterschiedlichem Erzählmaterial arbeiteten … Aber gerade diese Freiheit im Umgang mit je verschiedenem Erfahrungsmaterial zeigt: Sie wollten gar nicht in erster Linie biologische oder kosmologische Theorien vertreten. Sie wollten vielmehr theologisch herausarbeiten, dass Gott alles erschaffen hatte. Selbstverständlich taten sie das mit den Mitteln ihrer Zeit« (ebd. 56). Wären von ihnen die Texte als »naturhistorische Dokumentationen« verstanden worden, so wäre es offenbar nicht recht schlau gewesen, beide Texte in das erste Buch des Alten Testamentes aufzunehmen. Aber vielleicht war ja nach Dawkins auch schon dafür ein »geistiger Virus« von besonderer Art verantwortlich.
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»öffentlichen Verständnisses der Wissenschaften«, wie man sie sich nur wünschen kann! Dawkins unterstellt den »Mythen« fälschlicherweise ein Erklärungsinteresse und bemisst diese demnach an einem falschen Maßstab, der diese Mythen folgerichtig lediglich als vorbzw. unwissenschaftlichen Plunder erscheinen lässt, der bestenfalls zur Spaß-orientierten Unterhaltung taugt. 10 Nicht einmal ansatzweise lässt Dawkins die Bereitschaft zu einer Vergewisserung über die leitenden Fragen erkennen, auf die die biblischen SchöpfungsTexte Bezug nehmen bzw. eine Antwort geben wollen. Einschlägige Besinnungen finden in Dawkins’ Rundumschlag überhaupt keinen Platz und weisen ihn so als einen hermeneutischen Geisterfahrer in vorderster Startreihe aus. Von der Besinnung auf die grundsätzliche hermeneutische Aufgabe, d. i. die notwendige Entfaltung der Frage, auf die der Text eine Antwort gibt, lässt sich der stets in atheistischer Pole-Position auftretende Dawkins in seiner – vermeintlich entlarvenden – »Raserei« nicht länger aufhalten. Die einschlägigen hemmungslosen Auslassungen Dawkins’ bestätigen durchgehend Lohfinks Befund, »dass Dawkins jede Einfühlung in Texte, die einer anderen Zeit und Kultur angehören, fehlt. Er hat nicht nur keine Ahnung von den Ergebnissen alttestamentlicher Wissenschaft, sondern auch vom Umgang mit literarischen Texten. Er vergewaltigt sie blindwütig. Er bemüht sich erst gar nicht, ihm fremde Redegattungen zu verstehen. Offenbar hasst er die Bibel bereits, bevor er noch die erste Seite in ihr gelesen hat.« 11 Dies zeigt sich ebenso in seinen erstaunlichen Erklärungen zur vermeintlichen Intention der »Mythen«: Weil die Völker früherer Zeiten von der »Welt des Allerkleinsten« (dem atomaren Bereich) nichts wissen konnten, »deshalb brauchten sie auch keine Mythen zu ihrer Erklärung« (Zauber 92): Wiederum tritt darin das von ihm den »Mythen« unterschobene pseudo-wissenschaftliche ErklärungsEine Anregung sei hier erlaubt: Entsprechend einer Initiative des »Richard-Dawkins-Stiftung«-Teams, die herkömmlichen »Christmas«-Wünsche zeit- und evolutionsgemäß durch »›A merry Little Mythmas‹-Wünsche« zu ersetzen (s. DawkinsStiftung, Internet-Quelle) und solcherart vielfach geplagte, aber doch immer noch »spaßbedürftige Überlebensmaschinen« »auf der Höhe der Zeit« zu erfreuen oder wenigstens bei Laune zu halten, spricht vieles dafür, dieses »merry Little Mythmas« – schon aus evolutionären Nützlichkeitsaspekten – künftig mit dem Fasching-Dienstag zusammenzulegen. Gezielte Mem-Übertragungen sollten dabei schon behilflich sein. 11 Lohfink 2013, 18. 10
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
interesse zutage – und Dawkins’ energische Entlarvung derselben als bloße »Pseudowissenschaftlichkeit« lässt erwartungsgemäß auch nicht lange auf sich warten, schonungslos führt sie sogleich die wissenschaftliche Ahnungslosigkeit und Lächerlichkeit dieser Mythen vor Augen: »Die ganze Welt besteht aus unglaublich kleinen Gebilden, die wir mit bloßem Auge nicht sehen können – aber sie werden auch in keinem Mythos und keinem der sogenannten heiligen Bücher, von denen heute noch manche Menschen glauben, ein allwissender Gott habe sie uns gegeben, erwähnt. Wenn man sich solche Mythen und Geschichten ansieht, erkennt man, dass sie nichts von dem Wissen enthalten [!], das die Wissenschaft mühsam erworben hat. Sie sagen uns nicht [was sie doch wohl sollten?], wie groß oder wie alt das Universum ist; sie sagen uns nicht, wie wir Krebs behandeln sollen; sie erklären weder Schwerkraft noch Verbrennungsmotoren; sie berichten nicht über Krankheitserreger, Kernfusion, Elektrizität oder Narkosemittel. Wie nicht anders zu erwarten [!], stehen in den heiligen Büchern nur die Dinge, die man wusste, als Menschen sich erstmals diese Geschichten erzählten. Wenn die ›heiligen Bücher‹ tatsächlich von allwissenden Göttern geschrieben, diktiert oder inspiriert worden wären, müsste man sich fragen, warum sie nichts über solche wichtigen, nützlichen Dinge gesagt haben, oder?« (Zauber 93). Das dieses Zitat abschließende »oder?« stellt nicht nur erneut eine suggestive Meisterleistung dar, sondern darf auch wiederum als ein besonders eindringliches Beispiel dafür verstanden werden, wie es um Dawkins’ hermeneutische Begabung bestellt ist: Hier wird in nicht überbietbarer Problemverfehlung der »Mythos« – in völlig anachronistischer Weise – an Maßstäben bzw. Interessen der modernen Naturwissenschaft gemessen, die ihm als solchem freilich völlig fremd sind – ein beinahe beispielloses hermeneutisches Kunststück, das Dawkins hier vor Augen führt. In Anlehnung an seinen oben angeführten Vorwurf wäre zu sagen, dass er auf solche Weise eindrucksvoll sein Nicht-Wissen davon demonstriert, was in den »hermeneutischen Wissenschaften« für die Auslegung und das Verständnis von mythischen Texten längst als Selbstverständlichkeit gilt, dem man sich jedoch offensichtlich in der Oxforder »Richard Dawkins Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« ohne Einspruch bzw. ohne Schaden entziehen kann. Dabei hätte doch wohl schon die Rückbesinnung auf den von Dawkins selbst erstellten Gesetzeskatalog erwarten lassen, dass er sich – bevor er in völliger Unkenntnis über die Schöpfungsmythen 397 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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herfällt und seinen abgründigen Spott und Jux-Bedarf ergießt – vom frühen Kirchenvater Origenes (ca. 185–253/54) über den schon von ihm erkannten »mehrfachen Schriftsinn« wenigstens ansatzweise belehren lässt. 12 Wie eine direkte Antwort auf Dawkins’ Spott nimmt sich Origenes’ Hinweis aus: »Welcher vernünftige Mensch [außer Dawkins?] wird annehmen, ›der erste, zweite und dritte Tag sowie Abend und Morgen‹ (vgl. Gen 1,5–13) seien ohne Sonne, Mond und Sterne geworden und der sozusagen erste sogar ohne Himmel? Wer ist so einfältig zu meinen, ›Gott habe‹ wie ein Mensch, der Bauer ist, ›im Osten einen Park in Eden gepflanzt‹ und darin einen sichtbaren und mit den Sinnen wahrnehmbaren ›Baum des Lebens‹ geschaffen, so dass man, wenn man seine Frucht mit den leiblichen Zähnen genoss, das Leben empfing, dagegen am ›Guten und Bösen‹ Anteil erhielt, wenn man von dem entsprechenden Baum nahm und aß? … Wenn es weiter heißt, ›Gott sei am Abend im Park gewandelt‹ und ›Adam habe sich unter dem Baume versteckt‹ … dann wird, glaube ich, niemand daran zweifeln, dass dies bildlich mittels einer nur scheinbar und nicht leibhaftig geschehenen Geschichte auf gewisse Geheimnisse hinweist …« 13 All dies – was offenbar schon für diesen frühen Kirchenlehrer ganz selbstverständlich war – bleibt Dawkins’ Entlarvungswut offenbar verborgen; andernfalls hätte er wohl darauf verzichtet, über die »Schöpfungs-Mythen« seinen lächerlichen Spott zu ergießen und stattdessen seine Leser über den »mehrfachen Schriftsinn« informiert – noch dazu, wo er in seinem »Der Zauber der Wirklichkeit« ausdrücklich auf diese biblischen Texte (freilich auf die von ihm bevorzugte unsachliche Weise) Bezug nimmt, sich dabei allerdings sinnigerweise auf die Kritik der biblischen Defizite hinsichtlich der Erklärung der Artenvielfalt konzentriert. Nebenbei sei schon hier angemerkt: Auch dies, dass schon im biblischen Text die absolute Unvergleichlichkeit der Schöpfung der So beklagt schon dieser Kirchenvater, dass sich »die Einfältigeren unter denen, die sich der Zugehörigkeit zur Kirche rühmen«, von Gott bzw. der Schöpfung »schlimmere Vorstellungen machen als von dem rohesten und ungerechtesten Menschen« (De principiis IV 2,1. Zit. n. Origenes, Vier Bücher von den Prinzipen. Hg., übers. u. mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen v. H. Görgemanns u. H. Karpp. 3., gegenüber der 2. unveränderte Aufl. Darmstadt 1992; Origenes’ berühmter Aufforderung, »vom Buchstaben zum Geist aufzusteigen, vom Bild zur Wahrheit«, verweigert sich Dawkins beharrlich. 13 Origenes, De principiis, IV 3,1. Eine Auskunft, die, wie sich gleich zeigen wird, in Anbetracht der Dawkins’schen Entlarvung der widersprüchlichen Beleuchtungs-Berichte im Buch Genesis offenbar immer noch nicht ganz überflüssig ist. 12
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
Welt durch Gott terminologisch durch das Wort »bara« angezeigt ist und die in der kulturellen Umwelt als Götter angesehenen Gestirne hingegen zu bloßen Leuchten degradiert – »entgöttlicht« – werden, 14 ist jedoch für Dawkins’ Entlarvung der Götterwelten nicht weiter von Interesse und steht ja auch seinem Götterverständnis im Wege. Auch andere einschlägige biblische Aspekte, die im Kontext der »Entmythologisierungs«-Debatte oftmals zur Sprache kommen, bleiben außerhalb des Wahrnehmungshorizontes Dawkins’, des bekennenden atheistischen »Mythenfreunds«. Es überrascht auch nicht mehr, dass ihm derartige elementare geistesgeschichtliche Zusammenhänge nicht vertraut sind – so etwa die Bedeutung der Ausbildung der Idee einer als ganz »transzendent« gedachten Gottheit im Sinne des sich geschichtlich ausbildenden Monotheismus, die mit einer radikalen Entgöttlichung der Welt und somit auch mit dem Bewusstsein verbunden war, dass nichts »Weltliches« als göttlich angesehen bzw. legitimiert werden kann; 15 dies erlaubt es ihm aber auch erst, alle Gottesvorstellungen überhaupt einfach in einen Topf zu werfen bzw. mit einem Streich zu erledigen: »Er hat das Universum nicht nur erschaffen, sondern er ist ein persönlicher Gott, der darin oder vielleicht auch außerhalb davon (was immer das bedeuten mag) wohnt und die unangenehmen menschlichen Eigenschaften besitzt, auf die ich bereits angespielt habe« (Gotteswahn 55). Bemerkenswerterweise zeigt Dawkins sich enttäuscht darüber, dass seine kosmologische Wissbegierde durch den »Schöpfungsmythos der Hebräer« auch hier nicht nur ungestillt bleibt, sondern Letzterer sogar eine entscheidende kosmologische Erklärungslücke verrate, die offenbar auch die Nichtstichhaltigkeit und evidenten immanenten Widersprüchlichkeiten dieser kuriosen Ausgeburten Nur nebenbei darf auch daran erinnert werden: In der Tat ist es als ein wesentlicher Aspekt der jüdisch-christlichen Tradition anzusehen, dass darin die Natur entgöttert wird und eine Emanzipation vom Mythos stattfindet – ein Prozess, der zu allererst eine wissenschaftlich erforschbare Welt ermöglicht hat. 15 Mit Recht betont Lohfink auch im Sinne dieser biblischen »Entmythologisierung« und Aufklärung: »Denn der jüdisch-christliche Glaube ist unablässig dabei, die Götter der Welt zu leugnen und den vielen falschen Gottesbildern, die das Bild des wahren Gottes immer wieder überlagern, mit schärfster Kritik zu begegnen« (Lohfink 2013, 15). Seiner Behauptung, dass die »wahre Aufklärung« sodann auch »in der Kirche weitergegangen« sei, wird man in dieser allgemeinen – d. h. doch zu undifferenzierten und wohl zu »wohlmeinenden« – Weise freilich nicht so ohne weiteres zustimmen können; das gilt auch bezüglich des Verhältnisses der (röm.-katholischen) Kirche zur Evolutionstheorie. 14
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menschlicher Phantasie demonstrieren soll: »Im Schöpfungsmythos der Hebräer erschuf der Gott YHWH am ersten Tag das Licht – doch die die Sonne schuf er erstaunlicherweise erst am vierten Tag […] Woher das Licht am ersten Tag kam, bevor es Sonne und Sterne gab, erfahren wir nicht« (Zauber 121). Die den drei monotheistischen Weltreligionen anhängenden Narren aller Zeiten haben offenbar sogar solche Unstimmigkeiten in den anfänglichen kosmischen Beleuchtungsfragen übersehen – und die lichtvollen Konsequenzen aus all diesen Zumutungen, Enttäuschungen und biblischen Erklärungsdefiziten sind auch sehr rasch gezogen: Gewiss, so Dawkins, Spaß darf und soll durchaus sein – aber, bitte sehr, alles zu seiner Zeit, so lautet seine volkserzieherische Losung gewissermaßen; denn wo der Ernst der Wissenschaft anfängt, da hört der Mythen-Spaß jedenfalls auf: »Jetzt [aber, nach so viel Klamauk gewissermaßen] wird es Zeit, sich der Wirklichkeit und dem wahren Wesen der Sonne zuzuwenden, so wie es sich aus wissenschaftlichen Befunden darstellt« (Zauber 121) – um so den Nachweis zu erbringen, »… dass die Wahrheit viel aufregender ist als Mythen, Geheimnisse oder Wunder. Wissenschaft hat ihren eigenen Zauber: den Zauber der Wirklichkeit« (Zauber 263). Mag man an den Kuriositäten der Mythen zwar vielleicht Spaß finden, so haben sie als kulturelles Erbgut jedoch am ehesten im Museum menschlicher Phantasien ihren sicheren und berechtigten Platz; als solche werden sie von Dawkins dankenswerterweise sogar den durchaus Pflege-würdigen Beständen der europäischen Kultur zugeordnet, die man vor dem Aussterben schon mit Rücksicht auf den unstillbaren und vermutlich noch wachsenden Spaß- und Unterhaltungsbedarf bewahren soll, zumal sie – die »Evolution tut nichts umsonst«, auch wenn es mitunter den »Anschein hat« – im Sinne dieses Erholungszwecks als Arsenal gattungsgeschichtlicher Phantasiebestände offenbar auch für dessen »Mem-Bestände« eine evolutionäre Funktion für »Überlebensmaschinen« erfüllt 16 – ein aufschlussreiches Kulturverständnis übrigens, das sich in der Tat gut in Dawkins’ »Mem-Theorie« einfügt und recht genau dem als Motto für das 2. Kapitel seines »Gotteswahns« gewählten Satz entspricht: »Die Religion des einen Zeitalters ist die literarische Unterhaltung des nächsten« (Gotteswahn 45). »Mythen-Museen« und ihre Kuriositäten-Ausstellungen wären so als »SpaßOasen« gewissermaßen selbst evolutionär zweckmäßige Kompensations-Anstalten zur psychischen Bewältigung der zunehmenden Erfahrung der Tristesse des Alltags.
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Indes, tief besorgt bzw. bestürzt zeigt Dawkins sich darüber, dass »noch heute viele Menschen« – jenseits des »Spaßbedarfs« – diese Geschichten jedoch auch mitunter ernst nehmen (Zauber 33)! 17 Denn ungeachtet dessen, dass er dieses spaß-trächtige Kulturgut schon aus Fitness-steigernden Unterhaltungsgründen erfreulicherweise nicht missen und deshalb als »Kulturleistungen« aufbewahrt sehen will, so stellt sich natürlich angesichts der wissenschaftlichen Unsinnigkeit dieser Mythen unweigerlich die irritierende Frage: »Woher kommen all diese Geschichten? Wer hat sie sich ausgedacht, und warum nehmen manche Menschen sie für bare Münze? Diese Fragen sind faszinierend und nicht leicht zu beantworten« (Zauber 143) – und es steht zu befürchten, dass Dawkins’ eigene, durchaus »zauberhafte« MemTheorie das Verständnis derselben und eine angemessene Antwort darauf nicht unbedingt erleichtert. Und bei allem Verständnis, das der Wortführer der »brights« auch für diese erheiternden Seiten aufzubringen vermag – die schonungslose und ernüchternde Aufklärung über den wahren Wert dieser Mem-Bestände lässt nicht lange auf sich warten: »Wunder, Zauberei und Mythen können Spaß machen, und Spaß hatten wir mit ihnen auch in diesem Buch. Ich hoffe, dir haben die Mythen gefallen, mit denen ich die meisten Kapitel begonnen habe. Noch mehr hoffe ich aber, dass du in jedem Kapitel Spaß an der Wissenschaft hattest, die auf die Mythen folgte. Und du stimmst mir hoffentlich zu, dass die Wahrheit viel aufregender ist als Mythen, Geheimnisse oder Wunder. Wissenschaft hat ihren eigenen Zauber: den Zauber der Wirklichkeit« (Zauber 263). Es ist nicht zu übersehen: Auch dieses sein »Zauber«-Buch beschließende Resümee Dawkins’ suggeriert völlig unsinnige Alternativen bzw. Disjunktionen, die dem »Mythos« erneut eine völlig schiefe Intention unterschieben und so bei einer verzaubert-unbedarften Leserschaft den Eindruck erwecken müssen, dass jene jeden bleibenden Sinngehalt entbehren-
Der Sinn der biblischen – von vielen als moralisch anstößig empfundenen – Abrahams-Geschichte reduziert sich für Dawkins bemerkenswerterweise auf den göttlichen Ratschlag, doch nicht Menschen, sondern lieber Schafe zu opfern. – Dass man auch ohne blinde »religiöse Parteigänger« und »religiös unmusikalisch« zu einem sachorientierten, d. h. unvoreingenommenen Verständnis der alttestamentarischen »Abraham-Isaak-Geschichte« gelangen kann (sofern nur der Empörungsbedarf nicht ein sachliches Verständnis verhindert), zeigt die problemorientierte – d. h. nicht zuletzt um die Vermeidung einer »unhistorischen Lesart« bemühte – Zugangsweise von Habermas: ders. 2012, 149 ff.
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den »Mythen« durch moderne Wissenschaft abgelöst werden müssen bzw. längst abgelöst wurden. Dawkins’ bemerkenswertes Mythos-»Verständnis« wird auch durch seine suggestive Rückfrage selbst noch einmal höchst eindrucksvoll bestätigt: »Vermutlich wussten die Erfinder [!] all dieser Mythen in dem Moment, als sie ihnen in den Sinn kamen, dass es Märchen waren. Oder glaubst du, verschiedene Menschen hätten sie sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Teile dieser Geschichten ausgedacht, und andere hätten sie später zusammengestellt, ohne sich klarzumachen, dass die verschiedenen Teile ursprünglich nur erfunden waren?« (Zauber 35). 18 Und so geraten die Mythen unversehens fortwährend in engste Nähe zu mehr oder weniger gut »erfundenen Geschichten«, d. h. zu »Phantasieprodukten« über Außerirdische (Zauber 181). Die ernüchternde Mahnung des Wissenschaftlers und Mythen-Freunds Dawkins folgt demnach auf dem Fuß und mündet zuletzt – nach hinreichender Erheiterung und Stillung des Spaßbedarfs durch den »jüdische[n] Mythos über die Urahnen Adam und Eva« – im Blick auf »die Frage: Wer war der erste Mensch?« unvermeidlich in den gleichermaßen verständnisvollen wie auch unbestechlichen Befund über jenes kuriose »Ausgedachte«: »Geschichten sind etwas Schönes, und wir alle erzählen sie gern weiter. Aber wenn wir eine spannende Geschichte hören – sei es ein uralter Mythos oder eine Legende aus dem Internet [!] –, lohnt es sich immer, kurz innezuhalten und sich zu fragen, ob sie auch wahr ist. Also stellen wir uns die Frage: Wer war der erste Mensch? Und dann suchen wir nach der Antwort der Wissenschaft« (Zauber 35). Gewiss nicht weniger lohnend wäre jedoch ein kurzes Innehalten und eine kritische Selbstprüfung, ob denn die an die Mythen zur Prüfung ihrer Wahrheit herangetragenen Maßstäbe, die Dawkins offenbar ganz unbefragt im Sinne naturwissenschaftlicher Welterklärung heranträgt, auch angemessen sind – und nicht zuletzt dies: Ob denn dabei nicht in der Sache völlig Beziehungsloses unbedachterweise in Beziehung gesetzt wird und daraus unvermeidlich der Anschein des Unvereinbaren resultieren muss? »Mythos oder Wahrheit«? – Auf diese ganz und gar schiefe Alternative läuft Dawkins zufolge letztendlich die alles entscheidende Frage hinaus … 19 Das können wohl die kühnsten Mem-Theoretiker nicht annehmen. Sehr schade übrigens, dass eine sachlich und didaktisch zweifellos sehr gelungene Hinführung zu zentralen naturwissenschaftlichen Themen wie Dawkins’ »Bilder-
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Freilich, schon bei seinem theologischen Kollegen J. Macquarrie – der lange Zeit (und zeitgleich mit ihm) an der Universität Oxford tätig war, hätte sich Dawkins über sein falsches Verständnis des Mythos informieren können. Macquarries Kritik trifft jedenfalls das Verkehrte der in Dawkins’ Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« dargelegten Auffassung recht genau: »Der Naturwissenschaftler hält den Mythos in der Tat oft für nichts anderes als den Versuch des primitiven Menschen, Ereignisse zu erklären, deren Ursache er nicht versteht … Außerdem hat sich herausgestellt, dass die Mythen eine Kosmologie voraussetzen, die die Naturwissenschaft schon seit langem überwunden haben … Im Zusammenhang mit dieser Kritik sollten wir jedoch nicht vergessen, dass die Kosmologie der Mythen (oder vielleicht wäre es angemessener zu sagen, die den Mythen zugrunde liegende Kosmographie) keine Theorie des Universums im Sinne der modernen Kosmologie ist. Wenn man die alten Kosmologien modern begreifen würde, würde man ihnen wiederum gedankliche Unterscheidungen unterstellen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffen worden und dem evokativen Charakter der Sprache des Mythos fremd waren. Zweifellos waren darin wissenschaftliche oder quasiwissenschaftliche Momente [!] enthalten, wie sie zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Kulturen anzutreffen sind. Doch es muss festgehalten werden, dass die Himmel und Unterwelten der Mythologie eher numinose als physikalische Regionen sind, die man nicht allzu wörtlich verstehen darf. Wir müssen darauf achten, dass wir innerhalb der noch undifferenzierten Grundform des Mythos nicht vorschnell strenge Unterscheidungen durchführen, die erst in späteren Denkweisen hervortreten.« 20 Ebendies tut Dawkins allerdings fortwährend – und zwar sogar sehr raffiniert, d. h. mit viel strategisch-suggestivem Geschick, indem er den einzelnen Kapiteln seines Buches »Der Zauber der Wirklichkeit …« jeweils zur Belustigung buch« »Der Zauber der Wirklichkeit. Die faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur« sich insgesamt von dieser unsachlichen Polemik leiten lässt. Seine offenkundige Grundbotschaft ist es auch hier (mit besonderem Zuschnitt für jugendliche Leser), dass moderne Naturwissenschaft die zwar mitunter ja ganz lustigen und kuriosen »mythischen« und »religiösen Lehren« endlich überwunden hat; für solche Überredungsstrategien bedient er sich auch hier billiger Klischees, legt fortwährend schiefe Alternativen (z. B. »Wahrheit oder Mythos«, »Wissen oder Glauben« u. Ä.) nahe und setzt offenbar besonders auch auf »Unterstellung« als wirksames Instrument der Mem-Übertragung. 20 Macquarrie 1974, 159.
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»Mythen« vorausschickt, um sodann – nach abgekühltem Spaßbedarf und in gebotener Absetzung von diesen wundersamen Kuriositäten – anhand »echter« Wissenschaft zu erklären, wie es sich denn »in Wahrheit« mit den Dingen verhält … Dass die angeführte Stellungnahme Macquarries direkt auf seinen Oxforder Kollegen Dawkins zutrifft, zeigen wiederum dessen Bilderbuch-Erklärungen in wünschenswerter Deutlichkeit – so, wenn er etwa seine evolutionstheoretische Begründung der Verwandtschaft der Lebewesen im Verweis auf die »Gene, die in allen Tieren, Pflanzen und sogar Bakterien vorkommen. Wir sind alle miteinander verwandt …« sodann mit der enthusiastischen Bemerkung abschließt: »Ist das nicht fantastisch? Und das Schönste: Es ist kein Mythos, sondern wahr« (Zauber 50). 21 Da hilft es übrigens auch gar nichts, dass Dawkins es – am rechten Ort und zur rechten Zeit – selbst als eine »Binsenweisheit« verkündet: »Dass gute Historiker die Aussagen aus früherer Zeit nicht nach den Maßstäben ihrer eigenen Zeit beurteilen dürfen, ist eine Binsenweisheit« (Gotteswahn 370). Trotzdem kann man sie offenbar strikt missachten, wie Dawkins mit seiner völlig ungeschichtlichen Zugangsweise eindringlich vor Augen führt! So bestätigt sich: Dawkins ignoriert den elementaren Sachverhalt, dass im »Mythos« ein mit der modernen Wissenschaft ganz und gar unvergleichbarer Weltzugang bzw. ein Weltverständnis, d. h. eine besondere Weise der Welterfahrung bzw. -wahrnehmung, »zur Sprache kommt«. Deshalb darf Ersterer (und die Rede der »mythologoi«) auch nicht an Letzterer und deren Erklärungsabsichten bzw. Rationalitätsmaßstäben und entsprechenden Begrifflichkeiten bemessen werden, weil in ihnen doch eine ganz andere Form der Weltorientierung und -vergewisserung bestimmend ist; infolgedessen ist aber auch ein schiefes Gegensatzverhältnis zwischen »Mythos oder Wissenschaft« wiederum zu vermeiden, wenn dies dem Selbstverständnis des Mythos (dem freilich jener Gegensatz ganz und gar fremd war und der sich deshalb auch nicht als Alternativ-Wissenschaft verstanden hat) und der Ebenendifferenz zwischen beiden nicht nur überhaupt nicht gerecht zu werden vermag, sondern den Blick darauf vielmehr geradewegs verstellt. 22 Dass diese »Verwandtschaftsverhältnisse«, den Prämissen Dawkins’ zufolge, noch viel weiter reichen, wurde schon erwähnt: s. dazu o. 147 f. 22 Auch in diesem Kontext stellt sich die Frage: Sollte es innerhalb der »Richard Dawkins-Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« bzw. in deren Umfeld wirklich 21
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Auch K. Hübner warnt in ähnlicher Hinsicht, dass wir als moderne Menschen auch »nicht einfach in die Welt zurückschlüpfen« können, »die unsere Erfahrungen nicht kannte« 23. Deshalb sei anzumerken, dass der »Mythos« weder »Welterklärung« im wissenschaftlichen Sinne sein noch eine solche nicht sein wollte – denn eine solche Alternative setzt offenbar selbst genau diejenigen Unterscheidungen bzw. Entgegensetzungen voraus, die dem »Mythos« indes völlig unbekannt waren. Grundsätzlich bleibt in Vermeidung dieser angezeigten Missverständnisse – auch gegenüber unreflektierten »Entmythologisierungs«-Ansprüchen zu beachten (was Dawkins ebenfalls völlig übersieht): »So wie sich Epochen selbst sahen, so waren sie auch wirklich. Wer grundsätzlich nur entmythologisierend die Geschichte betrachtet, verfällt einem Objektivismus, der gewissermaßen alles nur von außen besieht und sich gar nicht bereit findet, ins Innere der Geschichte einzudringen. In gewissem Sinne muss man also an die Götter, Dämonen und Wesenheiten selbst glauben, wenn man die mythischen Quellen überhaupt verstehen will. Natürlich sind … diese Wesenheiten nicht wirklich im Sinne physikalischer Objektivität. Wirklich sind sie aber als einheitsstiftende Instanzen des damaligen Bewusstseins, und diese Wirklichkeit kann ihnen auch nicht genommen werden, wenn sie sich nicht physikalisch verifizieren lassen. Freilich können wir uns andererseits aber nicht mit dem Mythos unmittelbar identifizieren. Die Aufgabe, die gestellt ist, bedeutet, aus der Distanz unseres Horizontes heraus die Wahrheit des Mythos zu rekonstruieren. Verweigert man diese Aufgabe, dann reduziert man das Geschichtsbewusstsein lediglich auf die Objektivität der technischen und der ökonomischen Erfahrungsebene« 24. Die daniemand geben, der den Vorsitzenden dieser Stiftung dazu ermutigt und auffordert, sich elementare geisteswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse – nicht zuletzt über die Eigenart und Auslegung solcher Texte – anzueignen; denn bar jeder Sachkenntnis glaubt ja Dawkins offenbar, diesen Sachthemen durchaus gerecht zu werden. Das Motto der Stiftung »Mehr Vernunft und weniger Glauben« wäre demnach vorrangig vom Stiftungs-Chef selbst zu befolgen. 23 Hübner 1979, 92. 24 Klein 1984, 109 f. Nur nebenbei sei für eine eingehendere philosophische Beschäftigung mit diesen Themen darauf hingewiesen: Für das Verständnis des Mythos und seines Wirklichkeitsverständnisses immer noch in sehr grundlegender Weise erschließend sind die entsprechenden Partien in Schellings »Philosophie der Mythologie«. Schelling wollte gegen ein unaufgeklärtes Mythos-Verständnis nicht zuletzt dies verdeutlichen: »Die Mythologie als Göttergeschichte … konnte sich nur im Leben selbst erzeugen, sie musste etwas Erlebtes und Erfahrenes sein« (SW XI, 125),
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mit benannte Aufgabe ist jedenfalls auch unverzichtbar im Blick auf eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung, zumal diese doch auch die kritische Prüfung jener Interpretations-Maßstäbe voraussetzt, die ihrem »Thema« auch angemessen sind. Andernfalls müssten sie unvermeidlicherweise unverstanden bzw. verfehlt bleiben und wären so den entlarverischen »Spießen und Stangen« Dawkins’ ausgeliefert. Es sollte deutlich geworden sein: Obwohl Dawkins ganz elementare hermeneutische Kenntnisse über den Sinn der Schöpfungstexte vermissen lässt, hindert ihn dies jedoch offensichtlich keineswegs daran, sich dazu umso ungenierter in disqualifizierender Absicht zu äußern – nicht zuletzt auch über die von ihm sogenannte »Paradiesesgeschichte« bzw. über die »Sintflut«-Erzählung. Die von ihm vorgelegte »Auslegung« demonstriert gleichermaßen seine große Phantasiebegabung und seine bestechende bibelwissenschaftliche Unkenntnis, und zwar in der Tat auf »bezaubernde Weise«. Beinahe könnte man den Eindruck gewinnen, dass Dawkins durch eine Art Zensur in seiner »Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« daran gehindert wurde, mit einschlägiger Basis-Literatur zur Bibelhermeneutik auch nur in Berührung zu kommen. Man ist versucht zu fragen: Gibt es etwa in der »clear thinking oasis« auch eine Liste »verbotener Bücher«?
1.2 Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge« im Spiegel traditioneller Schöpfungs-Lehre Dawkins’ Bezugnahmen auf die »Schöpfungs«-Thematik bzw. seine unermüdliche Empörung über »Die Schöpfungslüge« 25 legen es nahe, wenigstens einige grundlegende philosophisch-theologische Aspekte des Themas »Schöpfung und Zeit« zu vergegenwärtigen bzw. für die Leser zu thematisieren, zumal sich die von ihm bevorzugte Polemik gegen die Sinn- und Nutzlosigkeit von Theologie und Philosophie auch darüber einfachhin hinwegsetzt. In dieser neueren Publikation (mit dem ganz irreführenden Titel »Die Schöpfungslüge«) rüstet sich »[w]eil die Mythologie nicht ein künstlich, sondern ein natürlich, ja […] mit Notwendigkeit Entstandenes ist« (ebd.). Es ist hier nicht der Ort, diese Thematik näher zu verfolgen. 25 So der Titel eines jüngeren Dawkins-Buches, der sich offenbar wiederum besonderen Mem-Rücksichten und besonderen Aspekten des »survival of the fittest« verdankt.
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Dawkins erneut für den schonungslosen Kampf gegen die »Geschichtsleugner« – das sind ihm zufolge jene die Evolutionstheorie ablehnenden wissenschaftsfremden Menschen, die »glauben, dass wir – und demnach auch alle anderen Lebewesen – innerhalb der letzten 10000 Jahre von Gott erschaffen wurden.« Es ist seltsam, dass genau darauf auch die erklärte Stoßrichtung dieses Buches abzielt und dieser so energisch bekämpften Ansicht offenbar ebenso der suggestiv-entschiedene Titel »Die Schöpfungslüge« geschuldet ist. Diese »Geschichtsleugner« werden sodann von Dawkins als »Kreationisten« bezeichnet: »Sie glauben, alle Lebewesen seien vor 6000 Jahren innerhalb einer einzigen Woche ins Dasein getreten.« 26 Wer eine solche abstruse Auffassung als »Schöpfung« ansieht, kann natürlich leicht gegen »Schöpfungslügen« auftreten – nur sollte dann bewusst bleiben und auch eigens darauf hingewiesen werden, dass sich dieses Buch »Die Schöpfungslüge« offenbar gegen Positionen richtet, die von theologischen und kirchlichen Vertretern bzw. Repräsentanten des Christentums (das Dawkins ja angeblich am genauesten kennt) ohnedies nicht vertreten wird. Indes, Buchtitel werden bekanntlich nicht selten eher nach streng »Mem-strategischen« Gesichtspunkten gewählt, d. h., sie verdanken sich häufig weniger dem tatsächlichen Inhalt eines Buches, sondern spiegeln eher andere, an besonderen »Überlebensvorteilen« ausgerichtete – die Erbarmungslosigkeit der Evolution selbst nachahmende – Kalküle des schlauen Tieres Mensch und seiner Anpassungsfähigkeit wider. Auch dieser gewählte Buchtitel »Die Schöpfungslüge« stellt jedenfalls eine glatte Irreführung der potenziellen Leser (und Käufer) dar. 27 Es wäre jedenfalls eine Lüge zu sagen, dass in Dawkins’ Buch »Die Schöpfungslüge« von »Schöpfung« die Rede ist – dies ist jedoch schon der einzig mögliche Bezug zum tatsächlichen Inhalt des Buches, dessen suggestiver Titel freilich Erwartungen zum Thema »Schöpfung« weckt; auch ist in diesem Buch nicht nur nirgendwo vom Problem der »Schöpfung« die Rede – im Gegenteil: Es zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass es alle einschläSo lautet die von Dawkins in zahlreichen Interviews geäußerte Charakterisierung des »Kreationismus«, dem er seinen Vorwurf einer »Schöpfungslüge« unbeirrt entgegenschleudert. 27 Womöglich handelt es sich jedoch um eine Mem-infizierte »Wahnvorstellung«, die ihn zu seinem heroischen Kampf gegen »Geschichtsleugner« verführt und so wiederum Assoziationen zu den heroischen Ausritten und Kämpfen jenes berühmten »Ritters von der traurigen Gestalt« weckt. 26
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gigen theologischen und philosophischen Erörterungen dieses Themenfeldes mit beeindruckender Beharrlichkeit ignoriert und auf einer schlichten Verwechslung bzw. Einebnung des Unterschiedes zwischen einer biologischen »Theorie der Evolution« und »Schöpfungstheologie« beruht. 28 Das Buch stellt vielmehr elementare Aspekte und Einsichten der Darwin’schen Evolutionstheorie sowie deren Weiterentwicklung dar, enthält überdies gewiss interessante Erläuterungen zu benachbarten naturwissenschaftlichen Disziplinen und vermittelt – auch didaktisch wiederum sehr geschickt aufbereitet – einer naturwissenschaftlich interessierten Leserschaft zweifellos eine Menge von Informationen. Indes: Nichts davon könnte jedoch diesen Titel auch nur irgendwie rechtfertigen. Immerhin anerkennt Dawkins nunmehr sogar selbst: »Aber alle nachdenklichen, rationalen Kirchenmänner und -frauen erkennen die Belege für die Evolution an – manche vielleicht ungern, andere voller Begeisterung« (Schöpfungslüge 15). In der Tat wird ja kaum jemand vernünftigerweise »Schöpfung« in Gegensatz zu der Auffassung bringen, dass »Evolution … nicht nur faktisch ein allmählicher Prozess« sei, sondern »auch allmählich ablaufen« müsse, »wenn man mit ihr irgendetwas erklären will«; warum dies nach Dawkins die Ablehnung einer »göttlichen Schöpfung« nach sich ziehen soll (ebd.), bleibt uneinsichtig. Auch diese jüngsten Publikationen »Die Schöpfungslüge« und »Der Zauber der Wirklichkeit« machen es besonders deutlich, dass Dawkins’ einschlägige Entlarvungen religiöser Vorstellungen doch recht platte Alternativen voraussetzt, die beispielsweise schon Leibniz sehr eindrucksvoll zurückgewiesen hat 29 – und zwar mit Beispielen, die sich auch direkt auf Dawkins beziehen lassen.
Es wurde schon erwähnt, dass sich dieses Buch mit seinem verheißungsvollen Titel im Grunde nur an die unbelehrbaren fundamentalistischen kreationistischen Kreise richtet; dies rechtfertigt freilich kaum diesen Titel des Buches, zumal es überhaupt keine Auseinandersetzung mit ernsthaften philosophischen und theologischen Positionen zur Schöpfungsthematik enthält. Kurzum, es ist eine glatte Irreführung der Leser (und vor allem auch der vermutlich »erwartungsvollen« Käufer …). 29 Sehr aufschlussreich ist allerdings Leibnizens – unüberhörbar vorsichtige – Anmerkung (im § 6 seiner Schrift »Protogaea«): »Manche gehen so weit, dass sie glauben, es seien einst, als der Ozean alles bedeckte, die Tiere, die heute das Land bewohnen, Wassertiere gewesen, dann seien sie mit dem Zurückgehen dieses Elements allmählich Amphibien geworden und hätten sich schließlich in ihrer Nachkommenschaft ihrer ursprünglichen Heimat entwöhnt. Doch solches widerspricht den heiligen Schriftstellern« (zit. n. Poser 2013, 64). 28
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
1.2.1 Zu einigen traditionellen schöpfungstheologischen Motiven und daran geknüpfte Unterscheidungen So setzt er sich auch völlig unbekümmert über den elementaren Sachverhalt hinweg, dass ja auch eine sich selbst verstehende Evolutionstheorie eben nicht »Schöpfung« im eigentlichen Sinne zum Gegenstand hat, sofern deren Wirklichkeit von jeder kosmologischen bzw. evolutionären Welterklärung schon vorausgesetzt werden muss und sich Letztere deshalb vielmehr auf Vorgänge bzw. Prozesse »innerhalb der Schöpfung« selbst bezieht: Thema der Evolutionstheorie sind die elementaren Entwicklungen und mannigfaltigen Abhängigkeiten des faktisch-kontingent innerweltlich Gegebenen innerhalb der durchgehend unter Naturgesetzen stehenden Schöpfungswirklichkeit selbst, 30 während »Schöpfung« selbst hingegen kein »innerzeitlicher Vorgang« ist und folglich auch nicht kosmologisch datierbar bzw. messbar sein kann. Dawkins’ polemische Abrechnung mit schöpfungstheologischen Ansprüchen verschließt sich auch in dieser Akzentuierung der elementaren Einsicht, dass deshalb die Schöpfungs-Idee selbst keine naturwissenschaftliche Kategorie darstellt und schöpfungstheologische Aussagen also auch nicht als ein kosmo-
Zu Recht betont Ch. Asmuth – in der Sache freilich auch gegen Dawkins – zu der hier auftretenden Asymmetrie: »Die Situation ist asymmetrisch. Die Evolutionstheorie behauptet nur, ein gutes Modell gefunden zu haben für die Entwicklung des Lebens und der Organismen. Es stimmt mit einer großen Zahl von Beobachtungen überein, bietet einen weitreichenden Erklärungsansatz und verzichtet dabei auf übernatürliche Ursachen. Sie lässt einfach offen, ob man für den ganzen Prozess oder dessen Teile noch zusätzlich an die Lenkung, Zustimmung, den Willen oder die Kenntnis durch einen transzendenten Gott glauben möchte oder nicht. Der Kreationismus hält diese wissenschaftstheoretische Bescheidenheit für unzulänglich. Er mag sich mit der Rolle einer bloßen Glaubensrichtung nicht begnügen. Dabei unterläuft er den Modellcharakter der wissenschaftlichen Hypothesen- und Theoriebildung und schließt aus den Lücken in Beobachtung und Erklärung auf einen übernatürlichen Einfluss. Damit ist allerdings genau das nicht erreicht, was sich die Vertreter des Kreationismus wünschen, nämlich eine wissenschaftliche Theorie der Schöpfung. Es ist vielmehr das Gegenteil eingetreten: Der intelligente Designer macht die Theorie wissenschaftlich wertlos: Er ist nicht fassbar, eigenschaftslos, eben transzendent, eine wissenschaftliche Nullstelle. Sein Wirken kann kausal nicht erklärt werden. In der faktischen empirischen Arbeit löst die Annahme eines intelligenten Designers kein Problem. Seine Existenz ist nicht überprüfbar. Mit einem Wort: Für eine wissenschaftliche Theorie ist das der Todesstoß. Und selbst Gott wird, wenn man denn an einer Theologie festhalten möchte, depotenziert zu einem bloßen Lückenbüßer« (Ch. Asmuth in seiner Einleitung zu Asmuth/Poser 2007, 10 f.).
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logisch relevanter Erklärungsanspruch missverstanden werden dürfen. So selbstverständlich und folglich nicht weiter erwähnenswert dies inzwischen vermeintlich sein mag, so wenig nimmt Dawkins indes auch in seinen jüngeren Schriften diesen schlichten Sachverhalt zur Kenntnis – naheliegende Vermutungen über die dafür maßgebenden Gründe wurden schon genannt. In der Tat assoziiert bzw. suggeriert Dawkins – ganz gemäß seiner schon erwähnten Ablehnung von NOMA (s. o. II., 1.2) – mit der »Schöpfungs-Idee« eine damit beanspruchte Welterklärung im Sinne der empirischen Kausalverhältnisse und gerät damit bezeichnenderweise unweigerlich auf die doch ein wenig seltsame Vorstellung eines »Entstehens« derselben vor der Zeit: Lässt er doch, dem gängigen – in seiner soziokulturellen Bedingtheit zu durchschauenden – »UrknallModell« zufolge, 31 diese Schöpfung mit dem selbst »innerzeitlich« Zur Entstehung und Besonderheit des »Urknall-Modells«, den leitenden Gesichtspunkten des Dominant-Werdens desselben und den diesbezüglichen binnen-»kosmologischen« Kontroversen in der Forschergemeinschaft der Physiker und Kosmologen vgl. auch Pietschmann/Schwarz 2013. Diesem umstrittenen Urknall-Thema hat Dawkins in seinem Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« (162 ff.) einen ganzen Abschnitt gewidmet; dieser Umstand hätte es wohl erwarten lassen, dass er den – auch unter namhaften Kosmologen sehr umstrittenen – besonderen Modell-Charakter und seine Voraussetzungen bzw. Schwierigkeiten wenigstens einigermaßen erläutert; stattdessen begnügt er sich mit der lapidaren Bemerkung: »Nach dem Urknallmodell … entstand das Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt durch eine eigenartige Explosion. Voraussagen auf Grundlage des Urknallmodells erweisen sich immer wieder als richtig; deshalb ist es heute in der Wissenschaft allgemein anerkannt« (s. dazu nächste Anm.). Dawkins möchte sich jedenfalls »auf das beobachtbare Universum« konzentrieren, »und das hatte seinen Ursprung anscheinend in einem Urknall. Dieses bemerkenswerte Ereignis fand vor knapp 14 Milliarden Jahren statt. Manche Wissenschaftler erklären, auch die Zeit habe mit dem Urknall begonnen und deshalb sollten wir nicht fragen, was vor dem Urknall geschah – genau wie wir nicht fragen, was nördlicher ist als der Nordpol. Aber die Beweise für den Urknall und für den Zeitpunkt, wann er stattfand kann ich einigermaßen nachvollziehen« (Zauber 163). Das ist ja ohnedies viel mehr, als man zu erhoffen wagte – denn dies hätte ja auch eine Antwort darauf erwarten lassen, wo und wann sich denn dieses »bemerkenswerte Ereignis« »zu einem bestimmten Zeitpunkt« als »eigenartige Explosion« abgespielt haben soll, zumal Raum und Zeit ja doch erst durch den Urknall entstanden sein sollen. Und wo sich »etwas« ereignet, gibt es offenbar ja schon etwas, das sich da »ereignet«? Dann war also der »Augenblick des Urknalls« selbst schon in der Zeit? Diese schlichten Fragen drängen sich zunächst auf; und erfreulicherweise ist ganz so unverständlich diese Angelegenheit für Dawkins offenbar doch nicht geblieben, wenn er sogleich feststellt: »Daher wissen wir, dass das Ereignis ungefähr vor 13 bis 14 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Das war der Augenblick, in dem das Universum anfing – der Augenblick des Urknalls. Nach den heutigen Modellen nahm damit nicht nur das
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
angesetzten »Urknall« entstehen, der dann freilich selbst schon zur »Schöpfung« gehört – und zugleich gehört er doch nicht dazu, weil diese ja daraus erst abgeleitet werden soll! –, zumal, so Dawkins, dem »Standardmodell unseres Universums« zufolge »vor 13 Milliarden Jahren mit dem Urknall nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit« entstanden sei: 32 »Das Modell der aufeinander folgenden [!] großen Zusammenbrüche würde diese Vorstellung erweitern: Unser Raum und unsere Zeit begannen [!] tatsächlich mit dem Urknall, aber der war nur der bislang letzte in einer langen Reihe von Urknallen, die jeweils nach dem Ende [!] des vorherigen [!] Universums durch einen ›Big Crunch‹ in Gang gesetzt wurden« (Gotteswahn 205). 33 Dass dabei »Raum und Zeit« jeweils stets schon vorausgesetzt sind und zugleich doch wiederum daraus erst »entstanden« sein sollen, ist dabei nicht weiter störend: Dann wäre also die Zeit selbst »innerhalb« der Zeit »entstanden«, und solches reales »Entstehen« gehörte also selbst schon zur »Schöpfungs«-Wirklichkeit, die dadurch aber doch erst »entstehen« soll? »Etwas« entsteht (»generiert«) aus »etwas« anderem, d. i. aus schon »Vorhandenem«, bzw. dieses entwickelt sich, worauf sich ebendie naturwissenschaftliche Erklärung dieser »Genese« bezieht – aber das ist doch nicht »Schöpfung«, auf die sich (und nicht auf jene »genetischen Prozesse«) die theologische Kategorie der »Schöpfung« bezieht! »Schöpfung« ist nicht Entstehen, zumal dies doch immer schon »etwas« voraussetzt bzw. daraus kausal abgeleitet
Universum selbst seinen Anfang, sondern auch Raum und Zeit. Erklären kann ich das nicht – ich bin kein Kosmologe und verstehe es selbst nicht« (Zauber 178). Kein Wunder – müsste Dawkins so doch auch dies erklären, dass – wo und wann – dieses »Ereignis« – ein Ereignis ohne etwas, das sich ereignet – stattgefunden hat, wenn doch Raum und Zeit erst daraus »begonnen« haben sollen, und somit auch die Zeit in der Zeit »begonnen« haben soll … 32 Dass dieses von Dawkins sogenannte »Standard-Modell unseres Universums« eine der – als physikalisch denkbar – erwogenen Möglichkeiten bzw. Modelle darstellt, das auch mit ganz anderen kosmologischen Modellen seitens der Physik und Kosmologie konfrontiert wurde, findet bei Dawkins nicht einmal Erwähnung (vgl. dazu Pietschmann/Schwarz 2013, 45–55). 33 Denselben Fehler – lediglich mit umgekehrten Vorzeichen – begeht wohl J. Lennox, wenn er behauptet: »Die Entdeckung der kosmischen Rotverschiebung und das kosmische Echo der Schöpfung, die Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, bestätigen die Aussage des biblischen Berichts – es gab einen Beginn der Raum-Zeit. […] Ironischerweise wird eben jenes Urknall-Modell des Universums, das die biblische Lehre von einem Anfang bestätigt, heute von einigen Wissenschaftlern benutzt, um Gott zu verbannen« (Lennox 2013, 37 f.).
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wird. Evolutionstheorie fragt eben, warum das, was ist, so und nicht anders geworden ist – und wie dieses »Woher« zu erklären ist. 34 Daraus folgt: Wer in einer naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnisperspektive nach dem »Anfang« (in »initio«) sucht, fragt nach einem »Woher« und einer Veränderung dessen, was real existiert. Der »schöpferische Ursprung« selbst kann hingegen nicht selbst »zeitlich« gedacht werden, weil das »in principio« nicht selbst als zeitliches Anfangen (»in initio«) missverstanden (d. h. buchstäblich »vorgestellt«) werden darf. Deshalb kann die Evolution eines schon »Gegebenen« nicht als »Schöpfung« verstanden werden, weil dies die »Schöpfungsfrage« geradewegs verkehren, d. h. zu einem selbst – welthaften – »innerzeitlichen« Geschehen machen müsste. Genau dieses Missverständnis begegnet in Dawkins’ – paradoxerweise auf eine »Zeit vor der Zeit« abzielender – Frage, »wie alt das Universum ist: Wann [!] hat alles angefangen?« (Zauber 157) und lässt ihn so – nach empörter Abkehr von (den gewiss »spaßigen«) Unsinnigkeiten der »Mythen« – nunmehr danach fragen, »was wir über die wirklichen Anfänge des Universums wissen« (Zauber 161): Es ist dies offenbar die Frage nach dem »Start« eines Geschehensablaufes innerhalb eines selbst schon »realen« zeitlichen Geschehens, weil anders die Frage »wann [!] alles angefangen hat«, völlig sinnlos wäre. Schon deshalb, weil »Zeit« eben allein als die prozessuale »Zeitigung« der Wirklichkeit selbst real ist, ist »Schöpfung« – allen »zeitlichen« Entfaltungen »voraus«liegend – nicht selbst als ein »innerzeitlicher« Vorgang, als ein »zeitliches Geschehen«, vorzustellen; genau dies geschieht aber in jener erstaunlich unbekümmerten Dawkins’schen Frage: »Wann hat alles angefangen?« Vielmehr ist »Zeit« allein real als das »Sich-Zeitigen« des inner-kosmischen prozesshaften Entwicklungs-Geschehens, als die frei-gesetzte und so sich selbst »auszeitigende« geschöpfliche »Verwirklichung« – und zwar in dem Sinne, Diese Verwechslung zeigt sich auch, wenn Henkel Dawkins’ Argumentation verteidigt, »die Gotteshypothese [sei] mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit falsch, weil sie überflüssig gemacht wird von Darwins bahnbrechenden Einsichten in die Prinzipien der Evolution, weil ein Schöpfergott noch komplexer sein müsse als seine Schöpfung« (Henkel 2012, 181). Denn: »Die Gotteshypothese als Erklärung von und für Mensch, Natur und Universum wird nicht mehr gebraucht, sondern abgelöst [!] durch die Evolutionstheorie«, zumal doch diese »weitaus plausiblere, überprüfbare, auf Erfahrung gestützte und mit der Logik vereinbare Antworten auf die Frage nach Ursachen und [!] Ursprüngen« biete (Henkel 2012, 202). Die letztgenannte Unterscheidung bleibt freilich unerörtert.
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dass das in sein »Eigen-Sein« Frei-Gesetzte, als zu »Eigenstand« und -»wirksamkeit« ermächtigt und in selbständiger Evolution nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten dieser Mechanismen, sich in geschöpflich-kontingenter Abhängigkeit entwickelt. 35 Ohne bzw. vor dieser »Bewegung«, als deren »Maß« die Zeit verstanden wurde, worin Lebendiges sich »zeitigt«, gibt es also auch keine Zeit, wenn dies doch seltsamerweise eine »Zeit« wäre ohne etwas, das sich »zeitigend« verwirklicht – so wie eine »Dauer« ohne »Dauerndes« –, eine irrige Vorstellung, die durch jenes »Behälter-Modell« der Zeit jedoch unweigerlich begünstigt wird. So zeigt sich: Dawkins ignoriert beharrlich die Einsicht, dass »sich der Schöpfungsglaube … nicht auf das Ingangsetzen einer innerweltlichen Abfolge von Ereignissen« bezieht, »sondern auf eine ›Gründungsrelation trans-temporaler Art‹, nämlich auf die Annahme, dass alle Wirklichkeit ihren bleibenden Grund in Gott hat« 36. In ähnlichem Sinne distanzierte beispielsweise auch der katholische Philosoph R. Spaemann immer wieder das Missverständnis von »Schöpfung« als ein »Anfangsereignis innerhalb der irdischen Wirklichkeit, ein Ereignis, auf das wir vielleicht irgendwann bei unseren Forschungen stoßen werden« 37. Bekanntlich kommt die Einmaligkeit und d. h.
Darauf zielt die theologische Auskunft: »Schöpfung ist ein ›transzendentaler‹ Begriff, während es sich bei ›Evolution‹ um einen ›kategorialen‹ Begriff handelt […] ›Der Begriff der Evolution‹ geht nicht auf den Ursprung des Seins, sondern auf seine Veränderungen; er will nicht das metaphysische ›Warum‹ der Dinge erklären, sondern das raum-zeitliche ›Woher‹. Es kann also, wenn die Wissenschaften nicht ihre methodischen Grenzen überschreiten, keinerlei Widerspruch zwischen beidem auftreten« (Scheffczyk 1975, 17). – Dawkins’ Vorwurf einer »Schöpfungslüge« ignoriert völlig den theologischerseits betonten Sachverhalt, »dass der Schöpfungsbegriff kein naturwissenschaftlicher, sondern ein theologischer und damit auch religiöser und religiös relevanter Begriff ist«: »Im theologischen Schöpfungsbegriff geht es nicht um religiöse Imaginationen, sondern um das Erfassen und Namhaftmachen einer objektiven Bewandtnis, wenngleich in religiöser Denkform. Die Feststellung, dass der Aussagegehalt des Schöpfungsbegriffs kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung sein könne, beeinträchtigt seinen Realitätscharakter keineswegs, sowenig wie der Umstand, dass der Schöpfungsakt zeitlich nicht terminierbar ist« (Seckler 2008, 311 f.). 36 So Honnefelder (2011, 62) in Kolmer 2011. 37 Spaemann 2007b, 120. Daraus erklärt sich natürlich auch: »Das Wort ›Ursache‹ hat nicht die gleiche, sondern nur eine analoge Bedeutung, wenn wir es auf innerweltliche Antecedensbedingungen und wenn wir es auf Gott beziehen« (ebd.). Für solche einfache Differenzierungen hat Dawkins’ Rekurs auf »Ursache« und »Grund« – nicht einmal von »zureichendem Grund« ist die Rede – freilich keinen Platz. 35
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Unvergleichbarkeit des »Schöpfungsaktes« (der eben gerade kein zeitlicher »Akt« ist), der deshalb alle sich aufdrängenden – schiefen – Anschauungs-nahen Vorstellungen eines »Herstellungs-Ähnlichen« ex negativo abwehren will, auch in dem schon berührten Sachverhalt zum Ausdruck, dass im biblischen Schöpfungstext das – eben auf diese Unvergleichlichkeit abzielende – hebräische Wort »bara« verwendet wird. 38 Die besondere theologische Herausforderung bestand eben nicht nur darin, das Missverständnis der Schöpfung als eines selbst innerzeitlichen Geschehens (eines Geschehensablaufs in der Zeit) zu vermeiden, sondern überdies die zeitliche »Anfangslosigkeit der Welt« auch damit in Einklang zu bringen, dass diese Schöpfung nicht aus einer »blindwirkenden Ursache« hervorgeht, sondern ihre Wirklichkeit einem frei gewollten »Schöpfungsakt« des – von der Welt unabhängigen – Gottes verdankt, der dazu durch nichts genötigt ist. 39 Diese von Dawkins offenbar bevorzugten Vorstellungen spiegeln unübersehbar allesamt die in den klassischen philosophischtheologischen Konzeptionen bewusst gewordenen »Raum«- und »Zeitaporien«. Diese einschlägigen »Sackgassen des Denkens« machen nicht zuletzt auch dies bewusst: Das, was ein »Nacheinander« erst ermöglicht (d. i. »Zeit«), kann nicht selbst ein Resultat dieses »Nacheinander« sein – ebendies legt allerdings Dawkins’ Vorstellungswelt bezüglich der »Schöpfung« nahe. Schon Platon und Aristoteles wussten jedenfalls auch darum, dass, der gängigen Redensart zum Trotz, natürlich »die Zeit nicht vergeht« und eben auch nicht Sehr zu Recht merkt der katholische Theologe H. Kessler deshalb an: »Beim Gebrauch des Ausdrucks ›Schöpfer‹ veranlasst die Bibel freilich zu größter Vorsicht. Sie kann zwar Wörter für menschliches Schaffen (›machen‹, ›formen‹) auf Gott übertragen. Dort aber, wo sie ganz sorgfältig und reflektiert spricht, führt sie ein neues Wort ein, das es sonst gar nicht gibt: ›bara‹ (Gen 1,1 und ff). Dieser Sachverhalt wird kaum je in seiner ganzen Abgründigkeit bedacht. Während wir nämlich die Wörter ›schaffen, Schöpfer, kreativ‹ von allen möglichen Größen aussagen können, wird das biblische ›bara‹ (das wir meist mit ›schuf‹ übersetzen) … allein von Gott ausgesagt« – weil es eben auf etwas nicht Vergleichbares verweise (Kessler 2009, 177). 39 Weil Dawkins sich mitunter – natürlich stets in Ideologie-kritischer Absicht – über die patriarchalischen Gottesvorstellungen mokiert, darf hier auch darauf hingewiesen werden, dass einerseits »mütterliche« Kennzeichnungen auch im Alten Testament nicht fehlen (vgl. Jes 49,15; 66,13); vermieden werden sollte jedenfalls die mit dem Monotheismus unvereinbare Vorstellung, dass die Gottheit gleichsam wie aus einem fruchtbaren Mutterschoß die Schöpfung »gebiert« – eine Vorstellung, die die absolute Differenz Gottes von der Welt negieren würde. 38
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
»entsteht« – weil »Zeit« als Bedingung von allem Entstehen und Vergehen nicht selbst wiederum entstehen und vergehen kann. Deshalb kann man sich »Zeit« nicht »vorstellen«, denn als »Vorgestelltes« ist es selbst immer schon ein Gegen-Stand in der Zeit. »Was ist Zeit? – wenn mich niemand frägt, weiß ich es, aber wenn mich jemand frägt …« (Augustinus). Noch ein paar weitere Anmerkungen dazu im Blick auf traditionelle Fragestellungen. Gegenüber kurzschlüssigen Auffassungen der genannten Art wurden bekanntlich in der traditionellen christlichen Schöpfungstheologie »Schöpfung und Zeit« stets »gleichursprünglich« verstanden, weil andernfalls irreführende Vorstellungen – nicht zuletzt eben diejenige einer »vor der Zeit entstandenen (!) Zeit« – in der Tat unvermeidlich wären und somit auch diejenige, dass »Schöpfung« selbst als ein Vorgang in der Zeit anzusehen sei. Überwunden ist damit aber auch die schiefe Vorstellung einer gleichsam noch »leeren«, der »Schöpfung« vorausliegenden »Zeit«, in die »hinein« (wie in einen quasi-leeren, erst zu füllenden »Behälter«) dann gewissermaßen erst »Schöpfung geschehe«, d. h. Welt gleichsam »eingesetzt« wird; nicht zuletzt gegen alle einschlägigen »technomorphen Vorstellungen« ist auch das theologische Motiv einer »Schöpfung aus dem Nichts« – wenigstens in dem negativen Sinne einer Abwehr von Missverständnissen – gerichtet. Dass Dawkins’ »Gottes-Wahn« diese Sachzusammenhänge völlig verfehlt (und ebendies weitreichende Konsequenzen hat), wird nicht nur aus seinen reichlich banalen und irreführenden – bezeichnenderweise »technomorphe« Missverständnisse bedienenden – Kran-Beispielen ersichtlich. In ähnlicher Weise gilt dies auch für seine auch in dieser Hinsicht völlig unangemessene Interpretation der »Gottesbeweise«: So etwa auch, wenn er den »Gottesbeweisen« des Thomas von Aquin ohne Zögern, ganz gegen dessen Auffassung, eine solche Vorstellung einer »Zeit vor der Zeit« unterschiebt bzw. »Schöpfung«, in einer ganz und gar schiefen technomorphen Vorstellung, als ein seltsames »Kran-Geschehen« auffasst. 40 Auch dies darf als ein eindrucksvoller Beleg dafür gelten, dass Dawkins dieses zentrale Motiv des theologischen »Schöpfungsgedankens« (und die drohende Aporie einer »Zeit vor der Zeit«) ignoriert bzw. verkennt und deshalb, beeindruckend phantasiereich, dem sogenannten »kosmoloS. dazu auch Dawkins’ »Erörterung« des »Kontingenz-Beweises« bei Thomas v. Aquin (u. III., 2.2).
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gischen Gottesbeweis« bei Thomas v. Aquin die – genau jenes »Behälter-Modell der Zeit« voraussetzende – Auffassung unterstellen kann: »Es muss eine Zeit gegeben haben, in der keine physikalischen Objekte existierten. Da heute aber physikalische Gegenstände vorhanden sind, muss irgendetwas Nichtphysikalisches sie ins Dasein gebracht haben, und dieses Etwas nennen wir Gott« (Gotteswahn 109). Auch eine solche Interpretation macht Dawkins’ Blindheit für den theologischen Sinn jener Unterscheidung »in principio« und »in initio« besonders deutlich. Daraus mag aber auch verständlich werden, weshalb schon die (von Dawkins geteilte) schiefe Alternative, entweder Schöpfung oder (zeitliche) Anfangslosigkeit der Welt, von der christlichen Tradition als ebenso haltlos verworfen wurde (Letztere also als nicht unvereinbar mit dem Schöpfungsglauben angesehen wurde) wie die nicht weniger unsinnige Vorstellung einer Ewigkeit als unendlicher »zeitlicher Dauer« (und nicht als »Aufhebung« der Dauer als »zeitlicher Erstreckung«) 41. Freilich widerspricht solche Einsicht all den von Dawkins aufgebotenen schiefen Bildern von Kran und Gestalter und fällt unvermeidlich seiner Phantasiebegabung bzw. seinem Spottbedarf zum Opfer. 42 »Gott« ist demgegenüber bei Thomas v. Aquin gedacht als der zeitlose Grund (»principium«) alles Zeitlichen, der als zu »Selbsttätigkeit« frei-setzender Grund eben zugleich Erhalter der Schöpfung ist; darauf zielt vermutlich auch das theologische Grundmotiv der »fortgesetzten Schöpfung« (»creatio continua«) ab, das ebenso bezüglich des Evolutionsgedankens durchaus von Interesse ist. Auch dies verdeutlicht noch einmal, dass »Schöpfung« und »Evolution« nicht gleichgesetzt werden dürfen: »Schöpfung« ist VorausSetzung für »schöpferisch-emergierende« Evolution und darf somit nicht auf einer Ebene mit dieser »Ursprünglichkeit« angesiedelt werden. Deshalb wurde im tradionellen theologischen »Schöpfungs«-GeDass dies Dawkins’ Verständnis von »Ewigkeit« ist, d. h. »dass es immer so weiter und weiter geht«, hat er auch in Interviews (z. B. mit dem »Croatian Center for Civil Courage«) bestätigt; dass er sich vor einer solchen »Ewigkeit« fürchtet, ist in der Tat nur zu verständlich (s. die Homepage der Dawkins-Stiftung) – gerne fürchtet man sich da solidarisch mit. Wiederum erstaunt die Unbekümmertheit, mit der er sich einfach über philosophisch-theologische Erörterungen des Verhältnisses von »Zeit und Ewigkeit« hinwegsetzt. 42 »Die Schöpfungslüge – warum Darwin recht hat«: Wie gesagt, schon diese Formulierung ist völlig irreführend, setzt es doch Alternativen voraus, die niemand vertritt außer evangelikal-fundamentalistische Kreise – ein umso leidenschaftlicher und erfolgreicher geführter Kampf gegen Windmühlen. 41
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
danken stets eine korrelative Einheit von zwei Momenten gedacht: Eben nicht ein bloßes »Gestalten« eines schon vorausliegenden Substrats, sondern ein ursprüngliches »Ins-Dasein-Gerufen-sein« und ein darin zu Selbst-Ständigkeit (d. i. selbständig-eigentätiger und eigengesetzlicher Wirklichkeit) freigesetztes, ermächtigtes »Sein-lassen«, während von jener Gründungsrelation her »Erschaffung und Erhaltung« hingegen in eins gedacht werden müssen. Auch Dawkins’ Kennzeichnung des »Theismus« – »[d]er Theismus behauptet, dass jeder existierende Gegenstand durch eine Substanz in seiner Existenz verursacht und erhalten wird, nämlich Gott. Und er behauptet, dass jede Eigenschaft eines jeden Gegenstandes von Gott verursacht oder zugelassen wird« (Gotteswahn 110) – verfehlt den kritischen Sinngehalt dieser »Schöpfungs-Relation« einfach schon deshalb, weil darin gedacht ist, dass der »Schöpfergott« als schöpferisch-zeitloser Ursprung – eben »principium«, nicht: »initium« – nicht selbst Teil derselben ist und infolgedessen natürlich auch nicht selbst wiederum in einem anderen begründet oder aus dem Bereich des »in der Welt selbst Gewordenen« her verstanden werden kann – und sei es auch (um eine Lieblings-Vorstellung Dawkins’ und seines »Komplex-Denkens« anzuführen: s. u. III., 2.2) als irgendwie Kran-haft verstandenes »Etwas«. »Schöpfung« meint den absoluten, »überzeitlichen« Ursprung – d. h., ihr liegt nichts als erst zu »informierender Stoff« voraus, auch wird nicht ein schon »Vorgegebenes« durch Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse in höhere Stufen tranformiert; darauf weist jedenfalls die traditionelle Unterscheidung zwischen »creatio« und »generatio« bzw. »mutatio« hin (s. u. III., 1.3.2). Gegen eine weit verbreitete Auffassung, der zufolge das Dasein der Welt nicht als Schöpfung, sondern eben aus der Realität und Gültigkeit der »Naturgesetze« erklärbar bzw. zu verstehen sei, sei noch auf den schon wiederholt berührten Sachverhalt hingewiesen, dass dies ganz einfach deshalb haltlos ist, weil die für die realen »Weltphänomene« lückenlos gültigen Naturgesetze jedoch nicht die Wirklichkeit der Welt selbst erklären. Damit ist gesagt: Die »Naturgesetze« erklären das »dass« der »Schöpfung« als das »Dasein einer Welt, oder der Dinge in ihr« 43 schon deshalb nicht, weil sie ebendiese »Weltphänomene« als dasjenige schon voraussetzen, wofür sie doch allein gelten: ebendas »Dass« der Wirklichkeit selbst – andernfalls 43
Kant V 576, Anm.
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gäbe es »Naturgesetze« »in« der Welt, ohne das Dasein dessen, wofür sie bestimmend sind. Folglich ist auch »Schöpfung« selbst nicht aus den »Naturgesetzen« erklärbar – weshalb Kants Bemerkung auch in umgekehrtem Richtungssinn zu lesen ist, dass dort, wo »aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da … auch alle Erklärung auf [hört]«. Diese in vielerlei Hinsicht wichtige Erklärung Kants impliziert jedenfalls auch dies, dass diese die »Naturphänomene« bestimmenden bzw. erklärenden »Naturgesetze« selbst nicht ihrerseits »Naturhaftes« (und somit »Produkt der Evolution«) sind, das in seiner Faktizität und Entwicklung eben durch diese »naturgesetzlichen« Strukturen erklärt werden soll. Wohl auch in diesem Sinne lässt sich Wittgensteins Feststellung verstehen: »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« 44 Damit ist möglicherweise aber nicht nur gesagt, dass die den Phänomenen der Natur zugrunde liegenden »Naturgesetze« in ihrer Kontingenz nicht selbst »Teil« dieser »Naturerscheinungen« sind; ebenso wären aus der faktischen Geltung dieser »Naturgesetze« indes auch ganz andere »Naturerscheinungen« denkbar, weshalb das faktische »Dass« derselben daraus nicht ableitbar ist. Bemerkenswert ist diesbezüglich auch dies: In der Sendung »Sternstunde Religion« bezeichnete Dawkins die an ihn gerichtete Frage, »warum der Kosmos existiere«, verständlicherweise als eine sehr »schwierige Frage«, für die er sich selbst allerdings auch nicht kompetent fühle und sie deshalb an die »Kollegen von der Kosmologie« weiterreichen möchte. Dass wohl auch sie – eben im Sine der angeführten Notiz Wittgensteins – für diese Frage nicht zuständig sind, bleibt dabei völlig unbedacht. Nur nebenbei sei angemerkt: Die durchaus berechtigte Frage von J. Eccles: »Liegt das Rätsel der Schöpfung für immer jenseits aller Erklärung?« 45 ist deshalb eindeutig zu bejahen – und zwar zum einen mit Blick auf jene schon erwähnte kantische Erklärung, dass, »wo alles Naturgesetz aufhört, auch aller Erklärung aufhören muss«; zum anderen aufgrund der in der theologischen Tradition stets maßgeblichen Einsicht, dass »Schöpfung«
Wittgenstein 1984, Bd. 1, 81 f. (= Tractatus logico-philosophicus 6.371). – Vielleicht ist Darwins Bemerkung davon gar nicht so weit entfernt, wenn er betont: »Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht aufklären; und ich jedenfalls muss mich damit zufrieden geben, Agnostiker zu bleiben« (Darwin 1993, 102 f.). 45 Eccles 1982, 29. 44
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
nicht in der Art und Weise verstanden bzw. »erklärt« werden kann, als ob dabei die Herkunft eines »Seienden« in ihr erfragt wäre, weshalb schon jene Frage nach dem »Woher?« ein solches Missverständnis unübersehbar begünstigt.
1.3 Die von einer methodisch besonnenen Naturwissenschaft und von der modernen Theologie längst durchschaute Haltlosigkeit der von Dawkins behaupteten Alternativen Dass die von Dawkins leider bevorzugten schlechten bzw. voreiligen Alternativen (wie diejenigen zwischen »Schöpfung oder Evolution« bzw. zwischen »kausalgesetzlicher« und »teleologischer« Erklärungsansprüche) bei behutsamer und Methoden-bewusster Problemsondierung hätten durchaus vermieden werden können, dies zeigt auch der besonnene Befund kritischer Naturwissenschaftler recht deutlich 46: »Nach dem heutigen Stand des Wissens erscheint die präbiologische und die biologische Evolution von den ersten vermehrungsfähigen Molekülen bis zum Menschen als ein Ganzes. Wir erkennen sie als einen Prozess, der nach den Naturgesetzen abläuft und der keiner Intervention von außen bedarf. Darüber hinaus macht der Naturwissenschaftler zur Zeit auch keine einzige Beobachtung, welche zwingend nur durch das Eingreifen eines übernatürlichen Wesens erklärt werden könnte, noch ist ein solches für die Extrapolation des heutigen Wissens zur Interpretation der Vorgänge in die Vergangenheit notwendig. Naheliegend und wegen ›Ockhams Razor‹ auch unvermeidlich ist die Annahme der Evolutionsbiologie, dass eine solche Intervention, sollte es sie geben oder gegeben haben, nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Überlegungen sein kann. Von den Kollegen aus Astrophysik und Kosmologie erfahren wir ähnliche Deutungen der Entwicklung des Kosmos bis zur Entstehung unserer Erde. Die Entwicklung vom Urknall bis zum Menschen und eventuell weiter erscheint als ein einheitlicher kosmischer Prozess. […] Was mich fasziniert und bewegt, ist der relativ schmale Korridor in der Vielfalt aller möglichen Welten, durch welchen der Pfad vom Anfang der naturwissenschaftlichen Vorstellungen des Urknalls bis zum heutigen
Die enge sachliche Nähe zu den kritischen »Teleologie«-Bezügen Nagels (s. o. I., 4.1) ist nicht zu übersehen.
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Kosmos führt.[47] Meine Freunde von der Kosmologie sagen mir, dass eine kleine Änderung der Naturkonstanten völlig andere Welten ergeben würde. Die präbiotische oder chemische Evolution auf der Erde benötigt einen ziemlich schmalen Temperaturbereich, und die Entwicklung der Biosphäre im Sinne der biologischen Evolution von den Urformen des Lebens bis zum Menschen ging durch eine nicht kleine Zahl von ›Nadelöhren‹, welche durch klimatische und andere widrige Umweltbedingungen bestimmt waren. Das erfolgreiche Zusammenspiel dieser vielen Bedingungen erscheint mir höchst bemerkenswert, und hier und nicht durch Eingriffe in den Verlauf der biologischen Evolution … wäre Raum für einen Brückenschlag zwischen Theologie und Naturwissenschaft.« 48 Und warum sollten diesbezüglich nicht auch die elementaren Mechanismen der »natürlichen Selektion« in entsprechender Weise miteinbezogen werden? Denn an jenen zitierten Einsichten ändert wohl auch der Befund Dawkins’ nichts, dass »natürliche Selektion« »ein additiver Prozess [sei], der das Problem der Unwahrscheinlichkeit in viele kleine Teile zerlegt« und sich insofern an der »Leistung der Akkumulation« orientiert. 49 Darauf zielt offenbar auch Nagels Befund, die seine kritische Teleologie-Konzeption begründen soll: »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es infolge physikalischer Zufälle zu einer Reihe lebensfähiger genetischer Mutationen gekommen ist, die ausreichte, um der natürlichen Auslese in dem geologischen Zeitraum, der seit dem Auftreten von ersten Lebenformen auf der Erde verfügbar war, die Produktion der Organismen zu ermöglichen, die tatsächlich existieren?« (GuK 16). Gleichwohl möchte Nagel diese Teleologie-Konzeption von allen theologischen Berührungen freihalten. 48 Schuster 2007, 56. Ähnliche Überlegungen haben offensichtlich auch den Wiener theoretischen Physiker A. Zeillinger zu den Fragen veranlasst: »Woher kommen die Naturgesetze? Woher kommen die Naturkonstanten? Woher kommen die Anfangsbedingungen der Welt? Diese Fragen können wohl innerhalb der Naturwissenschaften nicht beantwortet werden. Für den Naturwissenschaftler sind die Naturgesetze etwas Wunderschönes. Die Naturkonstanten sind innerhalb sehr enger Grenzen gerade so, dass sie Leben ermöglichen. Die Welt hatte einen Anfang, der in der durch Naturgesetze und die Naturkonstanten ablaufenden Evolution die jetzige Welt ermöglichte« (so A. Zeillinger [der P. Schuster auch als Präsident der österreichischen Akademie der Wissenschaften nachfolgte] in seinem Beitrag zu: »Die Gretchenfrage«, in: Die Zeit, Nr. 1 (2009), vom 23. Dezember 2008, 14). Dass diese Aspekte auch die schöpfungstheologischen Erwägungen kritischer Theologen bestimmen, wird sich sogleich zeigen. 49 In diesem Sinne möchte ich auch Kreiners Anmerkung verstehen: »Für einen eventuellen Anfang des Universums hätte der Naturalismus überhaupt keine plausible Erklärung (Nichts), für die Feinabstimmung hat er entweder keine (Zufall) oder nur eine ziemlich spekulative (Multiversum). Einzig für die Evolution des Lebens kann er 47
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
Ganz ähnlich wie die angeführten Vertreter einer methodisch besonnenen Naturwissenschaft sieht dies der katholische Theologe U. Lüke (der seiner Sichtweise jedoch auch eine kritische – sehr berechtigte – Bemerkung in Richtung medialer Berichterstattung hinzufügt): »Wenn wir damit meinen, dass die Bedingungen, die aus der Singularität des sogenannten Urknalls entstanden sind, also die schwache und die starke Kernkraft, die elektromagnetische und die gravitative Kraft, just so sind, dass sich Evolution ereignen und dass Leben entstehen konnte, [50] wenn Intelligent Design also meint, dass die zur Entstehung von Leben und sogar menschlichem Leben notwendigen Bedingungen gegeben waren, dann frage ich mich, welchen Sinn all die Aufregung hat. […] Aber wie kommt es zu dieser unser derzeitiges intellektuelles Fassungsvermögen offenbar weit übersteigenden intelligiblen Struktur alles dessen, was ist? Wir landen mit diesem gedanklichen Schritt bei der höchst ehrenwerten und intellektuell redlich zu führenden Debatte um das anthropische Prinzip. Warum gibt es am Anfang aller Grunddaten der Physik diesen außerordentlich unwahrscheinlichen und schmalen Parameterkorridor? Er ist die unbestritten notwendige Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es eine physiko-chemische Evolution, wie sie z. B. das Periodensystem der Elemente beschreibt, geben konnte. Er ist die unbestrittene Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es die – im Popperschen Wien darf man das wohl sagen – von der Amöbe bis Einstein reichende und hoffentlich noch darüber hinausweisende biologische Evolution gibt. Er ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass – wie die dritte Stufe einer Rakete – auf der Basis der chemischen und biologischen Evolution eine kulturelle Evolution starten konnte, die sich erstmals der notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit bewusst wird.[51] Hier, und zwar jenseits der und in beiderseitiger Anerkenmit einer zumindest prinzipiell vollständigen Theorie aufwarten, die aber ungeklärt lässt, warum es überhaupt ein Universum gibt und warum dieses evolutionstauglich ist« (Kreiner 2006, 304). 50 Hier liegt die Verbindung zu der (mit Blick auf Nagel so benannten) »Teleologie 2Ebene« nahe, s. o. I., 4.1.1. 51 Ebendies gehört ja zu den viel zu selbstverständlichen, d. h. weithin unbedachten Denkwürdigkeiten: Im Menschen wird sich diese evolutionäre Wirklichkeit ihrer selbst bewusst und erhebt dieses Bewusstsein in reflektierter Form zu Wissenschaft, ohne dass damit ein anpassungsbedingter Überlebensvorteil verbunden ist: In den daran geknüpften Geltungs-orientierten Wissensansprüchen begreift sich dieses »animal rationale« selbst in seiner Herkünftigkeit und mannigfachen Bedingtheit und »relativiert« selbst somit (im doppelten Wortsinn) im Vergleich mit anderen
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nung der physikalisch-chemisch-biologisch erhobenen Daten zur Evolution, gibt es also unterschiedliche Überzeugungen und Deutungen, für die mit hoffentlich guten Gründen geworben werden kann.« 52 Auch dies bestätigt noch einmal: Die andernfalls unvermeidlich resultierende »Lückenbüßer«-Theologie wurde in ihrer Unhaltbarkeit freilich in jeder kritischen Philosophie und Theologie zurückgewiesen, d. h. stets als »faule Vernunft« und somit als ein bloßes »asylum ignorantiae« verworfen. Die oben angeführten Stellungnahmen der Wiener Naturwissenschaftler Schuster und Zeillinger bzw. des katholischen Theologen U. Lüke 53 sollten verdeutlichen, 54 dass Leibniz in prinzipieller HinLebewesen seine eigene Sonderstellung in Berufung auf Wahrheitsansprüche – wohlgemerkt: ohne mit solchen Ansprüchen einen evolutiven Nutzen bzw. Vorteil zu verbinden. 52 Lüke 2008, 131 f. – Insofern ist es wohl legitim, wenn theologischerseits diese »schwache Version des anthropischen Prinzips« in durchaus behutsam-besonnener Weise aufgenommen wird: »So wenig diese Thesen [des »anthropischen Prinzips«] einen spezifisch physikalischen Erklärungswert beanspruchen können, so eindrucksvoll haben sie doch herausgearbeitet, dass das Universum de facto so eingerichtet ist, dass es den Bedingungen für die Hervorbringung intelligenter Wesen genügt. Theologische Interpretation darf über diese Feststellung hinausgehen zu der Aussage, dass sich in diesem Sachverhalt die auf die Inkarnation des göttlichen Logos in einem Menschen bezogene Ökonomie des göttlichen Schöpfungswerkes bekundet« (Pannenberg 1991, 138). 53 Er hat sich in besonders verdienstvoller Weise und pointiert um eine angemessene Verhältnisbestimmung zwischen Naturwissenschaft und Theologie (natürlich mit besonderer Blickrichtung auf die moderne Biologie bzw. die Evolutionstheorie) bemüht; für die an diesen Themen interessierten Leser sei zur Vertiefung auf folgende Bücher von U. Lüke hingewiesen: ders., »Als Anfang schuf Gott …«. Bio-Theologie. Zeit – Evolution – Hominisation. Paderborn. 2. korrigierte Auflage 2001; ders., Mensch – Natur – Gott. Biologische Beiträge und theologische Erträge. Münster 2002; ders. (Hrsg.), Darwin und Gott. Das Verhältnis von Evolution und Religion. Darmstadt 2004; ders., Das Säugetier von Gottes Gnaden. Evolution – Bewusstsein – Freiheit. 2. Auflage 2007. Freiburg/Basel/Wien 2006; ders., Der Mensch – nichts als Natur? Interdisziplinäre Annäherungen. Darmstadt 2007; ders. (Hrsg.), Gottesbilder – an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Darmstadt 2009; ders., Evolution der Offenbarung – Offenbarung der Evolution: [Symposion der Stiftung Theologie und Natur mit der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen vom 30. 9.– 2. 10. 2010]. Hrsg. von Ulrich Lüke u. Georg Souvignier. Freiburg im Breisgau: Herder 2012 (= Quaestiones disputatae Band 249). 54 Anzuführen wäre hier auch die in eine ganz ähnliche Richtung weisende Stellungnahme des Philosophen N. Hoerster (in der Begründung seines Austritts aus der »Giordano-Bruno-Stiftung«), mit der er Dawkins’ einschlägige Kritik mit diesbezüglich ähnlichen Argumenten zurückweist: »Ich sehe nicht, wieso ausgerechnet die Evolutionstheorie den Gottesglauben widerlegen, ja ersetzen kann. Gibt es etwa eine
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sicht – d. h. natürlich: gemäß dem naturwissenschaftlichen Wissensstand seiner Zeit – diese komplementäre Sichtweise vorweggenommen hat, und zwar vornehmlich in dem hellsichtigen Bestreben, falsche Disjunktionen zwischen Naturwissenschaft oder Theologie zu vermeiden. Die angeführte Argumentation Schusters erinnert zweifellos in grundsätzlicher Hinsicht an das von Leibniz behutsam geltend gemachte »Prinzip der Angemessenheit«, das darin eine kritische – und mit moderner Naturwissenschaft durchaus verträgliche – »teleologische« Konzeption zur Geltung bringt (s. o. I., 4.1; 4.1.1). Auch folgende Stellungnahme aus Leibnizens »Metaphysischer Abhandlung« ist diesbezüglich wohl besonders aufschlussreich, zumal sie ebenfalls voreilige Entgegensetzungen vermeiden will – sie soll deshalb für die philosophisch interessierten Leser zur Gänze angeführt werden: »Somit muss die Weisheit Gottes, die man in der besonderen mechanischen Struktur bestimmter Körper stets anerkannt hat, sich doch wohl auch in der allgemeinen Verwaltung der Welt und in der Verfassung der Naturgesetze offenbaren. In der Tat kann man eben in den allgemeinen Bewegungsgesetzen die Ratschlüsse dieser Weisheit deutlich erkennen. Denn wären die Körper nichts anderes als bloße Ausdehnung und die Bewegung nichts andres als ein Stellenwechsel, könnte und müsste somit alles mit geometrischer Notwendigkeit einzig und allein aus diesen Definitionen abgeleitet werden: dann würde hieraus, wie ich an andrer Stelle gezeigt habe, folgen, dass der winzigste Körper, der auf einen größeren, in Ruhe befindlichen Körper trifft, diesem seine Geschwindigkeit mitteilte, Letzterklärung für die Existenz des Universums? Worauf gehen die Evolutionsgesetze denn ihrerseits zurück? Könnten sie ihrerseits nicht an ein intelligentes Ordnungsprinzip der Welt gebunden oder gar das Ergebnis eines bewussten Schöpfungsaktes sein? Wieso ist die Welt denn so programmiert, dass das Leben ausgerechnet den Evolutionsgesetzen folgt? Ist es nicht sehr vordergründig, überhaupt von einer Einzelwissenschaft eine Letzterklärung allen Lebens zu erwarten?« (FAZ v. 26. 11. 2011). Hoersters diesbezügliche Stellungnahme darf wohl verstanden werden als ein Bemühen um ein am Geist der Aufklärung orientiertes Offenhalten des Sachproblems, das er zu Recht bei Dawkins und bei den von ihm angesprochenen Kreisen der genannten Stiftung vermisst. Seine diesbezügliche Kritik an einem verkürzten Verständnis der »Aufklärung« ist ganz berechtigt. Allerdings verbietet es intellektuelle Redlichkeit gleichermaßen, diese Kritik Hoersters sogleich religiös bzw. »theologisch« vereinnahmen zu wollen; dies wäre ebenso lächerlich wie der seitens mancher Kritiker Hoersters geäußerte Vorwurf, er sei in das Lager der Gläubigen übergewechselt – eine Einschätzung, die lediglich die leider weit verbreitete Verweigerung einer problemorientierten Differenzierung und entsprechende Scheuklappen unfreiwillig bestätigt.
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ohne auch nur das Geringste von seiner eignen zu verlieren, und man müsste eine ganze Reihe von andern derartigen Regeln zugeben, die mit der Entstehung einer systematischen Ordnung des Alls durchaus nicht in Einklang zu bringen sind. Die Verfügung der göttlichen Weisheit indessen, der gemäß sich stets dieselbe Kraft und Richtung im Ganzen erhält, hat hierfür Sorge getragen. Ich finde sogar, daß manche Naturwirkungen auf doppelte Weise bewiesen werden können, nämlich erstens durch die Erwägung der wirkenden Ursache, sodann aber auch durch die Erwägung der Zweckursache, wobei man sich z. B. darauf beruft, dass Gott beschlossen hat, jede von ihm beabsichtigte Wirkung auf dem einfachsten und bestimmtesten Wege hervorzurufen.« 55 Gegenwärtige Versuche einer komplementären Betrachtungsweise lassen sich problemgeschichtlich durchaus als bzw. in Anknüpfung an diese Leibniz’schen »Vermittlungsversuche« verstehen. 56 Dies zeigt sich auch, wenn es in ausdrücklicher Vermeidung einer schiefen Alternative »Mechanismus oder Teleologie« sodann richtungsweisend, d. h. in noch immer höchst aktueller Weise, und überdies humorvoll bei Leibniz heißt (in Abschnitt 22) – nämlich in der Absicht, die »mechanische Erklärungsart« »mit denjenigen zu verLeibniz, Abschnitt Nr. 21 der »Metaphysischen Abhandlung«. – Der philosophisch interessierte Leser sei neben diesen »metaphysischen Abhandlungen« auch auf dessen »Neues System der Natur« verwiesen, die Leibnizens entschiedenen Kampf gegen eine »faule Vernunft« und gegen schiefe Alternativen zwischen »Mechanismus und Teleologie« besonders klar und eindringlich demonstrieren und insofern von bleibender Aktualität sind. 56 Dass Leibniz auch hier in der Sache an Aristoteles anknüpft, macht wohl auch folgender Passus aus der aristotelischen Naturphilosophie deutlich: »Das Notwendige aber (in der Natur), existiert es in bedingter oder absoluter Notwendigkeit? Heutzutage versteht man ja unter Notwendigkeit im Entstehen gerne dasselbe, wie wenn man meinen wollte, diese Mauer dort sei deswegen aus Notwendigkeit entstanden, weil das schwere Material von Natur unten zu liegen komme, das leichte Material aber obendrauf liege, weshalb denn auch (bei dieser Mauer) die Natursteine und das Fundament ganz unten, der Lehm dank seiner Leichtigkeit darüber, die Holzteile schließlich, weil die allerleichtesten ganz obendrauf liegen müsste. Nun ist ja freilich (die Mauer) nicht ohne dies alles zustande gekommen; aber der Grund (warum die Mauer zustande gekommen ist) ist dies alles nicht, ausgenommen in dem Sinne, wie das Material (ein Grund für etwas ist); vielmehr ist sie deswegen zustande gekommen, um einiges zu bergen und zu schützen. Die gleiche Sachlage haben wir auch sonst überall, wo ein Zweckverhältnis vorliegt: da entstehen die Dinge nicht ohne das durch Notwendigkeit gekennzeichnete (Material), aber dies ist nicht der wirkliche Grund, sondern Grund nur im Sinne von Material« (Aristoteles, Physik II 199b34 – 200a15 u. 200a24 ff.). 55
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söhnen, die von diesem selben Gefüge mittel Zweckursachen Rechenschaft zu geben [:] Beides ist gut, beides kann von Nutzen sein, nicht nur, um die Kunstfertigkeit des großen Meisters zu bewundern, sondern auch, um manches Nützliche in Physik und Medizin zu entdecken. Und die Autoren, die diesen verschiedenen Wegen folgen, sollten einander nicht schlecht machen. Ich sehe nämlich, dass diejenigen, die die Erklärung der Schönheit der göttlichen Anatomie ins Auge fassen, sich über die anderen lustig machen, die sich einbilden, dass eine scheinbar zufällige Bewegung bestimmter Flüssigkeiten eine so schöne Mannigfaltigkeit von Gliedern habe hervorbringen können, und sie behandeln sie als Vermessene und Gottlose. Diese hingegen behandeln die ersteren als Einfältige und Abergläubische, jenen Alten ähnlich, welche die Physik für gottlos hielten, weil sie behaupteten, nicht Jupiter donnere, sondern irgendeine Materie in den Wolken. Das Beste wäre, beide Betrachtungsweisen miteinander zu verbinden; denn wenn es erlaubt ist, sich eines gewöhnlichen Vergleiches zu bedienen, so anerkenne und preise ich die Geschicklichkeit eines Handwerkers nicht allein, indem ich zeige, welche Absichten er hatte, als er die Teile seiner Maschine herstellte, sondern auch, indem ich die Werkzeuge erkläre, deren er sich zur Fertigung eines jeden Teiles bedient hat, vor allem, wenn diese Werkzeuge einfach und sinnvoll erfunden sind. Und Gott ist ein ausreichend geschickter Künstler, um eine noch tausendmal sinnvollere Maschine als die unseres Körpers herzustellen, indem er sich nur einiger recht einfacher Flüssigkeiten bedient, die ausdrücklich so beschaffen sind, dass es nur der allgemeinen [!] Naturgesetze bedarf, um sie derart zu mischen, dass aus ihnen eine so bewunderungswürdige Wirkung entsteht; es ist aber auch wahr, dass sich das nicht ereignen würde, wenn nicht Gott Urheber [!] der Natur wäre. Indessen [!] finde ich, dass der Weg über die Wirkursachen in der Tat profunder [!], in gewisser Weise unmittelbarer und apriori ist, dafür aber auch recht schwierig, wenn man ins Detail geht, und ich glaube, dass unsere Philosophen davon meistens noch sehr weit entfernt sind. Dagegen ist der Weg über die Zweckursachen leichter und auch außerdem oft dazu geeignet, bedeutende und nutzvolle Wahrheiten zu enthüllen, die man auf jenem anderen, mehr physikalischen Wege noch lange hätte suchen müssen.« 57 Leibniz, Metaphysische Abhandlung, Abschnitte Nr. 21 u. 22. Damit ist ohnedies in deutlicher Weise die Unmöglichkeit angezeigt, »causa finalis« und »causa efficiens«
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Hier wird das Anliegen Leibnizens wohl besonders deutlich, das sich gleichermaßen gegen »kreationistische« Selbstmissverständnisse und entsprechende methodisch naive »Intelligent-design«-Konzeptionen 58 sowie auch gegen »teleologische« Konzeptionen richtet, die eine »causa finalis« im Sinne eines »Außerkraftsetzens« bzw. »Überspringen« der physikalisch-biologischen Gesetzmäßigkeit zur Geltung bringen wollen und insofern die von Dawkins behaupteten schiefen Alternativen – nämlich lediglich mit umgekehrten Vorzeichen – selbst voraussetzen.
1.3.1 Anmerkung: Zu Dawkins’ Multiversum-Theorie Gewiss, auch Dawkins selbst will durchaus den »Gedanken zulassen, dass es ein sehr unwahrscheinliches Ereignis war … sogar um mehrere Größenordnungen unwahrscheinlicher, als den meisten Menschen klar ist« (Gotteswahn 188 f.) und räumt im Sinne verschiedener Aspekte des »anthropischen Prinzips« sogar ein, dass auch »in anderer Hinsicht … die Erde im Sonnensystem in einer besonders vorteilhaften Lage« sei, »sodass sie sich als einziger Planet für die Evolution des Lebens eignet« (Gotteswahn 190). Gleichwohl wird dies bzw. »causa materialis« gegeneinander auszuspielen bzw. die »causa finalis« »jenseits« der anderen »causae« anzusiedeln (was übrigens unvermeidlich in unhaltbare »vitalistische« Konzeptionen führt). Ein Denken in solchen schiefen »Abstraktionen« zu überwinden ist offenbar ein vorrangiges Anliegen der einschlägigen »metaphysischen« Motive Leibnizens, die sich damit als nach wie vor höchst aktuell erweisen, wie gerade die hier behandelten Themen zeigen. S. dazu auch die Überlegungen zum »teleologischen Gottesbeweis« sowie die dort ebenfalls angeführten Leibniz-Bezüge, s. u. III., 2.4. 58 Sie teilen übrigens unfreiwilligerweise – freilich mit umgekehrten Vorzeichen – mit Dawkins schiefe Teleologie-Vorstellungen schon deshalb, weil sie, so wie Dawkins’ Misstrauen gegen eine »gezielte Gestaltung« und »Gestaltungshypothesen«, irreführenderweise sich just an jener schlechten »technomorphen ›äußeren Teleologie‹ orientieren, die in einer kritischen Teleologie-Konzeption stets verworfen wurde, weil sie der inneren Einheit und Ganzheit als einer »sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit«, wie sie Organismen auszeichnet, nicht gerecht wird; jene schlechte Konzeption einer »äußeren Teleologie« wurde stets (besonders prominent von Voltaire) zu Recht lächerlich gemacht, wonach etwa Pferde einen so beschaffenen Rücken haben, damit Menschen darauf reiten können, Schweine entsprechend zuträglichzweckmäßig Speck liefern, Menschen Nasen haben, damit sie Brillen tragen können und, nicht zuletzt, ausreichendes und gut gepolstertes Sitzfleisch, damit sie lang genug über den lieben Gott sinnieren können …
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sogleich durch den Hinweis darauf »wahrscheinlichkeitstheoretisch« relativiert, dass dieses »anthropische Prinzip« als »Alternative zur Gestaltungshypothese« (Gotteswahn 191) gelten müsse – bei aller unglaublich großen Unwahrscheinlichkeit. In diesem Sinne betont Dawkins, dass die »Evolution des Lebendigen … etwas ganz anderes … als seine Entstehung« sei (Gotteswahn 196) – und auch nur Letzteres als »statistischer Glücksfall« gelten müsse, denn: »Nachdem sich der erste Glücksfall einmal ergeben hatte – und nach dem anthropischen Prinzip hatte er sich bei uns ergeben –, übernahm die natürliche Selektion das Ruder. Und natürliche Selektion ist nun ausdrücklich keine Frage von Glück oder Zufall« (Gotteswahn 197). Dawkins’ Erklärung dafür ist dies: »Die natürliche Selektion funktioniert, weil sie eine additive Einbahnstraße in Richtung der Verbesserung ist. Nur damit sie in Gang kommt, ist ein Glücksfall nötig, und dieses Glück wird durch das anthropische Prinzip der ›Milliarden Planeten‹ garantiert« (Gotteswahn 198) 59. Hierfür rekurriert Dawkins nun auf das gängige Konzept eines »Multiversums«, d. i. auf die Annahme unzähliger Universen, für die ganz unterschiedliche physikalische Parameter bestimmend sind und woraus die Faktizität der besonderen Feinabstimmung unseres Kosmos größere Plausibilität erhalten soll. 60 Was aber wäre denn diese »als erster Glücksfall« vor»Das anthropische Prinzip erklärt dann, dass wir uns in einem jener Universen (die vermutlich eine Minderheit bilden) befinden müssen, deren Gesetze zufällig gerade die Voraussetzungen für die spätere Evolution schufen und damit das Nachdenken über das Problem ermöglichten.« »Ein weiterer wichtiger Sprung, der möglicherweise ähnlich unwahrscheinlich war, könnte die Entstehung des Bewusstseins gewesen sein« (Gotteswahn 197). 60 M. E. bleibt auch Dawkins’ Bezugnahme auf die »Multiversum«-Theorie jenem grundsätzlichen Einwand ausgesetzt, den H.-D. Klein folgendermaßen formuliert hat: »Gelegentlich wurde versucht, das anthropische Prinzip durch die Annahme eines sogenannten Multiversums auszuhebeln. Ich halte dies nicht für schlüssig: Denn auch die Theorie des Multiversums muss Grundannahmen, die für das ganze Multiversum gelten, in mathematischen Funktionen formulieren und angeben, wie aus diesen Gleichungen usw. in Beobachtung oder Experiment nachprüfbare Messungsprognosen resultieren. Die grundlegenden Gleichungen bzw. Funktionen können aber auch in diesem Fall variiert werden, womit wir wieder vor dem Problem der Vielfalt möglicher Universen bzw. Multiversen stehen. Dieses Problem resultiert nicht aus dem jetzt noch unzureichenden Forschungsstand unserer physikalischen und kosmologischen Kenntnisse, sondern aus der grundlegenden methodischen Differenz von Mathematik und Physik. Nie werden Mathematik und Physik methodisch verschmelzen können und daher werden wir immer vor dem Problem stehen, dass – bei der Annahme eines Multiversums – das wirkliche Multiversum (wirklich, weil sich die Mes59
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evolutiv angesetzte »Entstehung des Lebendigen« im Unterschied zur »Evolution« desselben – was, wo, woraus wäre »Entstehung« zu denken, aus »Anfangsbedingungen« ohne dasjenige, für das es ebensolche »Anfangsbedingungen« sind? Und wenn die »Evolution des Lebendigen« selbst zweifellos ein »innerzeitlicher« Prozess ist – wäre dann hingegen seine »Entstehung« selbst nicht als ein »zeitliches Geschehen« zu denken? Legt Dawkins’ Bemerkung: »Dass ein Universum nur auf eine Art und Weise existieren kann, ist ganz und gar plausibel. Aber warum war es gerade diese eine Art und Weise, die alle Voraussetzungen für unsere Evolution schuf?« (Gotteswahn 203), dann nicht erst recht die Frage nahe, ob diese »für unsere Evolution« geschaffenen Voraussetzungen selbst etwa dem evolutionären Prozess zugehören? Und erneut stellt sich die Frage: Was also ist dann das eigentliche Subjekt der Evolution – die Evolution? 61
sungsprognosen bewähren) eines von vielen möglichen ist. Unter diesen möglichen Multiversen lassen sich auch solche konstruieren, in denen es keine Universen mit menschenähnlichen Wesen geben kann. Daher würde sich auch in diesem Fall das Problem stellen, dass es reiner Zufall ist, dass justament ein solches Multiversum wirklich ist, in dem zweckmäßige Prozesse und die Entstehung vernünftiger Lebewesen zustandekommen können. Die Frage nach dem Grund der offensichtlichen Zweckmäßigkeit des existierenden Multiversums, die physikalisch nicht erklärbar, sondern unwahrscheinlicher Zufall ist, würde sich auch in diesem Fall stellen. Das Problem hätte sich nicht aufgelöst, sondern einfach nur verschoben« (H.-D. Klein, Wissenschaft und Offenbarung. Noch unveröffentlichtes Manuskript). 61 Diese Multiversum-Theorie ist freilich unter den Naturwissenschaftlern selbst höchst umstritten bzw. von unerweislichen Erklärungsprämissen abhängig: »Das [d. h. diese »Viele-Welten-Theorie«] ist für mich ein naturwissenschaftlich völlig sinnloser Ansatz, denn andere Universen entziehen sich per definitionem einer experimentellen Überprüfung« (Lesch 2002). »Wer ein Geschehen als planlos oder absichtlos wertet, … verlässt den naturwissenschaftlichen Bereich und gibt eine Deutung« (Hägele 2005, 67). Dies trifft genau auch auf Dawkins’ These zu: »Der einzige Uhrmacher in der Natur sind die blinden Kräfte der Physik, wenn sie sich auch auf ihre besondere Weise entfalten« (Uhrmacher 18) – zumal die Gesetze der Physik und ihre »Kräfte« immerhin die »Evolution des Lebendigen« auch erst ermöglicht haben. – Oftmals wurde auch betont: Die Multiversum-Theorie Dawkins’ steht nicht auf einem naturwissenschaftlichen Fundament, sondern verdankt sich einer weltanschaulichen Ausdeutung. In diesem Sinne hat Nagel dies als ein »Ausweichmanöver« angesehen, »mit dem auf den Versuch verzichtet wird, irgendetwas zu erklären« (GuK 139).
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1.3.2 Weitere Hinweise auf klassische Positionen zum »Schöpfungs«-Thema Für philosophisch weniger vorgebildete Leser sei wenigstens ein kurzer Hinweis auf thematisch einschlägige Überlegungen bei Augustinus und Thomas v. Aquin angefügt. Denn all diese Themen – bzw. die darin zutage tretenden Schwierigkeiten und offenen Fragen – spielen bekanntlich in der Tradition im Kontext der christlichen Schöpfungstheologie eine entscheidende Rolle, wobei freilich dem Thema »Schöpfung und Zeit« eine ganz besondere Bedeutung zukommt – bekanntlich auch bei dem (von Dawkins wiederholt geschmähten) Kirchenlehrer Augustinus. Schon er war bekanntlich bezüglich dieser theologischen Schöpfungs-Thematik darum bemüht, dem als »Schöpfung« verstandenen zeitlosen »Ursprungs-Verhältnis« auch durch philosophisches Nachdenken einigermaßen gerecht zu werden und dabei jedenfalls auch drohende Sackgassen der genannten Art zu durchschauen bzw. zu vermeiden: »Gott hat die Welt mit der Zeit (cum tempore) geschaffen, nicht an einem Zeitpunkt« 62. Darin ist sein Bemühen zu erkennen, diesen ganz Analogie-losen »Ursprung« (»in principio«), der nicht als »Anfang« (»in initio«) »verzeitlicht« werden darf, 63 dem philosophisch-theologischen Denken zu erschlieVgl. Augustinus, De civitate dei XI, 6. Dahin weist auch Augustins’ berühmtes Wort aus dem 11. Kapitel der »Confessiones«: »Du gehst nicht in der Zeit den Zeiten voraus«. – Auch das IV. Lateran-Konzil hat (im Jahr 1215) bekanntlich ausdrücklich betont, Gott habe zugleich mit dem Eintreten der Zeit die Welt geschaffen: »die sichtbare Welt ist mit der Zeit« (»simul ab initio temporis«) geschaffen. – Max Seckler hat in diesem Sinne betont: »Dass die Welt ex nihilo entstanden sei, bedeutet deshalb nicht, das sie post nihilum entstanden ist« (Seckler 2008, 309). In eine ähnliche Richtung weist die Bemerkung Kesslers: »Die Theologie unterscheidet scharf zwischen ›creatio‹ und ›mutatio‹. Wer Gott sagt, will nicht Veränderungen in der Welt erklären, sondern will auf den Grund des Ganzen verweisen, will das Sein (den Sprung vom Nichtsein zum Sein), das Faktum der Welt selber und seinen Sinn verstehbar machen« (Kessler 2009, 177). 63 In diesem Sinne betont der katholische Theologe M. Seckler in der Spur dieser traditionellen Schöpfungsmotive: »Schöpfung« »geschah nicht zu einem Zeitpunkt ›in tempore‹ auch nicht ›im‹ ersten Augenblick, sondern ›cum tempore‹. Eine Zeit vor der Weltzeit kann es nicht gegeben haben. Da Gott ewig ist, d. h. außerhalb jedes Nacheinander, die Zeit aber von ihm geschaffen, kann das nur bedeuten, dass er in einem zeitlosen Sinn ›vor‹ der Zeit ist, auch und gerade als Schöpfer. Demnach beinhaltet der Schöpfungsbegriff eine Gründungsrelation transtemporaler Art. Er übersteigt die Raum-Zeit-Kategorien«. Und: »Ob das Universum einen Anfang hat, kann man aus dem Universum heraus nicht ableiten. Der Schöpfungsakt, den der christli62
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ßen und sodann mit dem daran geknüpften Gedanken zu verbinden, dem zufolge der ewig-zeitlose Sinn-Gehalt des »göttlichen logos« eben erst als »dergestalt« ausgesprochenes raumzeitliche Wirklichkeit wird, d. h. eben in die äußere Gestalt eines so erst mess- und teilbaren »Nacheinanders« der zeitlichen Abfolge eintritt: Derart wird ein »zeitlos Sinnhaftes« (»Logos-haftes«) erst Zeit-gestaltig und allein durch solches »ekstatisches Auseinandertreten« in die zeitlichen Dimensionen des »jetzt–war–sein wird« (Gegenwart–Vergangen– heit–Zukunft) ist auch die Zähl- und Messbarkeit des sich »Zeitigenden« möglich, während zeitloser »Sinn« nicht messbar (auch nicht »gegenständlich vorstellbar« und dennoch kein »Gespenst«) ist: Davon, so versucht Augustinus dies zu verdeutlichen, weiß jeder Mensch als sprachliches Wesen, das nicht raumzeitlich »Sinnhaftes« zur Sprache bringt, worin die »Idealität« dieses »Sinnhaften« erst die »Zeitgestalt« des »Nacheinander« erhält – was freilich auch bedeutet, dass ein nicht gegenständlich vorhandenes »Sinnhaftes« in seiner »Ganzheit« eben auch nicht geteilt bzw. aus Aggregaten »zusammengesetzt« werden kann. Damit hängt zusammen, dass der ideale »Sinngehalt« eines Satzes (als ein nicht-sinnliches »Ganzes«) auch nicht aus einzelnen Buchstaben, Silben oder Wörtern »zusammengesetzt« werden kann, so wenig dieser »Sinngehalt« eines Satzes mit der darstellbaren Sinus-Kurve im Messgerät identisch ist (und eine solche Sinuskurve sich übrigens auch nur graduell von einem dergestalt aufgezeichneten Sinn-losen Geräusch unterscheidet). In Abwehr irreführender »Schöpfungs«-Vorstellungen zielt auch das von Thomas v. Aquin stets betonte Motiv, »Gott schafft ohne Bewegung«, vor allem darauf ab, dass »Schöpfung« – als ewiger voraussetzungsloser »Ursprung« – aller zeitlich-geschöpflichen Bestimmung zugrunde liegt und folglich diese »überzeitliche« Ursprungs- bzw. Gründungs-Relation Gott-Welt auch alle Analogisierungen und »Veranschaulichungen« sprengen muss; 64 dies ist deshalb so schwer zu denken, weil es eben nicht »vorstellbar« ist, wenn doch che Glaube lehrt, liegt deshalb außerhalb jeder zeitlichen Terminierbarkeit. Er lässt sich nicht akthaft in der Vergangenheit festmachen, sondern bedeutet eine transtemporale Gründungs- bzw. Gegründetheitsrelation« (Seckler 2008, 309 f.). Gleichwohl bleiben mit Blick auf Thomas v. Aquin bezüglich dieser Motive doch auch kritische Rückfragen; s. u. 432 f. 64 Dass wir dies nur in Analogie denken können und dabei ohne anthropomorphistische Veranschaulichungen nicht auskommen (die wir jedoch zugleich kritisch reflektieren können), die wir zugleich als unangemessen zurückweisen müssen (und doch
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
alles »Vor-Stellen« ganz wörtlich auf ein »vor uns zu Stellendes«, d. h. auf »Gegen-Ständliches«, geht. Deshalb wurde in der Schöpfungs-theologischen Tradition des Christentums auch stets betont, dass die »Schöpfungsrelation« als »überzeitliche« zu denken und Schöpfung selbst kein innerzeitliches Geschehen ist, d. h. auch nicht »aus etwas« vorstellbar ist und alle einschlägigen »analogisierenden« Versuche als unangemessen gelten müssen. Aus diesem Grund wurde nicht zuletzt auch von Thomas v. Aquin stets die Vorstellung abgelehnt, die »Schöpfung« als einen Vorgang in der Zeit zu verstehen bzw. als eine »Verwandlung« eines Gegebenen in neue Zustände, weil dies letztlich eher die irreführende Vorstellung einer »Überführung« von einem »Zustand« in einen anderen geradezu unvermeidlich macht. Thomas v. Aquin hat dies – die andernfalls drohende (schon angezeigte) Zeitaporie vermeidend und auf dem Punkt der »Ungleichartigkeit« insistierend – in immer neuen Anläufen dadurch zum Ausdruck gebracht, dass »Schöpfung« selbst »weder in Form einer Bewegung noch sonst irgendeiner Veränderung« geschieht 65; dass Gott »ohne Bewegung« schafft, dies verweist auf einen nicht »zeitlich« (d. h. »anfanghaft« misszuverstehenden) »Grund«, der auch in jener angeführten Unterscheidung zwischen »in principio« und (zeitlich) »in initio« zum Ausdruck gebracht ist; demgegenüber ist die »creatio evolutiva« selbst als ein innerzeitlich fortwährender Prozess gedacht. Damit sieht Thomas v. Aquin offenbar einerseits die Möglichkeit, dass die philosophisch einzuräumende zeitliche »Anfangslosigkeit der Welt« zwar nicht einfach im Widerspruch zum Schöpfungsgedanken stehen muss; freilich stellt sich die unabweisliche Frage, was denn die gängige Auskunft dann näherhin bedeuten mag (besser: noch bedeuten kann!), dass der Gedanke eines »zeitlichen Anfangs der Schöpfung« vielmehr ein »credibile«, nicht ein »scibile« besage. Bemerkenswerterweise hat Thomas v. Aquin in seiner späten Schrift »De aeternitate mundi contra murmurantes« (aus dem Jahr 1271) ja ganz ausdrücklich betont: »Wer behauptet, der Anauf sie angewiesen bleiben), war stets ein Grund dafür, von einer »docta ignorantia« zu reden. 65 Thomas v. Aquin, ScG II, 17; vgl. auch STh I, qu. 45, art. 2. Hier begründet Thomas, weshalb bzw. inwiefern allein mit gebotener Rücksicht auf unserer »Erkenntnisweise« (»modus significandi«) »Erschaffung nach der Weise einer Veränderung bezeichnet« wird (»creatio significatur per modum mutationis«) (ebd. zu 2.); darin ist auch begründet, dass »von Gott her gesehen« nach Thomas »creatio ex nihilo« und »creatio continuans« in eins gedacht werden müssen.
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fang der Welt sei philosophisch beweisbar, gibt den Schöpfungsglauben der Lächerlichkeit preis« 66. Damit bleibt die philosophische Unentscheidbarkeit dieser Frage bei Thomas v. Aquin offenbar das letzte Wort; sie fungiert so aber zugleich als Scharnier für die Vertretbarkeit, d. h. Legitimierbarkeit, der Schöpfungsidee bzw. des Schöpfungsglaubens, der somit als nicht »widervernünftig« (obgleich nicht »beweisbar«) behauptet wird. Jene philosophische Nichtentscheidbarkeit soll ihm zufolge solcherart gewissermaßen den Raum dafür eröffnen, um in verantwortbarer Weise gewissermaßen »für das Schöpfungsdogma Platz zu bekommen« 67. Ungeachtet dieser damit verbundenen (noch klärungsbedürftigen) Fragen – spiegelt sich darin möglicherweise, wie manche Formulierungen in den entsprechenden »quaestiones« (45–47 der »theologischen Summe«) vermuten lassen, zugleich eine von Thomas von Aquin selbst wahrgenommene Verlegenheit bzw. Aporie wider? – soll ihm zufolge vor allem auch dies deutlich werden, dass von der Idee der »Schöpfung« jedenfalls jede Vorstellung eines »Geschehens« (einer »Veränderung«, eines »Überganges«) ferngehalten werden muss und insofern eben auch die Rede von einem »Schöpfungsakt«, einem »Schöpfungsgeschehen«, irreführend ist. Erst recht ist nach Thomas v. A. die »Vorstellung« eines »Gestalters«, d. i. einer Gestaltung eines Substrats, also ganz abwegig, die auch den einschlägigen Einwürfen Dawkins’ zugrunde liegt; deshalb ist auch Dawkins’ Rede von einem So Seckler (2008, 310) mit direkter Bezugnahme auf »De aeternitate mundi contra murmurantes«; s. dazu auch die sehr denkwürdigen (aber auch dunklen) Überlegungen von Thomas v. Aquin in: STh qu. 46 a1–3. Wiederholt machte Thomas geltend, dass es ein nicht »streng zu beweisender Glaubenssatz« ist, »dass die Welt nicht immer war«, so z. B. qu. 46, art. 2, resp. – was auch immer dies näherhin bedeuten mag … Was dann noch seine Antwort auf die Frage »Ist es ein Glaubenssatz, dass die Welt angefangen habe?« (qu. 46, art. 2) bedeuten kann, ist wohl nicht so ohne weiteres einleuchtend: »Dass die Welt nicht immer war, wird allein im Glauben festgehalten und kann nicht streng bewiesen werden, wie dies auch … von dem Geheimnis der Dreifaltigkeit gesagt wurde. […] Darum ist es glaubbar, dass die Welt begonnen hat, nicht aber beweisbar oder wissbar.« 67 Für diesbezügliche Hinweise zu Thomas v. Aquin danke ich Max Seckler. – Eine stets wiederkehrende – m. E. unbewältigte – schöpfungstheologische Schwierigkeit bzw. Aporie liegt offenbar darin, den einerseits denknotwendigen »überzeitlichen« Charakter der Schöpfung so zu denken, dass »Schöpfung« dennoch als »frei gewollte« und »gesetzte« durch den göttlichen Willen bestimmt wird, d. h. nicht »wesensnotwendig« mit dem Gottesgedanken verbunden ist; zugleich gilt es natürlich, die schiefe Vorstellung einer »leeren Zeit« bzw. einer »Dauer ohne Dauerndes« und damit verbundene »Zeit-Aporien« zu vermeiden. 66
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
»Gestalter« (von immer schon »Vorhandenem«) in der Schöpfungshinsicht völlig verfehlt, weil all dies jene schon genannten schiefen (Zeit-)Vorstellungen lediglich begünstigt. Setzt doch diese Vorstellung gerade das voraus, was eine kritische Schöpfungstheologie aus den genannten Gründen stets abgelehnt hat – nicht zuletzt ebendies, dass die mit der Zeit »gleichursprüngliche«, eben sich »auszeitigende« Schöpfung solcherart unversehens selbst zu einem Vorgang in der Schöpfung gemacht wird. 68 Thomas v. Aquin war die Unterscheidung zwischen Schöpfung (»creatio«) und Entstehung (»generatio«) besonders wichtig, zumal das innerweltlich zeitliche Werden und »Entwickeln« nicht mit jener transtemporalen Ursprünglichkeit der Schöpfung zu verwechseln ist – eine Einsicht, die sich freilich schon lange vor Thomas v. Aquin bei den um ein Schöpfungsverständnis bemühten Kirchenvätern zu finden ist, während sie bei Dawkins, der Thomas v. Aquin so vehement kritisiert, in dessen Vorwurf einer »Schöpfungslüge« nicht einmal Erwähnung findet … Auch Thomas v. Aquin macht jedenfalls jenen erwähnten Sachverhalt deutlich: Schöpfung ist keine »generatio« (bzw. »mutatio«) im Sinne eines innerweltlichen Entstehens, wodurch »etwas« in eine höhere Stufe und Gestalt befördert (transformiert) wird bzw. sich dahin »ent-wickelt«; deshalb läuft es ganz einfach auf einen elementaren Kategorienfehler hinaus, »Evolution« (von »etwas zu etwas«) mit der – als nur nachträglich thematisierbares unableitbares »Ins-Dasein-getreten-Sein« verstandenen – »Schöpfung« gleichzusetzen. An diese Schöpfungsdimension in ihrem spezifischen Voraus-Setzungs-Charakter reicht die stets auf schon »Vorhandenes« und »Entstehendes« bzw. »Evolvierendes« bezogene Evolutionstheorie »naturgemäß« gar nicht heran. 69 Diese Überlegungen des Augustinus bzw. des Thomas von Aquin stehen freilich allesamt unter den Vorzeichen einer »docta ignorantia«, d. i. einer »gelehrten Unwissenheit«, die sich – in ständigem Verweis auf die prinzipiell begrenzte »Erkenntnisweise« – der unüberwindlichen Grenzen des Wissens und der Sprache wohl bewusst ist, jedoch wenigstens »ex negativo« Missverständnisse abwehren will und sich zugleich weigert, diese Themen einfachhin, sei es
Die gelegentlich bevorzugte Übersetzung: »Als Anfang schuf Gott …« versucht offenbar diesem drohenden Missverständnis Rechnung zu tragen. 69 Auch in dieser besonderen Hinsicht ist Spaemann/Löws (schon zitierter: s. o. I, Anm. 40) Charakterisierung der »Evolutionstheorie« als »Bedingungsforschung« genau zu nehmen. 68
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
der »Irrationalität«, dem »Aberglauben« oder einem »Unglauben«, preiszugeben. Wenigstens hätte die Kenntnisnahme dieser von Thomas von Aquin ausdrücklich betonten Unterscheidung zwischen »creatio«, »generatio« und »evolutio« bzw. »mutatio« Dawkins vor seinen hastigen Fehlschlüssen und auch vor lächerlichen Hüftschüssen wie »Die Schöpfungslüge« bewahren können. Doch all diese Zusammenhänge und Einsichten ignoriert Dawkins hartnäckig – nicht zuletzt auch dies, dass bzw. weshalb die theologische Tradition (besonders prominent Augustinus und Thomas v. Aquin) auch alle Versuche einer vorstellungsmäßigen Ausmalung der Schöpfung im Sinne der darin angesprochenen Ursprungsrelation als verfehlt zurückgewiesen haben – vornehmlich im Blick auf die andernfalls drohenden Missverständnisse, die gerade auch in Dawkins’ Protest gegen die »Schöpfungslüge« in wünschenswerter Klarheit sichtbar werden. Von jemandem, der sich zu reißerischen Titeln wie »Die Schöpfungslüge« verführen lässt (dies jedenfalls nicht ablehnt), für sich selbst »philosophische Interessen« beansprucht und angeblich die intellektuelle Auseinandersetzung mit einschlägigen Fragen sucht, sollte man doch erwarten dürfen, dass er auch längst geleistete Differenzierungen in diesen Fragen einfach einmal nur zur Kenntnis nimmt. 70 Auch Kant war sich dieser Probleme – und dass »Schöpfung« nicht selbst als »Entstehung« verstanden werden kann – wohl bewusst: »Wenn etwas geschieht, so ist das bloße Entstehen, ohne Rücksicht auf das, was da entsteht, schon an sich selbst ein Gegenstand der Untersuchung. Der Übergang aus dem Nichtsein eines Zustandes in diesen Zustand, gesetzt, daß dieser auch keine Qualität in der Erscheinung enthielte, ist schon allein nötig zu untersuchen. Dieses Entstehen trifft, wie in der Nummer A gezeigt worden, nicht die Substanz (denn die entsteht nicht), sondern ihren Zustand. Es ist also bloß Veränderung, und nicht Ursprung aus Nichts. Wenn dieser UrNimmt man zur Kenntnis, wie differenziert und nuancenreich Thomas v. Aquin in seinen »Summen« mit dieser Schöpfungsthematik umgeht (s. dazu die quaestiones 44–47 der »Summe der Theologie«), dann kann man sich über die überhebliche Ignoranz nur wundern, mit der Dawkins über Thomas v. Aquin herfällt. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass die von Thomas v. Aquin dargebotenen Überlegungen nicht auch wichtige Rückfragen aufwerfen und sich wohl auch in mancher Hinsicht als unzureichend bzw. als aporetisch erweisen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass mit Blick auf ihn der von Dawkins konstruierte Widerspruch zwischen »Schöpfung« und/oder Evolutionstheorie überwunden werden kann.
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
sprung als Wirkung von einer fremden Ursache angesehen wird, so heißt er Schöpfung, welche als Begebenheit unter den Erscheinungen nicht zugelassen werden kann, indem ihre Möglichkeit allein schon die Einheit der Erfahrung aufheben würde« 71. Kant hat aber auch drohende Aporien in der Auflösung dieses Problems klar benannt: »Die Welt von Ewigkeit her erschaffen, wäre das nicht ein innerer Widerspruch? Denn so wäre ja die Welt gleich ewig wie Gott und doch sollte sie von ihm anhängen. Soll aber die Ewigkeit hier so viel als eine unendliche Zeit bedeuten, so mache ich mich eines regressus in infinitum schuldig und begehe eine Ungereimtheit. Die Schöpfung der Welt wird also nur wohl in der Zeit gedacht werden können? – Auch das nicht, denn sage ich: die Welt hat einen Anfang gehabt, so behaupte ich eben dadurch, dass vor dem Ursprung der Welt auch eine Zeit gewesen sei, weil jeder Anfang einer Sache eine Grenze von zwei Zeiträumen ist, nämlich das Ende einer verflossenen und der erste Augenblick einer folgenden Zeit. Ist aber, ehe die Welt war, auch schon die Zeit gewesen, so müsste dieses eine leere Zeit sein. Abermals eine Ungereimtheit! Und Gott selbst müsste in dieser Zeit sein.« 72 Auch hier klingt jenes erwähnte »Schöpfungs«-Motiv bei Kant noch einmal nach: Gott ist deshalb »in principio« zeitlos »vor« der Schöpfung, nicht »in initio«. Er hat deshalb auch ganz klar die Einsicht benannt, dass es in der Welt bzw. in der »Zeit« selbst natürlich keinen Platz für einen – sei es noch so (im Sinne Dawkins’) »komplexen« – Schöpfergott gibt, und daraus freilich ganz andere Konsequenzen als Dawkins gezogen. 73 Kant II 238 f. – In ähnlicher Absicht machte Kant auch gegenüber einem falschen Schöpfungsbegriff geltend: »Nur erfordert es das Bedürfnis unserer eigenen Vernunft, dass wir allenthalben die allgemeinen Gesetze aufsuchen, wonach gewisse Begebenheiten geordnet sind; denn dadurch bringen wir Einheit und Harmonie in unsere Naturkenntnis, anstatt dass, wenn wir jedes einzelne Ding in der Welt für eine Wirkung der besonderen göttlichen Vorsehung ansehen, alle Naturordnung zerstört wird« (XXVIII.2.2, 1219). 72 Kant AA XXVIII.2.2, 1205 f. 73 Philosophisch interessierte Leser/-innen seien bezüglich dieser Themen auf Kants berühmte (erste) »Antinomie« und seine »Auflösung« (in seiner »Kritik der reinen Vernunft«) hingewiesen: »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen« – versus: »Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums, unendlich« (II 412 ff.); ebenso auf die »Prolegomena« (III 210), wo Kant ausdrücklich die Beschäftigung mit diesen Themen »dem kritischen Leser« empfiehlt; gleichwohl ist hierfür eine gewisse Vertrautheit mit der »kritizistischen« Grundposition Kants eine notwendige Voraussetzung. – Zur Klärung einiger Grundfragen dieser Schöp71
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Sehr aufschlussreich ist diesbezüglich eine andere schöpfungstheologische Bemerkung Kants: »Die Schöpfung kann … nicht anders als simultanea, d. i. in einem Augenblick auf einmal vollendet worden sein; denn in Gott lässt sich nur ein einziger unendlicher actus denken, eine einzige fortdauernde Kraft, die in einem Augenblick eine ganze Welt schuf und sie in Ewigkeit erhält. In diesem Weltganzen wurden durch sie viele Naturkräfte gleichsam ausgegossen, die nach allgemeinen Gesetzen dasselbe nach und nach ausbildeten. Die Creation geht … bloß auf die Substanzen. Es ist daher auch nur von diesen Substanzen zu verstehen, wenn hier gesagt wird, dass die Weltschöpfung mit einem Male geschehen sei. Diese Substanzen bleiben nun auch immer beharrlich und ihre Anzahl wird weder vermehrt noch vermindert. Man kann daher auch nicht behaupten, dass Gott jetzt noch eine Welt schaffe, nämlich in dem Verstande, worin wir es hier nehmen, neue Substanzen, obgleich viele neue Weltformen entstehen können, die aus der nun vorhandenen Materie auf eine anderweitige Art zusammengesetzt werden« 74. Darin ist auch bei ihm das Problem der notwendig zu denkenden Einheit von »Schöpfung aus dem Nichts« und der »fortgesetzten Schöpfung« berührt, weil andernfalls sich unvermeidlich die problematische Vorstellung eines »Lückenbüßer«-Gottes aufdrängt. Schon aus diesen bloß beiläufigen Hinweisen auf traditionelle Thematisierungen dieser Sachprobleme (die Dawkins allesamt ignoriert, d. h. nicht einmal beiläufig in seinen Attacken gegen die »Schöpfungslüge« erwähnt) mag deutlich werden, dass er für diese elementaren schöpfungstheologischen Zusammenhänge offensichtlich nicht nur jedes Verständnis, sondern auch jede Bereitschaft vermissen lässt, sich wenigstens mit diesen traditionellen Themen einigermaßen vertraut zu machen – zumal er ja augenfällig beansprucht, sich auch diesen Themen widmen zu müssen und damit offenkundig auch Gehör finden will. 75 Doch ungeachtet des von ihm bekundeten fungsthemen sei jedoch eine philosophisch nicht bzw. nur wenig vorgebildete Leserschaft in hinführender Absicht eher auf Kants Vorlesungen hingewiesen, in denen er immer wieder diese Themen aufnahm und dabei offenbar bestrebt war, seinen Zuhörern auch die mit diesen Fragen verbundenen Schwierigkeiten und Aporien vor Augen zu führen – nicht zuletzt mit Blick auf das Problem der »Zeit« bzw. der Möglichkeit des »Anfangs der Welt« und somit auch darauf, dass »Schöpfung keine Begebenheit« in der Zeit ist (so z. B. AA XXVIII, 216). 74 Kant AA XXVIII.2.2, 1198. 75 Für weiterführende Hinweise zu diesen Sachthemen sei auf die einschlägigen Ar-
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
»philosophischen Interesses« war ihm auch eine Beschäftigung mit diesen Sachthemen offensichtlich zu »langweilig« und vielleicht auch zu mühsam. In Anbetracht der Dawkins’schen Fehlleistungen könnte für eine erste Orientierung schon die Lektüre der ersten Katechese von Kardinal Schönborn hilfreich (und keineswegs »langweilig«, s. o. II., Anm. 30) sein, die einige Grundmotive der thomasischen Schöpfungslehre katechetisch übersetzt und auch den Polemik-Bedarf Dawkins’ wenigstens hätten mildern können. Schon aus diesen Katechesen hätten Freunde und Angehörige seiner »Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« auch erfahren können: »Schöpfung ist, von unserem Weltverständnis her betrachtet, nicht ein ferner Anfang und auch nicht ein auf mehrere Stadien verteilter Anfang, sondern sie betrifft das Sein als zeitliches und werdendes: das zeitliche Sein ist als ganzes umspannt von dem einen schöpferischen Akt Gottes, der ihm in seiner Zerteilung seine Einheit gibt …« 76 Auf geradezu penetrante Weise zeigt sich Dawkins’ leichtsinniger Umgang mit philosophisch-theologischen Sachthemen in seiner hurtigen Kritik der traditionellen Gottesbeweise, der das folgende Kapitel gewidmet ist. Seine diesbezüglichen Ausführungen demonstrieren erneut in besonders eindrucksvoller Weise, was man sich unter den von ihm beanspruchten »philosophischen Interessen« und seinem Verständnis von »intellektueller Redlichkeit« näherhin vorzustellen hat. Unter dem Eindruck seiner einschlägigen Darlegungen nimmt sich nicht nur seine – gegen agnostische Positionen gerichtete – Klage über deren »Selbstsicherheit, die an Überheblichkeit grenzt«, aus seinem Mund jedenfalls ein wenig seltsam aus. Sein Umgang mit diesem Thema bestätigt vielmehr erneut den Sachverhalt, dass erhöhter Spott- und Entlarvungsbedarf offenbar nicht nur die Urteilskraft nachhaltig zu beeinträchtigen vermag, sondern nicht selten tikel »Schöpfung«, »Gott«, »Natürliche Theologie« in den schon genannten Nachschlagewerken hingewiesen. Ihre Anschaffung entspräche wohl einem vorrangigen Zweck der Dawkins-Stiftung und stünde so ganz im Einklang mit deren Leitbild: »Mehr Vernunft und weniger Glauben« – nämlich wie Dawkins zu glauben, dass seine evolutionstheoretisch begründete Kritik etwas mit »Schöpfung« zu tun hat. Wenigstens ein Teil der seitens der »Richard Dawkins Stiftung für Vernunft und Wissenschaft« (auch im Internet) erbetenen Spenden sollte doch für die Anschaffung dieser Basis-Literatur verwendet werden. 76 Kardinal Schönborn, Vorwort zu Horn/Wiedenhofer 2007, 12. Das hier zurückgewiesene Missverständnis wird allerdings dadurch geradewegs unterstützt, wenn bei Papst Benedikt XVI. kurioserweise von dem »Christentum« als »einer physikalische[n] Theologie« die Rede ist (Benedikt XVI. 2007, 29).
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überhaupt das erforderliche Sachverständnis vermissen lässt – ein auch evolutionsbiologisch gewiss erklärungsbedürftiges und wohl auch »Mem-theoretisch« aufschlussreiches Phänomen. 77 Jedoch sei auch dies ausdrücklich eingeräumt: Es ist gewiss vergleichsweise einfach, die diesbezüglichen schwerwiegenden Fehleinschätzungen und auch seinen völlig verfehlten Vorwurf einer »Schöpfungslüge« aufzudecken. Der berechtigte und auch erforderliche Nachweis solcher eklatanten einschlägigen Defizite ist das eine, d. i. ein gewiss unverzichtbarer erster Schritt; derart sind jedoch – dies ist lediglich die nicht zu vernachlässigende Kehrseite – die damit verbundenen Sachfragen noch gar nicht berührt, die auch dringliche und unabweisbare Rückfragen an die Theologie bezüglich dieser »Schöpfungsthematik« enthalten, die freilich auch nicht durch bloßes Ausweichen in blumige Erbauungs-Rhetorik zu beantworten sind und gewiss keine selbstzufriedene Genügsamkeit mit dem bloßen Aufweis jener Fehlleistungen des zeitgenössischen Atheismus erlauben. Man gewinnt indes weithin den Eindruck, dass die akademische Theologie diese großen intellektuellen Herausforderung nicht mit der angemessenen Aufmerksamkeit wahrnimmt – insofern bleibt auch die noch so berechtigte Kritik an den einschlägigen Defiziten des »Neuen Atheismus« noch vorläufig, weil solcherart natürlich die plausible Einlösung der Sachprobleme noch keineswegs selbst erbracht ist. Das von der wissenschaftlichen Theologie zu leistende »positive Geschäft« ist damit jedenfalls noch nicht eingelöst. Klaus Müller benennt deshalb völlig zu Recht einschlägige theologische Desiderate und verweist (abgesehen von der selbstverständlich »brennenden« Theodizee-Frage) auf »die Frage der Kosmologie – also, wie man angesichts des uns heute zur Verfügung stehenden Wissens über die Entstehung und Struktur des Universums von einem persönlichen Schöpfer sprechen kann: 1011 Milchstraßen lassen sich mittlerweile empirisch nachweisen … Aber was bedeutet da ›Schöpfer‹ und ›Schöpfung aus dem Nichts‹ ? Was heißt hier ›Person‹, wenn der Ausdruck nicht nominalistisch für eine ganz andere Wirklichkeit stehen soll, über die wir ansonsten mit diesem Wort sprechen? Sind das mehr als Floskeln der Verlegenheit?« 78 Diesen gewichtigen FraMan kann Hahn/Wiker nur zustimmen: »Dawkins’ Widerlegungen der berühmten fünf Gottesbeweise des hl. Thomas sind so flapsig, dass es fast wehtut« (Hahn/ Wiker 2012, 94). 78 Müller 2011, 35. 77
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Zu Dawkins’ Vorwurf der »Schöpfungslüge«
gen und Herausforderungen nicht auszuweichen, ist selbst eine Probe der »intellektuellen Redlichkeit«, die man zu Recht bei den Vertretern des »Neuen Atheismus« vermisst. Freilich: »Bei euch soll es nicht so sein« – an diese biblische Forderung darf deshalb auch in diesem Kontext erinnert werden …
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2. Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Es kann nicht überraschen, dass Dawkins’ radikaler Feldzug »gegen Gott, alle Götter, alles Übernatürliche, ganz gleich, wo und wann es erfunden wurde oder noch erfunden werden wird« (Gotteswahn 53), einen besonderen Höhepunkt in seiner Abrechnung mit den traditionellen Gottesbeweisen findet, denen Dawkins’ »Gotteswahn« sogar ein Hauptkapitel gewidmet hat. Ganz wie es sich für einen allein dem wissenschaftlichen Eros und dem Dienst der Aufklärung und zuletzt ebender Menschheit verpflichteten Wissenschaftler und Humanisten geziemt, macht er sich zunächst an die Einlösung dieser einer denkenden Leserschaft geschuldeten Aufgabe: »Bevor ich jedoch meinen wichtigsten Grund darlege, warum ich ganz entschieden nicht an Gottes Existenz glaube, ist es meine Pflicht, zunächst »die positiven Argumente für den Glauben abzuhaken[79], die im Laufe der Geschichte genannt wurden« (Gotteswahn 106 f.). Hierfür beansprucht Dawkins nun in der Tat, dass diese Auseinandersetzung mit dem Thema »Gottesbeweise« »einigermaßen umfassend« ausgefallen sei, obwohl sie sich, so Dawkins, auf eine Auseinandersetzung mit »jene[n] Theologen« beschränke, »die den Gedanken, es könne Gott nicht geben, ernst nehmen und dann Argumente für seine Existenz anführen« (Gotteswahn 523). Kant (der zwar kein Theologe war, aber doch dem Sachthema in besonderer Weise nahestand) Indes ist es, wie sich zeigen wird, mit diesem von Dawkins bekundeten pflichtgemäßen »Abhaken« offensichtlich, eine ganz eigene Sache: Denn jene Pflichtbeteuerung nimmt sich angesichts seines Umgangs mit den traditionellen Argumenten einigermaßen kurios aus und weckt eher den Verdacht, dass jenes pflichtbewusst vorgenommene »Abhaken« doch allzu sehr auf Kosten der nicht weniger gebotenen sachorientierten Auseinandersetzung geht. Den Lesern dieses Buches sei die genaue Überprüfung zugemutet, was Dawkins in seinem »Abhaken« aus den von ihm kritisierten traditionellen Argumenten macht. Bei einem genaueren Vergleich könnte sich herausstellen, dass Dawkins’ beanspruchte Auseinandersetzung mit den »positiven Argumenten« und ihr »Abhaken« wohl eher auf ein »Abhacken« hinausläuft.
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wurde dieses Dawkins’sche Privileg trotz seines ernsthaften Bemühens leider nicht zuteil – eine gewiss schlaue und erfolgreiche natürliche (»memetische«) Selektion im Dienste seiner BekehrungsMission. Indes, schon in seiner Darstellung jener vermeintlich »positiven Argumente für den Glauben«, die Dawkins »würdigen« möchte, lässt er, für den Leser freilich nicht mehr ganz überraschend, sogleich die Katze aus dem Sack: Dass es sich auch bei diesen »traditionellen Gottesbeweisen« in Wahrheit um dunkle, verworrene, ja geradezu unsinnige Gedanken handelt, denen im Grunde doch nur Recht geschieht, wenn sie vom kritischen Leser unter der Anleitung Dawkins’ mit Hohn und Spott übergossen werden. Sehen wir also zu, was von diesem wiederum ganz der intellektuellen Redlichkeit verpflichteten Vorgehensweise zu halten ist und ob sie sich nicht in der Tat eher belustigend ausnimmt – anders freilich, als Dawkins für seine »gute Portion Humor« beanspruchen will –, ein Vorhaben, das aber offenbar doch zu Lasten seiner uneingeschränkten »Wahrheitssuche« ging. Wer, wie Dawkins, die traditionellen Gottesbeweise als »auffallend schwach« (Gotteswahn 13) beurteilt, sollte doch wenigstens in der Lage sein, ihre Argumentationsfiguren einigermaßen richtig darzustellen. Davon kann allerdings, wie sich zeigen wird, überhaupt nicht die Rede sein. Seine – offenbar als vertrauensbildende Maßnahme vorausgeschickte – Absichtserklärung bzw. Ankündigung an seine Leserschaft, zunächst »die positiven Argumente für den Glauben« darlegen zu wollen, erweist sich dabei als ein leicht durchschaubares strategisches Manöver. Denn erwartungsgemäß erweist sich, dass diese vermeintlich »positiven Argumente« für den Gottesglauben genauer besehen nach Dawkins ohnedies so »positiv« nicht sind – und es könnte sich auch zeigen, dass diese »positiven Argumente« in den Fangnetzen Dawkins’ nicht nur noch einiges »Positive« einbüßen, sondern sich in seiner »Darstellung« geradewegs als handfeste Sinnwidrigkeiten erweisen, einer »Darstellung« freilich, die weithin eher einer »Entstellung« der zugrunde liegenden Sachfragen gleichkommt. Jedenfalls wird sich diesbezüglich wenigstens indirekt bestätigen, dass für diese von ihm beanspruchte kritische Behandlung der traditionellen Gottesbeweise offensichtlich seine Bemerkung nicht zutrifft: »Meme können bisweilen höchste Wiedergabetreue zeigen« – müssen aber offenbar nicht, und wo dies in eklatantem Ausmaß nicht der Fall ist, sind bisweilen auch Erklärungen für gröbere MemVerzerrungen unschwer zu finden. Es wird sich bestätigen: Offenbar 441 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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nicht ganz zufällige »Mem-Mutationen« und hemmungslose Diffamierung, vereint mit Spaß-Bedarf und dennoch im Namen »intellektueller Redlichkeit« bewährte Strategien bzw. erfolgreiche »evolutionäre Mechanismen« im erbarmungslosen Kampf um MempoolVerbreitung.
2.1 Zwei philosophie- und theologiegeschichtliche Vorbemerkungen zum Thema »Gottesbeweise« 2.1.1 Weshalb auch die biblische Forderung, »Rechenschaft über das Geglaubte abzulegen«, dem Entlarvungsbedarf Dawkins’ zum Opfer fällt Weil Dawkins’ Skepsis sich bemerkenswerterweise besonders gegen die Katholiken (genauer: »gegen Rom«) richtet, sei vorweg daran erinnert, dass es Thomas von Aquin, der wohl einflussreichste katholische Kirchenlehrer, ausdrücklich abgelehnt hat, dass »Gottes Existenz« lediglich eine »Glaubenssache« sei – und zwar in der bestimmten Hinsicht, dass doch allein die allgemeine Menschenvernunft als die Basis und Rechtfertigungsgrund des Gottesglaubens bzw. Letzterer auch als ein »Menschheitsthema« ausgewiesen werden könnte. In diesem Sinne hat auch die in der theologischen Tradition betonte Forderung eines um Einsicht und rationale Verantwortbarkeit bemühten Glaubens (»fides quaerens intellectum«) bzw. der Angewiesenheit des Glaubens auf die Vernunft einem bloßen vernunft- und aufklärungsfeindlichen »Fideismus« stets eine entschiedene Absage erteilt. Dies muss es deshalb – gegen Dawkins’ wiederholte gegenteilige Unterstellung – gemäß der Tradition katholischer Theologie auch verbieten, sich für den Gottesglauben auf besondere Intuitionen und Sonderevidenzen – etwa auf bloß individuelle Erlebnisse und Privatoffenbarungen – zu berufen. 80 Dass einschlägige erhobene Ansprüche nirgendwo als zureichende Begründung und Verbindlichkeit des Gottesglaubens anerkannt wurden, fällt bezeichnenderweise dem – die geistesgeschichtlichen Gegebenheiten völlig ignorierenden – Phantasie- und Belustigungsbedarf Dawkins’ zum Opfer: »Darüber machen Nicht erst Kant kritisierte entschieden die Berufung auf den »Illuminatism innerer Offenbarungen, deren jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr stattfindet« (Kant VI 312).
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wir uns lustig, aber wir nehmen ihre innerlich offenbarten Überzeugungen nicht ernst, vor allem weil nicht viele Menschen sie teilen. Religiöse Erlebnisse sind nur in einer Hinsicht anders: Zahlreiche Menschen behaupten, sie hätten sie gehabt« (Gotteswahn 123 f.). Demgegenüber war in der theologischen Tradition stets die Anstrengung des denkerischen Aufweises in Anspruch genommen – und zwar schon deshalb, weil ein der Vernunft widersprechender Glaube auch nicht geboten sein kann; der Anspruch, dass die »Vernunft eine Freundin des Glaubens« sei (so Thomas von Aquin), wäre andernfalls gerade nicht aufrechtzuerhalten. In den Gottesbeweisen war es ja auch keineswegs um einen Ersatz für den Glauben zu tun; waren diese doch vielmehr von der Absicht geleitet, das im tradierten Glauben Übernommene nachträglich-nach-denkend auch vor der Vernunft als plausibel und rational ausweisbar zu machen, d. h. vor sich und den Anders- sowie auch den Ungläubigen zu rechtfertigen, um sich so nicht der Irrationalität eines vernunftfeindlichen »Fideismus« auszuliefern. Bezeichnenderweise ignoriert Dawkins schon den leicht überprüfbaren Sachverhalt, dass Thomas von Aquin sich in seiner »Summa contra gentiles« ganz ausdrücklich von der Absicht leiten ließ, sich mit den Un- und Andersgläubigen – also jenen, die die religiösen Autoritäten und Überlieferungen der christlichen Lehre entweder gar nicht kennen oder diese nicht anerkennen – auf den allen gemeinsamen Boden der Vernunft zu stellen. In diesem Sinne betonte Thomas von Aquin bezüglich der Gottesthematik ausdrücklich: »Deshalb ist es notwendig, auf die natürliche Vernunft zurückzugreifen, der alle beizustimmen gezwungen sind.« 81 Allein dies ermögliche es Thomas v. Aquin, Summa contra gentiles 7. – Interessierte Leser/-innen seien hier auf die Argumente verwiesen, die Thomas v. Aquin für seine Auseinandersetzung mit den Nicht- und Andersgläubigen in seiner »Summa contra gentiles« anführt (ebd.). – Eine unvoreingenommene Leserschaft mag vielleicht der Hinweis darauf zur Eigenlektüre inspirieren, dass der einer religiösen Parteigängerschaft gewiss unverdächtige Jürgen Habermas zu einer ganz anderen Einschätzung der Geistesart des Thomas von Aquin gelangt: »Wenn ich in die ›Summa contra gentiles‹ des Thomas von Aquin hineinschaue, bin ich von der Komplexität, dem Grad der Differenzierung, dem Ernst und der Stringenz der dialogisch aufgebauten Argumentation hingerissen. Ich bin ein Bewunderer von Thomas. Er repräsentiert eine Gestalt des Geistes, die ihre Authentizität aus sich selbst heraus verbürgen konnte« (Habermas 2001, 178). – Aber auch bei dem von ihm viel geschmähten Anselm v. Canterbury hätte Dawkins sich von der Haltlosigkeit seiner Anschuldigung überzeugen können: »Denn es ist nur angemessen, dass ich, wenn wir die Begründung unseres Glaubens zu erforschen trachten, die
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nämlich auch, den Nicht- und Andersgläubigen die eigenen – freilich stets fehlbaren – Überzeugungen als zustimmungsfähig und somit als »vernünftig« auszuweisen. Dies verlangt freilich gleichermaßen die Bereitschaft, sich von anderen Auffassungen in argumentativer Auseinandersetzung belehren zu lassen – »prüfet alles, das Gute behaltet« (1 Thess 5,21). Und die aus den Worten des Thomas v. Aquin (in seinem Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles) erkennbare Besonnenheit kann man den »brights« vom Kaliber eines Dawkins jedenfalls nur wünschen: »Bei der Entscheidung für oder gegen eine Lehrmeinung darf der Mensch sich nicht von Liebe oder Hass gegen den leiten lassen, der eine solche Meinung aufstellt, sondern allein von der sicheren Wahrheit. Daher muss man alle Gesprächspartner lieben, nämlich die, deren Meinung wir annehmen, und die, deren Meinung wir ablehnen. Alle nämlich haben sie sich um die Erforschung der Wahrheit bemüht und somit uns geholfen. Aber man muss derjenigen Meinung sich anschließen, die mit größerer Gewissheit die Wahrheit getroffen hat.« Jene von Thomas v. Aquin ebenfalls erhobene berühmte Forderung, man müsse sich auch mit dem Ungläubigen auf den Boden der allen gemeinsamen menschlichen Vernunft stellen, was ihnen gegenüber die bloße Berufung auf andere beanspruchte Autoritäten geradewegs verbieten muss, wird von Dawkins beharrlich ignoriert – hingegen unterstellt er in leicht durchschaubarer Absicht ein angeblich gefordertes »Opfer des Intellektes« (»sacrificium intellectus«). Es ist bemerkenswert, mit welcher Unbekümmertheit sich Dawkins darüber hinwegsetzt, dass Thomas v. A.s Programm einer »fides quaerens intellectum« (ein »Glaube, der die intellektuelle Verantwortbarkeit des Geglaubten sucht«) gerade jene Einstellung verbietet, die Dawkins der christlichen Tradition (mit der er sich kurioserweise »am vertrautesten« wähnt) ganz ungeniert zuschreibt: »Glauben ohne Belege ist eine Tugend. Je mehr dein Glaube den Belegen widerEinwände derer vorbringe, die diesem Glauben durchaus nicht ohne Begründung beipflichten wollen. Obschon nämlich jene deshalb nach Gründen fragen, weil sie nicht glauben, wir dagegen, weil wir glauben, so ist es doch ein und dasselbe, wonach wir forschen« (Anselm von Canterbury, Cur deus homo [Warum Gott Mensch geworden ist], Kap. 3.15). Schon vor 40 Jahren (und ungebrochen bis heute) pflegt Dawkins mit Eifer das ihm offenbar besonders kostbare »Mem«, wonach der religiöse Glaube »blindes Vertrauen« bedeute – »blindes Vertrauen ohne Beweise und sogar den Beweisen zum Trotz« (Das egoistische Gen 233), wie er in seiner eigenwilligen Bezugnahme auf die neutestamentliche Geschichte vom »ungläubigen Thomas« erzählt.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
spricht, desto tugendhafter bist du […] Es gibt seltsame Dinge (beispielsweise die Dreifaltigkeit, die Wandlung oder die Wiedergeburt [?]), die wir gar nicht verstehen sollen [!]. Wir dürfen uns nicht darum bemühen, sie zu verstehen, denn ein solcher Versuch könnte sie zerstören. Lernen wir lieber, Erfüllung darin zu finden, dass wir sie als Geheimnisse bezeichnen« (Gotteswahn 280). 82 Dass schon im Neuen Testament genau das Gegenteil davon steht (und diese unsinnigen Unterstellungen Dawkins’ nicht zuletzt durch das intensive theologische Ringen der frühen Kirche – und nicht zuletzt die Konzilien – widerlegt werden), berührt Dawkins freilich nicht und zeigt so womöglich einen weiteren groben – bei gutem Willen allerdings leicht behebbaren – Mem-Defekt hinsichtlich der »Wiedergabetreue« an (s. o. I., 2.2.1); einmal mehr drängt sich die Frage auf, ob und wie sich Dawkins’ Problemeinschätzung von bloßen Ausgeburten einer ungehemmten Phantasie unterscheidet. Wer (wie Dawkins) so leichtfertige – und auch leicht widerlegbare – Unterstellungen in die Welt setzt, verdient alles Misstrauen auch dort, wo vorgeblich eine sachliche Auseinandersetzung mit den strittigen Fragen und eine Prüfung der »positiven Argumente für den Glauben« beansprucht werden – denn auch hier scheut Dawkins ja vor karikierenden Problemverzerrungen nicht zurück, wie nicht zuletzt sein »Umgang« mit dem Thema der Gottesbeweise eindringlich vor Augen führt. All diese angeführten – seinen einschlägigen Vorurteilen zuwiderlaufenden – Stellungnahmen werden von Dawkins, sei es aus Unkenntnis, ignoriert oder verschwiegen bzw. sogleich durch die erstaunliche Auskunft überspielt, für die er freilich jeden Aufweis schuldig bleibt: »Das Entscheidende am religiösen Glauben, seine Stärke und sein wichtigster Stolz, ist ja gerade, dass er keiner rationalen Begründung bedarf. Von uns anderen dagegen wird erwartet, dass wir unsere Vorurteile verteidigen. Fragt man aber einen religiösen Menschen nach einer Rechtfertigung für seinen Glauben, verletzt man die ›Religionsfreiheit‹« (Gotteswahn 38). Übrigens: Wäre Dawkins auch nur einigermaßen mit diesen Themen vertraut, so wäre ihm wohl auch die bekannte biblische Forderung nicht verborgen geAuch in den Medien (s. wiederum »Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur) verkündete er publikumswirksam – und leider auch unwidersprochen: »Religion lehrt, dass man seinen Glauben nicht rechtfertigen muss«. Selbst die linientreuesten »brights« werden wohl nicht bestreiten können, dass einschlägige Behauptungen Dawkins’ in direktem Widerspruch zu den angeführten biblischen bzw. theologischen Lehren steht.
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blieben, »stets Rede und Antwort zu geben, und Rechenschaft über die Hoffnung des Glaubens abzulegen« (1 Petr 3,15). Diese ausdrückliche neutestamentliche Forderung findet offenbar in Dawkins’ Mem-Haushalt einfach keinen Platz. Wäre er mit seiner erwähnten Beschuldigung im Recht, so hätte also paradoxerweise der Apostel Petrus selbst mit dieser von ihm erhobenen Forderung schon gegen die »Religionsfreiheit« verstoßen? 83 Ziemlich genau das Gegenteil zu den Dawkins’schen Behauptungen findet sich ebenso bei Anselm v. Canterbury: »Negligentiae mihi videtur, si postquam confirmati sumus in fide, non studemus, quod credimus, intelligere.« 84 Die Kenntnisnahme einschlägiger Erklärungen ist in Dawkins’ Überredungsstrategien einfach nicht vorgesehen – sein unzähmbarer, allein der vorbehaltslosen Wahrheitssuche verpflichteter Eifer weiß es freilich wieder besser: »Glaube ist genau deshalb bösartig, weil er keine Rechtfertigung braucht und keine Diskussion duldet« (Gotteswahn 429). Wer vor solchen bewussten Verdrehungen nicht zurückscheut, muss sich in der Tat auch fragen lassen, wie es um seine Wahrhaftigkeit bestellt ist. Man muss von den Sachfragen selbst noch gar nichts verstehen, um sich davon überzeugen zu können, dass Dawkins das Gegenteil dessen behauptet, was in den ihm missliebigen Positionen vertreten wird bzw. geschrieben steht. Wie gesagt, die völlige Haltlosigkeit dieser Unterstellung kann der unvoreingenommene Leser anhand der einschlägigen Texte unschwer erkennen. Die auch bezüglich dieser Themen sehr seltsame »Argumentations«-Strategie Dawkins’ lässt den ausdrücklichen Hinweis darauf als nicht überflüssig erscheinen, dass es vor allem (der von Dawkins viel geschmähte) Thomas v. Aquin war, der das Eigenrecht der menschlichen Vernunft und ihre nicht dispensierbare Verantwortung als »lumen naturale« ins Recht gesetzt hat. Dass sich schon bei Thomas v. Aquin – der ausdrücklich von unumgänglichen »praeambulae fidei« (den argumentativ auszuweisenden vernünftigen Voraussetzungen des Gottesglaubens) spricht – das Gegenteil von dem findet, was Dawkins offensichtlich in ungebrochenem Vertrauen auf eine unbeDies wäre freilich eine bloße Konsequenz aus dieser kuriosen Dawkins’schen Argumentation; aber auch Paulus hätte sich der Verletzung der Religionsfreiheit schuldig gemacht, betont doch auch er die Pflicht zur begründenden (und nur so verständlichen) Rede im Unterschied zur verzückten »Zungenrede« (vgl. 1 Kor 14). 84 Anselm v. Canterbury, Cur deus homo I, 1–2: »Es ist m. E. eine Fahrlässigkeit, zu meinen, dass wir, nachdem wir im Glauben gestärkt wurden, jetzt nicht mehr danach streben sollten, auch einzusehen, was wir glauben« (Übersetzung v. Verf.). 83
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darfte (und seiner suggestiven Begabung erliegende) Leserschaft unterstellt, hätte demnach schon ein Blick auf dessen Anliegen und Argumente verdeutlichen können. Dies scheint den so eifrigen Bekämpfer des »Gottes-Wahnes« indes nur wenig zu interessieren – verständlicherweise, denn andernfalls müsste dies sein polemisches Unternehmen massiv beeinträchtigen. Auch sein Umgang mit den traditionellen »Gottesbeweisen« insgesamt bzw. mit den Kernmotiven der sogenannten »natürlichen Theologie« – die eben ohne Bezug auf Offenbarung, heilige Texte oder irgendwelche religiöse Erfahrung, d. h. rein aus der Vernunftbegabung des Menschen im Ausgang von der Welterfahrung, das Dasein Gottes aufweisen will – verrät eine intellektuelle Fahrlässigkeit und Unkenntnis, die alle wissenschaftlichen Standards souverän unterbieten bzw. überhaupt ignorieren und seinem Beifall-heischenden Belustigungsbedarf opfern 85. Es soll sich im Folgenden zeigen: Was Dawkins auch bezüglich der Thematik der traditionellen »Gottesbeweise« zu »zeigen« beansprucht (Gotteswahn 13), verdankt sich weithin einer ebenso groben wie auch bequemen Simplifikation und Verzerrung der leitenden Problemstellungen. Auch sein Umgang mit diesen Themen scheint zu bestätigen, dass er offenbar allzu sehr auf das evolutionär zwar gut bewährte denkökonomische Prinzip der großen »Einfachheit« setzt und dies wohl auch ein wenig die Wahrnehmungsfähigkeit trübt: »Der Einfachheit halber werde ich von nun an alle Gottheiten, ob poly- oder monotheistisch, als ›Gott‹ bezeichnen. Ich bin mir auch bewusst, dass der Gott Abrahams aggressiv männlich ist (um es vorsichtig auszudrücken), und werde diese Konvention in meinem Gebrauch der Substantive berücksichtigen« (Gotteswahn 52). Indes bleiben erneut begründete Zweifel, ob da nicht doch zuletzt schon das übergroße Bedürfnis nach »Einfachheit« – verbunden mit einer guten »Portion Humor« (Gotteswahn 524) – das Bemühen um ein einigermaßen angemessenes Sachverständnis verdrängt. Könnte es nicht eher so sein, dass just jene Götter, gegen die Dawkins so energisch ankämpft und dabei zu polemischer Hochform aufläuft, der »Phantasie« seines eigenen »Gottes-Wahnes« entsprungen, d. h. von ihm selbst (bzw. den »Ausdrucksformen seines Gehirns«) erfunden sind Brüntrups Urteil (2008, 131) nimmt sich insofern noch ein wenig zu milde aus: »Die Art und Weise, wie er [Dawkins] beispielsweise die ›Fünf Wege‹ des Thomas von Aquin präsentiert, macht deutlich, dass er sich hier weit außerhalb des Gebiets seiner Expertise bewegt.«
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und sich so, genauer besehen, sein Unternehmen als ein gewiss recht erfolgreicher Kampf gegen seine eigenen Erfindungen erweist? Die nachfolgenden Überlegungen dieses Kapitels zielen deshalb auf den Nachweis ab, dass die meisten seiner Argumente (Gotteswahn 119 ff) offensichtlich nicht so sehr aus der (von ihm vorgespiegelten) unvoreingenommenen »Wahrheitssuche«, sondern wohl eher von der Absicht beflügelt sind, die Motive, Ansprüche und Begründungsfiguren der traditionellen Gottesbeweise als absurd »vorzuführen« und so der Lächerlichkeit preiszugeben. Um dies zu erreichen, scheut er auch hier vor völlig unhaltbaren Verzerrungen und Unterstellungen nicht zurück, die jedem Anspruch auf »intellektuelle Redlichkeit« spotten. Übrigens: Das war ja schon immer eine bewährte – obgleich leicht durchschaubare – Strategie: Man wünscht sich die bekämpften Gegner (hier eben: Theologie und Philosophie) möglichst primitiv und stellt sie in entsprechender Weise auch dar, um damit in der Folge leichtes Spiel zu haben. 86
2.1.2 Zur Erinnerung: Die philosophisch-metaphysische Frage nach der »Letztbegründung« bei Thomas von Aquin: Anspruch und Ausgang der »fünf Wege« Die in der spätmittelalterlichen Theologie und Philosophie entfalteten Gottesbeweise knüpfen freilich teilweise an Fragestellungen an, die mit dem philosophischen Denken bei den Griechen von Anfang an verbunden waren: Anhebend in der sogenannten »Achsenzeit« hat sich bekanntlich innerhalb des im eigentlichen Sinne philosophischen Denkens (im Zuge bzw. nach seiner zunehmenden Ablösung von der »mythischen Welterfahrung«) die »Grund«-Frage auch begrifflich immer differenzierter entfaltet und darin näherhin die Erfahrung Die Bemerkung von T. Eagleton in seiner Rezension des Dawkins’schen »Gotteswahns« (»Fuchteln, dreschen, danebenhauen«) trifft zweifellos zu: »Dawkins wurde offenbar gelegentlich von Theologen vorgeworfen, er baue Strohmänner auf, nur um sie wieder umzuwerfen, ein Vorwurf, den er in seinem Buch zurückweist; wenn doch aber Der Gotteswahn irgendetwas darstellt, das vergehen soll, dann haben sie absolut recht. Was die Theologie betrifft, hat Dawkins enorm viel gemeinsam mit Ian Paisley und den amerikanischen Fernseh-Evangelisten« (= Eagleton 2006). – Die den Gotteswahn Dawkins’ bestimmende »Geistesart« wird in dieser Rezension Eagletons weithin sehr zutreffend charakterisiert. Man kann es gar nicht treffender als Eagleton sagen: ein einziges »Fuchteln, Dreschen, Danebenhauen«.
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und Überzeugung expliziert: Die erfahrene Welt – in ihrem Dassund So-Sein – und die in ihr auftretenden Phänomene erweisen sich als staunenswert und frag-würdig, d. h., sie geben dem menschlichen Geist zu denken und weisen in diesem Sinne das buchstäblich den »Dingen auf den Grund gehende« Fragen über das sinnlich erfahrbare »Gegebene« hinaus. Leitend ist darin die Suche nach einer Letztbegründung dieser erfahrenen Wirklichkeit im Ganzen, wodurch in solchem Begründungsgang das Denken sich in immer differenzierterer Gestalt auf den Abschluss-Gedanken eines »Letzbegründenden« verwiesen sieht, der, je nach Ausgangspunkt des Fragens, d. h. der je bestimmenden Frage-Hinsicht, unterschiedliche Konturen gewinnt. Und von diesem, so macht der jeweilige Schlusssatz der »fünf Wege« des Thomas v. Aquin 87 geltend, sei zu sagen: Das sei es, »das alle Gott nennen«. Näherhin war es die philosophische Frage nach der Kontingenz 88 der Welt insgesamt – d. h.: Warum ist sie und, wenn sie schon existiert (also wirklich ist, aber eben nicht notwendigerweise existiert), warum zeigt sie sich in dieser besonderen Seinsweise und Verfassung, »warum ist Kosmos und nicht nur Chaos«? –, die dem nachdenklichen menschlichen Geist in doppelter Hinsicht als fragwürdig (d. h. gleichermaßen als problematisch und »des Fragens würdig«) erscheinen musste. Daran ist die Einsicht geknüpft, dass dieses zu bedenkende »Letztbegründende« der Wirklichkeit (ihr »zureichender Grund«) als solches jedoch nicht selbst wiederum von derselben Seinsart sein Bezüglich der einzelnen »Wege« des Thomas v. Aquin bleibt auch darauf zu achten, dass diese offenbar auch untereinander in einem gestuften Zusammenhang miteinander stehen, d. h. sich auch »stufenförmig« voraussetzen – ein Sachverhalt, der freilich in Dawkins’ polemischer Abrechnung überhaupt keine Beachtung findet, die er seiner Leserschaft erstaunlicherweise als eine pflichtgemäße Auseinandersetzung mit den in der Tradition geäußerten »positiven Argumenten« des Gottesglaubens verkaufen will. 88 »Kontingent« heißt, in einem ganz allgemeinen Sinne, im philosophischen Sprachgebrauch ein zwar »Wirkliches«, das gleichwohl ebenso gut nicht (hinsichtlich seines »Dass-Seins«) oder eben auch anders (hinsichtlich seines »So-Seins«) ist – im Unterschied zu jenem, das notwendig existiert (d. h. nicht nicht-sein kann). Dass die Berufung auf Zufall den philosophischen Sinn von »Kontingenz« prinzipiell verfehlt, betont P. Weingartner: »Jede Definition von Zufall (randomness) setzt die Existenz eines Zustandes, Ereignisses, Prozesses, einer Sequenz voraus. Wenn es nichts gibt, dann gibt es auch keinen Zufall. Ohne existierende Zustände, Ereignisse, Prozesse, Sequenzen, die wiederum Entitäten physikalischer oder biologischer Art voraussetzen, kann man Zufall (randomness) nicht definieren. Deshalb sind auch Aussprüche oder Behauptungen der Art wie ›die Welt (das Universum) entstand (oder entwickelte sich aus dem Nichts) durch Zufall‹ barer Unsinn« (Weingartner 2010, 220). 87
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kann wie das von ihm Gegründete; das heißt: Soll ein unendlicher Begründungsregress innerhalb der kontingenten Begründungsreihe vermieden werden, so kann dieses letztbegründende Prinzip eben nicht selbst wiederum ein bloß »Kontingentes« sein, d. i. als von »gegenständlicher« Seinsweise vorgestellt werden. Sofern es demgemäß in radikaler Differenz zu »innerweltlich Vorhandenem« (als des einer Begründung bedürftigen) zu denken ist und folglich von ihm all diejenigen Bestimmungen negiert werden müssen, die für das kontingenterweise Wirkliche für »Endliches« überhaupt zutreffen, besagt dies zunächst, dass der in diesem Aufstieg des Denkens erdachte – selbst unbedingte – Grund von allem somit »nichts von demjenigen« sein kann, dessen Grund es ist, und insofern als »absolut transzendent« gedacht werden muss 89. Nicht zuletzt aufgrund bzw. im Ausgang von der inneren Gegliedertheit und Struktur des Lebendigen als eines »harmonischen Ganzen« wurde dieser im philosophierenden Denken thematisierte »Grund aller Wirklichkeit« schon bei den Griechen als eine vernünftig-ordnende Letzt-Ursache bestimmt. Dies lässt es somit lediglich als konsequent erscheinen, dass das in dieser Gedankenbewegung resultierende »Letztprinzip« in der Geschichte des philosophischen Denkens zunehmend nicht mehr als GegenStand objekthaft vorgestellt, sondern immer »gereinigter« – und d. h. auch »abstrakter« – als das letztbegründende Absolute gedacht wurde 90. Bei Thomas v. Aquin führt dies, im Kontext der Thematik der Gottesbeweise, sodann auf die von ihm gezogene radikale Konsequenz: Genau genommen wissen wir von Gott ohnehin lediglich, dass er ist; was er ist, wissen wir nicht, sondern lediglich, was er nicht ist, weshalb die philosophisch-»metaphysischen« Bestimmungen allesamt im Grunde lediglich einen »negativen« – Transzendenzsichernden – Sinn haben und im Übrigen auf das Problem der »anaBei dem Neuplatoniker Plotin kommt dies in besonders zugeschärfter Weise zum Ausdruck: »Es ist das Nichts alles dessen, dessen Grund Es ist, in dem Sinne jedoch, dass Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, nicht Sein, nicht Wesenheit, nicht Leben – das all diesem Transzendente ist« (Enneaden III 8, 10, 28–31). 90 »Es dünkt mich eine außerordentliche Weisheit zu sein, den ›Grund‹ von allem zu wissen, durch welchen es entsteht und vergeht und durch den es das ist, was es ist« (Phaidon 97a); »Sollen wir also, sprach er, zwei Arten des Seienden setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? – Das wollen wir, sprach er. – Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich? – Auch das, sagte er, wollen wir setzen« (Platon, Phaidon 79a); »Über alles schien die erste Philosophie nur zu stammeln, als sie noch jung war und am Beginn stand« (Aristoteles, Metaphysik 993a). 89
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logen Rede« verweisen, weil schon »seiend« von Gott und »WeltlichSeiendem« ja keinesfalls in ein und derselben Weise ausgesagt werden kann 91. Letzteres setzt freilich Dawkins ausdrücklich schon deshalb voraus, wenn er die Existenz Gottes als »Gotteshypothese« entscheiden möchte. Mit Blick auf die von Dawkins selbst bisweilen verspürten »metaphysischen Neigungen« und seine ausdrücklich bekundeten philosophischen Interessen wäre zu sagen: Es war in dieser Hinsicht durchaus auch die Erfahrung jener von Dawkins bestaunten »Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind« (Gotteswahn 32), 92 wodurch die menschliche Vernunft »staunend und fragend« sich gleichsam über die sinnliche »Erscheinungswelt« hinausgezogen erfährt; dadurch wurde also das Nachdenken über den Bereich des »sinnlich Erfahrbaren« hinaus gewissermaßen auf den »Weg der Forschung« gebracht und sah sich in solchem »Nachdenken« über die sinnlich erfahrbare Welt hinaus auf ein »Letztes«, d. h. »Un-Bedingtes« und »Ganzes«, verwiesen. Diese in der (später noch von Kant sogenannten, s. o. II., 2.) »metaphysischen Naturanlage« 93 der Menschen begründete »denkende Erhebung« über das raumzeitlich Gegebene hinaus – die der Sache nach ja auch jenen von Dawkins selbst beanspruchten Erfahrungen zugrunde liegt – und dessen Streben Schon ein sehr bezeichnendes neuplatonisches Motiv machte in diese Richtung geltend: »Wir sagen, was er (Gott) nicht ist; was er ist, sagen wir nicht« (Plotin) – eine Auffassung, die natürlich nicht zuletzt den Einspruch von Dawkins’ »Komplex«-Denken provozieren muss (s. u. 457 f.). 92 Wahrlich in solch »enthusiastischen« Tönen kann doch nur jemand reden, der an der Seite Platons den Aufstieg aus der Höhle und daraufhin den erneuten Abstieg zu den Höhlenbewohnern mit Erfolg vollzogen hat und nunmehr auch die von den Fesseln des (hinter das Licht führenden) Aberglaubens befreiten atheistischen Freunde an die Quellen des Lichts bringen, d. h. den »brights« und ihrem Zentrum, der »clear thinking oasis«, zuführen will. Es ist, als ob ihnen Dawkins mit Platon zurufen wollte: »Denn gewöhnt ihr euch hinein: so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt« (Platon, Politeia 520c). 93 Der Eröffnungssatz der Vorrede von Kants »Kritik der reinen Vernunft« lautet: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (II 11). 91
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nach dem Wissen, »was eigentlich ist«, was dieses Seiende »zusammenhält« und als letzter Grund desselben gedacht werden muss, hat sodann in den einzelnen Gottesbeweisen in der theologisch-philosophischen Tradition unterschiedliche Entfaltungen und eine systematische Darstellung gefunden: Es stellt dies das Grundgerüst der später sogenannten, in jeweils unterschiedlicher Weise von der menschlichen Welterfahrung ausgehenden »natürlichen Theologie« dar, die ihre Argumente allein der allen Menschen gemeinsamen »natürlichen Vernunft« (d. h. nicht dem Rekurs auf Offenbarung, auf heilige Texte, Traditionen und Autoritäten) verdankt und ebendeshalb auch als allgemein zustimmungsfähig beansprucht wurde. Freilich, nach dem Urteil Dawkins’ laufen die traditionellen Argumente für das Dasein Gottes, auf deren Prüfung und Widerlegung »die zentrale Argumentation [s]eines Buches abzielt« (Gotteswahn 222), ohnehin gleichsam auf einen offenkundigen »Missbrauch der menschlichen Vernunft im Dienste des irrationalen Glaubens« hinaus. Wer diese traditionellen Begründungsfiguren »allesamt [als] äußerst schwach« einschätzt, sollte aber doch wenigstens dazu in der Lage bzw. willens sein, sie in ihren Grundintentionen einigermaßen korrekt darzustellen und sie nicht bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln. Deshalb vorweg noch eine Klarstellung: Die zugrunde liegenden Motive, aber auch die Argumentationsstruktur der Gottesbeweise gegen Dawkins’ Verzerrungen – besser: »Verhunzungen« – in Schutz zu nehmen, ist natürlich auch dann geboten, wenn man das mit diesen »Gottesbeweisen« verknüpfte Vorhaben als nicht durchführbar einschätzt, d. h. ihren Begründungsanspruch letztlich für nicht stichhaltig hält (nicht zuletzt dies kann man, wie sich zeigen soll, von Kants kritischem Umgang mit diesen Themen nach wie vor lernen). Auch wenn sich also, aus philosophischen Gründen, die Ansprüche und die Stringenz der traditionellen Gottesbeweise allesamt als problematisch erweisen sollten und man den Ansprüchen der »natürlichen Theologie« auch nicht mehr jene Plausibilität und Stringenz zubilligen möchte, wie dies bisweilen noch geschieht, so bleibt davon jedoch dies ganz unberührt, dass Dawkins’ Darstellung der Motive und Begründungsstruktur der »natürlichen Theologie« weithin als völlig verfehlt – ja großteils geradezu als eine schlechte Karikatur derselben – angesehen werden muss. Dies lässt auch jenen von ihm erhobenen Anspruch einer kritischen Prüfung der »positiven Argumente« des Gottesglaubens als ein leicht durchschaubares »Täuschungsmanöver« erscheinen. Ein Großteil seiner diesbezüglich vor452 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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getragenen Argumente (Gotteswahn 119 ff) verdankt sich offensichtlich dem unstillbaren Bedürfnis, diese Begründungsfiguren zunächst einmal lächerlich zu machen und als völlig absurd zu verabschieden. Dies erlaubt ihm offenbar auch nicht den notwendigen unbefangenen Blick auf die leitenden Sachfragen und beflügelt demgegenüber seinen Phantasie-reichen erfolgsträchtigen »Belustigungsbedarf«, der lediglich die – allerdings sehr Mem-verwandte und nahezu auf Augenhöhe operierende – harte Konkurrenz von Comic-Heftchen über Spaghetti-Monster u. Ä. ertragen muss. Doch man wird sehen: Der entschiedene A-»Feeist«, Atheist und Mythenfreund Dawkins gibt hier im Interesse der Pflege des kulturellen Erbes und gleichermaßen im Kampf um einschlägige Leserschaft-Ressourcen wahrlich sein Bestes. Bevor seine entlarvenden Argumente, die sich dem Anspruch nach aus diesem unstillbaren Wissensdrang speisen, näher verfolgt werden sollen, sei für die mit diesen Themen nicht so vertrauten Leser/-innen wiederum der Hinweis darauf erlaubt, dass für den von Dawkins mit viel Spott bedachten Thomas von Aquin schon das Dasein Gottes aufgrund des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens keineswegs eine Selbstverständlichkeit (»non est per se notum«) ist, sondern vielmehr einen rationalen Aufweis für sein Dasein erfordert, wenn die Entscheidung der Frage nach der »Existenz Gottes« ihm zufolge nicht der Irrationalität ausgeliefert werden darf. Deshalb stehen ja auch die von Thomas v. A. ausgebildeten »fünf Wege« des Denkens im Dienste einer solchen erforderlichen rationalen Rechtfertigung des Geglaubten; so wenig es in ihnen darum zu tun ist, das Dasein Gottes zu »demonstrieren«, d. h. zu »beweisen«, ebenso wenig können und wollen sie Religion etwa ersetzen (und auch nicht eigentlich »begründen«); sie beanspruchen vielmehr allein, den – gegenüber dem religiösen Leben stets nachträglichen – Aufweis zu leisten, dass das im überlieferten religiösen Glauben mit dem Wort »Gott« Gemeinte, Bejahte und Verehrte nach-denkend, d. h. vor der menschlichen Vernunft als rational auch gegenüber Anders- und Ungläubigen gerechtfertigt werden kann, weil andernfalls der Gottesglaube eben willkürlich bzw. zu einer intellektuellen Zumutung werden müsste, wie dies ja auch Dawkins’ Argumentation durchwegs suggeriert.
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2.2 Zu Dawkins’ Kritik des »kosmologischen Gottesbeweises« 94 Um einen einigermaßen ausreichenden Eindruck zu vermitteln, wie Dawkins auch mit den von ihm »behandelten« Argumenten umgeht, ist es zunächst wohl zweckmäßig, das – auch in den neuzeitlichen Rezeptionen der Gottesbeweise – besonders bedeutsam gewordene Kontingenz-Argument in seiner thomistischen Gestalt wiederzugeben: »Der dritte Weg ist von dem Möglichen und Notwendigen her genommen und verläuft so: (a) wir finden nämlich unter den Dingen solche, welche die Möglichkeit haben zu sein und nicht zu sein, da sich einiges findet, das entsteht und vergeht und infolgedessen die Möglichkeit hat zu sein und nicht zu sein. Es ist aber unmöglich, daß alles von dieser Art [ewig] sei, weil das, was möglicherweise nicht sein kann, auch einmal nicht ist. Wenn also alles die Möglichkeit hat nicht zu sein, dann war hinsichtlich der Dinge auch einmal nichts. Wenn dies aber wahr ist, dann wäre auch jetzt nichts, weil das, was nicht ist, nur anfängt zu sein durch etwas, was ist. Wenn also (einmal) Ich beschränke mich im Folgenden auf jene »klassischen« Gottesbeweise, die noch in der neuzeitlichen Auseinandersetzung besonders bestimmend waren und die seit Kant als »kosmologischer, teleologischer [physikotheologischer) und ontologischer Gottesbeweis« bezeichnet werden. Die von Dawkins aus Internet-Quellen erhobenen »Argumente«, die er bemerkenswerter- und redlicherweise »vergnüglich« findet (Gotteswahn 120 ff.), spielen in der Tradition und in der philosophischen Fachliteratur keine Rolle; sofern sie nicht – ähnlich wie Dawkins’ »Spielplatz-Version« des »ontologischen Gottesbeweises« – ohnedies frei erfunden sind, wäre nach möglicherweise bekannten psychopathologischen Quellen für dieselben zu suchen; doch wohl nicht nur Dawkins’ »gute Portion Humor« (Gotteswahn 524), sondern vor allem seine wissenschaftliche Redlichkeit und sein Vollständigkeits-Streben wollte selbst diese Quellen offenbar nicht unberücksichtigt lassen, denn echte Wahrheitssuche darf auch davor nicht zurückscheuen. – McGraths Urteil findet durchgehend eine Bestätigung, »dass Dawkins nicht einmal mehr den Anschein wissenschaftlicher Sorgfalt aufrechterhält. Anekdoten anstelle von Beweisen, Surfen nach Zitaten im Internet anstelle eines strengen und sorgfältigen Umgangs mit Primärquellen. In diesem Buch schlägt Dawkins sämtliche Kennzeichen akademischer Gelehrtheit in den Wind. Er will eine Propagandaschrift erstellen und betrachtet folglich die korrekte Wiedergabe religiöser Inhalte als unangenehme Behinderung seines Hauptanliegens: die intellektuelle und kulturelle Zerstörung der Religion. Eine unerfreuliche Eigenschaft, die er mit anderen Fundamentalisten teilt« (McGrath 2007, 27). – Nicht zuletzt darf Dawkins’ Behandlung der Gottesbeweise auch als der unfreiwillige Versuch gewürdigt werden, die in dem Beitrag von Ch. Illies erwähnte Schopenhauer’sche Liste der »38 Kunstgriffe für den Erfolg in der Rede« (s. o. Einleitung, Anm. 42) im evolutionären Kampf um »Mem-Bestände« noch erheblich zu erweitern.
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nichts Seiendes war, dann war es auch unmöglich, dass etwas zu sein anfing, und so wäre nun nichts: was offenbar falsch ist. Also ist nicht alles Seiende nur Mögliches, sondern es muss auch etwas Notwendiges unter den Dingen geben. (b) Jedes Notwendige aber hat die Ursache seiner Notwendigkeit entweder von anderswoher oder nicht. Es ist aber nicht möglich, dass es ins Unendliche bei den notwendigen (Dingen) gehe, die eine Ursache ihrer Notwendigkeit haben, wie dies auch bei den Wirkursachen nicht möglich ist, wie (oben) bewiesen. (c) Also ist es notwendig etwas anzunehmen, das an sich notwendig ist und die Ursache seiner Notwendigkeit nicht von anderswoher hat, sondern das (vielmehr) Ursache der Notwendigkeit für die anderen (Dinge) ist. Dies nennen alle Gott.« 95 Ungeachtet der mit diesem Begriff verbundenen Probleme (s. u. III., 2.2.1) hat allerdings schon Thomas v. Aquin in seiner diesbezüglichen näheren Erläuterung zu diesem Argument auf die bedeutsame Unterscheidung eines »relativ« und »absolut Notwendigen« hingewiesen: »Alles notwendige Sein aber hat den Grund seiner Notwendigkeit entweder in einem anderen oder nicht in einem anderen [sondern in ihm selbst]. In der Ordnung der notwendigen Wesen, die den Grund ihrer Notwendigkeit in einem anderen haben, können wir nun aber nicht ins Unendliche gehen, sowenig wie bei den Wirkursachen. Wir müssen also ein Sein annehmen, das durch sich notwendig ist und das den Grund seiner Notwendigkeit nicht in einem anderen Sein hat, das vielmehr selbst der Grund für die Notwendigkeit aller anderen notwendigen Wesen ist. Dieses notwendige Sein aber wird von allen ›Gott‹ genannt.« »Gott« wird demzufolge gedacht nicht nur als »relativ notwendig« zur Begründung der Welt – d. h. als selbst der Begründungsreihe zugehörig oder als erstes Glied der Bedingungen derselben –, sondern vielmehr als »absolut notwendiges Wesen«, das als solches auch nicht selbst von der durch ihn begründeten Reihe abhängig ist (d. h. nicht nur notwendig ist »relativ« zu der von ihm begründeten Reihe). Das durchaus plausible und konsequente Motiv, dass das »absolut notwendig Existierende« eben nicht – wie schon Thomas (im »zweiten Weg«) ausdrücklich betonte – als »causa efficiens sui ipsius« missverstanden werden darf, liegt nun auch diesem Thomas von Aquin 1996, 55 ff. Die religionsphilosophisch-theologisch relevanten Fragen – diesbezüglich etwa diejenige nach dem Gott der Philosophen und dem »Gott der Offenbarung« (bzw. »Metaphysik und Geschichte) – können in diesem Kontext vernachlässigt bleiben.
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Gedanken der »causa sui« zugrunde. Bei Kant ist diese in der Tradition als »Kontingenz«-Argument 96 geläufige Begründung sodann in der zugeschärften Form vergegenwärtigt, dass ebendieser Begriff des »absolut notwendigen Wesens« sich ihm zufolge als der eigentliche »Abgrund der Vernunft« erweist – und zwar deshalb, weil sich die der erfahrenen Wirklichkeit »auf den Grund gehende« Vernunft einerseits zwar auf diesen letztbegründenden »Abschluss-Gedanken« gleichsam unweigerlich »hingezogen« erfährt, zugleich aber diese Idee des »absolut notwendigen Wesens« gerade nicht zu fassen, d. h. sie inhaltlich zu bestimmen vermag, sondern sie sich jeder »Begreiflichkeit« bzw. »Bestimmbarkeit« entzieht (s. u. 2.2.1). Schon daraus wird sichtbar, dass jene schon von Thomas v. A. angezeigte Unterscheidung zwischen »relativ« und »absolut Notwendigem« der Einsicht folgt, wonach in dieser Bestimmung der »causa sui« als das »schlechthin notwendige Wesen« auch dies miteingeschlossen ist, dass der derart gedachte Gott keinesfalls in einer Abhängigkeit von bzw. in einer Angewiesenheit auf die Welt stehen kann, weil Gott als »Absolutes« somit nicht erst durch solchen »Welt-Bezug« Gott ist – eben als ein (nur) für diese Welt »notwendiges Wesen«, sondern in seiner unbedingten Notwendigkeit »losgelöst« davon (d. h. »absolut«, un-bedingt) gedacht werden muss. Denn andernfalls wäre Gott von der »kontingenten« Welt als deren »Grund« gleichsam abhängig, d. h. ein durch sie »bedingter Grund« derselben und mithin eben gerade nicht »absolut«. Ebenso hat ThoBei Leibniz hat es ausdrücklich die Bezeichnung des »argumentum a contingentia mundi«. – Noch Kant verweist auf die Verankerung und Entwicklung desselben aus dem »natürlichen Gang des gemeinen Verstandes«, sofern dieses »auf der inneren Unzulänglichkeit des Zufälligen beruht« und »doch so einfältig und natürlich [ist], dass es dem gemeinsten Menschensinne angemessen ist, sobald dieser nur einmal darauf geführt wird. Man sieht Dinge sich verändern, entstehen und vergehen; sie müssen also, oder wenigstens ihr Zustand, eine Ursache haben. Von jeder Ursache aber, die jemals in der Erfahrung gegeben werden mag, lässt sich eben dieses wiederum fragen. Wohin sollen wir nun die oberste Kausalität billiger verlegen als dahin, wo auch die höchste Kausalität ist, d. i. in dasjenige Wesen, was zu jeder möglichen Wirkung die Zulänglichkeit in sich selbst ursprünglich enthält, dessen Begriff auch durch den einzigen Zug einer allbefassenden Vollkommenheit sehr leicht zu Stande kommt. Diese höchste Ursache halten wir denn für schlechthin notwendig, weil wir es schlechterdings notwendig finden, bis zu ihr hinaufzusteigen, und keinen Grund, über sie noch weiter hinaus zu gehen. Daher sehen wir bei allen Völkern durch ihre blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern, wozu nicht Nachdenken und tiefe Spekulation, sondern nur ein nach und nach verständlich gewordener natürlicher Gang des gemeinen Verstandes geführt hat« (II 527 f.).
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mas von Aquin der Sache nach klar durchschaut 97 – dies kommt ja in jenem angeführten Verweis auf das »durch sich notwendige Wesen« zum Ausdruck –, dass und weshalb es in der Kennzeichnung Gottes als »causa sui« natürlich nicht darum geht, »dass auch Gott eine Ursache haben muss«, und nicht einzusehen sei, weshalb denn »Gott selbst gegen die Regression immun« sein soll, 98 wie Dawkins’ Scharfsinn unterstellt. Eine selbst »verursachte« Gottheit ist eben nicht das »Absolute« – gemeint ist damit vielmehr: Es ist nicht notwendig »relativ« auf ein anderes (also in Bezug darauf), sondern es ist absolut notwendig, weil es – selbst grundlos – in sich gründet und als solches eben, buchstäblich »prinzipiell«, von einer grundsätzlich anderen Seinsart sein muss als das von ihm »Gegründete«. Dies war ja auch der Sinn jener Wendung: Es ist nichts von alledem, dessen »Grund« es ist. Sofern es – in radikaler Differenz zu »welthaft Seiendem« – von ganz anderer Seinsweise als das von ihm Begründete gedacht werden muss, sind davon all diejenigen kategorialen Bestimmungen fernzuhalten, die für das kontingenterweise Wirkliche, für »Endliches« überhaupt gelten. Als geradezu kurios nimmt sich vor diesem Hintergrund Dawkins’ Komplex-Befund aus: »So wenig wir auch über Gott wissen, er muss in jedem Fall sehr, sehr komplex sein, und diese Komplexität ist vermutlich nicht reduzierbar!« (Gotteswahn 157). Hier operiert Dawkins erstaunlicherweise mit einem von Phänomenen der empirischen Welt abgeleiteten Begriff der »Komplexität«, der dann völlig unkritisch auf Transzendentes übertragen wird und so ein völlig unsinniges Komplex-Denken verrät, das sich dann auch noch zu dem eher schlichten Vergleich aufschwingt, dass man statt der (ohnehin unsinnigen) Äußerung »Gott war immer da« 99 genauso gut sagen In dieser Bestimmung der »causa sui« geht es freilich nicht (wie B. Russel insinuiert, was jedoch schon Thomas v. A. zurückweist) um ein »sich selbst Verursachendes«; von dem »absolut notwendigen Wesen« wird das bloß »relativ notwendige Wesen« unterschieden, das notwendig eben nur bezogen auf ein Anderes (eine Reihe) ist, aber so wie die ganze Begründungsreihe auch selbst lediglich »kontingent« sein könnte. 98 »Denn wer wüsste nicht«, so betont schon Descartes, »dass ein und dasselbe Ding sich zeitlich nicht vorangehen kann oder von sich selbst verschieden sein kann?« (Descartes, Meditationen, Antwort auf die ersten Einwände 97 [142]). Freilich: »Es kann etwas geben, dessen Macht so groß und unerschöpflich ist, dass es keiner Beihilfe zu seiner Existenz braucht. Daher ist es gewissermaßen Ursache seiner selbst«, ebd. 98 f. 99 Daran, dass derart die Ewigkeit Gottes als unendliche zeitliche Dauer missverstan97
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
könnte: »DNS als Maschinerie zur Replikation war immer da«, »denn es lässt den Ursprung des Baumeisters ungeklärt« (Uhrmacher 171 f.). Dawkins’ Erläuterung anhand seines »komplexen« Lieblings-Beispiels spricht wohl für sich: »Das Gebilde, das man durch die Berufung auf einen Gestalter erklären will, mag noch so unwahrscheinlich sein, der Gestalter selbst ist es mindestens ebenso. Gott ist letztlich die höchste Form der Boeing 747« (Gotteswahn 174). 100 Freilich, schon die Kenntnisnahme der thomasischen Argumentation über die »Einfachheit Gottes« hätte vor den Irrwegen und Folgen eines solchem Komplex-Denkens bewahren können. 101 Von jenem (später von Kant sogenannten) »kosmologischen Argument« bleibt bei Dawkins lediglich die seltsame Gestalt übrig: »Es muss eine Zeit gegeben haben [!], in der keine physikalischen Objekte existierten. Da heute aber physikalische Gegenstände vorhanden sind, muss irgendetwas Nichtphysikalisches sie ins Dasein gebracht haben, und dieses Etwas nennen wir Gott« (Gotteswahn 109). 102 So den wird, die so gerade die »Überzeitlichkeit« Gottes verkennt, verschwendet Dawkins freilich keinen Gedanken. 100 »Aber natürlich muss jeder Gott, der etwas so Kompliziertes wie die DNS-EiweißReplikationsmaschine entwerfen kann, selbst mindestens ebenso komplex und organisiert sein wie diese Maschine selbst« (Uhrmacher 171). Deshalb sei angesichts solcher Komplexität der Rekurs auf Gott als obsolet bzw. überflüssig zu verwerfen, zumal seiner Überzeugung nach »das Unwahrscheinlichkeitsargument – das Spiel mit der ›höchsten Form der Boeing 747‹ – sehr ernsthaft gegen die Existenz Gottes spricht. Trotz vieler Gelegenheiten und Aufforderungen habe ich darauf noch von keinem Theologen eine überzeugende Antwort bekommen. Dan Dennett bezeichnet dieses Argument zu Recht als »unwiderlegbare Zurückweisung, die heute noch genauso verheerend ist wie vor zweihundert Jahren, als in Humes Dialogen Philo sein Gegenüber Cleanthes damit überfuhr« (Gotteswahn 221). Das haben andere Hume-Interpreten (wie Hoerster, Kreimendahl und Westermann) freilich ein wenig anders und differenzierter gesehen. 101 Die in der vorigen Anmerkung erwähnte kuriose Forderung Dawkins’, dass »jeder Gott, der etwas so Kompliziertes wie die DNS-Eiweiß-Replikationsmaschine entwerfen kann, selbst mindestens ebenso komplex und organisiert sein [müsse] wie diese Maschine selbst«, ist freilich vor dem Hintergrund seiner Bestimmung des »Komplexen« lesen, um das Ausmaß der Absurdität eines solchen Komplex-Postulates erahnen zu können: »Ein komplexes Ding« besteht Dawkins zufolge nicht nur aus »verschiedenen Teilen …, wobei diese Teile verschiedenartig sind« und dessen »Bestandteile so angeordnet sind, wie es wahrscheinlich nicht durch Zufall allein zustande gekommen sein kann« (Uhrmacher 19 f.); hinzu kommt die Forderung, dass dieses in einer Weise »leistungsfähig« ist, indem die mannigfachen und verschiedenartigen Teile in Wechselwirkung zueinander stehen (ebd. 24 f.). 102 Gewiss hätte beispielweise der in Oxford lehrende Thomist William Carroll – ernsthaftes Bemühen einmal vorausgesetzt – Dawkins gerne dabei unterstützt, einen
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einfach ist das also mit diesem sogenannten »kosmologischen« bzw. »Kontingenz«-Argument – das Problem dabei ist freilich, dass diese vermeintliche (d. h. von Dawkins beanspruchte) »Wiedergabe« desselben mit der Form, die es im »drittem Weg« des Thomas’ tatsächlich hat, nur mehr recht wenig gemeinsam hat, und zwar noch ganz abgesehen davon, dass Dawkins in seiner Wiedergabe überdies genau jene erwähnte völlig schiefe – von Thomas v. Aquin und auch schon von Augustinus ausdrücklich zurückgewiesene – Zeit-Vorstellung unterschiebt, die Thomas v. Aquin sodann auch im Rahmen seiner schöpfungstheologischen Erwägungen als völlig unsinnig verworfen hat, weil sie unweigerlich auf jene schon erwähnte unsinnige Vorstellung einer »Zeit vor der Zeit« bzw. einer »leeren Zeit« hinausläuft. 103 Der Kirchenlehrer machte vielmehr geltend, dass die die Existenz und das zeitliche Entstehen der Dinge ermöglichenden, d. h. ihnen immanenten Form-, Wirk- und Zweckursachen, »ohne die einmal nichts von den Dingen gewesen wäre« (»aliquando nihil fuit in rebus«), nicht selbst wiederum entstanden sein können, sondern einerseits als selbst »kontingente« ihren letzten und »zureichenden Grund« in einem »absolut notwendigen Wesen« haben, während sie selber das zeitliche Entstehen und Sich-Entwickeln derselben jedoch erst ermöglichen.
angemessenen Zugang zu den Problemstellungen der berühmten »fünf Wege« des Thomas v. Aquin zu finden; auch sollten die einschlägigen Publikationen Carrolls über die Themen Gottesbeweise, Schöpfung u. Ä. für Dawkins in Oxford zugänglich (gewesen) sein. Statt über eine »Schöpfungslüge« zu phantasieren bzw. darüber kuriose Gerüchte zu verbreiten, hätte Dawkins von seinem Oxforder Kollegen auch dies erfahren können: »For Thomas, there is no conflict between the doctrine of creation and any physical theory. Theories in the natural sciences account for change. Whether the changes described are cosmological or biological, unending or finite, they remain process. Creation accounts for the existence of things, not for changes in things. Contemporary debates about cosmology, evolution and creation often ignore the fundamental insight of Thomas that creation is not a change« (Carroll 2013, 246). Carroll möchte also schiefe Alternativen gerade im Blick auf Thomas v. Aquin vermieden sehen (und betont deshalb in seiner deutschen Vorbemerkung zu seinem Beitrag vorweg): »Göttliches Wirken, wie Thomas es versteht, konkurriert nicht mit der natürlichen Selektion, so dass man, sozusagen, zwischen Darwin und Gott wählen müsste. Thomas bietet uns einen Weg an, die ›geschaffene Autonomie‹ der Welt zu erkennen und dabei den Entdeckungen moderner Wissenschaft treu zu sein« (ebd. 231). Demgemäß betont er: »Similarly, too often ›creation‹ is confused with various forms of ›creationism‹, which embrace either a literalistic reading of the Bible or think that creation must mean a kind of divine intervention in cosmic history with God’s directly creating each individual species of living things« (ebd. 232). 103 Davon war ja schon die Rede, s. o. III., 1.2.
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Für die in den klassischen Gottesbeweisen leitende Frage nach der »Letztbegründung« der erfahrenen Weltwirklichkeit bzw. unserem Wissen davon war also die Überlegung maßgebend: Wenn der »zureichende Grund« als das Letztprinzip der erfahrenen Wirklichkeit und des gedachten »Ganzen der Welt« also nicht selbst wiederum ein gegenständlich-»welthaft« Seiendes sein kann, dann sieht sich das begründende Denken auf einen letzten Abschlussgedanken eines selbst nicht-kontingent Wirklichen, d. i. auf ein Unbedingt-Notwendiges als den »zureichenden Grund« verwiesen, weil es nur so den drohenden unendlichen Begründungsregress zu vermeiden vermag. Diese Letztbegründungsfrage ist eben, wie schon erwähnt, davon inspiriert bzw. dadurch »auf den Weg gebracht«, dass alles kontingenterweise Existierende zuletzt auf einen schlechthin notwendigen Grund verweist, ohne den diese Begründungsreihe eben unvollständig bliebe, und das nicht bloß als wirklich, sondern als »nicht nichtsein könnend«, d. h. eben: als notwendig, gedacht werden muss. Von dem aus dieser Gedankenbewegung resultierenden Absoluten müssen konsequenterweise all diejenigen Bestimmungen negiert werden, die für innerweltlich Gegebenes konstitutiv sind. Seine »Einzigkeit« und »Absolutheit« erklärt sich sodann aus dem Gedanken, dass diese Idee des alles begründenden »Absoluten« als ein solches verstanden werden muss, das als solches keinen Grund außer sich haben, von nichts anderem abhängig und durch nichts anderes »außer sich« begrenzt sein kann 104. Dies führt so zuletzt darauf, dass dieses derart gedachte »absolut notwendige Wesen« seine »Seinsmächtigkeit« nicht einem anderen verdanken kann, sondern, in diesem Sinne »unabhängig«, allein »aus sich ist« (»ens a se«) bzw. als »vollkommenstes Wesen« eben auch nur eines sein kann und als solches von ganz anderer Seinsart sein muss als dasjenige, dessen Ursprung es ist. Es wurde schon betont: Genau genommen, so die bemerkenswerte Auskunft des Thomas v. A., wissen wir freilich von diesem als nicht-kontingenter Grund der Wirklichkeit gedachten »Einen« ohnehin lediglich, dass es ist – was es ist, sagen wir nicht (s. o. III., Anm. 91); gesagt werden kann lediglich, was dieses als Gott gedachte »Eine« nicht ist, 104 Das verkennt freilich Dawkins’ Einspruch (Gotteswahn 209), dieser »Beweis« behaupte »ohne jede Begründung, Gott sei nur eine einzige Substanz. Welch hervorragend sparsame Ursachenerklärung im Vergleich zu dem Gedanken, die unzähligen unabhängigen Elektronen seien rein zufällig alle gleich!« Dies markiert den kleinen, aber doch feinen Unterschied zwischen der Idee des »nicht gegenständlich« zu denkenden »Absoluten« und dem »Elektron«.
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weshalb die daran geknüpften philosophisch-»metaphysischen« Bestimmungen im Grunde allesamt lediglich einen »negativ-ausschließenden« Sinn haben können: nicht[s] Körperliches, nichts »Komplexes«, nichts Zeitlich-Vergängliches usw. Dies verweist also im Weiteren darauf, dass, über dieses aufgewiesene »Dass Gottes« hinaus, von Gott nur »analoge« prädikative Bestimmungen möglich sind und in solchem Sinne in all diesen Prädikationen stets die »je größere Unähnlichkeit« mitbedacht werden muss – und auch schon »seiend« von Gott und »Weltlich-Seiendem« nicht in bedeutungsgleichem Sinne ausgesagt werden kann. 105 Diese das Thema der »analogen Gottrede« berührenden Fragen – wie sind also dann überhaupt von Gott »positive«, d. h. »affirmative« Prädikationen möglich? – sind hier nicht weiter zu verfolgen. Hingegen soll die von Dawkins beanspruchte kritische Prüfung und seine daraufhin erfolgte Verwerfung der thomistischen Gottesbeweise noch genauer betrachtet werden. Zu schonungsloser Kritik entschlossen, nimmt er in seiner Würdigung der »positiven Argumente« sogleich jenen in den thomistischen Gottesbeweisen bestimmenden Letztbegründungsgedanken und das damit verbundene Problem des drohenden unendlichen Regresses ins Visier. Seine kritische Erwiderung darauf geht dahin: So wie schon die ersten beiden »Wege« stütze sich auch der dritte Weg »auf den Gedanken der Regression«: »Alle drei Argumente [die ersten drei der fünf »Wege« des Thomas] stützen sich auf den Gedanken der Regression und greifen auf Gott zurück, um sie zu beenden[106]. Sie gehen von der völlig unbewiesenen Voraussetzung aus, dass Gott selbst gegen die Regression immun ist. Sogar wenn wir uns den zweifelhaften Luxus erlauben, willkürlich [!] einen Endpunkt der Regression zu postulieren und ihm einen Namen zu geben, einfach weil wir einen solchen Endpunkt 105 Eine denkbar radikale Konsequenz daraus, die deshalb auf die Kennzeichnung Gottes als des »Überseienden« abzielt, zieht ebenfalls Thomas v. Aquin: »Wenn wir zu Gott auf dem Weg der Verneinung voranschreiten, verneinen wir bei ihm erstens das Körperliche, und zweitens auch das Geistige, soweit es sich bei den Geschöpfen findet, wie die Güte und die Weisheit; und dann bleibt in unserem Geist allein, dass er ist und nichts mehr; folglich ist er da in einer gewissen Undeutlichkeit [?]; am Ende [!] aber verneinen wir bei ihm sogar dieses Sein selbst, soweit es in den Geschöpfen ist, und dann bleibt er doch in einem gewissen Schatten des Nicht-Wissens; in diesem NichtWissen, wie es zum Stand des Weges gehört, sind wir am besten mit Gott verbunden, wie Dionysius sagt, und das ist die Dunkelheit, in der, wie man sagt, Gott wohnt« (Thomas v. Aquin, Scriptum Super Sententiis, lib. 1, d. 8, q.1, a.1. ad 4). 106 S. zu dieser völlig unsinnigen, weil sachfremden Behauptung u. III., 2.2.1.
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brauchen, besteht keinerlei Anlass, ihn mit den Eigenschaften auszustatten, die Gott normalerweise zugeschrieben werden: Allmacht, Allwissenheit, Güte, kreative Gestaltung, oder gar menschliche Eigenschaften wie das Erhören von Gebeten, Vergebung der Sünden und Lesen unserer innersten Gedanken« (Gotteswahn 109). Vor allem diese ihm zufolge »völlig unbewiesene Voraussetzung, dass Gott selbst gegen die Regression immun ist« (Gotteswahn 109), hat wiederholt Dawkins’ wiederholten Einspruch provoziert. Gleichsam als Demonstration seiner unbeirrbaren wissenschaftlichen Redlichkeit, hält er es diesbezüglich für hilfreich, seinen Einwand gegen das Regress- bzw. Letztbegründungsargument und seinen daran geknüpften Sinnlosigkeitsverdacht – in gewohnt humorvoll-didaktischer Absicht – durch Beiziehung eines »Nonsens-Rezept[s] für Krümelkoteletts« zu erläutern und ihm dadurch (in einer erneut beeindruckenden Phantasieleistung) besonderen Nachdruck zu verleihen: »Das Atom stellt für eine Regression nach Art der Krümelkoteletts das natürliche Ende dar. Dagegen ist durchaus nicht geklärt, ob Gott für die Regressionen des Thomas von Aquin ein natürliches Ende darstellt. Und das ist, wie wir sehen werden, noch milde ausgedrückt« (Gotteswahn 110). Bei solcher »Milde« belässt es Dawkins dann freilich nicht, verschärft sich diese Einschätzung doch zunächst einmal zu dem (zum von ihm als besonders wichtig angesehenen 4. Kapitel überleitenden) schonungslosen Befund: »Strukturierte Komplexität ist mit einem gestaltenden Gott nicht zu erklären, denn jeder Gott, der etwas gestaltet, müsste selbst so komplex sein, dass er für sich selbst wiederum die gleiche Erklärung verlangt. Gott stellt eine unendliche Regression dar und kann uns nicht helfen, daraus zu entkommen« (Gotteswahn 154); vielmehr könne es – was immer diese seltsame Behauptung, dass »Gott eine unendliche Regression darstelle«, bedeuten mag – doch einem religiös unangekränkelten Geist nicht verborgen bleiben: »Die Lösung ›Gott‹ beendet also nicht die unendliche Regression, sondern verstärkt sie ganz gewaltig« (Gotteswahn 166). Man spürt förmlich die wachsende Gereiztheit, die zuletzt in der entlarvenden Frage bzw. in der grundstürzenden Einsicht seines für besonders bedeutsam erklärten vierten Kapitels kulminiert: »Eigentlich ist Gestaltung überhaupt keine Alternative, denn die wirft ein viel größeres Problem auf als das, welches sie zu lösen vorgibt: Wer gestaltete den Gestalter? Für das Problem der statistischen Unwahrscheinlichkeit versagen Zufall und Gestaltung als Lösung gleichermaßen, denn der Zufall ist das Problem, und die Gestaltung 462 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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läuft durch Regression darauf hinaus« (Gotteswahn 168). 107 Auch noch in seinem späteren Bilder-Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« bringt er seine Enttäuschung und erschöpfte Geduld zum Ausdruck: »Kein Mythos erklärt uns, wie der Schöpfer des Universums selbst (in der Regel ein Mann) entstanden ist. Deshalb [!] kommen wir damit nicht weit. Fragen wir uns lieber, was wir über die wirklichen Anfänge des Universums wissen« (Zauber 161). Auch der – beiläufig natürlich beeindruckend »gendersensible« – abgründige Ideologiekritische »Touch« dieser Bemerkung kann über die Unsinnigkeit derselben nicht hinwegsehen lassen. 108 Dawkins’ Argument bezüglich der »Unwahrscheinlichkeit« bzw. der »nicht reduzierbaren Komplexität«, der zufolge die Existenz Gottes selbst noch einmal »unendlich unwahrscheinlicher« sein müsste als die ohnehin überaus hohe Unwahrscheinlichkeit der Existenz der ungeheuer komplexen Welt, ist also dies: Es sei doch lediglich konsequent, »dass jeder Gott, der ein sorgfältig weitsichtig abgestimmtes Universum gestalten kann und so die Voraussetzungen für unsere Evolution schafft, ein höchst komplexes, unwahrscheinliches Etwas sein muss und demnach noch schwieriger zu erklären [!] ist als die Dinge, für die er eine Erklärung sein soll« (Gotteswahn 207), d. h. dies zuletzt darauf hinausliefe, etwas »noch Unwahrscheinlicheres zu postulieren« (Gotteswahn 222). Das in jeder Hinsicht Verfehlte dieses von Dawkins unterstellten Erklärungsrekurses auf »Gott, der in der Lage sein soll, diese Komplexität zu gestalten« (Gotteswahn 212), ist nicht zu übersehen, zumal dies die »Gottesidee« selbst bemerkenswerterweise sehr rasch in diese missliche Lückenbüßer-Funktion manövriert. Dawkins’ Phantasie-Meme stellen sich offenbar Gott als eine Art – erklärungsbedürftige – zusammengesetzte »über-komple107 Diese von ihm über die Jahre unverdrossen wiederholte Frage hätte eine angemessene Beantwortung – d. h. den Aufweis ihrer Unsinnigkeit – finden können, wenn Dawkins nur einmal die thomistische Argumentation über die »Einfachheit Gottes« (und die darin implizierte Kritik an Dawkins’ Komplexitäts-Erwägung) zur Kenntnis genommen hätte; als eine bloße erkenntnistheoretische Spitzfindigkeit wäre dies wohl nicht abzutun. 108 Diese Gendersensibilität hat hier ihren falschen Ort; sie wäre wohl im Kontext von Dawkins’ Auslassungen über den Menschen als »raffinierte Maschine zur Weitergabe der Gene, die sie erzeugt haben« (Zauber 73). ungleich angemessener; denn dies impliziert freilich auch Konsequenzen für das – dann unvermeidlich biologistische – Verständnis der Frau, die ja nicht nur als »Überlebensmaschine«, sondern als wartungsgerecht zu versorgende »Reproduktions«-, d. h. »Gebärmaschine« anzusehen wäre.
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xe« Überlebensmaschine vor – nicht als »Wesen aller Wesen«, sondern eben eher als eine Art »Über-Boeing«; ganz ähnlich auch in seinem Phantasie-reichen Kran-Räsonnement: »Es könnte sogar ein übermenschlicher Gestalter sein – aber wenn es so ist, wird es mit ziemlicher Sicherheit kein Gestalter sein, der plötzlich ins Dasein trat oder schon immer da war. Wenn unser Universum gezielt gestaltet wurde (was ich keine Sekunde lang glaube), und wenn der Gestalter darüber hinaus auch unsere Gedanken liest und allwissende Ratschläge, Vergebung und Erlösung verteilt, muss dieser Gestalter selbst das Endprodukt einer additiven Leiter oder eines Krans sein, vielleicht das Produkt einer Version des Darwinismus aus einem anderen Universum« (Gotteswahn 219). Dieses »Endprodukt einer additiven Leiter« (was immer das sein mag) aus Dawkins’ »Multiversum« produziert also hier selbst munter weiter. Der daraus evolutionär hervorgehenden Phantasie sind als einer offenbar ganz besonderen »Ausdrucksgestalt materieller Prozesse« in der Tat keine Grenzen gesetzt. Schon dieses »Argument« Dawkins’ macht wohl deutlich, dass er den im thomasischen »Gottesbeweis« (dem »Kontingenz«-Argument) maßgebenden Begründungsanspruch des »absolut Notwendigen« offenbar nicht recht verstanden hat und er schon mit der Vorstellung als »Endprodukt einer additiven Leiter« seltsame raumzeitliche Phantasie-Vorstellungen verbindet. 109 Es ist auch hier nicht zu übersehen: Dawkins verkennt völlig den Kern dieses auf die Begründung einer »absoluten Notwendigkeit« ausgerichteten »Kontingenz-Argumentes«: Dessen Zielrichtung, so hat sich gezeigt, besteht in dem Aufweis, dass etwas, das »kontingenterweise« wirklich ist, d. h. existiert (aber durch ein anderes kontingenterweise »Wirkliches« bedingt ist), darauf führt, dass dieses Wirkliche den »zureichenden Grund« für sein bloß faktisches Wirklichsein 109 Vgl. zu dieser völlig verfehlten Dawkins’schen Notwendigkeits-Argumentation auch die kritischen Bemerkungen von P. Strasser (2008, 29 f.): »Die Frage der Notwendigkeit ist natürlich für die Frage der Existenz Gottes zentral. Man kann sich ja die Existenz Gottes nicht so denken, dass sie ihrerseits von Bedingungen abhängt, die Gott äußerlich wären, das heißt, über die er selbst keine vollständige Kontrolle hätte. Denn dann wäre es möglich, dass Gott auch nicht existierte oder wieder zu existieren aufhörte, gegeben bloß den Fall, die Bedingungen seiner Existenz würden nicht existieren oder wieder zu existieren aufhören. Eine solche Abhängigkeit von Bedingungen ist mit dem Begriff Gottes schlichtweg unvereinbar, falls mit ›Gott‹ eine Art letzter Ursache oder guter Anfang der Welt gedacht wird. Und das ist es doch, was wir denken, wenn wir an den Schöpfer der Welt denken, und woran auch Dawkins denkt, wenn er sich als Atheist bezeichnet« (ebd. 29).
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letztendlich – in Vermeidung eines unendlichen Begründungsregresses – doch nur in einem wirklich Existierenden von solcher Art haben kann, das seinerseits jedoch nicht selbst bloß »kontingenterweise« wirklich ist (d. h. also auch nicht sein könnte); vielmehr muss dieses letztbegründende Wirkliche ein solches sein, das nur als »nicht nicht sein Könnendes« – d. h. ein »durch sich notwendiges Wesen« – gedacht werden kann, das deshalb auch nicht bloß »relativ« zu dem von ihm Begründeten »notwendig« sein kann, weil es andernfalls, wie erwähnt, selbst auch von solcher »Bezüglichkeit« abhängig (also gerade nicht »absolut«, d. h. »un-bedingt«) wäre. Dass dem hl. Thomas zufolge ohne eine solche »Begründung« das »Wirklichsein der Welt« zuletzt unverständlich bleiben müsste, weil dann tatsächlich keine »Wirklichkeit« in den hinsichtlich ihres eigenen Daseins indifferenten – bloß möglichen – Dingen gewesen wäre, dies hat freilich gar nichts mit dem (von Dawkins bloß unterstellten) widersinnigen Ansinnen zu tun, »die Regression durch Rückgriff auf den Gottesgedanken zu beenden«; vielmehr ist es in diesem Problem, wie Kant dann in seiner Bezugnahme auf das »kosmologische Argument« betont, allein um den auf bestimmte Weise denkbaren Begriff des »Absolut-Notwendigen« zu tun, worin er ja auch das eigentlich Problematische der damit verbundenen Ansprüche zu erkennen glaubt (s. dazu u. III., 2.2.1). 110 Auch diese angeführten Argumente aus dem von Dawkins als besonders wichtig erachteten vierten Kapitel seines »Gotteswahnes« machen deutlich: Wie nicht zuletzt dieser erstaunliche Rekurs auf diese Vorstellung als »Endprodukt einer additiven Leiter« verrät, hat Dawkins weder den mit dem Gedanken des »absolut notwendigen Wesens« verbundenen Begründungsanspruch noch das eigentlich Fehlerhafte dieses (später sogenannten) »kosmologischen Arguments« auch nur annähernd verstanden, sondern dieses vielmehr mit höchst seltsamen raumzeitlichen Phantasie-Vorstellungen »humorvoll« ausgeschmückt. Könnte es nicht sein, dass Dawkins selbst Zu Recht weist Mutschler darauf hin, dass Dawkins auch ein anderes zentrales Anliegen des Thomas v. Aquin, die Unterscheidung von Erst- und Zweitursache, völlig ignoriert: »Gott ist Erstursache und allein Gott ist Erstursache, während innerweltliche Ursachen lediglich Zweitursachen sind. Thomas macht also Gott nicht zu einem gleichgeordneten Glied in der Ursache-Wirkungs-Kette, wie ihm das so oft vorgeworfen wurde. Die Transzendenz Gottes hat zur Folge, dass seine Ursächlichkeit von ganz anderer Art ist als die der innerweltlichen Zweitursachen. Aus diesen Gründen hat die Frage nach der Ursache von Gott keinen Sinn« (Mutschler 2014, 292). 110
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
verständlicherweise insofern seiner eigenen kuriosen Gottesvorstellung zum Opfer fällt, zumal diese ja in der Tat gar nichts übrig ließe, als »atheistisch« zu sein? 111 Dies legt jedenfalls auch seine seltsame Bemerkung nahe: »Die Vorstellung, der ursprüngliche erste Beweger sei so kompliziert gewesen, dass er intelligente Gestaltung vollbringen konnte – ganz zu schweigen vom gleichzeitigen Gedankenlesen bei Millionen Menschen –, ist gleichbedeutend mit der Idee, man würde sich selbst beim Bridge ein perfektes Blatt geben« (Gotteswahn 218). Von seiner gewonnenen – vermeintlich kritischen – Einsicht, der zufolge jene »ganze Argumentation« auf die »berühmte Frage« hinauslaufe, »auf die fast jeder denkende Mensch von selbst kommt: Wer hat Gott erschaffen?«, war Dawkins offensichtlich so fasziniert bzw. verblüfft, dass er eine »zentrale Argumentation [s]eines Buches« auch dahingehend resümiert (und diese von ihm als besonders dringlich und schlagend angesehene Frage gleich mehrfach wiederholt 112): »Diese Versuchung [den Anschein von Gestaltung auf tatsächliche Gestaltung zurückzuführen] führt in die Irre, denn [?] die Gestalterhypothese wirft sofort die umfassendere Frage auf, wer den Gestalter gestaltet hat. Das Problem, von dem wir ausgegangen waren, betraf die Erklärung der statistischen Unwahrscheinlichkeit. Zu diesem Zweck etwas noch Unwahrscheinlicheres zu postulieren ist offenkundig keine Lösung. Wir brauchen keinen ›Himmelshaken‹, sondern
111 Mit Recht betont P. Strasser, dass es »so gut wie sicher ist«, dass der Dawkins’sche Gott nicht existiert. Das hat allerdings damit zu tun, dass »… Dawkins jenes Übervaterwesen, … als eine zwar hyperempirische, aber eben irgendwie doch empirische Endursache denkt, deren Komplexität mindestens so groß sein müsste wie die Ereignisse, deren unwahrscheinliche Komplexität sie erklären soll. Mag sein, dass es sich hier um den Gott jener handelt, die sich ›Kreationisten‹ nennen oder im Aufbau der Welt ein intelligentes Design zu erkennen glauben. Wie auch immer, jeder einigermaßen aufgeklärte Philosoph wird spätestens seit Kant ein für alle Mal begriffen haben, dass Dawkins’ Gott dem Mythos angehört. Dieser Gott ist eine Wesenheit und Ursache, die gewiss nicht existiert« (Strasser 2008, 83 f.). Man ist versucht zu sagen: Gott sei Dank! 112 Was soll dann das offensichtlich als besonders stark angesehene Argument, »dass jeder Gott, der ein sorgfältig, weitsichtig abgestimmtes Universum schafft, ein höchst komplexes, unwahrscheinliches Etwas sein muss und demnach noch schwieriger zu erklären ist als die Dinge, für die er eine Erklärung sein soll?« (Gotteswahn 207). »Die erste Ursache, nach der wir suchen, muss das einfache Fundament für eine ›KranKonstruktion‹ sein, die sich selbst aufbaut und schließlich jene Welt errichtet, die wir mit ihrer heutigen komplexen Existenz kennen« (Gotteswahn 218).
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
eine ›Kran-Konstruktion‹, denn nur der Kran kann die Aufgabe erfüllen, von etwas Einfachem auszugehen und dann allmählich und auf plausible Weise eine ansonsten unwahrscheinliche Komplexität aufzubauen« (Gotteswahn 222). Indes ließ dieses – eines Wortführers der »brights« wahrlich würdige – lichtvolle und entsprechend blendende Argument auch gar nicht mehr die leiseste Bereitschaft aufkommen, sich darüber zu informieren, was denn die traditionelle philosophische Theologie auf dieses Motiv der »causa sui« bzw. des »absolut notwendigen Wesens« (»ens necessarium«) geführt haben könnte. Ein paar problemgeschichtliche Hinweise, die sich allerdings ganz auf den Zusammenhang mit Dawkins’ Kritik beschränken, müssen hier genügen. In der weiteren problemgeschichtlichen Entwicklung jener Bestimmung »causa sui« wird vornehmlich das Motiv bedeutsam, wonach der von allem anderen unabhängige – d. h. absolute – Selbstbezug desjenigen, »dessen Natur nicht anders als daseiend begriffen werden kann«, d. h. nicht von »woanders« her, sondern allein seiner selbst mächtig (»aus sich heraus«) existiert. Ebendiese Bestimmung der »causa sui« begründet sodann auch den von Dawkins verworfenen (obgleich unverstandenen) Gedanken einer absoluten und »einzigen Substanz« (Gotteswahn 209) – als das allein »aus sich selbst« und um seiner selbst (und nicht um eines anderen) willen Seiende, »dessen Wesen sein Dasein einschließt, oder das, dessen Natur nicht anders als daseiend begriffen werden kann« (Spinoza). Vor allem der an dieses Motiv Spinozas anknüpfenden philosophischen Theologie (in der neuzeitlichen Philosophie) war es sodann in besonderer Weise daran gelegen, diesen Gedanken des »Absoluten« so zu explizieren, dass dieses »aus sich seiende« Absolute nicht bloß als unbewegt-tote und in sich undifferenzierte »eine (absolute) Substanz« bestimmt wäre. Die darin gedachte Einheit sollte es vielmehr ermöglichen (und auch als unumgänglich erweisen), dieses »Absolute« nicht allein als lebendiges, d. h. in sich »organisierend-organisiertes« und differenziertes, sondern auch als selbstbezüglich-geistiges »Eines« zu begreifen, das in diesen Bestimmungen desselben (als seinen immanenten, darin konkreten Momenten) sich selbst entfaltet und so eben als »geistige Wirklichkeit« (weil diese nur als »Unterschied in der Einheit« bzw. als »Einheit in der Unterschiedenheit«) gedacht werden kann, worin sich die Grundverfassung der »Liebe« wiedererkennen lässt (mit jenseitigem »Gespenster-Glauben« hat das jedenfalls nichts zu tun); ebendieses philosophische Motiv wurde – jenseits der von 467 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
Dawkins unterstellten in der Tat gespenstischen Unsinnigkeiten – sodann dahingehend aufgenommen und fruchtbar gemacht, dass dergestalt für ein philosophisches Denken ein Zugang dazu eröffnet werden sollte, was – gemäß jenem Programm eines »um intellektuelle Einsicht bemühten Glaubens« (»fides quarens intellectum«, s. dazu auch u. III., 2.5) – die christliche Tradition sodann als den Gedanken des »dreifaltigen Gottes« philosophisch-theologisch als rational verantwortbar ausweisen wollte. Ungeachtet der mit diesen traditionellen Lehrstücken verbundenen erheblichen Schwierigkeiten und offenen Fragen bleiben diese denkerischen Motive jedenfalls gegen jenen von Dawkins unterstellten Klamauk zu verteidigen und auch kritisch zu würdigen. Indes, damit hält er selbst sich nicht lange auf und stutzt das Sachthema buchstäblich bedenkenlos auf die knappe Frage zurecht: »Haben wir nun einen Gott in drei Teilen oder drei Götter?« (Gotteswahn 49). Seine von ihm beigesteuerten abenteuerlichen Assoziationen zum Thema »Dreifaltigkeit« sind an dieser Stelle nicht näher zu verfolgen; in einem späteren Exkurs soll davon noch einmal die Rede sein (s. u. III., 2.6.2). Zurück zu Dawkins’ Auseinandersetzung mit den »traditionellen Gottesbeweisen«. Doch zunächst:
2.2.1 Eine auch diesbezüglich heilsame Erinnerung an Kant Anknüpfend an jene oben nur beiläufig erwähnte kantische Erörterung über den Begriff des »absolut notwendigen Wesens« sei hier noch dies angemerkt: Kant hat in seiner Auseinandersetzung mit den traditionellen Gottesbeweisen das Anliegen des »kosmologischen Beweises« durchaus gewürdigt, gleichermaßen jedoch das Unzulängliche dieses Argumentes aufgedeckt. Im Unterschied zu dem von Dawkins dagegen erhobenen Einwand, »dass Gott selbst gegen die Regression immun ist« – ein allerdings von Dawkins selbst produziertes kurioses Argument, das er elegant und entschieden als eine völlig unbewiesene Voraussetzung verwirft –, hat Kant den im klassischen Kontingenz-Argument unternommenen Rekurs auf das »absolut notwendige Wesen« zunächst als eine keinesfalls bloß willkürliche Idee verteidigt, denn: »Wenn etwas existiert, so muss auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren«, wenn doch die »Reihe der einander untergeordneten Ursachen sich bei einer schlechthinnotwendigen Ursache endigen muss, ohne welche sie keine Vollstän468 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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digkeit haben würde« 113. Es sei eben ein unabweisliches »Bedürfnis unserer Vernunft, zur Existenz überhaupt irgend etwas Notwendiges (bei dem man im Aufsteigen stehen bleiben könne), anzunehmen« – und somit sei die Vernunft auch gezwungen, »da diese Notwendigkeit unbedingt und a priori gewiss sein muss, einen Begriff zu suchen, der, wo möglich, einer solchen Forderung ein Genüge täte, und ein Dasein völlig a priori zu erkennen gäbe.« 114 Freilich, so plausibel dies auch nach Kant zunächst scheinen mag, so problematisch erweist sich dieses Argument indes bei näherem Hinsehen. Noch einmal sei es betont: Es geht in diesem »Kontingenz-Argument« um den Begriff des (in jener »causa sui« angezeigten) »absolut notwendigen Wesens«, nicht um eine bloß »relative Notwendigkeit« in regressu, die ja widerspruchsfrei gedacht werden kann: »Es ist etwas überaus Merkwürdiges, daß, wenn man voraussetzt, etwas existiere, man der Folgerung nicht Umgang haben kann, daß auch irgend etwas notwendigerweise existiere. Auf diesem ganz natürlichen (obzwar darum noch nicht sicheren) Schlusse beruhete das kosmologische Argument. Dagegen mag ich einen Begriff von einem Dinge annehmen, welchen ich will, so finde ich, daß sein Dasein niemals von mir als schlechterdings notwendig vorgestellt werden könne, und daß mich nichts hindere, es mag existieren, was da wolle, das Nichtsein desselben zu denken, mithin ich zwar zu dem Existierenden überhaupt etwas Notwendiges annehmen müsse, kein einziges Ding aber selbst als an sich notwendig denken könne. Das heißt: ich kann das Zurückgehen zu den Bedingungen des Existierens niemals vollenden, ohne ein notwendiges Wesen anzunehmen, ich kann aber von demselben niemals anfangen.« 115 Schon daraus wird 113 Kant II 537. »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war« (II 402), weil es ebendas Unbedingte ist, »welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt« (II 27). 114 Kant II 536. »Die Vernunft aber verlangt das Unbedingte, und mit ihm die Totalität aller Bedingungen zu erkennen, denn sonst hört sie nicht auf zu fragen, gerade als ob noch nichts geantwortet wäre« (III 668). 115 Kant II 545. Das Fehlerhafte dieses Schlusses, so Kant, liege ja schon darin, dass die »unbedingte Notwendigkeit« bzw. das »schlechterdings notwendige Wesen« daraus keineswegs ableitbar ist: denn dieses könnte zwar relativ auf die Reihe notwendig, aber so wie die ganze zu begründende Reihe selbst kontingent sein und wäre außerdem selbst lediglich ein Glied in der Begründungskette und es ist nicht berechtigt, von
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ersichtlich, dass Kants Aufweis des notwendigen Scheiterns dieses auf das Dasein des »absolut notwendigen Wesens« abzielenden kosmologischen Argumentes auch etwas ganz anderes besagt als jene von Dawkins seltsamerweise geltend gemachte Verwerfung der von ihm darin diagnostizierten »unendlichen Regression und der sinnlosen Anrufung [!] Gottes zu ihrer Beendigung« (Gotteswahn 110). Was auch immer mit einer solchen angeblichen »Anrufung Gottes« gemeint sein mag, nicht weniger unverständlich bleibt auch sein Resümee, mit dem er seine Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen beschließt – denn was soll es heißen: »Gott [!] stellt eine unendliche Regression dar [?!] und kann uns nicht helfen, daraus zu entkommen« (Gotteswahn 154)? Der in jenem »Begriff des absolut notwendigen Wesens« gedachte »selbständige Grund aller Wirklichkeit« ist nach Kant also zwar keinesfalls ein bloßes Phantasieprodukt, sofern die menschliche Vernunft selbst sich durchaus auf den Abschlussgedanken eines ersten bzw. letzten – deshalb selbst unbedingten – Urgrundes aller Wirklichkeit »hingezogen« erfährt; gleichwohl, so Kant, enthalte dieser Schluss eine Reihe bloß »vernünftelnder Gründe« und führe letztendlich zu der schon erwähnten Einsicht, dass dieser Begriff, den »die Vernunft weder abweisen, noch ihn ertragen« könne, sich als der »wahre Abgrund für die menschliche Vernunft« erweise. Der eigentliche Kernpunkt besteht also darin, dass dieser Begriff eines »schlechthin unbedingt notwendigen Wesens« (als »Grenzbegriff«) zwar unvermeidbar ist – zugleich sich jedoch nicht in Bestimmtheit denken lässt. Kants berühmte Auskunft, die diese Zwiespältigkeit zum Ausdruck bringt, lautet sodann: »Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns …« 116 Eben darin liegt auch das unausweichlich »Abgründige« dieser Idee des »absolut notwendigen Wesens«: Zwar könne sich das Denken einem Glied dieser Kette aus einen Sprung außerhalb des Zusammenhanges des Kontingenten zu machen; vor allem aber verliere der Begriff der Ursache außerhalb des in Raum und Zeit Gegebenen jede Erkenntnisrelevanz, weil dieser auf »mögliche Erfahrung als Gegenstände der Sinnenwelt« eingeschränkt ist, d. h. »nur in Ansehung auf diese Bedeutung habe«. 116 Kant II 543.
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dieses Abschluss-Gedankens gewissermaßen nicht »erwehren«, jedoch vermag es ihn ebenso wenig in Bestimmtheit zu denken, d. h. keinen deutlichen Begriff von ihm als dem »Unbedingt-Notwendigen« auszubilden. Es sei unmöglich, den »absolut transzendenten Begriff (den des notwendig Existierenden)« inhaltlich – d. h. anders als grenzbegrifflichen Fluchtpunkt des Denkens, also anders als den »letzten, alles abschließenden Begriff der Vernunft« – zu bestimmen, der ebendeshalb ein »leerer Begriff« bleiben muss (ein Argument, das freilich weder mit der lachhaften Frage Dawkins’: »Wer gestaltet den Gestalter?«, noch mit der von ihm behaupteten »sinnlosen Anrufung Gottes« zur Regress-Beendigung zu tun hat). Dass jene erwähnte entscheidende Differenz zwischen dem »absolut notwendigen« und dem »relativ notwendigen Wesen« in jener entlarvenden Frage »Wer gestaltet den Gestalter?« überhaupt keine Beachtung mehr findet, ist offenkundig. Damit verkennt Dawkins notwendigerweise diese Frage nach dem »Grund, der kein Begründetes ist«, d. i. »einem Grund, der in keinem anderen Grund als lediglich in sich selbst gründet« sein kann und ebendeshalb ein »Unbedingtes« sein muss. 117 Näherhin zeigt sich noch dies: Der Letztbegründungs-orientierte Rekurs auf den Begriff des »absolut notwendigen Wesens« im kosmologischen Gottesbeweis ist nach Kant nicht zuletzt deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er für die mögliche Bestimmbarkeit dieses »absolut notwendigen Wesens« den problematischen »ontologischen Gottesbeweis« (und dessen Begriff des »ens realissimum«) schon voraussetzen muss, der jedoch als eine bloße – obzwar durchaus »fehlerfreie« – Idee der Vernunft schon ausgewiesen (und relativiert) ist: Denn wenn man fragt, »was nämlich ein absolutnotwendiges Wesen überhaupt für Eigenschaften haben müsse, d. i. welches unter allen möglichen Dingen die erforderlichen Bedingungen (requisita zu einer absoluten Notwendigkeit in sich enthalte«, so glaubt die Vernunft, »sie im Begriffe einer allerrealsten Wesens einzig und allein diese Requisite anzutreffen, und schließt sodann: das ist das schlechterdingsnotwendige Wesen. Es ist aber klar, dass man hiebei voraussetzt, der Begriff eines Wesens von der höchsten Realität tue dem Begriff der absoluten Notwendigkeit im Dasein völlig genug« 118.
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Kant III 623. Kant II 539.
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2.3 Die höchst phantasievoll angereicherte Kritik Dawkins’ am »vierten Weg« 2.3.1 Nichts als »die Wahrheit« sucht er, die »tiefste Vernunft« erahnt er und die »leuchtendste Schönheit« bestaunt er: Richard Dawkins – ein »anonymer Platoniker« wider Willen? Der Stellungnahme zu Dawkins’ Kritik des »vierten Weges« des Thomas v. Aquin sei eine Erinnerung an seinen verständnisvollen Kommentar zu Einsteins religiösem Bekenntnis vorangestellt (s. dazu o. I., 1.). Mit seiner Bezugnahme auf Einstein wollte Dawkins ja verdeutlichen, dass er sich keinesfalls einer gewissermaßen unreligiös-religiös staunenden Einstellung einfachhin verweigern wolle, vielmehr gibt er sich in solcher beanspruchten Nähe zu Einstein selbst in gewisser Hinsicht durchaus religiös-»metaphysisch begabt«: »Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinne, und nur in diesem, gehöre ich zu den tief religiösen Menschen« (Gotteswahn 32). 119 Dieses Bekenntnis Einsteins macht Dawkins sich ohne Zögern zu eigen: »In diesem Sinne bin auch ich religiös, allerdings mit der nicht unwesentlichen Einschränkung, dass ›unserer Vernunft nicht zugänglich‹ nicht bedeutet: ›für immer und ewig unzugänglich‹« (Gotteswahn 32 f.). Bezüglich dieser von Dawkins geteilten Erfahrungen von »Manifestationen tiefster Vernunft« hätte man von ihm allerdings auch gerne gewusst, ob und wie bzw. wodurch sich diese von ihm selbst erahnte »tiefste Vernunft« näherhin von jener so entschieden verworfenen »übernatürliche[n] kreativen Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert«, unterscheidet, zu119 Und in der Tat verweist ja Dawkins selbst (Darwins berühmte Schlusspassagen aus der »Entstehung der Arten« zitierend) auf den »den Nerv des transzendenten Staunens« berührenden Sachverhalt (Gotteswahn 22 f.): »So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Tiere. Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder einer einzigen Form eingehaucht wurde und dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfang sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und immer noch entwickelt.«
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mal es doch »nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt« (Gotteswahn 25 f.) – sodass jetzt zu befürchten ist, dass dem nun auch jene staunende »Seele« selbst mit ihren »erhabensten Erlebnissen« und zuletzt auch die erahnte »tiefste Vernunft« wiederum zum Opfer fallen könnten. Einmal davon abgesehen, dass diese von Dawkins geltend gemachte »Einschränkung, dass ›unserer Vernunft nicht zugänglich‹ nicht bedeutet: ›für immer und ewig unzugänglich‹«, auch hier den Unterschied zwischen einer (dem jeweiligen Stand der Wissenschaft entsprechenden) stets vorläufigen »Schranke« und der prinzipiellen, methodisch bedingten »Grenze« einebnet, kann man sich erneut davon überzeugen: Nichts als die Wahrheit sucht Dawkins’ unbedingter Wahrheitswille, nichts als die »tiefste Vernunft« erahnt er und nichts als die Schönheit bestaunt er – sei es auch in den uns allein zugänglichen »primitivsten Formen« von »Vernunft und Schönheit« 120 –, aber von welchen Maßstäben her? Den Fortschritt der Menschheit zum Besseren erhofft und unterstützt er, gegen die »Feinde der Vernunft« kämpft er, dabei stets unbeirrbar von moralischen Impulsen beseelt. »Brights« sind eben mitunter nicht nur kühle und helle Köpfe, sondern ebenso mit einer »metaphysischen Naturanlage« begabt – ungeachtet dessen, dass diese ästhetisch sensiblen und feinfühligen Menschen in ihren wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen sich dann doch am liebesten als »Überlebensmaschinen« verstehen wollen – nämlich als jene »Roboter, blind programmiert, zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden« – und die so, je nach Bedarf, gleichsam zwei verschiedene Welten bewohnen bzw. zwischen ihnen pendeln. Wie auch immer es damit stehen mag – nicht ohne Anteilnahme und Bewunderung erinnert man sich jedenfalls an die verständnisvolle Art und Weise, in der sich Dawkins schon im ersten Kapitel seines »Gottes-Wahnes« Einsteins Überzeugungen und Lebensgefühl zu eigen gemacht und sie ausdrücklich gegen den Vorwurf des »Komischen« verteidigt hat: »Ich versuche nicht, mir einen persönlichen Gott vorzustellen; es reicht aus, wenn man voller Staunen vor dem
120 Freilich: Bewusstsein könnte gar nicht von diesen »primitivsten Formen« als solchen wissen, hätte es nicht die Idee einer von diesen »primitivsten Formen« verschiedenen »Vernunft und Schönheit«, deren versprengte Spur offenbar auch in der Erfahrung dieser »primitivsten Formen« nicht fehlt (um ein berühmtes Wort des Philosophen Th. W. Adorno hier zu variieren).
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Aufbau der Welt steht, so weit sie unseren unzureichenden Sinnen gestattet, sie einzuschätzen« (Gotteswahn 21). Derart für den »Nerv des transzendenten Staunens« sensibilisiert, erwächst daraus gleichermaßen der Protest dagegen, dass solches »transzendente Staunen« hingegen unerlaubterweise »die Religionen in den letzten Jahrhunderten für sich monopolisiert haben«. Wohlgemerkt, nicht an einem bloß trivialen Alltags-»Staunen«, sondern an einem durchaus »transzendenten Staunen« ist Dawkins gelegen, auch wenn man über diesen betonten »Nerv transzendenten Staunens« gerne ein wenig mehr erfahren hätte – und zwar nicht nur um der zu wahrenden Distanz zu Dawkins’ Erzfeind Platon willen, sondern insbesondere auch mit Rücksichtnahme darauf, dass ja auch diese antimetaphysisch»metaphysische« Naturbegabung des »transzendenten Staunens« offenbar aus ganz besonderen »äußerst komplizierten Verflechtungen physischen Gebilde[n] im Gehirn« »erwachsen«. Selig die Gehirne, wo solches »erwächst«, armselig dagegen diejenigen, die ohne solche »Ausdrucksformen der Materie« (Gotteswahn 250), ohne solches Staunen, ihr Dasein fristen müssen. Es wurde schon erwähnt (s. o. I., 1.): Wie dieses von Dawkins beanspruchte »transzendente Staunen« mit der von ihm vertretenen harten »naturalistischen« Position vereinbar sein soll, wonach »es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt«, steht freilich auf einem anderen Blatt; und auch, was der Bezug auf »Naturphänomene …, die wir noch nicht verstehen« (Gotteswahn 25 f.), mit dem »transzendenten Staunen« zu tun haben soll, bleibt unergründlich. Und woher freilich Dawkins von der unzugänglichen »tiefsten Vernunft« offenbar dennoch »anfangshaft« wissen/ahnen will, erweist sich erst recht als eine Frage, die manche ein wenig neidische Platoniker und besonders auch die Anhänger dieses »vierten Weges« des Thomas v. Aquin wohl kaum unterdrücken können, wie sich sogleich zeigen soll. Dieses schon in Dawkins’ Gotteswahn bekundete »transzendente Staunen« – ein lediglich verborgen gebliebener evolutionärer Nützlichkeits-Aspekt? – gewinnt in seinem späteren Buch »Der Zauber der Wirklichkeit« 121 noch einmal neue Akzente. Und gerade auch in diesen Überlegungen des Evolutionsbiologen über den »Zauber der 121 Schon die Gesamtkonzeption dieses reich bebilderten – Spottbedarf und phantasiebeflügelnden – Buches und die Anlage der einzelnen Kapitel lässt die leitende pädagogische Absicht klar erkennen: »Religion ist alter Aberglaube und soll als solcher behandelt werden« (»Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur).
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Wirklichkeit« sollte man ihn beim Wort nehmen, zumal manche »moderne Atheisten« ersichtlich auch von hoher ästhetischer Sensibilität evolutionär beschenkt sind. So schwärmt Dawkins aufschlussreicherweise über den Zauber der »Schönheit, die [sic!] gerade deshalb so schön ist, weil sie wirklich existiert und weil wir verstehen, wie sie funktioniert« (Zauber 29): Da wäre jetzt wohl auch Platon in bewunderndes Staunen geraten, wird ihm dieserart von Dawkins, offenbar einem Ideenfreund besonderer Art, ein Gedanke vorgeführt, an den er selbst doch stets nur zögernd zu denken wagte: »Die Schönheit selber ist also schön« – und dies, so Dawkins, noch dazu »deshalb …, weil sie [die Schönheit!] wirklich existiert«, was doch den Rückschluss nahelegt, dass eine weniger »wirklich existierende Schönheit« dann wohl auch nicht mehr ganz so schön wäre; bei solchen metaphysischen Höhenflügen in immer dünnerer Luft – die einen Vergleich mit den vornehmen Tönen und Einsichten von »Platonikern« aller Zeiten gewiss nicht scheuen müssen – wagt man es kaum noch, an solche wohl dem Evolutionsbiologen vorbehaltenen metaphysischen »Zaubereien« die schüchterne Frage zu richten, was es denn dann gar heißen soll, dass diese »Schönheit« deshalb so schön sei, »weil wir verstehen, wie sie funktioniert«; dunkle Erinnerungen an jene ernüchternde Auskunft Dawkins’ stellen sich unweigerlich ein: »Erbarmungslose Nützlichkeit ist Trumpf, auch wenn es nicht immer den Anschein hat« (Gotteswahn 226) – und stören erbarmungslos auch jenen soeben gestarteten ästhetischen Höhenflug … Dennoch hätte man über diese jetzt sogar in ihrer »Funktionalität« verstandene Schönheit gerne noch mehr erfahren – nicht zuletzt in Erinnerung daran, dass ja auch schon Konrad Lorenz in seiner Abhandlung über »Das Schöne in der Verhaltensforschung« über diese »Funktionalität« zu berichten wusste, dass »das Schöne« genauer besehen sich in Wahrheit als evolutionär Nützliches, als »Überlebensvorteil-Relevantes«, entpuppt, also unser »Wohlgefallen« daran so »interesselos« gar nicht ist (wie Kant, der Vorgänger Lorenz’ in Königsberg, indes noch meinen konnte): All dies wäre demnach lediglich eine neuerliche – erbarmungslose – Bestätigung jenes früheren Dawkins’schen Befundes über die in der Evolution herrschende »erbarmungslose Nützlichkeit« 122. Nicht auszudenken, was angesichts sol122 Denn es ist offensichtlich, dass die in der Verhaltensforschung methodisch maßgebende Perspektive die spezifisch ästhetische Qualität des »Schönen« auf bloß biologische Funktionalität reduziert, weil sie als Verhaltensforschung auch von der Di-
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cher schier unvermeidlicher Seelen-Wirrnisse in einer »zu sich erwachten« und sodann auch vor den Spiegel tretenden »Überlebensmaschine« – d. h. ihrer Erfahrung: »Ich bin eine Überlebensmaschine« (s. o. I., 1.) – auch an bedrohlichen Turbulenzen hereinbrechen kann.
2.3.2 Dawkins’ kuriose Degradierung der »metaphysischen Vollkommenheiten« zu »beliebigen Vergleichsgrößen« – und der aus ihrer Ersetzung erzielte »Erkenntnisgewinn« Brennender noch interessiert allerdings die Frage, weshalb Dawkins selbst in der angezeigten Weise auf jene »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit« rekurriert und obendrein, wie schon erwähnt, sein »größtes Anliegen die Wahrheit« ist. Was besagt denn eigentlich, unter seinen naturalistischen Prämissen, jener Verweis auf »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten [!] Formen zugänglich sind«? Klärungsbedürftig ist dabei (in diesem Kontext des »vierten Weges«) zunächst doch schon dies: Wenn dies nicht alles bloß eingestreute »Erbaulichkeit«, sondern auch vernünftig ausweisbar sein solle – auf welche »Beweisbarkeit« oder doch wenigstens Wahrscheinlichkeitskalküle stützen sich solche gewiss ehrenwerte »Überzeugungen« –und wo in dem von Dawkins dargebotenen gestuften Wahrscheinlichkeits-Spektrum (Gotteswahn 72 f.) wären sie selbst wohl zuzuordnen? Welche naturwissenschaftliche Disziplin wäre denn für die Erhellung dieser – offenbar unterschiedlichen Erkenntnisstufen verdankten – Erfahrungen »tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit« zuständig – ein Spezialthema der Evolutionsbiologie oder der Hirnforschung? Ungeklärt bleibt dabei nicht zuletzt auch dies, woher denn der – offenbar wenigstens in jenem ermäßigten Sinne durchaus metaphysisch-»religiös« begabte – Evolutionsbiologe Dawkins eigentlich wissen will, dass diese Erfahrunmension des »Schönen« absehen muss. Mit Recht merkten Spaemann/Löw dazu an: »Was e. g. Schönheit in der Natur heißt, das kann evolutionsbiologisch gar nicht in den Blickwinkel gerückt werden. Wenn da von Schönheit die Rede ist, dann geht es um grelle Farben, lange Schwanzfedern oder gewundene Hörner. Das würde Rückschlüsse auf einen merkwürdigen Geschmack zulassen, sollten solche Konsequenzen und Signale das Phänomen Schönheit ganz erschöpfen« (Spaemann/Löw 1982, 298, Anm. 11).
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gen (in Wahrheit eben ohnehin nur phantasierend-erbauliche Ausdrucksform von »physikalischen Prozessen«) »unserer Vernunft nur in ihren primitivsten [!] Formen zugänglich sind«? Dies kann doch offenbar nur jemand sagen, der sich in solcher merkwürdigen Berufung auf die unserer begrenzten Erkenntnis allein zugänglichen »primitivsten Formen« jener »tiefsten [!] Vernunft« wenigstens auf eine Art »ahnendes Vorwissen« zu stützen vermag – denn »empirisch-hypothetisch« ist solche metaphysisch »infizierte« Auskunft offenbar nicht. Anders noch: Woher weiß denn Dawkins eigentlich, dass jene »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit … unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind« 123? Weder ein solcher Rekurs auf »Manifestationen tiefster Vernunft« noch der Bezug auf eine »Vernunft«, der diese »objektive« und »tiefste Vernunft« allerdings nur partiell »zugänglich« sein soll, lässt sich unter den naturalistischen Prämissen Dawkins’ verständlich machen. Mit diesem Rekurs auf die nur in »ihren primitivsten Formen« zugänglichen »Manifestationen tiefster Vernunft« (wessen eigentlich?) ist also wohl indirekt vorausgesetzt, dass solche Erfahrung einer nur begrenzten »Zugänglichkeit« implizit auf eine Vollendungsgestalt dieser »Manifestationen« verweist; diese übersteigt zwar das menschliche Vernunftvermögen, muss aber von dieser dennoch insofern vorausgesetzt werden, um der von Dawkins angesprochenen Begrenztheit überhaupt inne werden zu können, weil diese »primitivsten Formen« doch nur von diesem Maßstab her als solche bestimmbar sind. Derart wird ein bekanntes Motiv der philosophischen Tradition berührt: Von einer »Begrenztheit« in einer solchen Hinsicht zu wissen, bedeutet demzufolge, eben mit solchem Wissen selbst in gewisser Weise über diese »Grenze« hinaus zu sein; von »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit« zu 123 Dawkins – gar selbst angekränkelt von des (metaphysischen) Gedankens Blässe oder durch einen quasi-religiösen Virus infiziert? Nein, bloß erholsame – die Stimmung der Leserschaft hebende – spirituelle Erbauungs-Rhetorik, an die freilich schon hier die Frage zu richten ist, was denn diese von Dawkins wahrgenommene – oder doch wenigstens geahnte – »tiefste Vernunft« näherhin sein soll, zumal doch diese Vernunft erst ein spätes Anpassungsprodukt aus dem Evolutionsprozess sein soll, während nunmehr der Verweis auf die »Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind«, über die als abwesend erfahrende Sinnhaftigkeit der Welt hinwegtrösten (täuschen?) soll?
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reden, die unserer Vernunft nur in »primitivsten Formen« zugänglich sei, setzt demnach voraus, dass diese »Manifestationen« das Denken auf eine »Ursprungsdimension« verweisen, von der her doch allererst ein Maßstab zu gewinnen ist und auch »primitivste Formen« als solche erst beurteilbar sind. Da geht es also bei Dawkins in seiner »clear thinking oasis« unbedachterweise ganz schön »metaphysisch« zu, und erneut erhebt sich der Verdacht: Richard Dawkins – ein »anonymer Metaphysiker« in naturalistischem Gewand – gar ein »NeoPlatoniker inkognito«, obzwar ganz wider Willen? 124 Eher scheint sich erneut zu bestätigen: Wo ein »szientistischer Naturalismus«, missionarische Schwärmerei und trickreiche Überredungskunst sich vereinigen, da lässt auch tiefsinnige Erbaulichkeit nicht lange auf sich warten und macht die erfolgreiche Verbreitung einschlägiger MemKomplexe durchaus wahrscheinlich. Doch zurück zum »vierten Weg« des hl. Thomas, der ebenfalls Dawkins’ energische Kritik und seinen Spott auf sich gezogen hat: Mit Blick auf die in diesem »vierten Weg« maßgebende Argumentation zeigt sich, dass der philosophische Begriff des »Seins« hier im Sinne der »Seinsfülle« (»perfectio«) zu verstehen ist, an dem sich die mehr oder weniger ausgeprägte artspezifische Vollkommenheit (das »Plansoll«) eines Lebendig-Seienden bemisst. Sofern eben ein Lebendiges seinem artspezifischen »Wesen« entspricht, ist es in diesem bestimmten Sinne mehr oder weniger »vollkommen« (und insofern, in einem natürlich nicht moralisch qualifizierten Sinne, »gut«); sofern es mit seinem »Wesen« übereinstimmt, ist es »wahr« (so wie ein »wahrer Freund« das »Ideal« der Freundschaft repräsentiert, obgleich kein »wahrer Freund« mit diesem »Urbild« schlechthin identisch ist); sofern es nicht eine bloß aggregathaft-äußere Einheit (wie ein Sand124 Man kann den Wortführer der »brights« gar nicht genug bedauern, dass er mit dem durch jene »Manifestationen tiefer Vernunft« veranlassten Ahnen und Staunen und dem Bewusstsein der »unzureichenden Sinneserkenntnis« erneut unversehens wiederum in gefährliche Nähe zu seinem philosophischen Erzfeind Platon gerät. Denn just solcher Rekurs auf das der Sinnenerkenntnis »Unzugänglichen«, jenes Staunen und die geahnten »Tiefen der Vernunft« wecken unweigerlich Assoziationen zu den von Platon betonten Erkenntnisstufen; und von diesen wahrgenommenen »Manifestationen tiefer Vernunft« wird er wohl auch weniger vollkommene »Manifestationen« unterscheiden, womit er offenbar der Idee einer Stufenfolge von »Graden der Vollkommenheit« nahekommt, von der auch im Kontext der platonischen Bestimmung der »Idee des Guten« bzw. indirekt in diesem »vierten Weg« des Thomas von Aquin die Rede ist. Man sieht, wohin bzw. wozu – buchstäblich »unbedachte« – Erbaulichkeit allzu leicht (ver-)führen kann …
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haufen), sondern eine »innerlich«-lebendige Einheit ist, ist es »eines« – ein In-dividuum (eben nicht bloß in numerischer Hinsicht). 125 Schon daraus ist ersichtlich, dass es in diesen Bestimmungen keineswegs um irgendwelche bloß zufällige Eigenschaften geht, die dann »maximalisiert« werden (wie Dawkins allerdings unsinnigerweise unterstellt), sondern um solche, die allem »substanziell« Seienden wesentlich zukommen, d. h. ihm nicht bloß »zufällig« zufallen. Das abgestuft »mehr oder weniger« Vollkommensein des Seienden ist vielmehr Ausgang für die Bestimmung des im höchsten Grade Vollkommenen (gut, barmherzig, mächtig), was aber alle bloß graduellquantitative (länger, größer, schneller) und qualitative Bestimmungen ausschließen muss. 126 Es ist also offenkundig, dass Dawkins der diesbezüglich entscheidende Sachverhalt wiederum verborgen blieb, dass jene Vervollkommnung sich eben gerade nicht auf bloße »Maxima« von irgendwelchen Eigenschaften bzw. Dispositionen als angeblich »beliebige Vergleichsgrößen« bezieht – denn vermutlich ist sogar er davon zu überzeugen, dass es eher sinnlos ist zu sagen, Gott sei das »schnellste, dickste oder schwerste Wesen«. Vielmehr bezieht sich jene Idee der »Vollkommenheit« nach Thomas allein auf diejenigen Bestimmungen, die – auf platonische Motive zurückweisend – als transzendentale Bestimmungen ausgezeichnet sind 127 und als solche 125 Dass »Gott« als das »Absolute« nicht selbst (wie das »endlich Seiende«) an einer artspezifischen »Vollkommenheit« teilhaben kann, sondern er als der Grund dieser »artspezifischen« Seinsvollkommenheit gedacht werden muss, der als solcher auch nicht in der Differenz von »Wesen« (»essentia«) und Dasein (»existentia«) steht (das »Absolute« also jenseits dieser Differenz gedacht werden muss), war eine in der philosophischen Tradition geläufige Konsequenz daraus. Diese traditionellen Begründungsfiguren sind in den leitenden philosophischen Motiven auch dann rekonstruierbar und vor groben Entstellungen (wie bei Dawkins) zu bewahren, wenn man ihre Stringenz letztendlich auch bezweifeln mag. 126 Gleichwohl ist festzustellen, dass das von Aristoteles aufgenommene Beispiel der Wärme (vgl. auch Thomas v. Aquin, Summe gegen die Heiden: I, 13. cap.) auch als eine vermeintliche Veranschaulichung irreführend ist. 127 Diese Themen sind hier nicht zu verfolgen; es muss der Hinweis darauf genügen, dass es sich bei diesen Bestimmungen um sogenannte »Transzendentalien« handelt; in diesem Sinne verweist etwa die auch theologisch relevante Bestimmung »wahrer Mensch« nicht auf einen »richtigen Menschen« (»mit Fleisch und Knochen«), sondern auf die volle Entfaltung des »Wesens des Menschen«, also gewissermaßen auf seine artspezifisch-»wesensgemäße Vollkommenheit« (als »perfectio«) – also etwa das »Ideal der Tugend«, der »Weisheit«, auch wenn diesem Richtmaß nichts Gegebenes schlechthin adäquat ist, d. h. damit »kongruiert«, die gleichwohl keine »Hirngespinste« sind. Deshalb gehört beispielsweise der Stoffwechsel und das Grunzen zu den
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eben allem »substanziell Seiendem« zukommen (»Eines, Wahres, Gutes« im Sinne von spezifischer »Vollkommenheit«). Damit wird natürlich Dawkins’ scharfsinniger Einwand gegenstandslos, für den er sich nun erstaunlicherweise sogar auf das philosophische Lexikon beruft: »Der maßgebliche Oxford Companion to Philosophy bezeichnet das Problem des Bösen als ›den stärksten Einwand gegen den traditionellen Theismus‹. In Wirklichkeit spricht dieses Argument nur gegen die Existenz eines guten Gottes. Aber Güte gehört nicht zur Definition der Gotteshypothese, sie ist nur eine wünschenswerte Ergänzung« (Gotteswahn 153). 128 Letzteres ist vermutlich schon wieder freie interpretatorische Zugabe aus Dawkins’ Mem-Bestand; dass »Güte« in der Idee des »vollkommensten Wesens« als mitenthalten gedacht ist, wird indes schwer zu bestreiten sein. Wie gesagt, interessant ist dabei nicht zuletzt dies – jedenfalls, wenn man sich hier nicht mit bloß erbaulichen Floskeln begnügt, sondern jene von Dawkins in Gefolgschaft Einsteins aufgenommenen Motive beim Wort nehmen will: Sie führen offenkundig in eine sehr bemerkenswerte – und denkwürdige – Nähe (nicht einfach: Übereinstimmung!) just zu jenen Motiven, die in dem von Dawkins auf recht erbärmliche Weise lächerlich gemachten »vierten Weg« von den sogenannten »Seins«- bzw. Vollkommenheitsstufen im Vordergrund stehen. Wer, wie Dawkins, unruhigen Herzens »nichts als die Wahrheit« sucht (und dieses »Suchen« nicht selbst lediglich neuronale Prozesse sind), setzt dabei nicht nur die Differenz von Wahrheit und Eigentümlichkeiten der von Dawkins phantasiereich und gerne beigezogenen Schweine, während hingegen das Nicht-Bellen, Nicht-Singen und Nichtfliegen-Können – so wenig wie das Nicht-Staunen über den »Zauber der Wirklichkeit« – nicht als Mangel (Defekt) der Schweine angesehen wird und deshalb auch einschlägige »Enhancement«-Maßnahmen zur »Vervollkommnung« als wenig aussichtsreich erscheinen lässt. Diese Erläuterung mag in Anbetracht der von Dawkins bevorzugten Beispiele bzw. Argumente leider nicht ganz überflüssig sein. 128 Hätte sich Dawkins ein wenig genauer mit dem »vierten Weg« des Thomas v. Aquin bzw. mit der Idee des »ens perfectissimum« befasst (und so auch damit, dass »das Übel und Böse« ihm zufolge als ein »Seinsmangel«, d. i. ein Mangel an dem, was es sein soll, verstanden wird, also eine »privatio boni« darstellt), so wäre ihm die Unsinnigkeit seiner Behauptung vielleicht einsichtig geworden. – Dieser »vierte Weg« setzt übrigens den in den anderen »Wegen« von Thomas v. Aquin vollzogenen Existenz-Aufweis schon voraus; er besagt eigentlich nur, dass dieser schon in den vorausliegenden »Wegen« geleistete Aufweis der Existenz Gottes diesen nunmehr lediglich als das »vollkommenste Wesen« erweist, von dem deshalb alle für »Gegenständliches« bestimmenden quantitativen und qualitativen Bestimmungen zu negieren sind.
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Schein voraus und weiß überdies darum, dass unser Wissen stets ein fragmentarisch-vorläufiges ist; dergestalt, so die Argumentation des »vierten Weges«, vollzieht sein Denken einen »Vorgriff« auf ein »Wahres schlechthin« (und insofern auf ein »Unbedingtes«), aus dem sich jene produktive Unruhe des menschlichen Geistes speist und letztere (übrigens ganz wie Dawkins selbst es ja will) fortwährend dazu antreibt, erfahrenes Unwissen bemäß der Idee des »Wahren« immer neu zu überwinden (Gotteswahn 174 f.); wer schließlich gar, wie Einstein/Dawkins, wissend-nichtwissend sich auf die uns freilich verborgene »tiefste Vernunft und leuchtendste Schönheit« bezieht, muss sich ja nicht nur fragen lassen, warum und wie sich die »neuronalen Gehirnprozesse« jener »Überlebensmaschinen« solchen (ohnedies auf evolutionären Luxus hinauslaufenden) strapaziösen »Tiefsinn« überhaupt »antun« bzw. dazu fähig sein sollen; vor allem dies ist jedoch klärungsbedürftig, weshalb sich denn Dawkins’ quasi-religiöses Gefühl – sein unstillbares Interesse und »transzendentes Staunen« – gerade daran entzündet und nicht an anderen ablesbaren »Vergleichsgrößen« (als den dann »superlativisch« gesteigerten Eigenschaften und Dispositionen der »Weltdinge«): Warum denn nur richtet sich Dawkins’ eigenes quasi-religiöses »Staunen« nicht, wie die von ihm bevorzugten Beispiele dies doch nahelegen würden, auf dickste Bäume, stinkendste Pflanzen, wildeste Tiere, selbstsüchtigste Gene u. Ä., wenn es sich doch, wie er unterstellt, in jenem von ihm kritisierten »vierten Weg« ohnedies lediglich um beliebige »Vergleichsgrößen« handelt? Hätte Dawkins seinen Polemik-Bedarf wenigstens vorübergehend zügeln können, so wäre ihm vermutlich auch eine denk-würdige motivliche Nähe jener Einstein’schen Auskunft zu dem (von ihm allerdings völlig verzeichneten) »vierten Weg« des Thomas von Aquin nicht verborgen geblieben: Das »Wahre, das Vollkommene und das Schöne« – ebendiese Bestimmungen waren doch der Ausgangspunkt dieses »vierten Weges«. Indes, wenn jedoch ein Rekurs auf »beliebige andere Vergleichsgrößen« (nach Dawkins) nicht nur ebenso möglich, sondern wohl auch naheliegender wäre – warum in aller Welt rekurriert der in »transzendent-staunende« Weltbetrachtung versunkene »Quasi-Anbeter« Dawkins dann aber ausgerechnet auf die »tiefste Vernunft, leuchtendste Schönheit« und letzte »Wahrheit« und nicht einfach auf »beliebige andere Vergleichsgrößen«, wenn doch das Repertoire derselben auch ungleich größer, ja sogar unerschöpflich wäre; staunt er möglicherweise darüber und über die 481 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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entsprechenden »Vergleichsgrößen« doch etwas weniger intensiv – und gegebenenfalls, bitte sehr, mit welchem Recht? Warum also ist Dawkins in der Spur Einsteins gerade an diesen Bestimmungen (und nicht an anderen, auch biologisch wohl relevantere »superlativische« Eigenschaften) offenbar in besonderer Weise gelegen – liegt der Grund hierfür etwa darin, dass diese Bestimmungen des »Wahren, Guten und Schönen« eben doch nicht bloß beliebige »Eigenschaften« sind, infolgedessen auch nicht mit anderen beliebigen »Vergleichsgrößen« (deren »Maximum«) verglichen werden können – und auch nur deshalb darauf ein unbedingtes »Interesse der Vernunft« gerichtet ist? Bemerkenswerterweise gerät Dawkins mit seiner bewundernden – quasi-religiösen – Orientierung am »Wahren, Schönen und Vollkommenen« selbst unversehens in die Nähe von traditionellen Argumenten, die er jedoch selbst mit einigem Spott-Aufwand und einem damit nicht ganz Schritt haltenden Scharfsinn der Lächerlichkeit preisgeben will, wie sich gleich zeigen soll. Es ist deshalb weniger eine Erläuterung des »vierten Weges« des Thomas v. A. (wie Dawkins allerdings suggeriert), sondern eher eine wiederum sehr eindrucksvolle Kostprobe davon, was der »allein nach Wahrheit strebende« Dawkins in seinem Bemühen um »öffentliches Verständnis der Wissenschaften« unter seiner beanspruchten Pflichtorientierten und »umfassenden« Auseinandersetzung mit dem Thema »Gottesbeweise« (und unter der von ihm wiederholt strapazierten »intellektuellen Redlichkeit«) versteht, wenn es in seiner erneut phantasievollen Auskunft heißt: »Aber solche Abstufungen können wir nur durch den Vergleich mit einem Maximum beurteilen. Menschen können sowohl gut als auch schlecht sein, also kann das Maximum des Gutseins nicht in uns liegen. Es muss ein anderes Maximum geben, das den Maßstab der Vollkommenheit bildet, und dieses Maximum nennen wir Gott. Das soll ein Argument sein? [Nein, da hat Dawkins zweifellos Recht, aber das behauptet – außer ihm – auch niemand! Es ist also, gemäß seinem »Naturalismus«, als recht zart-ephemeres »Mem« ohnedies lediglich »erwachsen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde« in Dawkins’ Gehirn (s. o. I., 1.).] 129 Eben129 Selbstzweifel darüber, ob sich seine Wahrnehmung bzw. Einschätzung dieser Gottesbeweise womöglich offenbar unkontrollierbar gewordenen neuronalen Prozessen und Verflechtungen der besonderen Art verdanken, lässt Dawkins jedenfalls nach wie vor nirgendwo erkennen.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
so gut kann man sagen: Die Menschen unterscheiden sich in der Stärke ihres Körpergeruchs, aber einen Vergleich können wir nur anhand eines vollkommenen Maximums an vorstellbarem Körpergeruch anstellen. [Es ist zu befürchten, dass hierfür doch schon ein »unvollkommenes Maximum« reicht, das wohl nicht unsinniger ist als jenes von Dawkins erwogene »vollkommene Maximum«.] Es muss also einen überragenden Stinker geben, der nicht seinesgleichen hat, und den nennen wir Gott. Oder wir nehmen jede beliebige andere Vergleichsgröße und leiten daraus eine ebenso alberne Schlussfolgerung ab« (Gotteswahn 111). Eine wohl geradezu »maximal alberne Schlussfolgerung« ist indes Dawkins selbst mit solcher Biologie-nahen Darlegung gelungen! 130 Bravo, was für eine scharfsinnige Entlarvung! Anstrengend zwar, aber lohnend – danke, wunderbar; alle humorbegabten Mitglieder der »clear thinking oasis« und alle anderen »hellen Köpfe« lachen und klatschen in die Hände, hat doch in dieser – mit einem gewohnt eindrucksvollen Vergleich unterstützten – Widerlegung Dawkins’ religionskritischer Scharfsinn und Humor wohl selbst ein nahezu »vollkommenes Maximum« erreicht. Es muss wohl nicht eigens betont werden: Um solche (von Dawkins unterstellte) völlig unsinnige Vorstellung bloßer »Maximierungen« von beliebigen Eigenschaften geht es in diesem Argument des »vierten Weges« ganz offensichtlich nicht. So ist es jedenfalls allein der blühenden Phantasie des von »metaphysischen Memen« infizierten Evolutionsbiologen Dawkins vorbehalten, auch das »Stinken« zu den »Vollkommenheiten« zu rechnen – ein gewiss nicht unorigineller »Gedanke«, der jedoch Thomas v. Aquin offenbar völlig fremd geblieben ist. Während der Kirchenlehrer jedenfalls solche »Ausdünstungen« – dies sei dem Hobby-Metaphysiker Dawkins gesagt – als recht elementare und eindringliche »Ausdrucksformen der Materie« nicht unbedingt zu den leiblichen »Vollkommenheiten« gezählt hätte, sah er hingegen in der »Wahrheitsfähigkeit« des menschlichen Geistes (nach Dawkins‘ bekanntlich ebenfalls eine bloße »Ausdrucksform der Materie«, s.o. I., 1.) geradezu die »menschliche Würde« begrün130 Man kann dem Urteil Mutschlers zu Dawkins’ »Stinker«-Kommentierung des »vierten Weges« des Thomas nur zustimmen: »Auf ein solch erbärmliches Niveau ist der Materialismus [in der Gestalt Dawkins’] herabgekommen« (Mutschler 2014, 293). Ja, man muss in der Tat für eine empfundene Verdrießlichkeit hinsichtlich einer detaillierten Auseinandersetzung mit Dawkins doch auch großes Verständnis haben …
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det (was Dawkins zufolge wohl wiederum als vergeblicher theologischer Versuch anzusehen sei, den Menschen auf den »hohen Sockel« zu heben, s.o. I., 3.). Dass jene von Dawkins erstaunlicherweise zur Erläuterung herangezogene »Disposition des Stinkens« einen evolutionär nicht unbeträchtlichen Überlebens- bzw. Anpassungsvorteil gesichert haben mag und dies insofern als ein Mittel der »Vervollkommnung« (im Dienste des »survival of the fittest«) angesehen werden darf, mag ja nicht ganz unplausibel sein; als eine im Rahmen der metaphysischen »Vollkommenheiten« (»perfectiones«) bzw. Sachhaltigkeiten (Realitäten) zu berücksichtigende Vollkommenheit (»Seinsfülle«) muss dies jedoch aus den genannten Gründen wohl dauerhaft unberücksichtigt bleiben, so wie auch jene anderen dem phantasiereichen Verweis Dawkins’ verdankten »beliebigen anderen Vergleichsgrößen«, die doch erst er in »metaphysischen Rang« erhoben hat – wie etwa auch die Vorstellung des »Schnellsten«, »Lautesten«, »Dicksten« usw. Dawkins‘ metaphysischer »Mem«-Bestand hat sich also auch gegenüber dem beispielsweise von dem Philosophen Leibniz geäußerten kritischen Hinweis erfolgreich immunisiert, dass jene Dawkins beseelende Vorstellung eines »überragenden Stinkers« unvermeidlich den von Leibniz verworfenen »unmöglichen Chimären« des Evolutionsbiologen zugeordnet werden muss 131 – so wie auch »der »höchste Grad an Geschwindigkeit, … die größte Zahl« u. Ä. Schon zu Beginn seiner »Metaphysischen Abhandlung« betonte Leibniz ja ausdrücklich, man müsse eben »wissen, was Vollkommenheit eigentlich ist: dafür gibt es ein ziemlich sicheres Merkmal: solche Wesensformen bzw. Naturen, die keines höchsten Grades fähig sind, – wie z. B. das Wesen der Zahl oder der Gestalt [franz.: »figure«] – sind keine Vollkommenheiten. Denn die größte aller Zahlen (oder die Zahl aller Zahlen) enthält, ebenso wie die größte aller Figuren, einen Widerspruch: das größte Wissen aber und die Allmacht enthalten nichts 131 Das Stinken dürfte vermutlich zu denjenigen Eigenschaften zählen, die nicht unbedingt als Vollkommenheiten anzusehen sind; und es ist wohl zu befürchten, dass das Stinken schon deshalb einer »Vervollkommnung« ganz und gar unfähig ist, weil es »keines höchsten Grades fähig ist« (wie die »größte aller Zahlen«, die »schnellste Bewegung«, der »höchste Grad der Geschwindigkeit« oder die »größte aller Figuren«) – nach der Tradition, in der Leibniz sich verortet, ein Kriterium dafür, wofür allein »eine Vollkommenheit gedacht« (z.B. »Allmacht« bzw. »Allwissenheit«) werden kann, während er jene genannten Beispiele als »unmögliche Chimären« verwirft (vgl. auch Leibniz, Metaphysische Abhandlung, Abschnitt Nr. 23).
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Unmögliches. Folglich sind Macht und Wissen Vollkommenheiten und haben, sofern sie Gott zukommen, keine Grenzen« 132 An einen »vollkommensten Stinker« hat (der im Vergleich zu Dawkins offenbar eher phantasielose) Leibniz allerdings dabei nicht gedacht, nicht einmal eine kleine »Wesensform« hätte er vermutlich für derart »Penetrantes« zugestanden. Dem »metaphysischen Geisterfahrer« Dawkins sei auch dies gesagt: Das von ihm (als Erläuterung bzw. Kritik des »vierten Weges«) erstaunlicherweise bevorzugte Beispiel des »mehr oder weniger« ausgeprägten Körpergeruchs hätte Thomas v. Aquin wohl eher als ein Beispiel für eine »privatio« (d.h. »Beraubung«) – »Mangel an gesolltem Sein«, nämlich: gebotene Körper-Hygiene – angesehen, so wie ihm zufolge etwa auch penetrante Unkenntnis als ein »Mangel an gesolltem Sein«, als ein »Defekt« (»privatio intellectualis«), gelten muss, der in beiden Fällen deshalb möglichst vermieden oder rasch behoben werden sollte. Indes, eine metaphysische »Radikalisierung« liegt nach Thomas v. Aquin dort und dann vor, wo bloße »privatio« (»Mangel an gesolltem Sein«) geradewegs in »perversio« (»Verkehrung«) umschlägt: Dies wäre, in den genannten Beispielen, etwa der Fall, wenn »Körpergeruch« sich als »Duftmarke« inszenieren bzw. als Aromastoff für Parfums anbieten wollte; oder etwa, wenn penetrante Unkenntnis gar mit dem Anspruch qualifizierter Sachkenntnis auftritt bzw. Nicht-Wissen, Desinformiertheit – und auch Desinformation! – sich gar einem Interesse »verdankt«, also keineswegs bloße Unkenntnis wäre… Ein anderes einfaches Beispiel wäre dies, dass »Sinnlosigkeit« zwar einen »Mangel« bzw. »Abwesenheit« (»privatio«) von »Sinnvollem« besagt; »Sinnwidriges« bedeutet hingegen geradewegs die Perversion von »Sinnhaftem« – und eben davon gibt Dawkins‘ Behandlung der traditionellen Gottesbeweise ein gewiss recht eindrucksvolles Beispiel, zumal er damit, wie erwähnt, ja sogar allen Ernstes den Anspruch erhebt, seiner »Pflicht [!]« nachzukommen, um »die positiven [!] Argumente für den Glauben abzuhaken, die im Laufe der Geschichte genannt wurden« (Gotteswahn 107). In diesem Sinne: Es ist kaum zu glauben (und doch irgendwie schon wieder staunenswert), mit welchen durchaus sinnfreien »Argumenten« Dawkins seine Leserschaft stets von der Absurdität jener traditionellen Lehrstücke auf offenbar möglichst unterhaltsam-spaßhafte Weise zu überreden versucht und dabei den Sinn derselben mit132
Leibniz 1958, Nr. 1.
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unter nicht nur verfehlt, sondern Letzteren infolge gesteigerten JuxBedarfes offenbar geradewegs pervertiert. Die von ihm hierfür gar beanspruchte »Pflichterfüllung«, »die positiven Argumente für den Glauben abzuhaken, die im Laufe der Geschichte genannt wurden«, erweist sich einmal mehr als grobe Fahrlässigkeit und erscheint als pure strategische Heuchelei. 133 Andererseits spricht manches wiederum dafür – nicht zuletzt auch sein ungebrochen selbstsichere Gestus –, dass die von Dawkins’ Scharfsinn diagnostizierte »Albernheit« der mit den Begründungsfiguren zu jenen »Gottesbeweisen« verbundenen »Schlussfolgerungen«, die sich allein seinem eigenen phantasiereichen Umgang mit diesem Thema verdankt, ihm selbst leider völlig verborgen bleiben – umso schlimmer. Wie dem auch sei – intellektuell ernsthafte Atheisten können an einer solchen Vorgangsweise eines angeblich »aufgeklärten Geistes« gewiss keine Freude haben. Es ist jedenfalls schlichtweg Nonsens, was Dawkins auch hier wiederum seiner Leserschaft zumutet und dies gleichwohl als sach-orientierte »Aufklärung« verkauft… Wie so oft in seinem »Gottes-Wahn«, so zeigt sich auch hier: Dawkins’ Ignoranz spottet ihrer selbst und weiß nicht wie. Seine Auseinandersetzung mit dem »vierten Weg« des Thomas v. Aquin darf wohl auch als ein besonders überzeugendes Dokument dafür gelten, wie es um die von ihm so energisch geforderte intellektuelle Ernsthaftigkeit und um seinen Anspruch bestellt ist, sich mit den entsprechenden traditionellen Konzeptionen der Gottesbeweise kritisch und »umfassend« (Gotteswahn 524) auseinandergesetzt zu haben. Die Art und Weise seiner »Argumentation« und die darin zutage tretende Chuzpe, mit der er diese »ad absurdum« zu führen beansprucht, steht selbst beinahe jenseits aller »Vergleichsgrößen« und verdient somit seinerseits unüberbietbares, »superlativisches« Staunen – »unsinniger und ungenierter, als nichts gedacht werden kann«, und all dies obendrein in treuherziger Berufung auf »Pflicht«. Und man kann sich wohl nur wundern (oder auch nicht!), dass in medialen Kommentaren, die Dawkins’ einschlägige Äußerungen als gelungene, weil überzeugende »Abrechnung mit der Religion« ansehen, auch an seinem wahrlich bemerkenswerten Umgang mit all diesen Themen kein Anstoß genommen wird …
133 Sein Vergleich von „Memen“ mit nicht unbedingt „kopiergenauen“ „mentalen Viren“ drängt sich hier in der Tat geradezu auf.
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2.4 Dawkins’ Verständnis und Kritik des »teleologischen Gottesbeweises«: Das von ihm fälschlicherweise so genannte »Gestalter«-Argument Dem »fünften Weg« des Thomas v. Aquin – das sogenannte »teleologische Argument« (Dawkins’ irreführendem Hinweis zufolge »auch Gestaltungsargument genannt«: von wem eigentlich?, von Thomas v. Aquin jedenfalls nicht!) – verpasst Dawkins, wohl wiederum aus purem Pflichtgefühl, folgende seltsame Gestalt, die freilich als getreue Wiedergabe des thomistischen Argumentes gelten soll: »Die Dinge in der Welt und insbesondere [?!] die Lebewesen sehen so aus, als wären sie gezielt gestaltet worden. Nichts was wir kennen, sieht gestaltet aus, wenn es nicht gestaltet ist [?]. Also muss es einen Gestalter geben, und den nennen wir Gott. Thomas von Aquin selbst stellte den Vergleich mit einem Pfeil an, der sich auf ein Ziel zubewegt, aber ein modernes Flugabwehrgeschütz mit Wärmesensoren hätte sich für seine Zwecke besser geeignet« (Gotteswahn 111). Darwin sei es freilich gewesen, der dieses »Gestaltungsargument« endgültig zerstört habe, denn die »zentrale Aussage – ›nichts, was wir kennen, sieht gestaltet aus, wenn es nicht gestaltet ist‹ – stimmt dank Darwin eben nicht mehr« (Gotteswahn 112). Ein wenig zu offensichtlich »gestaltet«, d. h. konstruiert, nimmt sich allerdings auch dieses von Dawkins selbst vorgelegte Argument aus. 134 Denn, so fragt man sich – jedenfalls, wenn man sich eben nicht einfach auf die Wiedergabefähigkeit von Dawkins’ »Memen« verlas134 Es ist keine Verabschiedung des Theismus, sondern lediglich eine Zurückweisung traditioneller überzogener Ansprüche, wenn Darwin betont: »Das alte Argument vom Schöpfungsplan in der Natur, wie es Paley entwickelt hat, und das mir vormals so schlüssig erschien, greift jetzt nicht mehr, nachdem das Gesetz der natürlichen Selektion entdeckt worden ist« (Darwin 1993: Autobiographie 87). Darwin wollte als Theist gelten: »This follows from extreme difficulty or rather impossibility of conceiving this immense and wonderful universe, including man with his capacity of looking far backwards and far into futurity, as the result of blind chance and necessity. When thus reflecting I feel compelled to look to a First Cause having an intelligent mind in some degree analogous to that of man; and I deserve to be called a Theist« (Darwin 1993, 93 f.). Demgegenüber betont Dawkins nach wie vor, Darwin habe gezeigt, »dass Schöpfung keine Schöpfung ist« (»Sternstunde Religion« v. 31. 10. 2010, SRF Kultur), und demonstriert damit lediglich, wie schwer es ihm fällt, sich von einem schiefen Schöpfungs-Verständnis und damit verbundenen falschen Alternativen zu lösen. Indes, es war wohl vorrangig das von Darwin als sehr bedrückend erfahrene Problem der »Theodizee« (s. ebd. 90), das ihn letztendlich eine »agnostizistische Position« einnehmen ließ.
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sen will und, von seiner Phantasiebegabung längst beeindruckt und nicht weniger auch gewarnt, doch lieber selber nachliest – wo findet sich eigentlich diese angeblich »zentrale Aussage«, die von Dawkins allerdings in Anführungszeichen gesetzt wurde und so dem (bloßen, aber gezielten) Anschein nach ein Zitat wiedergibt? Bei wem bzw. wo sich also diese »zentrale Aussage« angeblich finden soll, hat Dawkins meines Wissens bisher noch nicht verraten, nähere Belege dafür bleibt er seiner Leserschaft bezeichnenderweise schuldig. Im »fünften Weg« des Thomas v. A. findet sich jedenfalls nichts davon, denn dort heißt es vielmehr: »Der fünfte Weg wird von der (zweckvollen) Leitung der Dinge genommen. (a) Wir sehen nämlich, daß einige (Dinge), die des Denkens entbehren, nämlich die natürlichen [d. i. lebendigen] Körper(dinge), wegen eines Zieles (Zweckes) tätig sind: was daraus deutlich wird, daß sie immer oder meistens auf dieselbe Weise tätig sind, um das zu erreichen, was (jeweils) das Beste ist. Daraus ist offenbar, daß sie nicht aus Zufall, sondern aus (zweckvoller) Absicht zu ihrem Ziel gelangen. (b) Diejenigen (Dinge) aber, die kein Denken haben, streben nicht zu ihrem Ziel, außer weil sie geleitet sind von einem Denkenden und vernünftig Erkennenden, wie der Pfeil vom Bogenschützen geleitet wird. (c) Also gibt es etwas vernünftig Erkennendes, von dem alle Naturdinge auf ein Ziel hin geordnet werden. Und dies nennen wir Gott.« 135 Nun ist nicht zu übersehen bzw. ist ausdrücklich einzuräumen, dass diese in (b) angeführte Erklärung hier tatsächlich irreführenderweise auf ein technomorphes »Gestalter«-Argument hinausläuft, das somit freilich die »immanente Zweckmäßigkeit« des Organischen geradewegs verfehlt (bemerkenswerterweise im Unterschied zu Leibniz und Kant, die beide hier Aristoteles offenbar näherstehen als – in 135 Thomas v. Aquin 1996, 59. Die Kommentatoren der Deutschen Thomas-Ausgabe weisen freilich darauf hin, dass diese »Absichtlichkeit« (»… non a casu, sed ex intentione perveniunt ad finem«) »nicht subjektiv«, sondern »hier einfach im Gegensatz zu ›zufällig‹« zu verstehen sei. Dann heißt es aber doch weiter: »Hinter all diesem Geschehen steht eine Absicht, die es auf ein bestimmtes Ziel hinordnet. Eine Absicht haben [!], d. h. sich selbst oder anderen Wesen ein bestimmtes Ziel setzen, kann natürlicherweise nur ein Wesen, das Verstand und Willen hat. Wenn daher im ganzen Naturgeschehen offenbar eine Absicht waltet, so muss es ein vernunftbegabtes Wesen geben, auf das diese Absicht zurückzuführen ist« (so in der vollständigen, ungekürzten deutsch-lateinischen Ausgabe der Summa theologica. Übers. v. den Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Band 1, 336 f.). Dass diese Argumentation sich zirkulär verfängt und überdies (in den Beispielen) einen höchst problematischen Begriff des »Naturgesetzes« voraussetzt, ist nicht zu übersehen.
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diesem Fall – Thomas v. Aquin). Denn auch für Aristoteles sind diese teleologischen Abläufe und Funktionen in der Natur eben gerade nicht »Bewusstseins«-gelenkt bzw. in einem Absichts-geleiteten Entwurf eines »Gestalters« begründet, wie es offenbar Thomas v. Aquin mit seinem Pfeil-Beispiel nahelegt, das deshalb die schiefe Vorstellung einer bloß gestalterisch-»äußeren Zwecksetzung« in der Tat begünstigt. 136 Im Unterschied dazu betonte Aristoteles, hier zweifellos ungleich kritischer: »Unverständlich ist der Einwand, man könne doch nicht meinen, sie (die Naturabläufe) erfolgten wegen etwas, wenn man ja nicht sehe, dass das Anstoßgebende planend mit sich zu Rate gegangen sei. Doch auch die Kunstfertigkeit überlegt nicht mehr hin und her; und wenn die Schiffsbaukunst in dem Holz läge, dann würde sie ähnlich wie die Natur zu Werke gehen Wenn es also bei der Kunstfertigkeit das ›wegen etwas‹ gibt, dann auch in der Natur.« 137 Genau dies verweist implizit auf den wesentlichen Unterschied zwischen einer bloß »äußerlichen Teleologie« 138 bzw. dem be136 Die von Thomas in der Erläuterung des »fünften Weges« beigezogenen Beispiele sind wohl irreführend, sofern sie gerade die »innere Zweckmäßigkeit« verfehlen, wie sein Pfeil-Beispiel deutlich vor Augen führt; damit ist die für Leibniz und Kant so entscheidende Differenz zwischen »innerer Zweckmäßigkeit« und »Zwecktätigkeit«, auf der auch Aristoteles insistiert, preisgegeben. – Gleichwohl schließt dieser »fünfte Weg« auch den »interaktiven« Zusammenhang des teleologischen »Gesamtgefüges« mit ein, der auch die »Zweckmäßigkeit« des Organischen erst ermöglicht. 137 Aristoteles Physik II. Kap. 8, 199b. – Das betont allerdings auch Thomas v. A. in Abwehr jeder äußeren Zweckmäßigkeit als »technomorph«: »Die Natur unterscheidet sich von der Technik nur dadurch, dass die Natur ein internes … Prinzip, die Technik hingegen ein äußerliches Prinzip darstellt« (Thomas v. A.: In Physic. lib. II, lect 14, 183, n. 8, 90 f.) – »vermöge dessen sie sich also auf ein inneres [artspezifisches Ziel] hin bewegen; wie wenn der Techniker, der Schiffsbauer die Hölzer mit dem Vermögen ausstatten könnte, auch sich selbst sich zu bewegen, um die Form des Schiffes aus sich hervorzubringen«. Dies verweist hier offenbar eher auf die organismische »Selbstorganisation« und erteilt im Übrigen jeder trivialen »intelligent design«-Konzeption aufgrund des verfehlten – eigenständig-immanenten – Form- und Zweck-Prinzips eine klare Absage, die selbst auf eine Verwechslung bzw. Einebnung unterschiedlicher Ebenen hinausläuft. 138 J. Steinbeck bringt in seinem berühmt gewordenen Roman »Die Straße der Ölsardinen« (s. VI. Kapitel) freilich auch andere eindringliche Beispiele für eine »äußere Zweckmäßigkeit« und veranschaulicht dies am simplen Beispiel eines Meerestümpels: »Am Grund tollt es phantastisch von allerhand Lebewesen; sie schießen dahin, kämpfen, begatten und fressen einander. Krebse hasten durch wedelndes Seegebüsch. Seesterne machen sich über Miesmuscheln und Napfschnecken her. Ihre zahllosen Saugfüßchen halten die Beute, heben und zerren sie hoch, brechen sie mit unglaublicher Kraft vom Gestein; dann schlemmen die der Seesterne. Nudibranchien, gefleckte. Gekräuselte … gleiten zierlich über Felsen dahin. Ihre Haut wogt wie die Röcke spa-
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
wussten Zweckhandeln einerseits und jener »Zweckmäßigkeit« andererseits, welche die innere Verfassung des Lebendigen auszeichnet, die so auf die je artspezifische Lebenstätigkeit der Organismen »abzielt«. 139 Nicht zuletzt dadurch sind diese naturphilosophischen Motive bestimmend geworden, dass Aristoteles dergestalt ausdrücklich diese »immanente« Zweckmäßigkeit des Lebendigen von der Vorstellung eines äußeren »Gestaltung« (im Unterschied eben zu »Artefakten«, d. i. künstlerisch-technischer Herstellung) abgrenzt, weil im Lebendigen »Form-, Material-, Wirk- und Zweckursache« eben untrennbar eins sind und infolgedessen gerade nicht nach Analogie einer »Zwecktätigkeit« verstanden werden können. 140
2.4.1 Ein Blick auf Kants diesbezügliche Kritik am »teleologischen Gottesbeweis« – im Kontext von Dawkins’ kritischen Erörterungen 141 Auch diesbezüglich ist ein Blick auf Kant von Interesse. Ungeachtet seines Staunens über die »Zweckmäßigkeit [!] und Ordnung, die man nischer Tänzerinnen. Schwarze Aale stecken die Köpfe aus Spalten und lauern auf Opfer. Zehnfüßerkrebse schnappen, man meint, man müsse das Zuschnappen hören, doch diese farbige Luswelt lebt schalldicht unter dem Glas der Oberfläche. Einsiedlerkrebse spielen im Sand wie Kinder. Einer entdeckt ein leeres Schneckenhaus; es gefällt ihm anscheinend besser als seines, er schlüpft aus seinem Haus – entblößt einen Augenblick all seine Weichteile feindlichem Angriff – und ist schon in die neue Schale geschlüpft! Eine Woge bricht über die Böschung, zerschmettert den Wasserspiegel des Tümpels, schleudert ein Blasengetümmel hinein – dann wieder holde Stille mit Mord und Totschlag«: grauenvoll faszinierend, faszinierend grauenvoll – und doch bleibt es dabei: »Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt …« (Kant II 498). 139 Daraus ist auch Nagels – aristotelisch inspirierte – teleologische Konzeption motiviert, »den immanenten Charakter der Naturordnung komplizierter zu veranschlagen« (GuK 24). Daran knüpft sich auch die Ausschau auf ein »erweitertes, gleichwohl aber naturalistisches Verständnis …, das den psychophysischen Reduktionismus vermeidet« (GuK 53). Gleichwohl bleibt zu fragen, ob Nagels »Teleologie«-Konzeption in gar nicht wenigen Formulierungen die Nivellierung des wichtigen Unterschieds zwischen »Zweckmäßigkeit« und »Zwecktätigkeit« selbst begünstigt. 140 Deshalb verkennt schon der Rückgriff auf einen »Designer« die dem Lebendigen selbst immanente Zweckmäßigkeit, weil dieser »Designer« hier nach dem Modell eines Super-Technikers als »Gestalter« missverstanden wird. 141 Eine genaue und vollständige Analyse der vielschichtigen kantischen Kritik (auch) dieses »teleologischen« Argumentes ist hier nicht zu leisten, es müsste den Rahmen und die leitende Absicht dieses Textes sprengen.
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in so bewunderungswürdigem Grade (im Kleinen, weil es uns nahe ist, noch mehr, wie im Großen), allenthalben antrifft«, hat er nämlich diese »Gestaltungs«-Vorstellung als eine unhaltbare Teleologie-Konzeption ausdrücklich verworfen – und zwar u. a. mit der Begründung, dass ein solches ganz und gar irreführendes »technomorphes« Modell keineswegs der »inneren Naturzweckmäßigkeit« (als einer sich »selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit«) gerecht zu werden vermag, weil es die »Selbstorganisation« und dessen Eigenheit als »immanente Form« (als »innere Einheit«, eben im Unterschied zur bloß räumlich-aggregathaften Einheit eines »Artefakts«), d. h. die daran orientierte »innere Zweckmäßigkeit«, verfehlen muss und diese nicht im Sinne eines »organisierten und sich Organisierenden« zu begreifen vermag. 142 Dass dieses unterstellte »Gestalten« vielmehr die schiefe Vorstellung einer äußeren Prägung suggeriert und damit die dem Organischen »immanante Form« und »innere Zweckmäßigkeit« (die sich in dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von »Ganzem« und »Teilen« manifestiert) verfehlt, bleibt von Dawkins’ »Gestalter«-Argument völlig unbedacht und indiziert so ein grundsätzliches Defizit seines »Teleologie«-Verständnisses bzw. seiner entsprechenden »Kritik«. Ausdrücklich verwarf Kant jedes »Gestalter-Modell« als unzulänglich: »Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflan-
142 Deshalb hätte Kant, um der Eigenart des Lebendigen (der es auszeichnenden »inneren Zweckmäßigkeit«, der zufolge es ein »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck«, ist: Kant V 486) gerecht zu werden, die Auffassung Dawkins’ geradewegs zurückgewiesen, dass die Erscheinungsart der Tiere den Eindruck erwecke, »als seien sie von einem theoretisch hochbegabten und praktisch genialen Physiker oder Ingenieur entworfen« (Uhrmacher 54) bzw. hergestellt. Genau gegen diese Vorstellung wendet Kant ein (und verwirft folglich auch die Vorstellung eines »blinden Uhrmachers«): »In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da … Daher bringt auch nicht ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so dass sie andere Materie dazu benutzte (sie organisierte) … Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine. […] Deshalb ist nicht zuletzt auch der von Dawkins aufgebotene Vergleich von Lebewesen mit umfassend programmierten Robotern ganz und gar verfehlt (Der Gipfel des Unwahrscheinlichen 305). Da hilft auch seine von ihm bekundete »Ehrfurcht vor ›lebenden Uhren‹« (Uhrmacher 18) wohl nichts.
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zende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann. Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst, und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert. […] Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen«; deshalb ist auch die »innere Naturvollkommenheit, wie sie diejenigen Dinge besitzen, welche nur als Naturzwecke möglich sind, und darum organisierte Wesen heißen, … nach keiner Analogie irgend eines uns bekannten physischen, d. i. Naturvermögens, ja, da wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehören, selbst nicht einmal durch eine genau angemessene Analogie mit menschlicher Kunst denkbar und erklärlich.« 143 Es ist also nicht zu übersehen: Zugleich mit der irreführenden technomorphen Vorstellung eines »Designs« 144 bzw. des »Gestal143 Kant V 486 f. – Dies führt ihn sodann zu der maßgebenden Bestimmung: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (V 488). 144 Indes, der diesem »design«-Modell anhaftende prinzipielle Mangel, dass sie das Prinzip der »inneren Zweckmäßigkeit« zuletzt auf das technomorphe »design«-Modell angleicht und somit preisgibt, scheint auch in den kritischen Rückfragen des kirchlichen Lehramtes noch nicht überwunden zu sein: »Wieso ist die Materie ›lesbar‹ ? Wieso hat der ganze Prozess der Evolution etwas Rationales? Woher stammt diese Rationalität? Es wäre aber ein Fehler, zu erwarten, dass die Naturwissenschaften mit ihrer Methode auf diese Fragen selber Antworten geben wollten. Das ist wohl der methodische Fehler der ›Intelligent-Design-Schule‹. Sie stellen die richtige Frage: Woher kommt das evidente design in der Natur? Nicht die naturwissenschaftlich arbeitende Forschung findet das design in der Natur. Wohl aber der über seine Forschung nachdenkende Mensch, der sich fragt, was es bedeutet, dass die Materie ihm ›vernünftig‹ auf seine Fragen antwortet, und der darüber nachsinnt, warum seine Vernunft diese Antworten vernehmen kann« (Schönborn 2008, 4). Freilich, auf diese – eben lediglich quantifizierbar lesbare – Weise »antwortet« die Natur dem ErdbebenForscher nicht weniger eindringlich (d. h. »lesbar«) als dem Karzinom-analysierenden Mediziner, ohne dass man hierfür wohl auf ein besonderes »Design« und »Teleologie« rekurrieren wollte. Denn im Grunde besagt diese angeblich der Materie innewohnende »mathematische Rationalität« doch nichts anderes bzw. mehr als dies, dass alles empirisch Gegebene auch als »mathematische Größe« darstellbar (beschreibbar) ist, was »ontologische« Folgerungen daraus freilich verbietet. Auch hier werden allzu leicht verschiedene Ebenen vermischt.
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tens«, die der »inneren Form« des Lebewesens und der »Selbstorganisation« des Lebendigen (als »organisiertes und sich selbst organisierende Wesen« 145) und ihrer »in sich bildenden Kraft« nicht gerecht zu werden vermag, hat Kant auch jene von Dawkins der Teleologie stillschweigend unterstellte – allerdings völlig schiefe – Auffassung verworfen: »nichts, was wir kennen, sieht gestaltet aus, wenn es nicht gestaltet ist« 146. Sowohl die »design«-Vertreter als auch die Leugner desselben unterliegen gleichermaßen der Kritik, zumal beide im Grunde die unangemessene Vorstellung einer »intentionalen« »Zwecktätigkeit« bzw. bloß »äußeren Zweckmäßigkeit« teilen und so den eigentlichen Sinne der »Teleologie der Natur« verfehlen. 147 Die demgegenüber von Kant geltend gemachte kritische Idee einer »inneren Zweckmäßigkeit« (die selbst jedes »Gestaltungs«-Argument kritisiert) bleibt freilich außerhalb des Dawkins’schen Gesichtskreises, der nur sehr vordergründige Perspektiven zulässt, die allesamt seit Platons einschlägigen Argumenten überwunden sein sollten. Kant V 486. In diesem Sinne betonte Hegel: »Beim Zwecke muss nicht gleich oder nicht bloß an die Form gedacht werden, in welcher er im Bewusstsein als eine in der Vorstellung vorhandene Bestimmung ist [also bei Artefakten]. Mit dem Begriffe der inneren Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriff moderner Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte« (Hegel [1971] 8, 415). 147 Völlig zur Recht merkt der Biologe U. Krohs diesbezüglich kritisch zu Dawkins an – und formuliert anschließend das eigentliche Sachproblem: »Dawkins arbeitet mit einem Vorverständnis des Designs, nach dem dieser Begriff ausdrücklich als intentionaler Begriff konzipiert ist. Da hinter dem, was unter biologischem Design verstanden wird, aber keine Intentionalität steht, sieht er die Rede von biologischem Design als rein metaphorisch an. Seine biologischen Beispiele sollen den Leser jedoch beeindrucken mit der Kraft der ›illusion of design‹ … Obwohl er im Rahmen einer Als-ob-Überlegung sogar die Güte dieses Designs in Analogie zu derjenigen intentionalen Designs zu definieren versucht …, ist also nach Dawkins in der belebten Natur überhaupt kein Design anzutreffen. Sein vielzitierter Topos vom ›design without a designer‹ verkommt damit zu einem bloßen Hinweis darauf, in der Biologie habe man es mit dem bloßen Anschein von Design, also eben mit einem ›Nicht-Design‹ zu tun, und dazu gebe es keinen Designer – wer wollte das auch bezüglich etwas, das eben gerade kein Design sein soll, bezweifeln. Interessant im Kontext des Problems der biologischen Funktionalität wird die Frage nach dem Designbegriff aber erst dann, wenn biologischen Entitäten tatsächlich der Status einer Entität mit Design zugesprochen wird. Erst dann kann überhaupt darüber diskutiert werden, ob und gegebenenfalls wie Design ohne Designer möglich ist, was also biologisches Design ist. Damit stellt sich die Frage, wie der Designbegriff ohne Rückgriff auf Intentionalität zu kon145 146
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Sowohl gegenüber Dawkins’ verfehltem »Gestaltungsargument« als auch seinem Modell von »Überlebensmaschinen« bleibt festzuhalten: Für die Abwehr solcher schiefen Vorstellungen einer Zweckmäßigkeit (im Sinne eines »äußerlichen Gestalters«) bleibt nach Kant entscheidend, dass dieses technomorphe Modell jener »inneren Einheit und Ganzheit« – ebender »inneren Zweckmäßigkeit« – nicht genügt, wie schon seine Bestimmung des »inneren Naturzwecks« besagt: »ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst … Ursache und Wirkung ist […] Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach einem bekannten Naturgesetze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben Gattung [richtiger müsste es heißen: Art]; und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er, einerseits als Wirkung, andrerseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht, und eben so, sich selbst oft hervorbringend, sich, als Gattung beständig erhält. Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum. Diese Art von Wirkung nennen wir … Wachstum […] Drittens erzeugt ein Teil dieses Geschöpfs auch sich selbst so: dass die Erhaltung des einen von der Erhaltung des anderen wechselweise abhängt« 148. Deshalb muss nach Kant das technomorphe Modell des »gezielten Gestalters« (aber auch das »intelligent design«) vollends die »natürliche Systeme« auszeichnende »innere Zweckmäßigkeit« verfehlen, die auch in den gegenwärtig häufig herangezogenen – undurchschauten – Programm- bzw. Informationsmodellen ausgeblendet wird. Freilich, nirgendwo ist in der demgegenüber betonten Idee einer »inneren Zweckmäßigkeit« (»Teleologie der Natur«) von einer Durchbrechung der physikalischen Gesetze bzw. des kausalmechanischen Zusammenhanges, von einer daraus abgeleiteten »Anbetung der Lücken« oder von »hyperphysischen Instanzen« die Rede; auch der billige, jedoch irrelevante Rekurs auf »teleologische« Erklärungen – gar auf ein »intelligent design« – ist als ein absoluter »Fremdling in der Naturwissenschaft« anzusehen, 149 der als solcher keinesfalls »zur Erweiterung oder Berichtigung unserer Naturerkenntnis und überhaupt irgendeiner Theorie« 150 herangezogen (d. h. missbraucht) werzipieren ist« (Krohs 2005, 54 f.). Von Platon und Aristoteles an, über Leibniz, Kant bis zu Schelling und Hegel, war bekanntlich ebendies eines der vorrangigsten naturphilosophischen Probleme. 148 Kant V 482 f. 149 Kant V 504. 150 Kant V 616. Sehr nüchtern hat Kant deshalb den Rekurs auf theologische Pseudo-
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den darf. Ebenso energisch hätte Kant deshalb – und zwar aus naturphilosophischen wie auch aus religionsphilosophischen Gründen – die Vorstellung eines »designs« verworfen, wie sich der Leser der einschlägigen Ausführungen der kantischen »Kritik der Urteilskraft« leicht überzeugen kann; auch Kant wendet sich gegen jedwede Form einer »Hyperphysik«, die »aller Naturerklärung entbehren« will 151 und stattdessen auf »nicht-empirische« Erklärungsfaktoren rekurriert, »denn in der Psychologie und in der Naturerkenntnis muss ich durchaus nicht bei Wahrnehmung von Schönheit und Harmonie sogleich auf Gott kommen. Das ist die Art der faulen Vernunft, die gern aller fernern Nachforschung, ob nicht zu natürlichen Wirkungen auch natürliche Ursachen entdecket werden können, überhoben sein mag. Vielmehr muss ich hier eine solche Methode einschlagen, welche die Kultur meiner Vernunft befördern kann; ich muss die nächsten Ursachen in der Natur selbst aufsuchen, wovon jene Wirkungen herkommen. So lerne ich denn die allgemeinen Gesetze kennen, wonach alles in der Welt fortgehet. […] Dahingegen ist der Begriff von Gott ein moralischer Begriff und praktisch notwendig« 152. Die hier von Kant kritisierte Form der »faulen Vernunft« steht ihm zufolge übrigens Formen des »Aberglaubens« verdächtig nahe; es ist selbst Ausdruck jener gegen »Aberglauben« jeder Art gerichteten »aufgeklärten Denkungsart«, wenn Kant geltend macht: »… NaturErklärungen verworfen: »Wenn man uns gleich einräumt: daß ein höchster Architekt die Formen der Natur, so wie sie von je her da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, welche sich in ihrem Laufe kontinuierlich nach eben demselben Muster bilden, prädeterminiert habe: so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Natur nicht im mindesten gefördert, weil wir jenes Wesens Handlungsart und die Ideen desselben, welche die Prinzipien der Möglichkeit der Naturwesen enthalten sollen, gar nicht kennen« (Kant V 529). 151 Kant V 544. Man sieht: Kant teilt aus methodischen Gründen uneingeschränkt jene schon erwähnten Bedenken Dawkins’: »Wer sagt, es gebe für irgendetwas eine übernatürliche Erklärung, erklärt damit rein gar nichts. Und was noch schlimmer ist, er schließt damit aus, dass es jemals erklärt werden kann. […] Alles ›Übernatürliche‹ muss außerhalb der Reichweite einer natürlichen Erklärung liegen. Es muss außerhalb der Reichweite der Wissenschaft und der gut begründeten und bewährten wissenschaftlichen Methodik liegen, der wir die gewaltigen Wissensfortschritte der letzten 400 Jahre verdanken« (Zauber 21). Leibniz und Kant haben freilich völlig andere Konsequenzen daraus gezogen; auch dieser Passus bestätigt nochmals, dass Dawkins auch die Gottesthematik innerhalb der modernen Naturwissenschaft ansiedelt (und sie damit konsequenterweise verabschiedet) und »Wissenschaft« stillschweigend mit der Methodik der neuzeitlichen Naturwissenschaften identifiziert. 152 Kant AA XXVIII.2.2, 1071.
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erscheinungen, oder deren Veränderungen zu erklären, wenn man da zu Gott, als dem Urheber aller Dinge sein Zuflucht nimmt, ist wenigstens keine physische Erklärung, und überall ein Geständnis, man sei mit seiner Philosophie zu Ende; weil man genötigt ist, etwas, wovon man sonst für sich keinen Begriff hat, anzunehmen, um sich von der Möglichkeit dessen, was man vor Augen sieht, einen Begriff machen zu können.« 153 Nur nebenbei sei erwähnt: Schon Leibniz hat freilich – auch für Kant richtungsweisend – unverzichtbare traditionelle naturphilosophische Motive (in aristotelischen Spuren) gewürdigt, jedoch nicht weniger entschieden alle falschen Anleihen bei einer »faulen Vernunft« verworfen und auch über einschlägige, auf einer Verwechslung bzw. Einebnung der Problemebenen beruhende Pseudoerklärungsversuche auf humorvolle Weise seinen feinen Spott ausgegossen – nach wie vor aktuell und lehrreich: »Es scheint, dass sowohl die Alten wie auch viele fähige und an tiefes Nachdenken gewohnte Leute, die vor einigen Jahrhunderten die Theologie und Philosophie gelehrt haben und von denen man einige ihrer Heiligkeit wegen rühmt, einige Kenntnis dessen gehabt haben, was wir eben sagten; und das ließ sie die heute so verschrienen substantiellen Formen [das sind die von Dawkins als unverständlich beklagten »Wesensformen«] einführen und an ihnen festhalten. Doch sind sie weder so weit von der Wahrheit entfernt noch so lächerlich, wie es sich die Mehrzahl unserer neueren Philosophen einbildet. Ich gebe zu, dass die Erwägung dieser Formen in den Einzelheiten der Physik zu nichts führt und dass sie zur Erklärung der Phänomene im besonderen nicht angewendet werden darf.[154] Hierin haben unsere Scholastiker und – ihrem Beispiel folgend – die Mediziner früherer Zeit gefehlt, da sie glaubten, über die Eigenschaften der Körper Auskunft geben zu können, indem sie Wesensformen und Qualitäten nannten, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Wirkensweise zu untersuchen, so, als wollte man sich damit begnügen, zu sagen, eine Uhr habe die Eigenschaft des Stundenanzeigens, die von ihrer Wesensform herrühre, ohne in Betracht zu ziehen, worin diese Eigenschaft besteht. Das könnte wohl dem, der die Uhr kauft, in der Tat genügen, vorausgesetzt, dass er ihre Pflege Kant IV 272. Hier wird besonders deutlich, dass schon Leibniz selbstverständlich den »methodischen Naturalismus« im Sinne eines unverzichtbaren »methodologisch begründeten Erklärungsprivilegs der Naturwissenschaften« (G. Keil) vertritt. 153 154
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einem anderen überlässt. Dieser Fehler aber und Missbrauch der Wesensformen sollte uns nicht eine Sache ablehnen lassen, deren Kenntnis in der Metaphysik so sehr vonnöten ist, dass man ohne sie meines Dafürhaltens weder die ersten Prinzipien recht erkennen noch den Geist zur Erkenntnis der unkörperlichen Wesenheiten und der Wunderwerke Gottes erheben kann. […] so kann auch ein Physiker von seinen Erfahrungen [französisch: des experiences] Rechenschaft ablegen, indem er sich teils einfacherer, schon gemachter Erfahrungen, teils geometrischer und mechanischer Beweise bedient, ohne allgemeiner Erwägungen zu bedürfen, die einem anderen Bereiche angehören; und wenn er sich auf die Mitwirkung Gottes oder irgend einer Seele beruft, auf einen Archäus oder dergleichen, so redet er ebenso ungereimt wie derjenige, der sich bei einer wichtigen praktischen Entscheidung in die großen Erörterungen über das Wesen des Schicksals und unserer Freiheit einlassen wollte, ein Fehler, den die Menschen tatsächlich recht oft gedankenlos begehen, wenn sie ihren Geist mit der Betrachtung des schicksalhaften Verhängnisses belasten und dadurch bisweilen von einem guten Entschluss oder einer notwendigen Maßnahme abgehalten werden.« 155 155 Leibniz 1958 (Nr. 10), 21 ff. Vgl. auch Humes einschlägige Kritik in seinen »Dialoge[n] über natürliche Religion«, bes. die diesen einschlägigen Themen gewidmeten Teile 5–9. – Es fällt (auch mit Blick auf nach wie vor nicht überwundene Kontroversen) in der Tat schwer, sich nicht an diese höchst aufschlussreichen (schiefe Alternativen vermeidenden) Äußerungen Leibnizens zu erinnern, wenn man bei E. Mayr liest: »Die Physikalisten beharrten zu Recht darauf, dass es keine metaphysische Komponente des Lebens gebe und man Leben auf molekularer Ebene entsprechend den Prinzipien der Physik und Chemie erklären könne. Gleichzeitig hatten die Vitalisten Recht mit ihrer Behauptung, dass lebende Organismen dennoch nicht dasselbe wie unbelebte Materie sind, sondern vielmehr zahlreiche eigenständige Merkmale besitzen, besonders ihre im Verlauf der Geschichte erworbenen genetischen Programme, die bei unbelebter Materie unbekannt sind. Organismen sind Systeme mit einer vielschichtigen Ordnung und unterscheiden sich grundlegend von dem, was bei der unbelebten Materie zu finden ist. Die Philosophie, welche schließlich die brauchbarsten Grundsätze von Physikalismus und Vitalismus in sich vereinte (nachdem sie die Extreme verworfen hatte), wurde als Organizismus bekannt und stellt das noch heute gültige Paradigma dar« (Mayr 1998, 23). Nun war, wie die oben angeführte Stelle belegt, nicht zuletzt Leibniz um eine solche Verwerfung bzw. Überwindung solcher »Extreme« bemüht – war Leibniz ein Wegbereiter des von Mayr sogenannten »Organizismus«? Jedenfalls hat Leibniz gleichermaßen einer (von Mayr beanstandeten) Strapazierung »übernatürlicher Instanzen« im Verständnis des Lebendigen entgegengewirkt und nicht weniger entschieden die (ebenfalls von Mayr betonten) Einseitigkeiten des von Mayr sogenannten »Physikalismus« verworfen, der »keine der besonderen Phänomene und Vorgänge bei lebenden Organismen zu erklären vermochte«
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Daraus ist deutlich zu ersehen: Forschungs-»faule Gestaltungsargumente« – die, mit einer schönen Wendung des Wiener PhysikNobelpreisträgers E. Schrödinger gesprochen, allzu gern und rasch »fröhlich die Segel ins Land der Teleologie« 156 setzen – haben, neben Hume, auch Leibniz und Kant ganz entschieden verworfen; gleichwohl haben sie eine kritische teleologische Perspektive sogar als unverzichtbar angesehen, die als solche die kritische Orientierung an einem »ganz andere[n] Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen« 157 nicht einfachhin ausschließen will. Ungeachtet des unwiderruflichen Ausfalls der Erklärungsrelevanz theologischer Aussagen für naturwissenschaftliche Erkenntnis ließ er sich keineswegs von der Frage und ihrer positiven Beantwortung abhalten, »wozu es denn Theologie« brauche, wenn sie doch nicht zu einer »Theorie über die Dinge der Natur« herangezogen werden soll und folglich auch nicht in Konkurrenz zu letzteren verstanden werden soll. Schon für Leibniz und Kant war jedenfalls die leitende Einsicht der Notwendigkeit eines gegen die Bequemlichkeit einer »faulen Vernunft« ankämpfenden »methodologischen Naturalismus« maßgeblich. 158 Weder eine methodisch besonnene Naturwissenschaft noch eine kritische Philosophie und auch keine ernsthafte Theologie wird sich in eine »faule Vernunft« hineinflüchten, weshalb auch für Letztere die suggestive Einschätzung Dawkins’ bzw. die von ihm unterstellte Haltung keineswegs zutrifft: »Bitte arbeitet nicht weiter an solchen Fragen! Gebt einfach auf und beruft euch auf Gott! Lieber Wissenschaftler, steck bitte keine Arbeit in deine Fragestellungen! Gib und einfach deine Rätsel, die können wir gut gebrauchen … Wir brauchen diese prachtvollen Lücken – als letzte Zuflucht für Gott« (ebd. 25). In Dawkins’ Lehre von den »Überlebensmaschinen« hätte Mayr wohl einen späten Erben der von ihm kritisierten »reduktionistischen Maschinentheorie des Lebens« (ebd. 34) gesehen. 156 Schrödinger 1955, 22. 157 Kant V 500. 158 Ch. Kummer charakterisiert ihn folgendermaßen: »Man bezeichnet damit die für eine kausale Naturforschung unabdingbare Methode, keine außerempirischen Faktoren, und damit auch keinen Gott als Erklärung zuzulassen. Wie nützlich und notwendig dieses Prinzip ist, lässt sich nicht nur historisch durch die lange Liste der damit gewonnenen Forschungserfolge belegen, sondern auch grundsätzlich einsehen: Ohne eine solche methodische Beschränkung fehlte der Naturforschung jener Stachel des rastlosen Voranschreitens von Erklärung zu Erklärung, der sie so sehr erfolgreich macht. Sie hätte mit Gott als zulässiger Erklärung ein Passepartout in der Hand, das ihr das lästige Weiterfragen abnimmt« (Kummer 2008, 97).
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(Gotteswahn 185). Vielmehr beharrt doch Dawkins selbst just auf jener platten Alternative, die jedenfalls auch Leibniz und Kant gerade überwinden wollten; 159 wer – wie Dawkins vorgibt – voreilige »Alles oder nichts«-Erklärungen vermeiden möchte, ist wohl gut beraten, Kants Argumente (in der Spur Leibnizens) zu beherzigen. Demgemäß hat die Gottesfrage im Rahmen der empirischen Forschung nichts verloren, so wenig sie dort etwas rechtens zu suchen hat – denn dies wäre doch nur dann der Fall, wenn Gott in den jeweiligen (und immer kleiner werdenden) Lücken angesiedelt würde. Deshalb ist auch Dawkins’ These völlig widersinnig, der »Darwinismus habe Gott aus der Biologie herausgekickt«. 160 Und dass auch die höchsten 159 »Also können wir über den Satz: ob ein nach Absichten handelndes Wesen als Weltursache (mithin als Urheber) dem, was wir mit Recht Naturzwecke nennen, zugrunde liege, objektiv gar nicht, weder bejahend noch verneinend, urteilen« (Kant V 517). – Weil Dawkins sich gelegentlich auf die »Dialogues Concerning Natural Religion« des englischen Philosophen D. Hume – allerdings in einer sehr selektiven Lesart – bezieht, sei Ch. Kummers zutreffender Verweis auf Humes eigentliche (und auch für Kant wichtig gewordene!) kritische Intention angeführt (die Dawkins bezeichnenderweise völlig ignoriert, weil er Humes Argumentation verkürzt): »Die Zweckmäßigkeit in den Bildungen der organischen Natur steht … für Hume außer Frage. Aber das berechtigt seiner Meinung nach nicht zum Schluss auf eine göttliche Zielsetzung hinter dem Ganzen. Dazu ersinnt Hume eine ganze Menge von Alternativen zur Annahme einer göttlichen Verursachung. Diese mögen teilweise weit hergeholt und künstlich, ja an den Haaren herbeigezogen sein. Ihre Denkmöglichkeit zeigt immerhin, dass der Schluss auf die Existenz Gottes aus den Werken bzw. der Ordnung der Natur nicht unvermeidlich, nicht absolut notwendig ist. Wenn Gottes Existenz a priori, oder wenigstens von anderswoher, bereits feststünde, fährt Hume fort, wäre das etwas anderes. Dann läge die Annahme dieses in seiner Existenz bereits feststehenden (bewiesenen oder geglaubten) Gottes als Ursache der Ordnung in der Natur viel näher als alle künstlich erfundenen Alternativen. Aber da wir ein solches apriorisches Wissen von Gott nicht haben, bzw. wenn uns der Glaube an einen solchen Gott fehlt, dann ist seine Existenz aus der Natur nicht schlüssig zu deduzieren« (Kummer 2009, 72). Das sah Kant in gewisser Weise durchaus ähnlich, gleichwohl versuchte er, die Frage nach dem Dasein Gottes von »anderswoher« (nämlich über die Ethik) angemessener zu thematisieren, um dann auch dem »teleologischen Argument« einen adäquateren Stellenwert beimessen zu können; Kant versucht dies bekanntlich im Ausgang von der Moralität und der Verknüpfung der Fragen »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?«. 160 Lossau 2010 (Internet-Quelle). – Es bleibt also dabei: »Weder bestätigt heutige empirische Wissenschaft einen Gott als Lenker der Evolution und Menschheitsgeschichte, noch widerlegt sie seine Existenz. Auch das gilt es festzuhalten, da einige Evolutionsbiologen (z. B. R. Dawkins) im Eifer des Gefechts Darwins Evolutionstheorie als Bestätigung ihres Atheismus auffassen. Das ist ihre … persönliche Glaubenssache. Mit Wissenschaft hat das ebenso wenig zu tun wie Kreationismus und intelligent design« (Mainzer 2008, 32). – H. Seidl ist insofern zweifellos zuzustimmen: »Die
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kirchlichen Repräsentanten eine – von Dawkins unterstellte – »Anbetung der Lücken« (mittlerweile?) entschieden verwerfen, wird man wohl nicht übersehen bzw. bestreiten können. So betonte auch Papst Benedikt XVI. ausdrücklich: »Nicht als ob ich den lieben Gott jetzt in diese Lücken hineinstopfen möchte: Er ist zu groß, um in solchen Lücken unterkommen zu können. Aber mir scheint wichtig zu unterstreichen, dass die Evolutionslehre Fragen impliziert, die der Philosophie zugeordnet werden müssen und von sich aus über den Innenbereich der Naturwissenschaften hinausführen« 161. Dass teleologische Konzeptionen auch nicht an die Stelle naturwissenschaftlicher Kausalerklärungen treten können, weil dies mit der strengen methodischen Einstellung, mit der Erklärungsabsicht und den Instrumentarien der Naturwissenschaften völlig unvereinbar wäre, haben, wie erwähnt, insbesondere Leibniz und Kant richtungsweisend betont und daraus besonnenerweise auch sehr kritische Konsequenzen gezogen. Gegen eine schon in methodischer Hinsicht völlig verfehlte Naturwissenschaft wie auch gegen sich selbst missverstehende theologische Ansprüche war Kants unnachgiebiger Einspruch gerichtet, »die Weltbetrachtung nach unseren auf Gott übertragenden Begriffen von der Vernunft [nicht] mit hyperphysischen Erklärungsarten zu überschwemmen und von ihrer eigentlichen Bestimmung abzubringen, nach der sie ein Studium der bloßen Natur durch die Vernunft und nicht eine vermessene Ableitung ihrer Erscheinungen von einer höchsten Vernunft sein soll. Der unseren schwachen Begriffen angemessene Ausdruck wird sein: dass wir uns die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten Vernunft ihrem Dasein und inneren Bestimmung nach abstamme« 162; indes, ungeachtet dessen muss auch »Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Natur wiederum aus Naturgründen und nach Naturgesetzen erklärt werNaturwissenschaft hat nicht die Aufgabe, zu den ›letzten Fragen‹, schlussfolgernd aus ihrer Forschung, eine Antwort zu geben. Ihre Forschung hat andere Ziele. Wenn daher Naturforscher zu dem erwähnten ›Schluss‹ vom blinden Zufallsspiel kommen, so können sie dies nicht im Namen ihrer Wissenschaft tun, die auf Ursachen zur Erklärung materieller Verhältnisse im anorganischen und organischen Bereich schließt, sondern tragen eine weltanschauliche Ansicht vor, die sie als Zeitgenossen unseres Jahrhunderts äußern« (Seidl 2008, 132). 161 Horn/Wiedenhofer 2007, 150. Vgl. dazu vor allem die Beiträge von P. Schuster, H.-D. Klein und U. Lüke in Langthaler 2008. 162 Kant III 235. Deshalb fordert Kant ausdrücklich auf, »alle bekannten und noch zu entdeckenden Gesetze der mechanischen Erzeugung zu versuchen«, und es sei zu hoffen, »damit große Fortschritte« zu erzielen.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
den, und hier sind selbst die wildesten Hypothesen, wenn sie nur physisch sind, erträglicher, als eine hyperphysische, d. i. die Berufung auf einen göttlichen Urheber, den man zu diesem Behuf voraussetzt. Denn das wäre ein Prinzip der faulen Vernunft (ignava ratio), alle Ursachen, deren objektive Realität, wenigstens der Möglichkeit nach, man noch durch fortgesetzte Erfahrung kann kennen lernen, auf einmal vorbeizugehen, um in einer bloßen Idee, die der Vernunft sehr bequem ist, zu ruhen.« 163 Vielmehr muss »alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen … nach bloß mechanischen Gesetzen möglich« sein, weshalb Kant – wiederum in der Spur von Leibniz 164 – den 163 Kant II 654; 352. Denn, wohlgemerkt, auch noch die »wildesten Hypothesen« sind empirisch überprüfbar bzw. nach ihrer »Wahrscheinlichkeit« abzuwägen – was freilich bezüglich der Frage nach dem »Dasein Gottes« eben gerade nicht zutrifft … 164 So weist Leibniz auch in seiner »Metaphysischen Abhandlung« jene Alternativen als haltlos zurück, die Dawkins unverdrossen pflegt. Vgl. wiederum den Abschnitt Nr. 22: »Diese Bemerkung ist auch von Nutzen, um diejenigen, welche die Entstehung der ersten Organisation eines Tieres und die ganze Maschine der Teile auf mechanische Weise zu erklären hoffen, mit denen zu versöhnen, die von diesem selben Bau vermittels der Zweckursachen Rechenschaft geben. Beides ist gut, beides kann nützlich sein, nicht nur, um die Kunst des großen Meisters zu bewundern, sondern sogar, um zu nützlichen Entdeckungen in der Physik wie in der Medizin zu gelangen. Nur sollten die Autoren, die diese verschiedenen Wege gehen, sich nicht gegenseitig schlecht machen. Denn wer darauf ausgeht, die Schönheit der göttlichen Anatomie zu erklären, der macht sich, wie ich sehe, über denjenigen lustig, der da meint, daß die scheinbar zufällige Bewegung gewisser Flüssigkeiten eine so schöne Mannigfaltigkeit von Gliedern hat bewirken können und behandelt ihn als Verwegenen und als Gottesverächter. Er seinerseits sieht in seinem Gegner nur einen Einfältigen und Abergläubischen, ähnlich jenen Alten, die die Physiker als Gottlose ansahen, wenn diese behaupteten, es sei nicht Jupiter, der donnert, sondern eine in den Wolken befindliche Materie. Das Beste wäre, beide Betrachtungsweisen miteinander zu vereinigen; denn, wenn es erlaubt ist, sich eines gewöhnlichen Vergleiches zu bedienen, so erkenne und erhebe ich die Geschicklichkeit eines Arbeiters nicht nur, wenn ich zeige, welche Pläne er hatte, als er die einzelnen Teile seiner Maschine zusammenfügte, sondern auch wenn ich die Instrumente erkläre, deren er sich zur Herstellung eines jeden Teils bedient hat, besonders dann, wenn diese Instrumente einfach und sinnreich erdacht sind. Und Gott ist ein hinreichend geschickter Künstler, um eine Maschine hervorzubringen, die noch tausendmal so sinnreich ist wie die unsres Körpers, ohne sich dabei andrer Mittel als ziemlich einfacher Flüssigkeiten zu bedienen, die aber ausdrücklich so geformt sind, daß es nur der gewöhnlichen Gesetze der Natur bedarf, um aus ihnen eine so bewundernswürdige Wirkung hervorgehen zu lassen. Aber auch dann bleibt es richtig, dass dies nicht eintreten würde, wenn nicht Gott der Urheber der Natur wäre. Der Weg der wirkenden Ursachen indessen, der in der Tat tiefer und gewissermaßen unmittelbarer und a priori ist, ist dafür auch ziemlich schwierig, wenn man zu den speziellen Fragen vordringt, und ich glaube, dass unsre Philosophen in den meisten Fällen von ihm noch recht weit entfernt sind. Der Weg
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
Versuch, die Naturwissenschaften mit »hyperphysischen Erklärungen zu überschwemmen«, d. h. »übernatürliche« Erklärungsfaktoren im Sinne einer schlechten Teleologie zu strapazieren, wo die naturwissenschaftliche Erklärung jeweils an eine (vorläufige) Grenze stößt, energisch als bloß »faule Vernunft« verwirft. Wie schon Leibniz insistierte Kant ausdrücklich darauf, dass in einer methodisch unverzichtbaren Hinsicht alles so betrachtet werden muss, dass bzw. »als ob« alles Wirkliche dem lückenlosen Kausalzusammenhang nach einer »mechanische[n] Erzeugungsart« 165 unterliegt – obgleich sich die organische Komplexität in der zufälligen Bestimmtheit ihrer Formen daraus allein nicht ableiten lässt 166. Damit war eben auch das kritische Bewusstsein darüber verbunden, dass erst von der vorausgesetzten Wirklichkeit des Lebendigen her auf dem Weg der nachträglichen Reflexion jene physikalisch/chemisch/biologischen Bedingungen analysiert werden können, ohne die dieses »lebendige Ganze« sich nicht hätte verwirklichen können. Damit ist nach Kant aber auch jedwede teleologische Naturkonzeption als unkritisch disqualifiziert, die sich als ausschließende Alternative zur kausalmechanischen »Erklärungsart« etablieren möchte, weil sie damit auch den kritischen Sinn einer »Naturteleologie« preisgibt. Gleichwohl hat er in kritischer Absicht an der Möglichkeit, ja an der Unverzichtbarkeit einer »naturteleologischen« Betrachtungsperspektive festgehalten (die Dawkins ebenfalls vollständig ignoriert). Resümierend sei festgehalten: Schon für Leibniz und Kant war jedenfalls jene methodisch orientierte Einstellung bzw. Einsicht maßgebend, die, wie erwähnt, durchaus zutreffend als unverzichtbarer »methodologischer Naturalismus« charakterisiert wurde. Entschiededer Zweckursachen dagegen ist leichter und dient immerhin häufig dazu, auf wichtige und nützliche Wahrheiten hinzuführen, die man auf dem andren, mehr physischen Wege lange Zeit hätte suchen müssen; wofür die Anatomie beachtenswerte Beispiele zu liefern vermag.« Dies ist freilich nach Leibniz gerade kein Freibrief für eine bequeme Flucht in die »faule Vernunft«. 165 Kant V 526. 166 Deshalb können teleologische Konzeptionen nicht an die Stelle naturwissenschaftlicher Kausalerklärungen treten, wie Leibniz und Kant betonen: Muss doch »aller Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen … nach bloß mechanischen Gesetzen möglich« sein und doch soll dies zugleich »ein ganz anderes Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen« (V 500) recht verstanden gerade nicht einfachhin ausschließen; obwohl der Begriff des »Naturzwecks« als »Fremdling in der Naturwissenschaft« anzusehen sei (Kant V 504) und die »mechanische Erklärungsart« eine unverzichtbare Maxime der Erforschung auch des Lebendigen ist.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
ner als Leibniz und Kant kann man also jenes Missverständnis gar nicht zurückweisen, das in Anbetracht noch ungeklärter naturwissenschaftlich-evolutionsbiologischer Probleme auf Gott als »Lückenbüßer«-Erklärungsinstanz rekurrieren will und von Dawkins ganz zu Recht als »Anbetung der Lücken« kritisiert. Dass im Anschluss an Leibniz und Kant auch alle kritische Theologie genau eine solche Lückenbüßer-Theologie verwirft, dies bleibt erwartungsgemäß außerhalb des Wahrnehmungshorizontes Dawkins’, der angeblich an philosophischen Fragen so interessiert ist – verständlicherweise, käme ihm andernfalls doch auch diesbezüglich der Gegenstand seiner Polemik abhanden. Vor dem Hintergrund dieses so besonnenen methodischen Umganges mit diesen – offenbar nach wie vor höchst aktuellen und kontroversen – Fragen bei Leibniz und Kant verrät es deshalb, im Vergleich damit, ein grobes naturphilosophisches bzw. wissenschaftstheoretisches Missverständnis, wenn Darwins Konzeption der »natürlichen Selektion« – gemäß der Auslese durch faktische »Überlebensvorteile« und entsprechende »Reproduktions«-Vorsprünge – von Dawkins nicht nur gegen kreationistische Irrwege, sondern auch gegen kritische Teleologie-Konzeptionen ausgespielt wird. Warum bleiben Letztere von Dawkins – wohlgemerkt: ja auch in seinen jüngsten Büchern über »Schöpfungslüge«, »Der Zauber der Wirklichkeit« – trotz thematischer Nähe völlig unberücksichtigt, wo er doch fortlaufend gegen die Idee einer »Teleologie« blind polemisiert? Denn auch in diesen – ebendiese Fragen der Sache nach betreffenden – Schriften ist leider überhaupt keine kritische Auseinandersetzung (nicht einmal ansatzweise) zu finden. Genau dies wäre aber von einem Autor wohl mit einigem Recht zu erwarten, der sich angeblich die »Aufklärungs-orientierte« Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse zu seinem besonderen Anliegen macht. Nicht zuletzt wäre gerade aus der gebührenden Berücksichtigung dieser kritischen Konzeptionen ein wesentliches Argumentationspotential gegen in der Tat unkritische (etwa »Intelligent-design«-)Positionen zu gewinnen, ohne sich über deren berechtigte biologisch-fachwissenschaftlichen Fragen einfach hinwegzusetzen. 167 So berechtigt also Dawkins’ Polemik gegen einen »Lückenbüßer« Gott zweifellos auch ist, so wenig wird er den genannten Anliegen einer kritischen Teleologie-Konzep167 Eben von diesem Anliegen ist auch Thomas Nagels Buch »Geist und Kosmos« inspiriert.
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
tion gerecht; einmal mehr begnügt er sich mit einem Kampf gegen von ihm selbst errichtete Pappkameraden (deren Abfertigung dann freilich rasch erledigt ist) und gefällt sich vornehmlich darin, in sachfremder Polemik und leicht durchschaubarer Absicht ideologische Süppchen am Dahinköcheln zu halten – nicht ohne Erfolg, wie man sieht … Bemerkenswert ist diesbezüglich allerdings auch, dass Dawkins im Kontext seiner Bezugnahme auf Darwins theologischen Gesprächspartner W. Paley (näherhin auf dessen »Natural Theology …«) ausdrücklich darauf hinweist, dass er selbst sich nicht »vorstellen« könne, »wie man zu irgendeiner Zeit vor 1859, dem Datum der Veröffentlichung von Darwins Origin of Species, Atheist gewesen sein konnte« (Uhrmacher 18). Diese Beteuerung Dawkins’ legt aber doch, gewissermaßen mit umgekehrtem Richtungssinn, seinen eigenen Prämissen gemäß die Konsequenz nahe: Wenn sich denn zeigen ließe, dass die Entgegensetzung von »natürlicher Selektion« oder »Teleologie« schlicht und einfach auf einem Trugschluss beruht, also (auch wissenschaftstheoretisch) als »überholt« gelten müsse, während eine »teleologische Perspektive« nicht nur zu legitimieren, sondern eine solche recht verstanden sich auch als unverzichtbar erweist (ohne, wohlgemerkt, die empirischen »Evolutionsmechanismen« damit etwa in Frage zu stellen) – was wäre dann aber, jene wohlmeinende Beteuerung Dawkins’ einmal beim Wort genommen, die Konsequenz daraus, wenn sein »Atheismus« demzufolge doch primär auf jener »darwinistischen« Verabschiedung der »teleologischen« Betrachtungsweise begründet war und sich sein Einwurf gegen das »Gestalter«-Argument überdies als ein grobes Missverständnis der »Teleologie« erweist? Natürlich bedeutet dies nicht Dawkins’ Konversion zum »Gläubigen« – gleichwohl wäre die Rücknahme der in seinen einschlägigen Büchern geäußerten Polemiken bzw. Attacken gegen den »Gottesglauben« eine lediglich intellektueller Redlichkeit geschuldete Folge daraus … Die voranstehend angeführten Beispiele mögen verdeutlichen, dass sich für Dawkins’ an sich zweifellos berechtigte LückenbüßerKritik jedenfalls in maßgeblichen Konzeptionen der traditionellen Naturphilosophie, aber auch in gegenwärtiger kritischer Schöpfungstheologie keinerlei sachliche Anhaltspunkte finden. Dies entlarvt die von Dawkins vorgeführte Lückenbüßer-Strategie und die darin bemühten suggestiven Fragen sowie die daran geknüpfte Polemik als leicht durchschaubare Propaganda: »Die Wissenschaft hat gewisse 504 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Schwierigkeiten, X zu erklären? Kein Problem. Man sollte X keines Blickes mehr würdigen. Wir berufen uns einfach auf Gottes unendliche Macht und erklären X (genau wie alles andere) ganz mühelos; das ist immer eine höchst einfache Erklärung, denn schließlich gibt es ja nur einen Gott. Was könnte einfacher sein?« (Gotteswahn 210). Wer so »argumentiert«, betreibt in der Tat selbst einen »Kreationismus mit umgekehrten Vorzeichen«. Man spürt es förmlich, hier lässt Dawkins seiner – von Entlarvungs-Eros beflügelten – bemerkenswerten Phantasiebegabung in der Hoffnung auf »Mem-Übertragung« doch wieder allzu freien Lauf: Von wem – außer von philosophisch, theologisch und naturwissenschaftlich ahnungslosen »Kreationisten« und den von Dawkins bezeichnenderweise phantasiereich eingeführten »imaginären Vertreter[n] des ›Intelligent design‹« (Gotteswahn 185) – jene Berufung auf den Lückenbüßer-Gott ernsthaft vertreten bzw. beansprucht wird, bleibt allein sein Geheimnis. Die abwegige Vorstellung, den Gottesgedanken für die Erklärung naturwissenschaftlicher Abläufe bzw. entsprechender Erklärungslücken einzuspannen, zeigt sich vielmehr bei ihm selbst – so wenn er die Gottesfrage unbeirrbar als eine naturwissenschaftlich entscheidbare Hypothese einsetzt und sich zugleich über die »Anbetung der Lücken« mokiert –, eine seltsame, obgleich leicht durchschaubare Doppelstrategie, die auch noch seinem polemischen Hinweis zugrunde liegt: »Und selbst wenn keine wissenschaftliche Erklärung geliefert wird, ist die Annahme, die ›Gestaltung‹ sei eine bessere Begründung, einfach nicht logisch. Hinter der Theorie des ›Intelligent Design‹ steht eine bequeme, defätistische Denkweise – es ist die klassische Vorstellung vom ›Gott der Lücken‹« (Gotteswahn 179). Wie gezeigt, hat das die Tradition einer kritischen Metaphysik wie auch eine kritische Schöpfungstheologie ebenso gesehen – und ganz im Sinne Leibnizens und Kants als Rückzug in die »faule Vernunft« verworfen, deren gewiss berechtigter Kritik Dawkins in dem von ihm als zentral erachteten 4. Kapitel so breiten Raum gibt, freilich ohne jeden Hinweis auf diese kritischen philosophischen Perspektiven. Dawkins’ hartnäckiges Unverständnis tritt beispielhaft schon in seiner energischen – beherzten Windmühlen-Kämpfen wiederum nicht unähnlichen – Abwehr der Ansicht zutage, 168 dass »Gott in sei168 Darauf hat bemerkenswerterweise schon der Lehrer von Thomas v. Aquin, Albertus Magnus, eine passende Antwort gegeben – so wenn er ausdrücklich geltend macht: »In der Naturforschung haben wir nicht zu untersuchen, ob und wie der
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nem ganzen ewigen Leben nie einen winzigen Flügel gemacht hat« 169 – wiederum: Von wem wurde denn so eine unsinnige Vorstellung jemals behauptet? 170 –, um sodann im Gedankenexperiment einSchöpfer-Gott nach seinem vollkommen freien Willen durch unmittelbares Eingreifen sich seiner Geschöpfe bedient, um durch ein Wunder seine Allmacht kundzutun. Wir haben vielmehr einzig und allein zu erforschen, was im Bereich der Natur durch natureigene Kräfte auf natürliche Weise alles möglich ist« (Albertus Magnus: De caelo, lib. 1, tract. 4). Dass dies freilich nicht so ganz in Dawkins’ Welt- bzw. Feindbild und zu seinen einschlägigen Vorwürfen passt, steht auf einem anderen Blatt. 169 Darwin hatte jedenfalls noch eine Kenntnis von der traditionellen Lehre von den »Zweitursachen«, wenn er betont: im Bezug auf eine mögliche Vereinbarung von Theismus und Evolutionstheorie, »that the production and extinction of the past and present inhabitants of the world should have been due to secondary causes« (Darwin, On the Origin of Species, zit. n. Hösle/Illies 1999, 211, Anm. 11). Diese traditionelle Lehre von den »Zweitursachen« hat in Dawkins’ Mem-Bestände indes bedauerlicherweise keinen Eingang gefunden, woraus sich auch seine aus Unkenntnis gespeiste Kritik an der Metaphysik erklärt. 170 Schon der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa hätte (um 380) eine solche Vorstellung als völlig unsinnig, weil der Sache unangemessen, zurückgewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die von ihm in seinen Reflexionen zum »Sechstagewerk« (s. ders., »Das Sechstagewerk«) ansatzweise erkennbare Absicht, die Schöpfung »evolutiv« zu verstehen – so als sei »eine gewisse Keimkraft zur Entstehung des Alls grundgelegt«, woraus das konkret Existierende sich erst »sukzessiv entwickelt« hat und Gott demnach nicht das »einzelne Seiende geschaffen« habe; gleichwohl impliziert dies die grundlegende Einsicht des Kirchenvaters, dass diese erst in der Zeit geschehende – zeitigende – Entfaltung nicht selbst mit der Schöpfung verwechselt bzw. gleichgesetzt werden darf, zumal letztere hierfür vielmehr eine unhintergehbare Voraus-Setzung darstellt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Kirchenlehrer sich dabei an der Aussage der Genesis orientiert: »Dann sprach Gott: ›Die Erde [!] lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und von Bäumen, die auf der Erde Früchte bringen mit ihrem Samen darin‹ Und so geschah es. Die Erde brachte junges Grün hervor« (Gen 1,11–12) Und: »Die Erde [!] bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor, von Vieh, von Kriechtieren und von Tieren des Feldes. Und so geschah es. Gott machte alle Arten von Tieren des Feldes, alle Arten von Vieh und alle Arten von Kriechtieren auf dem Erdboden« (Gen 1,24 f.). Lohfink erläutert dies folgendermaßen: »Gott hat die Welt so geschaffen, dass sie sich hochentwickeln soll zu immer höheren Selbstand – und zwar als ›Natur‹, das heißt, als das Aus-sichselbst-Herauswachsende. Die Hominisation, die Menschwerdung des Menschen, ist dann das Werk Gottes und ganz das Werk der Natur« (Lohfink 2013, 58 f.). – Darauf (bzw. auf diesbezüglich zu vermeidende Missverständnisse) zielt offenbar auch der Hinweis von Kardinal Schönborn in seinem schon erwähnten Vortrag: »Wenn nun der Naturwissenschaftler oder der naturwissenschaftlich interessierte Laie sich die Frage nach dem Schöpfer stellt, hat er vor allem die Schwierigkeit, dass wir uns nur Veränderung, nicht aber Schöpfung vorstellen können. Die Evolution des Lebens können wir zwar auch nicht in allen Einzelheiten vorstellen, weil wir sie nicht zur Gänze rekonstruieren können. Aber wir haben alle eine Anschauung von Entwicklung, ja
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
zuräumen: »Wenn er etwas gemacht hat (was nach meiner Überzeugung nicht der Fall war …),[171] dann war es ein embryologisches Rezept, eine Art Computerprogramm zur Steuerung der Embryonalentkönnen sie zum Teil aktiv nachbilden (denken wir nur an die technischen Entwicklungen). Aber immer wird dabei Vorhandenes entwickelt. Schöpfung im theologischen Sinn heißt jedoch jenes göttliche Geschehen, durch das überhaupt etwas ist, die Welt ins Sein kommt.« Dahin weist auch Lükes grundsätzliche Bemerkung, dass zwar allein die Evolutionstheorie darüber aufklärt, »dass und wie« sich die vorhandene und sich entwickelnde »Weltrealität« macht – und zwar »mit aller ihr nur irgend möglichen Präzision … Ob es [hingegen] diesen Designer gibt, sagt sie uns nicht, weil dieser Designer einer sich selbst machenden Welt sich eben nicht in empirisch fassbarer Weise« ans Werk macht. »Bei der Frage nach der creatio ex nihilo gibt es keine Diskrepanzen mit der Naturwissenschaft, weil die nicht das Nichts, sondern immer ein etwas, und seien es Quantenfluktuationen, zum Gegenstand hat. Aber bei der Behauptung einer creatio continua, da wären theologischerseits noch weitere Hausaufgaben zu machen; denn da könnte es, je nachdem, wie man es gedanklich angeht, zu Kollisionen mit den Hauptsätzen der Thermodynamik oder mit evolutionstheoretischen Überlegungen kommen« (Lüke 2008, 132). – Allerdings wäre es zur Vermeidung von dadurch begünstigten Missverständnissen wohl besser, nicht von einem »Designer« zu sprechen, weil dies das Verständnis von »Schöpfung« eher erschwert. – Leider bleiben derartige Ausführungen bzw. Bemühungen theologischerseits außerhalb von Dawkins’ Blickfeld, der sich damit begnügt und sich darin auch gefällt, (sich) über die Nutzlosigkeit der Theologie zu mokieren. Darwin hätte hingegen möglicherweise schon an die oben angeführte Sichtweise Gregors v. Nyssa mit seiner – sein Werk »Die Abstammung des Menschen« beschließenden – Auffassung angeknüpft (die übrigens bezeichnenderweise von Dawkins nur unvollständig zitiert wird: vgl. Gotteswahn 22 f.): »Schriftsteller ersten Ranges scheinen vollkommen von der Ansicht befriedigt zu sein, dass jede Art unabhängig erschaffen worden ist. Nach meiner Meinung stimmt es besser mit den der Materie vom Schöpfer eingeprägten Gesetzen überein, dass das Entstehen und Vergehen früherer und jetziger Bewohner der Erde durch sekundäre Ursachen veranlasst werde – denjenigen gleich, welche die Geburt und den Tod des Individuums bestimmen. … Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass, während unser Planet den strengen Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise schwingt, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt« (zit. nach der in der deutschen Übersetzung von »Der Gotteswahn« verwendeten Ausgabe v. Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Darmstadt 1992). Freilich wurde Darwins harmonistische Interpretation durch die weitere Entwicklung der Evolutionstheorie insofern unterbrochen, als die Erforschungen über das naturgeschichtlich katastrophische Aussterben vieler Arten in ungeahnten Ausmaßen – von dem das Aussterben der Dinosaurier lediglich ein besonders häufig angeführtes und prominent gewordenes Beispiel ist – diese bei Darwin leitende »gradualistische« Konzeption korrigiert. 171 Man sieht deutlich: Dawkins setzt just dasjenige unbefragt (besser: uninformiert) voraus und kritisiert es sogleich, was auch von kirchlicher Seite stets als Fehlverständ-
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wicklung eines winzigen Flügels (und auch vieler anderer Dinge)« (Schöpfungslüge 239) 172. Genau dieses bezeichnenderweise an Artefakten orientierte Bild wird der inneren Einheit und Formung (der »immanenten Form des Organischen« als seiner »substanzialen Form«) nicht gerecht; d. h. Dawkins’ Argumentation ist schon deshalb missverständlich bzw. irreführend, weil ein Computer als Artefakt eben keine solche »innere Einheit«, sondern als materielles Aggregat eine bloß funktionale Einheit darstellt. Daran ändert auch Dawkins’ Hinweis darauf nichts, sich »kaum vorstellen [zu] können, wie man die Anweisung für den Aufbau eines Organismus so schreiben könnte, dass daraus tatsächlich ein Organismus entsteht. Der Weg dazu ist die ›Selbstmontage‹ … ; sie ähnelt ein wenig dem, was Computerprogrammierer manchmal als ›Bottom-up‹-Methode im Gegensatz zur ›Top-down‹-Methode bezeichnen« (Schöpfungslüge 244). Das diesem Vergleich mit dem Computer-Programm zur Steuerung der Embryonalentwicklung« zugrunde gelegte Bild von der »Konstruktion von unten nach oben« (Schöpfungslüge 245) ist vor dem Hintergrund der oben vorgestellten Überlegungen schon deshalb unpassend – und bestätigt lediglich erneut, dass bzw. weshalb Dawkins auch das Teleologie-Problem prinzipiell verfehlt –, weil dies den entscheidenden Blick auf die innere Organisation des Lebendigen verstellt, zumal Artefakte wie Computer eben durch keine solche innere Organisation, die ihre organische Einheit (und »Beseeltheit«) begründet, ausgezeichnet sind, sondern ihre »funktionale Einheit« sich erst im technischen Gebrauch derselben erweist. Es ist bezeichnis abgelehnt wurde: »Schöpfung ist nicht nach dem Muster des Handwerkers zu denken, der allerlei Gegenstände macht, sondern in der Weise, in der das Denken schöpferisch ist. Und zugleich wird sichtbar, dass das Ganze der Seinsbewegung (nicht bloß der Anfang) Schöpfung ist und dass ebenso das Ganze (nicht bloß das später Kommende) Eigenwirklichkeit und Eigenbewegung ist.« »Fassen wir dies alles zusammen, so können wir sagen: An Schöpfung glauben heißt die von der Wissenschaft erschlossene Werdewelt im Glauben als eine sinnvolle, aus schöpferischem Sinn kommende Welt verstehen« (Schönborn 2007, 13). 172 Um dann aber doch wieder energisch einzuwerfen: »Ein vernünftiger Gestalter hätte nicht nur einen Fehler wie den Umweg des Nervs nie begangen; er hätte nichts von dem ganzen Saustall konstruiert – von dem kreuz und quer verlaufenden Labyrinth aus Arterien, Venen, Nerven, Därmen, Fett- und Muskelbündeln, Gekröse und vielem anderen« (Schöpfungslüge 419). Gelegentliche Hinweise darauf, dass Dawkins bei Diskussionsveranstaltungen angeblich gute Argumente für einen »Deismus« eingeräumt habe (und dies wiederum dementiert wurde), dürfen unberücksichtigt bleiben.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
nend – und steht zu dem von ihm bekundeten philosophischen Interesse erneut in eklatantem Widerspruch –, dass sich Dawkins über das Problem der »Seele« wiederholt als einem vorwissenschaftlichen Relikt mokiert bzw. sich belustigt zeigt (einmal abgesehen von eingestreuten »Erbaulichkeits«-Aspekten, s. o. I., 2.2.0), ohne das in der naturphilosophischen Seelenthematik benannte Sachproblem auch nur ansatzweise zu berücksichtigen. Weil Dawkins sich in seiner Verwerfung des (so ohnehin von niemandem vertretenen) von ihm sogenannten »Gestalter«-Argumentes gerne auf den englischen Philosophen D. Hume (Gotteswahn 157; 221 f.) 173 als philosophischen Gewährsmann beruft, sei noch dies angemerkt: Im Blick auf sein diesbezügliches Argument – worauf er noch »von keinem Theologen eine überzeugende Antwort bekommen« habe (Gotteswahn 221) –, dass der »Gestalter mindestens ebenso« unwahrscheinlich sei wie das durch ihn erklärte »Gebilde« (Gotteswahn 157), darf daran erinnert werden: Auch wenn der von ihm aus moralischen Gründen geächtete Kant zwar kein Theologe ist, so hätte Dawkins dennoch bei ihm eine Antwort auf Humes »Einwendung« gegen die Annahme eines »architektonischen Verstand[es]« als »teleologisches Prinzip der Beurteilung« finden können (auf die Dawkins offensichtlich rekurriert). 174 Kant hat jedenfalls verdeutlicht, weshalb Hume die Notwendigkeit des Rekurses auf bzw. die Bestimmung des Begriffs eines »Urgrunds der Dinge« als »einfache« und »intelligente Substanz« verfehlt und folglich der (Dawkins vor Augen stehende) »Einwurf« Humes »nichtig« ist: »dass [so Hume
173 Eine Anknüpfung an Hume ist bei Dawkins jedenfalls insofern zu erkennen, als offenbar schon seine Zielsetzung der Hume’schen Unterscheidung zwischen den unaufgeklärten Massen (»the vulgar«) und den »men of genius« folgt; denn für erstgenannte und deren »Kinderglauben« hat Dawkins offenbar seine Bücher geschrieben, während die wenigen aufgeklärten »men of genius« offenbar in der »clear thinking oasis« der Dawkins-Stiftung beheimatet sind. Zur strittigen Frage, ob es denn bei Hume überhaupt eine (von seiner Religionskritik ausgenommene) »wahre Religion« gibt, s. die einschlägigen Studien von L. Kreimendahl 2012. 174 S. dazu Kants Einwand gegen Humes Teleologie-Kritik in der »Kritik der Urteilskraft« § 80. Dass die Sache bei Hume nicht so einfach bzw. eindeutig ist und seine »Position« (sofern es eine solche überhaupt gibt), ungeachtet seiner Religionskritik keineswegs so ohne weiteres »atheistisch« vereinnahmt werden kann, wie so manche insbesondere angelsächsische Vertreter des »Neuen Atheismus« vorgeben, zeigt nicht zuletzt auch die Studie von L. Kreimendahl »Humes Kritik an der philosophischen Theologie«, in: Kreimendahl 2012, 181–200.
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gegen die Annahme eines »architektonischen Verstandes«] man mit eben dem Rechte fragen könnte, wie denn ein solcher Verstand möglich sei, d. i. wie die mancherlei Vermögen und Eigenschaften, welche die Möglichkeit eines Verstandes, der zugleich ausführende Macht hat, ausmachen, sich so zweckmäßig in einem Wesen haben zusammenfinden können.« 175 Auch wenn Humes Einwurf »nichtig« sei (weil er das in der teleologischen Beurteilung intendierte »Einheit des Prinzips für die innerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung« verfehlt 176), so ändert dies nach Kant bekanntlich nichts an seiner kritischen Folgerung 177: Dass für uns die Beantwortung dieser Frage ohne Rekurs auf die Idee eines »Urgrundes der Dinge« »schlechterdings unbeantwortlich« bleibe, laufe keineswegs auf eine Legitimierung eines »teleologischen Gottesbeweises« hinaus. Erneut rächt es sich auch in diesen thematischen Zusammenhängen, dass Dawkins sich mit Kants differenzierter Argumentation und den von ihm gezogenen Konsequenzen (bzw. den von ihm beschrittenen Wegen) bezüglich der Gottesthematik leider nicht abgibt. Aber auch dies, dass er sich zur Stützung seiner Argumentation auf Hume beruft, ist schon deshalb recht eigenartig, weil er die Differenziertheit und das Problembewusstsein Humes auch nicht annähernd erreicht 178. Gegenüber Dawkins’ Reduktionismus darf nochmals an die angeführte Teleologie-Konzeption Nagels (s. o. I., 4.) als ein gegenwärtiges Beispiel dafür erinnert werden, dass dieses »Teleologie«-Pro-
Kant V 540. Kant V 541. »Wie aber dieses oberste Wesen all hinlängliche Vollkommenheiten habe; oder woher denn dieses Wesen solche Vollkommenheiten erhalten habe; das folget [so Kant gegen Hume] aus seiner absoluten Notwendigkeit, welche ich zwar, wegen der Schranken meiner Vernunft, nicht einsehen, aber deshalb auch nicht läugnen kann« (Kant AA XXVIII.2.2, 1064). 177 Kants Gründe dafür, weshalb er trotz seiner kritischen motivlichen Würdigung des »physikotheologischen Gottesbeweises« (d. i. des »teleologischen Arguments«) dennoch ihren Anspruch abgelehnt hat, verdienen wohl immer noch Beachtung. 178 Vgl. zu Hume die differenzierten Analysen bei H. Westermann 2011, 67–95. Wer Humes »Dialog über die natürliche Religion« und die darin enthaltene Religionskritik gelesen hat, wird nicht übersehen können, wie wohltuend sich seine besonnene skeptische Haltung von der fanatisch-demagogischen Tonart des – sich auf ihn berufenden – Wortführers der brights unterscheidet. Dass »Humes kritische Analyse der Argumente für die Existenz Gottes … ungleich tiefgehender und aufgeklärter« sei als der gesamte »Neue Atheismus« und seine Denkart dem »Geist der Aufklärung« wesentlich nähersteht als die Haltung jener Vertreter des »Neuen Atheismus«, die sich auf ihn berufen, hat ebenfalls N. Hoerster zu Recht betont. 175 176
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
blem nicht einfach theologisch vereinnahmt und mit falschen Begründungslasten im Sinne von Gottesbeweisen befrachtet werden darf, sondern als ein naturwissenschaftlich weder einzulösendes (zu beantwortendes) noch zu verabschiedendes Problem offengehalten werden muss – als ein solches, das gewiss »viel zu denken« gibt.
2.5 Dawkins’ originelle »Spielplatz«-Version des »ontologischen Gottesbeweises«: »Existenz – ein Zeichen für Vollkommenheit«? »Mem-Defekt« oder erneute Kostprobe für seinen »guten Humor«? Dass auch – und erst recht – der »ontologische Gottesbeweis« der schonungslosen Abrechnung Dawkins’ nicht entgehen kann, kommt gewiss nicht unerwartet. Seine eklatanten Fehlleistungen im Umgang mit den bezüglich der traditionellen Gottesbeweise maßgebend gewordenen Argumentationsfiguren gipfeln in der Tat in seiner – wiederum ganz Pflicht-orientierten – »Behandlung« dieses dem mittelalterlichen Mönch Anselm von Canterbury zugeschriebenen sogenannten »ontologischen Argumentes«, das wohl nach wie vor als das meistdiskutierte, aber eben auch als das umstrittenste gelten darf. Wer vermutet, dass Dawkins ohnedies schon mit seiner Behandlung und »Widerlegung« des »vierten Beweises« in Übermaß seinen für sich reklamierten Sinn für eine »gute Portion Humor« unter Beweis gestellt habe, wird angesichts der Dawkins’schen Traktierung des berühmten »ontologischen Gottesbeweises« indes zu dem Urteil kommen, dass seine Humor-Begabung von bloßem Jux und Tollerei gar nicht mehr unterscheidbar ist. Was Philosophen, Theologen und Logiker seit vielen Jahrhunderten bis in die Gegenwart intensiv beschäftigt, enthüllt bzw. erledigt sich für den entlarvenden und belustigten Blick Dawkins’ auf die »Geschichte der Gottesbeweise« gleichsam im Vorbeigehen – kein Wunder, wenn solche humorvolle Leichtigkeit erneut erhebliche philosophische Mem-Lücken verrät. So einfach ist das also: Probleme an denen sich – nach Dawkins freilich ohnedies von des Gedankens Blässe angekränkelte – Philosophen über Jahrhunderte in problemgeschichtlicher Arbeit abmühen, dies schafft der Wortführer der »brights«, der freilich im Vergleich zu jenen geistig »angekränkelten« Philosophen über den »gesunden Menschenverstand« verfügt, mühelos aus der Welt. Freilich, auch in diesem Fall gibt sein Umgang mit diesem klassischen Argument zweifellos weni511 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
ger Aufschluss über dessen Struktur und dessen besondere Eigenart und Schwächen, sondern verrät einmal mehr, was man sich nach der Geistesart Dawkins’ unter einer sachorientierten Auseinandersetzung und seinem philosophischen Interesse näherhin vorzustellen hat. Wiederum war es freilich seinem besonderen Phantasie-gespeisten und humorvollen Scharfsinn vorbehalten, diesem von ihm als geradezu »kindisch« bezeichneten »ontologischen Argument« eine Form zu verpassen, die seinen Gehalt und Anspruch – aber auch das eigentlich Problematische dieses Argumentes – tatsächlich nicht mehr wiederkennen lässt. Die heroische Erfüllung jener intellektuellen »Pflicht, die positiven Argumente für den Glauben abzuhaken, die im Laufe der Geschichte genannt wurden« (Gotteswahn 107), führt Dawkins, man spürt es, zuletzt gar an die Grenzen seiner intellektuellen Duldsamkeit und Leidensfähigkeit 179. Für andere von ihm so bezeichnete »apriori-Argumente« beruft er sich – jetzt aus ungezügelter Lust, die Unsinnigkeit der Gottesbeweise zu demonstrieren – auf eine Internet-Quelle (Gotteswahn 119), ohne auch nur irgend einen Hinweis darauf zu geben, von welchen theologischen oder philosophischen Positionen denn solche Absurditäten jemals behauptet wurden. Auch dies darf wieder als ein besonders eindrucksvoller Beleg genommen werden, wie es um die wissenschaftliche Redlichkeit des Aufklärers Dawkins – Wortführer der »hellen Köpfe« – bestellt ist. Der Umstand, dass der angeblich um Verbreitung des »öffentlichen Verständnisses der Wissenschaften« bemühte Dawkins über diese Themen vielmehr schier unüberbietbare Unsinnigkeiten verbreitet und solchen Umgang damit – wohl eher aus »Galgenhumor« – gar »vergnüglich«, »amüsant« findet, erlaubt freilich auch Rückschlüsse auf den offensichtlich aus lauter JuxBedarf in Turbulenzen geratenen Mem-Haushalt unseres atheistischen Missionars. Dass er sich selbst – ungeachtet der bekundeten philosophischen Interessen – nicht als Philosophen, sondern als Naturwissenschaftler verstehen will (Gotteswahn 116), ist so gesehen zwar in gewisser Hinsicht beruhigend und erfreulich, jedoch taugt dies kaum als entlastendes Alibi für die Art und Weise, wie er sich über diese Themen auslässt: Si tacuisses, biologus mansisses. Was 179 Das erstaunliche Zugeständnis, dass Dawkins in seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises Anselms v. Canterbury »dieselbe Art von Problemen erkennt, wie dies schon der hl. Thomas getan hat« (Hahn/Wiker 2012, 93 f.), entbehrt jedoch jeder Grundlage.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
angesichts all der schwerwiegenden philosophischen Fehlleistungen Dawkins’ und der unübersehbaren mangelnden Bereitschaft, sich elementare Kenntnisse anzueignen, von seiner Bemerkung zu halten ist, mag wiederum der unvoreingenommene Leser selbst entscheiden: »Und wenn ich jetzt sage, dass man einen Philosophen fast als jemanden definieren könnte, der den gesunden Menschenverstand als Antwort nicht anerkennt, so ist das durchaus als Kompliment gemeint« (Gotteswahn 116) – erklärungsbedürftig bleibt dann nur, warum Dawkins selbst sich so eindringlich auf seine philosophischen Interessen beruft … Indes, sogar solche offenbar sehr tiefsitzenden Abneigungen und Anfechtungen vermögen ihn nicht von der Pflicht abzuhalten, auch den berüchtigten »ontologischen Gottesbeweis« auf den Prüfstand zu stellen. Sogleich zeigt sich: Auch in diesem Falle hat Dawkins weder das grundsätzliche Anliegen bzw. das Kernproblem verstanden noch das eigentlich Strittige dieses Argumentes getroffen (wie nicht zuletzt die von ihm beigebrachten – in der Tat in gewisser Weise sehr erhellenden – »Erläuterungen« verraten). Dass Dawkins seinem eigenen JuxBedarf offenbar zum Opfer fällt und er infolgedessen schon den besonderen Problemhintergrund sowie die Pointe des Anselm’schen Arguments völlig verkennt, zeigt besonders deutlich (obgleich gewiss unfreiwillig) seine – wohl nicht weniger seltsame – Belustigung über den »seltsamen Aspekt« des Anselm’schen Arguments: »Es [das Argument!] richtete sich ursprünglich nicht an die Menschen, sondern an Gott selbst und hatte die Form eines Gebets. (Dabei würde man eigentlich meinen, dass man ein Etwas, das ein Gebet erhören kann, nicht von seiner eigenen Existenz überzeugen muss.)« Der Scharfsinn und die Originalität dieser Zugangsweise zu diesem (auch »argumentum apriori« genannten) »Gottesbeweis« sucht in der langen Geschichte seiner Auslegung wohl seinesgleichen. Indes, schon jene von Dawkins zunächst in der angezeigten Weise charakterisierte »Beweisform« darf ihm zufolge offenbar ebenso als indirekte Bestätigung dafür gelten, dass nicht nur dieser Beweis, sondern auch die enge Verbindung von Religion und Psychopathologie eine lange Geschichte hat, die in der Begründungsfigur desselben lediglich eine Fortsetzung bzw. eindrucksvolle Bestätigung findet und wohl auch auf diejenigen ein erhellendes Licht wirft, die über dieses Nonsens-Argument überhaupt noch nachdenken wollen. Freilich, schon Dawkins’ scharfsinnige Aufdeckung des vermeintlichen Unsinns, dass der Verfasser des »Proslogion« aus dem genannten Grund (bzw. infolge des Motivs 513 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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eines »fides quaerens intellectum« 180) kurioserweise ein Gebet vorausgeschickt habe, bestätigt in höchstem Ausmaß, dass auch hier sein Entlarvungs- und Hohn-Bedarf sein Sachverständnis deutlich überwiegt. Eine polemische Höchstleistung und sachliches Unverständnis, wie dies größer kaum gedacht werden kann … Zur Erinnerung: Der von seinen Mitbrüdern gebetene Mönch Anselm v. Canterbury will auch denkerisch (in einem möglichst einfachen Gedankengang) dasjenige begreiflich machen, was er zugleich in seiner Glaubensgemeinschaft hinsichtlich des »Daseins« und des Wesens Gottes glaubt und in religiöser Sprache auch bekennt. Ebendies ist das schlichte programmatische Vorhaben des sogenannten »fides quaerens intellectum«: »Der Glaube, der die Einsicht in das Geglaubte sucht«, das heißt nach dessen Vernünftigkeit und Glaubwürdigkeit fragt und diese im philosophischen Denken zu finden sucht. Dawkins verfehlt nicht nur den in diesem Argument artikulierten besonderen Anspruch – nämlich nicht irrational-fideistisch, sondern »sola ratione« als »exemplum meditandi de ratione fidei« (d. h. als »Beispiel des Nachdenkens über die Vernunft des Glaubens«: Proslogion) den dem menschlichen Geist immanenten Bezug auf den Gottesbezug (das »Absolute«) zu explizieren bzw. zu rechtfertigen: Von der ihm von Dawkins unterstellten angeblichen Zuflucht in bloße Irrationalität ist da keine Spur – genau das Gegenteil ist offensichtlich der Fall! Anselms Bemühen zielt demgemäß vielmehr darauf ab, das im religiösen Glauben Bejahte auch verstehen zu wollen. Solcher »Glaube, der die Einsicht sucht«, will seine wesentlichen Gehalte eben nicht nur blind hinnehmen, sondern sie auch begreifen und als intellektuell verantwortbar ausweisen; dass in solcher Absicht dem gesuchten »argumentum apriori« ein Gebet vorangestellt wird, bringt nichts anderes als das darin leitende Motiv des gläubigen Anselm zum Ausdruck, dass alles noch so ernsthafte Bemühen um Erkennen für begrenzte Vernunftwesen dennoch stets ein vorläufig-unvollendetes bleibt. Das Werk Anselms, das diesen ontologischen Gottesbeweis entfaltet, sollte ursprünglich – programmatischerweise – »fides quaerens intellectum« (Der »Glaube, der die Einsicht sucht«) heißen. Schon der (von Dawkins wiederholt geschmähte und missverstandene) Kirchenlehrer Augustinus hat betont, dass bezüglich der kirchlichen Verkündigung und Unterweisung zwar »der Glaube vom Hören komme« und in solcher Hinsicht eben gelten müsse, dass »in zeitlicher Ordnung … die Autorität die erste Stelle« einnehme – »den sachlichen Vorrang aber hat die Vernunft« (De ordine II 9,26). 180
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Schon dieses in dem vorangeschickten Gebet zum Ausdruck gebrachte Anliegen fällt erwartungsgemäß dem Spott Dawkins’ zum Opfer 181 – und zwar erneut auf höchst erfinderische Weise. Davon, dass sich (wie Dawkins behauptet) »Anselms Argument [!] … ursprünglich nicht an die Menschen, sondern an Gott richtet [!]«, kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein – jedoch wird, wie schon gesagt, niemand Dawkins die absolute Originalität einer solchen Interpretation streitig machen können, der sich doch so sehr auch um die evolutionsbiologische Freilegung der pathologischen »Wurzeln der Religion« bemüht. Allerdings verrät Dawkins mit diesem vermeintlichen Aufweis der augenfälligen Verrücktheit des unerklärlicherweise in Philosophie und Theologie berühmt gewordenen Mönches Anselm – wieder nicht ganz freiwillig – wohl mehr über seine völlige Unkenntnis der Sachzusammenhänge, als dass dies den von Dawkins so abqualifizierten »kindischen Neunmalklugen« Anselm und dessen »kindisches Argument« (Gotteswahn 113) treffen könnte. Bevor er sich der Mühe aussetzt, wenigstens das Kernproblem des Anselm-Argumentes und dessen Begründungsgang zu vergegenwärtigen – nämlich: weshalb die »Nicht-Existenz« Gottes als des »vollkommensten Wesens« (im Unterschied zu allem »Endlichen«) nach Anselm nicht gedacht werden kann (und dies deshalb auf die Idee des »notwendigen Wesens« führt) –, überträgt Dawkins, ohne die geringste intellektuelle Verunsicherung darüber, ob er denn nicht vielleicht doch einem Missverständnisse aufsitze, das »Argument« sogleich in die Kinder-Sprache – offenbar in der pädagogischen Absicht, dieses »kindische Argument einmal in eine angemessene [sic!] Sprache [zu] übertragen, nämlich in die Sprache auf dem Spielplatz« (Gotteswahn 113) – und er tut dies, man ist versucht zu sagen: »unsinniger und ungenierter, als nichts gedacht werden kann«. Dergestalt findet Dawkins’ Aneignung und Kritik mit dem Thema »Gottesbeweise« wohl einen krönenden Abschluss und schafft dem Leser 181 Auch in diesem Falle waren für Dawkins offenkundig leider keine – seinen philosophischen Interessen angemessenen – Quellen zugänglich, aus denen er über diesen besonderen »Anrede«-Charakter des »Proslogion« (s. nächste Anm.) und den besonderen Status bzw. den Anspruch dieses Argumentes hätte Aufschluss finden können. Vielleicht verdankt sich jedoch die besondere Originalität seiner »Auslegung« eben dieser verweigerten Information. Gewiss niemand wird Dawkins jedoch seinen festen Platz in der langen und sehr kontroversiellen Auslegungsgeschichte des »ontologischen Argumentes« (und der »Gottesbeweise« überhaupt) streitig machen können.
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zweifelsfreie Gewissheit darüber, dass all diese voranstehenden Themen dieses Kapitels offenbar nicht zu jenen »sciences« gehören, deren Popularisierung das engere Aufgabengebiet Dawkins’ darstellt; seine Auslegung verdankt sich wohl nicht dem Studium der Texte, sondern ist vermutlich auf dem Experimentierfeld freischwebender »Meme« entstanden. Weil das Anselm’sche Argument in der von Dawkins kurioserweise beanspruchten »angemessenen Wiedergabe« in der Tat nicht mehr wiederzuerkennen ist, sondern – seiner Pflicht-orientierten Prüfungsabsicht zum Trotz – einem schwerwiegenden Mem-Defekt zum Opfer gefallen ist, sei das Anselm’sche Kern-Argument (in der Anmerkung 182) in der ganzen Länge wiedergegeben; wiederum ist es natürlich dem Urteil einer kritischen Leserschaft zu überlassen, ob sie in Dawkins’ Spielplatz-Version noch eine Spur des gedanklichen Gehalts dieses klassischen Argumentes wiederzuerkennen vermag. Ob es in der »clear thinking oasis« mehrere von solchen Spielplätzen gibt? Schade nur, dass die mit Dawkins’ Spielplatz-Version verbundenen Einlassungen zum »ontologischen Argument« den Kerngedanken völlig ausgelassen bzw. verfehlt haben. Zu Anselms Begründungsweg: Bekanntlich stellt der vom »Begriff Gottes« als des »vollkommensten Wesens« ausgehende »ontolo182 »So denn, Herr, der Du die Glaubenseinsicht schenkst, gib mir, soweit Du es für nützlich erachtest, dass ich verstehe, dass Du bist, wie wir es glauben, und dass Du das bist, was wir glauben. Und zwar glauben wir, dass Du etwas bist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Oder ist etwa ein solches Wesen nicht, weil der Tor in seinem Herzen gesprochen hat: es ist kein Gott? Wenn aber eben derselbe Tor eben das hört, was ich sage, nämlich etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, so versteht er ganz gewiss, was er hört, und was er versteht, ist in seinem Verstande [in intellectu eius est], auch wenn er nicht versteht, dass dies ist. Eines nämlich ist es, wenn eine Sache im Verstande ist, etwas anderes, wenn man versteht, dass eine Sache ist. […] So wird also auch der Tor überzeugt, dass etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann [id quod maius cogitari nequit], zumindest im Verstande ist, weil er das versteht, wenn er es hört; und was auch immer verstanden wird, ist im Verstande. Und gewiss kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es nur im Verstande allein ist, so kann man denken, es sei auch in der Wirklichkeit, was größer ist. Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, im Verstande allein ist, so ist eben das, über das hinaus Größeres gedacht werden kann, dasjenige, über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber kann mit Sicherheit nicht der Fall sein. Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, [und zwar] sowohl im Verstande als auch in der Wirklichkeit« (Anselm von Canterbury [2005], Proslogion Kap. 2; s. auch Kap. 3).
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gische Gottesbeweis« den Anspruch, gemäß der jener »fides quaerens intellectum« zugrunde liegenden Absicht völlig unabhängig von spezifischen inhaltlichen Vorgaben der christlichen Tradition das Dasein Gottes als desjenigen »etwas« aufzuweisen, »über das hinaus Vollkommeneres [maius] nicht gedacht werden kann« 183 – ein Begriff, den auch der »ungläubige Tor« (insipiens) hat, selbst wenn er das Dasein eines »vollkommensten Wesens« negiert. In solcher Absicht analysierte Anselm sodann den besonderen Gehalt dieses Begriffs – dessen Sonderstellung darin begründet ist, dass in ihm die notwendige Existenz des in ihm gedachten impliziert ist: Ist in diesem Gedanken von Gott als dem »vollkommensten Wesen« also nicht auch der Gedanke seiner Existenz notwendigerweise schon mitenthalten, sodass Letztere konsequenterweise gar nicht bezweifelt werden kann – muss also, wer das in diesem Begriff Gottes (als des »vollkommensten Wesens«) Gedachte richtig aufgefasst hat, das Dasein des darin Gedachten implizit mitbejahen? 184 Denn dieses »über das hinaus 183 Dass »majus« in dieser Wendung als »vollkommener« – und zwar im Sinne der höchsten »Seinsvollkommenheit« – zu übersetzen ist, wäre wohl aus dem Kontext erkennbar gewesen. »Vollkommener« meint die angemessenere bzw. die vollendete Ausprägung seines artspezifischen Plansolls (seines Wesens), das insofern eine höhere Seinsfülle hat und deshalb jede Unvollkommenheit (als Mangel) ausschließen muss. 184 Das – Anselms Argumentation erst abrundende – 3. Kapitel des »Proslogion« bietet noch eine besonders konzentrierte Formulierung des leitenden Motivs: »Ja, das ist schlechterdings so wahrhaft, dass auch nicht einmal gedacht werden kann, es sei nicht. Denn man kann denken, dass etwas sei, von dem man nicht denken kann, es sei nicht; das [jedoch] ist größer als dasjenige, von dem man denken kann, es sei nicht. Wenn man deshalb von dem, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, denken kann, es sei nicht, dann ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann; das [aber] kann nicht zusammenstimmen. So also ist wahrhaft etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, derart, dass man nicht einmal denken kann, es sei nicht. Und das bist Du, Herr, unser Gott. So wahrhaft bist Du also, Herr mein Gott, dass Du auch nicht einmal als nicht seiend gedacht werden kannst. Und das mit Recht! Könnte nämlich irgendein Geist etwas Besseres [melius] als Dich denken, so würde sich das Geschöpf über den Schöpfer erheben und über den Schöpfer urteilen, was sehr widersinnig ist. Von allem anderen außer Dir lässt sich allerdings denken, es sei nicht. Deshalb hast Du allein am wahrsten von allem und daher am meisten das Sein, weil alles, was es sonst gibt, das Sein nicht derart wahrhaft und deshalb weniger hat. Warum also sprach der Tor in seinem Herzen: Es ist kein Gott? Wo es doch für den vernünftigen Geist so auf der Hand liegt, dass Du am meisten von allem bist [maxime omnium esse]? Warum, wenn nicht deshalb, weil er töricht und unwissend ist?« (Anselm von Canterbury 2005, 25).
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nichts Größeres [d. i. Vollkommeneres, Seinsmächtigeres] gedacht werden kann«, kann dann – als solches »ens realissimum« 185 – eben nicht nur in unserem Denken (»in solo intellectu«) sein, sondern muss auch »wirklich« (»in re«) ebendeshalb sein, weil andernfalls doch noch Vollkommeneres gedacht werden könnte – nämlich ein solches, das eben nicht »nur im Denken«, sondern auch »in der Wirklichkeit« ist. Daraus folgert Anselm, dass das Nicht-Sein Gottes gar nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann: Gott als dasjenige (»aliquid«) zu denken, »vollkommener als das nichts gedacht werden kann« (»quo nihil melius cogitari potest«), impliziere demnach – und dies treffe eben doch allein auf den Begriff des »Absoluten« zu –, »dass also nicht einmal gedacht werden kann, dass es nicht existiert«, weshalb aus solcher »Nichtdenkbarkeit« implizit die Notwendigkeit der Existenz Gottes aufweisbar sei. Schon hier erweist sich als die eigentliche Pointe dieser Argumentation ebendies, dass die darin zutage tretende untrennbare Einheit von »Wesen und Dasein« ausschließlich für das »Absolute« gilt, während für das Verständnis alles anderen Wirklichen, in seiner Verfassung als »Kontingent-Endliches«, eben gerade die Trennbarkeit von »Idee und Existenz« gelten müsse – weshalb Anselm ja auch ausdrücklich betont: »Mit Ausnahme deiner selbst kann deshalb alles, was sonst noch existiert, als nicht existierend gedacht werden« – weil der Gottesbegriff auf dasjenige Absolute abzielt, »für das die Trennung zwischen Essenz und Existenz nicht zu denken ist«. Anselms Argument zielt hier offensichtlich dahin: Während welthaft-kontingent Seiendes eben dadurch ausgezeichnet ist, dass in ihm »Idee und Existenz« unterschieden und auch gedanklich getrennt werden müssen, kann das in dem »quo maius cogitari non postest« Gedachte (eben als der »einzige Begriff, zu dessen Inhalt die Bestimmung des Seins in der Wirklichkeit gehört« 186) »nicht anders denn als ohne Anfang und Ende gedacht werden«, denn: »Jenes …, in dem weder Anfang noch Ende« ist, »kann allein nicht als nicht seiend gedacht werden« (4. Antwort) 187. Ein naheliegender Einwand gegen jenes Ar185 »Real« meint hier aber nicht einfach »wirklich« im Sinne von »existierend«, sondern die in einem Begriff eines Seienden zu denkende »Sachhaltigkeit« (»realitas«) (z. B. die im Begriff des Dreiecks liegende Winkelsumme). 186 Röd 1992, 87. 187 So Anselm v. Canterbury in seiner 1. Antwort an Gaunilo (2005, 93): »Denn das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, kann nicht anders denn ohne Anfang gedacht werden. Alles aber, was man als seiend denken kann und was nicht ist,
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gument Anselms, dass in dem Gedanken von Gott als dem »vollkommensten Wesen« auch der Gedanke seiner Existenz notwendigerweise schon mitenthalten sei, ließ freilich nicht lange auf sich warten: Denn, so der naheliegende Einwand, dies besage doch mitnichten, dass »aus dem Gedanken von Gott als dem vollkommensten Wesen« tatsächlich die »wirkliche Existenz« folge. 188 Dawkins hätte sich Anselms Kernanliegen unschwer auch aus dessen Antwort auf die Einwände seines Mitbruders Gaunilo vergegenwärtigen können. Darin sieht sich Anselm gegenüber Gaunilos missglücktem (jedoch berühmt gewordenen) Insel-Beispiel 189 – das kann als durch einen Anfang seiend gedacht werden. Also kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht als seiend gedacht werden und nicht sein. Wenn es also als seiend gedacht werden kann, dann ist es mit Notwendigkeit.« 188 Schon von Thomas v. Aquin an wurde dieser »logische Einwand« in zahlreichen Variationen immer wieder geltend gemacht – und doch ist es bei Kant ein anderes Bedenken, das im Vordergrund steht. 189 Für philosophisch weniger versierte Leser sei darauf hingewiesen, dass Gaunilo – der ja nicht nur »Zeitgenosse« (Gotteswahn 117), sondern Mitbruder Anselms im Orden war – seinem Zweifel über den Sinn jenes »quo maius cogitari non potest« (»vollkommener als das nichts gedacht werden kann«) und über die daran geknüpften Ansprüche auch in dem berühmt gewordenen Insel-Beispiel Ausdruck gegeben hat: »So z. B. sagen einige, irgendwo im Ozean gebe es eine Insel, die wegen der Schwierigkeiten oder besser der Unmöglichkeit zu finden, was nicht ist, von verschiedenen den Beinamen ›die verschwundene‹ bekommen hat; sie erzählen, dass sie, weit mehr, als man von den Inseln der Glückseligen berichtet, unvergleichlich reich an Gütern und Prunk sei, niemand gehöre, von niemand bewohnt sind, durch Überfülle an Besitztümern allenthalben übertreffe. Dass dies so sei, mag mir jemand sagen, und ich werde das Erzählte, was keine Schwierigkeit enthält, leicht verstehen. Wenn er aber dann hinzufügt – so als ergäbe sich dies – und sagt: Du kannst diese Insel, die vortrefflicher ist als alle Länder und von der du annimmst, dass sie auch in deinem Verstande ist, irgendwo wahrhaft in Wirklichkeit sei; und weil es vortrefflicher ist, nicht im Verstande allein, sondern auch in Wirklichkeit zu sein, so ist es notwendig, dass sie so sei; wäre sie nämlich nicht, dann wäre jedes andere Land, das wirklich ist, vortrefflicher als sie, und so wäre sie, die von dir als die vortrefflichere begriffen worden ist, nicht die vortrefflichere; wenn er, so sage ich, mir hierdurch versichern wollte, es sei nicht mehr weiter daran zu zweifeln, dass jene Insel in Wirklichkeit sei, so würde ich glauben, entweder er scherze oder ich wüsste nicht, wen ich für dümmer ansehen sollte, mich, wenn ich ihm beipflichte, oder ihn, wenn er glaubt, mit irgendeiner Gewissheit das Wesen jener Insel erwiesen zu haben, ohne mich zuvor belehrt zu haben, dass deren Vortrefflichkeit in meinem Verstande ist wie eine wahrhaft und unzweifelhaft existierende Sache und nicht so wie etwas Falsches und Ungewisses« (2005, 85 ff.). Jenseits seiner »Spielplatz-Version« hat Dawkins die Kontroverse zwischen Anselm und Gaunilo bedauerlicherweise nicht interessiert; sie verdient freilich auch dann Beachtung, wenn man, etwa der von Kant geäußerten Kritik folgend – die Dawkins allerdings völlig verkennt –, den »ontologischen Gottesbeweis« letztendlich nicht für
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ebenden spezifischen Charakter des Begriffs des »Absoluten«, in dem allein »Begriff und Existenz« untrennbar sind, verkennt – noch einmal zu der Klarstellung veranlasst: »Wenn mir jemand etwas ausfindig macht, das in Wirklichkeit oder auch nur im bloßen Denken existiert, außer dem, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann und auf das der Zusammenhang meiner Beweisführung zutreffen könnte, so werde ich die verschwundene Insel für ihn finden und sie ihm schenken als eine, die er nicht mehr verlieren wird. Es scheint doch offenkundig zu sein, dass das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht als nicht seiend gedacht werden kann, da es angesichts eines so gewissen Wahrheitsgrundes existiert. Im anderen Falle würde es nämlich gar nicht existieren. Wenn zu guter Letzt jemand sagt, er denke, es sei nicht, so antworte ich, dass er, indem er dies denkt, entweder etwas denkt, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, oder es aber nicht denkt. Denkt er es nicht, so denkt er auch nicht, dass das, was er nicht denkt, nicht sei. Denkt er es jedoch, so denkt er auf jeden Fall etwas, das nicht einmal als nicht seiend gedacht werden kann. Könnte man es nämlich als nicht seiend denken, so könnte man denken, es habe Anfang und Ende. Das aber ist unmöglich. Wer es also denkt, denkt etwas, was nicht einmal als nicht seiend gedacht werden kann. Wer dies aber denkt, denkt nicht, dass ebendies nicht sei. Andernfalls denkt er, was nicht gedacht werden kann. Also kann nicht gedacht werden, dass das, über das hinaus nicht gedacht werden kann, nicht sei«. In dieser Antwort auf »mancherlei Einwände« wiederholt bzw. erläutert Anselm offenbar noch einmal den diesem »unum argumentum« zugrunde liegenden bzw. hierfür beanspruchten Aufweis dieser Sonderstellung des Begriffs des »aliquid, quo nihil maius non cogitari potest«, sofern ebendies dessen Einzigartigkeit auszeichnet und daraus erst seinen besonderen Sinn gewinnt: Allein für diesen Begriff durchführbar hält. – Dass Gaunilo mit der ihm von Dawkins bemerkenswerterweise zugeschriebenen »reductio«-Argumentation – die ja darauf hinausläuft, »dass Gott nicht existiert« – nicht viel zu tun hat, davon kann man sich unschwer überzeugen. Zur Orientierung über den »ontologischen Gottesbeweis« bei Anselm von Canterbury (und auch seine Kontroverse mit Gaunilo) sei zunächst das von R. Theis (2005) herausgegebene und mit einem informativen Nachwort ausgestattete Reclam-Bändchen empfohlen; weiterführend sei auf W. Röd (1992) hingewiesen; bezüglich der neuzeitlichen Problemgeschichte des »ontologischen Gottesbeweises« immer noch sehr lehrreich und unverzichtbar das Standard-Werk von D. Henrich (1960), das allerdings weitreichende philosophische Vorkenntnisse voraussetzt.
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des »Absoluten« gelte also – eben im Unterschied zu allem endlich Seienden, bei dem »Idee« und »Dasein« auseinanderfallen –, dass hier der Begriff die »Existenz« des darin Gedachten einschließt. Davon ausgehend will Anselm sodann noch einmal den Kerngedanken verteidigen und erhärten: Das Vollkommenste ist das »aus sich Mächtige«, das eben keines anderen hinsichtlich seines Dass- und Soseins bedarf (und somit auch »in sich gründet«, d. h. in diesem Sinne »causa sui« ist). Das »im höchsten Sinne Seiende« (»maxime omnium esse«, »maximum et optimum«) lässt sich nur in dem Sinne bestimmen, dass mit jenem »nichts-größeres-gedacht-werden-kann« eben absolute »Seinsmächtigkeit« gemeint ist, was eben auf die »Selbständigkeit und Unabhängigkeit« – auf Nicht-Kontingenz als das nicht »Nicht-sein-Könnende« – verweist und somit dies enthält, dass es infolge seiner »Seinsmächtigkeit« ineins als »esse in intellectu« (»Sein im Denken«) und »esse in re« (»Sein der Wirklichkeit nach«) gedacht werden muss, weil doch diese Untrennbarkeit sein – und eben nur sein! – »Wesen« als »Absolutes« ausmacht (während hingegen auf alles »endlich Seiende« diese Untrennbarkeit von »Begriff und Existenz« eben gerade nicht zutreffe). Und in diesem Sinne existiere es eben »notwendig« (als »ens necessarium«) bzw. werde es infolgedessen als »causa sui« gedacht – als dasjenige, das deshalb eben durch sich selbst und aus sich selbst existiert, weil sein »quo maius cogitari non potest« in seiner als absoluten »Seinsmächtigkeit« als »a se«, als »per se ipsum« begründet ist.
2.5.1 Der von Dawkins diagnostizierte angebliche »Nerv« des »ontologischen Argumentes« – oder: Weshalb er auch Kants Kritik des »ontologischen Gottesbeweises« völlig verfehlt Indes, erst recht mit Anselms geduldiger Erwiderung auf Gaunilo hält sich Dawkins nicht lange auf. Die seither mit diesem »argumentum a priori« einhergehenden logischen erkenntnistheoretischen und ontologischen Erwägungen und Bedenken erledigt er mit seinem abgründigen Zweifel über die angebliche – allerdings ohnehin von niemandem außer ihm selbst vertretene! – Doktrin, »Existenz sei ein Zeichen [!] für Vollkommenheit« 190. Und so, als ob nicht schon diese 190 In der englischen Ausgabe ist von »the slippery use of existence as an indicator [!] of perfection« (God-Delusion 84) die Rede.
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kuriose Behauptung als hinreichendes Indiz dafür ausreichte, dass er den philosophischen Anspruch des ontologischen Argumentes nicht verstanden hat, hält Dawkins für seine Leserschaft – gleichsam als intellektuelle Zugabe – noch eine originell-schöpferische Umformulierung des ontologischen Argumentes bereit: Dank einer solchen »Umformulierung« lasse sich, so Dawkins, wohl ebenso beweisen, dass es offenbar zur Vollkommenheit von Schweinen gehört, »fliegen zu können« 191 – ein vermutlich wiederum nicht ganz so scharfsinniges, sondern eher Lacherfolg-heischendes Zoologie-nahes Argument, das den Nerv des ontologischen Gottesbeweises (so wie seine Spielplatz-Version desselben) wohl nicht bloß um ein Geringes verfehlt und sein bezüglich der Prüfung der Gottesbeweise beteuertes »Pflichtbewusstsein« wohl erneut sanften Zweifeln aussetzt. Mit seinem »Schweine-Argument« hat Dawkins seinem zunächst geäußerten entlarvenden Befund, dass die Struktur des »ontologischen Gottesbeweises« letztendlich doch darauf hinauslaufe, dass »ein existierendes Haus vollkommener« sei, noch eine unerhoffte, kaum für möglich gehaltene Steigerung verpasst, die wiederum seine ungehemmte Phantasie eindrucksvoll bezeugt – und gewiss die Auszeichnung als ein »Sonder-Mem« verdient! Nur zu verständlich, dass er über die – freilich allein von ihm selbst aufgeworfene – Frage in Ratlosigkeit verfällt: »aber was soll es bedeuten, wenn man sagt, es sei ein besseres Haus, wenn es existiert, und ein schlechteres, wenn es nicht existiert?« (Gotteswahn 117). Die wenig überraschende Antwort kann in der Tat nur lauten: nichts. Durch einen Blick in die 191 Den Dawkins’schen Beispielen angemessen, sei dies erläutert: Das »Fliegenkönnen« gehört jedoch (jedenfalls nach den in Kontinentaleuropa gängigen Lehrbüchern der »Schweinekunde«) bekanntlich nicht zum »artgemäßen« Plansoll von Schweinen (und insofern auch nicht zu ihren »Vollkommenheiten«), ebenso wenig das ihnen offenbar auch »fehlende« Staunen über die »verborgenen Tiefen der Welt« – jedenfalls in der bisherigen Naturgeschichte bzw. auf diesem Planeten. Ungeachtet seiner zu Bescheidenheit mahnenden Aufforderung an den Menschen, vom »heiligen Sockel« seiner vermeintlichen Sonderstellung gefälligst herabzusteigen, besteigt Dawkins ihn unbedachterweise erneut selbst: Wird er es doch kaum als einen besonderen Mangel, gewissermaßen als »artgemäßes Handicap«, der Schweine ansehen, dass diese die erhebende Erfahrung des Staunens über die »Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind« (Gotteswahn 32), mit ihm nicht zu teilen vermögen; indes, wer solche »Erfahrungen« für sich reklamiert und dies hingegen den »armen Schweinen« vorenthält, erhebt sich offensichtlich stillschweigend über diese: »Arme Schweine«, offenbar akuter »Enhancement«-Bedarf …
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Geschichte des »ontologischen Gottesbeweises« wird sich Dawkins’ Ratlosigkeit jedenfalls kaum mildern lassen – und man könnte wohl leicht vermuten, dass jene Frage eher seine eigene Spielplatz-erprobte Humorbegabung beweisen soll. Also bloß »einen Jux wollt’ er sich machen?« – doch leider muss die Antwort eindeutig lauten: mitnichten! Obwohl es gewiss nicht leicht fällt – man muss in der Tat davon ausgehen, dass Dawkins’ Erörterung und Kritik des »ontologischen Gottesbeweises« wohl ganz ernst gemeint war und er auch dies als einen gelungenen Beitrag zu seinem lobenswerten Vorhaben einschätzt, »die positiven Argumente für den Glauben abzuhaken, die im Laufe der Geschichte genannt wurden« (Gotteswahn 106 f.), um auch dadurch – »ex professo« – das »öffentliche Verständnis der Wissenschaften« zu fördern. Doch wie auch immer – jedenfalls sieht man, wozu solche sich selbst überlassene, frei flottierende und zuletzt doch zu »Memen« verfestigte »Ausdrucksformen des Gehirns« und deren Verbreitung in der Lage sind; und es spricht alles dafür, dass sie sich wohl besonders komplexen neuronalen Verflechtungen verdanken. »Die Schönheit«, so haben wir als Kostprobe aus Dawkins’ metaphysischer »Ästhetik« erfahren, sei also »deshalb so schön, … weil sie wirklich existiert und weil wir verstehen, wie sie funktioniert« (Zauber 29) – und das »Haus, das existiert, ist vollkommener als dasjenige, das nicht existiert«, so lässt er, als Ausleger des »ontologischen Gottesbeweises«, die Leserschaft wissen und hält diesbezüglich auch mit seiner nur allzu verständlichen metaphysischen Ratlosigkeit nicht zurück. Doch schon diese von Dawkins benannten – in der langen Geschichte der »Ästhetik« bzw. der Interpretion des »ontologischen Argumentes« bislang noch verborgenen – Problemaspekte erschließen auf höchst originelle Weise metaphysische Dimensionen und Fragen, für die gewiss ganz besondere »Ausdrucksformen des Geistes« und evolutionär bedingte Mem-Begabungen verantwortlich bzw. vorausgesetzt sind. Schon der Umstand, dass Dawkins sich bemüßigt fühlt, Kant die Entlarvung des »Tricks« zuzugestehen, legt freilich die Klarstellung nahe: Dawkins verfehlt auch das kritische Anliegen Kants völlig, wenn er dessen »definitive Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises« kurioserweise in der ihm zugeschriebenen Widerlegung der »fragwürdigen Annahme« erkennen will, »Existenz sei vollkommener als Nichtexistenz« (Gotteswahn 116) – ein wahrer, bislang ebenfalls unerreichter Spitzensatz in der so langen und verschlungenen Auslegungsgeschichte des »ontologischen Argumentes«, der in 523 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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der Philosophiegeschichte in dauerhafter Mem-Gestalt auch seinen sicheren Platz finden wird! Sollte eine besondere Erklärung darüber notwendig sein, dass weder im »Begriff« des Hauses noch in demjenigen des Schweins deren Existenz impliziert ist? Das ist freilich weder die angeblich von Anselm verwendete »Trickkarte«, noch ist dies, wie Dawkins allerdings originellerweise einräumen möchte, der Kritikpunkt, auf den die kantische Kritik sich bezogen hat. Die großzügige Absicht Dawkins’, Kant das Verdienst zuzubilligen, diese Annahme (wenigstens in hellen Momenten der moralischen Aufrichtigkeit) als »Trick« entlarvt zu haben, ist nicht einmal mehr lächerlich – wo findet sich denn dieses angebliche kritische Argument Kants? –; eine solche Unterstellung verkennt nicht allein seine diesbezügliche grundsätzliche Kritik, sondern beleidigt wohl auch die philosophische Bildung mancher seiner Leser, denen er, mit generösem Gestus, schier unglaublichen Nonsens zumuten will: Kants tatsächlicher Einwand, dass »Dasein« zwar ein »logisches«, aber kein »reales« (d. h. »sachhaltiges«) Prädikat ist (und so dem eigentlichen Sachgehalt [»realitas«] eines Begriffs als bloße »Position« [»Setzung«] eben gar nichts »hinzufügt«: das hatte man längst vor Kant durchschaut!), weist jedoch in eine ganz andere Richtung. Dawkins verfehlt geradewegs den eigentlichen »Nerv« der kantischen Kritik am ontologischen Gottesbeweis; dieser »Nerv« des kantischen Einwandes gegen das »ontologische Argument«, der nun vielmehr auf die inhaltliche Nicht-Bestimmbarkeit des Begriffs des »absolut notwendigen Wesens« abzielt (s. o. III., 2.2.1), bleibt von Dawkins schon deshalb völlig verkannt, 192 weil die Pointe des kantischen Kerneinwandes sich doch primär auf den Begriff des »absolut notwendigen Wesens« bzw. auf die (im »ontologischen Gottesbeweis« ignorierten) Beschränkung der Gültigkeit 192 Kants These, dass »Sein offenbar kein reales [sondern eben nur ein logisches] Prädikat« ist, besagt lediglich, dass es kein »Begriff von irgend etwas« sei, »was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne« (Kant II 533); mit der angeblich Kant zuzuschreiben Entlarvung der trickreichen Annahme, »›Existenz‹ sei vollkommener als ›Nichtexistenz‹« (Gotteswahn 116), hat dies allerdings gar nichts zu tun, wie auch Kant seinen Hörern verdeutlichte: »Aber dadurch, dass ein Ding ist, wird dieses Ding an und für sich nicht vollkommener; es enthält dadurch kein neues Prädikat, sondern wird vielmehr auf solche Art mit allen seinen Prädikaten gesetzt. Das Ding war in meinem Begriff, da ich es mir als bloß möglich dachte, schon eben so vollständig, als es nachher war, da es wirklich wurde; denn sonst wäre es ja nicht dasselbe, was ich mir gedacht hatte, sondern es würde mehr existieren, als in dem Begriff vom Gegenstande lag, wenn die Existenz eine besondere Realität in dem Dinge wäre« (AA XXVIII.2.2, 1176).
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
(auch) der sogenannten Modalitätskategorien (»Möglichkeit«, »Wirklichkeit«, »Notwendigkeit«) bezieht, von denen ebenfalls nur ein »immanenter Gebrauch« erlaubt sei. Das Kernproblem des »ontologischen Gottesbeweises« ist ihm zufolge vorrangig – auch dies bleibt von Dawkins gänzlich unberücksichtigt –, dass die Idee Gottes als »absolut notwendiges Wesen« für uns »unerreichbar« bleibt, d. h. nach Kant näherhin: keine inhaltliche Bestimmung erlaubt, sich ebendeshalb als »Abgrund der menschlichen Vernunft« erweist, der gleichwohl als »Grenzbegriff« unverzichtbar bleibt – ein solcher eben, dessen man sich »nicht erwehren, … ihn aber auch nicht ertragen« kann (s. o. III., 2.2.1) 193, weil das Denken gewissermaßen notwendig darauf »hingezogen« wird und dennoch diesen Begriff nicht in Bestimmtheit zu denken vermag … Erneut bestätigt sich: Statt seine nur allzu verständliche Ratlosigkeit über diese von ihm selbst erfundene, d. h. seiner eigenen Phanatasie entsprungene Version des »ontologischen Arguments« naheliegenderweise durch eine gründlichere Beschäftigung mit dieser Thematik zu mildern, gefällt Dawkins sich hingegen als Erfinder von »Spielplatz-Geschichten« zum Gaudium einer unbedarften Anhängerschaft, was in diesem Fall erstaunlicherweise auch dem von ihm bekundeten »Drang zur Wahrheitssuche« und seinem »Pflichtgefühl« durchaus schon zu genügen scheint. Statt kritischer Information und Analyse erneut eine »gute Portion Humor« (Gotteswahn 524) als Stärkung bzw. Belohnung für bekehrungswillige »brights«? 194 Ob sich diese Spielplatz-erprobten »Meme« gegen andere »Meme« im Kampf ums Überleben jedoch dauerhaft durchsetzen werden? Die reine »Wahrheitssuche«, das von Dawkins beteuerte reine Interesse an der Wahrheit, war es jedenfalls auch hier nicht, das ihn beflügelt; offenbar wurde es von Memen anderer Art verdrängt – war es womöglich einfach der Spott-Bedarf, der jenen unstillbaren – PflichtKant II 543. Mit besonderem Blick auf Wien sei die Anregung erlaubt, Dawkins’ Darlegung und Kritik der Gottesbeweise in das Programm des Wiener Wissenschaftkabaretts »science busters« aufzunehmen, denn – so lautet dessen Selbstbeschreibung: »Die Science Busters versuchen, Wissenschaft mit Humor für eine breite Öffentlichkeit zu kommunizieren« – und für ein ganzes Programm reichen Dawkins’ einschlägige Vorstellungen allemal; vielleicht in Fortsetzung des von diesem Kabarett schon einmal gezeigten Aufklärungs-Programms: »Wer nichts weiß, muss alles glauben«, das sich ja ganz in der Nähe der Losung der Dawkins-Stiftung platziert: »Mehr Vernunft und weniger Glauben«. 193 194
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
geleiteten – Erkenntnisdrang heimlich untergräbt? Es sind nicht einmal schlechte Karikaturen, die Dawkins’ Umgang mit diesem Thema »Gottesbeweise« seiner Leserschaft zumutet. Was Dawkins daran hinderte, sich auch nur einigermaßen über die philosophischen Motive und Argumente, die den traditionellen Gottesbeweisen zugrunde liegen, zu informieren, kann wiederum nur vermutet werden. Jedenfalls kann man mit Blick auf seine Behandlung des Themas »Gottesbeweise« bilanzieren: Das weite und dichte traditionelle Themenfeld »Gottesbeweise« hat in Dawkins’ Mem-Haushalt (bzw. in seinem »Gehirn«) bislang noch keine Aufnahme gefunden bzw. wurde dies von ihm durch fantastische Neugebilde ersetzt – zweifellos eine erneut beeindruckende Kostprobe vom Selbstverständnis und von den psychischen Dispositionen des Autors, die der Leserschaft dementsprechend auch seltsame Früchte beschert. Erneut besticht vor allem auch die Selbstverständlichkeit und hemmungslose Selbstsicherheit, mit der Dawkins durch solche kaum überbietbaren Unsinnigkeiten seine – wohl an intellektueller Ernsthaftigkeit orientierte – Leserschaft für seine Polemik gewinnen und »bekehren« will. Was würde wohl Dawkins zu vergleichbaren – auch nur annäherungsweise unsinnigen und fahrlässigen – Stellungnahmen im Umgang mit Kernthemen der Evolutionstheorie sagen? Nach der Lektüre und Prüfung seiner Auseinandersetzungen mit der Gottesthematik – und unter dem Eindruck seiner raffinierten suggestiven Strategien und Problemverzerrungen – weiß man nun wohl genauer, was man sich unter der von ihm intendierten »Bewusstseinserweiterung«, seinem Ziel, »das Bewusstsein zu schärfen« (Gotteswahn 14), und seiner »pflichtbewussten« Prüfung der Gottesbeweise näherhin vorzustellen hat – und nicht zuletzt auch, was von seiner Klage zu halten ist, dass »Zitate aus [s]einen Büchern absichtlich und irreführend aus dem Zusammenhang gerissen« (Gotteswahn 17) werden. Nicht zuletzt liegt es auch mit Blick auf Dawkins’ Umgang mit diesem Thema »ontologischer Gottesbeweis« nahe, ein berühmtes Diktum zu variieren: Was er den »Gotteswahn« heißt, ist im Grunde Dawkins’ eigner Wahn.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
2.6 Anhang: Weitere hermeneutische Kostbarkeiten aus Dawkins’ phantasievollem »Mem«-Repertoire – und seine »einzig vernünftige Antwort« auf theologische Lehrstücke Abschließend seien noch andere erhellende Stellungnahmen Dawkins’ zu von ihm berührten theologischen Themenfeldern angeführt. Auch sie bestätigen eindrucksvoll, was man sich unter der von ihm beanspruchten kritischen Auseinandersetzung mit einschlägigen Sachthemen vorzustellen hat, die allesamt in engem Bezug zum Christentum stehen. Dies ist angesichts seiner Versicherung umso aufschlussreicher, dass die in seinem »Gotteswahn« vorgetragene Kritik vornehmlich auf die christliche Religion abzielt – einfach deshalb, weil ihm »diese Version zufällig am vertrautesten [!] ist« (Gotteswahn 54). Was man sich unter dieser beanspruchten »Vertrautheit« näherhin vorzustellen hat bzw. dass dieser Anspruch auf einer höchst bemerkenswerten – gleichermaßen maßlosen wie auch kuriosen – Selbstein-, besser: Überschätzung Dawkins’ beruht, dies belegen ebenso die nach seinem »Gotteswahn« erschienenen Bücher in eindrucksvoller Weise. Die von ihm selbst angesprochenen theologischen Themenfelder »Offenbarung«, »Dreifaltigkeit« und »Wunder« dürfen ebenfalls als besonders gelungene »Glanzstücke« seines Zuganges zu theologischen Sachthemen angesehen werden, die nachdrücklich vor Augen führen, wie es um seine »Vertrautheit« mit diesen Themen bestellt ist – vor allem aber auch um seine Bereitschaft, sich wenigstens theologisches Basiswissen über diese von ihm in polemischer Absicht angesprochenen einschlägigen Themen anzueignen. Die genannten Themen mögen dies abschließend nochmals verdeutlichen: Wer über die »Leere der Theologie« spotten will, sollte sich wohl vorher über die »Lehre der Theologie« wenigstens einigermaßen informieren. Dass Dawkins schon die Bereitschaft dazu völlig vermissen lässt (obwohl er unerklärlicherweise glaubt, sich dazu äußern zu müssen), soll mit Bezug auf einige zentrale Themen der christlichen Theologie abschließend noch vor Augen geführt werden und so erneut die zeitlose Aktualität der sokratischen Frage bestätigen: »Wie? Scheint es dir denn in der Ordnung, wie ein Wissender über Dinge zu reden, über die man nichts weiß?« (Platon, Der Staat, 506c)
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2.6.1 Anmerkung 1: Dawkins’ Verständnis von »Offenbarung« gemäß seinem »Sender-Empfänger-Signal«-Modell – eine »Offenbarung« besonderer Art Dawkins’ besondere Begabung für gleichermaßen humorvolle wie auch phanatasiereich-gespenstische Vorstellungen demonstriert auch sein eigentümliches Offenbarungsverständnis und die darin zutage tretende in der Tat beeindruckende Unbekümmertheit, sich über diese von ihm selbst gewählten Themen sogar ohne elementare Kenntnisse mit kaum überbietbarer Polemik zu äußern 195 – womöglich eine besondere Frucht jenes »atheistischen Stolzes«. Unschwer hätte sich Dawkins wohl auch in den Bibliotheken Oxfords oder bei seinen theologischen Kollegen darüber informieren können, dass der theologisch verstandene Offenbarungs-Begriff gewiss gar nichts mit gespenstischen Einflüsterungen aus einem kosmischen Jenseits zu tun hat; ebendies wird allerdings von ihm ganz ungeniert – und offenbar wiederum trickreich auf Belustigung seiner Leserschaft abzielend – behauptet. Dawkins hat hier als Offenbarungsmodell offensichtlich so etwas wie ein den Menschen beherbergendes abgedichtetes »Weltgehäuse« vor Augen, in dem dieser, in einer Art »Channeling«, von außen verschlüsselte – der privaten Deutung anheimgestellte – übernatürliche »Signale« bzw. enthüllende Botschaften empfängt. 196 195 Interessierte Leser/-innen seien, neben den allgemeinen theologischen Lexika (bes. LThK; TRE, theologische Handbücher) hingewiesen auf: M. Seckler, Der Begriff der Offenbarung (in: W. Kern/H. J. Pottmeyer/M. Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. 2. Traktat Offenbarung. Freiburg/Basel/Wien 1985. Dass hier eine Entwicklung im theologischen Verständnis von Offenbarung zu beobachten ist, in der ein eher instruktionshaftes Modell (das sich an der Übermittlung von »satzhaften Informationen« orientiert) zugunsten eines personal-sinnerschließenden Verständnisses überwunden wird, sei nur beiläufig erwähnt. 196 Wie weit Dawkins auch hier von einem Verständnis der christlichen Auffassung – näherhin von einer katholischen Auffassung – von »Offenbarung« entfernt ist, zeigt ein Blick auf das Offenbarungsverständnis des 2. Vatikanischen Konzils, wo ganz deutlich betont wird, dass Gott nur für ein vernünftiges Wesen offenbar werden kann und Gotteswort nur vermittelt durch »Menschenwort« buchstäblich »zur Sprache kommt«, d. h. diesem auch nur so »etwas zu sagen hat«: »Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart [als »echten Verfassern« (»veri auctores«)] gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Aus diesen Vorstellungen leitet Dawkins folgerichtig auch bezüglich dieser Themen – vermutlich ähnlich wie im Falle des »Gotteszentrums« – ganz entschieden die uneingeschränkte Zuständigkeit der Naturwissenschaft ab und verwehrt sich auch in diesem Fall gegen den Vorwurf einer angeblich »engstirnig-naturwissenschaftlichen Denkweise«, die diesbezüglich nicht zuständig sei: »Wenn Gott den Menschen tatsächlich etwas mitteilt, liegt diese Tatsache ganz eindeutig nicht außerhalb der Naturwissenschaft. Gott platzt aus seinem wie auch immer gearteten außerweltlichen Revier, das sein gewöhnlicher Aufenthaltsort ist, in unsere Welt, wo seine Mitteilungen von menschlichen Gehirnen aufgenommen werden können – und dieses Phänomen soll nichts mit Wissenschaft zu tun haben? Und zweitens: Ein Gott, der an Millionen Menschen zur gleichen Zeit verständliche Signale sendet und von allen gleichzeitig Signale empfängt, kann bei allen Eigenschaften, die er sonst noch besitzt, nicht einfach sein.« (Gotteswahn 217). 197 Man sieht: Dawkins’ Phantasiereicher Zugang zu diesem Thema bevorzugt hier offenbar eine Art »Käfig-Modell« der Offenbarung, wonach irgendwelche geheimen Botschaften, Verlautbarungen und Zeichen für dafür geeignete, d. h. entschlüsselungskundige Empfänger-Gehirne eindringen: Eine womöglich tröpfchenweise dosierte bzw. verabreichte Mitteilung von außerirdischen Eingebungen, die »virusartig« irgendwie in die Gehirne einsickern und als göttliche Anweisungen, Doktrinen, Dekrete, Beschlüsse und Geheimnisse ausgelegt werden – und sodann, als codierte Jenseits-Botschaften eingenistet, nur schwer heilbare Mem-ViTexten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren« (Offenbarungskonstitution »Dei verbum«). 197 Der drastische Kommentar von T. Eagleton (2006) in seiner Dawkins-Rezension ist durchaus nicht unbegründet: »Dawkins spricht spöttisch von einem persönlichen Gott, als ob völlig klar wäre, was das nun genau bedeuten könnte. Wenn schon nicht unbedingt als Alten mit weißem Bart, so scheint er sich Gott doch als einen Kerl vorzustellen, wenn auch in Übergröße. Er fragt sich, wie dieser Typ zu Milliarden von Menschen gleichzeitig sprechen kann, was mit der erstaunten Frage zu vergleichen wäre, warum Tony Blair nur zwei Arme hat, wenn er doch ein Krake ist.«
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
ren verursachen. 198 Dass die Quelle, aus der Dawkins diese Vorstellung einer »Offenbarung« als einer gleichzeitigen Aussendung von Signalen an »Millionen menschlicher Gehirne« bezieht, wohl am ehesten seine eigene Phantasie ist, ist sehr wahrscheinlich – jedenfalls ist auch ein solches Offenbarungs-(Un)verständnis sehr eng mit seiner »Memtheorie« und jenem leitenden Modell einer Übertragung und unheilvollen Einnistung in für »geistige Viren« dieser Art empfänglichen Gehirnen verwandt … Gegenüber diesem merkwürdigen Sender-Signale-Modell und den damit verbundenen abenteuerlichen »Revier«- bzw. GehäuseModell der Offenbarung, das wohl als eine neuerliche Kostprobe für Dawkins’ uneingeschränkte Wahrheitssuche besonders gewürdigt zu werden verdient, darf hier lediglich darauf hingewiesen werden: Es ist ein religionsgeschichtlich seit der Antike (nicht nur im biblischen Kontext) bekanntes Phänomen, dass das Göttliche als sich in besonderen Ereignissen, persönlichen Widerfahrnissen bzw. Erlebnissen kundtuende »Macht« von Menschen als »real« erfahren und gedeutet wurde. Im biblischen Kontext ist in vielfältigen Weisen von solchen Widerfahrnissen einer anrufend-erschütternden bzw. einer zusprechenden, d. h. befreiend-rettenden, aber auch ins »Herz sehenden« und richtenden lebensbestimmenden, d. h. die ganze Lebensführung des Menschen angehenden Macht die Rede, in denen mitunter das Los und Heil des Menschen, des Volkes und der Menschheit im Ganzen auf dem Spiel steht; dies ist in biblischem Kontext auch in besonderer Weise in der Entwicklung vom Götterglauben zum Glauben an Jahwe bzw. auch in den je geschichtlich konkreten Deutungen der Selbstbekundung Gottes im alten Testament von den Vätern 199 über Moses bis hin zu den Propheten zu verfolgen, worin Offenbarung als 198 Nicht ganz so phantasiereich, aber offenbar auf derselben Linie hat der Dawkins’ Denkart in vielen Bezügen verwandte Philosoph H. Albert betont, dass die Theologie der Offenbarungsreligionen »den Sinn des Geschehens aus Zeichen zu erschließen sucht, die von göttlichen Mächten gegeben werden«, um darin »Äußerungen von göttlichen Mächten zu finden, »die einen Schluss auf ihr Wirken und auf ihren Willen zulassen« (Albert 1982, 95 f.). 199 In diesem Zusammenhang wäre auch das von Dawkins völlig verkannte Motiv des Isaak-Opfers zu verstehen; es ist die Ablehnung bzw. Überwindung der in der kulturellen Umgebung Israels üblichen Menschenopfers und die zunehmende Überwindung des Opfer-Gedankens überhaupt als eine religiöse Kulthandlung; an die Stelle des kultischen Opfers und damit verbundene religiöse Praktiken tritt die zunehmende »Ethisierung« des Verhältnisses des Menschen zu Gott, der nicht Opfer will und Brandopfer verabscheut, sondern »das Herz sucht« – bis hin zu Jesu Kritik am Opfer-
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
geschichtlich ergehender »Selbsterweis« Gottes in theologischer Interpretation gedeutet und verstanden wird. In solchen lebensgeschichtlichen Erfahrungen (bzw. in deren Deutung) geht es also nicht um eine dem Menschen bloß fremd-äußerliche Angelegenheit und entsprechende wohldosierte »Informationen« von »satzhaften Wahrheiten«, sondern um die Lebenssituation des Menschen als Individuum und als Glied des Volkes selbst – um Widerfahrnisse und Schicksale, worin Menschen ihre ganze Existenz und Lebensführung deuten, sie gleichsam »mit neuen Augen sehen lernen« und dies auch in ihrer Lebensführung bewähren. »Offenbar« wird darin die erfahrene und gedeutete – heil- und unheilvolle – Lebenssituation des Menschen bzw. die »heilende« Absicht eines Göttlichen, also in Bezug auf die bestimmende Lebenswirklichkeit der Menschen (als des ganzen Volkes bzw. der Individuen). Darauf bzw. auf die geschichtliche Entwicklung sowie den inneren Zusammenhang solcher Erfahrungen, in denen sich ein verwandeltes, Handlungs-orientierendes Selbst-, Welt-, Geschichts- und Gottesverständnis entwickelt bzw. manifestiert, reflektiert sodann eine nachträgliche – eben religionsgeschichtlich bzw. theologisch orientierte – Thematisierung der »Geschichtlichkeit der Offenbarung« anhand der religions- bzw. kulturgeschichtlichen Zeugnisse bzw. Texte. Dabei vermag sie zu verdeutlichen, dass Menschenwelt und Götterwelt (als das, was den Menschen unbedingt angeht, bzw. als die alles bestimmende Wirklichkeit, nicht zuletzt als »Heil«- und »Unheil«-wirkende Mächte) unzertrennlich – buchstäblich »konkret« – unauflöslich miteinander verbunden sind und das sich wandelnde Selbstbild des Menschen und ihre »Götterbilder« entsprechen, d. h. unauflöslich aneinander verbunden sind – was natürlich auch »religionskritisch« ausgelegt werden kann, aber nicht unbedingt so ausgelegt werden muss. Es ist dieser geschichtlich konkrete und unauflösliche Zusammenhang bzw. die kontinuierliche Entwicklung der »Menschen- und der Götterwelt«, die sich als solche in der geschichtlichen Konkretheit des »religiösen Bewusstseins« manifestiert 200 und die geschichtliche Daseinssituation des Einzelnen und des Volkes bzw. der Menschheit »enthüllt«. Allein in solcher Konkretheit kann ja bzw. Tempelkult als Götzendienst, die bekanntlich zuletzt zu seiner Festnahme und zu seinem Tod geführt hat. 200 Zu den daraus abgeleiteten notwendigen Differenzierungen des Offenbarungsbegriffs s. Seckler 1985.
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
auch ein »Göttliches« in je bestimmten geschichtlichen Verstehenshorizonten vernehmbar werden und als die »alles bestimmende« Wirklichkeit für die Lebensführung und -deutung bedeutsam sein; andernfalls wäre das religiöse Bewusstsein leer bzw. buchstäblich »abstrakt«; entsprechend dazu müsste »Gott« zu einem ungeschichtlichen gedanklichen Abstraktum verblassen. Auch damit ist nochmals der für das Verständnis von »geschichtlicher Offenbarung« bedeutsame Sachverhalt benannt, dass menschliches Selbstverständnis und Gottesverständnis in unauflöslicher Korrelation stehen, d. h. sich »dergestalt« in der geschichtlichen Wirklichkeit des religiösen Bewusstseins »durcheinander« – auch in diesem Sinne »konkret« – entfalten und sich erst in solchem geschichtlichen Prozess auch der Sinn des mit dem »Göttlichen« Gemeinten für den Menschen – für sein Selbst- und Weltverständnis – enthüllt und allein so lebensdeutenden und lebensbedeutenden Sinn gewinnt. Derart werden diese freilich stets gedeuteten geschichtlichen Bekundungen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang auch als Einheit und prozesshaftes Ganzes begreifbar, besser: auslegbar, worin Gott als lebensbestimmende Wirklichkeit und als Herr der Geschichte, als »Macht des Heiles und des Unheiles«, sowie das menschliche Verhältnis zu ihm »offenbar« wird. So wird in jener unauflöslichen Korrelation zwischen »Götter- und Menschenwelt« auch eine Entwicklung und ein »Fortschreiten« sichtbar, das in der nach-denkenden religionsgeschichtlichen bzw. philosophischen Reflexion rekonstruiert wird – näherhin als Explikation jener geschichtlich realen Korrelation, die dergestalt als geschichtlicher Prozess am Leitfaden der Religionsgeschichte begreifbar wird. Mit dem Aussenden von Signalen, dem Lüften von Geheimnissen und dem Einflüstern von Informationen und Instruktionen hat all dies allerdings nur in Phantasie-gespeisten Mem-Beständen zu tun. Nur beiläufig sei angemerkt: Nur unter der unausgewiesenen Voraussetzung der »Nicht-Existenz Gottes« lassen sich diese skizzierten Zusammenhänge und die darin thematisierte geschichtliche Konkretheit des religiösen Bewusstseins von vornherein religionskritisch entlarven. Umgekehrt ist damit allerdings auch gesagt, dass der »Gottesglaube« für ein kritisches aufgeklärtes Bewusstsein jedoch keineswegs durch die Berufung auf geschehene »Offenbarung« begründet bzw. legitimiert werden kann – auch dies kann man übrigens immer noch von Kant lernen … Existenzielle Erfahrungen, die seinen deutenden Weltumgang insgesamt sowie sein Selbstverständnis betreffen und sich somit auch 532 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
nicht in der Erfahrung von »Überlebensmaschinen« erschöpfen, sind das Vorrecht des denkenden Menschen. Darin wurzeln dann auch seine Fragen nach sich selbst, nach dem Sinn seiner Existenz (»Wer bin ich?«) und somit nach dem, was ihn unbedingt angeht (und nicht nur für sich reproduzierende »Überlebensmaschinen« »auf dem Spiel steht«), weil doch nur Vernunft in uns erfahrene »Vernünftigkeit« vernehmbar und offenbar machen kann. Steine, Pflanzen, Tiere – wohl auch die von Dawkins beispielhaft favorisierten Schweine – sind, ganz ohne Diskriminierung, auch jenes »Gefühls des ehrfürchtigen Staunens«, der »erhabensten Erlebnisse, deren die menschliche Seele fähig ist«, unfähig; ebenso fehlt ihnen offenbar das von Dawkins selbst geltend gemachte Bewusstsein der »Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind« (Gotteswahn 32), und somit auch der Gedanke eines »Unbedingten«, Transzendenten, Göttlichen. Für Steine, Pflanzen, Tiere vermag sich weder eine »tiefste Vernunft« und »leuchtendste Schönheit« zu »manifestieren« noch ein »Göttliches« sich zu »offenbaren«. Damit ist also gesagt: Offenbarung wird vernehmbar nur im konkreten Bezug auf die moralischen und existenziell belangvollen Sinnfragen des Menschen, weil nur so Sinn offenbarendes Geschehen »zur Sprache kommt« und auch Menschen als sie selbst buchstäblich »angeht«, weshalb Menschenwelt und Götterwelt also immer schon als konkret vereint – ineinander verwachsen – gedacht werden müssen. »Offenbarung« ist immer schon konkret geschichtlich vermittelt mit dem gläubigen Bewusstsein und dessen konkreten Verstehenshorizont; anders wäre Offenbarung gar nicht möglich, weil es nichts gäbe, für das Gott als »Geheimnis der Welt«, als »Grund und Ziel« derselben, offenbar werden könnte. In diesem Sinne ist es ebendem »zu sich erwachten« Menschen (s. o. 129 f.) vorbehalten, ein je geschichtlich und nach den kulturellen Umständen geformtes und sich wandelndes Bewusstsein eines Göttlichen zu haben, das in seiner welterschließenden Bedeutung offenbar bzw. von den Menschen in einer ihrem jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Verstehenshorizonten entsprechenden Weise gedeutet wird und so als die »alles bestimmende Wirklichkeit« auch lebensbestimmend bedeutend wird. Es ist dieser sich freilich selbst geschichtlich entfaltende, läuternde und auch radikalisierende Sinn fürs »Unbedingte« des menschlichen Geistes selbst, der deshalb eine unumgängliche Voraussetzung für das Religiöse ist; dieser erst 533 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
menschheitsgeschichtlich zur Entfaltung kommenden (bzw. ihre Vertiefung findenden) »Unbedingtheitsdimension« und der geschichtlichen Läuterung dieser Selbsterfahrung (nicht zuletzt auch von Schuld und Heil) korrespondiert auch eine Entfaltung der Idee des »Göttlichen«, weil, wie erwähnt, menschliches Selbstverständnis bzw. Selbsterfahrung und Gottesverständnis unauflöslich aneinander gebunden sind 201. Nur nebenbei bzw. ergänzend sei hier auf die in der modernen Religionsphilosophie bestimmend gewordene Leitidee hingewiesen, dass dem Fortschreiten im menschlichen Selbstverständnis (und somit der menschlichen Freiheit) ein »Fortschritt im Bewusstsein der Gottheit« entspricht. Es sind jene existenzbezogenen Perspektiven bzw. »Heils-relevanten« Orientierungs-Horizonte, die der Mensch sich in seinem geschichtlichen Selbstverständnis nicht einfach selbst verschafft bzw. über sie verfügt, sondern als ihm geschichtlich »eröffnete« Sinnhorizonte erfährt, die auf der auslegenden Deutung von Menschheitserfahrungen beruhen. Ebendies wäre als eine – den geschichtlich sich wandelnden Verstehenshorizonten gemäß gedeutete – Selbsterschließung des Göttlichen zu begreifen, das sich somit notwendigerweise über geschichtliche Erfahrungen – in stets weltbildhafter Konkretheit – »vermittelt« und auch nur so für religiöses Bewusstsein bestimmte Gestalt gewinnt und Welt- und Selbsterfahrung in ihr in je bestimmten geschichtlich-kulturellen Verstehenshorizonten und Kontexten erschließt. Offenbar-Werden des Göttlichen als der alles »bestim201 Im Sinne einer solchen Entwicklung hat Kant auch betont: »Wir finden daher [!] auch in der Geschichte der menschlichen Vernunft: dass, ehe die moralischen Begriffe genugsam gereinigt, bestimmt, und die systematische Einheit der Zwecke nach denselben und zwar aus notwendigen Prinzipien eingesehen waren, die Kenntnis der Natur, und selbst ein ansehnlicher Grad der Kultur der Vernunft in manchen anderen Wissenschaften, teils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit hervorbringen konnte, teils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ. Eine größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde, schärfte die Vernunft auf den Gegenstand, durch das Interesse, das sie an demselben zu nehmen nötigte und … brachten … einen Begriff vom göttlichen Wesen zu Stande, den wir jetzt für den richtigen halten, nicht weil uns spekulative Vernunft von dessen Richtigkeit überzeugt, sondern weil er mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt« (II 685 f.); im Sinne dieses geschichtlichen Entwicklungsprozesses hat Kant – übrigens mit direktem Blick auf Humes Religionskritik, mit der Dawkins sympathisiert, festgestellt, »dass die Furcht zwar zuerst Götter (Dämonen), aber die Vernunft, vermittelst ihrer moralischen Prinzipien, zuerst den Begriff von Gott habe hervorbringen können« (V 573).
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
menden Wirklichkeit« wäre so auch der Grund für ein vertieftes Selbst- und somit Freiheitsverständnis sowie für eine tragfähige Lebensorientierung, die in diesem Deutungshorizont eben als Sinn-erschließende »Selbstmitteilung« Gottes als des Schöpfers erfahrbar wird; dies ist etwas ganz anderes als eine auf Wissensvermittlung bzw. Indoktrination abzielende eingeflüsterte Mitteilung bzw. Botschaft, vielmehr eine lebenstragende Sinn-Erschließung, die die Menschen in ihrer Existenz – in je konkreten geschichtlichen Kontexten – auch so »angeht«, dass sie als solche gleichermaßen Zuspruch für und Anspruch an den Menschen in sich vereint. Nur in solcher Konkretheit bzw. Bindung an den jeweiligen kulturell und geschichtlich geprägten Verstehenshorizont ist ein »Offenbar-Werden« des Göttlichen als »alles bestimmende Wirklichkeit« für das konkrete geschichtliche Bewusstsein möglich, worin der Mensch seiner Lebenssituation innewird. Das darin eröffnete Selbstverständnis – eine Wahr-Nehmung seiner selbst im Ganzen und ein entsprechendes Verhältnis zu sich und zur Welt – wird so als »offenbartes« existenziell-sinnerschließend bedeutsam, indem es in solcher Deutung seine Welt-bezogene Existenz mit neuen Augen zu sehen vermag 202. Damit ist nochmals betont, dass der sich als die Sinn-begründende Wahrheit der Menschheit in der Geschichte er-schließende Gott – in seiner Angewiesenheit auf einen möglichen »Hörer« seiner Offenbarung – sich an den jeweils maßgebenden und sich geschichtlich wandelnden Verstehenshorizont des Menschen auch binden muss; dies meint aber etwas ganz anderes als eine schübchen- bzw. tröpfchenweise aus einem »außerirdischen Revier« erfolgte Sendung von Nachrichten bzw. Mitteilungen gleichsam in einen abgeschlossenen Raum in einer bestimmten Region des »Weltgehäuses« – eine Vorstellung, die nicht zuletzt auch die soziokulturelle Situiertheit und die gesellschaftlich-religiöse Integration der Verfasser dieser Texte (in ihren »Gemeinden« und den vorherrschenden religiösen Kreisen) völlig ignoriert. Noch einmal sei es betont: Nur in der konkreten Bindung an den 202 Auch in diesem Sinne ist Lohfinks Bemerkung zu verstehen: »Der christliche Glaube ist die Frucht einer langen Glaubensgeschichte. Er ist die verdichtete, immer wieder erneuerte, immer neu ins Wort gefasste, aber auch immer wieder korrigierte Summe von Erfahrungen vieler Generationen, von Erfahrungen, die Menschen mit dem Gott Israels gemacht haben. Es waren Erfahrungen von Männern und Frauen, von jungen und alten Menschen, Erfahrungen im Glück und im Elend, in Gesundheit und Krankheit, in Heiligkeit und in Schuld« (Lohfink 2013, 30).
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jeweiligen Verstehenshorizont ist dieses »Bewusstsein von Gott« geschichtlich – d. h. auch: in jeweiliger weltbildhaft bedingter Konkretheit – wirklich und kann auch nur so als die alles bestimmende Wirklichkeit religiös vernehmbar sein – außerhalb desselben bleibt, wie erwähnt, der Gottesgedanke hingegen Sinn-los bzw. ein aus der geschichtlichen Bestimmtheit herausgelöstes »Abstraktum«. Das sich geschichtlich wandelnde Selbstverständnis ist demnach die notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Göttliches offenbar und (für) wahrgenommen, d. h. verstanden werden kann. Auch darin ist übrigens begründet, dass schon um solcher Verstehbarkeit willen in dieser Hinsicht »Gotteswort« stets (im) Menschenwort 203 ist – und dies auch sein muss, weil es anders durch die menschliche Vernunft in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Konkretheit gar nicht verstanden werden, d. h. nichts für ihn »zur Sprache kommen« könnte. Wie anders als durch, d. h. vermittelt in »Menschenwort« – und d. h. in den geschichtlich-kulturell bedingten konkreten Denkformen bzw. der Sprache – könnte dieses Gotteswort, das darin »zur Sprache kommt«, verstehbar sein und für »wahr« genommen werden? Deshalb muss dieses auch in entsprechender Weise in sich wandelnde Verstehenshorizonte neu übersetzt werden, weil es doch nur so lebendig und »beglaubigt« bleibt, d. h. andernfalls tot wäre, also nichts Wirklichkeits-Erschließendes »zu sagen« hätte, das der Auslegung bedarf und derselben auch fähig ist. Freilich muss eine solche fortwährend »prozessual« zu leistende Übersetzung sich stets daraufhin befragen lassen, ob sie etwas schon »zur Sprache gebrachtes« Sinnerschließendes nicht möglicherweise wieder eher verdeckt, d. h. verschließt. Ohne die produktiv-aneignenden Auslegungsprozesse bliebe der Text nichts-sagend, »tot an ihm selber« (Kant). Die Texte selber sind, genauer besehen, nicht Offenbarung, sondern bringen das »Offenbarte« in verschiedenen Hin-Sichten und damit verbundenen verschiedenen Akzentuierungen »zur Sprache«. Mit der – bezeichnenderweise ganz anthropo- und technomorphen – einigermaßen kuriosen Dawkins’schen Vorstellung eines »Gott[es], der an Millionen Menschen zur gleichen Zeit verständliche
203 In Anbetracht der Dawkins’schen Plattitüden ist es wohl nicht überflüssig, auch in der »clear thinking oasis« der »brights« daran zu erinnern: »Dass nicht Gott die Bibel schrieb, sondern hier höchst gegensätzliche Texte unterschiedlicher Autorenkollektive und frommer Individuen zusammengestellt sind, weiß man schon seit gut 300 Jahren« (Graf 2008, 24).
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Signale sendet und von allen gleichzeitig Signale empfängt«, hat all dies freilich rein gar nichts zu tun. Dass Dawkins für sein SenderSignal-Empfänger-Modell bezeichnenderweise die Zuständigkeit der Naturwissenschaft in Anspruch nimmt, verwundert so freilich nicht mehr – ebenso wenig dies, dass die diesbezüglichen Erforschungen zu dieser Offenbarung des in die »Gehirne« dieser armselige-hilflosen Erdbewohner mit seinen Mitteilungen angeblich »hereinplatzende« Gott in den naturwissenschaftlichen »Radar-Stellen« bislang offenbar nur »Leermeldungen« zu verzeichnen haben. Möglicherweise liegt dies doch an den zu schwachen bzw. unpassenden Messgeräten bzw. an nicht intakten Empfängerstationen in den »Gotteszentren«? Man müsste dieses naturwissenschaftlich orientierte Dawkins’sche Offenbarungs-Modell interdisziplinär wohl enger mit der UFO-Forschung bzw. mit der gehirnphysiologischen Erforschung jenes »Gotteszentrums« verbinden; ob da, dies nur als Hypothese, womöglich eine Instanz zwischen den Universen – gleichermaßen heimlich, unheimlich und auch heimtückisch – über noch unentdeckte Strahlungen Gehirnregionen reizt (andere dabei hingegen leer ausgehen), und dies womöglich auch für jene illusionäre Ich-Vorstellung wenigstens mitverantwortlich ist? Der Teufel steckt bekanntlich zwar im Detail, er schläft aber auch im Weltall nicht … Resümierend sei zu Dawkins’ »Kritik aller Offenbarung« dies festgehalten: Schon aus einer zur Erstinformation ausreichenden Zuhilfenahme von theologischen bzw. religionswissenschaftlichen Handbüchern hätte Dawkins erfahren können, dass mit der theologischen Kategorie der »Offenbarung«, entgegen seinem kuriosen Signale-Modell, eher die Art und Weise gemeint ist, wie in der Geschichte der Menschheit sich das Göttliche im, durch und für den menschlichen Geist im geschichtlichen Wandel und in geschichtlicher Konkretheit erschließt, d. h. sich darstellt bzw. vorgestellt wird – und zwar als die lebensbestimmende Wirklichkeit und somit als das, »was den Menschen unbedingt angeht«, Bedeutung gewinnt; dies bedeutet, dass ein mögliches Offenbar-Werden stets an den je geschichtlich konkreten, weltbildhaft bedingten Verstehenshorizont der Menschen gebunden ist, weil sonst nichts offenbar, d. h. vernehmbar werden könnte, das dem Menschen ein Welt- und Selbstverständnis eröffnet und nur so ein geschichtlich religiöses Verhältnis des Menschen zum vorgestellten Göttlichen begründet. Dies hat, so sollte deutlich geworden sein, natürlich nichts mit der Vorstellung von »Signalen« und eher gespenstisch anmutenden »Eingaben« aus dem Jenseits zu 537 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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tun oder mit dem Eintrichtern von Jenseits-orientierten Mitteilungen, Lehrsätzen bzw. Wahrheiten. Eher geht es um die Art und Weise, wie in der gedeuteten und auch stets neu deutungsbedürftigen geschichtlichen Wirklichkeit sich eine »Bewandtnis« für das Selbstverständnis und die umfassende Daseinsorientierung des Menschen erschließt. Die im geschichtlichen Wandel sich gleichwohl manifestierende Einheit der geschichtlichen Offenbarung wird sodann in einer religionsphilosophischen Perspektive auch als eine Erziehungsund Bildungsgeschichte des Menschengeschlechts rekonstruierbar und »in concreto« auslegbar. Wohlgemerkt, die Information bzw. die Kenntnisnahme davon, was genauer mit der theologischen Kategorie der Offenbarung gemeint ist, ist auch einem um Verständnis bemühten, obgleich ungläubigen Wissenschaftler zuzumuten und impliziert somit keineswegs eine vorausgesetzte Gläubigkeit; denn sehr wohl verträgt sich das angemessene Verständnis dessen, was mit Offenbarung eigentlich »theologisch« gemeint ist, mit möglichen Zweifeln über die ergangene Wirklichkeit dieser so gedachten Selbstoffenbarung im geschichtlichen Wandel. Ein angemessenes theologisch-philosophisches Verständnis dessen, was damit gemeint ist, verlangt also keinesfalls die Anerkennung der Wirklichkeit des derart bedachten Sachverhaltes. Nur sollte man nicht von vornherein ein völlig widersinniges Offenbarungsverständnis unterstellen bzw. ein solches voraussetzen, das dem religiösen Selbstverständnis und dem darauf reflektierenden Denken in keiner Weise entspricht und mit dessen Entlarvung als einer gespenstischen Kuriosität bzw. Verrücktheit man dann ein dementsprechend leichtes Spiel hat. Nur nebenbei: Nicht zuletzt in diesen Zusammenhängen wird übrigens sichtbar, wie leicht er es sich im Umgang mit diesen Themen macht und wie primitiv Dawkins’ einschlägige Religionskritik auch im Vergleich zu derjenigen in der Nachfolge Hegels (Feuerbach, D. F. Strauss) ist. Nur aus dem Widerstand, d. h. der mangelnden Bereitschaft, sich elementare Sachkenntnis über diese Themen anzueignen, sind auch Dawkins’ einschlägige – mit erhobenem Haupt unternommene – Ausritte begreiflich zu machen.
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2.6.2 Anmerkung 2: Dawkins’ humorvoll-»substanzielle« Assoziationen zum christlichen »Dreifaltigkeits-Motiv« Auch Dawkins’ beiläufige Assoziationen zum Thema »Dreifaltigkeit Gottes« zählen nicht weniger zu den besonderen Kostbarkeiten seines theologischen Repertoires und dürfen wohl als eine wahre Gipfelleistung seines »Gotteswahns« gelten. Statt einer nur ansatzweise versuchten Beschäftigung mit dem von ihm in gewohnter Spaß-Manier aufgespießten Thema beklagt er sich über bloße »Unverständlichkeit« 204 und gefällt sich in seiner – offenbar als besonderes intellektuelles Gütezeichen empfundenen und bereitwillig zur Schau gestellten – theologischen Unbildung sowie seiner Verachtung theologischen Denkens. Man sollte auch hier meinen: Wer »Unverständlichkeit« beklagt und dennoch »Vertrautheit« für sich reklamiert, steht selber wohl in der Pflicht, sich doch wenigstens über elementare Zusammenhänge zu informieren, während andernfalls das entlastende polemische Bedürfnis den Blick auf die Sachfragen verstellt – eine gut bewährte und wirkungsvolle Überlebensstrategie, überaus eindrucksvoll, um nicht zu sagen: geradezu bewundernswert ungeniert. Auch damit beleidigt Dawkins nicht einmal das religiöse Gefühl oder die Theologie, sondern lediglich die menschliche Vernunft. In unüberbietbarer – aber durchaus unfreiwilliger – Komik, die wiederum eine aufschlussreiche Unbekümmertheit in all diesen Sachthemen vor Augen führt, fragt Dawkins in dezenter Gereiztheit nach dem im »dreifaltigen Gott« (seiner »Wesenseinheit« in der Unterschiedenheit der »Personen«) Gedachten und demonstriert mit seinen einschlägigen »theologischen« Einlassungen erneut auf erhellende Weise seine Ahnungslosigkeit. Statt seinen Wissensdrang bezüglich dieser christlichen Lehre von der »Dreifaltigkeit Gottes«, wie man erwarten sollte, wenigstens durch eine erste Orientierung in einschlägigen Lexika und Handbüchern zu stillen, hat er auch in diesem Falle – und in einer Art Urvertrauen auf die willige Gefolgschaft ungebildeter Leser – erwartungsgemäß sogleich die treffsichere und 204 Solche Klage über »Unverständlichkeit« setzt die Bereitschaft zu einer an den eigentlichen Sachfragen orientierten Information (Gottesbeweise, Zentralthemen der christlichen Lehre) voraus – andernfalls muss auch auf die von Dawkins bekundete Verpflichtung einer angemessenen Würdigung der Argumente des Gottesglaubens in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Er lässt jedenfalls die notwendige Bereitschaft vermissen, sich elementare Informationen und Sachkenntnisse zu erwerben, die eine solche gleichwohl beanspruchte Prüfung überhaupt als aussichtsreich erscheinen lässt.
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schonungslose Frage und Antwort parat: »Nun fragt [leider tut er das nicht wirklich!] man sich vielleicht: Was mag das bedeuten? Substanz?[205] Was für eine [!] ›Substanz‹ ?[206] Was genau ist mit ›Wesensform‹ gemeint? Die einzig vernünftige Antwort lautet anscheinend: sehr wenig. Dennoch spaltete der Streit darum die Christenheit ein volles Jahrhundert lang, und Kaiser Konstantin befahl, alle Exemplare von Arius’ Buch zu verbrennen. Haare und damit die Christenheit spalten – so hat es die Theologie schon immer gemacht« (Gotteswahn 49). Man sieht: Bevor er auch nur ernsthaft fragt und entsprechende Informationen einholt, hat er über die Sache schon sein wenig überraschendes Urteil gesprochen. Was schon in der frühen Kirche und Theologie Gegenstand intensiven Nachdenkens war und sodann in den Konzilien bleibende Gestalt gefunden hat, wird von dem angeblich um »mehr Vernunft und weniger Glauben« bemühten R. Dawkins hingegen in aufgebrachter Tonlage mit der entlarvenden Frage erledigt: »Welche Substanz?« Er denkt offenbar wie205 In diesem Sinne spricht Dawkins beispielsweise von »einer Substanz namens DNA«, aus der die Gene bestehen (Zauber 14) und ihrem Funktionieren, ebenso von »Substanzen in unserer Umwelt« als »Verbindungen« (Zauber 76). Dass Dawkins bei der »Wesensform« offenbar an die äußerliche räumliche Figur denkt und damit natürlich sich jeden Zugang zur »substanzialen Form« verstellt (die für das artspezifisch verwirklichte lebendige Individuum bestimmend ist), wird auch durch seine Bemerkung nahegelegt: »Vielleicht verliert das Wort Form bei diesen winzigen [atomaren] Größenordnungen ebenso seine Bedeutung wie das Wort ›fest‹« (Zauber 87). 206 Auch dies lässt jedenfalls vermuten, dass Dawkins bei »Substanz« offensichtlich eher an »toxische« oder andere ausscheidbare »Substanzen« denkt (von denen bei ihm andernorts die Rede ist, vgl. vorige Anm.), die im Kontext der christlichen Dreifaltigkeitslehre allerdings vermutlich kaum eine Rolle gespielt haben dürften. Aber vielleicht hätte Dawkins ja auch dem möglichen Einwand, dass seiner Kritik »jede Substanz« fehle, mit dieser Frage konfrontiert: »Welche Substanz?« Dabei hätte diesbezüglich ja schon eine Vergegenwärtigung des alltäglichen Sprachgebrauchs weitergeholfen (an die zu erinnern offenkundig nicht ganz überflüssig ist): So spricht man ja auch im übertragenen Sinn beispielsweise von Büchern »ohne Substanz« und meint damit nicht, dass sie etwa »leichtgewichtig« in dem Sinne sind, dass sie wenig Papier-»Substanz« (oder nur wenig Druckerschwärze) aufweisen, sondern in ihrem Sachgehalt das »Wesen der Sache« verfehlen bzw. nicht begreifbar machen; in analogem Sinne gilt als »substanzlos« eben dasjenige, dem das »Wesen« fehlt; deshalb zielt das »Wesen« (die »Wesensform«) auf das »wahre Sein« der Sache, im Unterschied zum bloßen »Anschein« – so wie beim »Scheinheiligen« im Unterschied zum »Heiligen«-Schein (in dem eine »gelungene und vollendete Gestalt« menschlichen Lebens »zur Erscheinung gekommen ist« bzw. als solche symbolisiert wird); so viel erläuternd zu Dawkins’ verlegener – auch philosophisch ratloser – Frage, was denn »Substanz«, »Wesensform« besagt.
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der eher an »Substanzen«, wie sie vielleicht »sehr komplexe Dinge« auszeichnen. Es ist nicht zu übersehen: Dawkins’ »Gotteswahn« (und ebenso die ihm nachfolgenden Bücher) sind auch bezüglich dieser Sachfragen offenbar nicht von einem sachorientierten Interesse an Erkenntnis geleitet, sondern von anderen – vielleicht »soziobiologisch« zu erhellenden – Impulsen beflügelt. Bevor da auch nur die leiseste Versuchung zu Information und sachorientierter Nachdenklichkeit aufkommen kann, greift er – entlastenderweise auf prophylaktischen Verdacht hin – mit geschärftem diagnostischem Blick sogleich zur Waffe – die »einzig vernünftige Antwort« aus seinem Mem-Repertoire: »Die einzige Waffe, die man gegen unverständliche Aussagen einsetzen kann, ist der Spott [und ist jedenfalls auch ungleich bequemer als eine ernsthafte Auseinandersetzung]. Vorstellungen müssen klar umrissen sein, erst dann kann die Vernunft sich mit ihnen beschäftigen; und von der Dreieinigkeit hatte kein Mensch jemals eine klar umrissene Vorstellung. Es ist nur das Abrakadabra jener Scharlatane, die sich als Priester Jesu bezeichnen« (Gotteswahn 50). Dass sich die von Dawkins bevorzugte »Waffe des Spottes« sehr rasch gegen ihn selbst richtet, wird sich zeigen. Auch hier gilt: Bevor man auf diese »Waffe« zugreift, sollte man sich auch in diesem Falle vorbeugend darüber versichern, dass dieser Spott nicht unversehens wie ein Bumerang auf den Spötter selbst zurückschlägt und zuvor nach sachlichen Informationen suchen. Statt seiner Hüftschüsse wäre es wohl auch diesbezüglich naheliegend und wünschenswert (und gegenüber seiner Aufklärungs-willigen Leserschaft wohl auch ehrlicher) gewesen, aus einschlägigen – in Oxforder Bibliotheken wohl zugänglichen – philosophisch-theologischen Nachschlagewerken wenigstens Erstinformationen einzuholen. Eine Sach-orientierte Leserschaft wird sich jedoch durch seine würzigen – wiederum weniger informativen als signifikant Lacheffekt-heischenden – Etiketten nicht blenden lassen, sondern sich eher über die erstaunliche Chuzpe eines Autors wundern, der für solche Äußerungen intellektuelle Redlichkeit beansprucht und seinen Lesern eine »Bewusstseinserweiterung« verheißt. Daran lag ihm offenbar nicht. Der Befund des prominenten Kultur- und Literaturtheoretiker Terry Eagleton bestätigt sich nicht zuletzt in diesem Kontext in eindrucksvoller Weise: »Stellen Sie sich vor, es lässt sich jemand über Biologie aus, der nicht mehr über das Fach weiß, als in einem Buch über die Vögel Großbritanniens steht. Dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie es sich liest, 541 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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wenn Richard Dawkins über Theologie schreibt.« 207 In der Tat verraten Dawkins’ Auslassungen über diese im engeren Sinne theologischen (christlichen) Themen weniger über seine Sachkritik, jedoch geben sie Einblick in seine »Befindlichkeit« bzw. in seinen Gemütszustand im Umgang mit all diesen Themen. Die in jener sehr bezeichnenden Frage nach der »Substanz« 208 vernehmbare aufgebrachte Ratlosigkeit – so, als ob von einer chemischen »Substanz« die Rede wäre – demonstriert wohl wiederum auf unüberbietbare Weise, wie es um die philosophische (Un-)Bildung Dawkins’. bestellt ist, die jedenfalls in einer bemerkenswerten Diskrepanz zu dem darin zutage tretenden Selbstbewusstsein steht. Eine solche unvermeidliche Kritik an Dawkins’ Umgang mit diesen Themen besagt natürlich keineswegs, dass man »Religion nicht kritisieren« kann, »ohne die theologische Fachliteratur genau [!] zu analysieren« (wie er unterstellt: Gotteswahn 523). Nicht eine »genaue Analyse« theologischer Fachliteratur, die sich nach Dawkins’ Ferndiagnose ohnehin als unergiebig erweist, wäre hilfreich und erforderlich gewesen, sondern lediglich die Bereitschaft, sich wenigstens elementare Sachinformationen anzueignen – um bloß »erkenntnistheoretische Subtilitäten« geht es dabei wirklich nicht. 209 Nicht 207 Zit. n. McGrath 2007, 24. – Dawkins’ beherztes Engagement für die Befreiung vom »Kinderglauben« wird auch darin sichtbar, dass offenbar sein Respekt vor seinen Leserinnen/Lesern und deren intellektuellen Ansprüchen nicht recht groß sein kann: Jedenfalls vertraut er in seinen Attacken weithin geradezu blindlings auf eine solide Unkenntnis seiner Leserschaft in diesen Themenfeldern; dies lässt ihn auch vor völlig haltlosen Unterstellungen nicht zurückscheuen, die die entsprechenden Sachverhalte bisweilen geradezu auf den Kopf stellen. 208 Das von Dawkins im Kontext seiner Dreifaltigkeits-Belustigungen bekundete »Substanz«-Verständnis und sein üblicher Umgang mit theologischen Fragen hätte ja eigentlich die Frage bzw. seinen Einwand erwarten lassen, ob Jesus, der Christus – der als menschgewordener »Sohn Gottes« als »zweite göttliche Person« »eines Wesens mit dem Vater« in der Trinität gedacht wird –, durch den von ihm (als Mensch) vermutlich regelmäßig vorgenommenen Haar-, Bart- und Fingernägel-Schnitt und andere hygienische Maßnahmen etwa auch eine ebenso regelmäßige Verletzung oder gar Verluste seiner »göttlichen Substanz« erlitten hat. – Die von Dawkins erhobenen »Substanz«-Assoziationen mögen diese tiefgreifende Erläuterung erklären bzw. rechtfertigen. 209 Stattdessen bevorzugt Dawkins als theologische Quellen die ihm offensichtlich leichter zugängliche Wachtturm-Literatur der Zeugen Jehovas; dass diese in theologisch-philosophischer Hinsicht vermutlich nicht unbedingt zu den fundiertesten und verlässlichsten Informationsquellen zu zählen sind, tut freilich dem Respekt und der großen Bewunderung für die Wahrhaftigkeit und Redlichkeit der Mitglieder dieser Organisation keinen Abbruch, die diese insbesondere auch im Widerstand gegen
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»genaue Kenntnis« der Fachliteratur ist erforderlich – sondern lediglich das Bemühen um elementare Kenntnisse theologischer und geistesgeschichtlicher Zusammenhänge, über die man sich ein Urteil anmaßt. Wenigstens einige Grundkenntnisse in denjenigen Lehrstücken, die man, dem Anspruch nach, einer vernichtenden Kritik aussetzt, sollte man von jemandem, der sich noch dazu die Förderung des Verständnisses der (Natur-)Wissenschaften in der Öffentlichkeit zur Aufgabe macht, wohl erwarten dürfen; indes, davon kann nicht nur nicht die Rede sein, vielmehr präsentiert er auch diese einschlägigen Themen als reinsten Klamauk, d. h. in der bewährten Manier eines gewiss humorvollen »Mythenfreunds«. 210 Dawkins’ eigener Zu- und Umgang damit bestätigt eindrucksvoll die Common-SenseWeisheit: »Glauben heißt nichts wissen« – und das heißt hier offenbar nicht zuletzt dies: nicht(s) wissen wollen. Schon sein Anspruch, mit der christlichen Religion vergleichsweise am »vertrautesten« zu sein, ist ein schlechter Witz; seine künstliche Erregung über die »Unverständlichkeit« einschlägiger Lehren und sein fundamentaler Polemik-Bedarf überwiegt offenbar eindeutig seine Bereitschaft dazu überwiegt, auch nur elementare diesbezügliche geistesgeschichtliche Kenntnisse zu erwerben. Ein paar knappe diesbezügliche Hinweise zu diesem theologischen Thema müssen auch hier genügen; sie sollen an dieser Trinitäts-Thematik die schwerwiegenden Defizite Dawkins’ wenigstens sichtbar machen. Schon aus jedem besseren theologischen Handbuch bzw. Nachschlage-Werk – echtes Bemühen um Verständnis einmal vorausgesetzt – hätte er Aufklärung über die theologischen Motive gewinnen können, wie die für die Ausbildung der Trinitätslehre notwendig gewordenen philosophisch-theologischen Kategorien in ihrem philosophischen Sinne und theologischem Anspruch (»Substanz«, »Wesensform«, »Hypostase«) zu verstehen sind bzw. weshalb die (von Dawkins beiläufig erwähnte) Lehre des Arius nach langen theologischen Auseinandersetzungen als Irrlehre verworfen wurde. Dies hätte ihn vor dem bemerkenswert selbstsicheren Urteil bewahren können, dass jene Begriffe ohnedies nur »sehr wenig bedeuten«.
die Diktaturen des 20. Jahrhunderts bewährt und dafür vielfach auch ihr Leben geopfert haben. 210 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür hat ja auch schon die Art und Weise vor Augen geführt, in der Dawkins seiner Leserschaft die biblische Schöpfungstexte und die Paradieses-Geschichte vorführt und gleichermaßen erhellend und Spaß-bedacht auslegt.
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Wenigstens dies wäre doch dabei auch für Dawkins (als jemanden, der für sich beansprucht, mit der »christlichen Religion« auch nur einigermaßen vertraut zu sein) zu erfahren gewesen: Es war bekanntlich die Frage, wie das in den biblischen Texten bekundete – mit anderen biblischen Gestalten unvergleichliche – besondere Verhältnis bzw. die Verbundenheit zu begreifen ist, in dem sich dieser Mensch Jesus in seiner konkreten irdischen Daseinsweise zu dem von ihm so genannten »Vater« verstanden hat und in den biblischen Aussagen exemplarisch zum Ausdruck kommt: »Ich und der Vater sind eins« (Jo 10,30), »Wer mich sieht, sieht den Vater« (Jo 14,9); »Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat« (Jo 5,30); »Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand den Vater, nur der Sohn« (Luk 10,22); »Ehe Abraham ward, war ich« (Jo 8,58) u. a. Vornehmlich diese Fragen nach dem biblisch bezeugten besonderen Verhältnis dieses Jesus zu dem von ihm als »Vater« genannten Gott (und seinem »Grund« in ihm) waren es, die – vor dem Hintergrund der theologischen Reflexion auf den Tod und das Widerfahrnis des »auferstandenen Jeus« – die denkerischen, d. h. theologisch-philosophischen Bemühungen der frühen Kirche in diesen Reflexionen naheliegenderweise dazu führten, ob damit lediglich eine gewisse (relative) Sonderstellung innerhalb der geschöpflichen Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht ist; oder ob dies vielmehr doch eine damit beanspruchte »Ähnlichkeit« bzw. eine als »Identität« zu verstehende innige »Zugehörigkeit« meint, die diesen Jesus aus bzw. in einer ursprünglichen Wesens-Einheit mit dem von ihm sogenannten »Vater« begreifen lässt, der theologisch näherhin als der Mensch gewordene »ewige göttliche Logos« verstanden werden muss, und diese »Menschwerdung« theologisch auch als die endgültige Offenbarung und Zusage Gottes an die Menschheit aufzufassen ist? Natürlich stand das frühe Christentum vor der Aufgabe, den biblisch begründeten Glauben an diesen Jesus – als den Christus, d. i. den Messias als »Sohn Gottes« – systematisch zu reflektieren und in bzw. zu einer gegliederten Lehre zu entfalten; dies war also einerseits die Voraussetzung für die Ausbildung einer christlichen Theo-Logie auf dem Boden eines stark hellenisierten Judentums, die sich hierfür in einer von hellenistischem Geist geprägten Welt des begrifflichen Instrumentariums der griechischen Philosophie gleichermaßen »bedienen« konnte (und sich auch damit auseinandersetzen musste); andererseits konnte das Christentum auch nur auf solche Weise seinen Anspruch in und gegenüber einer hellenistisch geprägten Kultur geltend ma544 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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chen bzw. in dessen Denkrahmen rechtfertigen und so, in vielen kleinen Schritten (und nicht zuletzt in den Konzilien und ihren »Formeln«), ein verbindliches Lehrgebäude errichten und definieren, das die zentralen Gehalte wie »Schöpfung«, Trinität«, Einheit und Differenz von »Gott und Mensch«, »Zeit-Ewigkeit« und daran geknüpfte Themen explizieren musste. Der mit dem Christentum sich »am vertrautesten« wissende Dawkins erspart sich jede Auseinandersetzung damit, und genießt sich darin, umso ausgelassener und hemmungsloser seine diesbezüglichen Assoziationen zu verbreiten. Auf die genannten Sachprobleme zielte jedenfalls die denkende Durchdringung und damit der zu einem Lehrgebäude sich entfaltende christliche Glaube mit Hilfe der philosophischen Kategorien der griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles, Philon v. Alexandrien, vor allem aber des »Neuplatonismus«). Dies nötigte in den theologischen Reflexionen der frühen Kirche zu Reflexionen darüber, wie dieses Verhältnis zu denken ist, und führte die theologischen Reflexionen der jungen – um die Ausbildung eines theoretischen »Lehrsystems« bemühten – Kirche in einem sich über lange Zeit erstreckenden mühevollen Reflexions-, Lern- und Umwandlungsprozess zur Ausbildung der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes 211: Das eine Wesen Gottes, gleichwohl in drei verschiedenen, aber gleichrangigen (»wesensgleichen«) Beziehungen der selbständigen Momente zueinander – »credimus hanc trinitatem personis distinctam, substantiam unam« (»wir glauben an die eine Dreifaltigkeit, in den Personen verschieden, jedoch dem Wesen nach eine«), die freilich absolut gar nichts mit den gespenstischen Vorstellungen und den nicht einmal mehr grotesk zu nennenden Verzeichnungen Dawkins’ zu tun haben. Es sind theologische Fragen der genannten Art, die nicht zuletzt eben auch zur Ausbildung eines »dreifaltigen« Gottesverständnis 211 Dass diese theologische Ausbildung der Trinitätslehre in fortwährender kritischer und lernender Auseinandersetzung mit den maßgebenden Konzeptionen der aristotelischen und neuplatonischen Lehren geschah, weil gerade darin an das gedankliche Potential und an die theoretische Begrifflichkeit für die Ausbildung der zu denkenden »Wesensgleichheit«, der Einheit und des Unterschieds der zu begreifenden Momente angeknüpft werden konnte und auch musste, dies sei hier nur beiläufig, für die philosophisch und theologisch weniger vorgebildete – jedoch an den Sachzusammenhängen interessierte – Leserschaft erwähnt; es bleibt zu hoffen, dass diese sich trotz der Dawkins’schen Polemik nicht davon abhalten lässt, sich ein selbständiges Urteil darüber zu bilden.
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führten, in dem Gott als konkrete, in sich differenzierte lebendige und geistige Einheit und in der Unterschiedenheit dreier – ein Unterordnungsverhältnis vermeidenden, d. h. »wesensgleichen« – »Hypostasen« (und ihren besonderen »Relationen« zueinander) als denkbar ausgewiesen werden sollte – d. h. als Einheit unterschiedener Momente, die in der substanziellen, d. i. Wesens-mäßigen »Einheit« zugleich den Unterschied wahrt (eine Einheit im Unterschied der Momente) und dergestalt auf die theologische Idee der »Dreifaltigkeit« führt, »die in den Personen unterschieden und der Substanz nach eine« (»wesensgleich«) ist. 212 Im Gedanken des »drei-einigen« Gottes sollte also, im Rekurs auf die biblische Verankerung, die Einheit und Differenz der verschiedenen relationalen »Personen« 213 in der Einheit ihres Wesens gewahrt bleiben; die terminologische Kennzeichnung des gleichursprünglichen »Hervorgangs« des Sohnes und des Geistes aus dem »Vater« als »Zeugung« zielte dabei vorrangig auf die Abwehr jenes »arianischen« Missverständnisses einer bloßen – die »Gleichursprünglichkeit« eben preisgebenden – Unterordnung des »Sohnes« als »Geschaffensein« ab; diese von Dawkins mit wegwerfendem Gestus als sinnlose »Haarspalterei« abgetane theologische Kontroverse mit den »Arianern« war eben nicht zuletzt diesen klä212 Dawkins’ völliges Unverständnis dieser Themen wird besonders deutlich in Dawkins’ energischem Protest gegen McGrath, der in seiner Abfertigung des Gegners souveräne Sachkenntnis suggeriert: »McGrath selbst hat sich dem niceanischen Glaubensbekenntnis unterworfen. Das Universum wurde von einem übernatürlichen Wesen geschaffen, das drei in einem ist. Nicht vier, nicht zwei, sondern drei. Die christliche Doktrin ist bemerkenswert spezifisch: Nicht nur bezüglich der großen Fragen des Universums und des Lebens. […] Und dennoch hat McGrath die allmächtige Unverfrorenheit, mir den naiven Glauben vorzuwerfen, die Wissenschaft habe alle Antworten. […] Ist McGrath ein ›ideologischer Fanatiker‹, weil er nicht an Thors Hammer glaubt? Natürlich nicht. Warum behauptet er dann, dass ich einer sei, nur weil ich keinen Grund sehe, an den speziellen Gott zu glauben, dessen Existenz er mit einem Mangel an Bescheidenheit und Beweisen verficht?« (Dawkins 2007: Internet-Quelle). Geradezu kurios ist Dawkins’ Vorwurf, dass McGrath sich hingegen dem »niceanischen Dogma unterworfen« habe, schon deshalb, weil Dawkins’ Ausführungen eindrucksvoll belegen, dass er nicht die geringste Ahnung von den Sachproblemen hat, um die es in diesem »niceanischen Dogma« geht, gleichwohl verbal »Kennerschaft« suggeriert, die wohl den Überdruss verständlich machen soll, weshalb er sich darauf nicht einlässt … Dawkins hätte vielmehr seine Spott-geleitete Phantasie unterwerfen oder doch wenigstens zügeln müssen, um sich dem Verständnis dieser schwierigen theologischen Fragen zu nähern; eine solche Bereicherung ist jedoch offenbar in seinem Mem-Haushalt nicht vorgesehen. Dies hinderte ihn erstaunlicherweise jedoch nicht, die christliche Religion dennoch als die ihm »vertrauteste« zu bezeichnen. 213 Zu den trinitarischen »Person«-Aspekten s. auch Spaemann 1996, 30 ff.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
rungsbedürftigen Themen der (auf die »Gleichursprünglichkeit« des »Logos« abzielenden) »ewigen Zeugung« oder des »Geschaffenseins« (und sei es im Sinne einer Sonderstellung als »erstes Geschöpf«) des »Logos« gewidmet. Dass die Ausbildung dieser Dreifaltigkeits-Lehre in engster Auseinandersetzung mit und kritischer Rezeption von den damals maßgebenden philosophischen Positionen (der »platonischen Ideenlehre«, der aristotelischen Gottesidee und nicht zuletzt des Neuplatonismus) geschah, sei für die theologisch weniger vorgebildeten Leserinnen und Leser nur beiläufig erwähnt, ist hier aber nicht weiter zu verfolgen. 214 Darin war das – behutsam tastende – denkerische Bestreben leitend, die eine Gottheit als solche zu verstehen, die, in sich differenziert, sich mehrgestaltig als »Geist« »realisiert« – so wie Liebe sich in der Unterscheidung von Liebendem-Geliebten und der umgreifenden Einheit beider realisiert, das »Bewusstsein seiner selbst« den »Denkenden«, »Gedachten« und die den Unterschied umgreifende Einheit und Identität umfasst; von Gott als dem »sich selbst denkenden Denken« war bekanntlich im aristotelischen Gottesgedanken die Rede, der natürlich die frühe christliche Theologie hellhörig machen musste und seit der philosophischen Strömung des Neuplatonismus in besonderer Weise das theologische Denken beeinflusste. Das in den daran anknüpfenden philosophischen Überlegungen leitende Bemühen war dabei vorrangig dies, Gott eben nicht bloß als letzt-begründendes abstraktes Einheits-Prinzip, sondern vielmehr als lebendig-geistige Einheit – und zuletzt als »Liebe« – zu denken, deren »Elemente« durch den immanenten (und je unterschiedenen) Bezug innerhalb der »Drei-Einheit« zueinander bestimmt sind, weil ungeachtet ihres gemeinsamen »göttlichen Wesens« (»Wesensgleichheit«) die konkreten innergöttlichen »Relationen« doch jeweils unterschiedene sind. In dieser Bestimmung Gottes als »Liebe« ist eben »Liebender«, Geliebter und die Liebe selbst in ihrer »Einheit« zu unterscheiden, worin
Sachorientierte und Informations-willige Leser/-innen seien diesbezüglich für eine erste Erkundung auf die einschlägigen Artikel (Trinität, Dreifaltigkeit, Gott) in Lexika verwiesen; ausdrücklich genannt seien: Lexikon für Theologie und Kirche, Theologische Realenzyklopädie, Handbuch theologischer Grundbegriffe. – Dawkins hat es freilich nicht einmal der Mühe wert gefunden, seinen theologischen »MemBestand« wenigstens mit elementarem theologischen Basiswissen über die von ihm »behandelten« – d. h. lächerlich gemachten – Sachthemen zu bereichern. Kein Wunder, dass sich andere Mem-Komplexe da leichter, d. h. hemmungsloser verbreiten. 214
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
das inner-trinitarische »Verhältnis« des Vaters, Sohnes und Geistes bedacht sein soll. Dawkins’ diagnostischer – in diesem Fall weder um ein »öffentliches« noch um ein persönliches Verständnis bemühter – Tiefenblick etikettiert hingegen all diese für die Ausbildung und den Kanon der christlichen Lehre maßgebend gewordenen Fragen und Lehren rasch, bequem und obendrein »spöttisch« als bloßes »Abrakadabra«. Der an einem angemessenen Sachverständnis in diesen Fragen offensichtlich ganz uninteressierte missionarische Spott und sein befreites Gelächter beflügeln seine ungezügelten Dreifaltigkeits-Phantasien, heizen den moralischen Empörungs- bzw. Entlarvungsbedarf des atheistischen Missionars und Evangelisten – offenbar auf solide Unkenntnis der Leserschaft bauend! – noch an und bringen zuletzt seine eigene humanistische Seele zum Kochen: »Denn ganze Ströme mittelalterlicher Tinte – von Blut ganz zu schweigen – wurden über das ›Geheimnis‹ der Dreifaltigkeit vergossen, aber auch zur Unterdrückung von Abweichungen wie der arianischen Ketzerei« (Gotteswahn 48)! Schon grundsätzliche Überlegungen der angezeigten Art hätten Dawkins freilich auch vor anderen unsinnigen Assoziationen bewahren bzw. von seinen Phantasie-beflügelten Unterstellungen abhalten können: So etwa auch von seinem Gedankenexperiment, weshalb man nicht lieber zwei – oder vier – göttliche Personen hat annehmen wollen; doch auch hier bestätigt sich, dass gegen manche »Ausdrucksformen des Gehirns«, die sich dann allzu rasch zu »Memen« verfestigen, offenbar noch kein Kraut gewachsen ist. Wohl nur dies vermag die schier unüberbietbare Unbekümmertheit und die psychische Robustheit zu erklären, die Dawkins auch vor keinerlei Fettnäpfchen haltmachen und ihn auch vor groben Peinlichkeiten nicht zurückscheuen lässt. Leider bleibt Dawkins seinen Lesern jedoch auch jede Auskunft darüber schuldig, welcher Quelle – sofern dies nicht doch einzig und allein Dawkins’ Phantasie ist, wofür freilich einiges spricht! – er denn die erhellende Einsicht in den kirchlichen »Dauerflirt mit dem Polytheismus« verdankt sowie die theologisch geradezu revolutionäre Aufklärung darüber, dass die »Dreifaltigkeit« in der katholischen Kirche bzw. Theologie »durch Maria erweitert« werde (Gotteswahn 50). Theologische Fachliteratur war es ja ganz sicher auch in diesem Falle nicht, auf die er seine einschlägigen Assoziationen stützt … In Anbetracht seiner eindrucksvoll demonstrierten WissensLücken hätte Dawkins wohl auch in diesen Themenbereichen ruhig 548 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
ein wenig neugieriger sein dürfen, ohne sich damit dem Augustinischen Vorwurf einer bloß »sensationsgierigen, eitlen, hochmütigen Wissbegier« auszusetzen. Noch einmal sei es betont: Ein einigermaßen zureichendes Sachverständnis über diese Themen sich anzueignen, bedeutet ja keineswegs, damit eo ipso die daraus abgeleiteten Glaubensartikel eines religiösen Bekenntnisses zu übernehmen, sondern besagt lediglich eine auch ungläubigen Gelehrten zumutbare geistesgeschichtliche Orientierung – noch dazu, wenn diese (wie Dawkins) für sich beanspruchen, vergleichsweise mit dem Christentum »zufällig am vertrautesten« zu sein … Dawkins tut indes gerade so, als ob die Weltreligionen bzw. deren »Theologie« geradezu ein besonderes Interesse daran (gehabt) hätten bzw. diesbezüglich untereinander im Wettstreit wären, aus »Jux und Tollerei« möglichst kuriose bzw. unverständliche »Glaubensartikel« zu erfinden, um so deren Verständnis bzw. ihre Akzeptanz nur ja recht zu erschweren – dem »evolutionistischen Sparsamkeitsprinzip« geradewegs zuwider, und somit wohl auch nicht unbedingt eine »memverbreitungs«freundliche Strategie … Aber vielleicht gibt es auch dafür eine »evolutionspsychologische« Erklärung. Ein abschließender Hinweis darf jedoch nicht fehlen: Ungeachtet jener tiefgründigen trinitarischen Skepsis outet sich Dawkins, der »Mythenfreund«, mutigerweise ebenso als erklärter Jesus-Freund – obgleich natürlich nur mit Vorbehalt: In entschiedenstem Protest gegen das »Abrakadabra jener Scharlatane, die sich als Priester Jesu bezeichnen«, wird Jesus von Dawkins sogar indirekt zu einem Wegbereiter der »brights« befördert – Jesus, ein »anonymer bright«? Heutzutage dürfte sich jener »jüdische Prediger namens Jesus« (Zauber 245) wohl sogar, ginge es nach Dawkins, begründeterweise Hoffnung auf eine Vollmitgliedschaft in der Dawkins-Stiftung machen 215 – auf Bewährung freilich, jedoch dies durchaus mit »an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit«. Dies wäre nicht zuletzt wohl auch von Jesu Bereitschaft abhängig, ob und wie weit er Dawkins’ kritischen Vorbehalt beherzigen und auch Besserung geloben wollte – denn, so lautet Dawkins’ bibeltheologischer Befund: »Ich denke, wir 215 »Aber Jesus war ein guter Mann. Dass er an Gott glaubte, versteht sich von selbst: Jeder war zu seiner Zeit religiös. Hätte Jesus gewusst, was wir heute wissen, wäre er wahrscheinlich Atheist, aber ebenso menschenfreundlich gewesen. Immerhin hat er der Grausamkeit der damaligen Religion abgeschworen« (so Dawkins in: St. Klein 2010: Internet-Quelle). – Man sieht: die erste Hürde zur Vollmitgliedschaft hat Jesus also schon genommen …
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
sollten Jesus die Ehre erweisen, seine wirklich originelle [!] und radikale Ethik von dem übernatürlichen Unsinn zu trennen, den er zwangsläufig als Mann seiner Zeit vertrat.« 216 Dafür hätte es wohl für Jesus, bei aller Sympathie Dawkins’, zuvor noch einer intensiven – schmerzlich-läuternden – Mem-Kur in der »clear thinking-oasis« der Dawkins-Stiftung bedurft, zumal dem Chef-Therapeuten Dawkins natürlich auch dies nicht verborgen blieb: »Jesus war ein Anhänger der gleichen Gruppenmoral[217] – in Verbindung mit Feindseligkeiten gegenüber Außenstehenden – die im Alten Testament als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Jesus war ein loyaler Jude.[218] 216 So in seinem erwärmenden weitherzigen – und gewiss nicht weniger raffinierten – Jesus-Plädoyer »Atheists for Jesus«: Dawkins 2006 (Internet-Quelle) – eine Einschätzung, die sich wohl wieder eher seiner »zufälligen Vertrautheit« mit dem Christentum verdankt. Dawkins’ banales – und mit seinen ethischen Auffassungen auch völlig unverträgliches – werbestrategisches Plädoyer »Atheisten für Jesus« ist hier nicht näher zu verfolgen; dass er in Jesus (»Jesus für Atheisten« – und damit natürlich für Dawkins!) offenbar ein potenzielles Mitglied der »brights« und Bewohner seiner »clear thinking oasis« bzw. »potenzielles Vorstandsmitglied« seiner Stiftung ansieht, ist gar nicht verwunderlich. 217 Ein Musterbeispiel dafür, was man sich unter Dawkins’ Wahrheitssuche und seiner intellektuellen Redlichkeit vorzustellen hat bzw. unter seinem Anspruch, das Christentum sei ihm unter den Religionen »am vertrautesten«, gibt seine »Auslegung« des Gebots der »Nächstenliebe« – »Es hieß einfach nur: ›Liebe einen anderen Juden‹« (vgl. Gotteswahn 351 f.); wiederum ist es offenbar sein Entlarvungs- bzw. Entrüstungsbedarf, der ihn auch davor nicht zurückscheuen lässt, den Sinn dieses »Gebots der Nächstenliebe« nicht nur zu verstümmeln, sondern es geradewegs ins Gegenteil zu verkehren. Seine geradezu in skandalöser Weise verzerrende Bezugnahme auf das neutestamentliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter darf als eine Gipfelleistung seiner biblischen Hermeneutik gelten, die einen entscheidenden Aspekt dieses Gleichnisses – die radikale Entgrenzung in der Frage: Wer ist mein Nächster bzw. wem bin ich der Nächste? – und die damit verbundene Verantwortung völlig ignoriert und entsprechend Jesus ganz ungeniert zu einem »Anhänger der gleichen Gruppenmoral« (Gotteswahn 357) macht. Erneut ein beeindruckender Beleg dafür, was man sich unter seinem Bestreben, mit seinen Lesern über einschlägige Fragen der Religion ins Gespräch zu kommen, vorzustellen hat. Der Unmut von J. Lennox ist nur allzu berechtigt, dass Dawkins’ Umgang mit diesem »Gebot der Nächstenliebe«6 eine Menge darüber sagt, »wie vollständig Dawkins sich von jedem Anschein wissenschaftlicher Gründlichkeit abgewendet hat, wenn es darum geht, Themen außerhalb seines Fachgebietes zu untersuchen« (Lennox 2013, 151). S. dazu auch Pietschmann 2010, 359 f. – Die Empörung Dawkins’ über dieses »Gebot der Nächstenliebe« und dessen Einschränkung auf das eigene Volk ist schon deshalb widersinnig, weil sie genau der Dawkins’schen evolutionären Perspektive auf die Reproduktion der eigenen Gene widerspricht – handelt es sich doch lediglich um Moral-Meme, die sich bewähren, d. h. lediglich: sich durchsetzen. 218 Deshalb hätte Jesus vor seinem gleichsam vorgezeichneten Aufstieg in die Vor-
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Die Idee, den jüdischen Gott auch den Ungläubigen nahe zu bringen, wurde erst von Paulus erfunden« (Gotteswahn 357). Für dieses bemerkenswerte »Bibel-feste« Urteil Dawkins’ ist vermutlich jedoch nicht nur eine weitreichende biblische Mem-Mutation, sondern das Zusammenspiel von gleich mehreren infektiösen »Mem-Defekten« verantwortlich zu machen. Noch einmal sei es betont: Man muss die mit diesen theologischen Lehrstücken verbundenen Wahrheitsansprüche ja keineswegs einfach akzeptieren; wenn man sich jedoch (wie Dawkins) ein Urteil darüber anmaßt, dann ist das Bemühen um ein sachgerechtes Verständnis derselben wohl selbstverständlich und schon eine Forderung intellektueller Redlichkeit; und auch eine Ablehnung der mit solchen theologischen Lehrstücken verbundenen Ansprüche sollte auf eine Verulkung dieser Themen verzichten, zumal sie im Falle Dawkins’ ohnedies mehr über sein Unverständnis als über diese Themen selbst verrät. Die voranstehende Zurückweisung dieser an Primitivität kaum überbietbaren Ansichten Dawkins’ – die erneut Zweifel darüber aufkommen lassen, ob sie denn auch wirklich ernst gemeint oder nicht doch unkontrollierte »Ausdrucksformen des Gehirns« sind – wird durch Dawkins’ Behandlung der neutestamentlichen Wundertexte noch einmal bestätigt. Auch sie lassen es sogar als mehr als wahrscheinlich erscheinen, dass er all dies tatsächlich ernst gemeint hat. Jedenfalls wären wohl auch elementare Bibel-hermeneutische Kenntnisse bei jemandem zu erwarten, der sich bemüßigt fühlt, sich auch über die biblischen »Wundergeschichten« auszulassen und deren Unsinnigkeit zu entlarven. Davon soll abschließend anhand des von Dawkins bevorzugten Beispiels noch kurz die Rede sein.
stands-Etage der Dawkins-Stiftung wohl noch eine harte Bewährungszeit – eine Art »bright«-Noviziat? – womöglich als Busfahrer in Dawkins’ Atheismus-Kampagne durchmachen müssen; möglicherweise hätte Jesus, befreit von den zeitbedingten religiösen Fixierungen, sich dann sogar als Beauftragter und als Sprachrohr im Dienste Dawkins’ verstanden: »Nach mir kommt einer, der ist größer als ich.«
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
2.6.3 Anmerkung 3: Kein Wunder: Zu Dawkins’ »bezauberndem« Wunderverständnis – mit besonderem Blick auf seine Auslegung der von ihm sogenannten biblischen »Wasser-inWein«-Geschichte In der Tat nicht weniger irritierend und gleichermaßen belustigend ist Dawkins’ Erklärung des Sinns der biblischen – vor allem neutestamentlichen – Wundergeschichten, die er im Schlusskapitel seines »Zaubers der Wirklichkeit« anbietet. Seine Darlegungen zum Wunderverständnis bzw. seine Wunderkritik demonstrieren erneut eindrucksvoll, dass man sich »aufgeklärte« Atheisten von seinem Schlage nicht nur als stolz und glücklich, sondern auch als unterhaltsam vorstellen muss. Das – durch bemerkenswerte Comic-Illustrationen in pädagogischer Absicht veranschaulichte – wenig überraschende Urteil Dawkins’ über Wunder als mirakulöse Durchbrechung von Naturgesetzen lässt den Leser nicht lange auf sich warten: »Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr wird einem klar, dass bereits die Grundidee ›Wunder‹ Unsinn ist« (Zauber 262); dies könnte freilich auch damit zusammenhängen, dass es diese vermeintliche »Grundidee« doch nur als »Mem« Dawkins’ – besser: Einbildung – gibt. Ein Stück weit soll er bei seiner wiederum in »aufklärerischer« Absicht unternommenen hermeneutischen »Geisterfahrt« begleitet werden, die dem von ihm beabsichtigten »öffentlichen Verständnis der Wissenschaft« wohl ebenfalls keinen guten Dienst erweist. Seine gewohnt temperamentvolle Erklärung zur Unsinnigkeit der »Grundidee Wunder« könnte freilich auch damit zu tun haben, dass Dawkins sich in seinem anti-theologischen Furor nicht zuletzt auch der Kenntnisnahme des schlichten Sachverhalts verweigert, dass mit solchen »Wundern« eine Übertretung von Naturgesetzen offenbar schon deshalb gar nicht gemeint sein konnte, weil der neuzeitliche Begriff des Naturgesetzes ganz außerhalb des damaligen Erfahrungshorizontes bzw. Weltbildes war und eine Rückübertragung bzw. Unterstellung einer solchen neuzeitlichen Vorstellung in diese Zeit deshalb schlichtweg auf einem irreführenden Anachronismus beruht. Sein Verständnis der einschlägigen Texte des Neuen Testaments manövriert hingegen erwartungsgemäß diese »Wundergeschichten« sehr rasch in die Nähe von Zauberei, wodurch diese »Wunder« als gespenstisch-»übernatürliche Vorkommnisse« erscheinen, von denen seltsame (von Dawkins sogenannte) »übernatürliche Geschichten« höchst Seltsames berichten: »Doch es gibt übernatürliche Geschich552 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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ten, die auch heute noch ernst genommen werden; die darin beschriebenen ›Ereignisse‹ heißen oft ›Wunder‹ – übernatürliche Vorkommnisse, an die viele Menschen glauben – im Gegensatz zu Märchen, an die niemand glaubt« (Zauber 245). 219 So steht es also mit der bedauerlicherweise weithin noch immer unaufgeklärten Menschheit und führt so erneut die Dringlichkeit der Mission der »brights« vor Augen: »Übernatürliche Vorkommnisse« werden in »übernatürlichen Geschichten« berichtet – was an diesen »Geschichten« freilich »übernatürlich« sein soll, dies verrät Dawkins den Lesern leider nicht, sondern hält vielmehr für das Verständnis der neutestamentlichen »Wunder-Texte« einen hermeneutischen Schlüssel bereit, der sich vermutlich selbst einer beinahe »übernatürlichen« Herkunft verdankt. Man braucht sich angesichts der Strategien eines Wissenschaftlers, der im Rahmen einer Stiftungsprofessur mit der Förderung des »öffentlichen Verständnisses von Wissenschaften« beauftragt ist, gar nicht mehr zu wundern über die Prämissen, die seiner Auslegung der neutestamentlichen Wunder-Texte zugrunde liegen. Naheliegenderweise ergibt sich für die von Dawkins bevorzugte hermeneutische Perspektive der – gewiss sehr bemerkenswerte – Befund: »Es ist überhaupt nicht geschehen, sondern nur eine Geschichte, die irgendjemand erfunden hat. Oder es war ein Missverständnis, und in Wirklichkeit hat sich etwas viel weniger Bemerkenswertes [!] abgespielt« (Zauber 259) – von »Wundernswertem« gar nicht zu reden … Der moderne Mensch und Dawkins-Leser hat sich also zwischen der von ihm angebotenen sehr bemerkenswerten Alternative zu entscheiden: Entweder handelt es sich dabei um unerklärlicherweise von »irgendjemand« bloß ausgedachte märchenhafte Geschichten oder um ein bedauerliches – gleichwohl nicht weniger unerklärliches – Missver219 Der erwähnte Sachverhalt, dass ein »Göttliches« auch nur »entsprechend den Zeiten und Umständen« der Menschen gemäß vernommen und verstanden werden kann, war stets auch ein Grund dafür, in diesem Sinne auch das »Weltbildhaft-Bedingte« der Wunder zu verstehen, eben den »Zeiten und Umständen« gemäß. So betont der Philosoph und Theologe G. Hamann, offenbar in einer Reaktion auf zeitgenössische Anfechtungen der Wunder im Namen der Aufklärung, dass Gott die Mittel seines Offenbar-Werden-Könnens »den Zeiten und Umständen überlässt. Der erste Anfang der Kirche hatte Wunder nötig; dies waren die Almosen daher der Apostel. Diese haben nach der Weisheit Gottes aufgehört; er hat uns desto mehr zeitliche und äußere Mittel in die Hände gegeben und anvertraut, womit wir unseren Glauben ebenso kräftig zeigen und wodurch wir seinen Namen ebenso vollkommen verherrlichen können« (Hamann 1949, 225).
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
ständnis eines an sich ganz »bedeutungslosen Geschehens«, das irrigerweise, man weiß zwar nicht warum, »wunderbar aufgeladen« wurde und daraus erst seine rätselhafte »Bedeutsamkeit« gewinnt. Jene »übernatürlichen Geschichten« selbst sind also gar nicht »übernatürlich«, sondern ganz und gar von »profaner Herkunft«: Entpuppen sie sich doch als bewusste Erfindungen bzw. als Ausgeburten der »Phantasie« – ein Befund, der freilich schon aus den religionskritischen und bibelkritischen Kommentaren der letzten dreihundert Jahre geläufig ist und dort allerdings eine wesentlich subtilere Begründung gefunden hat. Jene von Dawkins zur Erklärung angebotene erhellende Alternative hat nur den Fehler, dass sie offensichtlich auf undurchschauten Abstraktionen beruht: Da gibt es also zunächst bloße bedeutungslose »natürliche« Geschehnisse in der »weltlichen Realität« einerseits und andererseits die auf – woraus auch immer verursachten – Missverständnissen oder fiktionalen »übernatürlichen« Einlegungen beruhenden bzw. maßlos übertreibenden »Bedeutungsverleihungen« (von durchaus »wenig Bemerkenswertem«) durch das »gläubig infizierte« Bewusstsein: Auch diese unterstellte Unterscheidung verdankt sich freilich allein und erst recht dem entlarvenden Kritiker, der damit besser – d. h. genauer – zu wissen vorgibt, »wie es eigentlich gewesen ist« (bzw. wie es denn »objektiv« gewesen sein kann); jedoch war ebendiese Alternative als solche gerade nicht in dem Weltbild-haft geprägten konkreten Erfahrungshorizont der damaligen (»sich wundernden«) Zeitgenossen vorhanden. Es wird für diese Erfahrung also fälschlicherweise eine Differenz »unterschoben«, die der Wirklichkeit dieser Erfahrung selbst gerade völlig fremd war! Deshalb ist an Dawkins’ Entlarvung des »Wunders« – sofern es sich dabei nicht ohnedies überhaupt um pure Erfindung handelt – sehr aufschlussreich, dass sie sich von einer bemerkenswerten Konstruktion leiten lässt, die auch seiner angeführten Erklärung eines »Missverständnisses« zugrunde liegt, während »in Wirklichkeit … sich etwas viel weniger Bemerkenswertes abgespielt« habe: Das »eigentlich Wirkliche«, das sich »abgespielt« hat, wäre demnach zu rekonstruieren als das zwar einzuräumende Missverständnis-fixierte »Bewusstsein des Ereignisses« abzüglich dieser »deutend«-missverstehend »nur eingelegten« Bedeutung; mit dem daraus ernüchternderweise resultierenden – nunmehr eben schon ganz »bedeutungslos« gewordenen – »wenig bemerkenswerten« Geschehen, das nun als die eigentliche »Wirklichkeit« im Sinne einer Bedeutungs-leer gewordenen »Faktenaußenwelt« ver554 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
standen wird und sich als solche freilich an einem (entsprechend abstrakten) Realitäts-Verständnis der modernen Naturwissenschaft bemisst. »Faktizität« wäre demnach also der deutungslose »Rest«, der so aus Missverständnis-bedingt »vermeintlicher« Erfahrung abzüglich irriger Deutung erst resultiert – wobei diese eigentliche, »harte Rest-Realität« und ihr Maßstab als sinnleere »Faktenaußenwelt« nicht darüber hinwegsehen lassen können, dass dieses daraus erst hervorgegangene, jetzt nur noch »wenig bemerkenswerte« Geschehen selbst ein solches »für uns« ist, d. h. sich erst unseren Abstraktionen und einem entsprechenden Welt-Begriff verdankt. Indes, ein ähnliches Schicksal ereilt, genauer besehen, dann jedoch auch jene von Dawkins selbst so beschworenen »erhabensten Erlebnisse« sowie auch alle damit verbundenen vermeintlichen »Manifestationen [!] tiefster Vernunft« und »leuchtendster Schönheit«, die ja mitunter selbst geradezu »übernatürliche« Züge verraten; denn auch diese »Phänomene« sind entweder gewiss seltsame »Ausdrucksformen des Gehirns« oder ebenfalls »wenig Bemerkenswertes«, über das man sich ebenfalls am besten ja nicht zu sehr »wundern« soll. Jene entlarvende Erklärung Dawkins’ bewegt sich offensichtlich in undurchschauten fixierenden »Trennungen« (missverständnisbedingte Deutungen – »eigentliche« Wirklichkeit als sich »abspielendes«, d. h. von Missverständnissen befreites, deutungsfreies »Geschehen«) – allesamt künstliche »Abstraktionen«, die es in dieser in Frage stehenden Erfahrung selbst gerade nicht gegeben hat. Es fehlt nur noch die passende Erklärung für diese Wunder-produzierenden »Missverständnisse« selbst, zumal diese ja offenbar nicht bewusst erzeugt wurden – etwa im Sinne vorsätzlich gesuchter bzw. gewählter »Fiktionen« im Dienste organisierten Betrugs bzw. Selbstbetrugs. Freilich ist die Vorstellung gleichermaßen unsinnig, als könnte man den durch das moderne Weltbild bestimmten Erfahrungshorizont der Gegenwart gewissermaßen künstlich hinter sich lassen (gleichsam »abstreifen«) bzw. vergessen und an dem damals bestimmenden – uns jedoch völlig fremd gewordenen – Erfahrungshorizont unmittelbar teilhaben, d. h. diesen »zurückgewinnen« (sich »hineinversetzen«); dass dieser »unüberwindlich« eben doch nur »innerhalb« unseres Weltbildes und Selbstverständnisses (d. h. in Beziehung darauf, eben »für uns«) thematisierbar ist, verweist auf bekannte Probleme und auch Aporien, die nicht zuletzt aus den theologischen »Entmythologisierungs«-Debatten wohl vertraut sind, die allerdings leider Dawkins’ Aufmerksamkeit nicht gefunden haben. 555 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
Die Unsinnigkeit der »Grundidee Wunder« wird von Dawkins sogleich durch die biblische Geschichte des »Wunders der Hochzeit zu Kanaan« auf exemplarische Weise näher illustriert und sogleich als die »Wasser-in-Wein-Geschichte« etikettiert. Unter den genannten Vorzeichen kann es nicht »wundern«, sondern ist es ganz »natürlich«, wenn diese biblische Geschichte vom Oxforder Meisterhermeneuten und Entertainer auf die gewiss witzige, allerdings nicht weniger irreführende Weise den Lesern präsentiert wird, dass eine seltsame Bilderbuch-Gestalt offenbar erwartungsvoll Wasser in einen Trichter einfüllt und sogleich unten Wein herausfließt – wunderbar! Zur Sicherheit sei auch hier darauf hingewiesen: Es fehlt wiederum jeder Hinweise darauf bzw. jedes Indiz dafür, dass Dawkins diese Darstellung als eine von ihm nicht ganz ernstgemeinte Karikatur dieser Wundergeschichte gemeint haben könnte; es besteht also erneut durchaus Grund zur Annahme, dass er seine einschlägigen hermeneutischen Wundertaten als eine der Sache angemessene Auslegung bzw. Entlarvung der »Grundidee Wunder« verstanden haben könnte – zugleich ein eindrucksvolles Zeugnis für Dawkins’ absolute Resistenz bzw. für seine Immunität gegenüber elementaren bibeltheologischen Kenntnissen. Ein »Wunder« ganz anderer, jedoch gewiss nicht geringerer Art – bei dem gewiss alles »mit rechten Dingen zugeht« und nirgendwo ein Naturgesetz durchbrochen wird – ist dies, dass Dawkins’ gespenstische Ausführungen offenbar immer noch bei sehr vielen Menschen den Eindruck erwecken, dass seine hermeneutischen Phantasien etwas mit »Wundern« im biblischen Sinne und sein Zugang zu biblischen Texten etwas mit Sachverständnis zu tun haben. Seine spöttischen – in Wahrheit jedoch sehr verräterischen – Auslassungen darüber, »dass ein Prophet Wasser in Wein verwandelt oder [!], wie die Anhänger einer anderen Religion auf einem geflügelten Pferd in den Himmel fliegt« (Zauber 245), demonstrieren seine schier unüberbietbare Auslegungskunst recht eindrucksvoll; nicht zuletzt gilt dies auch für seinen Vergleich jenes biblischen »Wein-Wunders« mit anderen »erfundenen« Geschichten über »übernatürliche« Fähigkeiten von der Art, »eine Uhr mit Gedankenkraft zum Stehen oder zum Laufen zu bringen, einen Frosch in einen Prinzen zu verwandeln – all das bedeutet eine Verletzung der Naturgesetze« (Zauber 252): Ein Vergleich, für den man dem Hermeneuten Dawkins beinahe ewig dankbar sein sollte – ob sich dafür etwa Anhaltspunkte in den von ihm verwendeten Bibel-Ausgaben und -Kommentaren finden? Offenbar sehr erfolgreich entzieht sich Dawkins schon der jedem 556 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
Teilnehmer von Bibelrunden geläufigen Einsicht, 220 dass auch dieses sogenannte »Hochzeit zu Kanaan«-Wunder vornehmlich Gottes »Heilswirken« durch Jesus, aber keinesfalls naturwissenschaftlich relevante Sachverhalte oder mirakulöse Vorgänge zur Sprache bringt. In diesem »Wein-Wunder« wird eben nicht Naturwidriges erzählt, sondern bekenntnishaft vergegenwärtigt, dass Christus seine »Herrlichkeit offenbart« (Jo 2,11). »Hochzeit« geschieht am »dritten Tag« der Woche, der gleichermaßen jüdischer Hochzeitstag und Tag des »besonderen Heilswirkens« ist, dergestalt also »Erfahrung des Göttlichen«, die Präsenz, d. h. das Wirken und Wirklichsein desselben erfahrbar macht. Zugleich wird dieses »Heilswirken« Jesu am »dritten Tag« in theologischer Absicht auch in Beziehung zu Moses gesetzt: Jesus ist der an der »Fülle des Lebens« Anteil gebende und der als solcher erwartete »Messias«, der so die alttestamentlichen Heilsund Erwählungsvorstellungen noch überbietet: Jesus als »Retter« überbietet das über Moses Erzählte, wonach er beim Auszug aus Ägypten aus dem Felsen Wasser geschlagen (Ex 17,6) und bitteres Wasser in genießbares verwandelt habe; nunmehr ist es in typologisch-»heilsgeschichtlicher« Perspektive das »Heilshandeln« Jesu als des »neuen Moses«, das nicht nur irdisches Leben als physisches »Überleben«, sondern vielmehr »Lebensfülle« gewährt. Der biblische Text lässt die leitende – theologisch orientierte bzw. inspirierte – Absicht erkennen, dass nicht die Zauberei einer Verwandlung des Wassers in Wein, 221 sondern vornehmlich die betonte »Fülle des Weines« im Vordergrund steht: Christus ist der absolute 220 Schon aus populären Hilfstexten zum Bibelverständnis hätte Dawkins auch Aufklärung darüber finden können: »Das neuzeitliche Axiom, dass es sich bei einem eigentlichen Wunder um ein der kritischen Vernunft zuwiderlaufenden, die wissenschaftlich erfasste Naturkausalität durchbrechendes Ereignis handelt, ist dem Wirklichkeitsverständnis der Antike fremd. Wunder sind außerordentliche Geschehnisse mit Hinweischarakter auf das Wirken höherer Mächte« (Kollmann 2007, 12). 221 Mögliche Parallelen zu der im hellenistischen Dionysius-Kult verbreiteten Vorstellung, dass in der Erscheinung der Gottheit eine Verwandlung von Wasser in Wein geschieht, wurden immer wieder betont. Dionysius war für die Sicherung und großer Weingaben bekannt; er war es der leere Fässer füllte und Wein aus Quellen sprudeln ließ. – Allerdings wird diese möglicherweise übernommene Vorstellung modifiziert, weil es mit Christus als den »Heilsbringer« untrennbar verbunden wird; gleichwohl bleibt die Vertrautheit mit den Dionysius-Kulten seit dem Eindringen derselben in Palästina ab dem 2. vorchristlichen Jahrhundert beachtenswert – auch ihr möglicher Einfluss auf biblische Quellen. Der griechische Dionysus-Kult verbindet sich mit alttestamentlichen Vorstellungen der Heils- und Hochzeit.
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III. · Dawkins und die »Schöpfungstheologie«
»Heilsbringer«, der eben nicht nur das Lebensnotwendige (Wasser) sichert, sondern darüber hinaus in der mit ihm anbrechenden »Heilszeit« »erfülltes Leben« gewährt., d. h. »Überfülle« bringt und sich darin als der absolute Heilsbringer Jahwes selbst erweist; eben von daher knüpft dieses Motiv an jene durch Jesu gewährte »Überfülle« an alttestamentliche Vorstellungen an 222 und verweist überdies auf das endgültige, im Bild vom »himmlischen Hochzeitsmahl« symbolisierte »Heil«. In Aufnahme dieser im damaligen religiösen Leben durchaus wohlvertrauten Bilder wird ebendieser heilsgeschichtliche Aspekt, der mit messianischen Verheißungen engstens verbunden ist, den religiösen Orientierungs-Horizonten gleichsam »eingeschrieben« – naheliegenderweise in Anlehnung an wohlvertraute alttestamentliche Texte und Vorstellungen, die die mit dem Wirken Jesu verbundene Anknüpfung, Überbietung und »Erfüllung« verdeutlichen sollten. Die schon im Alten Testament für das »Wunder« maßgebende Vorstellung des »machtvollen Wirkens« als Anbruch der Heilszeit bleibt auch hier der bestimmende Verstehenshorizont. Man muss sich – und zwar ganz »natürlich« – tatsächlich »wundern«: Ist es denn möglich, dass einem Professor für »öffentliches Verständnis der Wissenschaften« 223 vergleichsweise einfache hermeneutische Einsichten dieser Art über die Eigenart dieser biblischen Texte verborgen bleiben können? (Wie) kann es denn sein, dass Dawkins sich ihnen wissentlich verschließt und sich – bar jedes Willens zum Verstehen – mit dem entlarvenden Hinweis begnügt, dass diese biblische Wundergeschichte – von ihm die »Wasser-in-Wein-Geschichte« genannt – eine reine Erfindung darstellt (Zauber 260)? Beinahe möchte man dafür erneut eine mehr als »natürliche« Erklärung in Dawkins’ Mem-Theorie suchen: Ist es gar jenes (»überlebensdienliche«) Bestreben, seinen Mem-Haushalt stabil zu halten und ihn gegen störende Irritationen zu immunisieren, weil andernfalls mühselig erworbene anti-theologische »Mem«-Bestände durch Infektion mit 222 Wein ist es, der »des Menschen Herz erfreut« (Ps 104,15) und der auch zur »Freude des Menschen geschaffen ist« (Sir 31,27); »Und rüsten wird auf dem Berg der Herr … allen Völkern ein Mahl von fetten Speisen … von alten geläuterten Weinen« (Jes 25,6). Und: »Sie werden kommen und auf der Höhe des Sion sich freuen … über den Segen des Herrn: über das Korn und den Wein und das Öl« (Jer 31). 223 Dies gilt freilich auch mit Rücksicht darauf, dass »science« im Englischen eben die Naturwissenschaften bezeichnet; doch unabhängig davon ist auch den Vertretern dieser »sciences« eine kritische methodische Selbstreflexion zuzumuten, sofern sie jedenfalls meinen, sich zu diesen Themen äußern zu müssen.
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Die Hauptgestalten der traditionellen »Gottesbeweise« in Dawkins’ Visier
elementaren theologischen Kenntnissen bedroht sein könnten? Die voranstehend exemplarisch vorgestellte Dawkins’sche Zugangsweise zu zentralen theologischen Themen und damit verbundenen hermeneutischen Fragen lassen jedenfalls solche Vermutungen leider als nicht unbegründet erscheinen.
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Schluss
Die in den drei Hauptteilen des Buches im Vordergrund stehenden Themenfelder beschränken sich im Wesentlichen auf Fragestellungen, die auch in philosophischer Hinsicht von besonderem Interesse sind und auch allesamt in der Tradition des philosophischen Denkens ihren festen Platz haben. Demgemäß sollte aber auch der Nachweis erbracht werden, dass das von Dawkins zwar für sich reklamierte »philosophische Interesse« an den behandelten einschlägigen Themen ihnen jedoch in keiner Weise gerecht zu werden vermag und seine eigenen Darlegungen einer kritischen Prüfung keinesfalls standhalten. 1 Es sollte deutlich geworden sein, dass bzw. weshalb sein »naturalistisch« verankertes Atheismus-Programm schon in methodischer Hinsicht auf sehr schwachen Füßen steht und seine vornehmlich in Berufung auf die moderne Wissenschaft (besonders die Evolutionstheorie) erfolgte Kritik der Religion bzw. sein Vorwurf einer »Schöpfungslüge« u. Ä. weithin einem Kampf gegen von ihm selbst aufgestellte Feindbilder gleicht und deshalb genauer besehen vielfach bloße »Leerläufe« produziert. Die (unter Naturwissenschaftlern durchaus weit verbreiteten) Auffassungen Dawkins’ dürfen freilich als ein prominentes Beispiel dafür angesehen werden, dass das interdisziplinäre Bemühen um die überfällige Ausräumung einschlägiger Missverständnisse und Versäumnisse nach wie vor eine unabdingbare Voraussetzung für eine zielführende Verständigung über das eingangs erwähnte Thema »Der Atheismus als intellektuelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts« darstellt. Dass die Dawkins’sche Konzeption diesen Erwartungen bzw. Anforderungen nicht genügt, wurde freilich von vielen aufgeklärten Geistern ohnedies längst festPointiert – und mit Blick auf die auch von atheistischer Seite erfolgte Kritik an Dawkins – wäre zu sagen: Der Atheismus könnte wahr sein, ohne dass dies etwas an der Einschätzung ändern könnte, dass die von Dawkins diesbezüglich vertretene Position als völlig unzureichend zurückgewiesen werden muss.
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gestellt – indes, es sollte jedoch nicht nur »allgemein« diagnostiziert, sondern auch im Detail dargelegt werden. Gewiss, ein solcher Nachweis über diesbezügliche Defizite und Versäumnisse ist gerade am Beispiel der von Dawkins vertretenen Auffassungen vergleichsweise einfach zu erbringen. Gleichwohl ist dies noch nicht mehr als das – wohl unverzichtbare – »negative Geschäft«, das zwar, nochmals mit Kant gesprochen, »dem Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben … die Wurzel« abschneiden mag, 2 und derartige Vermessenheiten deutlich erkennbar macht. Die zweifellos unumgängliche »Abarbeitung« daran ist zwar eine notwendige Voraussetzung bzw. ein erster Schritt, jedoch ist damit keineswegs schon der positive Erweis der »Vernünftigkeit« und Verbindlichkeit des religiösen Glaubens und der für ihn bestimmenden Inhalte erbracht. Deshalb kann sich eine kritische Theologie freilich auch mit dem gelungenen Nachweis der angezeigten schwerwiegenden theoretischen Defizite des »Neuen Atheismus« noch nicht begnügen bzw. sich dabei beruhigen. Infolgedessen weisen auch die an die wissenschaftliche Theologie gerichteten »intellektuellen Herausforderungen« – vorrangig diejenigen eines wissenschaftlichen Umganges mit der Gottesthematik – noch über die an die Religionsgemeinschaften gerichtete elementare Forderung hinaus, »sich auf die richtige reflexive Verarbeitung von Grundtatsachen der Moderne ein[zu]lassen« (J. Habermas). Die unumgängliche Bereitschaft, sich den »Grundüberzeugungen der Moderne« nicht zu verweigern – d. h. die selbstverständliche Anerkennung der Prinzipien des modernen demokratischen Rechtsstaates und der Standards der modernen Wissenschaft »im Hinblick auf unser Weltwissen« sowie die geforderte Offenheit für den Dialog mit anderen Religionen und deren Ansprüche – stellen diesbezüglich im Grunde doch lediglich selbstverständliche Voraussetzungen dar, jedoch nicht mehr. Die vorrangig an die Religionen und an die Theologie als deren systematische methodische Selbstreflexion ist jedoch wohl dies, ob und wie weit es ihnen gelingt, in einer den differenzierten und individualisierten Orientierungshorizonten der Moderne angemessenen Weise Sinn-erschließende und »lebenstragende« – und auch durch keine Substitutbildungen ersetzbare bzw. verdrängbare – Potentiale ihrer Traditionen freizulegen. Diesen Nachweis zu erbringen ist jedenfalls die elementare Herausforderung für eine ihre Ansprüche 2
Kant II 35.
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und Gehalte reflektierende Theologie in systematischer Absicht, die sich dabei (um den Preis ihrer Selbstaufgabe!) nicht mit bloß kulturwissenschaftlichen Perspektiven begnügen kann. Die ebenfalls im interdisziplinären Gespräch und im »Streit der Fakultäten« erfolgende unumgängliche Vergewisserung und Rechtfertigung, ob die für sie diesbezüglich maßgeblichen »Quellen« und Traditionen nicht schon »versiegt« bzw. »verdampft« und die daraus gleichwohl (dem Anspruch nach) noch immer gespeisten Botschaften inzwischen nicht »schal« geworden sind – d. h. ob denn die daran geknüpften theoretischen und praktischen Ansprüche auch vor dem »Forum der Vernunft« »positiv« ausgewiesen werden können –, darf wohl als die primäre »intellektuelle Herausforderung« für die Theologie angesehen werden. Falls dies nicht in zureichender Weise gelingt, mögen die schwerwiegenden theoretischen Defizite eines Atheismus bzw. einer Religionskritik von der Art Dawkins’ (bzw. überhaupt des »Neuen Atheismus«) durchaus einsichtig sein und es mag auch plausibel werden, weshalb diese Positionen als keine besondere »intellektuelle Herausforderung« gelten können und sie auch das Niveau früherer tradierter Infragestellungen unterbieten – indes, der positive Nachweis bzw. die Einlösung der bestimmten religiösen bzw. theologischen Geltungsansprüche ist damit noch keineswegs erbracht. Ebendies berührt jedoch erst den eigentlichen »Lebensnerv« nicht zuletzt der »Weltreligionen« und deren Zukunftsfähigkeit. Durch einschlägige Entwicklungen und dadurch bedingte gesellschaftliche Phänomene ist die Theologie freilich besonders in die Pflicht genommen; daran muss sie (und des Weiteren auch die kirchliche Verkündigung) sich noch einmal in ganz anderer Weise abarbeiten als an jenen zeitgenössischen Erscheinungsformen eines rabiaten »neuen Atheismus«. Der Konfrontation mit solchen zwar schonungslosen, obgleich keinesfalls in bloß vordergründiger Polemik geäußerten Einschätzungen wird gegenwärtige Theologie und Religionsphilosophie sich nicht entziehen können – jedenfalls dann nicht, wenn sie den wissenschaftlichen, kulturellen und philosophischen Ansprüchen und Erwartungen der Gegenwart genügen will. Religionsgemeinschaften, aber auch die institutionalisierten Formen der methodischen theologischen Reflexion werden sich auf Dauer wohl nicht damit begnügen können, auf den globalen Sinnmärkten sich ihre Nischen und Standorte zu sichern bzw. sich in den differenzierten Sphären der Konsumgesellschaften Psychologie-nahe und mit wohlfühl-orientierten Angeboten – d. h. vornehmlich und zuneh563 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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mend im Wellness- und Folklore-Bereich – »marktförmig« zu behaupten und dergestalt stillschweigend völlig »substanzlos« zu werden (besser: ihre »Substanz« loszuwerden). Dass die ehemals als »schwergewichtig« wahrgenommene »uralte Münze« der Religion inzwischen längst durch neue und »leichtgewichtige« ersetzt wurde, die sich zuletzt freilich als solche erwiesen, »die nur der Stempel macht« (so der kritische »Aufklärer« Lessing in seinem »Nathan der Weise«), hätte sich auf solche Weise lediglich bestätigt … Wohl nicht ohne Grund sehen problemsensible philosophische/ kulturkritische – obgleich auf einem ganz anderen Niveau als Dawkins argumentierende – Diagnostiker wie H. Schnädelbach im Blick auf die Entwicklungen der modernen Gesellschaft eine weithin vorherrschende Erosion religiöser Ansprüche, näherhin eine in verschiedenen Stufen und konkreten Erscheinungsformen zutage tretende Individualisierung und zunehmende Privatisierung, die freilich genauer besehen eine tendenzielle Selbstauflösung- bzw. auch Selbstzerstörung indiziere. Spiegle sich doch, so der kritische Befund, in diesen unübersehbaren Phänomenen der Gegenwartskultur im Grunde der Sachverhalt wider, dass Religion und Glaube in geltungstheoretischer Hinsicht ortlos und der Sache nach ohnedies – jedenfalls als eine »Gestalt des Geistes« mit rational ausweisbarem Geltungsanspruch – obsolet geworden seien und auch der theoretische Umgang damit weithin (obgleich stillschweigend) eher einen »kulturwissenschaftlichen Zuschnitt« erhalten habe. In diesem Sinne lautet beispielsweise die nüchterne Diagnose Schnädelbachs, der sich selbst – freilich auf unvergleichlich anderem Niveau als die Hauptvertreter des »Neuen Atheismus« – als »frommen Atheisten« bezeichnet: »die Quellen unserer religiösen Vergangenheit sprudeln nicht mehr«; »das jüdischchristliche und antike Erbe ist im aufgeklärten Humanismus unserer Tage angetreten und abgegolten … Die profane Moderne ist unser Schicksal. Wir leben jenseits des Christentums.« 3 Zu solchen kritischen – jedoch keineswegs einfachhin böswilligen – Einschätzungen hat sich also Kants vergleichsweise noch harmloser Befund inzwischen verschärft, dass »eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten« 4 wird – und andernfalls auch die Repräsentanten der Religionen (und ihre in Dienst genommenen »Theologen«) zu bloßen »Religionsver3 4
Schnädelbach 2009, 127. Kant VI 657.
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waltern« als »Geschäftsleuten eines sich selbst erhaltenden Systems« (Kant) werden müssten. Zwar ist auch diese Befürchtung Kants nach wie vor höchst aktuell und beherzigenswert, gleichwohl ist sie unter noch einmal gewandelten und verschärften Bedingungen aufzunehmen. Darin ist auch die aus der gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne resultierende Herausforderung enthalten, in einer der Ausdifferenzierung der Rationalität und der einzelnen »Sinnsphären« entsprechenden Weise überhaupt erst einmal der Religion ihren Ort zu bestimmen, nachdem in einer weithin säkular gewordenen Welt ein durch sie bestimmter umgreifender Orientierunghorizont nicht mehr maßgebend ist und ihre Verwirklichung nunmehr ausschließlich der individuellen Sinnorientierung überantwortet und zugemutet wird. Kritische Philosophie kann freilich solche Aufgaben und Herausforderungen nicht selber einlösen bzw. dies für die Theologie übernehmen bzw. leisten (und dies auch nicht wollen, wenn sie denn Philosophie bleibt) – sie würde sich damit in vielfacher Weise »übernehmen«; ihre Rolle bleibt vielmehr diejenige der kritischen Interpretin und Prüferin der Ansprüche, die diesbezüglich sowohl von den »Gebildeten unter den Verächtern« von »Religion« und »Theologie« als auch von den »Gebildeten« ihrer Anhänger bzw. Vertreter in religionskritischer Absicht erhoben werden. Auch so bestätigt sich: Insofern ist die in dem vorliegenden Buch unternommene Zurückweisung bzw. Kritik der Dawkins’schen Religionskritik erst der – unverzichtbare – erste Schritt, der sich im Wesentlichen auf die Diskussion der auch philosophisch relevanten Grundthemen und Voraussetzungen beschränkt; dem muss freilich die positive – im eigentlichen Sinne: theologische – Aufweisung der christlichen Gehalte und deren Sinnangebote nachfolgen – ganz im Sinne einer zeitgemäßen Einlösung des (von Dawkins ebenfalls völlig verkannten, s. o. III., 2.1.1) Programms des »fides quaerens intellectum«. Der in diesem Buch intendierte Nachweis, »warum Dawkins Unrecht hat«, ist deshalb auch keineswegs eine einseitig-blinde Parteinahme für die Theologie; vielmehr ist die Kehrseite dieser Kritik an Dawkins die nicht weniger entschiedene Aufforderung und Erwartung an die gegenwärtige Theologie, dass diese sich eingehend doch den Kernthemen jener überlieferten Glaubensgehalte (Trinität, Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung) widmen möge und ihnen nicht auf mehr oder weniger geschickte Weise ausweicht bzw. sie in »blumiger Rede« so aufweicht, dass darin ihre »Substanz« und Ver565 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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bindlichkeit, wie sie nicht zuletzt auch im christlichen Glaubensbekenntnis expliziert ist, im Grunde nicht mehr wiederzuerkennen ist. Einschlägige Tendenzen sind jedenfalls nicht zu übersehen. Der hier unternommene Aufweis, »warum Dawkins Unrecht hat«, verträgt sich also durchaus mit dem recht nüchternen und ehrlichen Befund über eine tiefgreifende Krise, in der die Theologie sich tatsächlich befindet und vor der man die Augen nicht verschließen darf … Wer wollte z. B. auch leugnen oder ignorieren, dass so manches, was in der modernen Theologie als »Fortschritt« gefeiert wird, in Wahrheit eher ein Schritt fort von der Theologie ist, der bisweilen letztendlich auf ihre mehr oder weniger heimlich vollzogene Preisgabe hinausläuft, so etwa wenn ihre – vermeintlich auf der »Höhe der Zeit« befindliche bzw. vollzogene – Assimilation an Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaften, Soziologie oder auch Philologie – de facto stillschweigend auf ihre »Selbstauflösung« hinsteuert … Am Ende dieser »Streitschrift« soll jedoch nochmals jene schon als »Motto« des Buches gewählte Notiz des berühmten »Aufklärers« G. E. Lessing über Sinn und Notwendigkeit von »Streitschriften« vergegenwärtigt werden, der seine eigenen »Streitschriften« mit dem Anliegen der »Aufklärung« unzertrennlich verbunden sah und sie – offenbar zeitlos aktuell – damit gerechtfertigt hat: »Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publicum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu ekel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. ›Gezankt‹ ; denn so nennet die Artigkeit alles Streiten; und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, dass man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken. Bestünde indes der größere Teil des Publici, das von keinen Streitschriften wissen will, etwa aus Schriftstellern selbst: so dürfte es wohl nicht die bloße Politesse sein, die den polemischen Ton nicht dulden will. Er ist der Eigenliebe und dem Selbstdünkel so unbehaglich! Er ist dem menschlichen Namen so gefährlich! Aber die Wahrheit, sagt man, gewinnet dabei so selten. – So selten? Es sei, dass noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die 566 https://doi.org/10.5771/9783495807972 .
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geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen« (G. E. Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet). 5 An diesen »Streit«-Vorgaben Lessings orientiert sich auch dieses Buch, das sich ausdrücklich in solcher Absicht als eine »Streitschrift« versteht. Sie will lediglich den Nachweis erbringen, dass Dawkins’ ausdrücklicher Anspruch: »Mein größtes Anliegen ist die Wahrheit. Ich will wissen, ob es Gott gibt oder nicht« s. o. Einleitung, Anm. 18) zu seinen thematischen Ausführungen und Strategien schlichtweg in einem eklatanten Widerspruch steht. Die von ihm geltend gemachten Einwände, so sollte gezeigt werden, können jedenfalls als kein fruchtbarer Beitrag zum Thema »Der Atheismus als intellektuelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts« gelten. Indes, auch ein so entschiedenes Urteil impliziert die Mahnung bzw. die gebotene Bereitschaft zur umso größeren Sensibilität und Irritierbarkeit dort, wo Dawkins, wie schon in der Einleitung (vgl. die Punkte 6 u. 7) zweifellos nicht einfachhin Unrecht hat. Deshalb mag Lessings Satz das letzte Wort bleiben: »Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten« …
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