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German Pages 298 Year 2015
Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt
Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA
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Inhalt
Einleitung Thomas Weitin | 7
I. G RUNDL AGEN UND G RUNDFRAGEN Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff Thomas Gutmann | 17
Was spricht für die Folter? Lutz Ellrich | 41
II. E UROPA Die Zeugen des Schmerzes Folter und Martyrologie Burkhardt Wolf | 67
Rechtmäßige und rechtswidrige Folter im gemeinen Strafprozess Peter Oestmann | 87
Zwischen Religion und Ökonomie Die Gewalt der Folter in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Fallgeschichte von Nickel List und seinen Gesellen Thomas Weitin | 111
Folter als diskursgeneratives Moment in der Literatur der Romantik Detlef Kremer | 145
»Kunstspiel mit Peitsche und Folter« Jean Améry über die Tortur im Film Sven Kramer | 169
Folterszenen Zum ästhetischen Regime der Gewalt in »Marathon Man«, »A Clockwork Orange« und »Hostel« Arno Meteling | 187
III. USA Lynching und Todesstrafe in den USA im frühen 20. Jahrhundert Jürgen Martschukat | 209 »The only torture involved is self-induced « Zur Geschichte des Lügendetektors in den USA (1900-1940) Silvan Niedermeier | 223
Folter und Scham Anmerkungen zu Guantánamo und Abu Ghraib Klaus Mladek | 243
Bestialität und Folter Colleen Glenney Boggs | 267
Verzeichnis der Beiträger | 285 Register | 287
Einleitung Thomas Weitin
In den Biographien europäischer Monarchen aus dem Zeitalter der Aufklärung findet sich häufig der Hinweis, unter ihrer Regentschaft sei die Folter abgeschafft worden. Das gilt für die österreichische Kaiserin Maria Theresia ebenso wie für den Preußischen König Friedrich II., über den das Archiv des Criminalrechts, ab 1799 eine wichtige Stimme engagierter Rechtsreformer, schreibt, er habe einen »hohe[n] Grad von Aufklärung und Menschlichkeit« (Klein 1799: I, 131) verwirklicht. Unser Bild vom aufgeklärten Absolutismus geht auf solche Einschätzungen zurück, die nicht falsch sind und doch nur eine Seite der Geschichte offen legen. Lesen wir in der zitierten Quelle weiter, ist von den Prügelstrafen die Rede, die auch nach der Abschaffung der Folter in Verhören ein legitimes Mittel waren, um den Beschuldigten zu einem kooperativen Aussageverhalten zu bewegen (ebd.: 135). Wir erfahren zudem, dass die Folter in Preußen nicht etwa öffentlichkeitswirksam als Maßnahme zur Humanisierung des Strafrechts, sondern klammheimlich per Kabinettsorder abgeschafft wurde. In Österreich gab eine ›geheime Instruction‹ den entscheidenden Befehl (Niehaus 2003: 216). Noch im Jahr des ihm nachgerühmten Folterverbots befahl der preußische König in einem weiteren Edikt, das Verbot unter allen Umständen geheim zu halten. Von der Abschaffung der Folter sollte nicht nur nichts aus den Regierungszimmern in die Öffentlichkeit dringen. Den Gerichten wurde ausdrücklich das Recht eingeräumt, weiter mit der Folter zu drohen, um zu Geständnissen zu gelangen. Man durfte den Angeklagten in die Folterkammer bringen lassen, ihm die Instrumente zeigen und anlegen. Sogar dem Scharfrichter konnte er übergeben werden. Einzig der Übergang zur Tat, zur körperlichen Gewalt, blieb verboten. An die Stelle des Gewaltvollzugs rückte eine Drohkulisse, die durch das Unwissen der Delinquenten weiter wirkungsvoll sein konnte.
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Ein Blick in die einschlägigen Handreichungen für Strafrichter aus dieser Zeit lässt deutlich werden, wie versucht wurde, die physische Gewalt der Folter in die verbale und psychische Gewalt des Verhörs zu übersetzen. Bis ins Detail wurden Strategien zur Einschüchterung entworfen, über deren Verwandtschaft mit der körperlichen Folter sich die aufgeklärten Juristen, die sie erdachten, keine Illusionen machten. Sie sprachen, durchaus affirmativ, von »Geistestortur« (Kleinschrod 1799: 79; Glaser 1883: 8: »geistige[] Tortur«), um das Fortwirken der Folter in den verschiedenen Formen sprachlicher und imaginärer Gewalt zu bezeichnen. Rechtshistoriker erklären diese Transformation der Foltergewalt aus der Geschichte des Beweisrechts, die deutlich macht, warum auf die gewaltsame Beweiserzwingung nicht ohne weiteres verzichtet werden konnte. Das Beweisrecht kannte gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch keine freie Beweiswürdigung, sondern schrieb den Richtern feste Regeln vor, die bekannteste unter ihnen war das auf die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karl V. (Carolina) zurück gehende Gebot, einen Angeklagten nur auf die Aussage zweier zweifelsfreier Zeugen oder aber auf sein Geständnis hin als überführt anzusehen und zu verurteilen (Weitin 2009: 74-84). Da die erste Bedingung für einen vollen Beweis kaum je erfüllt werden konnte, war das Geständnis häufig der einzig mögliche Weg zur Wahrheit, der oft über die Folter abgekürzt wurde. Folglich stürzte deren Verbot das gesamte Beweisrecht in eine fundamentale Krise, zu deren Bewältigung Supplemente für den physischen Wahrheitszwang gefunden werden mussten. Das waren zunächst vor allem die so genannten »Lügenstrafen«, die die Rechtsaufklärer angesichts humanitärer Zweifel mit dem Argument rechtfertigten, dass, wer unschuldig sei, sich nicht zu verstellen brauche und im Verhör guten Gewissens kooperativ sein könne. Anders als die ›peinliche Frage‹ durfte mit den Strafaktionen nicht schlichtweg ein Geständnis erzwungen, wohl aber der Pflicht zu einer wahrheitsgemäßen Aussage gewaltsam Nachdruck verliehen werden. Mittel dieses Nachdrucks waren härtere Haftbedingungen, Schmälerung der Kost und, als am häufigsten angewandtes Zwangsmittel, das Schlagen des Inquisiten. Noch fünfzig Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Folter sind solche Ersatzmaßnahmen in der als Dokument aufgeklärten Rechts geltenden preußischen Kriminalordnung von 1805 vorgesehen. Zwar heißt es in § 285 schon fast wie in Art. 104 des deutschen Grundgesetzes1: »Um den Verdäch1
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tigen zum Geständnis zu bringen, dürfen keine gewaltsamen Mittel, von welcher Art sie auch sein mögen, angewandt werden.« (CO 1805: 104) Die §§ 292-293 legen aber nicht minder deutlich fest, der mutwillig Leugnende solle Warnungen vor den Folgen der Halsstarrigkeit erhalten und dürfe, falls dies nichts nütze, bei ausreichender körperlicher Verfassung auch gezüchtigt werden. Das ist insbesondere dann vorgesehen, wenn der Angeschuldigte die Angabe von Mitschuldigen verweigert (§ 294), bei bandenmäßig begangenen Delikten also. Der Begriff der Geistestortur, dessen Konjunktur bis weit in das 19. Jahrhundert hinein reichte, bezeichnet die strukturelle Verlegenheit eines praxisfernen Beweisrechts. Regularien wie die Zwei-Zeugen-Regel hatten nur aufrecht erhalten werden können, sofern man sie durch erfolterte Geständnisse umging. Ohne diesen Ausweg und den erst sehr zögerlich zur vollgültigen Verurteilung akzeptierten Indizienbeweis musste im Verhör das Drohpotential der Folter in veränderter Form präsent gehalten werden, um verbal oder durch physische Ersatzhandlungen auf das Geständnis hinarbeiten zu können (Glaser 1883: 8). Der Versuch, die Abschaffung der Folter geheim zu halten, gehört unmittelbar in diesen Zusammenhang und diente dazu, die Ausübung körperlicher Gewalt zumindest als Vorstellung zu bewahren. Immanuel Kant lässt in seinen Anmerkungen zu Gottfried Achenwalls »Iuris naturalis pars posterior« keinen Zweifel: »Es kann niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen. Also kann er nicht torquiert werden. Aber territio findet statt.« (Kant 1934: Bd. 19, 413) In seiner Rechtslehre hat sich Kant auch mit einer weiteren sprachlich-symbolischen Kontinuität des Wahrheitszwangs befasst, mit dem Eid, durch den die Aufrichtigkeit gerichtlicher Aussagen sichergestellt werden soll. Kant fragt, ob es rechtmäßig sei, einem vor Gericht Aussagenden zur Gewährleistung der Wahrhaftigkeit zwangsweise einen Eid abzuverlangen. Er sieht den Eid als eine archaische religiöse Handlung an, die mehr mit Aberglauben als Glauben zu tun habe und die er deshalb wohlweislich außerhalb Europas ansiedelt. Als Beispiel genannt ist der »Eid der Guineaschwarzen bei ihrem Fetisch, etwa einer Vogelfeder« (Kant 1990: 159). Wenngleich Kant der Ansicht ist, dass »im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist«, hält er ihn doch für ein unentbehrliches »Notmittel« der Rechtsverwaltung, weil ohne ihn die Gerichtshöfe nicht ausreichend im Stande wären, geheim gehaltene Fakten zu ermitteln und Recht zu sprechen. Den Gerichten wird deshalb zugestanden, »diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) […] zu gebrauchen« (ebd.: 160).
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Tortura spiritualis – unter dieser gelehrten Begriffsschöpfung geben sich verschiedene Formen des juridischen Sprechhandelns als Fortsetzung der Folter mit anderen Mitteln zu erkennen. Die »Verbal-Territion« (Zedler 1745: Bd. 44, 1454), die Zedlers Universallexikon noch als gewöhnliches Wahrheitsmittel kennt, ist längst verpönt in den westlichen Gesellschaften unserer Tage, die körperliche und seelische Misshandlung Verhörter gleichermaßen unter Strafe stellen. Gleichwohl wird wieder über Folter und ›harte Verhöre‹ debattiert. Der Fall des wegen der Androhung von Folter verurteilten stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner und die Diskussion um die Verhörpraktiken westlicher Geheimdienste zeigen, dass das institutionelle Sprachgedächtnis der Folter beständig ist, wenn nicht gar eine Rückkehr zur Praxis der Lügenstrafen erfolgt. Kant hat den Begriff der tortura spiritualis bewusst weit gefasst und bezieht sich nicht nur auf die Territion, sondern auf den Zwang zur Wahrheit überhaupt. Ein solcher liegt auch der Vereidigung zugrunde, die in unserer Strafprozessordnung für Zeugen vorgesehen ist, in der Praxis aber nur selten, tatsächlich nur als ein »Notmittel« angewendet wird. Das amerikanische Prozessrecht ist demgegenüber sehr viel strenger und sieht auch für den Angeklagten eine eidlich auferlegbare Wahrheitspflicht und mithin die Möglichkeit des Meineides vor. Auch der durch das Bundesverfassungsgericht verbotene Einsatz von Lügendetektoren ist dort gestattet, um den physischen Wahrheitszwang, wie ihn die Folter realisiert hat, an der unmittelbaren Schnittstelle von Körper und Geist auf neuem technischen Niveau zu implementieren (ĺ Silvan Niedermeier). Die Beiträge dieses Bandes eint der Befund, dass die Folter nicht ersatzlos, sondern durch eine ganze Reihe von Supplementen abgeschafft worden ist, die bis in unsere Gegenwart fortwirken. Die vielfach so bezeichnete »Rückkehr der Folter« (Beestermöller 2006) ist nicht einfach die Wiederkehr des Verdrängten aus einer überwunden geglaubten Zivilisationsstufe. Sowohl die Geschichte der Folter als auch die aktuelle Gewaltpraxis widerspricht der Annahme, im Prozess der Zivilisation verschwände die physisch-ereignishafte sukzessive in formell undramatischer, struktureller Gewalt. Es lässt sich zeigen, dass bei der Folter zur Beweiserzwingung seit jeher der psychische und verbale Druck die entscheidende Rolle spielte und dass diese Gewalt von der Abschaffung nicht nur nicht betroffen war, sondern nach dem Verbot verstärkt in den Vordergrund trat. Zugespitzt kann man die These vertreten, dass die Aufklärung die Foltergewalt nicht einfach abgeschafft hat. Sie hat sie transformiert, und mit diesem Transfor-
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mationsprozess haben wir noch heute zu tun, wenn darüber geurteilt werden muss, was noch ein offensives Verhör und was bereits seelische Misshandlung ist. Wer sich systematisch mit der Folter beschäftigt, der untersucht Gewalt als Grenzbegriff und nimmt die Grauzone zwischen rechtsförmiger und rechtswidriger Gewalt in den Blick, die sich historisch in den Versuchen beobachten lässt, die Folter zu verrechtlichen (ĺ Peter Oestmann). Im Verhältnis der historischen Debatte, die zur Zeit der Abschaffung der Folter geführt wurde, und der aktuellen Diskussion, die ihre erstarkte Präsenz begleitet, sind trotz der unbestreitbaren Zäsur von Kodifikationen, Konventionen und Menschenrechtserklärungen eine ganze Reihe von Kontinuitäten zu identifizieren. Der Band untersucht sie als Diskurs der Folter und folgt also der Frage: Worüber redet man, wenn man von Folter spricht? Auch wenn im Nachhinein vor allem die humanistische Kritik im Gedächtnis blieb, ist die Folter nicht nur abgeschafft worden, weil sie unmenschlich war, sondern vor allem, weil sie sich im Strafprozess als ineffizientes Mittel der juristischen Wahrheitsfindung erwiesen hatte. Der Dichterjurist E.T.A. Hoffmann, dessen literarisches Werk als eines der ersten die traumatische Erfahrung der Tortur thematisiert (ĺ Detlef Kremer), nennt sie in seiner Funktion als gerichtlicher Gutachter ein »grausame[s] und dabei so trügliche[s] Mittel[,] die Wahrheit zu erforschen« (Hoffmann 2004, VI: 659). Nicht nur kann unter Schmerzen für alles ein Geständnis erzwungen werden, gerade bandenmäßig organisierte Kriminelle, die für den frühmodernen Staat die größte Gefahr darstellten, widerriefen häufig ihr erfoltertes Geständnis und nutzten die einschlägigen Erfahrungen mit der Folter, um den Prozess zu verschleppen. Fallgeschichten aus der Frühen Neuzeit geben ein beredtes Zeugnis von der daraus resultierenden prozessökonomischen Ineffizienz (ĺ Thomas Weitin). In einem anderen, normativen Sinn sind ökonomische Argumente in der Diskussion um Folter heute wieder entscheidend. Seit 2003 existiert eine Neukommentierung zu Artikel 1 Satz 1 Grundgesetz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (vgl. überarbeitet: Herdegen 2006). Lange Zeit galt dieser Satz kategorisch. Der Schutz der Menschenwürde sollte absolut sein und das heißt, jeder Abwägung entzogen (ĺ Thomas Gutmann). Was die Juristen Abwägungsresistenz nennen, das kennen die Literaturwissenschaftler vom Deutschen Idealismus her, namentlich von Kant, der bekanntlich formulierte: »Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde.« (Kant 1994: 58) Während diese Philosophie ausschließt, dass das oberste Konsti-
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tutionsprinzip der deutschen Verfassung utilitaristischen Erwägungen unterworfen werden kann, führt die erwähnte Neukommentierung solche Erwägungen ausdrücklich ein und skizziert so, wie sich die so genannte ›Rettungs-‹ oder ›Präventivfolter‹ im Zweifelsfall begründen ließe, eben indem der Würdeanspruch der bedrohten Gemeinschaft gegen die Würde des einzelnen Urhebers der Bedrohung aufgerechnet wird. Es ist bemerkenswert, dass sich die rechtspolitischen Diskussionen um ›Rettungsfolter‹, die verfassungsrechtliche Grundsatzfragen berühren, und populäre Darstellungen in einschlägigen Fernsehserien (»24«, »GSG 9« etc.) immer ähnlicher werden. Beide rücken ticking bomb-Szenarien in den Mittelpunkt, die ein und dieselbe Ausnahmesituation variieren: Ein Einzelner bedroht die Gemeinschaft. Im Verhör können überlebenswichtige Informationen nur gewaltsam erpresst werden. Die Vernehmungsbeamten sind vor die tragische Wahl gestellt, wem sie den Vorrang geben wollen: den Schutz- und Sicherheitsinteressen der Mehrheit oder dem Würdeanspruch des Einzelnen? Es gehört zur Gunst des nichtjuristischen Geisteswissenschaftlers, dass er für die tragic choices, vor die das Folterverbot Entscheidungsträger stellen kann, keine normative Lösung finden muss. Er darf sich für die Form interessieren, in der das Problem zur Sprache gebracht wird (ĺ Lutz Ellrich) und z. B. darauf verweisen, dass der Rückgriff auf die Kategorie des Tragischen keine neutrale Darstellung ist. Er darf ferner registrieren, dass die jedem Juristen aus seiner Ausbildung geläufige Technik der Fallfiktion die Rhetorik des Folterdiskurses entscheidend bestimmt. Schon 1992 hat Niklas Luhmann in einem Vortrag zur Legitimität von Folter (Luhmann 1993) mit einem ticking bomb-Szenario argumentiert, das fast gespenstisch an den Anti-Terrorkampf nach dem 11. September 2001 erinnert. Die Aufgabe kulturwissenschaftlicher Analyse kann mit Blick auf solche Zusammenhänge nicht darin bestehen, die Vorwegnahme der Realität in der Fiktion zu konstatieren. Es kommt darauf an zu fragen, wie und warum reale Situationen auf ganz bestimmte Weise erzählt, ja erzählbar gemacht werden. Wie kommt es, dass sich nach Jahrzehnten des Konsenses über den kategorischen Würdeschutz plötzlich neue Mehrheiten in Richtung auf ein abwägendes, ökonomisch kalkulierendes Denken bilden? Die neuen Verhältnisse im Diskurs der Folter entstammen einer Zeit, in der der Staat seinen Bürgern in der verbindlichen Begrifflichkeit des Unternehmertums begegnet (»Deutschland-AG«/»Ich-AG«). Vieles spricht dafür, die Ursachen in der Wirkungsmacht dieses ökonomischen Nar-
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rativs zu suchen, welches die Selbstbeschreibung der Gesellschaft bis hin zur kalkulierenden Legitimierung von Gewalt prägt. Die Art und Weise der Darstellung von Folter ist der normativen und politischen Auseinandersetzung keineswegs äußerlich. Das lässt sich historisch im Verhältnis von Recht und Literatur nachvollziehen, etwa anhand der Figur des Märtyrers im Übergang von der barocken Tragödie zum bürgerlichen Trauerspiel (ĺ Burkhardt Wolf). Das gilt aber vor allem in Bezug auf bildliche und filmische Darstellungen, mit Blick auf welche sich unter Berufung auf Jean Améry eine grundsätzliche Darstellungsskepsis formulieren lässt (ĺ Sven Kramer). Gleichzeitig verlangt die Zunahme extremer Foltergewalt im zeitgenössischen Mainstream-Film filmanalytische Antworten (ĺ Arno Meteling). Dies umso mehr, als es proliferierende Bilder und Aufnahmen sind, die Orte wie Abu Ghraib und Guantanamo schon jetzt in das kollektive Gedächtnis der Folterdiskussion einprägen (ĺ Klaus Mladek, ĺ Colleen Boggs). Der Aufbau dieses Bandes folgt einer Dreiteilung. An die einführenden Thesen schließen sich Betrachtungen an, die zum Grundlagenbereich der Folterdiskussion gehören (I.). Im Weiteren liegt der Schwerpunkt zunächst auf Europa (II.), danach erhält die US-amerikanische Diskussion zur Folter Raum und wird vor allem im Hinblick auf die ihr eigene Bildpolitik historisiert (III.). Es wird deutlich, wie sich die um die Welt gegangenen Digitalaufnahmen aus Abu Ghraib zu der ebenfalls hochgradig medialisierten Praxis des Lynchings und der Todesstrafe in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhalten (ĺ Jürgen Martschukat). Die Konstellation der Beiträge vermittelt zudem einen Eindruck von den heuristischen Unterschieden zwischen historischer Argumentation in den europäischen Geistes- und Kulturwissenschaften und dem interventionistischen Ansatz der amerikanischen cultural studies.
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T HOMAS W EITIN
L ITER ATUR Beestermöller, Gerhard/Brunkhorst, Hauke (Hg.) (2006): Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht? München: Beck. Glaser, Julius (1883): Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess. Leipzig: Duncker & Humblot [Neudruck: Aalen 1978]. Herdegen, Matthias (2006): »Kommentierung zu Art. 1 GG«. In: Maunz, Theodor u.a. (Hg.), Grundgesetz, Kommentar. München: Beck, Loseblattsammlung, Stand Oktober 2006. Hoffmann, E.T.A. (2004): Sämtliche Werke. Bd. 6: Werke 1814-1822. Hg. v. Gerhard Allroggen u.a. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Kant, Immanuel (1994): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. München: Meiner. Klein, Ernst Ferdinand (1799): »Geist des Criminalwesens in den verschiedenen Zeitpuncten der Preußischen Regierung«. In: Archiv des Criminalrechts. Bd. 1. Hg. v. Ernst Ferdinand Klein/Gallus Alloys Kleinschrod. Halle: Hemmerde & Schwetschke, 1. Stück, S. 107141. Kleinschrod, Gallus Alloys (1799): »Ueber die Rechte, Pflichten und Klugheitsregeln des Richters bey peinlichen Verhören und der Erforschung der Wahrheit in peinlichen Fällen«. In: Archiv des Criminalrechts. Hg. v. Ernst Ferdinand Klein/Gallus Alloys Kleinschrod. Bd. 1. Halle: Hemmerde & Schwetschke 1799, 1. Stück, S. 1-36. Zweites Stück, S. 67-113. Luhmann, Niklas (1993): Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Heidelberg: Müller. Niehaus, Michael (2003): Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München: Fink. Allgemeines Criminalrecht für die Preußischen Staaten (1806). Erster Theil. Criminal-Ordnung. Berlin: G.E. Rauck (CO 1805). Weitin, Thomas (2009): Zeugenschaft. Das Recht der Literatur. München: Fink.
I. Grundlagen und Grundfragen
Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff Thomas Gutmann Der Schutz vor Folter ist in der Bundesrepublik unmittelbar im »tragenden Konstitutionsprinzip und obersten Wert der Verfassung« (BVerfG 2004a: 311), der Menschenwürde, verankert. »Die Würde des Menschen«, statuiert Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, »ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes verstanden diese beiden Sätze in erster Linie als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur und deren systematische Strategien der Entmenschlichung und der totalitären Missachtung des Individuums. Ihr Begriffsverständnis zielte primär auf die Achtung der leiblichen Kontingenz des Menschen (Höfling 1987: 118); die Vorstellung eines kategorischen Verbots der Folter war daher Konsens. Der Parlamentarische Rat wollte im Jahr 1948 jedoch in seiner Mehrheit nicht ein bestimmtes philosophisches oder gar theologisches Narrativ der Würde im Grundgesetz verbindlich machen, und er verzichtete darauf aus gutem Grund. Zum einen war der christliche Glaube schon damals nicht mehr Allgemeingut der Gesellschaft, deren Verfassung auch für Agnostiker, Atheisten und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften begründete Autorität beanspruchen können musste. Der Staat der Bundesrepublik ist zum anderen auf konfessionelle Neutralität verpflichtet (Huster 2002), so dass gerade auch der Menschenwürdesatz, ungeachtet der gelegentlichen Versuche seiner christlichen Reinterpretation (vgl. etwa Starck 1981; Isensee 2006), ein säkulares Konzept sein muss. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass schon während der Beratungen zum Grundgesetz der Antrag einer Gruppe von Abgeordneten scheiterte, in der Verfassung festzuschrei-
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ben, dass die Menschenrechte »von Gott gegeben« seien. Die Würde des Menschen, wie sie im Artikel 1 festgeschrieben ist, sollte vielmehr – in den Worten von Theodor Heuss – als »nicht interpretierte These« verstanden werden (Parlamentarischer Rat 1993: 72). Nun stellt das Interpretieren das Kerngeschäft der Juristen dar. In den vergangenen sechzig Jahren ist, vorangetrieben von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtswissenschaft, ein ausdifferenziertes Verständnis des Würdekonzepts gewachsen, das sich in der Tiefenstruktur des Rechts verankert und rhizomartig vernetzt hat. In dieser Form hat es als »oberstes Konstitutionsprinzip« eine strukturbildende Funktion für die Rechtsordnung der Bundesrepublik übernommen und zugleich darüber entschieden, welche Argumente im Medium des Rechts anschlussfähig sind, weil sie rekursiv auf vorhandene Kommunikationen im System Bezug nehmen und so rechtsspezifischen Sinn produzieren können (Luhmann 1993: 41ff., 66). Die Diskussion um Präventivfolter und Menschenwürde zielt deshalb auf die architektonischen Fundamente des Rechts und führt schon aus diesem Grund ein massives Potential an Kollateralschäden mit sich.
I. F UNK TIONEN DES W ÜRDEGRUNDSAT ZES Der Würdegrundsatz umschreibt das Fundament reziproker Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen. Für die normative Ordnung der Bundesrepublik erfüllt er mehrere Funktionen.
1. Schutz des Einzelnen Der Rechtssatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, der selbst eine Grundrechtsgewährleistung enthält (Höfling 2007: Rn. 3ff.), soll dem Einzelnen in seinem irreduziblen Eigenwert einen schlechthin nicht antastbaren, absolut garantierten Freiheits- und Schutzbereich gegenüber Kollektivinteressen garantieren (Herdegen 2006: Rn. 1; Badura 1964: 339ff.). Er fungiert als »Bollwerk gegen den Leviathan« (Bayertz 1995: 471), gerade weil die durch die Verfassung garantierten einzelnen Freiheitsrechte keine side constraints (Nozick 1974) staatlichen Handelns sind. Sie können vielmehr sowohl zugunsten konkurrierender Rechte als auch zugunsten kollektiver Güter eingeschränkt werden, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Ein Kern, der (im Einzelnen
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unterschiedlich zu bestimmende, vgl. Herdegen 2006: Rn. 23) »Würdegehalt« der Grundrechtsgarantien, soll der Abwägung entzogen, also als Absolutum garantiert sein. Wird ein Grundrecht in modaler Hinsicht auf entwürdigende Weise verletzt oder dem Grundrechtsträger eine elementare Bedingung seiner Existenz oder Entfaltung verwehrt, greift die kategorische Schranke des Art. 1 Abs. 1 GG ein (Höfling 2007: Rn. 58). Zugleich sind die Grundrechte im Licht des Würdeprinzips auszulegen (Jarass 2007: Rn. 2). Nichts anderes meint die Rede von der Menschenwürde als »Wurzel aller Grundrechte«, der zufolge »sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind« (BVerfG 1995: 293; vgl. Hilgendorf 1999: 149). Das Würdeprinzip untersagt die Opferung des Einzelnen für das Kollektiv und insbesondere seine vollständige Instrumentalisierung. Dieses Instrumentalisierungsverbot wurde vom Bundesverfassungsgericht immer wieder bemüht, wenn es Artikel 1 des Grundgesetzes ex negativo mit der (in ihrer Anwendungsdimension kaum je unproblematischen) »Objektformel« erläuterte, der zufolge es der menschlichen Würde widerspricht, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates (oder Privater) zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität, d. h. seinen Status als Rechtssubjekt, prinzipiell in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (z. B. BVerfG 1992: 228; BVerfG 2006). Mit dieser auf die Formulierung des Instrumentalisierungsverbots in der Kantschen Moralphilosophie (Kant 1974 [1786]: 67, 75) rekurrierenden Formel hat das Gericht beispielsweise das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden – z. B. des zwangsweisen Einsatzes des Lügendetektors (BVerfG 1982; Herdegen 2006: Rn. 81) – und das Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung im Strafprozess (BVerfG 1993b; Starck 2005: Rn. 56) begründet. Sie erfasst umso mehr die (auch von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG) untersagte Folter, weil deren Anwendung »die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs [macht] und grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen [zerstört]« (BVerfG 2004b; vgl. für viele: Jarass 2007: Rn. 14a). Auch der Anspruch auf rechtliches Gehör wurzelt in letzter Konsequenz in Art. 1 Abs. 1 GG und vermittelt die Garantie, dass wir Subjekte unserer rechtlichen Verfahren bleiben. Selbst der strafende Staat darf die Identität eines Menschen nicht brechen – die lebenslange
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Freiheitsstrafe wurde nur unter der Bedingung für mit der Verfassung vereinbar erklärt, dass dem Verurteilten grundsätzlich die Chance verbleibt, je wieder in Freiheit zu kommen (BVerfG 1977). Seit dem ersten »Volkszählungsurteil« wurde zudem ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung als würdegeneriertes right to privacy entwickelt, weil es »mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren wäre, wenn der Staat für sich das Recht in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und katalogisieren« (BVerfG 1983). Der Würdesatz setzt also nicht nur der Gewalt, sondern auch den staatlichen Dispositiven der Wahrheit und des Wissens Grenzen. Art. 1 Abs. 1 GG statuiert ein absolutes Verletzungsverbot. Die Würde des Menschen unterliegt nach dem nahezu unangefochten herrschenden verfassungsrechtlichen Verständnis keinen Grundrechtsschranken und entzieht sich in ihrer Funktion als rechtliche Regel jeder Abwägung mit anderen Rechten oder Rechtsgütern, auch mit solchen von Verfassungsrang (BVerfG 1995; Herdegen 2006: Rn. 5 u. 43ff.; Höfling 2007: Rn. 9ff.; Dreier 2004: Rn. 44, 131ff.). Sie umschreibt mit anderen Worten ein kategorisches Rechtsprinzip, das sich aus der Vorstellung nährt, dass der Einzelne einen auch in Konfliktfällen immer vor Verletzung geschützten und niemals fungiblen Anspruch auf Respekt vor seiner Rechtsperson hat. Die Würde im Rechtssinn ist deshalb kein kollisionsfähiges Gut. Dies bedeutet zugleich, dass innerhalb des Art. 1 Abs. 1 GG die negative Dimension des Würdesatzes, d. h. das Verletzungsverbot (»unantastbar«), der Schutzdimension lexikalisch vorgeordnet ist. Der Staat kann nicht beides gegeneinander stellen und letztere gegen ersteres ausspielen, er darf eine Person auch nicht zum Zwecke des Schutzes der Würde anderer entwürdigen. Dieses Normverständnis wird seit einigen Jahren insbesondere durch die Diskussion um die Zulässigkeit der »Rettungsfolter« in Frage gestellt. Dies geschieht entweder unmittelbar unter Rekurs auf die Rhetorik der Ausnahmesituation (siehe dazu auch die Beiträge von Mladek und Ellrich in diesem Band), in der die Not letztlich kein Gebot kennt (Brugger 2000: 169 – »Relativierung des allgemeinen Folterverbots in Ausnahmesituationen«) oder aber, sehr viel tiefgreifender, in der methodischen Absicht, den der Abwägung und der Zweck-Mittel-Rationalität schlechthin entzogenen Würdesatz systematisch der Verrechenbarkeit zu öffnen. Als sichtbarster Versuch in diese Richtung kann die Kommentierung des Art. 1 GG durch Herdegen (2006) gelten, die den Ansatz verfolgt, den Menschenwürdesatz hinsichtlich seiner Rechtsfol-
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gen zwar weiterhin als kategorisches Verletzungsverbot zu verstehen (ebd.: Rn. 69), seinen Schutzbereich jedoch als »abwägungsgeprägt« zu begreifen und in diese Abwägung die mit dem Eingriff verfolgte Finalität, d. h. den Zweck der Beeinträchtigung, einzustellen. Ein »guter Zweck« vermag in dieser Perspektive also nicht nur das Mittel zu heiligen, sondern soll dem Betroffenen die Möglichkeit nehmen, die von ihm erlittene Grundrechtsbeeinträchtigung überhaupt als Verletzung seiner Menschenwürde im Rechtssinn darzustellen. Die These von der »Wertungs- und Abwägungsgebundenheit von Würdeanspruch und Verletzungsurteil« versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wann der nicht relativierbare und abwägungsfeste Menschenwürdesatz aktiviert wird. Die Problematik dieser Antwort liegt nach dem Ausgeführten auf der Hand. Herdegens Ansatz zielt so tief, dass er notwendigerweise in weiten Teilen den strukturellen Sinn des Würdeprinzips zerstört und sich damit zugleich des theoretischen Instrumentariums begibt, die von ihm verfolgte Verflüssigung des Konzepts noch auf »Randzonen der Würdegarantie« (ebd.: Rn. 44) beschränken oder sonstwie argumentativ kontrollieren und steuern zu können. Dies wird gerade an der Frage polizeilicher Präventivfolter sichtbar, deren Szenarien definitionsgemäß dem Zweck der Rettung des Lebens Unschuldiger – also dem hohen Gut der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – gelten. Wenn Herdegen einräumt, dass es durchaus einen »Würdekern« gebe, »dessen Verletzung rein gegenständlich-modal durch die Art der Behandlung in Abstraktion von weiteren Umständen begründet ist (etwa Genozid und Massenvertreibung)« (2006: Rn. 43), so zeigen die gewählten Beispiele, dass es sich hierbei um Sachverhalte handelt, deren Zweck schlechthin keiner vernünftigen Rechtfertigung zugänglich ist. Dies unterscheidet Genozid von polizeilicher Präventivfolter mutmaßlicher Terroristen mit dem Ziel der Rettung Unschuldiger in den omnipräsenten ticking-bomb-scenarios. Konsequenterweise wendet sich Herdegen zunächst auch dagegen, in solchen Fällen die Zufügung körperlicher Schmerzen zur Willensbeugung »rein modal […] und deswegen stets – in völliger Abstraktion vom intendierten Lebensschutz – als Würdeverletzung« zu beurteilen (ebd.: Rn. 45). Unerfindlich bleibt jedoch, warum sich Herdegen sodann auf die Behauptung zurückzieht, in der Folter zur Rettung unmittelbar bedrohter Menschenleben in Abwesenheit erfolgversprechender Alternativen sei eine »Grenze würdeimmanenter Abwägung« und ein »Dilemma« zu sehen, das sich nach verfassungsrechtlichen Maßstäben keiner befriedigen-
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den Lösung zuführen lasse (ebd.: Rn. 45). Gerade in der von ihm begründeten theoretischen Perspektive wird in ticking-bomb-scenarios die »Abwägung von Zweck und Beeinträchtigung« immer zugunsten des Eingriffs ausschlagen müssen. Dies gilt umso mehr, als Herdegen – entgegen seiner nicht begründeten These, dass die Zahl der in ihrer Würde oder ihrem Leben betroffenen Menschen kein entscheidendes Kriterium liefern könne (ebd.: Rn. 45) – im Rahmen seines Ansatzes über keine theoretischen Mittel verfügt, um sich bei der Anwendung des Abwägungsmodells der Quantifizierung von Rechten und Schutzgütern zu entziehen. Der Versuch der Rettung Hunderter oder Tausender muss in der Logik der Zweck-Mittel-Relation immer ein anderes Gewicht haben als die Rettung eines Einzelnen. Die Folterung einer Handvoll mutmaßlicher Terroristen zur Rettung des Lebens hunderter potentieller Opfer ist im verrechnenden Kalkül allemal gerechtfertigt (und in Herdegens Ansatz mithin hinreichender Grund dafür, den Akt der Folter selbst nicht unter Art. 1 Abs. 1 GG zu subsumieren). Herdegens zieht sich darauf zurück zu konstatieren, gegen die Zulässigkeit der Folter spreche letztlich »ein traditioneller Konsens«, auf dessen Grundlage sich bei Folter eine Würdeverletzung eben doch »rein modal, ohne Berücksichtigung des verfolgten Zwecks begründen« lasse (ebd.: Rn. 45 und 90). Abgesehen davon, dass dieser Konsens längst brüchig ist, markiert dieses Zugeständnis nur ein mit den theoretischen Mitteln des Herdegenschen Ansatzes nicht mehr herzuleitendes und deshalb kontingentes Zurückweichen vor den Konsequenzen einer Interpretation, auf deren Grundlage jeder modal menschenwürdeverletzende Eingriff in individuelle Grundrechte for the greater good gerechtfertigt werden kann, soweit es sich bei diesem »höheren« Gut um den intendierten Schutz eines unmittelbar bedrohten und hinreichend gewichtigen Rechtsguts von Verfassungsrang handelt. Herdegen, der den notwendigerweise deontologischen Sinn des kategorischen Würdesatzes als »Simplifikation« missversteht, unternimmt mit seiner Forderung nach »situationsgebundener Abwägung von Zweck und Beeinträchtigung« (ebd.: 43) trotz seiner Betonung des Finalitätsbegriffs letztlich eine konsequentialistische Reformulierung des Würdekonzepts. Diese verfehlt, wie nun zu zeigen sein wird, auch deshalb den normativen Sinn des Würdesatzes, weil in Art. 1 Abs. 1 GG vom Rechten die Rede ist und nicht von einem Gut unter anderen Gütern (Lübbe 2006: 74).
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2. Sicherung eines nichtkonsequentialistischen Verständnisses von Grundrechten Der Würdegrundsatz, der die Opferung des Einzelnen zugunsten des Kollektivnutzens untersagt und die kategorische Achtung vor der Rechtsperson sans phrase einfordert, bildet zugleich den Kern der nicht-, ja antiutilitaristischen Struktur der Grundrechtsordnung. Dem nichtkonsequentialistischen, d. h. deontologischen Verständnis moralischer und juridischer Rechte ist es darum zu tun, zum Ausdruck zu bringen, dass der Einzelne Selbstzweck ist (Kamm 2000: 205). Subjektive Rechte und Ansprüche stehen in diesem Verständnis in einem Spannungsverhältnis zu Vorstellungen kollektiver Wohlfahrt, die auf utilitaristischer Nutzenaggregation beruhen. Deontologisch verstandene Rechte beharren auf der »Getrenntheit der Personen« (Rawls 1993: 45, Übers. verändert) und dem Respekt vor ihrem der Verrechenbarkeit entzogenen Eigenwert. Sie fungieren so als Schranken für die kollektive Nutzenmaximierung, wenn diese droht, über die berechtigten Ansprüche Einzelner hinwegzugehen. Jedenfalls im Anwendungsbereich des Würdesatzes ist die Rationalität der Rechte eine strikt nichtkonsequentialistische.1 An der Struktur des Menschenwürdeschutzes entscheidet sich deshalb, ob die Rechtsordnung und die von der Verfassung garantierten subjektiven Rechte des Einzelnen auch künftig in einem deontologischen Sinn verstanden werden können oder ob sie sich bereits auf konzeptioneller Ebene konsequentialistischen, d. h. folgenorientierten Erwägungen und ihrer Assimilation an Güter öffnen und beugen müssen. Hier liegt zugleich die entscheidende Weichenstellung für die Frage nach dem rechtlichen Verhältnis des Einzelnen und seiner Interessen zum sozialen Kollektiv.
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