Von Lavater zu Darwin [Reprint 2021 ed.] 9783112584248, 9783112584231


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Von Lavater zu Darwin [Reprint 2021 ed.]
 9783112584248, 9783112584231

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SITZUNGSBERICHTE DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU L E I P Z I G Mathematisch-naturwissenschaftliche Band

108

• Heft

Klasse 6

WALTERBREDNOW

VON LAVATER ZU D A R W I N

Mit 14 Abbildungen im Anhang

A K A D E M I E - V E R L A G 1969

-

B E R L I N

BERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU L E I P Z I G MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE KLASSE Verfasser- und Sachregister 1896—1945 der Abhandlungen und Berichte 1961.100 Seiten - gr. 8» - M 7,80 Band 97 Heft 1*) Trof. Dr. ERICH STRACK, Beobachtungen über den endogenen Anteil des Kot-Stickstoffs. 1949 Heft 2*) Prof. Dr. ERNST HÖLDER, Über die Variationsprinzipe der Mechanik der Kontinua. 1950 H e f t 3*)

Heft 4*)

Heft 5*) Heft 6*) Heft 7*) Heft 8*) Band 98 Heft 1*) Heft 2 Heft 3*) Heft 4*)

D r . H . GERSTNER / D r . H . BAARK / D r . H . GRAUL, D e r W e c h s e l s t r o m w i d e r s t a n d d e r F r o s c h -

haut. 1950 Prof. Dr. HERBERT BECKERT, Existenz- und Eindeutigkeitsbeweise für das Differenzverfahren zur Lösung des Anfangsproblems, des gemischten Anfangs-Randwert- und des charakteiristischen Problems einer hyperbolischen Differentialgleichung zweiter Ordnung mit zwei unabhängigen Variablen. 1950 Prof. Dr. HERBERT BECKERT, Über quasilineare hyperbolische Systeme partieller Differentialgleichungen erster Ordnung mit zwei unabhängigen Variablen. Das Anfangswertproblem, die gemischte Anfangs-Randwertaufgabe, das charakteristische Problem. 1950 Prof. Dr.-Ing. ENNO HEIDEBROEK, Das Verhalten von zähen Flüssigkeiten, insbesondere Schmierflüssigkeiten, in engen Spalten. 1952 'Prof. Dr. HANS SCHUBERT, Über eine lineare Integrodifferentialgleichung mit Zusatzkern. 1950 Dipl.-Phys. HELMAR KRUPP, Bestimmung der allgemeinen Lösimg der Schrödinger-Gleichung für Coulomb-Potential. 1950 Prof. Dr. WALTER SCHNEE, Über magische Quadrate und lineare Gitterpunktprobleme. 1951 Prof. Dr.-Ing. ENNO HEIDENBROEK, Über die Beziehungen zwischen Schmierung und Verschleiß bei geschmierter Gleitreibung. Nachdr. 1954. 36 Seiten — 5 Abb. — 8' — M 2,75 Prof. Dr.-Ing. e. h. KARL KEGEL, Der Salzstock Mirowo bei Provadia in Bulgarien. 1951 Prof. Dr. HERBERT BECKERT / Prof. Dr. HANS SALIIS, Bemerkungen über die Verbiegung hyperbolisch gekrümmter Flächenstärke / Über Abels Verallgemeinerung der binomischen Formel. 1951

Heft 5*)

Prof. Dr. ERICH STRACK, Die Dauerinfusion als Verfahren zur Erforschung des Kohlenhydratstoffwechsels des Tierkörpers. 1952

Band 99 Heft 1») Heft 2») Heft 3

Prof. Dr. HEINRICH BRANDT, Über das quadratische Reziprozitätsgesetz. 1951 Prof. Dr. G. SPACKELER, Der Gebirgsdruck und seine Beherrschung durch den Bergmann. 1951 Prof. Dr. ERNST DIEPSCHLAG, Die Anwendbarkeit der Regelungstechnik in der Hüttenindustrie 1952. 38 Seiten - 12 Abbildungen - 8" - M 3,90 Heft 4*) Prof. Dr. ALBERT FROMME, Die Bedeutung der Entwicklungsgeschichte, besonders des Mesenchyms, für die Klinik. 1952 Dr ROBERT BÖKEE, Die Entstehung der Sternsphäre Arats Heft 5 1952. 68 Seiten - 4 Abbildungen - 2 Falttafeln - 3 Tabellen - 8" - M 5,60 Band 100 Prof. Dr. HEINRICH BRANDT, Über Stammfaktoren bei ternären quadratischen Formen Heft 1 1952. 24 Seiten - 8" - M 2,25 Dr. PAUL GÜNTHER, Zur Gültigkeit des Huygensschen Prinzips bei partiellen DifferentialHeft 2 gleichungen vom normalen hyperbolischen Typus 1952. 43 Seiten — 8° — M5,— Heft 3 Heft 4 Heft 5 Heft 6 Heft 7

D r . ALFRED MÜLLER, D i e S c h a u b a r k e i t i n d e r A x o n o m e t r i e

1952. 22 Seiten - 3 Falttafeln - 8° Prof. Dr.-Ing. ENNO HEIDENBROEK, Die Beziehungen zwischen Härte, Schmierung schleißfestigkeit Nachdruck 1954. 40 Seiten - 10 Abbildungen - 8° Prof. Dr. ROBERT SCHRÖDER, Frauenheilkunde in Forschung und Praxis 1952. 22 Seiten - 8° Dr. ROLF REISSIG, Die pandiagonalen Quadrate vierter Ordnung. 1952. 54 S. — 8" Prof. Dr. MAX ROBITZSCH, Die Erforschung der Atmosphäre, ihre Methodik und ihre 1953. 30 Seiten - 12 Abbildungen - 4 Kunstdrucktafeln - 8*

- M 3,und Ver- M 3,40 - M 1,35 — M 5, — Probleme - M 2,50

Band 101 Heft 1 Prof. Dr. KURT SCHWABE, Periodische Erscheinungen bei der anodischen Auflösung des Zinks 1954. 33 Seiten - 14 Abbildungen - 8" - M 3 , ~ Heft 2 Dr. UDO PIRL, Positive Lösungen einer nichtlinearen Integralgleichung 1953. 44 Seiten - 2 Abbildungen - 8" - M 4 , Heft 3*) Dr. JOACHIM FOCKE, Asymptotische Entwicklungen mittels der Methode der stationären Phase. 2., unveränderte Auflage. 1967 H e f t 4") Prof. Dr. HANS SAlllS, Zur Verteilung natürlicher Zahlen auf elementfremde Klassen. 1954 *) vergriffen

Fortsetzung auf der 3. Umschlagseite

SITZUNGSBERICHTE DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU L E I P Z I G Mathematisch-naturwissenschaftliche Band

WALTER

Klasse

108 • Heft 6

BREDNOW

VON LAVATER ZU D A R W I N

Mit 14 Abbildungen im Anhang

A K A D E M I E - V E R L A G 1969

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B E R L I N

Vorgetragen in der Sitzung vom 14. Oktober 1968 Manuskript eingeliefert am 13. Januar 1969 Druckfertig erklärt am 15. September 1969

E r s c h i e n e n i m A k a d e m i e - V e r l a g G m b H , 108 Berlin, Leipziger S t r a ß e 3 — 4 C o p y r i g h t 1969 b y A k a d e m i e -Verlag G m b H L i z e n z n u m m e r : 202 ' 100/472/69 G e s a m t h e r s t e l l u n g : V E B D r u c k h a u s „ M a x i m G o r k i " , 74 A l t e n b u r g B e s t e l l n u m m e r 2027/108/6 • 17 A, 18 G 1 5,50

E s hat wohl wirklich kaum eine Wegstrecke der Wissenschaftsgeschichte vom Menschen gegeben, die sich so intensiv und auch so kampfbereit mit dem Wesen des Menschen, seiner Herkunft und vor allem seinen Ausdrucksformen beschäftigt hat wie die mit den Namen L A V A T E E und D A R W I N gekennzeichnete. Einem solchen neuen Vordringen auf diesem Gebiet entspricht die Hartnäckigkeit, mit der sich der Zürcher Theologe Johann Caspar L A V A T E R in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts zu einer neuen Methodik der Menschenkenntnis vorarbeiten wollte. Gehalten und getrieben von der Kraft der ihm innewohnenden Religiosität, glaubte er, in jedem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes erkennen zu können und zu müssen, und so war es ihm letztlich ein geistliches Anliegen, das moralisch Gute des Menschen aus einer jeden Physiognomie abzulesen. Sein Ruf als Physiognomikersetzte schon mit einer kleinen Schrift ein, die er seinem Freunde, dem schweizerischen Landsmann und Arzt Johann Georg Z I M M E R M A N N übersandte mit dem Titel „Von der Physiognomik" [ 1 ] , Es ist der gleiche Z I M M E R M A N N , der 1768 Nachfolger W E R L H O F S als Leibarzt am Großbritannischen Hofe in Hannover wurde. Z I M M E R M A N N hatte ohne Wissen und Willen des Freundes diese erste Arbeit über die Physiognomik im Hannoverschen Magazin in Druck gegeben, ohne den Namen des Autors bekannt zu geben; er schildert den Verfasser nur als einen „demüthigen Jüngling" — L A V A T E R war immerhin schon 31 Jahre alt —, der in seinem kurzen Leben „mehr gedacht als 1000 bärtige Weise, und mehr empfunden als alle unsere empfindsame Gecken." Die Physiognomik wird als „die Kunst, die Menschen aus ihren Gesichtern zu kennen, der Welt mitzutheilen", charakterisiert, und der Verfasser sei als „der Schöpfer einer Wissenschaft" zu bezeichnen, „die allerdings den Schlüssel zu allen Tiefen der menschlichen Natur gibt." Einige Monate darauf konnte im gleichen Jahr ein Bändchen mit dem Titel „J. C. Lavater von der Physiognomik" [2] in Leipzig erscheinen, mit einem „Vorbericht" Z I M M E R M A N N S versehen. Obgleich diese Schrift keine Abbildungen enthielt, erregte sie die gebildete Öffentlichkeit sehr bald, und zwar in doppelter Richtung; es gab begeisterte und ebenso sehr kritische Stimmen. Aus einer solchen fragwürdigen Atmo1*

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Sphäre heraus ist denn auch jene anonym erschienene Schrift entstanden, die 1 7 7 5 , also kurz vor dem Erscheinen des I . Bandes von LAVATEES großem Werk „Physiognomische Fragmente" im Druck erschien mit dem etwas reißerischen Titel „Schreiben eines Viehhändlers über die Physiognomik, an ein Wohlgebohrenes Intelligenzcontoir in Hannover" [3]. Der Verfasser ist wahrscheinlich der Freund ZIMMERMANN selbst, der vorbeugend und propagandistisch vorbereitend für den I. Band von Lavaters Physiognomik auf der Leipziger Messe eintreten wollte. Ein auf der Messe sehr erfolgreicher Viehhändler, so wird die Geschichte eingefädelt, hört abends in der Rose vom Nebentisch her Gespräche, die von einem Leipziger Buchhändler in Gang gesetzt worden sind; es kommt diesem auf eine Voranzeige eines in Kürze erscheinenden Buches über die Physiognomik an, und der Viehhändler horcht auf und entnimmt einer lebhaften Diskussion soviel, daß einige der Anwesenden, Kaufleute, Magister, Studenten u. a. von den Möglichkeiten der Physiognomik sehr begeistert sind, während andere dies als „eitel Fratzen" ablehnen. Aus dem Äußeren auf das Innere zu schließen, ist ihm nichts Neues, denn er als Viehhändler habe ja immer aus dem Äußeren den Wert eines Pferdes, Ochsen oder Schafes abgeleitet, und man sei auf dem Markt um so erfolgreicher gewesen, je mehr man davon verstanden habe. Nun interessiert ihn die Sache, und er beschließt, das Buch bei Erscheinen zu kaufen, „nicht etwa, um die Menschen kennen zu lernen, denn damit handle ich nicht, sondern ich dächte, darin gewiß verschiedenes zu finden, was mir bey meiner nothwendigen Kenntnis von Pferden und Ochsen nützlich seyn könnte. In dieser Sache lernt man niemals aus." Das auf einer Messe angepriesene Werk LAVATERS „Physiognomische Fragmente" beginnt 1775 in 4 Foliobänden zu erscheinen, und es enthält eine Fülle schönsten graphischen Bildmaterials. Maßgebend mitbestimmt ist das Werk durch Gedanken des Genfer Zoologen und Philosophen Charles B O N N E T , die LAVATER in einem in Briefform gehaltenen Buche „Aussichten in die Ewigkeit" [ 4 ] in den Jahren 1 7 6 8 — 7 3 fortgeführt hatte. Es war vor allem die Kontinuitätsidee BONNETS, die LAVATER SO anzog, besonders der Gedanke, daß ein Teil unseres Körpers den Tod „überlebe" und zum Träger des jenseitigen Körpers werde, in einem Vorgang der Palingenesie in einem christlichen Sinne. Eine sehr klare Richtung auf physiognomische Fragen ist in diesem Werk LAVATERS nur schwer auszumachen, wenn man nicht doch den 1 7 7 2 verfaßten 16. Brief in den „Aussichten" hervorhebt; hier geht es ihm um die „Sprache des Himmels". Es müsse im Jenseits eine „unmittelbare Sprache" geben, die „physiognomisch, pantomimisch, musicalisch" sei. Er stellt die physiognomische Sprache an den Anfang und meint: „Wie Christus das redendste, lebendigste, vollkommendste Ebenbild des unsichtbaren Gottes

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ist, ein Ebenbild, wo alles Ausdruck, alles von unerschöpflicher und unendlicher Bedeutung ist, ein so wahrhafter, unerschöpflicher Ausdruck, daß eine successive, durch alle Ewigkeiten fortgehende Wortbeschreibung des höchsten Erzengels den Reichthum und die Erhabenheit dieses Ausdruckes nicht erreichen, das ist, die Eindrücke nicht verursachen könnte, die das Urbild auf den, der dazu organisirt ist, es zu verstehen in wenigen Augenblicken machen muß, so ist jeder Mensch (ein Ebenbild Gottes und Christi) so ganz Ausdruck, gleichzeitiger, wahrhafter, vielfassender, unerschöpflicher, mit keinen Worten erreichbarer unnachahmbarer Ausdruck; er ist ganz Natursprache.' 1 Und von hier aus, von dem Gedanken der Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen, bezieht er die ganz große Bedeutung der Physiognomik als „die sichtbare Darstellung des Unsichtbaren, die nichts als Offenbarung und Wahrheitssprache ist." Wie stark B O N N E T ihn beeinflußt hat, geht auch daraus hervor, daß er dessen zweibändiges Werk „Philosophische Palingenesie" [5] aus dem Französischen übersetzt hat, so daß 1769 und 1770 die beiden Teile in deutscher Sprache erscheinen konnten. In den letzten Jahren des 6. Jahrzehnts des Jahrhunderts wird die Tendenz zu physiognomischer Arbeit immer deutlicher, und der Freund ZIMMERMANN feuert diese Wegrichtung sehr an. In einem Brief vom 30. Januar 1767 schreibt er an L A V A T E E : „Dieu me le pardonne, aber als ich in Deinem Briefe las, daß Du gegenwärtig gegen keine Passion kämpfen müssest wie gegen die Passion, eine Physiognomik zu schreiben, wünschte ich — darf ich es sagen? — für ein Vierteljahr der Teufel zu sein, um in Dich zu fahren, mich auf diese Passion zu setzen und mit derselben so lange in Deiner Seele herumzureiten, bis man in Füseli's Catalogus lesen würde: ,Erste Linien der Physiognomik von C. Lavater' . . ." [6] ZIMMERMANN war auch schon in der Zeitschrift „Erinnerer" Mitarbeiter LAVATERS, und erst nach der Berufung ZIMMERMANNS nach Hannover wurden die Beziehungen leicht gelockert, um wieder enger zu werden, als nach dem Erscheinen der „Physiognomischen Fragmente" auch eine Flut von Angriffen gegen LAVATER einsetzte, so daß sich ZIMMERMANN als Freund und Förderer dieser Arbeitsrichtung gleichsam mit angegriffen fühlte und energisch für den Freund eintrat. Während somit ZIMMERMANN entscheidend durch LAVATERS Physiognomik in dessen Interessenkreis gezogen wurde, trat H E R D E R ihm näher, weil die „Aussichten in die Ewigkeit" ihn so stark berührt hatten. Er schrieb ihm am 30. 10. 1772: „Wie sehr liebe ich Sie, liebster Lavater, aus dem Buche, an allen Stellen, wo Ihr Herz, Ihr Zutrauen auf Gott, Ihr bescheidner, liebreicher Charakter, Ihr moralischer, thätiger und so fein organisirter Sinn, kurz überall, wo Ihr ganzer innerer Mensch spricht." [7] LAVATER ist ergrif-

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fen von der Begegnung mit diesem Theologen, der so viel herzliches Verständnis und Liebe ihm entgegenbringt, und in einem Antwortschreiben wenige Wochen darauf schreibt er ihm, nein, stammelt er eigentlich nur voller Bewegtheit: „Itzt, Freund, kann ich nicht antworten — aber schreiben muss ich — und wollte lieber weinen — hinübergeisten — zerfließen — an Deiner Brust liegen — meine Herzensfreunde, zwei Freundinnen mit Dir zuführen — und sogar — nicht sagen, blicken, drücken, athmen: ,Du bist und wir sind'" [8]. Und in einer solchen schwärmerischen Ubersteigerung des Gefühls nennt er den 10. November, den Tag also, an dem er diesen Brief geschrieben hat, den „Geburtstag meiner ewigen Freundschaft mit Herdern (Deinen ganzen Namen das nächstemal) — mit dem, den ich nie ohne Ehrfurcht, ohne stumme Thräne nennen hörte." Diese Freundschaft hielt von L A V A T E E S Seite das Leben hindurch an, während H E R D E R durch die allzu schwärmerische Übersteigerung sich immer mehr entfernt fühlte. L A V A T E R aber hat sogar verfügt, daß nach seinem Tode eine „Denkzeile" an H E R D E R gesandt werden sollte, die Verse, die er wenige Monate vor seinem Tode verfaßt hat [9]: „Nichts unsterblicher ist im sterblichen Menschen als Liebe. Schliefe sie Jahre lang, sie erwacht zu lebendigstem Leben — Wenn der Finger des sie berührt, der sie unserer Brust gab. E r l e n b a c h , d e n 16. O c t o b e r 1800. J o h a n n Caspar L a v a t e r . "

Aber auch G O E T H E wurde mit L A V A T E R eigentlich durch dessen „Aussichten in die Ewigkeit" bekannt; er hatte den dritten und letzten Band des Werkes 1773 in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen" sehr ausführlich rezensiert, freilich anonym. [ 1 0 ] . G O E T H E kann sich nur schwer mit L A V A T E R S „Plan zur Ewigkeit" einverstanden finden, ihm widerstrebt auch L A V A T E R S ,,wissenschafthche Classification einer Menschenseele", er bekennt sich zu den einfachen Worten Christi: „Wenn ihr nicht werdet wie diese Kindlein". Das mag durch Susanne VON K L E T T E N B E R G , die Seelenfreundin L A V A T E R S , aber auch gleichzeitig die „schöne Seele" im Elternhaus G O E T H E S mitgeprägt sein. Trotz der zurückhaltenden Rezension schickt er aber auch durch den Verlagsbuchhändler D E I N E T in Frankfurt ein Exemplar seines „Götz" an L A V A T E R , und damit ist die erste Kommunikation zwischen L A V A T E R und G O E T H E erfolgt. Das Jahr 1 7 7 4 führt beide enger zusammen, und auf der Lahn-Rheinreise werden Fragen der Mitarbeit G O E T H E S an dem geplanten Werk „Physiognomische Fragmente" erörtert. Fünf Monate später ist G O E T H E in gewisserWeise zur Mitarbeit bereit: „Ich schicke dir keine phisiognomische Anmerckungen du forderst ein wunderlich Ding ich soll schreiben wenn ich nicht fühle, soll Milch geben ohne gebohren zu haben. Hier

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aber ein Vorschlag. Schick mir dein Geschreibe, ich will dadrüber phantasiren, es wird mich auf deinen Standpunckt heben, und so kanns was geben, anders arbeit ich mich ab und fruchte dir und mir nichts." [11] 1775 erscheint der I. Band der „Physiognomischen Fragmente" [12], und beide Freunde, H E R D E R und GOETHE, haben daran nicht geringen Anteil. Der Anfang des I . Bandes enthält ganze Passagen aus H E E D E R S Schrift „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts" [13], da die mythisch-anthropologischen Deutungen H E R D E R S LAVATER stark angezogen hatten. Über GOETHES Teilhabe an den beiden ersten Bänden hat vor allem Eduard VON DER H E L L E N [ 1 4 ] wesentliche Aufklärungen gegeben, während H . F U N K [ 1 5 ] durch die Sammlung der Briefe und Tagebücher GOETHES und LAVATEES entscheidend zum Verständnis des Verhältnisses beider beigetragen hat. GOETHES Mitarbeit ist sowohl durch Wiedergaben von Tierschädeln und Porträtzeichnungen als auch durch Textbeigaben erwiesen. Das Prinzip, das dem physiognomischen Werk zu Grunde liegt und die sämtlichen vier Bände durchzieht, ist das Motto, das dem I. Bande voransteht: „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde", und von hier her ist der Zweck des Buches abgeleitet: „Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe". Von hier aus versucht LAVATER wesentliche Einblicke in die Natur des Menschen zu gewinnen, und zwar mit der Voraussetzung einer durchgehenden Homogenität im Aufbau der Person im Leiblichen, im Seelischen und erst recht im Leib-Seele-Verhältnis. Er spricht von einer natürlichen Physiognomik, mit Hilfe deren jeder leidlich Erfahrene aus dem Äußeren Schlüsse auf das Innere des Menschen ziehen könne, aber hier erst habe die Bemühung einzusetzen, die Physiognomik zu einer Wissenschaft zu machen, und er folgert: ,,. . . ich getraue mir zu behaupten, der preiswürdige Schöpfer habe eine solche Proportion oder Analogie zwischen allen Theilen der Maschine des menschlichen Körpers festgesetzt, daß ein höherer, ein englischer Verstand aus einem Gelenke oder Muskel die ganze äusserliche Bildung, und den allseitigen Contour des ganzen Menschen bestimmen könne, und daß folglich ein einziger Muskel hinreichend wäre, den ganzen Charakter des Menschen daraus zu kalculiren [16]". Nie wird das Grundprinzip der Ebenbildlichkeit Gottes außer Acht gelassen, und Mißbildungen und Entartungen werden meist äußeren Einflüssen professioneller Art zugeschrieben. Er bildet einen Stich CHODOWIECKIS ab, auf dem eine große Gruppe mißgebildeter und auch geisteskranker Personen dargestellt ist (Abb. 1. [17]). Diese Anhäufung aber entspreche freilich nicht natürlichen Verhältnissen, denn „unter Zehntausenden sei kein Riese, kein Zwerg — unter Tausenden kaum ein gebohrener Thor." So soll die Anhäufung auf dem Bilde ins zahlenmäßig Belanglose verkehrt werden. Aber auch der Lasterhafte,

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der Verräter Judas und seine pharisäischen Kumpane sind nur Abbilder einer moralischen Entartung. Hier ist auch seine These verankert: „je moralisch besser, desto schöner / je moralisch schlimmer, desto häßlicher" [18]. Wenn er aber von einer physiognomischen Wissenschaft spricht, so meint er damit die Anwendung exakter Meßmethoden, denn sie seien erforderlich, um zu mathematisch gesicherten Ergebnissen zu kommen. Daher ist ihm auch das Profilgesicht am liebsten, da es Ausmessungen leichter ermöglicht, daher auch seine Vorliebe für Schattenrisse. Die Stirn hält er für den Eindruck einer Physiognomie für sehr bestimmend, und so ist er eifrig bemüht, hinter ihren Ausdruckswert zu kommen mit Hilfe seines Stirnmaßes [19], auf das er besonders stolz ist, da mit dieser Hilfe Ausmessungen von Längenverhältnissen, Bogenlinien oder Winkeln am besten zu ermitteln seien. Abb. 2 zeigt die Möglichkeit, den Kopf — bei stehender oder liegender Körperhaltung — über der Unterlage so zu lagern, daß die Stäbchen des Gerätes (Abb. 3) der Stirn angelegt und so fixiert werden können, daß nun anschließend ein Diagramm mit Berücksichtigung der Zollwerte aufgezeichnet werden kann. Der ruhende, beständige Habitus des Gesichts ist ihm das wichtigste, die Physiognomik in seinem Sinne, gegenüber der Pathognomik, der Mimik, den Ausdrucksformen emotionaler seelischer Vorgänge. Da an der Stirn die aufgelagerten Weichteile eine geringere Rolle spielen als in der Äugen- und Mundregion, rangiert für ihn die Stirn hinsichtlich physiognomischer Aussagekraft an erster Stelle. Zwei Diagramme von Stirnen (Abb. 4) mögen die Verhältnisse andeuten. Von der linken Stirnlinie sagt er: „Grundlinie einer sanften weiblichen Stirn. Eine reinere Weiblichkeit giebt's kaum, als die, so den Charakter dieser Stirn ausmacht. Auch hat unter allen, die ich bisher maß, diese die zweyt kürzeste Perpendikularlinie. Zwar die einzige weibliche Stirn, die ich maß — phlegmatischmelancholischen Temperamentes — hat alle ihre Kraft zum stillen Leiden empfangen. Ihr Element ist einsame Ruhe — höchstens einer Freundin stillgesprächige Gegenwart." Die daneben abgebildete Stirnlinie ist die „Grundlinie einer sanften gesundurtheilenden feinfühlenden Männlichen Stirn" [20]. Daß solche Aussagen nicht einfach aus den Diagrammen ihm unbekannter Personen abgeleitet sind, ist vor allem auch seiner näheren Umgebung klar gewesen. Sein Freund und langjähriger Hausgenosse Ulrich H E G N E R [21] hebt einmal hervor, daß L A V A T E E bei der Ausdeutung des Materials ihm unbekannter Personen sehr unsicher gewesen sei, und daß er bei ihm bekannten Personen menschliche Wertmaßstäbe aus beiderseitigem Bekanntsein mit herangezogen habe. Solche Diagramme waren ihm vor allem wichtiges Material für seine große Sammlung, sie dienten ihm auch als wesentliche Ergänzung seiner Deutungen von Schattenrissen.

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Die Profillinien sind ihm das wichtigste, Zeichnungen und Stiche rangieren hinter den Schattenrissen; das wird an Abbildungen seines Freundes ZIMMERMANN deutlich [22]. Er legt zunächst eine Profilzeichnung ZIMMERMANNS vor [Abb. 5] und dann ein „schattirtes Profil" nach einem Stich von L I P S [Abb. 6]. Aber mit beiden ist er unzufrieden, die Umrißzeichnung ist ihm „zu süßlich", der Stich „zu trocken". Auf einer Reihe von Schattenrissen (Abb. 7) gehört der erste zu ZIMMERMANN; sie alle, sagt er von den Silhouetten, „behagen trefflich", der erste, also der ZIMMERMANNS, ist „der stärkste, feinste, geschmackvollste". Und nun läßt er noch eine Umrißzeichnung (Abb. 8) folgen; von ihr hält er am meisten: „. . . wie viel edler, freyer, vielfassender, biegsamer, geschmackreicher, eleganter, wahrer als alle beyden Bilder!" An diesen Beispielen läßt sich wenigstens ahnen, worauf es ihm ankommt, welche Darstellungstechnik ihn den Charakter physiognomisch am besten ausschöpfen läßt. Nur die beiden Umrißfiguren erscheinen ihm „wissenschaftlich" zuverlässig, einmal, weil sie nicht die Unsicherheitsquote eines Maler-Subjektes enthalten, andererseits aber vor allem, weil der emotional bedingte Gesichtsausdruck hier nicht enthalten ist, und gerade ihn versucht er nach Möglichkeit auszuschalten. Die durch das Schädelskelett bestimmten Umrisse sind ihm das Wichtigste; die an den Knochen gleichsam aufgehängten Weichteile, wie es GOETHE einmal ausgedrückt hat, sind für ihn von geringerem Wert. Er ist überzeugt, daß schon vom Skelett, und gerade von ihm, Entscheidendes abzulesen sei, und er hält es keineswegs für lächerlich, „aus einem Knochen oder einem Zahn physiognomische Beobachtungen herzuleiten". Der knöcherne Schädel ist ihm das „Fundament der Physiognomik", die Weichteile treten wenig mitbestimmend hinzu. Aber Gedanken, wie sie später G A L L gelehrt hat, hirnlokalisatorische Centren aus der Oberfläche des knöchernen Schädels abzuleiten, sind bei LAVATER nicht angedeutet. „Der allseitige Contour" ist ihm die Grundlage, um von hier aus die Hieroglyphe des menschlichen Gesichts zu entziffern. Freilich werden auch den Nasen, Ohren, Unterkiefern und Händen, nebenbei aber auch den Augen- und Mundpartien physiognomische Urteile abgelesen, und auch Silhouetten von Hals und Nackenregionen sind abgebildet (Abb. 9) [23]. Daß er gerade diese anführt, hängt mit ersten physiognomischen Eindrücken zusammen, die er selbst geschildert hat. Er erzählt, daß er in Brugg mit seinem Freunde ZIMMERMANN — es muß also vor 1768 gewesen sein, da dieser in diesem Jahr nach Hannover übersiedelte —, daß er also als etwa 26jähriger aus einem Fenster einem militärischen Vorbeimarsch zugesehen habe; dabei habe er über eine ihm auffällige Physiognomie eines Marschierers eine physiognomische Bemerkung gemacht, also eine Aus-

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sage über eine Charaktereigenschaft. Auf des erstaunten Freundes Frage, wie er dazu komme, habe er die einfache Antwort gegeben: „Ich las es aus dem Halse. . . . Dieses war eigentlich die Geburtsstunde meines physiognomischen Studiums" [ 2 4 ] , Nichts liegt näher, als anzunehmen, daß H E E D E R in seiner „Plastik" in Erinnerung an L A V A T E E die Symbolik des Baues des Halses mit folgenden Sätzen herausstellt: „Das Haupt steht auf dem Halse: das ist der Olympus auf einer Höhe, die Festigkeit und Freiheit, oder Schwanensanftheit und Weiche zeigt, wo sie ist, was sie sein soll: ein elfenbeinerner Turm, sagt das älteste und wahreste Lied der Liebe. Der Hals ist's der eigentlich operiert, nicht was der Mensch in seinem Haupte ist, sondern wie er sein Haupt und Leben trägt" [ 2 5 ] . Nach Möglichkeit vermeidet L A V A T E E einen emotionalen Ausdruck. „Die meisten Physiognomisten", so erklärt er in einem Gespräch mit J O S E P H II. im Jahre 1 7 7 7 , „reden nur von den Leidenschaften oder vielmehr von den Äußerungen der Leidenschaften und dem Ausdruck davon in den Muskeln; diese Äußerungen aber sind nur vorübereilende Zustände, die leicht zu entdecken sind. Woran mir vielmehr gelegen ist, ist der beständige, Haupt- und Grundcharakter des Menschen" [26]. Von diesem Ansatz aus will er die Physiognomik zu einer Wissenschaft entwickeln und hält sie für wert, auf Lehrstühlen vertreten zu werden; dennoch ist er bescheiden genug, nicht von einem System zu sprechen, sondern nur von „Versuchen" oder „Fragmenten". Etwa 20 Jahre nach Erscheinen der „Physiognomischen Fragmente" ließ L A V A T E E bei Freunden und Schülern „Geheimregeln" umgehen, die „nicht in die unreinen Hände des Publikums" kommen sollten, und die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden [27], Hier geht er auf Gedanken ein, die schon bei dem Anatomen C A M P E E [ 4 7 ] ausgesprochen waren, Gedanken von der Entwicklung eines Menschengesichts aus einem Tiergesicht, so wie früher schon P O E T A auf Ähnlichkeiten solcher Art eingegangen war. L A V A TEE geht es hier um die Theorie einer Vermenschlichung in einem gleichsam evolutiven Sinne, aus einem tierhaften Gesicht zu einem Menschengesicht von idealischer Schönheit, in dem auf Grund von mathematischen Linien, Winkeln und Relationen die Schönheit sozusagen noch nachträglich mathematisch gerechtfertigt wird. So dient die Darstellung (Abb. 10) dazu, Wandlungen der Gesichtsform vom Froschgesicht zum Menschengesicht deutlich zu machen. Die Profiltafel (Abb. 11) hebt die Bedeutung des Profilwinkels hervor, von dem er schreibt: „Je spitziger, im Allgemeinen, ein Profilwinkel i s t . . . je thierischer, je unstrebsamer und unproduktiver das Geschöpf seyn wird. Mit Recht kann man diesen Winkel den Gesichts-Linien-Winkel nennen." Eine solche schematisierte Entwicklung zum „fernhintreffenden Apollo Pythius" hin bezeichnet L A V A T E E als seine „Evolutions-Theorie",

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und an den hiermit angedeuteten Grundregeln sollten sich die Physiognomiker jeweils maßgebend unterrichten. Eine solche „Evolutions-Theorie" muß in der Tat als exquisit s e i n e Theorie bezeichnet werden, denn der allgemeiner und immer gültiger werdenden Evolutionstheorie der Biologen, etwa im Sinne von B U F F O N und L A M A E C K , muß der orthodox-bibelgläubige Theologe natürlich widersprechen; für ihn mußte die Schöpfungsgeschichte mit der in ihr geforderten Entstehung der Arten und des Menschen im besonderen absolute und konkrete Gültigkeit haben. S e i n e „Evolutions-Theorie" ist symbolischer Ausdruck für die moralische Verpflichtung des Menschen, entsprechend seiner Ebenbildlichkeit zu Gott auch in sittlicher Hinsicht zu ihm immer wieder zurückzufinden. Mit den Gedanken der immer gültiger werdenden Evolutionstheorie hat seine Theorie nichts zu tun; für ihn gilt das, was G O E T H E 1829 zu E C K E R M A N N von ihm gesagt hat: „Seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religiöse". Naturforschende Betrachtungen lagen ihm ganz fern. Er ruft die Künstler auf, die Harmonie des Guten und Schönen im Sinne einer menschlichen Verbesserung in ihrer Kunst zu gestalten und damit bildend, formend auf den Menschen einzuwirken. Eine solche „wissenschaftliche", wie er es nennt, Physiognomik mit den reichlich kindlich wirkenden mathematischen Arabesken ist ihm letztlich ein Instrument zu moralischer Vollendbarkeit des Menschen. Ihm waren es keine Arabesken; er hat sich durchaus zukunftsfreudig dazu geäußert und gesagt: „Ich ahnde mit einer Sicherheit, die an die höchste moralische Gewißheit grenzt, daß ein mathematischer Physiognomist des folgenden Jahrhunderts aus gegebenen richtigen Sektionen eines Profils den ganzen Umriß desselben so wird bestimmen lernen, wie sich aus den Ordinaten einer Parabel die Abszissen und durch diese die parabolischen Sektionen bestimmen lassen". Die Anteilnahme der gebildeten Welt an dem Werk war außerordentlich, und wenn man versucht, den Wert einer solchen Physiognomik aus LAVAT E R S Zeit abzuschätzen, so muß man wohl sagen: dieser Mann, diese anima Candida, die in allen persönlichen Begegnungen so stark durch seine Aufgeschlossenheit, Lauterkeit und Herzenswärme wirkte, besaß fraglos eine große Intuition in allen Dingen, die die äußeren Formen des Menschen, insbesondere des menschlichen Gesichts angingen; seine Menschenkenntnis auf Grund unmittelbarer persönlicher Eindrücke war sicher groß. Mary L A V A T E R - S L O M A N hat ihn in außerordentlicher Lebendigkeit dargestellt [28], Daß er in der Gesellschaft jener Zeit zunächst wie ein Wundermann angesehen wurde, der den Menschen ihre Wesensart sozusagen an der Stirn ablesen konnte, so wie eine Zigeunerin aus den Handlinien die Zukunft weissagte, war nur z. T. seine Schuld, Folge seiner Nachgiebigkeit, der Unfähigkeit, nein zu sagen und Aufdringlichkeiten zurückzuweisen. Aber aus

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diesem Werk der „Physiognomischen Fragmente" wird nur allzubald klar, daß er alles andere als ein systematischer Kopf war, daß er auch wirklich nicht in der Lage war, seine eigenen intuitiven Fähigkeiten in geordneter Form zu übermitteln; denn der Subjektivitäten und auch grotesken Meinungen sind so viele, daß er neben den großen Lobeshymnen auch sehr harte Urteile der Ablehnung zu ertragen hatte, die sowohl aus Zürich als auch ganz besonders aus Deutschland kamen. Seine heftigsten Gegner waren der Göttinger Physiker L I C H T E N B E R G und der Berliner Verlagsbuchhändler und Publizist der Aufklärung Friedrich N I C O L A I . L I C H T E N B E R G [29] wirft ihm vor allem vor, daß er in höchst einseitiger Weise einen allzu orthodox-bibelgläubigen Ansatz dem Werk voranstelle und daraus die Folgerung ableite, der Mensch als Ebenbild Gottes sei ursprünglich in seinen Anlagen gut, er habe sich, der „corruptible Mensch selbst verdorben". Die Physiognomik definiert er wie L A V A T E R , stellt ihr aber als das viel wichtigere Gebiet die Pathognomik gegenüber, „die ganze Semiotik der Affekte oder die Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemüthsbewegungen". Auf L A V A T E R S Suggestivfrage, wie denn N E W T O N S Seele in dem Kopf eines Negers sitzen könne, antwortet L I C H T E N B E R G mit einem einfachen „Warum nicht?" Auf Einzelheiten des Werkes eingehend erklärt er nahezu alles für höchst unzuverlässig und somit unzulässig, denn „. . . er springt und stolpert von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes, und . . . aus gewissen Abweichungen der äußeren Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele. Ein Sprung, der, meines Erachtens nicht kleiner ist, als der von Cometenschwänzen auf Krieg." In einem höchst witzigen und daher beim Publikum sehr wirksamen „Fragment von Schwänzen" [30] hat er die Physiognomik und ihren Propheten sehr lächerlich gemacht. Überraschend aber war für ihn der Eindruck, den ihm LAV A T E R bei einem Besuch in Göttingen 1 7 8 6 machte. Er schrieb darüber: „Herr Lavater hat mich zweimal besucht und hat mir wirklich (offenherzig gesprochen) ungemein gefallen, Äuget (kann man bei ihm sagen) praesentia famam. Ich hatte einen hitzigen, enthusiasmistischen Disputirer erwartet, er ist aber nichts weniger, jetzt wenigstens. Ich halte ihn wirklich für einen vortrefflichen Kopf . . . " [ 3 1 ] . So hat auch G O E T H E 1 7 7 4 an S C H Ö N B O R N geschrieben: „Lavater war fünf Tage bey mir und ich habe auch da wieder gelernt, daß man über niemand reden soll, den man nicht persönlich gesehen hat. Wie anders wird doch alles . ." [32]. Auch der Berliner Aufklärer Friedrich N I C O L A I war ärgerlich und unzufrieden mit L AVATERS Physiognomik [ 3 3 ] von 1 7 7 2 , ihm schiene es besser, schrieb er 1 7 7 5 an Z I M M E R M A N N [ 3 4 ] , wenn L A V A T E R „seine Anmerkungen über die Physiognomik aufschriebe, als seine Einbildungen über das Gebet

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und die zukünftige Welt herausgäbe." In einer anonymen Rezension des I. Bandes der „Physiognomischen Fragmente" von 1775 hebt NICOLAI hervor, daß viele „schiefe Urtheile" geäußert würden; er gebe aber doch einen ehrlichen Wink. „Seine Einbildungskraft fliegt gar zu oft mit seinem Verstände davon", und er hätte sich „auf Natur und Thatsachen" gegründete Angaben gewünscht. LAVATEBS These „je moralisch besser, desto schöner", finde einen grotesk anmutenden Höhepunkt in der „Grille vom Christuskopf, welcher nach seiner Voraussetzung freilich der schönste sein muß". Er bedauert solche Entgleisungen, die den Weg objektiver Registrierung von Tatsachen verlassen; es sei wirklich an der Zeit gewesen, jetzt die Physiognomik zu einer Wissenschaft zu erheben, dies aber gerade sei LAVATER durchaus fehlgeschlagen, und nun sei zu erwarten, daß die Physiognomik „wieder auf hundert oder zweyhundert Jahre lang verachtet" würde. Alles in der Darstellung sei unsicher und schwankend, „das verbiage ungerechnet". Immer stärker aber verlegt sich in der Folgezeit das Schwergewicht von der Physiognomik auf die Pathognomik, die Mimik also; in dieser Richtung bewegt sich immer deutlicher die Ausdruckslehre. Es war vor allem J . J . ENGEL, der in seinen „Ideen zu einer Mimik" [35] 1785 gerade den Ausdrucksbewegungen die Hauptaufmerksamkeit gewidmet hat, nicht zum wenigsten für den Gebrauch der Schauspieler. E N G E L weist aber auch daraufhin, daß ja selbst L A V A T E E sich nicht in absoluter Strenge an die rein ruhende Physiognomik gehalten habe, und er sieht hier mit Recht „die ungewisse Grenze der beyden Künste; ein gemeinschaftlicher Rain, der eben so wohl der Mimik, als der Physiognomik gehört." Obgleich sich die Tendenz immer mehr durchsetzt, der Pathognomik mehr Gewicht beizumessen als der Physiognomik im Sinne LAVATERS, so sind in der Folgezeit seine Spuren doch immer noch deutlich sichtbar. Zunächst ist kaum zu bezweifeln, daß der um 17 Jahre jüngere Franz Joseph GALL gerade durch die kraniologischen Grundlagen LAVATERS in seiner Arbeitsrichtung mitbestimmt war, in seiner Phrenologie [36]. Erna L E S K Y hat in außerordentlich überzeugender und dankenswerter Weise die engen geistigen Verbindungen aufgedeckt, die zwischen GALL und H E R D E R [37] bestanden, und damit ist gleichsam ein Zwischenglied zu LAVATER gefunden, das man nicht übersehen sollte trotz der ganz grundsätzlichen Differenzen. Der metaphysische Gehalt von H E R D E R S „Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit" enthält daneben naturwissenschaftliches Gewicht durch die Evolutionslehre; H E R D E R verlangt nach einem „zweiten Galen", der in vergleichend-anatomischer und funktionaler Hinsicht, also auch bezüglich der „tierischen und geistigen Verrichtungen . . . zuletzt den ganzen sprossenden Baum bis zu seiner Krone, dem Gehirn verfolgte und durch Verglei-

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chung zeigte, wie eine solche hier sprossen konnte." Damit stellt er das „überdeckte Behältnis innerer Kräfte", das Gehirn also, in ein zentrales Licht. Aber er unterläßt nicht, in Bezug auf den Menschen zu betonen, aus der „Physiognomie seines Angesichts und aus dem Verhältnis seiner Teile vielleicht etwas von dem, was im Innern vorgeht," abzulesen [38], Er ist damit kritischer als sein Freund LAVATEE, indem er sich vor dem „vielleicht" nicht scheut. Für G A L L aber war eine höchst wesentliche klinische Arbeit unter Johann Peter F R A N K in Wien in Gang gekommen, die ihn versuchen ließ, psychologische Persönlichkeitsdaten in Beziehung zu setzen zu palpablen Besonderheiten der Schädeloberfläche als Fundament der Physiognomik, einer Persönlichkeitsdeutung in gesunden und in kranken Tagen [39], Ausgehend von der Vorstellung, das Hirn mit seinen besonders differenzierten Oberflächenfeldern präge die Gestaltung des Schädeldaches, ging er daran, bestimmten Vorwölbungen des Craniums gewisse geistige und moralische Eigenschaften lokalisatorisch zuordnen zu können. Daß er in spezieller Weise gewisse Relationen bei Geisteskranken feststellen zu können meinte, führte ihn — etwa 2 0 Jahre vor GRIESINGER — zu der Uberzeugung, daß alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien; somit hat Erna L E S K Y ihn mit vollem Recht als den „Ahnherrn der Wiener Psychiatrie" bezeichnet [49]. Wilhelm VON HUMBOLDT, der als Student 1789, auf der Rückreise von Paris LAVATER in Zürich besuchte, hatte GALLS Vorlesungen später in Wien gehört. Über beide schrieb er am 28. 4. 1833 an die Freundin Charlotte DIEDE: „Gall. . . habe ich noch persönlich gekannt und seinen Lehrstunden über die Schädellehre in Wien 1797 beigewohnt. Ich habe nie einen Augenblick daran geglaubt. Es war eine der Erfindungen, die, wenn man sie des Charlatanismus entkleidet, der sie umgiebt, eine sehr dürftige Wahrheit hinterlassen. Galls wahres wissenschaftliches Verdienst besteht darin, daß er die wahre Form und Zusammenfaltung der Gehirnmasse zuerst richtig eingesehen, begriffen und gezeigt h a t " [40]. Aber er vermißt in dem G A L L schen System einen inneren Zusammenhang und fügt hinzu: „Darin, in der wahren, geistvollen Würdigung des Menschen, war Lavater ein ganz anderer Kopf und ein ganz anderes Gemüt." Mit dem „inneren Zusammenhang" kann somit nur ein metaphysischer gemeint sein. Als GOETHE einige Jahre später, 1 8 0 5 in Halle, GALLS Vorlesungen besuchte und näheren Kontakt mit ihm gefunden hatte, war sein Urteil über G A L L sehr viel konzilianter [41], G O E T H E hebt anerkennend seine anatomische Grundlage für die Analyse des Zentralnervensystems hervor, aber er ist kritisch genug, die allzusehr ins „Spezifische" abgleitenden Deduktionen GALLS in Frage zu stellen. Solche höchst speziellen Charaktereigenschaften wie „Mord-, Raub-

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und Diebsinn" auf bestimmte Hirn- und damit Schädelregionen zu beziehen, widerstrebte GOETHE, aber er fand es nicht schwierig, solche Spezifitäten „unter allgemeinen Rubriken" zu begreifen; und damit freilich vermißte GOETHE den leitenden Gedanken einer „Idee", wie sie in seiner „Metamorphose der Pflanzen" in dem Begriff der Urpflanze als Bildungsgesetz ihm leibhaftiges Phänomen geworden war. GOETHE erwähnt aber auch in diesem Zusammenhang GALLS physiognomisch-phrenologische Deutung seines Gesichts, vor allem seiner Stirn, von der er — und wieder denkt man an LAVATERS Bemühungen der Stirnanalyse — aussagte, er, GOETHE „könne den Mund nicht aufthun, ohne einen Tropus auszusprechen; worauf ich mich denn freilich jeden Augenblick ertappen konnte", fügt er hinzu. Daß er nach GALLS kraniologischen Eindrücken „zum Volksredner geboren sei", wurde nicht ohne scherzhafte Bezüge hingenommen. Eine Reminiscenz an L A V A T E R fehlt in dieser ausführlichen Schilderung. Wenn man aber GOETHE und G A L L in diesem Zusammenhang heraushebt, so gehört unmittelbar C . G. CARUS dazu, dessen kraniologische Arbeiten einerseits der GoETHESchen Gedankenwelt nahestehen, andererseits aber allein von der Materie her enge Beziehungen zu GALLS Kraniologie haben. In seinem 1853 in 1. Auflage erschienenen Buche „Symbolik der menschlichen Gestalt" [ 4 2 , 4 3 ] greift er auf GOETHE ebenso zurück wie auf L A V A T E R und GALL, und so steht CARUS, dessen Leben den großen Zeitraum von 1789—1869 umfaßt, ebenso in der Geisteswelt der Weimarer Klassik und der deutschen Romantik wie im Beginn einer exakten naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschimg. Seine „Symbolik" ist kaum anders zu verstehen als der von GOETHE hergeleitete Begriff „Idee", indem ein geistiges Formungsprinzip, ein Bildungsgesetz darunter verstanden wird. Die Kranioskopie CARUS', die er in den „Grundzügen einer neuen und wissenschaftlichen Kranioskopie" und in seinem „Atlas der Kranioskopie" vorgelegt hat, umfaßt mit den anatomischen Grundlagen die ihm wichtig erscheinenden Gedanken der Physiognomik. So erkennt er LAVATERS ehrliches Bemühen bei völlig unsystematischer Arbeit an und setzt sich auch mit GALLS Kraniologie und Phrenologie auseinander. Ihm will nicht einleuchten, daß G A L L nach vorzüglichen anatomischen Ansätzen in den Gyri sozusagen Organbereiche annimmt, die als Centralstellen für „Kindesliebe", „Diebssinn", „Hoffnung" oder auch für das „Gewissen" zu gelten hätten. Er hebt auch die Diskrepanz zwischen Erhabenheiten der Hirnoberfläche und Schädelaußenfläche hervor und tritt damit GALLS Vorstellungen entgegen, daß vom Hirn her die Schädeloberfläche geprägt würde. Eine solche Übereinstimmung zwischen „Prägstock und Gepräge" sei eben keineswegs vorhanden.

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Die anatomisch-kraniologischen Befunde in seinem schönen Atlas kennzeichnen doch immer deutlicher die neue wissenschaftliche Forschungsrichtung, mit der sich CARUS auch in seiner „Symbolik" auseinandersetzt. Er hebt schon die frühen Arbeiten von Charles B E L L hervor, die er als eine „Wahre Fundgrube für Physiognomik" bezeichnet [44]; er kennt auch die zeitgenössischen Arbeiten von P I D E E I T , GKATIOLET und D A R W I N , während D U C H E N N E nicht genannt wird. Wohl aber nennt er Rudolf VIRCHOWS Arbeit, zuerst in „Frorieps Notizen" erschienen, in der dieser bei Kretinen die tief eingezogene Nasenwurzel als Ausdruck foetaler Entwicklungsstörung erklärt. 1857 berichtet VIRCHOW von seinen „Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes" und über den Gang einer solchen Entwicklung in ihrer Bedeutung für „Schädelform, Gesichtsbildung und Gehirnbau" [45]. Es geht VIRCHOW darum, einen „Mittel- oder Vermittelungspunkt", wie er es nennt, aufzufinden, von dem aus Schädelform und Gesichtsbildung ontogenetisch abhingen. Den früher für wesentlich angenommenen Faktor des Einflusses der Gehirnentwicklung auf den Schädelbau weist er zurück gegenüber der Hypothese, daß von der Schädelbasis die quantitativ bestimmenden Faktoren ausgingen. Aber VIRCHOW bleibt nicht im rein anatomisch-osteologischen Bereich seines Faches, er ist ehrlich genug, unter den Physiognomen gerade LAVATER herauszuheben, und er zitiert dessen Grundsatz: „Das Knochensystem ist immer Fundament der Physiognomik, man mag dasselbe bloß als bestimmend in Ansehung der weichern Theile, oder bloß als bestimmt zugleich ansehen . . .". Von seiner anatomischen Sicht aus erkennt VIRCHOW durchaus methodische Grundprinzipien LAVATERS an, aus Schattenrissen, die ja inzwischen durch die Photographie überholt wurden, wesentliche Schlüsse zu ziehen. Wenige Jahre später (1861) hat VIRCHOW in seiner Schrift „Göthe als Naturforscher" [46] und besonders in den Beilagen dazu sehr eindeutig Bezug genommen auf die Voraussetzungen der Gallschen Phrenologie, die sich zwar auf das Schädeldach beziehen, aber die ihm wichtigeren Zusammenhänge zwischen Schädelgrund und Gesichtsschädel auslassen ; er habe „die Gedanken La vater's und Camper's nicht nur wieder aufgenommen, sondern um ein Gewisses weitergeführt." Und Alexander VON HUMBOLDT stimmt ihm darin befriedigt zu, daß er vor allem LAVATERS Ansatz für richtig halte; so jedenfalls zitiert VIRCHOW einen Brief HUMBOLDTS an ihn vom Jahre 1857. Aber nicht nur in den Naturwissenschaften und der Medizin regt es sich von neuem, auch aus dem Kreise der Geisteswissenschaftler erhebt sich eine Stimme. Fast zur gleichen Zeit, als CARUS seine „Symbolik" veröffentlichte, gab SCHOPENHAUER seine „Parerga und Paralipomena" heraus, in denen sich

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auch der Aufsatz „Zur Physiognomik" [48] findet. SCHOPENHAUER zitiert in dieser Arbeit niemanden, aber auch er ist wie LAVATEK und wie letztlich auch VIBCHOW davon überzeugt, daß gerade die Physiognomik ohne pathognomische Beigabe die Hieroglyphe des Menschengesichts am besten zu deuten gestatte ; die leiseste emotionale Beimischung vonseiten des Betrachters ebenso wie des Betrachteten „verwirre und verfälsche die Hieroglyphe." Dabei ist er überzeugt, daß es „in der Regel, ein trübsäliger Anblick (a sorry sight)" sei, Gesichtern zu begegnen: „Ja, es giebt Gesichter, durch deren bloßen Anblick man sich verunreinigt fühlt." Solche Eindrücke hätte LAVATEE nicht aufkommen lassen, der in jedem Menschen nach Zügen der Ebenbildlichkeit Gottes gesucht hätte. Aber SCHOPENHAUER meint auch, nur der erste Eindruck sei es, der objektiv gedeutet werden müsse, „schon jedes Gespräch nämlich befreundet einigermaßen und führt einen gewissen rapport, eine wechselseitige subjektive Beziehung ein, bei der die Objektivit ä t der Auffassimg sogleich leidet." So lehnt er für die physiognomische Deutung jeglichen pathognomischen Anteil ab, „denn auf seinem Gesichte, an und für sich, ist der Grundton aller seiner Gedanken und Bestrebungen ausgeprägt, der arrêt irrévocable dessen, was er zu sagen hat und als was er sich nur dann ganz empfindet, wenn er allein ist." Die intellektuellen Fähigkeiten seien leichter zu entdecken als der moralische Charakter; er bezieht sich auf die neuen Erkenntnisse der Anatomie des Gehirns und seiner Funktionen, aber wie es nun „mit dem Moralischen, dem Charakter des Menschen" stehe, so sei dieser physiognomisch viel schwerer und unsicherer zu erkennen. Man könne sich wohl „leicht für einen Menschen verbürgen, daß er nie ein unsterbliches Werk hervorbringen; aber nicht wohl, daß er nie ein großes Verbrechen begehen werde." Von solchen scharfsichtigen und unnachsichtigen Gedanken über den Menschen im allgemeinen erklärt er mahnend, wenn seine Landsleute wieder einmal die Neigung hätten, „einen Alltagskopf, 30 Jahre lang, als großen Geist auszuposaunen, sie doch nicht, eine solche Bierwirthsphysiognomie dazu wählen mögen, wie Hegel hatte, auf dessen Gesicht die Natur, mit ihrer leserlichsten Handschrift, das ihr so geläufige „Alltagsmensch" geschrieben hätte." Daß er sich in solcher physiognomischen Deutung H E G E L S , mit dem er sich überworfen hatte, eben gerade des Fehlers der Subjektivität schuldig machte, den er als so unzulässig verurteilt hatte, zeigt den ganz grundsätzlichen Unsicherheitsfaktor in der Physiognomik, die eben nicht, wie L A V A T E E geträumt hatte, eine mathematische Wissenschaft sein oder werden kann. Die wissenschaftliche Forschung aber war inzwischen andere Wege gegangen. Wenn C A E U S sich u. a. auf Charles B E L L und einige Forscher der französischen Neurophysiologie bezog, so ist dies in der Tat ein Kapitel, das 2

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sowohl im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte im allgemeinen als auch der Physiognomik im besonderen genauer erörtert zu werden verdient. Eine solche Hervorhebung der Neurophysiologie geschieht deshalb, weil sie für die medizinische Anthropologie von wesentlicher Bedeutung geworden ist, und somit ist sowohl Physiognomik als auch Pathognomik mit eingeschlossen; hier wird recht eigentlich der Weg deutlich, der aus naturwissenschaftlicher Sicht eine völlige Abkehr von früheren Vorstellungen der Physiognomiker bedeutet. Mit gutem Recht aber muß Charles B E L L an die Spitze jener neuen Forschungsrichtung gestellt werden, die den bisher vielfach verworrenen Vorstellungen vom Zentralnervensystem und vom peripheren Nervensystem gültige Fundamente hinzufügen konnte durch neurophysiologische Erkenntnisse, die experimentell gewonnen wurden. Charles B E L L (1774 — 1842) hat 1806 die 1. Auflage seines Buches „The Anatomy and Philosophy of Expression" veröffentlicht [50]. Die 3. Auflage erschien 1844, also 2 Jahre nach seinem Tode. Der Bruder des Autors, Prof. George Joseph B E L L , weist in einem Vorwort auf die relativ unzusammenhängende Darstellung des Nervensystems vor der Publikation dieses Werkes hin; es seien die bis dahin aufgezählten anatomischen Daten insofern wenig aufschlußreich gewesen, als das geistige Band der physiologischen Funktionszusammenhänge gefehlt habe. B E L L aber habe nie daran gezweifelt, „that in the work of the Creator there is nothing imperfect or unnecessarily complex, and that the Solution of this apparent confusion was not beyond the reach of human inquiry." Sein Arbeitsprogramm, den charakteristischen Ausdruck der ruhenden und durch Emotionen bewegten Gesichtszüge bei Mensch und Tier rational zu analysieren und dafür eigene Eindrücke auch künstlerischer Darstellungen mit zu Hilfe zu nehmen, die er in Italien kennengelernt hatte, ist in diesem Buche ausgebreitet und in seinen Resultaten festgelegt. B E L L geht in ganz exakt-naturwissenschaftlicher Weise vor, indem er C A M P E E S Messungen des Schädels in Profilsicht anwendet; er vergleicht die Schädelverhältnisse des Europäers mit denen des Negers, und auch B L U M E N B A C H S von C A M P E R abweichende Ansichten werden betont. E r hält die Meßmethoden letztlich aber doch für unzureichend, da sie freilich statische Verhältnisse sichern, für Fragen funktioneller Zusammenhänge aber nichts beitragen könnten. Von Beobachtungen am knöchernen Schädel aber geht er dann über zu den Muskelaktionen, die die verschiedenen mimischen Ausdrucksformen begleiten bzw. sie zur Darstellung bringen. Aber er geht über den mimischen Ausdruck insofern hinaus, als er seine Aufmerksamkeit auf die expressive Mitbeteiligung des Herzens und des Respirationstrakts richtet. Er bezeichnet diese Systeme als „the organs of expression". Natürlich wird

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auch die Gesichtsmuskulatur anatomisch wohl detailliert beschrieben, und zwar bei Mensch und Tier in vergleichender Weise. Er meint, der Mensch sei hinsichtlich seiner Ausdrucksformen gleichsam zwischen Fleischfressern und Pflanzenfressern einzureihen, er nehme jedenfalls an den Ausdrucksformen beider Gruppen teil. Am Beispiel der Wut schildert er die Muskelbeteiligung des Ausdrucks beim Tier, das in seiner Angriffslust mit Zähnezeigen und Hinaufziehen der Lippen u. ä. dem Gegner gegenübertritt. Er fügt dann aber hinzu, parallele Ausdrucksbewegungen seien auch beim Menschen festzustellen, jedenfalls lasse die Beobachtung der Expressionsformen beim Tier den entsprechenden Ausdruck beim Menschen besser erkennen. — Ganz besonders aber stellt er die begleitenden Muskelkontraktionen dar, die durch das „Respirationsnervensystem" zu synergischer Aktion veranlaßt werden, so etwa beim Ausbruch des Lachens. Seine Darstellungen dieser Zusammenhänge, wie er sie sieht, sind von so erheblichem Einfluß auf spätere Beobachter, daß diese Stelle zitiert zu werden verdient: „The respiratory nerves spring from a common centre in the medulla oblongata, and pass off divergingly to all the parts just ennumerated, and to every organ employed in respiration. They combine these distant parts in the ordinary action of breathing; and they are the agents in all the effects of passion, when these organs give the outward signs of the condition of the mind" [51]. Damit knüpft er an die Entdeckung von LEGALLOIS an, der schon 1812 in seinen „Expériences sur le principe de la vie . . ." hervorgehoben hatte, daß nicht das gesamte Gehirn den Funktionsmechanismus der Atmung unterhalte, sondern daß „un endroit assez circonscrit de la moëlle allongée" die Führung über die Atmungsvorgänge übernehme. Aber diese wissenschaftliche Forschungsrichtung war nicht alles; wie schon der Titel von B E L L S Werk ankündigt, war nicht nur die Anatomie — und zu ihr gehörte damals in enger Bindung auch die Physiologie —, sondern auch die ästhetische Seite sein AnHegen. Diese künstlerische Seite war in ihm durch die Antike vorgebildet, und so ging es ihm auch um die ideale Schönheit, beileibe nicht aber in einem moralischen Sinne LAVATERS, wohl aber um die konkrete Frage, wie und wo die Künstler der Antike und der Renaissance wie MICHELANGELO ihre anatomischen Kenntnisse erworben hätten, um das Bild der idealen Schönheit zu schaffen. Er studiert Michelangelos Statuen der Nacht und des Tages und schließt: ,,. . . anatomical science, ideal beauty, or rather grandeur, combined." Er bezieht sich zwecks noch deutlicherer Aussage auch auf den romantischen Maler FÜSSLI. Er fordert ein Übersteigen der nicht zu übersehenden anatomischen Grundlagen im Sinne einer „grandeur" vom Künstler: „eise he will fall into the caricature of Fuseli, instead of atteining the vigour of Buonarotti" [52]. o*

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Aber unter den Begründern der französischen Neurophysiologie, die sich immer stärker auf experimentelle Arbeit stützen, sind Beziehungen der Anatomie zur Kunst, insbesondere zur physiognomischen Charakterdarstellung kaum noch nachzuweisen. Die Entwicklungsarbeit wird immer mehr bestimmt durch die Aufklärung der muskelphysiologischen Abläufe, der Expressionen des Menschengesichts, und von dieser Peripherie her, dem Ausführungsort, der letzten Endstation also, wird der Ausdruck, der bisher vom seelischen Erlebnis, von den Emotionen her verstanden werden sollte, nunmehr erforscht, in Gang gesetzt somit nicht durch die erlebende Person, sondern durch den Eingriff des Experimentators. G A L V A N I S Entdeckung der „elektrischen Kräfte der Muskelbewegung", in seinen Froschschenkelversuchen demonstriert, führte zur Anwendung auf die Muskelkontraktionen auch der einzelnen mimischen Muskeln, und D U C H E N N E ( D E B O U L O G N E ) hat sich in dieser Richtung sehr eingehend darum bemüht. Die Abbildung 12, die der 2. Auflage seines Werkes „Mécanisme de la Physionomie humaine" [53] entnommen ist, zeigt nicht nur die angewendete Methodik der elektrischen Muskelreizung mit der gleichen peripher ausgelösten Wirkung auf die Mimik, sondern sie zeigt auch den offenbar sehr befriedigten Experimentator, der diese seine experimentelle Arbeit als „orthographe de la physionomie en mouvement" bezeichnet. Wie der Titel anzeigt, handelt es sich also lediglich um den „Mechanismus" des muskelphysiognomischen Ablaufs, besser : der Muskelphysiologie. Diese elektro-physiologischen Untersuchungen, die D U C H E N N E 1 8 5 0 zuerst mitgeteilt hat, stellt er denen B E I I S als aussagefähiger gegenüber, weil methodisch zuverlässiger. Seine Grundauffassung vom Menschen und seiner Expressivität faßt er wohl am besten mit den folgenden Sätzen zusammen: „Le Créateur n'a donc pas eu à se préoccuper ici des besoins de la mécanique ; il a pu, selon sa sagesse, ou — que l'on me pardonne cette manière de parler — par une divine fantaisie, mettre en action tel ou tel muscle, un seul ou plusieurs muscles à la fois, lorqu'il a voulu que les signes caractéristiques des passions, même les plus fugaces, fussent écrits passagèrement sur la face de l'homme. Ce langage de la physionomie une fois créé, il lui a suffi, pour le rendre universel et immuable, de donner à tout être humain la facilité instinctive d'exprimer toujours ses sentiments par la contraction des mêmes muscles" [54]. Und so unterscheidet er einen,,muscle de l'attention", einen „de la douleur", einen „de la tristesse" und viele andere für die verschiedenen Ausdrucksbewegungen [55]. Die elektrophysiologischen Effekte werden an zahlreichen photographischen Beispielen demonstriert, wobei die schauspielerischen Anwendungen an einigen Hauptpersonen von Dramen S H A K E S P E A R E S von ihm gern mit herangezogen werden; dies ist somit der Bodensatz ästhetischer Betrach-

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tungen, der von L A V A T E R S moralisch unterbautem Schönheitsbegriff und B E L L S Schönheitsideal der Antike in physiognomischem Bezug übrig geblieben ist ; dennoch aber ist der Gedanke der Schöpfungsgeschichte und der Glaube an den alles wohl ordnenden Schöpfer auch in diesem Werk naturwissenschaftlicher Arbeit noch keineswegs aufgegeben. D U C H E N N E S Zeitgenosse G R A T I O L E T , dem vorzügliche hirnanatomische Arbeiten zu verdanken sind, hat sich über 20 Jahre hindurch intensiv mit Fragen der Physiognomik beschäftigt, und zwar von anderen als elektrophysiologischen Experimenten her ; ihm lag vielmehr daran, zu einer Theorie der Ausdrucksbewegungen zu gelangen, und so waren seine Betrachtungen und Überlegungen nicht aus begrenzt-anatomischer Sicht, sondern aus einem weit gespannten Horizont allgemeiner und spezieller Bildung zu verstehen. An die Spitze seines Werkes über die Physiognomie, das nach seinem Tode veröffentlicht wurde, hat der Herausgeber einen umfangreichen Vortrag gestellt, den G R A T I O L E T ZU diesem Thema noch hat halten können, und dieser Vortrag charakterisiert in schöner Weise seinen Standort, nun fast 1 0 0 Jahre nach dem Erscheinen von L A V A T E R S „Physiognomischen Fragmenten". Er ist diesem Werk gegenüber sehr gerecht und findet treffende Worte, wenn er es bezeichnet als „écrit avec un charme naïf, accompagné de dessins choisis avec un tact exquis, et publié d'ailleurs avec le plus grand luxe." Und er kennzeichnet L A V A T E R mit den Worten: „En un mot, nous pourrions fort justement le comparer à un homme qui entend et parle facilement une langue, sans en connaitre la grammaire et la genèse philologique" [56], Aber auch C H A R L E S B E L L nennt er, hebt ihn als den Entdecker des nach ihm auch heute noch bekannten Gesetzes hervor, und erwähnt dessen irrtümliche Überschätzung der ,,Respirationsnerven als übergeordneten Prinzips auch der Physiognomie. Ohne einen Namen zu nennen, spricht er auch von den Arbeiten, die sich offenbar auf D U C H E N N E beziehen, der ,,a cru récemment résoudre le mystère de la langue physionomique en produisant artificiellement des mouvements, à l'aide de certains courants électriques trèshabilement dirigés" [57]. Er erkennt den sauberen experimentellen Aussagewert, aber hier erst setzt für ihn das Problem ein. Man dürfe nicht vergessen, „que la physionomie est un langage, et qu'à la raison seule il appartient d'en découvrir les lois." In seinem Bemühen, Gesetzlichkeiten einer solchen Art aufzudecken, geht er auch auf tierpsychologische Verhaltensweisen ein; er findet bei Tier und Mensch die gleiche Gesetzmäßigkeit, daß die Erregung eines Organs oder einer Gruppe von Organen, von Organsystemen, nicht nur ein Organ zu Expression bewegt, sondern daß der gesamte Organismus im Sinne einer solchen Erregtheit reagiert: „La société des organes dans le corps vivant est comme une république parfaite ;

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tous les organes gémissent à l'occasion de la douleur d'un seul, tous se réjouissent quand un seul est dans la joie." Diese homologen Ausdrucksformen von Ganzheitscharakter bezeichnet er als „mouvements sympathiques" [58]. Aber die Erlebnisformen des Menschen gehen über solche unmittelbaren und ganz konkreten Reizbezüge hinaus ; denn für ihn ist „le monde de l'imagination" die Erlebnisform, die seine Expressionen in weit größerem Umfange prägt. Die Welt der Vorstellungen, sie seien objektiv oder subjektiv, ist ohne engste Leib-Seele-Beziehungen von ihm nicht zu denken, und solchen „mouvements symboliques" teilt er den spezifisch menschlichen Wertcharakter zu. So kann er sich auf die Mimik im engeren Sinne auch nicht beschränken, vielmehr dehnt er sie auf den ganzen Körper, auf die Bewegungen der Extremitäten und des Rumpfes aus, nicht ganz unähnlich den Bemühungen E N G E L S um die Mimik und Ausdrucksbewegungen der Schauspieler. Es bleibt ein ganz besonderes Verdienst GRATIOLETS, hirnanatomische Arbeiten auch vergleichend-anatomischer Art sorgfältig dargestellt zu haben, andererseits aber gerade auch die psychologischen Aspekte hervorzuheben, insbesondere die Bedeutung der spezifisch menschlichen Ausdrucksabläufe von Imaginationen, von Vorstellungen. Dabei scheint GRATIOLET die Arbeiten des Deutschen Theodor P I D E R I T nicht gekannt zu haben; jedenfalls zitiert er ihn in seinem Werk über die Physiognomie von 1 8 6 5 nicht. Darüber hat sich P I D E R I T seinerseits 1 8 8 6 beklagt; er hebt hervor, er habe 1859 in Paris vor der Société de biologie über sein System der Mimik und Physiognomik berichtet, und so nehme er das Recht der Priorität für seine Ansichten in Anspruch, zumal da der Vortrag in der Gazette médicale veröffentlicht worden sei [ 5 9 ] . Am klarsten hat P I D E R I T schon in seinen „Grundsätzen der Mimik und Physiognomik" von 1858 [60] das dargelegt, worauf es ihm ankam ; und das war letztlich die bis dahin relativ hin- und herschwankende Richtung zu überwinden, die sich teils verwaschener, mehr oder weniger populär-psychologischer Lehren, teils naturwissenschaftlicher Methodik bediente, um von der Peripherie Ausdrucksformen — ohne den seelischen Impuls also — rein vom Experimentator her zu erzeugen, also eben in muskelphysiologischem, nicht aber in psychologischem Sinne. P I D E R I T stützt sich im wesentlichen auf Charles B E L L , auf dessen Lehre der „nervous circles", wonach die spinalen Hinterwurzeln dem Rückenmark sensible Reize zuleiten, während die Vorderwurzeln motorischen Funktionen dienen. P I D E R I T beginnt seine „Grundsätze" mit dem Satz: „Seelenthätigkeit ist Gehirnfunktion. Die Psychologie sollte deshalb ein Theil der Physiologie sein." Da nun aber diese „Werkstätte des Geistes" unseren Einblicken nicht zugänglich sei, dürfe man Hypothesen eine Berechtigung zuerkennen. Das Rückenmark mit seinen Wurzeln und die

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Sinnesorgane sind ihm die Wurzeln des Gehirns als „Seelenorgan", und hier setzt seine Analogie zu den „nervous circles" des Rückenmarks ein; er versucht, die „Seelenkräfte so weit als möglich, auf Analogien mit Rückenmarks- und Sinneskräften zu gründen und damit die Psychologie ihrem naturgemäßen Boden, dem Gebiete der Physiologie, näher zu bringen." So wendet er die Begriffe der sensorischen und motorischen Rückenmarkwurzeln auch auf das „Seelenhirn" an, indem er eine empfindende (Vorstellungsvermögen) und eine bewegende (Willensvermögen) Tätigkeit voneinander abgrenzt bzw. einander zuordnet. Einem solchen Vorgang von Vorstellungen auch gerade „imaginärer" Art, ob sie nun harmonischer oder disharmonischer Natur sein mögen, schließe sich das Überspringen auf die „Willensorgane" an, derart, daß Muskelbewegungen erzeugt werden, die wir, wenn sie den Gesichtsbereich angehen, eben als Mimik bezeichnen. Die früher oft hervorgehobene Ansicht bestätigt er, daß solche zunächst nur vorübergehende Ausdrucksbewegungen, wenn sie sich oft wiederholten, zu einem Dauerausdruck im Sinne der Physiognomik führen könnten. Und damit steht er mitten in dem Problemkreis von Mimik und Physiognomik. L A V A T E R S Werk lehnt er ab, denn „leider findet man darin Redensarten statt Gesetzen, Meinungen statt Gründen, religiöse Tiraden statt wissenschaftlicher Methodik." Er bestätigt im Grunde E N G E L darin, daß zwischen mimischem und physiognomischem Ausdruckswert „keine strenge Grenze festzuhalten ist". So kann denn eben „mit der Zeit" mimischer Ausdruck ein physiognomischer werden. Er demonstriert in Umrißzeichnungen recht einfacher Art solche Ausdrucksformen und hebt den großen praktischen Wert physiognomischer Lehre hervor, da sie die „stumme Sprache des Geistes" deuten lehre; so könne der aufmerksame und kundige Betrachter „durch den Spiegel des Antlitzes in die Werkstätte der Seele schauen." Einen besonderen Nutzen „von einer rationellen Begründung der Mimik" verspricht er sich für die Kunst, und wieder ist es ganz bemerkenswert, daß auch ihm die ästhetische Seite der Ausdrucksformen wesentlich ist, daß sie durchaus gleichberechtigt neben rationaler wissenschaftlicher Betrachtung steht. Er ist klug genug, den hohen künstlerischen Gehalt zu erkennen, der in dem großen physiognomischen Werk L A V A T E R S steckt, in dieser Fülle schönsten Bildmaterials, und dem gegenüber entschuldigt er sich für seine etwas simplen Umrißzeichnungen, denen ein künstlerischer Wert beim besten Willen nicht anzuerkennen ist. P I D E R I T lebte als Arzt in Valparaiso, „dem ultima Thüle der Kunst", und hier habe er keine Gelegenheit gehabt, sich der Mithilfe eines Künstlers zu erfreuen; „meine Zeichnungen sind theoretische", schreibt er [61]. Aber ihr Wert sei für den Künstler darin zu sehen, daß dieser darin gleichsam ein Gerüst, eine Stütze für seine Darstellungen finden könne.

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Man darf somit wohl sagen, daß gerade P I D E B I T einen Standort vertritt, der als hervorragend betrachtet und beurteilt werden darf insofern, als er in der Tat Vorstellungen einer wissenschaftlich sich begründenden Neurophysiologie anwendet und sie mit der Psychologie in Einklang zu bringen versucht. Das geht über B E L L und D U C H E N N E weit hinaus und steht mit Recht zeitlich noch vor GEATIOLETS Ansichten. Es kann jedenfalls von der Wissenschaftsgeschichte sowohl der Physiognomik alias Physiologie als auch der Psychologie jener Zeit die Ausdruckslehre P I D E R I T S als ein Fundament betrachtet werden, auf dem weiter gebaut bzw. umgebaut werden konnte. In diese Jahrzehnte der Erforschung der Physiognomik und Mimik des Menschen mit Hilfe neurophysiologischer Methoden und psychologischer Deutungen gehört auch D A R W I N S Werk über den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren", das 1872 in englischer und in deutscher Ausgabe erschienen ist [62]. D A R W I N weist darauf hin, daß er schon 1838, also als 29jähriger, begonnen habe, sich für das Problem der Ausdrucksbewegungen bei Tier und Mensch zu interessieren; und zwar waren es Gedanken der Abstammung und Entwicklung der Arten, die ihn damals schon beschäftigten und in diese Richtung lenkten. Gedanken einer physiognomisch-charakterologischen Deutung lagen ihm dabei völlig fern, und so ist es kennzeichnend, welche zeitgenössischen Werke ihm etwas bedeuteten, welche andererseits ihn nicht ansprachen. Wenn P I D E B I T in seinem Buche von 1886 schreibt, er habe seine Schrift D A B W I N zugeleitet, als er erfahren habe, daß sich Darwin mit dem Problem der Ausdrucksformen des Menschen beschäftigte, so erwartete er wohl eine Annäherung auf Grund ähnlicher Betrachtungs- und Denkweise. Es ist aber sehr charakteristisch, daß D A B W I N mit P I D E R I T S Ausführungen recht wenig anfangen kann; vor allem ist ihm die psychologische Grundlage von P I D E B I T S Arbeit fremd, der als wesentlichen Satz formuliert, daß „die Muskelbewegungen des Ausdrucks sich zum Theil auf imaginäre Gegenstände und zum Theil auf imaginäre Sinneseindrücke beziehen." D A B W I N findet „manche gute Bemerkungen durch das Buch zerstreut", aber er selbst strebt in eine rationale Richtung, die er vor allem bei Charles B E L L ZU finden meinte. Er akzeptiert B E L L S Vorstellungen von dem System der Respirationsnerven im Rahmen der Ausdrucksbewegungen, aber er lehnt dessen These ab, „der Mensch sei mit gewissen Muskeln erschaffen worden, welche speciell dem Ausdruck seiner Empfindungen angepasst seien." Er hielt es für wahrscheinlicher, daß durch Gewohnheit erworbene Ausdrucksmöglichkeiten schließlich vererbt worden und somit angeboren seien, und er versucht hierfür eine rein rationale Erklärung zu finden.

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D A R W I N stellt 3 Prinzipien des Ausdrucks auf, drei Gesetze gleichsam, durch die ihm die speziellen Ausdrucksformen sowohl bei Tieren als auch beim Menschen verständlich werden. Das erste Prinzip hebt zweckmäßig assoziierte Gewohnheiten hervor, die aus Impulsen zu direktem oder indirektem Nutzen einer Handlung bzw. eines Seelenzustandes entstanden zu denken sind. Ein zweites Prinzip ist von ihm als das Prinzip des Gegensatzes bezeichnet worden; während dem ersten Prinzip zufolge bestimmte zweckmäßige und gewohnheitsmäßig fixierte Handlungen ausgeführt werden, könne bei einem entgegengesetzten seelischen Zustand ein Ausdrucksablauf hervortreten, der gerade entgegengesetzter Natur ist, ohne daß dann freilich von diesem irgendein Nutzen zu erwarten sei. Das dritte Prinzip besteht für D A R W I N darin, daß durch das Nervensystem Aktionen, Muskelbewegungen zustande kommen, die von Anfang an unabhängig vom Willen und in gewissem Maße auch unabhängig von der Gewohnheit sind. Von diesen 3 Prinzipien war das erste ihm zweifellos das wichtigste, denn die These der assoziierten Zweckzusammenhänge war ihm eine Bestätigung seiner stammesgeschichtlichen Vorstellungen. Nicht um den seelischen Erlebniswert emotionaler Ausdrucksformen geht es ihm, in keiner Weise um Rückschlüsse auf den Charakter; er sieht in den Ausdrucksformen der Gemütsbewegungen bei Tieren einen Hinweis auf den Entwicklungsvorgang des Menschen aus einem mehr tierähnlichen Zustande zu dem ichbewußten Lebens. Die Ausdrucksbewegung ist ihm ein automatisch gewordener, mechanisch ablaufender Vorgang, der über gewohnheitsmäßigen Gebrauch durch weite Zeiträume hin schließlich von den Urvorfahren ererbt worden sei. Am Beispiel von Wut und Zorn macht DAJBWTN seine Gedanken aus einer solchen phylogenetischen Richtung deutlich, und hier wird sichtbar, daß er bei Charles B E L L jedenfalls einen wesentlichen Ansatzpunkt gefunden hat, von dem aus er stammesgeschichtliche Überlegungen durchdenken konnte. B E L L beschäftigt sich auch mit den Ausdrucksbewegungen der Tiere, sucht die jeweils betätigten Muskeln und Muskelgruppen sorgfältig zu ermitteln und findet bei den fleischfressenden Tieren als höchst charakteristischen Ausdruck von Wut die folgende Darstellung: „The eyeball is terrible, and the retraction of the flesh of the lips indicates the most savage fury. The action of the respiratory organs, the heaving and agony of breathing, the deep and harsh motion of the air drawn through the throat in the growl, declare the universal excitement of the animal. It is wrong to imagine that all this is a mere preparatory exposure of the canine teeth" [63]; er fährt dann zusammenfassend fort, indem er Tier und Mensch in dieser Hinsicht in Beziehung zueinander setzt: „Brutes may have expression, properly so called, as well as man, though in a more limited degree; but in them, ex-

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pression is so moulded to their natures and their necessities, that it seems accessory to their needful and voluntary actions." Wenn man B E L L S Deutung der Zusammenhänge unter die 3 Prinzipien D A B W I N S stellt, so ist die angriffsbereite Entblößung der Zähne die „zweckmäßig assoziierte Gewohnheitshaltung", also Ausdruck des ersten Prinzips. Die aktivierte respiratorische Funktion, die B E L L ZU der Heraushebung eines gesonderten Systems der Respirationsnerven geführt hat, würde D A B W I N in die Reihe des 3 . Prinzips eingruppieren, also in Reaktionen, die vom Zentralnervensystem gesteuert werden. So wurde D A B W I N von B E L L angeregt, nun weiterzugehen zur Anwendung solcher beim Tier zu beobachtenden Ausdrucksbewegungen auf das Menschengesicht im Falle des Affektes der Wut. Er schildert die Ausdrucksbewegungen bei zorniger Wut und herausforderndem Trotz beim Menschen und deutet folgendermaßen: „Das Entblößen des Eckzahns ist das Resultat einer doppelten Bewegung. Die Ecke oder der Winkel des Mundes wird ein wenig zurückgezogen und zu gleicher Zeit zieht ein Muskel, welcher parallel und nahe der Nase verläuft, den äußeren Teil der Oberlippe hinauf und entblößt den Eckzahn auf dieser Seite des Gesichts. . . Die Handlung ist dieselbe wie die eines fletschenden Hundes und wenn ein Hund sich zum Kämpfen anschickt, so zieht er oft die Lippe auf einer Seite allein in die Höhe, nämlich auf der dem Gegner zugewendeten" [64]. D A B W I N folgert, daß „unsere halbmenschlichen Urerzeuger ihre Zähne entblößten, wenn sie sich zum Kampfe vorbereiteten, da wir es immer noch tun, wenn wir wild werden, oder wenn wir einfach irgend Jemanden verhöhnen oder ihm herausfordernden Trotz bieten, ohne irgend welche Absicht, mit unsern Zähnen wirklich Angriffe zu machen." Diese Ausdrucksformen werden von D A B W I N dazu verwendet, als Argumente für die „Abstammung des Menschen" zu dienen. Es interessieren ihn auch Schmerzäußerungen bei Tier und Mensch, und von dort her besonders die Mimik des schreienden Kindes. Die Abbildungen dazu (Abb. 13) [65], photographische Momentaufnahmen, auf die Darwin mit Recht stolz ist, zeigen weinende und zugleich schreiende Kinder, die ihr Leiden auf eine sehr eindrucksvolle Weise äußern. Aber nicht nur das Aufreißen des Mundes durch die Muskulatur, sondern auch das Zukneifen der Augen gehört offensichtlich dazu. Bei B E L L hat er solche Hervorhebungen nicht gefunden; B E L L geht nur gerade wieder auf die Aktion des respiratorischen Nervensystems ein, das für ihn bei allen Ausdrucksbewegungen so charakteristisch manifest hervortritt, beim Lachen sowohl wie beim Weinen; aber auf den Lidschluß weist er nicht ausdrücklich hin. Und doch steckt der Gedanke B E L L S auch in D A B W I N S Erklärung für diesen Vorgang. D O N D E B S hat die Meinung vertreten, daß durch heftige Aktionen der gesamten Atmungsmuskulatur, insbesondere des Zwerchfells, eine Drucksteigerung in

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den retrobulbären Blutgefäßen zustande komme, und um eine solche, wie man meinte, schädliche Einwirkung zu kompensieren, käme es zum Lidschluß mit einer entgegengesetzten Druckwirkung. Man sieht nur, wie B E L L S These von der großen Bedeutung des Respirations- Nervensystems bei Gemütsbewegungen auch vom Physiologen D O N D E B S durchaus akzeptiert wurde, und D A R W I N konnte sich dessen Urteil mit Recht anschließen. Er fügt seinerseits Beobachtungen experimenteller Art hinzu. Einem Affen der neuweltlichen Abteilung, einem Cebus, gab er eine kleine Prise Schnupftabak, und als er nieste, schloß er die Augen. Aber ganz paßte die Übereinstimmung auch wieder nicht, denn als der Affe bei einer späteren anderen Gelegenheit lautes Geschrei ausstieß, schloß er die Augen nicht. Die genannten Vorgänge wurden von D A R W I N als Vorgänge eines peripheren Bewegungsmechanismus gedeutet, wie ja auch B E L L und die französischen Neurophysiologen im wesentlichen nur an dem peripheren Ablauf interessiert waren. Aber er ging der Frage der Entstehung eines solchen Mechanismus nach, und ihm dienten die „zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten" als Argumente für seine Abstammungslehre des Menschen. Sein 2. Prinzip des Gegensatzes spielt sicher eine sehr untergeordnete Rolle, und schon P I D E R I T hat mit einem gewissen Recht gerade dieses Prinzip als einen „Lückenbüßer" bezeichnet für Gebärden, die weder in das erste noch in das dritte Prinzip hineinpaßten. Daß das dritte Prinzip von der maßgebenden Direktion des Nervensystems und seiner ganz speziellen Konstitution anzuerkennen war und ist, gibt auch P I D E R I T ZU ; aber er hält dieses Prinzip für „ziemlich werthlos, denn es bietet keine Handhabe, um damit das Hauptproblem der Mimik zu lösen, das Problem: weshalb in gewissen Seelenzuständen immer nur gewisse Muskeln in Spannung gerathen und dadurch hauptsächlich dem Gesicht einen so charakteristischen Jedem verständlichen Ausdruck verleihen" [66]. Gerade das aber lag der Betrachtungsweise D A R W I N S ganz fern. Wenn man diese 100 Jahre Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik rückblickend überschaut, so ist die naturwissenschaftliche Wendung sehr eindeutig erkennbar. Die Abwendung von L A V A T E R ist vor allem insofern darin vollzogen, als die moralisch-sittliche Verbindlichkeit fehlt, aber auch die Grundlage der beständigen, ruhenden, unveränderlichen Physiognomik ist verlassen. Seine Prophezeiung der Erfolge „mathematischer Physiognomisten" haben sich wahrlich nicht erfüllt. Aber auch N I C O L A I S Voraussage ist hinfällig geblieben, der die Meinung vertrat, durch L A V A T E R S Spekulationen würde die Physiognomik in den folgenden 100 Jahren „verachtet" werden. Keinem von beiden hätten D A R W I N S Gedanken zum Ausdruck von Gemütsbewegungen genügt; L A V A T E R hätte den fehlenden seelenkundlichen Anteil vermißt, und N I C O L A I eine umfangreiche registrierende

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systematische Sammelarbeit, wie er sie über Z I M M E R M A N N an L A V A T E R empfohlen hatte. Eine solche ist erst in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschaffen worden, aber zu ganz anderen Zwecken und Zielen. B E R T I L L O N [67, 68] hat ein geradezu grandioses System anthropometrischer Messungen aufgestellt, das sich vorwiegend auf den Schädel des Menschen bezog. Daraus ist eine Meßkarte, eine Identitätskartei mit einer Fülle von Signalementsangaben entstanden, und zwar nicht nur in Form photographischer Abbildungen, sondern auch eine karteimäßig niedergelegte Beschreibimg aller Details, ein „Portrait parlé". Führend dabei aber war nicht die Absicht, den Charakter des Menschen aus diesem nun im wahrsten Sinne wissenschaftlich verwertbaren Material abzulesen, sondern lediglich für Fahndungszwecke in der Kriminalistik zu dienen. Wenn man die Abbildungen, die B E R T I L L O N S Schüler R E I S S 1905 in seinem ausführlichen Handbuch [69] niedergelegt hat, betrachtet (Abb. 14), so muß man wohl an L A V A T E R S Versuch einer Sammelarbeit denken, die bei ihm sehr versteckt ist in dem üppigen Gestrüpp seines Werkes. Auch in dem anthropometrischen Werk B E R T I L L O N S bzw. R E I S S ' überwiegen wie bei L A V A T E R die Profildarstellungen, wie ja immer schon auf Medaillen und Münzen; offenbar ist darin doch wohl das Charakteristische am einfachsten abzulesen, und von dort her stammt wohl auch die noch im heutigen Zeitungsjargon viel verwendete Bezeichnung einer „profilierten Persönlichkeit". Aber in dieser hervorragenden Sammlung, in der sich auch Abbildungen von Frontalgesichtern, von Augen, Ohren und Gesichtsfalten finden, fehlt jeglicher Bezug auf seelisch-geistige oder charakterologische Hintergründe. Von einer solchen anthropometrischen Sammlung für Fahndungszwecke der Kriminalistik war es nur ein Schritt zur Daktyloskopie, der Identitätscharakteristik der Person. So ist immer deutlicher geworden, daß von der Physiognomik oder auch der Pathognomik allein, d. h. ohne die maßgebende Führung einer Psychologie umfassenden Charakters keine wirklich wissenschaftlich verwertbaren Ergebnisse zu erwarten seien ; und darin sind sowohl L I C H T E N B E R G als auch Wilhelm VON H U M B O L D T in ihren prognostischen Aussagen bestätigt. Darüber besteht heute im Grundsätzlichen auch durchaus Einigkeit, ob es sich da um die Arbeiten von L . K L A G E S , Ph. L E R S C H , R. K A S S N E R , K . L E O N HARD oder anderer Autoren handelt, die speziellen Unterschiede durchaus zugegeben. So kann man es nur begrüßen, daß die Physiognomik nunmehr eingegliedert ist in das Gebiet der „Ausdruckspsychologie" und dort jedenfalls ihre augenblickliche Endstation gefunden hat [70]. Damit ist deutlich geworden, daß ganz entscheidende Akzentverschiebungen vor sich gegangen sind, die sich nun aber auch wieder wesentlich abheben von der rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise um die Mitte des vorigen Jahrhunderts.

LITERATUR

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C.: Physiognomische Fragmente. Leipzig und Winterthur. 1 7 7 5 — 1 7 7 8 . J . G.] Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Riga 1774. [ 1 4 ] v. d. H E L L E N , Eduard: Goethes Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten. Frankfurt/M. 1888. [15] FUNK, H.: Goethe und Lavater. Schriften d. Goethe-Ges. 16. Bd. 1901. [16] L A V A T E R , J . C.: Von der Physiognomik. 1772. S. 30. [17] L A V A T E R , J. C.: Fragmente II, 189. [18] ebda I, 63. [19] ebda IV, 236 und 237. [20] ebda IV, 241. [ 2 1 ] H E G N E R , Ulrich: Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater's. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Leipzig 1836. [22] L A V A T E R , J . C.: Fragmente I I I , 336—341. [23] ebda II, 132. [24] ebda I, 10. [ 1 2 ] LAVATER, J .

[13]

[HERDER,

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[25] Herders Werke (DÜNTZER) Berlin o. J . 17. Theil Plastik. (Riga 1778.) S. 259. [26] LAVATER, J . C.: Auszüge aus meinem Tagebuch vom Julius 1777. Anekdoten von Kaiser Joseph I I . und Unterredungen mit ihm. Handbibliothek f ü r Freunde. 5. Heft. 1793. S. 164 ff. [27] J o h . Casp. Lavaters Nachgelassene Schriften. 5. Bd. Zürich 1802. [28] LAVATER-SLOMAN, Mary: Genie des Herzens. Die Lebensgeschichte J o h a n n Caspar Lavaters. Zürich—Leipzig 1939. [29] (LICHTENBERG, G. Chr.): Ueber Physiognomik wider die Physiognomen. Göttingen 1778. [30] LICHTENBERG, G. Chr.: Vermischte Schriften. I I I . Bd. Göttingen 1801. S. 589 ff. [ 3 1 ] Lichtenbergs Briefe ( L E I T Z M A N N und S C H Ü D D E K O P F ) I I . Bd. Leipzig 1 9 0 2 . S. 281/82. [32] GOETHE: W A I V , 2, 175.

[33] v. GÖCKING, L. F. G.: Friedrich Nicolais Leben und literarischer Nachlaß. Einzelne Ideen und Bemerkungen. Berlin 1820. S. 138 ff. u. S. 143. [34] BODEMANN, E d u a r d : J o h . Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben. Hannover 1878. S. 303 ff. [35] J . J . E N G E L S sämtliche Werke V. Band. Ideen zu einer Mimik. 1785. [36] GALL. Fr. J . : Sur les fonctions du cerveau et sur Celles de chacune de ses parties. Paris. 1 8 2 2 - 1 8 2 5 . [37] LESKY, E r n a : Gall und Herder. Clio Medica Vol 2. 1967. p p 8 5 - 9 6 . [38] H E R D E R , J . G.: Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit. II. Buch. Kap. 2. 1784. [39] GALL, Fr. Jos.: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über N a t u r und K u n s t im kranken und gesunden Zustande des Menschen. Wien. 1791. [40] v. HUMBOLDT, Wilhelm: Briefe an eine Freundin. 2 8 . 4 . 1833. Leipzig 1853. S. 212/13. [41] GOETHE: W A I , 35, 201 ff.

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CARTJS, C. G.: Symbolik der menschlichen Gestalt (Th. Lessing). Celle 1925. S.66 ff. ebda. S. 210. ebda. S. 435/36. VIRCIIOW, R . : Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes. Berlin 1857. [46] VIRCHOW, R . : Göthe als Naturforscher. Berlin 1861. S. 89 ff. [47] CAMPER, Peter: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen. Berlin 1792. S. 21 ff. [48] SCHOPENHAUER, A.: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Berlin 1851. [ 4 9 ] L E S K Y , E r n a : Gall, Ahnherr der Wiener Psychiatrie. Wien. klin. Wschr. ( 1 9 6 7 ) 49,

912-915.

[50] BELL, Charles: The Anatomy and Philosophy of Expression as combined with the fine arts. London. 3. Aufl. 1844. [51] BELL, Chr.: ebda. S. 137/48. [52] ebda. S. 211.

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[53]

D U C H E N N E (de Boulogne), G.-B. : Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électrophysiologique de l'expression des passions. 2. Aufl. 1876. Paris. [54] ebda. I, S. 31. [55] ebda. II, S. 13. 35. 73. [ 5 6 ] G R A T I O L E T , L.-P. : De la physionomie et des mouvements d'expression. Paris 1865. S. 5/6.

[57] ebda. S. 8/9. [58] ebda. S. 33. [ 5 9 ] P I D E R I T , Th. : Mimik und Physiognomik. Detmold 1 8 8 6 . S. 7 . [60] P I D E R I T , Th. : Grundsätze der Mimik und Physiognomik. Braunschweig. 1858. S. 1 ff. [61] ebda. S. 100. (Nachwort) [62] D A R W I N , Ch. : Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren. Stuttgart 1910. [63] BELL, Ch. : The Anatomy and Philosophy of Expression. 4. Aufl. London 1847. S. 122/23.

[64] D A R W I N , Ch.: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Stuttgart 1910. S. 218/19. [65] ebda. S. 120. [66] P I D E R I T , Th. : Mimik und Physiognomik. Detmold 1886. S. 12/13. [67] B E R T I L L O N , A. : Identification anthropométrique. Melun 1893. dt. Bern 1895. [ 6 8 ] B E R T I L L O N , A., und C H E R V I N , A.: Anthropologie métrique. Paris 1 8 9 9 . [69] R E I S S , R. A. : Manuel du portrait parlé (méthode Alphonse Bertillon) à l'usage de la police, avec vocabulaire français, allemand, italien et anglais. Lausanne 1905. [70] Handbuch der Psychologie. 5. Band. Ausdruckspsychologie. Güttingen 1965.

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