Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater 9783666558153, 3525558155, 9783525558157


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German Pages [356] Year 1994

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Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater
 9783666558153, 3525558155, 9783525558157

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V&R

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION Z U R ERFORSCHUNG DES PIETISMUS HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, E. PESCHKE UND G. SCHÄFER

BAND 31

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

DAS ANTLITZ GOTTES IM ANTLITZ DES MENSCHEN ZUGÄNGE ZU JOHANN KASPAR LAVATER

HERAUSGEGEBEN VON

KARL PESTALOZZI UND HORST WEIGELT

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Die ersten 16 Bände dieser Reihe erschienen im LutherVerlag, Bielefeld. Ab Band 17 erscheint die Reihe im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Redaktion: Gisela Luginbühl-Weber, Basel

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaußuhme Das Antlitz Gottes im Antlitz des Manschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater / hrsg. von Karl Pestalozzi und Hoist Weigelt. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 31) ISBN 3-525-55815-5 NE: Pestalozzi, Karl [Hrsg.]; GT

© 1994 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus dem Adobe Bembo von SATZSPIEGEL, Göttingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Der vorliegende Band enthält Referate, die auf einem Symposion anläßlich der 250. Wiederkehr des Geburtstages von Johann Kaspar Lavater vom 3. bis 5. November 1991 in Zürich gehalten wurden. Veranstaltet wurde die Tagung vom Zwingliverein Zürich in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und mit Unterstützung des Kirchenrates der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Damit erscheint seit der „Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages" (1902) zum ersten Mal wieder ein Sammelband zu Lavater. Dieser verdankt sich, wie die Beiträge zeigen, nicht einfach dem Zufall eines Jubiläums, sondern einem vielfaltigen Interesse an Lavaters Person, Werk und Wirkung. Die hier vereinigten Beiträge stammen aus verschiedenen Disziplinen und verfahren auch methodisch unterschiedlich. Sie machen damit deutlich, welche mannigfaltigen Impulse von diesem rastlos tätigen, nach vielen Richtungen aufmerksamen und Kontakte knüpfenden Geist auf Theologie und Kirche, Literatur und Kunst, Psychologie, Pädagogik und Politik im 1 S.Jahrhundert ausgingen. Zugleich möchten sie zeigen, auf welche Weise er auf unser heutiges Denken anregend wirkt, jedoch auch, wo wir ihm nicht mehr zu folgen vermögen. Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus unter ihrem Vorsitzenden D. Dr. Gerhard Schäfer, der den beiden Herausgebern mit Rat und Tat zur Seite stand, hat den Band in die von ihr herausgegebenen Arbeiten zur Geschichte des Pietismus aufgenommen. Die Drucklegung wurde durch finanzielle Unterstützungen seitens der Zürcher Altstadtgemeinden, der Emil Brunner-Stiftung/Zürich, der Oekolampad-Stiftung/Basel sowie der Evangelischen Landeskirche in Baden, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen möglich. Die Redaktion der Beiträge, insbesondere die Überprüfung der Zitate an den Originalausgaben und die bibliographische Vereinheidichung der Anmerkungen, lag in den unermüdlichen und kundigen Händen von Frau Dr. des. Gisela Luginbühl-Weber. Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hat die Drucklegung umsichtig und sorgfaltig betreut. Allen genannten Personen und Institutionen sei für ihre Mithilfe und Unterstützung von Herzen Dank gesagt. Mit diesem Band Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen verbindet sich die Hoffnung, Lavater einem breiteren öffentlichen Bewußtsein wieder präsent zu machen, als „ein Individuum, einzig, ausgezeichnet, wie man es nie gesehen hat und nicht wieder sehen wird" (Goethe) und als „Hoffer des selten

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Gehofften" (Lavater), nämlich einer universalen Gemeinschaft, die auf „Menschenkenntnis und Menschenliebe" beruhte. Karl Pestalozzi, Basel Horst Weigelt, Bamberg

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Inhalt Vorwort

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MAX WEHRLI Lavater und das geistige Zürich

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I. Lavater als Theologe GERHARD EBELING Genie des Herzens unter dem genius saeculi - J . C . Lavater als Theologe

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KLAAS HUIZING Verschattete Epiphanie. Lavaters physiognomischer Gottesbeweis . . . .

61

HORST WEIGELT Lavater und die Frömmigkeit

79

RUDOLF DELLSPERGER Lavaters Auseinandersetzung mit dem Deismus. Anmerkungen zu seiner Synodalrede von 1779

92

SUKEYOSHI SHIMBO Geisterkunde und Apokatastasis-Rezeption bei Lavater und Jung-Stilling

102

GISELA LUGINBÜHL-WEBER „ . . . zu thun, . . . was Sokrates gethan hätte": Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit

114

KLAUS MARTIN SAUER öffentlicher Lehrer und Stellvertreter Jesu. Lavaters Predigttätigkeit in Zürich

149

II. Lavater als Physiognomiker RICHARD T. GRAY Aufklärung und Anti-Aufklärung: Wissenschaftlichkeit und ZeichenbegrifF in Lavaters „Physiognomik"

166 7

MARTIN BLANKENBURG

Wandlung und Wirkung der Physiognomik. Versuch einer Spurensicherung

179

ALFRED MESSERLI

Die Bildwürdigkeit der Bauern in Lavaters „Physiognomischen Fragmenten" (1775-1778)

214

AUGUST OHAGE

Über „Raserei für Physiognomik in Niedersachsen" im Jahre 1777. Zur frühen Rezeption von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten"

233

ELLIS SHOOKMAN

Wissenschaft, Mode, Wunder: Über die Popularität von Lavaters Physiognomik

243

HANS H . WALSER

Johann Caspar Lavater und die Psychiatrie

III. Lavater

und

253

Zeitgenossen

K A R L PESTALOZZI

Lavaters Hoffnung auf Goethe

260

FRIEDHELM ACKVA

Die Bedeutung von Lavater für das theologische Werk von Johann Jakob Heß (1741-1828)

280

PETER STADLER

Lavater und Pestalozzi

291

U L R I C H IM H O F

Lavater als Patriot

300

PETER WALSER-WILHELM

„ . . . bis die Gerechtigkeit die Muse der Historie ihr zum Beystand aufgerufen." Zum Waser-Handel 1780: Bonstetten, Johannes von Müller und Lavater

317

EDMUND HEIER

J. C. Lavater im geistigen und kulturellen Leben Rußlands des 18. und 19.Jahrhunderts 337 Personenregister

348

Verzeichnis der Autoren

355

8

M A X WEHRLI

Lavater und das geistige Zürich

Über Lavater zu reden ist noch heute nicht ganz leicht, gerade auch im ehrwürdigen Zentrum seiner Wirksamkeit, der Kirche St. Peter.1 Lavater ist im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wie kein anderer Zürcher weltweit verehrt und gefeiert worden als Prediger, Seelsorger, Schriftsteller, Freund und Patriot, und in seiner Stadt ist er wohl auch am längsten unvergessen geblieben. Und doch ist dieses Phänomen Lavater fest von Anfang an, auch und gerade in Zürich, schwer angefochten worden, nicht weniger als in Berlin, Göttingen oder Weimar. Und seither tut sich fast jede Beschäftigung mit ihm schwer und fiihrt notwendig immer wieder zu einer theologischen, psychologischen oder literarischen Distanzierung oder Relativierung. Das Urteil seines größten Freundes, Goethe, zeigt in seinen extremen Wechseln von Begeisterung zu Verhöhnung und schließlich zu herablassender Würdigung am besten die mögliche Spannweite, kann aber gerade auch zur Vorsicht mahnen. Lavater ist ein hinreißender Zürcher gewesen und doch im Rahmen der Stadt Zwinglis und des aufgeklärten 18.Jahrhunderts eine Grenzfigur. Und doch, anders als seine großen Freunde, der Maler Füßli und Heinrich Pestalozzi, die in dieser Stadt keinen Platz fanden, ist er ihr verpflichtet geblieben und ohne sie nicht denkbar. Und es gilt auch umgekehrt: die Geschichte des zürcherischen Gemeinwesens ist politisch, moralisch, menschlich vom Wirken Lavaters zutiefst bestimmt worden. Man denke nur an den mächtigen, überaus erfolgreichen Prediger und seine heute noch erhaltenen oder belegten eintausendsiebenhundertdreiundachtzig Predigten. 2 Zürich im 18.Jahrhundert — das ist nach heutigen Begriffen eine Kleinstadt von etwa 10 000 Einwohnern. Rechnet man eine ärmere Unterschicht und das zünftische Handwerk ab, so bleibt eine begrenzte Zahl der regierenden, in Verwaltung, Kirche und Schule tätigen oder militärisch und kaufmännisch führenden Bürger. Die Bildung war wesentlich Sache der Theologen, von denen es in Amt und Würden, vor allem auch im Stande des sogenannten Exspektantentums, sehr viele gab. Diese Oberschicht, auch maßgebend auf der in politischer, wirtschaftlicher und kirchlicher Abhängigkeit gehaltenen Landschaft, war verhältnismäßig dünn, so daß man sich weithin kannte oder miteinander verwandt war. Mit den von Westen eindringenden neuen Ideen und einem seit der Jahrhundertmitte wachsenden Wohlstand ergab sich ein unwahrscheinlich dichtes politisch-soziales Leben, das über die Räte und 9

Zünfte hinaus sich in Kirche und Schule regte, zahlreiche Zirkel und Gesellschaften mit wissenschaftlichen, politischen oder künstlerischen Zielen unterhielt, sich privat oder auf der öffendichen Promenade fend, sich Druckereien, Verlage, Zeitschriften und Zeitungen leistete und uferlos Briefe schrieb. Das an sich strenge aristokratisch-kirchliche Regiment sorgte mit puritanischnüchternem und pragmatischem Sinn für eine erstaunliche Stabilität und wußte lange die freigeistigen oder politisch-demokratischen Regungen in sich abzufedern. Dies alles ging aber zusammen mit lebhaften Beziehungen zu andern eidgenössischen oder ausländischen Städten und ihrer bürgerlich-adligen Oberschicht. Im ganzen Jahrhundert herrscht dadurch über Stadt- und Landesgrenzen hinaus eine seltsame Art von Öffentlichkeit, in der man nicht anonym bleibt, sondern in mannigfacher Weise, und sei es durch Streit oder Klatsch, ins gemeinsame Leben einbezogen ist und mit einer gewissen Leidenschaft mitspielt. In Zürich hat es um 1720 begonnen mit dem jugendlichen Unternehmen Johann Jakob Bodmers und seiner Freunde, nach englisch-französischem Vorbild eine moralische Wochenschrift herauszugeben — die Discourse der Mäklern? — und damit durch Sittenbeschreibung, Kritik, Parodie, Diskussion, durch Ausblicke auf Dichtung und Geschichte ein neues, zeitgemäßes kulturelles Bewußtsein zu schaffen. Von 1720 bis etwa 1780, die ganze aufgeklärte Epoche hindurch, blieb Bodmer der Mittelpunkt eines dichten Netzes der Nachrichten, der Intrigen, der poetischen, gelegendich auch der politischen Aktionen, und über seine Schüler und Korrespondenten hatte er seine Außenposten unter anderm in Berlin, Paris, R o m und London. Zur Bewunderung des Auslandes kamen seit etwa 1760 zwei weitere Berühmtheiten hinzu, in gebührendem Abstand zum Vater der Jünglinge, aber ihn doch selbständig flankierend: Salomon Geßner und eben Lavater. Sie könnten nicht verschiedener sein: der eine blickt, von seiner Stadt aus, nach einem antik-utopischen Arkadien, der andere in ein ganz und gar nicht utopisch gemeintes Reich Gottes. Was nun Lavater betrifft, so ist er in besonderem Maß der Träger und das Opfer jenes dichten sozialen, literarischen und auch kirchlichen Lebens geworden, in dem es so schwer fallt, die Substanz des Protagonisten gerecht zu erfassen. Man hat ihn als ein Genie der Kommunikation4 bezeichnet; er geht auf unwahrscheinliche Weise auf in den Funktionen des Predigers und Seelsorgers, des Freundes und Korrespondenten, des unermüdlichen Autors, und er gibt sich dabei, mit einem modischen Wort der Zeit, einem Selbstgenuß hin, der mehr als Eitelkeit und Geltungsbedürfnis war, vielmehr eine öffendiche, ja heilsgeschichtliche Funktion für zahllose Zeitgenossen hatte. Wenn sich Lavater mit seiner Selbstbeobachtung, seinem Tagebuch, seinen Gebeten im Persönlichsten zu profanieren scheint, so vollzieht sich eben diese zeitgemäße Entdeckung des eigenen Subjekts und Individuums durchaus öffentlich, also in einer Art Dialektik von Selbstbegegnung und sozialem Leben. Da ist Lavater kaum ein Sonderfall - das öffentliche Gespräch befaßte sich ebenso etwa mit Klopstocks unglücklicher Liebe zu seiner Fanny oder mit dem Glaubensleben des Moses Mendelssohn, und nicht viel anders

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stellt sich später das Ineinander privater, gesellschafdicher und literarischer Vorgänge in Weimar dar. Was Lavater nun in besonderer Weise zum Bodmer-Schüler und zum Zürcher Bürger machte, das war die selbstverständliche und leidenschafdiche B e teiligung am Schicksal seiner Stadt als eines nicht nur gesellschaftlichen und kulturellen Gemeinwesens. Sein politischer Beitrag an die zürcherische und dann auch schweizerische Zeitgeschichte muß zuerst zur Sprache kommen, denn er begründet und begleitet sein literarisches und religiöses Wirken, auch wenn dieses weit darüber hinauszielt.5 Lavater als Patriot — es ist kein Zufäll, daß am Anfang wie am Ende seines öffentlichen Lebens sein Eingreifen ins politische Geschehen in Stadt und Land steht. Mit neunzehn Jahren tritt Lavater, unterstützt von seinem Freund Heinrich Füßli, gegen den betrügerischen Landvogt von Grüningen auf, in einer großartig-kühnen, aber wohlüberlegten und in der Anklageschrift6 hochrhetorischen Attacke; mit alttestamentlichen Wendungen wird der Verbrecher angeklagt: „Ungerechtigkeit ist deine Nahrung, und Schalkheit füllet deine Seele" und dann die Regierung selbst mit den beiden Bürgermeistern: „Schläfst du denn, Escher und Leu?", und schließlich die Wendung zu Gott: „Stehe auf, o Herr!, erhebe deine Hand!" Mit Berufungen auf die großen Helden des klassischen Altertums und der Eidgenossenschaft setzen sich die jungen Leute in Szene, ganz im Stil ihres Lehrers Bodmer und seiner politischen Dramen. Bodmer, auf den wohl im allgemeinen, aber nicht im konkreten Fall das Unternehmen zurückging, war begeistert und verschaffte in seinen Briefen der Sache ein internationales Echo. Die Tat wurde berühmt, noch Jahre später gab es in Holland einen Druck der Akten.7 Auch nach der Rückkehr von seinem Deutschlandaufenthalt schrieb Lavater für das Vaterland, vor allem mit den von der Schinznacher Helvetischen Gesellschaft gewünschten und in kürzester Zeit entstandenen Schweizerliedern (1767). 8 Es war ein gewaltiger patriotischer Erfolg im Sinn einer neuen Volkstümlichkeit des geschichtlichen Bewußtseins, auch wenn das Vorbild die preußischen Kriegslieder J. W . L. Gleims (1758) waren und Lavater selbst später sich gelegentlich von diesem raschen Werk teilweise distanzierte.9 Es blieb jahrzehntelang in Volk und Schule lebendig und war damit doch ein Beitrag zur Orientierung in den kommenden Zeiten des Untergangs und der Wandlung. In den Vordergrund trat nun aber das Ringen des jungen Theologen um eine religiöse, theologische und menschenkundliche Besinnung und Erneuerung und damit, seit Ende der sechziger Jahre, das Entstehen der Hauptwerke, die Lavater in die internationale Diskussion führten, aber auch in Zürich selbst mit ihrem „Glaubens-Rigorisme" (Bodmer) und ihrem „Wunderkram" (J.J. Hottinger) zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen machten. Auf eine grundsätzliche Umgestaltung der politischen Verhältnisse zielte Lavater nicht, auch wenn er von Freiheit und Menschenrechten sprach. Und Rousseau war dem Christen Lavater kein Abgott wie dem späten Bodmer und den

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meisten seiner Jünglinge. Lavater hat ihn zwar 1764 in M o r i e n besucht, doch blieb das o h n e Folgen. Die französische R e v o l u t i o n lehnte Lavater spätestens seit d e m Tuileriensturm (1792) und der Hinrichtung des Königs ab. Immer deutlicher w i r d er i m letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts, der alten Eidgenossenschaft u n d des eigenen Lebens, als Prediger, Publizist u n d Ratgeber zu einer maßgebenden Instanz. Eindrucksvoll war sein Verhalten im Stäfner Handel (1794/95): unerschrocken trat er für Vernunft u n d M ä ß i g u n g u n d Gerechtigkeit ein, zugunsten der Verhafteten u n d Verurteilten, rein nach christlichen, moralischen Grundsätzen, o h n e politisch-reformerische Absichten. Die letzte Phase vaterländischer Aktion bricht mit Beginn des Jahres 1798 an. Zunächst ist es, zusammen mit Pestalozzi u n d d e m Bruder u n d Ratsherrn Diethelm Lavater, ein Eintreten für die R e c h t e der Landschaft i m Z u s a m m e n h a n g mit der Liquidation der Stäfner Auseinandersetzungen („Brief an den redlichsten M a n n in Stäfa" 10 ). D a n n aber, i m Frühling des Jahres, mit der neuen helvetischen Verfassung u n d den Diktaten des französischen Direktoriums, eine lange R e i h e der stärkenden, mahnenden, beruhigenden Predigten, die Lavater sozusagen Tag für Tag z u m Mitspieler der geschichtlichen Vorgänge machten. Vor allem aber wagte er n u n eine Intervention in Paris, mit d e m „ W o r t eines freyen Schweizers an die große N a t i o n " , datiert „10. V. 1798, im ersten Jahr der Schweizerischen Sklaverey". D e r Text w u r d e zunächst n u r handschriftlich u n d französisch nach Paris gesandt, dann (vielleicht ohne Z u t u n Lavaters?) deutsch gedruckt u n d verbreitet. 11 Es ist wieder ein klassisches Stück hinreißender politischer R h e t o r i k , sofern man diese Gattung in ihrer antikisch-eidgenössischen H o c h f o r m zu würdigen vermag. Aber es war ja auch faktisch in j e d e r Hinsicht eine Tat der selbstverständlichen Tapferkeit u n d Verantwortung eines Geistlichen, der w o h l wie niemand sonst in der Schweiz dazu die Vollmacht hatte. Lavaters V e r w u n d u n g u n d T o d n o c h in dieser Zeit der ersten Helvetik ist vielleicht ein unglücklicher Zufall gewesen, aber läßt sich doch auch als sinnbildlicher Abschluß dieses Lebens verstehen. In diesem zürcherisch-geschichtlichen R a h m e n sind n u n auch die theologischen u n d anthropologischen W e r k e zu sehen, mit denen Lavater seit E n d e der sechziger Jahre hervorgetreten ist u n d seine eigentliche Berühmtheit erlangte. W i r k o m m e n dabei von der kleinen Stadt in den Weltraum. Schon bei Lavaters Lehrer B o d m e r war die freiheitlich-demokratische Gesinnung nur die praktische Dimension eines umfassenden neuen Weltbildes, war das Ziel eine Befreiung des Menschen zu sich selbst u n d das heißt: zu seinen u n e n d lichen Möglichkeiten. Das Organ aber, das fähig sein sollte, die neu erfahrene G r ö ß e der N a t u r u n d ihres Schöpfers zu erkennen u n d den Mitmenschen zu vermitteln, das war die dichterische Einbildungskraft. Hart formuliert: eine neue Poesie tritt an die Stelle der biblischen Offenbarung, der Geschmack an die Stelle des Glaubens. Das geistige Zürich w u r d e vor allem ein literarisches Zürich, seit B o d m e r und seine Freunde, seit den Discoursen, von einer n e u e n D i c h t u n g erwarteten, daß sie die Welt erschließe, u n d der dichterischen P h a n tasie zutrauten, daß sie auf ihre eigene Weise in Analogie zur Natur, ja z u m

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göttlichen Schöpfer, zu schaffen vermöchte und jene Empfindungen hervorrufen könnte, die den Menschen den Weg zur Vollkommenheit weisen. Der Dichter wird aus einem nachahmenden Handwerker zum Propheten. Mit Hilfe von Shaftesburys Soliloquy und Popes Essay on man gibt ihm Bodmer seine Stelle in der großen Leibnizschen Monadenpyramide, wo die körperlich-menschlichen Wesen ins Geistige, ja Engelmäßige hinaufreichen. In einem programmatischen Lehrgedicht von 1734 fordert Bodmer den kommenden Dichter heraus: Bericht denn, wie und was in einer höhern Sphäre Gedacht wird und gethan; Erweitre und vermehre Des Wissens schmalen Schranck . . . Denn auf dem Leiter-Werck, worauf die Wesen stehen, Fängt, wo du dich befindst, der Geist und Engel an, Hört Mensch und Cörper auf. Du findst in dir den Plan, Was sie ins Himmels Saal, im tieiFen Thal der Höllen Und in der Sternen-Welt bemüht sind zu bestellen.12

In John Milton hatte Bodmer damals bereits den visionären Epiker kennen gelernt und übersetzt, der sich das höchste Thema, den göttlichen Heilsplan und die Menschheitsgeschichte, gestellt hatte. An den Versen Bodmers hatte sich damals der junge Klopstock als Schüler in Schulpforta begeistert, und in der Erscheinung Klopstocks mit seinem großen Epos von der christlichen Versöhnung kulminiert, um die Jahrhundertmitte, die Zürcher Apotheose des Dichters. Auch fiir Lavater wurde und blieb Klopstock der alles überragende Dichter, so sehr er sich später veranlaßt sah, aus Gründen der Bibeltreue eine eigene messiadische Dichtung zu schaffen. Durch das ganze Werk Lavaters zieht sich die Problematik des dichtenden Theologen und theologischen Dichters: was sich Klopstock im Messias und Bodmer dann in seinen Patriarchaden an poetischer Lizenz theologisch unbesorgt leisten konnten, das unterlag bei dem Geisdichen Lavater einer viel radikaleren Anforderung. Seine dichterische Einbildungskraft konnte und durfte sich christlich ermächtigt fühlen, aber lief Gefahr, beim Verlassen der biblischen Grundlagen erst recht ins Leere zu gehen und zu scheitern. Ob Lavater der Kraft der Empfindung und einer analogischen Divination zuviel zutraute, wie nicht nur viele Zeitgenossen meinten, ist hier nicht zu entscheiden. Es gehört aber zu seiner Größe, daß er sich zu diesen extremen Konflikten tragen ließ. Lavater gab sich sein ganzes Leben hindurch als Dichter, und sei es schließlich nur in der zwanghaft werdenden Manier, sich zu allem nur noch in Hexametern zu äußern. Aber zuerst und zuletzt war er doch Gottesmann und Theologe. Und auch das aufgeklärte Zürich war und blieb ja in seiner engen Symbiose von Staat und Kirche eine Theologenstadt. Auch wenn der engere Kreis Bodmers einer wenig verbindlichen deistischen und eben dichterischen Frömmigkeit zuneigte und die kirchlichen Führer — wie Johann Jakob Zimmermann am Carolinum, der Antistes Johann Konrad Wirz oder der Frau13

münsterpfarrer Johann Kaspar Ulrich - in unterschiedlichem Maß einer aufgeklärten Vernünftigkeit oder einer pietistischen Empfindung R a u m gaben, so blieb doch für einen jungen Geisdichen wie Lavater der Ernst und die Strenge einer biblisch-chrisdichen Orthodoxie bestehen. 13 Die erst kürzlich herausgegebenen Briefe des achtzehn- bis zwanzigjährigen Lavater 14 belegen ein fast erschreckend intensives, leidenschaftliches Glaubensleben, das mit sein e m Sündenbewußtsein, seinen Gedanken an Tod und Gericht in dogmatischer Hinsicht ganz orthodox berühren könnte. Durchaus neu aber erscheint zugleich die verzweifelte Inbrunst einer persönlichen Auseinandersetzung und der Versuch, zwischen Gebet und Rhetorik den Weg einer Befreiung zu finden. In nächdichen Meditationen, die von Youngs Nachtgedanken geleitet sind, sucht der Briefschreiber die Freunde zu einer Art Gebetsgemeinschaft zu gewinnen, in „Weinen und Beten" soll mit ihnen eine „gemeinsame Arbeit an der Glückseligkeit" erfolgen. Die Freundschaft, das Mitmenschentum enthüllt sich gerade hier als das innerste, religiöse Motiv der zeitgemäßen K o m m u n i kationsfreude. Im Lauf der sechziger Jahre, vor allem dann 1768, vollzieht sich Lavaters Emanzipation zu einem radikalen, unbedingten und darum nun zuversichtlichen Christusglauben. Der Gegensatz zu der aufgeklärten und wenig verbindlichen poetischen Frömmigkeit der Zürcher Literaten von Bodmer bis Geßner wurde damit deutlich, ebenso wie die Distanz zu der mild-erbaulichen Aufklärungstheologie etwa seines pommerschen Gastgebers Johann Joachim Spalding und des Berliner Kreises. Innerhalb von Lavaters Biblizismus verschiebt sich das Gewicht zu einer helleren, ja fast stürmischen Glaubenszuversicht und zum Wissen u m die Erlöstheit durch Christus. Christus wird aus dem heilsgeschichtlichen Mittler eine jederzeit erfahrbare, gegenwärtige Kraft u n d Wirklichkeit. Ja, w e n n die Erlösung durch Christus ernstzunehmen war, dann mochte der gläubige, christusförmig gewordene Mensch sogar selber übernatürliche Kräfte spüren. Er konnte versuchen (oder stand in Versuchung), durch Gebet und Gebetsheilungen den Beweis des Geistes und der Kraft (IKor 2,4) zu erbringen, den Glauben wirklich zu machen. 15 Seit 1766 besteht Lavaters Plan zu einem „Gedicht von dem zukünftigen Leben" — nach Miltons Verlornem Paradies, Klopstocks Messiade und Bodmers Patriarchaden wagt Lavater den kühnen GrifFins Künftige. Was zunächst noch eine Klopstock verpflichtete Vision war (und so im Erinnerer 1766 angekündigt wurde), erwies sich als problematisches und doch überwältigendes Thema u n ter der strengen Forderung der neuen Christologie und eines genaueren Bibelverständnisses. Die Aussichten in die Ewigkeit, die nun seit 1768 erschienen, waren nicht die geplante Dichtung, vielmehr nur vorbereitende Überlegungen und Materialien, eben in der genannten Spannung philosophischer, dichterischer und biblisch-theologischer Argumentation. 16 Die Rahmenvorstellungen lieferte die auf Leibniz gründende Präformationsphilosophie des Charles Bonnet, dessen Palingenesie (1769) Lavater sofort in Übersetzung herausgab. 17 Diese Lehre v o m Keim („Sämgen") und vom Zusammenhang 14

der körperlichen u n d der seelisch-geistigen Welt suchte Lavater theologischbiblisch zu überhöhen. Das war nun nicht mehr Zürcher Schule, und es erweckte heftige Diskussionen in Zürich wie in Deutschland. Lavaters Aussichten übersprangen kühn die Grenzen unseres Anschauungsvermögens, hinein in die heilsgeschichdiche Zukunft, ja eine futurische Unendlichkeit, immerhin unter Fortsetzung der biblischen Grundlagen. Die letzten Dinge, d . h . die Wiederkehr Christi in einem tausendjährigen Reich, die erste und die zweite Auferstehung der Toten werden dargestellt, aber das eigenste Anliegen ist die ausschweifende Schilderung der Existenz der Seligen, der verklärten, vollendeten Menschen im Himmel. Das Gericht und die Höllenstrafen der Verdammten bleiben zunächst bestehen, aber alle Leidenschaft und Zuversicht gelten den himmlisch Verklärten. Die ketzerische, auch pietistische Apokatastasis, die Wiederbringung aller Dinge, wird zwar nur sehr vorsichtig behandelt18 — offenbar schon aus Rücksicht auf die Zürcher Zensur — aber sie ist doch wie auch bei Klopstock der Horizont dieser Eschatologie. Der Gott der Liebe kann eine ewige Verdammnis der Sünder nicht zulassen. Das Wagnis solcher Aussichten in die Ewigkeit ist möglich, weil der christusgläubige, christusförmig gewordene Mensch mit den Kräften seiner Natur, mit den Mitteln der Analogie und der Ahnung jenen Vollkommenheitszustand vorwegnehmen kann, der „den unersättlichen und unendlichen Wünschen unsrer Seele so gantz genug thut." 19 Theologie, Philosophie u n d dichterische Einbildungskraft müssen zusammenwirken und können dies tun, weil es nicht u m ein absolutes Jenseits geht, sondern u m unsere ganze, ins Unendliche gesteigerte Welt. U n d es handelt sich, mit einem Zitat aus Bonnet 20 , auch w e niger u m die Unsterblichkeit der Seele als um die des ganzen Menschen in der Verklärung, u m den ätherischen Körper aus Lichtstoff und vor allem um die unermeßliche Steigerung unserer Seh- und Hörkräfte, unserer physischen und geistigen Möglichkeiten überhaupt. An den Grenzen von R a u m und Zeit „durchwandeln wir Welten an Welten, wie ein Lichtstral". 21 Besonders wichtig ist Lavater der Gedanke einer grenzenlosen Kommunikation der Geister, die durch diese Steigerung möglich wird. 22 Die Sprache der Verklärten ist nicht mehr auf Mittel und Zeichen angewiesen, sondern ist „ein unmittelbares Anschauen und Geniessen der Geister". 23 Es ist, wie wenn Lavaters unbegrenzte Freude an Kommunikation, am „Menschengenuß" 2 4 und damit die Freude an einer aufgeklärt geselligen und empfindsamen Existenz im Himmel gesteigert wiederkehren würde, sozusagen zu einer totalen Öffentlichkeit geworden. Ja man könnte versucht sein, Lavaters gelegentlich „schwärmerischen" Schreibstil in seiner flüchtig-enthusiastischen Uferlosigkeit als Vorwegnahme dieser himmlischen All-Kommunikation aufzufassen. Lavaters Ewigkeit hat wohl durchaus den Charakter des unendlichen Weltraums der Neuzeit — gerade weil durch Christus unsere gegenwärtige Existenz verewigt worden ist — und ist damit auch allen physikalischen Erwägungen offen, wie etwa den G e danken über das Maß himmlisch-astronomischer Entfernungen und die G e schwindigkeit von Christi Himmelfahrt und seiner Rückkehr zu den J ü n 15

gern.25 Der Himmel ist kein Reich absoluter Transzendenz wie im Luthertum. Und so ergab sich hier erst recht jene Versuchung, daß der christusgläubige Mensch schon in der Endlichkeit sich im Besitz erhöhter Kräfte fiihlen kann und, im Urteil der Zeit, „schwärmerisch" die menschlichen Grenzen überschreitet. Aber das war nun, trotz diesem Zusammenhang mit den reformierten Himmelsvorstellungen, genau das, was im nüchtern aufgeklärten Zürich der 1770er Jahre auf Ablehnung und Hohn stieß. Das Verhältnis Lavaters zu einem großen Teil seiner intellektuellen Mitbürger wurde kritisch, und dies erst recht, als zu den Aussichten in die Ewigkeit die weiteren sensationellen Werke kamen, also die öffentliche Selbstbeobachtung im Tagebuch und vor allem die Physiognomik. Nicht weniger natürlich skandalisierten Lavaters Bemühungen um Gebetsheilungen, um parapsychologische und spiritistische Phänomene. Was isoliert betrachtet leicht als lächerliche Verirrung erscheinen mochte, darf immerhin, in einer Zeit sich öffnender Horizonte, als Versuch gewürdigt werden, die Konsequenzen aus dem neuen Glaubensimpetus zu ziehen. 1775 erschien in Berlin und Leipzig Johann Jakob Hottingers Sendschreiben an den Verfasser der Nachricht von den zürcherischen Gelehrten.26 Die „Nachricht", auf die das Sendschreiben reagierte, war unglücklicherweise Lavaters eigener Beitrag in einer deutschen Allgemeinen theologischen Bibliothek. Auf Hottingers Angriff folgte ein ganzer Wirbel von weiteren polemischen oder apologetischen Schriften. Darin war vor allem der sogenannte „Wunderkram" Lavaters und seine Person als „Wundertäter" verspottet und diesem empfohlen, sich die eigentlichen, besseren Vertreter des geistigen Zürich zum Vorbild zu nehmen. Das Sendschreiben nennt dazu Breitinger, Bodmer, Geßner, Steinbrüchel, Ulrich, Hirzel, (Johannes) Tobler, Füßli zum Feuermörser (d.h. den späteren „Obmann"); es hätten auch noch die beiden Meister, Leonhard und Henri, genannt werden können. Versammelt waren da die fuhrenden Gelehrten und Literaten der Stadt, und sie hatten wohl nichts dagegen. Auch Bodmer kam nicht mehr mit und sprach gelegentlich von den „ineptiae" Lavaters. In dieser Zeit schrieb Lavaters Freund Johann Georg Zimmermann an Johann Georg Sulzer nach Berlin, Lavater sei in Zürich so verachtet und verfolgt, wie es da bisher kein Mensch gewesen sei.27 Daß Lavaters Person immer direkter zum Gegenstand des Interesses und der Polemik wurde, war nun allerdings auch gerade eine Folge seiner Frömmigkeit, die sich immer stärker als Selbstdarstellung und Selbsterfahrung verstehen mußte. Das religiöse Ringen der Jugendjahre, gerade mit seiner Orientierung an Augustin, Pascal und Thomas a Kempis, stand im Zeichen rückhaltloser Selbstergründung. „Kenntnis Eurer selbst" wird schon im Erinnerer einmal als die wichtigste und interessanteste Wissenschaft bezeichnet28, Nachdenken über mich selbst nannte sich eine 1770 erschienene und öfter nachgedruckte Schrift.29 Diese Introspektion nimmt unter Umständen die aktuelle Form eines religiösen Sturms und Drangs an und verweist nicht nur auf die Selbsterforschung der Pietisten, sondern allgemeiner auf die überwältigende 16

Entdeckung des Menschen als einmaligen, individuellen, subjektiven, sich selbst suchenden Wesens. Mit Hamann und Herder ist Lavater ja früh in Beziehung getreten. Dieser Sinn für das Individuum oder gar seine Subjektivität ist in Zürich auch vorbereitet durch das Interesse schon Bodmers und seiner frühen Freunde für die Vielfalt des Menschlichen in R a u m und Zeit, in der geschichtlichen Ausprägung individueller und nationaler Charaktere. W e n n sich diese Entdeckerfreude durchaus auf das Säkulare richtet, betrifft sie bei Lavater den Menschen in seiner direkten Beziehung zu Gott. Aber gerade auch dann fällt vom Ziel der ersehnten Vollendung und Verklärung der Blick zurück auf die empirische Einmaligkeit und das Selbst des einzelnen M e n schen, unter der Frage nach dem „Keim", den Spuren des Gottesbildes. U n d hier liegt der Ansatz für die zwei großen Projekte, die Lavater gleichzeitig mit den Aussichten in die Ewigkeit beschäftigt haben und ihm fast sensationelle Bekanntheit verschafften: einerseits die Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung in Tagebuch und Autobiographie, anderseits die Suche nach einer Wissenschaft der Physiognomik, einem Weg des Erkennens der Formenvielfalt der menschlichen Gestalt im Licht ihres göttlichen Ursprungs und wieder Ziels. U n d beides versteht sich auch wieder als Mittel der zwischenmenschlichen Verständigung. 1771 wurde in Leipzig das Geheime Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst gedruckt, nach einem Manuskript, das Lavater bei Freunden hatte zirkulieren lassen. Da der Herausgeber in den Text eingegriffen hatte, ließ Lavater als eine Art Richtigstellung und Ergänzung Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch folgen. 30 Das Unternehmen gehört wie gesagt zum Teil noch in die pietistische Kontrolle des eigenen Glaubenskampfes, war aber doch auch und überwiegend ein Stück der nun allenthalben modisch werdenden „Erfährungsseelenkunde" und der Beiträge zur Geschichte des menschlichen Herzens, die ein empfindsam werdendes Publikum zu lesen wünschte. Für den Erfolg des Tagebuchs entscheidend war aber doch wohl die fragwürdige Sensation, daß sich hier ein bekannter Zeitgenosse und Autor bloßstellte und sein Privatleben zeitlupenartig mit der Gemeinde seiner Leser teilte. Der traditionellen Nüchternheit seiner Z ü r cher Mitbürger mußte das aber mehr als nur widerstreben. So sehr diese ihre literarische oder zivile Rolle zu spielen wußten, von ihrem einmalig privaten oder gar intimen Leben wissen wir im Grunde wenig, auch bei Bodmer und erst recht bei Breitinger. Umso schockierender war das Auftreten Lavaters. Das vielleicht überzeugendste Werk Lavaterscher Selbstdarstellung entstand 1779, mit einer kurzen Fortsetzung 1782, nun als Beginn einer eigentlichen, rückblickenden Autobiographie, nur für die Kinder und nächsten Freunde bestimmt und erst durch Georg Geßner in seiner Lebensbeschreibung teilweise gedruckt. 31 Es ist nun, aus größerer Distanz, eine überaus dichte, lebendige Schilderung einer Zürcher Jugend, unromantisch, scharfsinnig, eine selbstkritische Analyse der kindlichen Träume, Ängste, Torheiten, Einbildungen, auch sprachlich mit reizvollem Lokalkolorit. Das hervorragende kleine Werk erinnert überraschend an eine andere Zürcher Jugendgeschichte, die sich achtzig 17

Jahre später, nicht weit vom Lavaterhaus, dem „Waldris" an der Spiegelgasse, unten am Rindermarkt im „Haus zur Sichel" abspielte und in die Jugendkapitel des Grünen Heinrich einging. In den Aussichten in die Ewigkeit wird versucht, die unmittelbare Sprache der Himmlischen zu beschreiben: sie sei „physionomisch [!], pantomimisch und musikalisch". 32 Jeder Mensch ist als Ebenbild Gottes und Christi „ganz Ausdruck, gleichzeitiger, wahrhafter, vielfassender, unerschöpflicher [ . . . ] Ausdruck, [ . . . ] ganz Natursprache." Zur Sprache des physiognomischen Ausdrucks fügt sich, pantomimisch, die Sprache der Bewegungen, und, musikalisch, die Sprache von Tönen. Schon 1771 entwirft Lavater in einem Vortrag vor der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft den Plan eines umfassenden physiognomischen Werkes, und 1775 bis 1778 erscheinen die vier Prachtbände der Physiognomischen Fragmente, die ein mächtiges Aufsehen erregten, Bewunderung und vor allem Kritik erfuhren und mit ihrem aufwendigen Bildapparat Lavaters sammlerische, schriftstellerische und finanzielle Energien lange in Anspruch nahmen. 33 Das Unternehmen einer systematischen Physiognomik lag voll im Zug der Zeit mit ihren leidenschaftlichen anthropologischen Interessen und auch ihrer zwischenmenschlich-geselligen Neugier. Versuche dieser Art hatten schon Antike und Renaissance geliefert, dann aber auch, mit ihren bescheidenen Mitteln, gerade die Zürcher Schule. Schon die Discourse der Mahlern entwarfen den Plan einer Pantomimik oder einer „Grammatik der Grimatzen" und der Mahler der Sitten redet von einer „gründlichen Lehre von den Gesichtszügen und Gebärdungen, dem geistreichen und denkenden Frauenzimmer der Stadt Zürich gewidmet." 34 Was hier noch scherzhaft ist und exemplifiziert wird etwa an der wortlosen Verständigung eines Liebespaars während des Gottesdiensts im St. Peter, erhält bei Lavater einen fundamentalen Ernst und eine Methode durch seine Christologie. „Gott schuf den M e n schen sich zum Bilde" — der Satz steht als Motto über dem Werk und ist nun buchstäblich ernstzunehmen. Und man kann sagen, daß Lavaters Physiognomik nichts anderes ist als die Suche des Gesichts Christi. Und für diese Suche ruft er in der Tat eine europäische Bewegung hervor, so sehr auch die Motive des Publikums zwischen Frömmigkeit und indiskreter Neugier schwanken mochten. Aber physiognomisches Wahrnehmen gilt nicht nur dem menschlichen Gesicht. „Ist nicht die ganze Natur Physiognomie?" 35 Auch jedes andere Lebewesen, jede Frucht, jedes Blatt, jedes Seiende ist dem physiognomischen Sinn lesbar, jede Monade spiegelt das Ganze und ist damit ein Bild Gottes. In diesem Sinn umfaßt die Physiognomik alle Wissenschaften, sie ist All-Erkenntnis und lehrt letzten Endes die direkte Wahrnehmung der Himmlischen, die Sprache über den Sprachen. Im Hin und Her zwischen enthusiastischer Ahnung und redlicher Selbstprüfung vermitteln die Fragmente mit ihrem erstaunlichen Bildmaterial aus Gegenwart und Geschichte, mit halb oder ganz benannten Porträts von Zeitgenossen jedem Betrachter aufregende Entdeckungen. Diesem Treiben erwuchs in Zürich und anderswo natürlich nun erst recht Widerstand und Hohn. Auch 18

Freunde wie Zimmermann, Sulzer, Haller distanzierten sich. Stoßend war vor allem das Problem, mit dem sich Lavater selber besonders schwertat, die Frage einer „Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit" 3 6 , also eines grundlegenden Postulats, das faktisch nicht immer durchzuhalten war und das vor allem den buckligen Lichtenberg zu seinen Satiren veranlaßte. Schulbeispiel war da, für Lavater selber, etwa das „allanziehende Gesichtgen" der lieblichen Beatrice Cenci, die 1598 als Vatermörderin hingerichtet worden war. 37 Als Anregung, als Aufgabe, als erkenntnistheoretisches und theologisches Problem blieb solche Physiognomik allerdings bestehen, ob es sich nun um medizinisch-anthropologische Forschung („Körperbau und Charakter"), um Wahrnehmungspsychologie, um Graphologie (zu welcher Lavater bereits einen Beitrag lieferte) 38 oder um den Versuch handeln sollte, für die „unendliche Formensprache der Natur", wie R u d o l f Kassner sagte, ein angemessenes O r gan und eine Sprache zu entwickeln. O b für Lavaters Vaterstadt die Physiognomik eine besondere Bedeutung gewann, bleibe dahingestellt. Daß bei der Herstellung und Sammlung eines fast uferlosen Bildmaterials die beteiligten Maler und Kupferstecher und besonders die Zürcher Kleinmeister eine bedeutende Förderung erfuhren, ist sicher anzumerken. Ein Fall für sich blieb der alte Jugendfreund Heinrich Füßli, der trotz gelegentlicher Kritik und U n verständnis für den Theologen Lavater diesem von London aus die Treue hielt. Er hat zwar nicht die Physiognomischen Fragmente, aber die 1787/88 erschienenen Vermischten unphysiognomischen Regeln des Freundes sofort ins Englische übersetzt und damit eines der gescheitesten und dichtesten kleinen Werke herausgehoben. 39 Der Nachruhm Lavaters ist ein weites Feld. An der Krankheit und am Tod des großen und berühmten Mitbürgers und Gemeindepfarrers hat die ganze Stadt in tiefer Bewegung teilgenommen. Es wäre auszufuhren, wie sich die Erinnerung an den frommen Mann, den Patrioten, den Schriftsteller auf verschiedenen sozialen Ebenen verschieden gestaltete und wohl auch verschiedene Wandlungen erfuhr. Am dankbarsten blieb wohl weit herum das Kirchenvolk dem hinreißenden, unermüdlichen Prediger, dem Erbauungsschriftsteller, dem frommen Mann, den man sich schon zu Lebzeiten Lavaters und nicht ohne dessen Mitwirkung in zahllosen Porträts, in Liedern und Sprüchen, kleinen Schriften, Briefen und Zetteln gegenwärtig hielt. Es gab und gibt im Grunde bis heute so etwas wie Lavater-Devotionalien. Einzelnes wie etwa die Worte des Herzens wurde immer wieder aufgelegt. Die nur leicht romantisierte Biographie von Mary Lavater-Sloman (1939) hat mit ihrer Einfühlung das Andenken erfolgreich erneuert, konnte aber dem Dichter und Theologen kaum gerecht werden. In der literatur- und kulturgeschichtlichen Tradition ist das Bild wohl bis heute von Goethes Dichtung und Wahrheit bestimmt, so widerspruchsvoll und zeitbedingt diese großartige Selbstkorrektur auch sein mag. Schon Gottfried Keller hat es bedauert, daß die Erinnerung an Lavater derart mit Goethe verbunden ist. Das speziell zürcherische Andenken, dem hier unser Interesse gilt, kann 19

wohl am besten durch ein paar Stimmen bedeutender Mitbürger veranschaulicht werden. Nachdem die Kämpfe der 70er und 80er Jahre abgeebbt waren und das Bild durch Lavaters patriotische Haltung und letzte Lebenszeit bestimmt wurde, wuchs die Gestalt doch zu einem zürcherischen Besitz heran, an den man mit tiefer Verehrung dachte. Es war und ist die Verehrung nicht eines berühmten Theologen oder Schriftstellers, sondern schlicht eines großen Menschen, der vieles vom zürcherischen Erbe verkörperte und doch ganz ins Weite und Offene schaute. Das erste der vier Zeugnisse, die hier angeführt werden sollen, stammt, noch zu Lavaters Lebzeiten, von dem jungen Naturwissenschafter Konrad Escher, später Escher von der Linth, der 1795 an Albrecht Rengger schreibt: „Der alte Lavater [... ] behielt eine Selbständigkeit und Offenheit in seinem Handeln, die mir ihn recht ehrwürdig machen; gern verzeih ich ihm seinen Wunderglauben und die Personifizirung Gottes und alle seine Phantastereien; er ist denn doch ein Ehrenmann und sei mir gesegnet!"40 Dann, 1815, der alte Heinrich Pestalozzi in seinem Wort der Zeit: „Lavater, Lavater! Ach, daß du noch lebtest, ach, daß du in den Tagen, in denen das Letzte begegnet, was wir erfahren, noch gelebt hättest [...]. Du, du Einziger hättest in der Stunde unsrer gegenseitigen Umtriebe und unsres gegenseitigen Unglaubens im Land Glauben gefunden." 41 Dann Johann Kaspar von Orelli, geboren 1787, Sohn des mit Lavater befreundeten letzten Landvogts von Wädenswil; er war von Haus aus Theologe, aber keineswegs im Lavaterschen Sinn, dann Philologe, wurde der große Zürcher Schulreformer und Gründer der Universität und war in mancher Hinsicht ein Vollstrecker dessen, was J.J. Bodmer und das aufgeklärte Zürich angestrebt hatten; er hat 1841/46 Lavaters ausgewählte Schriften herausgegeben mit den Worten: „Ich erfülle eine Pflicht der Pietät gegen den herrlichen, wunderbaren Lavater."42 Schließlich Gottfried Keller, der auch nicht im Verdacht steht, ein Lavaterianer zu sein. Auf dem Wege nach Heidelberg hatte Keller im Herbst 1848 das Straßburger Münster bestiegen und dort die Tafel mit den Namen Goethes und seiner Studienfreunde gelesen. Er schreibt darüber 1849 an seinen Freund Salomon Hegi nach Zürich: „Man spricht dabei immer nur von Goethe, obgleich eine Menge deutscher Nobilitäten wie Herder, Jung-Stilling und dgl. darunter sind, auch unser wackere Lavater. Es ist etwas Problematisches um die Gesellschaft eines solchen Schlingels, wie Goethe ist, man wird von dem ungeschlachten vordringlichen Herren allzu leicht verdunkelt; doch auch beleuchtet manchmal." 43

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Anmerkungen

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D e r T e x t dieses einführenden Vortrags, der einem vielseitigen und offenen T h e m a gilt, blieb im wesentlichen unverändert. Z u m Zürich des 18. Jahrhunderts: Zürich im 18.Jahrhundert, hg. v o n Hans Wysling, Zürich 1983; Herbert Schöffler, Das literarische Zürich 1700-1750, Leipzig 1925; Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18.Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1923—1925; Das geistige Zürich im 18.Jahrhundert. Texte und Dokumente von G. Heidegger bis H. Pestalozzi, hg. v o n M a x Wehrli, Zürich 1943, Basel 2 1989; Martin Hürlimann, Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung des Zürcher Protestantismus im 18.Jahrhundert, Leipzig 1924. Johann Caspar Lavater 1741-1801. Denkschrift, Zürich 1902; H o n t Weigelt, J. K. Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991; Klaus Martin Sauer, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741-1801), Zürich 1988. Die Discourse der Mahlern, Zürich 1721-23, 4 Teile, Reprogr. Nachdruck Hildesh e i m 1969. „Genie der K o m m u n i k a t i o n " , „Beziehungsgenie"; vgl. H . Weigelt (s. Anm. 2,120). Für gewährte Einsicht in eine noch ungedruckte Zürcher Lizentiatsarbeit sei der Verfasserin gedankt: Anna Bachofen, Johann Kaspar Lavater (1741-1801), Versuch einer politischen Biographie (1977). Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten, Lindau 1762. De Zwitzersche Patriot, Amsterdam 1786. Schweizerlieder, Bern 1767. Lavater schrieb 1770 i m Ubersetzervorwort zu Bonnets Palingenesie, daß er die in den Schweizerliedern enthaltenen „Kriegslieder" aufgrund seiner Iselin-Lektüre jetzt nicht m e h r gutheißen könne. 17.Januar \798. Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften I, hg. von Georg G e ß ner, Zürich 1801, 95 ff. N a c h der eigenhändigen Reinschrift gedruckt in: Das geistige Zürich (s. Anm. 1), 286-296. „Character der Teutschen Gedichte", o . O . und J. [1734], abgedruckt in: J.J. Bodmer, Vier kritische Gedichte, hg. von Jakob Baechtold, Heilbronn 1883 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18.Jahrhunderts 12), 1 - 3 8 . Das Zitat V. 919-928. Z u Lavaters heftiger Abwehr des zeitgenössischen Deismus vgl. Sauer (s. Anm. 1), Register. Ursula Schnetzler Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus demJahre 1761, Diss. Zürich 1989. Besonders wichtig ist die beigegebene Briefsammlung. Darüber handelt ausfuhrlich der 5. Brief („Untersuchung des göttlichen Ansehens der Schrift") in den Aussichten I (s. Anm. 16). [J.K. Lavater], Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an HerrnJoh. George Zimmermann, Zürich 1768 (I), 1769 (II), 1773 (III), 1778 (IV). Wichtig, vor allem auch für das Verhältnis Lavaters zu Charles Bonnet, ist Karl Pestalozzi, „Lavaters U t o pie", in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschriftfür Wilhelm Emrich, B e r l i n / N e w York 1975, 283-301. Des Herrn Carl Bonnets [...] Philosophische Palingenesie oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, Zürich 1769 (II), 1770 (I). Ü b e r das Problem der Apokatastasis: Aussichten III, 18.-20. Brief.

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19 Aussichten I 1768, 97, 5.Brief. 20 Aussichten I 1768,176, 8. Brief („Von der Auferstehung der Todten, und dem darauffolgenden Gerichte"): „C'est moins l'Immortalité de l'Ame que l'immortalité de l'homme que l'Evangile a mise en Evidence." 21 Aussichten II 1769, 163, 11. Brief („Von der Vollkommenheit des himmlischen Cörpers"). 22 Wie eine Erinnerung an Lavaters unendlichen R a u m der Seligen wirkt in Gottfried Kellers Sieben Legenden der Schluß von „Dorotheas Blumenkörbchen". 23 Aussichten III 1773, 120, 16. Brief („Von der Sprache im Himmel"). 24 Ebd. 129. 25 Aussichten II 1769, 11. Brief. Z u dieser Stelle und über die Rückkehr der R e f o r mierten zum räumlichen Bild des Himmels, welches Luther abgelehnt hatte, vgl. Werner Eiert, Morphologie des Luthertums I, München 1931, 365. 26 (Johann Jakob Hottinger], Sendschreiben an den Verfasser der Nachricht von den Zürcherischen Gelehrten im ersten Bande der allgemeinen theologischen Bibliothek, worinn nebst andern einige Nachrichten von Herrn Diacon Lavater enthalten sind, von einem Zürcherischen Geistlichen, Berlin und Leipzig 1775. 27 Zimmermann an Sulzer, 14.Juni 1775, zitiert bei Rudolf Ischer, J. G. Zimmermann, Leben und Werke, Diss. Bern 1893,91. 28 Der Erinnerer, Eine Monatsschrift, Zürich 1765/67. 29 Nachdenken über mich selbst, Zürich 1770, 2 1771. 30 Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, bearbeitet von Christoph Siegrist (Schweizer Texte 3), Bern und Stuttgart 1978. 31 E n t e vollständige Ausgabe: Lavaters Jugend von ihm selbst erzählt, hg. von Oskar Farner, Zürich 1939 (Quellen und Studien zur Geschichte der helvetischen Kirche 8). 32 Aussichten III 1773,108, 16. Brief. 33 Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde!, Leipzig und Winterthur. Erster Versuch (1775), Zweyter Versuch (1776), Dritter Versuch (1777), Vierter Versuch (1778); Facsimiledruck Zürich 1969. 34 Discourse (s. Anm. 3), 4. Teil. Der Mahler der Sitten II, Zürich 1746, Blatt 1 . 9 3 , 5 0 0 511. 35 Physiognomische Fragmente 1,49. 36 Ebd. 57-135. 37 Ebd. IV, 125 f. 38 „Von dem Charakter der Handschriften", Physiognomische Fragmente III, 110-118. 39 Aphorisms on Man, translated fem the original manuscript of the R e v . Caspar Lavater, Citizen of Zuric, London 1788. 40 Rengger an Conrad Escher von der Linth, Zürich, den 6. Okt. 1795, in: Leben und Briefwechsel von Albert Rengger, Minister des Innern der helvetischen Republik I, hg.von Ferdinand Wydler, Zürich 1847, 270. 41 Pestalozzi. Sämtliche Werke X X I V A (Text), bearb. von Emanuel Dejung, Zürich 1972, 52: „An die Unschuld", 1815. 42 Johann Kaspar Lavater's Ausgewählte Schriften, hg. von Johann Kaspar Orelli, 5 Bde., Zürich 1841/42; hier 1,5. 43 Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, hg.von Carl Helbling, Bern 1950, 213: Brief v o m 28.Januar 1849 an Salomon Hegi.

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I. Lavater als Theologe

GERHARD EBELING

Genie des Herzens unter dem genius saeculi Johann Caspar Lavater als Theologe 1 Lavaters Stadt gewidmet, der mein Leben viel verdankt Binnen einer Stunde Johann Caspar Lavater2 als Theologen darzustellen, und zugleich, was mit Recht wohl von mir erwartet wird, diesem - mit Goethe zu reden — „merkwürdigen Mann" 3 , richtiger vielleicht: dieser denkwürdigen Erscheinung, theologisch sich zu stellen, das wäre auch für einen Kompetenteren als mich eine kaum befriedigend lösbare Aufgabe. Der umfängreiche Nachlaß Lavaters befindet sich editorisch fast durchweg in miserablem Z u stand.4 Desgleichen mangelt es an Kommentierung einzelner Texte. Wohl wurde jüngst die Predigtüberlieferung vorbildlich aufgearbeitet5 und schon seit langem Verdienstliches beigetragen zur Erhellung der geschichdichen Beziehungen 6 und zur systematischen Zusammenschau der Gedankenwelt Lavaters.7 Z u m Verstehen ist es jedoch unerläßlich, statt einst Gedachtes abstrahierend und typisierend in Formeln zu bannen, in die lebendige Sprachbewegung einzudringen, sie quellennah mit- und nachzuvollziehen.8 Wer solchen U m gang mit anspruchsvoller Uberlieferung gewohnt ist und erwartet, befindet sich hier auf einem betrüblich vernachlässigten, wenn nicht gar chaotischen Gelände. Der folgende Versuch — dies bitte ich in Rechnung zu stellen - ist deshalb mit erheblichen Vorbehalten versehen. Die Themaformulierung deutet Problemdimensionen an, die eng ineinander verschränkt und doch nacheinander zu erkunden sind. Soll Lavater als Theologe in den Blick kommen, drängt sich die spannungsvolle Beziehung zum Genie-Begriff in dessen doppelter Ausprägung auf: als genius saeculi sowie als Genie, und zwar in dem für Lavater spezifischen Sinne als Genie des Herzens. Beides steht wesensmäßig miteinander in Konkurrenz: der anonyme Zeitgeist und das höchst individuelle Person-Genie. Und darein ist auf eine noch einmal eigene strittige Weise die Theologie verwickelt: infolge fragwürdiger Vermengung mit dem genius saeculi9 sowie durch die nicht unproble23

matische Beziehung zum Genie-Verständnis. So gliedert sich das Folgende in vier Hauptabschnitte: eine erste Vororientierung über Lavater als Theologen, sodann die Besinnung aufsein Verhältnis zum genius saeculi, ferner eine Aufschlüsselung dessen, was denn „Genie des Herzens" für ihn umgreift, und endlich, zum Anfang zurücklenkend, eine Auskunft über den Brennpunkt seiner Theologie.

I. In Anbetracht der ungewöhnlich vielseitigen Begabung und Produktivität Lavaters scheint die Frage nach ihm als Theologen nur einen Spezialaspekt zu betreffen, für den heutigen Betrachter meist nicht einmal den interessantesten. M e h r als der Theologe zieht der Anthropologe die Aufmerksamkeit auf sich, der Psychologe und Physiognomiker, der Pädagoge, Ästhet und Poet, der N a turforscher und politische Publizist, überdies ein Zeitspiegel ersten Ranges in Gespräch und Korrespondenz mit einer Fülle von Zeitgenossen. Gewiß verdient jeder Betätigungszweig gesondert Aufmerksamkeit. Das Ganze ist jedoch kein zufälliges Gemisch. W o immer man ansetzt, stößt man alsbald mit Sicherheit auf das Grundmotiv, das sich als „theologisch" in weitem Sinne bezeichnen läßt oder etwas vage als „religiös" oder schlicht als „christlich". Dahin konvergieren die disparaten Züge der Gesamterscheinung. Kein Teilgebiet, das nicht in diese Mitte wiese. Aber auch kein rechtes Verständnis des Theologen Lavater, das nicht die Verbindung zu jenen Außenbereichen erkennen ließe und ihn auch für Abseitiges haftbar machte. Allerdings fallt auf, daß Lavater von der Wortfamilie „Theologie" eher spärlich und zurückhaltend Gebrauch macht. A m Anfang seines großen Frühwerks Aussichten in die Ewigkeit10 berichtet er, wie er durch eine kurz zuvor erschienene Schrift des Genfer Naturforschers und Apologeten Charles B o n net mit dem Titel Betrachtung der Natur11 zu dem Entschluß entfacht wurde, „eine O d e für philosophische Christen" zu dichten. 12 Ihm als dem „Vater dieses Werkes" schickt Lavater sogleich das erste Teilbändchen. 13 Bonnets Leitidee ist, die Religion, statt sie zur Philosophie in Gegensatz zu bringen, mit dieser zu verbinden und so die Religion gegen die Theologie kämpfen zu lassen.14 Daran wird man bei Lavater erinnert. Die geplante O d e ist zwar nie zustande gekommen. Es blieb bei einer theoretischen Vorarbeit: die Lehre der heiligen Schrift zunächst „theologisch zu untersuchen", u m sie „sodann erst philosophisch vorzutragen", im Sinne einer Steigerung, bei der er sich „von keinen unphilosophischen und untheologischen Verderbern der Schrift Staub in die Augen werfen lassen" will, und in der Gewißheit: ,Je mehr wir die Schrift nach den strengen logischen Grundsätzen einer gesunden Hermeneutik untersuchende mehr werden wir sie einfältig, vernunftmäßig und ihre Lehren in einem erhabenen Sinne philosophisch finden."15 Die Unterscheidung von Religion und Theologie, wie sie auch von Semler 16 vertreten u n d Lavater wohl auf seiner Bildungsreise durch Spalding vermittelt worden war 17 , wurde 24

durch Bonnets Einfluß eher verschärft. Zwar kann Lavater weiterhin von Theologie gelegentlich positiv reden - z.B. wenn er über den „zerfallenen Zustand der Theologie in Deutschland" klagt18 oder die Physiognomik u. a. auch als „Theologie" bezeichnet19 oder sich in späteren Jahren Notizhefte anlegt flir „einige gehaune und ungehaune Steine zum Bau meiner Theologie." 20 Daneben findet sich aber auch ein pejorativer Sprachgebrauch wie in der polemischen Wendung: „Christentum der Theologen und Weltmenschen." 21 Unverkennbar hat er die Neigung, sein Denken über den chrisdichen Glauben als Philosophie auszugeben. Wohl sei er nicht Anhänger einer bestimmten Philosophie, habe vielmehr seine eigene.22 Ihm als Philosophen werde nur der „Philosoph aus Nazareth" 23 immer unentbehrlicher. 24 Und sein „philosophisches Glaubensbekenntniß" lautet: „Alles ist göttlich und alles ist menschlich."25 Dabei wird Philosophie aber keineswegs zu einem einhelligen Begriff. Es gibt auch „satanische Philosophie." 26 Oder: „Halbe Philosophie führt zum Atheismus; ganze zum Christentum." 27 Der Eindruck trügt kaum: Für Lavater ist das Wort „Theologie" weit stärker belastet, gleichermaßen durch Orthodoxie und Rationalismus, als der Philosophiebegriff durch antichristliche Ausprägungen. Wenn ihn Lavater in Anspruch nimmt, will er unterstreichen: es gehe ihm — frei von theologischen Traditionen, aber gebunden an die Bibel - um eine von Grund auf selbständige Besinnung auf das Christliche „für denkende Christen". 28 Bereits diese ersten Hinweise auf den Theologen Lavater — auch darin charakteristisch fiir die Gesamterscheinung - wecken den Eindruck von etwas Schillerndem, schwer Bestimmbarem, Ambivalentem: Ein dem Anschein nach Superfrommer mit betriebsam welthaftem Gehabe; ein Mann des Glaubens, der nach Beweisen lechzt; an die Vernunft appellierend, aber gegen Täuschung nicht hinreichend gefeit. Die Widersprüchlichkeit ließe sich an den teils enthusiastischen, teils gehässigen Äußerungen derer illustrieren, die ihn persönlich erlebten oder vom Hörensagen kannten; aber auch an unserer eigenen Reaktion, die wir außer durch überlieferte Berichte und Urteile ihn bestenfalls aus eigener Lektüre kennen lernen. Ich selbst — muß ich gestehen - war seit Beginn meiner näheren Beschäftigung mit Lavater vor etwa einem Jahr hinund hergerissen und bin es bis heute: teils abgestoßen durch Dilettantismus, Trivialitäten und endlose Reimereien oder durch den Verdacht auf Oberflächlichkeit und naive (oder eitle?) Geschwätzigkeit - wie soll man einen Text, anspruchsvoll betitelt „Fragment meines Glaubensbekenntnisses oder Grundideen meiner Religion" 29 , ernstnehmen, wenn der Autor den Leser gleichsam vorwamt oder fast stolz im Voraus wissen läßt: „flüchtig, frei und planlos hingeschrieben"30 —, teils jedoch ergriffen durch tiefe Einsichten in sprachlich verläßlicher Gestalt; teils entsetzt über Beispiele unkritischer Leichtgläubigkeit und Spekulation im Umgang mit der Bibel oder mit angeblichen Tatbeweisen, teils beeindruckt und beschämt durch den Ernst, mit dem Grundsachverhalte des Glaubens beim Wort genommen werden. Diese gegensätzlichen Empfindungen treiben zu desto intensiverer Lektüre an und lassen die bekannten 25

Sensations- u n d Skandalthemen in den Hintergrund treten zugunsten dessen, was fraglos „aus tiefer intuitiver Ueberzeugung und Herzensdrang niedergeschrieben" 31 wurde. Zeichnen sich auch in der Entwicklung seines theologischen Denkens Gegensätze, Schwankungen oder Wandlungen ab? Diese schwierige, m. E. nicht hinreichend geklärte Frage läßt sich im R a h m e n eines Vortrags, ohne auf das Detail eingehen zu können, nicht gründlich untersuchen. N u r einige Anhaltspunkte seien erwähnt. Aufs ganze gesehen, darf man sagen, Lavater habe eine recht stetige Entwicklung durchlaufen, ohne extreme Umbrüche, obwohl er im Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst offenherzig von dem Flüchtigen und Leichtsinnigen in seinem Charakter spricht 32 und gesteht, in großer Gefahr gewesen zu sein, ein geistlicher D o n Quichotte zu werden. 33 Er selbst könne sich freilich keines Zeitpunkts in seinem Leben erinnern, w o er nicht von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt gewesen sei.34 Man kann dies noch präzisieren: Die Bibel hatte für ihn von Anfang an eine unangefochtene Autorität von innerer Evidenz. Das durchzieht wie ein roter Faden sein Leben: Von der traditionell kirchlichen, leicht pietistisch getönten Frömmigkeit des Elternhauses 35 an, über die v o m Geist der vernünftigen Orthodoxie, der Aufklärung und der Empfindsamkeit geprägte Studienzeit36 und die nachfolgende Beeinflussung durch den führenden Neologen Johann Joachim Spalding 37 bis zum Aufbruch theologischer Eigenständigkeit mit dem 1768 beginnenden Projekt der Aussichten in die Ewigkeit und dann vollends bei erstaunlicher geistiger Ausstrahlungskraft in europäischem H o r i zont und bei unentwegtem kirchlichen Dienst in der Vaterstadt bis an sein Lebensende ist Lavater unbeirrt ein Mensch der Bibel. O b eine eigentliche W e n d e zum Christozentrismus stattgefunden hat, ebenfalls auf 1768 zu datieren 38 , darüber vermag ich nicht sicher zu urteilen. Zweifellos deckt sich bei Lavater schon früh die Ausrichtung auf die heilige Schrift mit der auf Christus als deren Mitte. Wichtiger erscheint mir die andere Frage, ob sich einmal in seinem Christus-Verhältnis ein Wandel ereignet hat. Ein entlegener, mit mancherlei Problemen behafteter Text, „Chrisdiche Gedanken" 39 überschrieben, vermutlich aus dem Jahre 1788 - nur aus der Orelli-Ausgabe mir bekannt; das Original vermochte ich bisher nicht aufzufinden — berichtet von dem Gedankenexperiment, die Christusidee einmal aus dem gesamten Wirklichkeitszusammenhang herauszulösen und zu entfernen. Dadurch sah sich Lavater in ein Chaos versetzt, in ein Vakuum, entsetzlich, ohne Aussicht auf Rettung. 4 0 Das gemahnt wie ein vorauseilender Schatten an die nur wenig spätere Traumdichtung Jean Pauls: die „Rede des todten Christus v o m Weltgebäude herab, daß kein Gott sei."41 Dann brach jedoch die freudige Gewißheit durch, wie sehr Christus ihm wirklich und buchstäblich alles in allem sei und j e d e m Menschen dies sein könnte: Zugang zu Gott, das uns zugewandte Angesicht Gottes. 42 Für Lavater bleibt dies nicht eine flüchtige Episode. Bei vielfach wiederholtem Durchdenken bestätigt sich, „daß wir [... ] nur durch und in Christus allein eine positive einfache Vorstellung oder 26

Idee, Intuition von Gott erhalten [.. .]." 4 3 Dabei ist ihm aufgegangen: „Die Kenntniß Christi ist keine Sache des Kopfes, sondern eine Sache des Herzens." 44 Von der Wahrheit der christlichen Religion nur überzeugt zu sein, nun aber sie gefühlt zu haben, das sei ein Unterschied wie zwischen kaltem und siedendem Wasser. Und damit verbindet sich eine seltsame autobiographische Notiz: Trotz seiner christlichen Überzeugung war er beinahe vierzig Jahre lang entsetzlich weit von Gott verirrt. 45 Dürfte man sich auf diese A n gaben verlassen, so wäre eine lebendige Christus-Erfahrung etwa in die erste Hälfte der achtziger Jahre anzusetzen. Damit gelangen wir nun aber zu einer andern, ungleich besser bezeugten Zäsur, anscheinend freilich entgegengesetzter Art. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre häufen sich plötzlich philosophische Ausarbeitungen Lavaters. Zumindest zehn Titel ließen sich dafür anführen. 46 Seiner eigenen Aussage nach hatte sich dies bereits einige Jahre zuvor angebahnt durch die Arbeit „an einem eiskalten, imaginationsleeren, glutlosen Organon [eine Anspielung auf Aristoteles!], oder an einer Universal-Logik, oder an einem Einmaleins der Menschheit." 4 7 Daraufkomme ich später zurück. Hier nur die Vermutung: In dem genannten Zeitraum zwischen der Sturm-und-Drang-Phase der siebziger Jahre und der durch die Französische Revolution überschatteten letzten Dekade des Jahrhunderts habe Lavater eine Periode denkerischer Vertiefung durchlaufen, nicht etwa im Gegensatz zur Konzentration auf Bibel und Christus, sondern zugunsten ihrer desto lebendigeren Erfassung.

II. Der Aufklärung eignete ein dezidiertes Zeitbewußtsein: Tagesanbruch nach der Finsternis! An einem einfühlsamen Geschichtsverständnis mangelte es j e doch, von spärlichen Ansätzen abgesehen. Das eigene Zeitalter wertete man selbstverständlich positiv. Lavater hingegen versieht es so gut wie ausschließlich mit negativem Vorzeichen. Wohl lassen sich gewisse Wandlungen des Sprachgebrauchs beobachten. Was die Häufigkeit entsprechender Äußerungen über die Zeit betrifft, so steigert sie sich nach zögernden Anfangen deutlich in den achtziger und erst recht den neunziger Jahren. „Jahrhundert" oder „Zeitalter", heißt es zunächst, dann auch: „Genius unseres Jahrhunderts", „Geist des Zeitalters", „Zeitgeist" und ähnliche Varianten; dazu eine wachsende Menge polemischer Attribute: schon 1772 als „unphilosophisch" gerügt 48 , etwas später ironisch: „ O du weiches, zartes, verblasenes, seidenes Jahrhundert!" 49 , „Aftergeniezeit" 50 , „freigeistend" 51 , „geist- und herzlos" 52 , „lichtscheu und mit Licht prahlend", „verstandsüchtig und gefühllos" 53 , von fast nichts als Toleranz redend und zugleich voll wütender Intoleranz. 54 Zu diesen Proben fugt sich die Mahnung, sich „nicht nach dem losen Geiste des Zeitalters zu bequemen" 5 5 , „vom Sturm des Zeitalters nicht erschüttert, vom Strom der Meinungen nicht fortgerissen" zu werden 56 , „dem genius saeculi nicht zu fröhnen" 5 7 , dagegen bereit zu sein, statt zu schweigen aus Angst aus-

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gelacht zu werden 58 , „das Revoltanteste, Zeitwidrigste zu sagen"59, oder mit einer Formel, die das Mißverständliche daran auflöst: „Diene treu deinem Zeitalter, nie aber dem Übeln Genius der Zeit!"60 Die Kombination von „Zeit" und „Geist" wird bei Lavater nicht, wie dann bei Herder und Hegel, zum Schlüssel eines universalen Geschichtsverständnisses. Und doch macht er Geschichtliches, Faktisches, Historisches (ohne abwertenden Unterton!) zum Maßstab der Zeitkritik: die Bibel als Geschichtsbuch61, Jesus Christus als diesen historischen, „nicht den Christus weder des vierten, noch des zehnten, noch des gegenwärtigen Christus-hassenden Saeculums." 62 Die Identität im Wandel der Zeiten beschäftigt Lavater nicht als ein theoretisches Problem, sondern nur in der praktischen Auseinandersetzung mit Entstellungen konträrer Art wie Orthodoxie und Pietismus, Deismus und Atheismus. Zu seiner Zeitkritik treibt ihn der Verfall des Christentums an63, nicht etwa reaktionär traditionalistisch zugunsten gestriger Zeit, eher könnte man sagen: progressiv auf ein Christentum hin, das seinem Urbild entspricht. Darin verrät nun aber Lavater Züge, die er mit seiner Zeit teilt, nicht bloß der Geniezeit von Sturm-und-Drang, auch der Aufklärung — von Fragen des Stils und der Mode ganz zu schweigen. Gegen den Zeitgeist unter dem Zeitgeist stehen, heißt freilich nicht nur trotz allem an ihm teilhaben, sondern auch unter ihm leiden. Beides hat in Lavaters Wirken tiefe Spuren hinterlassen. Das zwiespältige Verhältnis zu seiner Zeit kumuliert in der Gewißheitsfrage. Das befremdende, wenn nicht dubiose Interesse an supranaturaler Wirklichkeitserfahrung entspringt bei Lavater zweifellos dem Verlangen nach religiöser Vergewisserung: das Interesse an Wunderheilungen, Exorzismen und Magnetismus-Experimenten, ohne Rücksicht darauf, gegebenenfalls getäuscht und blamiert zu werden oder gar durch Beziehungen zu zwielichtigen Gestalten sich zu kompromittieren. In welchem Sinne handelt es sich dabei um Beweise? Zwei wichtige Unterscheidungen weisen nach Lavater dem Nachdenken darüber die Richtung. Die Auflösung einzelner Einwände kann höchstens Zweifel beheben, verleiht aber keine positive Gewißheit.64 Und Unbegreiflichkeit schließt Gewißheit nicht aus: „Millionen völlig gewisse Sachen sind uns völlig unbegreiflich." 65 Gewißheit entspringt also nicht aus Beweisen. Das gilt für den Schriftbeweis wie für den Vernunftbeweis. Der erstere setzt die Grundgewißheit voraus, „daß der Schriftgeist die Wahrheit ist"66; allein so trägt der Schriftbeweis zur Vergewisserung bei. Der Vernunftbeweis, ob metaphysisch oder moralisch, kann nach Lavater in Sachen der Religion überhaupt nichts strikt demonstrieren, nur Vermutungsgründe liefern.67 Selbst wenn er Beweiskraft hätte, hülfe er doch nur einem aus Millionen — ganz unangemessen einer Sache, die doch jeden angeht, „vom Philosophen an bis zum Bauer am Pflug". 68 Die Abgrenzung nach beiden Seiten mindert für Lavater jedoch nicht das Gewicht von Schrift und Vernunft. Wie sie sich zueinander verhalten, dieses permanente Problem der Theologiegeschichte, beantwortet er scheinbar extrem widersprüchlich; einerseits hyperorthodox: von der Schrift sei 28

nichts wegzuräsonieren, hier gebe es keine Reduktion oder Akkommodation69; andererseits radikal aufklärerisch klingend, zugleich aber antirationalistisch, indem er zwischen räsonierender Ratio und vernehmender Vernunft unterscheidet70: Vernünftigeres als das Evangelium habe er nicht gefunden71, nur der Vernunftgott sei sein Gott. 72 Um die Vermittlung dieses Widerspruchs geht es bei der Frage: Mit welchem Recht dann aber trotzdem Beweise in Form von Tatbeweisen, Erfahrungsbeweisen, „Beweisung des Geistes und der Kraft"?73 Nicht etwa, um Überzeugung zu erzwingen. Sie stellt sich unverfugbar ein, wenn auch vermittelt durch Erziehung und Unterricht, Verkündigung und Lehre. Wie dies bei Lavater selbst der Fall und doch eingestandenermaßen unzureichend gewesen war. Woran es fehlte, war die lebensmäßige Vergewisserung - nicht der Ursache, vielmehr — der Folge des Glaubens74, dessen Integration in das Leben oder richtiger: die Integration des eigenen Lebens in die Gegenwart dessen, was die Bibel bezeugt: in eine Geschichte, die sich täglich wiederholt (wie etwa der Sündenfall75), so daß einem nichts alt ist in der Bibel und gleichfalls nichts, auch das Neueste nicht, neu in der eigenen Zeit. 76 Dem Zeitalter und nicht zuletzt dem Christen in ihm mangelt es daran, Christus als Gegenwärtigen ernst zu nehmen, ihn nicht nur als Gewesenen oder als allenfalls Künftigen zu verehren.77 Heute würde man sagen: Hüte dich, daß deine christliche Überzeugung nicht eine bloße Ideologie sei! Lavater bringt dies so zum Ausdruck: „Prüfen wir unsern Glauben scharf, ob er nicht Prüfung scheuender Wahn und ein bloßes Nachsprechen ununtersuchender Trägheit und ein blindes Festhalten an dem uns von Jugend auf Eingepfropftem sei?"78 Die Wirklichkeit des Glaubens meldet sich in den Glaubensfolgen an, keineswegs nur moralisch, vielmehr auch als besondere Zeichen außergewöhnlicher Kraftwirkung. Die Kategorie des Wunders empfindet Lavater dafür eher als suspekt79, sie habe alles verdorben.80 „Mein Philosoph ist der, der allezeit allenthalben, und nie und nirgend Wunder sieht."81 Sie sind durchaus natürliche, sinnvolle Wirkungen, obschon sie dasjenige übersteigen, was der Mensch mit seinen fünf Sinnen meint begreifen zu können. Genau besehen, lag es Lavater gar nicht so sehr an einzelnen Tatbeweisen als solchen — der Ertrag seines Nachforschens war ohnehin dürftig. Vielmehr galt es, das Zwangsgehäuse einer Wirklichkeitsauffassung aufzubrechen, deren Raster ungeeignet ist für das Verständnis religiöser, biblischer Aussagen. Denn Lavater gesteht ausdrücklich: „Wer consequent räsonnirt, der wird zum Atheismus kommen, wenn er nicht an Christus glauben kann. Ein Atheist ist mir viel begreiflicher, als ein Deist." 82 „Ich wäre ein Atheist, wenn ich kein Christ wäre." 83

III. Seine Lehrer Bodmer und Breitinger vermittelten dem jungen Lavater den Begriff des Genies, das Zündwort einer jungen Generation im Aufbruch gegen

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die Verstandespedanterie der Aufklärung. Die Geschichte dieses Begriffs84 wurzelt im französischen und englischen Sprachgebrauch, gelangte aber erst in der deutschsprachigen Geistesentwicklung der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts zu ihrer charakteristischen Blüte. Nach gängiger Meinung stellt Lavater kein originäres Glied dieser Entwicklung dar.85 Er gilt als bloßes Sammelbecken verschiedener Einflüsse, aus dem sich Empfangenes vielfaltig wieder ergießt. In der Tat findet sich bei ihm eine zuweilen fast jargonhafte Redeweise, wenn er Entdecker und Erfinder wie Kolumbus86 oder Newton 87 als Geniebeispiele erwähnt oder Rousseau „mehr eigentliches Genie zu haben" zuspricht als Voltaire88, oder wenn er den Poeten Klopstock übertreibend als „eines der größten Genies nicht nur unseres Jahrhunderts, sondern aller Jahrhunderte" preist.89 Dennoch darf man auch in weiterem Horizont Lavater bei Bemerkungen zum Genie-Begriff m. E. nicht übergehen. Das Genie-Fragment der Physiognomik90 nimmt unter den Beschreibungen des Phänomens zweifellos einen beachtlichen Rang ein. Die Anwendung auf die Ästhetik hatte zwar als solche schon eine Gewichtsverlagerung von der Ratio auf Gemüt und Herz zur Folge. Jedoch haftet die Wortverbindung „Genie des Herzens" unverwechselbar an Lavater.91 Damit verbindet sich eine höchst bemerkenswerte Eigenart seines Umgangs mit dem Genie-Begriff. Ein religiöses Moment eignet zwar dem Worte Genius von seiner Herkunft her, nicht jedoch dem mit einem Präfix versehenen Kompositum ingenium, das semantisch in die französische Vokabel génie mit eingegangen ist. Wohl können sich gewisse religiöse Metaphern mit „Genie" verbinden wie die Attribute des Schöpferischen, Unverfugbaren und Unbegreiflichen. Lavater hat jedoch m. W. als einziger die ästhetische Ausprägung des Geniebegriffs in eine fundamentalreligiöse überführt, nicht etwa nur analogieweise: „Religion in meinem Sinne ist so lehrbar und lernbar, so unlernbar und uniehrbar, wie Genie." 92 Vielmehr ist Religion „als solche nichts als Genie [ . . . ] , gottesgeistig"93, unmittelbares Gottesgefuhl nicht zu verwechseln mit Theologie. 94 „Religion — Geniesinn für höhere Unsichtbarkeit und — in ihrer Vollkommenheit - Geniesinn für ein All'Eins in Allem." 95 Liebe verbindet nach Lavater Genie und Religion. „Genie, ganzes, wahres Genie, ohne Herz — ist [... ] Unding — Denn nicht hoher Ventand allein, nicht Imagination allein, nicht beyde zusammen machen Genie. Liebe! Liebe! Liebe! ist die Seele des Genies"96 „Liebe ist das Genie des Genies."97 „Gott ist lauter Liebe! Jesus ist lauter Liebe! Lauter Liebe soll der Mensch seyn. Sehen Sie da in wenigen Worten meine Religion." 98 Daraus ergibt sich für den Umgang mit dem Genie-Begriff ein Maßstab der Kritik etwa an „zügellosen Kraftgenies"99 oder an „Halbgenies"100 oder an ordinärer Schreibart genialischer Schriftsteller.101 Was folgt aber an Impulsen und Problemen für das Verständnis von R e ligion aus der Berührung mit dem Genie-Begriff? Am nächsten läge der Hinweis auf den individuellen Charakter des Religiösen. Die Bindung an das Herz hebt dies hervor. Und durch die Ausrichtung auf Christus als Universalmedium wird die Beziehung zum Herzen keineswegs aufgehoben. Deshalb kann vom 30

Glauben, der doch als Christusglaube ein und derselbe ist, zugleich gesagt werden, er habe so viele Ausprägungen wie das menschliche Gesicht.102 Ein dagegen wohl am wenigsten zu erwartendes, für Lavater jedoch überaus charakteristisches Interpretament von Religion ist „Genuß". 1 0 3 Gemeint ist der lebendige Umgang damit, das Gebrauchmachen davon, das Freudebringende daran.104 „Das Leben des Menschen", so formuliert Lavater schockierend, „besteht im Genüsse! Genießen ist das Leben! Lust ist des Daseins Zweck! Genuß, das Ziel aller Moral und Religion!" 1 0 5 Er scheut nicht die durchaus ernst gemeinte Aussage: „Tugend und Religion ist der Epikureismus der Vernunft und des Herzens! [... ] Nur der Satan will kriechende, genußlose Märtyrer. [... ] Es ist nicht der Geist Christi und des Evangeliums!" 106 Allerdings ist Religion „ein geistiger Genuß unsichtbarer und ewiger Dinge" und darum auch nicht etwa partikularistisch mit konfessionellen Namen und Schlagwörtern zu etikettieren.107 „Völlige Nullitäten sind für mich, für meinen innern Menschen, für meine Religion, für meinen Gottesgenuß die Namen Zwingli, Calvin, Luther, Papst, Konzilium, reformirt, lutherisch, katholisch." 108 Auch dem Mystizismus betreitet Lavater nicht „eine Art reellen, geistigen Genusses" 109 , obwohl er für sich selbst diese Einstellung weit von sich weist. , J e mehr der Mystiker als solcher seinem Ziele näher kommt, desto mehr naht er sich dem Atheismus." 110 Denn sein non plus ultra ist „ein Abstraktum ohne alle Kreatürlichkeit" 111 , während Gott als der letzte Zweck „die höchste Genießbarkeit aller Kreaturen" 112 ist, und das heißt: Freude an der Schöpfung will und rechten Umgang mit ihr. Deshalb ist auch „das non plus ultra der biblischen Schriftverfässer [... ] ein historisch-sinnliches Wesen Menschensohn". 113 Das ist nicht eine Frömmigkeit des Subjektivismus oder gar des Egoismus, den Lavater doch als Inbegriff der Sünde anprangert.114 Auch nicht eine Frömmigkeit absoluter Unmittelbarkeit und Spiritualisierung. Es bedarf eines Mediums, einer von außen her wirkenden Kraft, die mich zu innerster Lebendigkeit meiner selbst bringt. 115 „Selbstgenuß" meint dann nicht, sein eigenes Ich genießen, vielmehr selber in den Genuß eines ganz Andern gelangen. 116 „Mein Gott ist das, was sich im existentesten Menschen zum lebendigsten Leben macht." 117 Dafür ist Christus das Universalmedium. 118 In Lavaters zuweilen überschwenglicher Sprache: „Ich glaube an diesen Jesus, das heißt, ich ahne in ihm den einfachsten und reichhaltigsten, den allgenießbarsten, lebendigsten, lichtgenossesten Erleuchter, Kraftmittheiler, Beieber der irrenden, sündigen, sterblichen Menschheit." 119 Die seltsame Bezeichnung Christi als eines Mediums des Selbstgenusses könnte geradezu an die Terminologie des Magnetismus erinnern. Wie auch in dem großen Gedicht über das menschliche Herz die Sprache der Magie zur Deutung des Glaubens herangezogen wird: „Religion! Du höchste Zauberkraft! D u Schöpferinn des ungeschaffnen Wesens! [... ] Kein Daseyn gleicht dem Daseyn, das des Glaubens Magie erschafft." 120 Damit wird in gewagtester Weise die Realpräsenz des Geglaubten im Glauben angesprochen, aber keineswegs das Angewiesensein auf eine Mitteilung von außen her bestritten: „Ohne Offenbarung, Lehre, Ge31

schichte gibt es für mich so wenig Religion, als es einen Vater, Bruder, Freund ohne Offenbarung, Nennung, Mittheilung, Unterricht für mich gäbe."121 Nur allzu begreiflich, daß diese schwindelerregende Genie-Deutung von Religion unter das Verdikt der Schwärmerei gerät. Ist es nur die bekannte Taktik, einen Vorwurf übertrumpfend zurückzugeben, wenn Lavater „Schwärmerei" für ein „allübertäubendes Modewort der ärgsten Schwärmer" erklärt122 und sich selbst für den unversöhnlichsten Feind der Schwärmerei?123 Er ist ehrlich genug, Gott zu danken, der ihn so gewaltig von aller religiösen Schwärmerei zurückziehe. Denn „Ehrgeiz, lebhafte Einbildungskraft, und ein gutes empfindsames Herz, — diese drey Dinge zusammen, wie leicht reissen sie uns zur Schwärmerey fort!"124 Er besteht jedoch auf einem Sachkriterium. „Was sich durch den Erfolg rechtfertigt, das ist vernünftig; unvernünftig und schwärmerisch, was sich durch den Erfolg nicht rechtfertigt."125 Das klingt nun freilich überaus fatal. So allgemein formuliert, ist die Aussage gänzlich ungeschützt gegen Mißverständnis und Mißbrauch. Dem Kontext nach greift sie aber zielgenau ein Christentum an, das abgestumpft ist gegen die aufregende Frage nach der Wirklichkeit des Glaubens, seiner Unterscheidung von bloßer Einbildung. „Lasset uns Imagination nicht für Glauben halten" und welch ein schmerzhaft treffendes Wort! - „Glauben nicht für eine ewige Verschiebungskunst dessen, was jetzt genossen werden soll."126 „Wer solch' ein lebendiges Medium" — wie es Christus ist - „ohne konstante Erfahrungsbeweise dennoch für wirklich hält, sich so eines nur imaginirt, ist ein Schwärmer."127 Zur Grundregel seines Glaubensbekenntnisses erhebt Lavater darum den Satz: „Alles, was ich glaube, muß meinen Erfahrungen [... ] analog, und mit Allem, was ich weiß oder erkenne, harmonisch sein."128 „Erfahrung allein kann allen Raisonnements, allen unbeantwortlichen Sophistereien die Stirne bieten; und zwar nicht allein innere Erfährung, die freilich die Seele und das Triebwerk der äußern sein muß, sondern Thatbeweise, Beweise des Geistes und der Kraft, wodurch alle Geister und Kräfte des Irrthums bezwungen werden müssen."129 Bei der Berufung auf die Erfährung sieht sich Lavater der spannungsreichen Zusammengehörigkeit von Außen und Innen — diesem Grundfaktor der Physiognomik - konfrontiert, von Materiellem und Immateriellem, von purem Anschauen, sei es irdisch, sei es himmlisch, und einer Glaubensintuition, die dem Genieblick entspricht. Glaubensintuition ist „ein lichtheller Blick auf das Innere, Lebendige, Wahre, Untrügliche in dem Gegenstande unsers Glaubens".130 „Solche Intuitionen sind dem Genie völlige Gewißheit. Im Momente der Glaubensintuition ist uns Alles im Evangelio klarer als das Klarste, gewisser als das Gewisseste."131 Also doch Glaube im Gegensatz zur Erfahrung?! In bestimmter Weise allerdings, sofern das Wesen und die Tiefendimension von Erfahrung nicht mit bedacht werden. Hier klingt noch einmal die Analogie zur Magie an: „Im Momente dieser Glaubensintuition schaffen wir, ohne alle Anstrengung, nicht Phantome, nicht Phantasien: lauter Realitäten; Realitäten, die an Lebendigkeit, Dasein, Kraft, Energie Alles übertreffen. Christus 32

wird uns eine solche allerlebendigste Existenz, die gleichsam lauter Existenzen athmet und ausstrahlt."132 Ohne Schmerzen geht das nicht ab. „Die Seele", meint Lavater, „muß durch unendliche Entbehrungen, Lasten, Leiden geläutert werden, ehe sie zu dieser innern gewissen Ansicht kommen kann. Die Seele muß, möchte ich sagen, zu einem reinen hellen Spiegel der Gottheit polirt werden." 1 3 3 Als Hintergrund all der enthusiastisch klingenden Aussagen über die G e nie-Religion muß uns Lavaters waches, tief beunruhigtes Gespür für die A n zeichen des Verfalls des Christentums vor Augen stehen. 134 Nicht nur in Form des trotzigen Bekenntnisses, daß „ein decidirtes Genie" „das Privilegium" habe, „empörende Wahrheiten zu sagen, welche Nationen und Jahrhunderten heilsam sind" 135 , vielmehr auch als demütiges Sichbeugen: „Mein ganzes W e sen fühlt sich nie glücklicher, als in den gedrücktesten Momenten, wo meine Eigenliebe so ganz aufgeopfert werden muß [.. .]." 1 3 6 „Ich bin nie seliger, als wenn ich an die Grenze der Verzweiflung komme und beim schrecklichen Leiden ein frohes Gesicht machen muß." 1 3 7 Auch das gehört zu den Beweisen des Geistes und der Kraft und verrät ein Wirklichkeitsverständnis, das auf die eigentlichen Bedürfnisse der Menschheit ausgerichtet ist.138

IV. Lavater wäre es nicht gemäß, seiner Theologie die Form einer Dogmatik zu geben. Nicht daß er das Systematische verpönt hätte. Er kann durchaus von seinem „System" und dessen Harmonie als innerer Stimmigkeit sprechen. 139 Es wäre aber nicht nach seinem Sinn, dies schrittweise im Durchgang durch die Hauptthemen, Grundfaktoren und LeitbegrifFe zu testen und abzusichern. Ein solches Verfahren identifiziert er mit Theologie in abschätzigem Sinne. Z u m Verständnis des Christentums als zwangsfreier Philosophie 140 gibt er darum den R a t : „Vergessen Sie Alles, was Theologie und Terminologie heißt." 1 4 1 Das eindrücklich Konzentrische seines Denkens läßt sich nur auf die innere Konsequenz einer Lebensganzheit zurückführen, die, von einem pulsierenden Herzen, einem Universalmedium belebt, alle Lebensäußerungen in ihrer Vielfalt umspannt. 142 An den Hauptverankerungen seiner Theologie wird dieses lebendige Z u sammenspiel von Einheit und Vielfalt deutlich. Die eine Bibel ist gleichermaßen Kommentar der Natur — dieses eigentlichen Buchs der Bücher 1 4 3 — wie auch Kommentar der Menschheit 144 , Geschichte des göttlichen Ebenbildes 145 , Kommentar des menschlichen Herzens. 146 Auf dasselbe läuft die Nebeneinanderordnung hinaus. „Die heilige Schrift, das Buch der Natur, das Buch der Vorsehung und das Buch des Herzens; diese vier Bände sind hinlänglich zur Handbibliothek des Christen." 147 Gewichtiger noch: Der eine Jesus Christus ist zuständig für alles: für Gott und die Menschheit. 148 „Wer [hat] die menschliche Natur mehr vergöttlicht? die göttliche würdiger vermenschlicht?" 149 Das

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bewahrheitet sich nicht durch abstrakt metaphysische Erkenntnis, sondern dank einer „reellen korrespondenzähnlichen Konnexion" 150 , einer erfahrungsvollen, lebenspendenden Gemeinschaft mit ihm, die an Gott partizipieren läßt und zu reiner Gottebenbildlichkeit vervollkommnet. 151 „Er [Christus], und kein Anderer, ist uns so göttlich, wie Gott, und so menschlich, wie ein Mensch, nahe."152 Deshalb kann aber auch alles in den einen Brennpunkt der Menschlichkeit rücken: „Die Erkenntniß der menschlichsten Menschen bildet die menschlichsten Menschen, und ich kenne keinen menschlichern Menschen als den, welchen die menschliche Sprache Jesus Christus nennt." 153 Hier greift alles ineinander, droht aber auch alles ineinanderzugleiten. Das macht die Stärke wie die Schwäche der theologiescheuen Theologie Lavaters aus. Moses Mendelssohn hat die darin lauernde Gefahr schon früh erkannt und bewundernswert präzis beschrieben: „In einer Materie, die so sehr verwickelt ist, und das Herz so nahe angeht, kann die Vernunft durch den leichtesten Schwung aus dem Gleise gehoben werden, und alsdann fuhrt sie von dem rechten Wege desto mehr ab, je wackerer sie ist."154 Es darf als ein gutes Zeichen innerer Selbstkorrektur Lavaters angesehen werden — wie immer dies mit seiner Suche nach experimentellen Erfährungen jenseitiger Wirklichkeit und mit einer wohl auch existentiellen Erfahrung der Christus-Gegenwart zusammenhängen mag —, daß er in den achtziger Jahren sich der Aufgabe elementarer Wirklichkeitsbesinnung entschieden zuwandte.155 An der von Anfang an kritischen Haltung gegenüber abstrakter Metaphysik ändert dies nichts.156 Wohl aber bemüht er sich nun, einer, wie er es nennt, „Universallogik"157, wir könnten auch sagen: einer Grammatik der Ontologie, auf Grund eigenen Beobachtens und Nachdenkens auf die Spur zu kommen. Die sich jetzt noch steigernde Bevorzugung des Begriffe Philosophie mag darauf zurückzufuhren sein, daß er ein theologisches Defizit, das durch Theologie im üblichen Sinne nicht einholbar war, sozusagen auf eigene Faust um der Sache der Theologie willen zu beheben sucht durch eine Art fundamentaltheologischer Übung „im freien, unschulmäßigen, naturgemäßen, schriftgemäßen Denken". 158 In vielen verstreuten Bemerkungen, die im Grunde alle um das Phänomen des Lebens kreisen159, weist er auf folgendes hin: Sein ist als Wirken aufzufassen. „Was wirkt, existiert."160 Und die Seinsart ist durch das Gegenüber bedingt: „Ohne Du kein Ich. Wie Dein Du, so wird ewig Dein Ich sein."161 .Jedes Objekt, jede Kraft außer mir, ist ein Du für mein Ich."162 Oder: Der Mensch ist das, was ihn affiziert.163 .Jedes Leben kann lieben. Was also lebt, liebt, was nicht liebt, lebt nicht."164 Oder: Leben heißt, „sich als sich zu beweisen." 165 Oder: „Was in Einem Menschen ist, ist in allen." 166 „Was in dem Menschen Christus ist, — denn er war ein ganzer, wahrer, kompleter Mensch, — das ist auch in uns."167 Das ist ein betont anthropozentrisches Wirklichkeitsverständnis168, schließt aber das Christozentrische und Theozentrische in sich. Nur so erklärt sich die Relativierung der traditionellen Unterscheidung von natürlich und übernatürlich169, desgleichen auch die ungewohnte Komparativbildung: „Durch Jesus wird jede Existenz existieren34

der."170 Bei diesen Andeutungen muß es sein Bewenden haben. Wer Lavaters Theologie auf den Grund geht, findet in seinen Impulsen zu ontologischer Neubesinnung ein fruchtbares Feld.171 Die postum erschienene zweigeteilte Schrift aus dem Jahre 1798 mit dem umständlichen Titel, Jesus Christus stets derselbe; nicht beschränkt durch Zeit und Raum; unbeschränkt durch unsere moralische Unwürdigkeit. Oder: Neue Ausgabe des alten Evangeliums für fromme und ächtgläubige Christen"172 schließt mit der testamentarischen Versicherung: „daß ich in dieser Abhandlung nichts finde, was ich bei gesunder Vernunft und gutem Gewissen, wenn ich heute sterben sollte, zurücknehmen könnte". 173 Das betrifft auch den Anhang174, in dem er noch einmal den Skopus hervorhebt: In alle unsre Gebete und Glaubensübungen schleiche sich eine Vergiftung ein, nämlich von seltenen Ausnahmen abgesehen — die Gewöhnung daran, uns zu täuschen „mit leeren Worten von einem lebendigen Christus, der sein Leben uns hienieden vermeintlich nie entscheidend" beweist.175 Lavater geht noch einen Schritt weiter und blickt auf die Kirchengeschichte zurück: .Jahrhunderte herab ist uns kein christlicher Schriftsteller bekannt, der die Sache so ansah, wie ich: das heißt, ganz so, kein Luther, Kalvin, noch irgendein früherer, kein Augustin, kein Origenes, so viel sie auch etwas von der Gebetskraft sagen mögen." Selbst bei den Apostolischen Vätern gebe es „keine Spuren dieser reellen Konnexion und positiven erweislichen Erfahrungskorrespondenz mit dem Gottmenschen Jesus".176 Das Verschwinden dieser, wie Lavater überzeugt ist, biblischen Lehre läßt er sich aber nicht zum Einwand werden, vielmehr zu dem Hoffnungsgrund ihrer Wiederkehr. Das Faktum dieses seines vermächtnisartigen Aufsatzes in Verbindung damit, wie er sein Leben hindurch erweckt und geleitet wurde, könnte ein Versprechen und ein Mittel Gottes sein, „die Herzen [...] von der Verstandesüberzeugung zum Herzensglauben zu leiten". 177 Das hohe Selbstbewußtsein, das aus dieser Äußerung spricht, darf man nicht etwa dahin überziehen, als beanspruche Lavater den höchsten Rang in der Theologiegeschichte. Das wäre lächerlich. Aber auch wenn man berücksichtigt, daß seine Kenntnis jener Theologen, die er vergleichsweise nennt, nur bescheiden war, muß man zugeben: Wie nur ganz wenigen Theologen, zumal in der Neuzeit, ging es Lavater um die Glaubensgewißheit als den Kardinalpunkt. Es könnte freilich sein, daß er sich darüber getäuscht hat, wieviel gerade dazu von anderen zu lernen gewesen wäre; oder aber daß er geirrt hat in der Art, wie er selbst darüber lehrte. Das zu entscheiden, erfordert eine weit ausholende Sacherörterung.178 Unzweifelhaft aber hat Lavater uns eine Frage hartnäckig aufgegegeben, die mitten im Zerfall des Christentums das Zentrum des chrisdichen Glaubens betrifft. Uns als Christen und Theologen kann das gar nicht andrängend genug zu Herzen gehen. Für diese Herausforderung sei Lavater — weit über Zürich hinaus — gedankt.

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Anmerkungen

Vorbemerkung

zur

Zitationsweise

Bei der Ersterwähnung einer Quellenschrift gilt für die Belegangabe die Reihenfolge 1. vollständiger Titel a) bei Drucken nach: K. Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Dresden 3 1916, IV.l, 2 4 2 - 2 8 1 (zitiert: Goedeke) b) bei Handschriften in Z B Z FA Lav. nach: Katalog der Handschriften der Zürcher Zentralbibliothek II. Neue Handschriften seit 1500, hg. von E. Gagliardi und L. Forrer, 1982, 1535-1566 (Abk.: Z B Z FA Lav.), in beiden Fällen mit Zifferangabe. 2. Jahreszahl gemäß den unter 1. genannten Nachschlagewerken. 3. Text des Zitats (sofern nicht nach Erstdruck oder Ms.) nach den Ausgaben: a) in der Regel: Johann Kaspar Lavater's ausgewählte Schriften, hg. von J. K. Orelli, Teil I-VI, 1841/42, Teil VII-VIII, Zürich 1844 (zitiert: Orelli) b) ausnahmsweise zusätzlich oder allein: Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, hg. von E. Staehelin, Bd. I-IV, Zürich 1943 (zitiert: Staehelin) jeweils mit Band und Seitenzahl. Bei wiederholter Erwähnung einer Quellenschrift wird der Titel verkürzt mit R ü c k verweis angegeben. Jedesmal werden j e d o c h Jahreszahl und Druckvorlage (Ms., Erstdruck, Orelli, Staehelin) genannt. Falls Titelformulierung oder Jahresangabe bei Orelli von Goedeke abweichen, wird dies nur in Ausnahmefällen vermerkt. 1

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A m 4. N o v e m b e r 1991 in Zürich vorgetragen im R a h m e n des Lavater-Symposions, das anläßlich der 250. Wiederkehr des Geburtstages Lavaters (15. N o v e m ber 1741) v o m 3.-5. N o v e m b e r stattfand. Z u r Schreibweise des zweiten Vornamens s. K. M . Sauer, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741-Î801). Darstellung und Quellengrundlage, 1988, 15, Anm. 1: „Obgleich Lavater viele Jahre seines Lebens .Caspar' geschrieben hat, behalte ich die von ihm in den letzten Lebensjahren gewählte Schreibweise ,Kaspar' bei." Über das dort nicht angegebene religiöse Motiv dieser Änderung der Initiale äußert sich Lavater in der Hand-Bibliotheck für Freunde, in vier Jahrgängen zu j e 6 Bänden, 1790-1793 (im folgenden zitiert: Hand-Bibl.). Goedeke 64. Orelli V, 287 (6.6.1791) mit einer in Klammern gesetzten Nebenbemerkung zu der von ihm zitierten Äußerung eines Kritikers: „pour moi, il m'est impossible et contre nature, d'entendre parler légèrement de Jésus Christ": (so wie ich, im Vorbeigehen zu sagen, keine Abkürzung dieses Namens J . C . statt Jesus Christus ertragen kann)." - Die auswahlweise Wiedergabe der Hand-Bibl. bei Orelli V, 245-320; VI, 2 0 3 320; VII, 188-320; VIII, 217-291 (jeweils unter der Überschrift „Mannigfaltiges aus der Handbibliothek" o.J.) folgt in der O r d n u n g nicht d e m Original, vgl. nur Orelli V, 320. Auf eine genaue Zuordnung der Einzelstücke bei Orelli zu den 24 originalen Teilbänden mußte ich verzichten. Deshalb verweise ich auch im folgenden jeweils nur pauschal auf die Hand-Bibl. und füge bloß dann eine Zeitangabe hinzu, w e n n das betreffende Teilstück separat mit einer solchen versehen ist. J . W . v o n Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 14.Buch, Festausg. des Bibliographischen Instituts 1926, Bd. XVI, 156, 36.157,5. Dieses harte Urteil braucht hier nicht durch eine kritische Beschreibung der be-

kannten Werkausgaben begründet zu werden. Jeder Kenner wird mir zustimm e n . N u r an einem Beispiel sei der Notstand illustriert. Die relativ umfangreiche Ausgabe von J . K . Orelli (s. meine Vorbemerkung zur Zitationsweise; insgesamt ca. 2700 S.) enthält in II, 264—278 einen für meine Aufgabe besonders aufschlußreichen T e x t , überschrieben: „Fragment meines Glaubensbekenntnisses oder Grundideen meiner Religion", undatiert wie manches andere in dieser Ausgabe, die keinerlei Ordnungsprinzip erkennen läßt. Die Vorlage des m . W . nirgends i m D r u c k erschienenen Textes [s. dagegen die „Nachträgliche Berichtigung" des Verf. am Ende der Anmerkungen] entdeckte ich nach einigem Suchen in der Zentralbibliothek Zürich FA Lav. Ms. 56, 5 in Gestalt dreier Handschriften: einer durchkorrigierten Originalniederschrift Lavaters mit Datumsangabe am Schluß: 23.11.1788, u n d einer vollständigen sowie einer unvollständigen Reinschrift v o n anderer Hand. D e r Titel lautet: Mein Glaubensbekenntniß oder Grundideen meiner Religion. Daß es sich u m ein „Fragment" handele, entspricht nur dem Verfahren Orellis, der den Originaltext, ohne dies zu erkennen zu geben, erheblich gekürzt u n d wiederholt auch sprachlich in ihn eingegriffen hat. D a auch die wesentlich besser konzipierte, j e d o c h schmalere Ausgabe v o n E. Staehelin (s. meine Vorbem e r k u n g zur Zitationsweise; insgesamt etwas mehr als 1000 Seiten, aber bei etwas kleinerem Satzspiegel als Orelli) überwiegend gekürzte Texte enthält, sind diese beiden einzigen Editionen, die einen Querschnitt durch Lavaters W e r k darbieten, für wissenschaftliche Arbeit streng g e n o m m e n unbrauchbar. - Ein Musterbeispiel sorgfältiger Edition: U . Schnetzler, Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 176i, Diss. phil. I, Zürich 1989. N e b e n der Ausgabe des Diarium. Mensis Januarius. 1761 und einer Abhandlung darüber enthält das Buch auch eine größere Anzahl Freundesbriefe überwiegend aus den Jahren 1759-1761. 5 6

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S. Anm. 2. Die Arbeit ist ein wichtiger Schritt in R i c h t u n g auf eine Kritische Ausgabe. Z. B. J. F o r s s m a n , J . K . Lavater und die religiösen Strömungen des achtzehnten Jahrhunderts. Versuch einer seelenkundlichen Deutung im geistesgeschichtlichen Rahmen, R i ga 1935. H . Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18.Jahrhundert (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 25), Göttingen 1988. Mir besonders wichtig: G. v o n Schulthess-Rechberg, „Lavater als religiöse Persönlichkeit", in: Johann Caspar Lavater 1741-1801. Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 1902, 153-304. H . Maier, „Lavater als Philosoph u n d Physiognomiker", ebd. 355-494. Neubearbeitet in: ders., An der Grenze der Philosophie. Melanchthon — Lavater — David Friedrich Strauss, 1909, 1 4 3 - 2 6 3 . 3 7 8 389. P. Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII.Jahrhundert III, T ü bingen 1925, 221-284. Dieser hermeneutische Gesichtspunkt greift weiter als die durchaus wichtigen philologisch-historischen und stilanalytischen Untersuchungen durch K. R a d wan, Die Sprache Lavaters im Spiegel der Geistesgeschichte (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 75), 1972. Die theologische Integration der vielfältigen Beobachtungen gelingt dem Verfasser leider nicht, ist wohl auch kaum ernsthaft v o n ihm angestrebt. Das Fehlen eines Sachregisters mindert die Benutzbarkeit der materialreichen Arbeit. Grundsätzlich zu diesem Problem mein Aufsatz: „Heiliger Geist und Zeitgeist. Identität und Wandel in der Kirchengeschichte", in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 87 (1990)185-205. Dort weitere Literaturhinweise.

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[J.K. Lavater], Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an HerrnJoh. Georg Zimmermann, Königl. Großbritannischen Leibarzt in Hannover. I (1768), II (1769), III (1773). Goedeke 8. Orelli V, 109-244 (Auswahl aus den Briefen 1-22). Staehelin I, 9 7 - 2 0 5 (Auswahl, auch unter Überspringung einzelner Briefe, aber mit stichwortartigen Überschriften zu allen 25 Briefen der Bände I—III, dazu eine kurze historische Einleitung). Zusätze und Anmerkungen aus zeitlicher Distanz: IV (1778). Das Folgende im 1. Brief, nur bei Orelli.

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Charles Bonnet, La contemplation de la nature, Amsterdam 1764, schon im folgenden Jahr ins Deutsche übersetzt, Maier (s. Anm. 7), 161. Orelli V, 111 (1768): „Einige Tage ließ ich das unvollendete Lied liegen. [ . . . ] Das Hauptstük von der höchsten Vollkommenheit vermischter Wesen fachte meine, v o n den bereits hingeworfenen R e i m e n noch nicht ganz erkaltete Imagination v o n N e u e m an. Ich schrieb allsobald ein paar Dutzend R e i m e , die einige v o n Bonnet's kühnsten Ideen, mit einigen ähnlichen versetzt, enthielten, und sogleich faßte ich den Entschluß, ein Lied oder eine O d e für philosophische Christen in der Versart von Kramer's Auferstehung zu bearbeiten." Gemeint ist w o h l J o h a n n Jakob Kramer, Professor am Collegium Humanitatis in Zürich, Lavaters Lehrer, vgl. Sauer (s. Anm. 2), 93.

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Maier (s. Anm. 7), 160. Ebd. 161. 6. Brief, Orelli V, 152 (1768), nicht bei Staehelin. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, Gütersloh 1949, 5 3 - 5 9 . Nach Hirsch (s. vorige Anm.), 15-31 „eine der ehrwürdigsten und liebenswertesten Gestalten der gesamten deutschen Neologie." Ü b e r Lavaters Bildungsreise und den Aufenthalt bei Spalding: Sauer (s. Anm. 2), 106-114. [Johann Kaspar Lavater], Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst oder des Tagebuches Zu/eyter Theil, Leipzig 1773. Goedeke 18. Faks. Ausg., bearb. v. Ch. Siegrist, (Schweizer Texte 3), Bern/Stuttgart 1978, 37. Eintrag v o m 16.11.1772: „Ich war eine Viertelstunde ganz stille, dachte dem zerfallenen Zustande der Theologie in Deutschland nach - und seufzte zu m e i n e m Herrn im Himmel!" Auch: Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VI, 223: „AnJünglinge, welche die Theologie studiren wollen. Praktische Gotteserkenntniß heißt Religion; gelehrtere oder wissenschaftliche heißt Theologie. Künftige Lehrer der R e ligion! seid religiös und studirt mit Weisheit und Ernste die Theologie." J o h a n n Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, Leipzig u. W i n terthur, 4 Bde., 1 7 7 5 - 7 8 , 1 1775, 8. Goedeke 31. Orelli III, 50. Zitiert: Physiogn. Fragm. - Auswahl-Ausgabe hg. v. C h . Siegrist, 50. Recl. Univ. Bibl. N r . 350 [5], Stuttgart 1984, 40: Gegen den Einwand „nie wird die Physiognomik eine Wissenschaft w e r d e n " lautet die Antwort: „Die Physiognomik kann eine Wissenschaft werden, so gut als alle unmathematische Wissenschaften!" Dazu die Erläuterung: „So gut als die Physik; — denn sie ist Physik! So gut, als die Arzneykunst, denn sie ist ein Theil der Arzneykunst! So gut als die Theologie, denn sie ist Theologie! So gut als die schönen Wissenschaften, denn sie gehört zu den schönen Wissenschaften." Z B Z FA Lav. Ms. 8 &a-d, lose Blätter in 5 Mappen (1789?). „Taschenbüchlein für Liebe Reisende oder Andenken (1787 geschrieben)", in: Hand-Bibl. II 1790 (s. Anm. 2). Goedeke 64. Orelli II, 332: „Auch bitte ich euch sehr: das Christenthum der Theologen und der Weltmenschen nicht mit dem

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evangelischen Christenthum zu verwechseln, u n d Eins u m des Andern willen zu verwerfen." [J. K. Lavater], Vermächtniß an seine Fremde. Größtenteils Auszüge aus Seinem Tagebuch, vom Jahr 1796, Zürich. Goedeke 82. Orelli VIII, 309: „ , O b ich ein A n hänger der Kantischen Philosophie sei?' Antwort: ,Ich bin kein Anhänger irgend einer Philosophie; nicht der Wolfischen, nicht der Kantischen. Ich habe meine eigene.'" [J. K. Lavater], Vermischte, unphysiognomische Regeln zur Menschenkenntniß, [Zürich] 1787. Goedeke 55. Orelli I, 341: „Nicht umsonst sagt der Philosoph von Nazareth: , W o dein Schatz ist, da ist dein Herz; dein Kostbarstes ist dein Gott!' " Anacharsis, oder vermischte Gedanken undfreundschaftliche Räthe, [Winterthur] 1795. Goedeke 77. Orelli II, 152: „Er, Jesus Christus, wird mir täglich unentbehrlicher, — wird es mir, dem sterblichen Lavater, mir, dem Sünder Lavater, mir, dem kraftbedürftigen Lavater, mir, w e n n ich es sagen darf, dem Philosophen Lavater. In dieser und mancher Absicht bin ich ein großer Verehrer der kantischen Philosophie, i n d e m ich in derselben den philosophischen Zuchtmeister Moses auf Christum ahne, oder zu sehen glaube. Jesus Christus wird, j e mehr ich alle philosophischen Systeme prüfe, täglich mehr in sehr eigentlichem, buchstäblichem und vollkommenem Sinne, mein Herr und mein Gott." Z u m N a m e n Anacharsis s. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike I (1975) 1979, 325. I l a v t a fleia x a i ävögcbmva raivra. Orelli IV, 252 in einem Brief an Georg Ludwig Spalding, Sohn des Johann Joachim Spalding, v o m 4. 10. 1785, aufgen o m m e n in eine erst spätere Zusammenstellung von Texten „Ueber den thierischen Magnetismus." Orelli IV, 233-282 (S. 233 Anm.ist auf einen Druck von 1821 verwiesen). Vgl. das Material in anderer Auswahl: Staehelin III, 187—196; dort 190 f., ebenfalls Bruchstücke aus dem Brief an G.L. Spalding, j e d o c h ohne die oben zitierte Äußerung. Bei Goedeke gibt es keinen entsprechenden Text. Vgl. auch Anm. 46. Hand-Bibl. (s. A n m . 2) in einem Abschnitt „ V o m Reiche Christi" (19.3.1792). Orelli VI, 219f.: „Ich glaube, hoffe und erwarte ein nicht allgemeines, aber allgemein anerkanntes Lichtreich, das heißt, einen Alles, was Nacht, Verwirrung und T o d heißt, verdrängenden Freistaat der auserwählten Menschen unter dem auserwähltesten Aller - J e s u s Christus. Er wird den Ungläubigen furchtbarer sein, als kein Blitz, und dem Gläubigen lieblicher, als keine Sonne. [... ] Jede Philosophie, die dieses R e i c h läugnet, oder als Chimäre behandelt, die demselben entgegen zu arbeiten strebt, ist in den Augen des Glaubenden eine satanische Philosophie, wie unschuldig, ja wie redlich und pflichtlich man auch dabei zu W e r k e gehen mag. Es gibt nur zwei Philosophien in der Welt: die des Messias und des Anti-Messias [... ] die des Kreuzes und die der Feinde des Kreuzes [ . . . ] . " Physiogn. Fragm. III 1777 (s. Anm. 19),11,1. Recl. [259], D e r Text fehlt in der Auswahl Orelli III. Diese W e n d u n g z.B. in Aussichten I 1768 (s. Anm. 10), 1. Brief. Orelli V, 113f.: „ [ . . . ] wie viele große Wahrheiten müßte ich unterdrücken; wie Vieles, das die feineren Saiten erhabener Seelen erschüttern kann, verschweigen, w e n n ich mir nicht vorsetzen würde, zuerst und unmittelbar für denkende Christen allein zu schreiben; das ist, für solche, die einen eigenen, unbestechlichen, moralischen, christlichen u n d philosophischen Sinn haben, der in Absicht auf Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Tugend, Christenthum u. s. w . eben das ist, was das musikalische Gehör bei dem Tonkünstler und das malerische Auge bei dem Maler.

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Ich werde mir zwar alle nur erdenkliche M ü h e geben, die erhabensten und k ü h n sten Gedanken in der höchstmöglichen Simplicität vorzutragen, damit der N u t zen davon so ausgebreitet werde, als es die Natur eines solchen Werkes immer zulassen wird." S.Anm.4. Orelli II, 264. Die Vorbemerkung lautet vollständig: „Einzig und allein für redlich philosophische, ganz frei denkende Freunde, Christen, Idealisten, Atheisten, flüchtig, frei u n d planlos hingeschrieben." Orelli II, 233 (1786). Vollständiger Wortlaut dieser Vorbemerkung: „In wenigen, heiligen M o m e n t e n [ . . . ] " (Fortsetzung wie oben). Z u dem dazugehörigen Text „Christliche Gedanken" s. u. Anm. 39. Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 153 (Eintrag vom 20.1.1773): „Sollte es möglich seyn, daß einer meiner Freunde das Flüchtige, Leichtsinnige in m e i n e m Charakter, die noch so vielen, für mich selbst demüthigenden Proben v o n Eitelkeit, v o n Trägheit, Nachlässigkeit, Sinnlichkeit ganz verkennen könnte — so m ü ß t e nicht nur die Liebe, auch die Freundschaft müßte blind seyn . . . " Unveränderte Fragmente (s. A n m . 18), 269, in einem Brief an seinen Freund J. G. Z i m m e r m a n n , Eintrag v o m 4.5.1773: „Bekümmern Sie sich, ich bitte Sie innigst, immer weniger darum, was die Menschen v o n mir urtheilen. Ihnen will ich mich darlegen, wie ich bin — im übrigen kann ich wohl warten. W a h r ists — w a r u m sollte ichs verhehlen, daß ich in großer Gefahr war, ein geistlicher D o n Quixote zu werden, - aber v o n Ihrer Existenz können Sie nicht gewisser seyn, als davon, daß ich es nie werden werde." Orelli II 1788? (s. Anm. 39), 239. Lavaters Jugend von ihm selbst erzählt. Mit Erläuterungen hg. v. O . Farner, Zürich 1939. Selbstverständlich kann ein intimer („allein meinen Kindern und den nächsten meiner Freunde gewidmet") autobiographischer Rückblick aus späterer Zeit (die Niederschrift erfolgte 1779-1782) nicht als einzige Quelle für die A t m o sphäre v o n Elternhaus und Schule gelten. Hierfür jetzt die am genauesten belegte Darstellung bei Sauer (s. Anm. 2), 43-88: „Die Zürcher Kirche in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts", sowie 94-104: „Lavaters theologische Ausbildung und seine Ordination (1756—1762)." Außerordentlich aufschlußreich nicht nur für den Geist der Empfindsamkeit i m Freundeskreis, sondern vor allem auch für die absolute Dominanz des Religiösen sind die Freundesbriefe Lavaters aus den Jahren 1759-1761 samt d e m Diarium. Mensis Januarius, 1761 (s. Anm. 4). Auch über die Bildungsreise nach Deutschland und den Aufenthalt bei Spalding informiert vorzüglich mit exakten Angaben zu Lavaters Lektüre und seinen literarischen Arbeiten Sauer (s. Anm. 2), 104—115. So H . Weigelt, „Lavater", in: Theologische Realenzyklopädie20, 506. Ders., Lavater und die Stillen im Lande (s. Anm. 6), 16 f. Den.,Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 14-16. Orelli II, 233—244. Meiner bisherigen Nachforschung nach der Herkunft dieses Textes waren enge Grenzen gezogen. Auffallend daran ist formal in erster Linie folgendes: 1) D e r Text ist mit einer Vorbemerkung versehen (s. Anm. 31), die der zu Glaubensbekenntniß ähnelt (s. Anm. 30). 2) Als ganzer undatiert, enthält der Text doch zwei merkwürdig präzise Zeitangaben: zu dem einleitend berichteten Gedankenexperiment (s. Anm. 40 und 42): „ D e n 21. N o v e m b e r 1786", Orelli II, 233; zu d e m auffallenden autobiographischen Rückblick (s. Anm. 43 und 45):

„ I m Dezember 1788", Orelli II, 239. 3) U n t e r der Vorbemerkung steht in Klammern: „Aus d e m Englischen." Dies wird durch kurze englische Texte in den Fußnoten bestätigt, Orelli II, 235. „Im Original: T h e knowledge of Christ is a complex of all these different sorts of wisdom, combined together"; Orelli II, 241: aus Shakespeare, Hamlet, 4. Akt, 5. Szene („wo die arme Ophelia in ihrer Verwirrung, verursacht durch den unglücklichen M o r d ihres Vaters, hervortritt und in der Phantasie unzusammenhängende Bruchstücke von alten Volksliedern singt, unter andern auch"): „And will he not come again? And will he not come again? O no! he is dead! go to thy deathbed! H e never will come again!" Orelli II, 242 f. wird dies christologisch umformuliert, in den Fußnoten auch auf englisch („Welch' eine Seligkeit, daß seine Freunde nach diesen so ausdrücklichen Versicherangen bei seinem T o d e wohl hätten singen mögen"): „And will he not c o m e again? And will he not come again? Yes, though he be dead, he w o n ' t long be dead, And surely he'11 come again!" Sowie („Und welch' eine Seligkeit, daß wir mit nicht weniger Zuverlässigkeit singen können"): „And will he not c o m e again? And will he not come again? O yes! H e was dead, but arose f r o m the dead, And as surely will come again! And as surely will come again!" 4) In den T e x t sind ferner fünf Anmerkungen eingeschoben: drei kurze Erläuterungen (Orelli II, 235 u n d 239), ferner eine längere, die über ein wiederholtes D u r c h denken jenes Gedankenexperiments berichtet (Orelli II, 234), sowie eine kürzere, in der plötzlich v o n Lavater in dritter Person die R e d e ist und in der auch noch einmal eine englische W e n d u n g in Klammern wiedergegeben ist: Orelli II, 236: „Dieselben Gedanken [bezogen auf den Satz: „Wie Einer gegen Christus gesinnt ist, so wird er gegen alles Andere gesinnt sein"] fand ich nachher bei andern, ich glaube, in Lavater's und N e w t o n ' s Schriften. Z u der Zeit, w o sie mir kamen, waren sie gewiß keine Erinnerung." Ein Nebeneinander von eingeschobenen Anmerkungen anderer H a n d und Lavaters eigenen Bemerkungen findet sich auch sonst gelegentlich, z.B. Orelli V, 12f.15f.23f. usw. (vgl. Anm. 172). Aber auch die Möglichkeit, daß Lavater von sich selbst in der dritten Person spricht, ist nicht völlig auszuschließen. - Alles in allem ein vertrackter Überlieferungsbefund, auf den ich hier, ohne Lösungsversuche, nur aufmerksam machen kann. Schließlich sei noch beispielsweise auf das V o r k o m m e n englischer Ü b e r setzungen aus Lavaters Originalmanuskripten verwiesen: Goedeke 55, Aphorisms on Man, translated f r o m the original manuscript o f j . C . Lavater [by J. H . Fuessli], L o n d o n 1788, 3. Aufl. Dublin 1790, 5. Aufl. Newburyport 1793. 40

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Orelli II, 233: „In einem Augenblicke stillen, tiefen Nachdenkens fiel ich einst auf den Gedanken, mir die Idee (Vorstellung, Begriff [Erläuterung v. Orelli?]) v o n Christus aus der Zahl der Wesenheiten oder aus der R e i h e meiner Vorstellungen zu abstrahiren; sogleich war es mir, als ob Alles u m mich verschwände und ich ganz allein in ein ödes Chaos oder vielmehr in ein vollkommenes Vac u u m (Leerheit [Erläuterung von Orelli?]) entrückt wäre, ohne mich an irgendetwas halten oder anlehnen zu können und ohne einige Aussicht einer R e t t u n g aus dieser entsetzlichen Lage [... ]." Jean Paul [F. Richter], Siebenkäs, l . A u f l . 1795, 8.Kap., 1.Blumenstück. Orelli II, 233: „So schauervoll dieser Augenblick war, so freute er mich nachher; denn er überzeugte mich, wie sehr mir Christus wirklich und buchstäblich Alles in Allem wäre und es j e d e m Menschen sein kann. Ich spürte sogar deutlich die Vorstellung v o n einer Gottheit, die mit ihm mir gänzlich w e g g e n o m m e n ist; ich sah ein, wie sehr es wirklich nur durch ihn und in ihm ist, daß wir uns einen

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Begriff v o n Gott machen können nach dem, was er selbst sagt: ,Niemand kann zum Vater k o m m e n , als nur durch mich' und: ,Ich und der Vater sind eins.' Ich fühlte dieses in diesem Augenblicke auf eine ganz ausgezeichnete Weise. D e n 21. N o v e m b e r 1786." 240: „Ich weiß für mich noch keine kürzere, einfachere, mehr umfassende, alle Schwierigkeiten hebende, und ich meine (nach H e b r l . l ) zugleich authentischere Definition von Christus, als: ,das uns (Christen) zugewandte Angesicht Gottes' oder, w e n n man das Bild noch mehr wegheben will, ,die uns zugewendete Seite der Gottheit.'" 43

Orelli II, 234: „Ich habe diese Gedanken nachher hundert Mal und in sehr verschiedenen M o m e n t e n wieder durchdacht, und es ist mir leicht begreiflich, daß sie J e d e m als fanatisch (schwärmerisch [Erläuterung von Orelli?]) v o r k o m m e n müssen, bei welchem Christus nicht so ganz in sein Gedankensystem verwebt und an alles Andere geknüpft ist, wie bei mir; bei welchem die Idee v o n Christus, dem gekreuzigten Nazarener, nicht der erste Hauptpunkt ist, von welchem er wenigstens bei allen seinen Vorstellungen und Ueberzeugungen in Absicht auf die Religion ausgeht." „Besonders ist mir das äußerst klar, daß alle unsere m e taphysischen Vorstellungen v o n einer Gottheit bloße Abstraktionen, Negationen oder auch, w e n n man will, Zusammensetzungen, Complexionen (7tÄ.T|gd)a6l5) sind" (Forts, wie oben).

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Orelli II, 235. Orelli II, 239: „So entsetzlich weit, als ich beinahe vierzig Jahre lang von Gott verirrt war, so kann ich mich doch keines Zeitpunktes in meinem Leben erinnern, w o ich nicht v o n der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt gewesen wäre; allein, sie gefühlt haben, da ist ein Unterschied, wie zwischen kaltem Wasser u n d siedendem Wasser. Im Dezember 1788." 23.8.1784-16.10.1784: Philosophische Sätze und Betrachtungen, Z B Z FA Lav. Ms. 56 b l - b 4 . Sept. 1785: Entwurf einiger Gedanken zu einem [sie! nicht .meinem' wie Weigelt, TRE 20, 508] Religionsbegriff. Z B Z FA Lav. Ms. 56,4 und 4a. 1786: Magnetismus und Christentum, Z B Z FA Lav. Ms. 48,3.3a. Orelli IV, 2 3 3 282 (von Orelli offenbar so zusammengestellt). 1787: „Ideal meiner Philosophie" (am 6.4.1787 an Jacobi geschickt, vgl. Maier [s. Anm. 7], 248f.). 1787/88: Vermischte unphysiognomische Regeln zur Selbst- und Menschenkenntniß. 1787. Goedeke 55. 23.11.1788: Mein Glaubensbekenntniß oder Grundideen meiner Religion (s. A n m . 4). 1788: Idee der reinsten Mystik im besten Sinne des Worts. Z B Z FA Lav. Ms. 56c. 1789: Einigegehaune und ungehaune Steine zum Bau meiner Theologie. Z B Z FA Lav. Ms. 81 & a-d). 1789: Das menschliche Herz. Sechs Gesänge. Auch in Hand-Bibl. I 1790, Goedeke 64. 1791: Philosophische Unterhaltungen von einem französischen und schweizerischen Verfasser. Enthält: „Der Blinde v o m Berg. Philosophische Unterhaltungen" und „Drey Gespraeche über Wahrheit und Irrthum Seyn und Schein." Goedeke 65. Orelli II, 12-87. Nach Meier (s. Anm. 7), 249, schon seit Ende 1787 fertig. In diese Zeit fallt auch der Briefwechsel mit Friedrich Heinrich Jacobi, vgl. Maier (s. Anm. 7), 241-246. Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 258.

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Aussichten III (s. A n m . 10), 16. Brief (30.4.1772). Orelli V, 227 f.: „Es ist mir zur

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Zeit noch das seltsamste Räthsel und der handgreiflichste Beweis von dem unphilosophischen Geiste unsers Jahrhunderts, daß es noch einen Menschen, der gemeinen Menschenverstand hat, auf Erden geben kann, der die Wahrheit und untriegliche Zuverläßigkeit der physiognomischen Sprache in Zweifel ziehen darf [ . . . ] . Alles in der Natur, jede Frucht, das geringste Blatt hat seine Physiognomie, seine Natursprache — die von jedem geöffneten Auge verstanden wird; Nur der lebendige, vernünftige, moralische Mensch, nur das Ebenbild Gottes soll sie nicht haben? Nur in ihm soll keine natürliche Verbindung und Uebereinstimmung des Aeussern und Innern seyn? Welch abgeschmackte Philosophie?" Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 26 (Eintrag vom 15.11.1772): „Es gehört mit zu der kränkelnden Auslegungsart unsers in mancher Absicht so sehr wie möglich unphilosophischen Jahrhunderts, daß wir Sprachkunst und Gelehrsamkeit aufbieten und verschwenden, um die allgemeinsten Wahrheiten, darum, weil sie etwa von Christo oder den Aposteln gelegentlich auf einen besondern Fall angewendet worden sind, auf einen Localsinn einzuschränken, und diejenigen mit einer Art von Verachtung zu belegen, die eine allgemeine Wahrheit deswegen nicht zu einer Localwahrheit erniedrigen, weil sie auf einen besondern Fall angewendet ist!!!!" Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen. Eine Monatsschrift, Berlin 1790. Goedeke 62. Orelli I, 308: „Ich glaube, daß es eine beinahe epidemische Krankheit unsers philosophisch genannten Zeitalters sei, über dem Mittel den Zweck zu vergessen, oder das Mittel zum Zwecke zu machen. Ich kenne kaum eine logische philosophische moralische oder religiöse Sünde, die sich nicht unter diesen allgemeinen Begriff von Zweckvergessenheit bringen läßt" (29. 12. 1785). 49 50

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Zitiert nach Maier (s. Anm. 7), 182. Physiogn. Fragm. II 1776 (s. Anm. 19), 23. Physiogn. Fragm. IV 1778, 1. Orelli III, 308. Recl. (s. Anm. 19), 296: „Genie! tausend Mal, und wann mehr als in unserer After-Genie-Zeit weggeworfenes Wort!" Pontius Pilatus. Oder Die Bibel im Kleinen und Der Mensch im Großen. 1782/85. Goedeke 42. Orelli I, 156: „ [ . . . ] gebunden von dem Geist unsers freigeistenden Zeitalters [ . . . ] ! " Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. Auszug aus dem Tagebuch. Durchaus bloß für Freunde, [Zürich] 1793/94. Goedeke 69. Orelli II, 158: „Es gehört, meines Bedünkens, zum nicht sehr ehrenvollen Charakter unsers geist- und herzlosen Zeitalters, Alles zu verengern, zu verkleinern, auszuleeren, zu verallgemeinern und durch Verallgemeinerung zu vernichten, was große, götdiche Menschen gesagt haben, so geradezu dem Geiste Jesu und des Evangeliums entgegen." Hand.-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VII, 226 (Nov. 1792): „Zeitalter! darf ich dich bei deinem wahren Namen nennen? Bin ich ungerecht, wenn ich dich schwankend und charakterlos, wenn ich dich lichtscheu und mit Licht prahlend, Wahrheit aushängend und Wahrheit hassend, verstandsüchtig und gefühllos nenne?" Hand.-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VII, 227 (Nov. 1792): „Würde es nicht Vermessenheit sein, zu glauben, wenn man nicht durch einen Strom von Beispielen hingerissen würde, daß gerade zu der Zeit, wo beinahe von nichts, als von T o leranz gesprochen und geschrieben wird, die Intoleranz völlig wüthend ist [ . . . ]." Aussichten IV 1778 (s. Anm. 10), 189f.: „Ich kann [ . . . ] keine Gelegenheit vorbey gehen lassen, ohne meinen innersten Widerwillen an dem ununtersuchenden Absprechen unsers äusserst intoleranten ToleranzafEchirenden Zeitalters über alle Arten von Sekten zu äussern - und mit allen Stimmen, mit denen ich rufen kann,

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zu rufen! - Beurtheilt nicht, was ihr nicht versteht! Verdammt nicht, was ihr nicht geprüft habt." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 277: „Ich darf mich nicht nach dem losen Geiste des Zeitalters bequemen und v o n d e m großen Ganzen keinen Stein wegwerfen; ich finde Alles wahr, zusammenhängend und immer natürlicher, j e übernatürlicher es scheinen mag." D e r Text steht anschließend an das Zitat A n m . 69. Taschenbüchlein für Hebe Reisende 1787/1790 (s. Anm. 21). Orelli II, 286. D e r Abschnitt beginnt: „Was ich einen selbstständigen und ewigen Menschen nenne? D e n ruhig in sich existirenden und ruhig außer sich wirkenden Menschen." Nathanael. Oder die eben so gewisse, als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums. Für Nathanaele, Das ist, Für Menschen, mit geradem, gesundem, ruhigem, Truglosem Wahrheitssinne, 1786. Goedeke 50. Orelli I, 206: „Ich erwarte Stärkungen des seligsten Glaubens v o n dieser schwachen Bemühung, und hoffe Gotteslobpreisungen Vieler, die stark genug sind, sich nicht irre machen zu lassen durch den Weltgeist unsers Zeitalters, der damit umgeht, den Herrn der Herrlichkeit, so viel an ihm liegt, v o n N e u e m zu kreuzigen." „Mein T r a u m v o n den Heiligen Felix und Regula. Eine öffentliche Vorlesung, gehalten am Fest-Tage dieser ersten Märtyrer zu Zürich, den 11. September 1797", in: Nachgelassene Schriften, hg. v. Georg Geßner, 1801 ff., II, 221-284. Goedeke 91, II. Orelli V, 91: „Es sind ihrer Etliche, welche die Wissenschaft höher achten, als die f r o m m e Tugend; Einige, die in der Würdigung, Erklärung u n d A n w e n d u n g der göttlichen Offenbarungen nicht Jesu Christo und seinen Aposteln folgen, sondern dem Zeitgeiste fröhnen, dem zu widersprechen sie zu furchtsam sind [ . . . ] . " Antworten (s. Anm. 48). Orelli I, 314: „Ich kann es nicht billigen, mein Freund!, daß Sie, ich denke und m u ß sagen, bloß dem Geiste unsers Zeitalters zu lieb, bloß aus Furcht, von den Weltgeistern verlacht zu werden, das Manna in der Wüste, die W o l k e n - und Feuersäule, den Durchzug durch das rothe Meer, bloß nach alltäglichen Naturgesetzen, als Naturphänomene erklären." Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 263: „So entschlossen ich indeß für mich selbst und so unzweideutig ich in meinen Schriften sein m u ß , das Allerstärkste, Revoltanteste, Zeitwidrigste zu sagen, so unzwingsam tolerant und freilassend bin ich in meinem Umgange. Da, w o ich Zeuge sein m u ß , bin ich's. Außer d e m Falle und in allen persönlichen Verhältnissen hüte ich mich sehr, die freie Denkungsart eines Menschen nach der meinigen zu lenken." Mein Traum (s. A n m . 57). Orelli V, 102. Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 73 (Eintragung v o m 1.1.1772 [lies: 1773]): „Ein interessanteres Geschichtbuch giebts in der Welt nicht, als die Bibel! welche Charakter — immer in Handlungen! immer so menschlich, so wahr, so wahr in tugendhaften u n d lasterhaften Situationen!" Mein Traum (s. A n m . 57). Orelli V, 104f.: „Dein Leben unter den Sterblichen sei ein helles Zeugniß des unsterblichen Lebens Christi im H i m m e l und in den Herzen der Gläubigen, das die Zweifel der Zweifelnden zerstreue oder löse! Verkündige ja keinen andern Christus, als den ersten Märtyrer und Apostel, diesen historischen Christus nur, der er war und immer sich gleich bleibt in allen Jahrhunderten; [Forts, s.o.], der, o wie sehr, von dem einfachen Christus des alten Evangeliums abweicht [ . . . ] . " Vgl. den eindrücklichen Text: „Fragment eines Schreibens an S über den Ver-

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fall des Christentums und die ächte Schrifttheologie" (1776), in: Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahre 1763-1783, III 1785, 117-190. Goedeke 47, vgl. auch Goedeke 37 b. Synodalrede gegen Deismus und kirchlichen Rationalismus (4.5.1779), Z B Z FA Lav. Ms. 36, 6. Staehelin III, 12: „Ich mißbillige Auflösung einzeler [sie!] besonderer Zweifel und Einwendungen gar nicht; allein die glüklichsten Beantwortungen dieser Art, sie benehmen höchstens die Zweifel, aber sie geben keine positife Gewißheit, sie mindern Unruhe, aber sie wirken keine selbstständige Ruhe; sie bezahlen, wenn ich so sagen darf, einige verfolgende Schulden, übrigens lassen sie vielleicht in drükender Armuth. Also, Brüder, mehr aufgebaut als zerstört, mehr die eine ganze Wahrheit ins helleste Licht dargestellt als die Sophistereyen gegen einzelne losgerissene Bruchstücke theilweise widerlegt!"

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Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und). Orelli IV, 234: „Es ist schlechterdings nichts, nicht das Allergeringste, dessen Dasein und Natur wir ganz begreifen können. Wir kennen nur einige Wirkungen der Dinge auf andere - höchstens nur die Verhältnisse der Dinge zu uns." Forts, wie oben. , J e unbegreiflicher eine Sache ist, das heißt: j e weniger das Verhältniß von Ursache und Wirkung angegeben werden kann, desto genauer, sorgfältiger muß das Dasein und die zuverlässige Gewißheit davon geprüft werden."

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Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), xix: „ [ . . . ] daß unser Geist bezeuget, [ . . . ]," Forts, wie oben. Aussichten I 1768 (s. Anm. 10), 3. Brief. Orelli V, 120: „Ich nenne alle mir bekannten metaphysischen und moralischen Beweise bloß Vermuthungsgründe, weil keiner für sich allein vermögend wäre, wenigstens mich, dergestalt von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen, daß mir gar kein Zweifel mehr übrig sein könnte, daß mir das Gegentheil als schlechterdings unmöglich einleuchtete, welches doch sein müßte, wofern irgend ein besonderer Beweis eine vollkommene Demonstration genannt zu werden verdiente." 121: „[... ] bei allen diesen Hindernissen, sage ich, können Sie hoffen, mein Freund! daß bei so bewandten Umständen jemals eine über alle Besorgniß des Irrthums erhabene, selbständige Demonstration möglich sei? Und wäre es vielleicht nicht besser, wenn wir auf eine solche für ein und alle Mal Verzicht thäten?"

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Aussichten I 1768 (s. Anm. 10), 3.Brief. Orelli V, 122: „Doch gesetzt auch, daß sich die Gewißheit unsers künftigen ewigen Lebens durch philosophische Schlüsse aufs Strengste demonstriren ließe, so würde das freilich eine unendlich wichtige Entdeckung sein. Aber für wen? Für Einen aus Millionen! Abermal unschätzbar für diesen Einen. Allein, wäre nicht vielmehr zu wünschen, daß es, wenn wir wirklich Alle ohne Aufhören leben sollen, Beweise für diese Unsterblichkeit gäbe, wobei sich Alle, vom Philosophen an bis zum Bauer am Pfluge, vernünftiger Weise vollkommen beruhigen könnten?" Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 277: „Ich darf keine Sylbe vom Evangelium wegräsonniren. Kein Wort, kein sogenanntes Wunder den inviolablen Urkunden zurückgeben." Forts, des Zitats s. Anm. 55. Diese Distinktion ist indirekt der Hauptzielsetzung Lavaters zu entnehmen, „die Herzen (von der croyance zur foi) von der Verstandesüberzeugung zum Herzensglauben zu leiten", in: Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. bei und mit Anm. 171). Orelli V, 69. Vgl. Anm. 177. Antworten 1790 (s. Anm. 48). Orelli I, 299 (= Orelli IV, 258f.): „Entweder will ich nichts vom Evangelium, oder ich will es so, wie es sich mir gibt, ohne daß

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ich etwas dazu, noch davon thue. Vernünftigeres und den tiefsten Bedürfnissen der Menschheit Angemesseneres habe ich noch nichts gefunden, als das Evangelium, das ich in Gottes N a m e n so verstehe wie ein ehrlicher M a n n einen ehrlichen M a n n versteht, o h n e rechts und links hinzuhorchen, was Vorwelt, Mitwelt und Nachwelt dazu sage." Änacharsis 1795 (s. Anm.24). Orelli II, 152f.: „Insofern ist auch die Vernunft mein höchstes Gut und das Alles entscheidende Tribunal, ja nur der VernunftGott ist mein Gott. Erschrecken Sie nicht ob diesem gewagten und leicht m i ß verstehbaren Ausdruck: Wahrheitsliebe mit möglichster Ueberlegung ist mein Höchstes, ich dürfte sagen: der Gott aller Götter, mein s u m m u m b o n u m . Aber dieses mein Höchstes, diese Autorität, v o n welcher alle Gottheiten allein ihre Autoritäten her haben; diese nichts als wahrheitsliebende, möglichste Überlegung gibt mir einen Gott, wie der Gott und Vater Jesu Christi ist [ . . . ] . " lKor2,4. Vgl. die Unterscheidung im Blick auf das Genie, Physiogn. Fragm. IV 1778 (s. Anm. 19), 1, 10. Orelli III, 309: „Der Effekt ist da, ist gewiß, ist spürbar; aber unverkennbar, undenkbar die Ursache." Änacharsis 1795 (s. Anm. 24). Orelli II, 134: „Mir ist, ich sehe alle Tage die allerälteste Geschichte, Fabel oder Sinnbildlichkeit, wie man sie nennen will (mir ist sie Geschichte), sich wiederholen." Es folgt das Zitat von Gen 3 , 1 - 7 mit der lakonischen Nachbemerkung: „Frankreichs Revolutionsgeschichte." S. auch die folgende Anm. Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VI, 300 (5.11.1792): „Mir ist die Bibel [ . . . ] eine unerschöpfliche Grube aller möglichen Belehrungen und Darstellungen. Ich finde alle Zeiten, Menschengeschlechter, Charakter, Begebenheiten, — Alles in ihr. Mir ist nichts alt in der Bibel, und nichts, auch das Neueste, nicht neu in unsern Zeiten. Ich sehe Adam und Eva u m den Baum der Erkenntniß immer h e r u m schleichen, anschauen, sich daran weiden; höre die Schlange täglich u n d besonders heutzutage sagen: ,Ihr werdet wie Götter und so aufgeklärt sein, daß Ihr wissen werdet, was gut und bös ist.'" 301: „Ich sehe in dem, was vor Jahrtausenden geschah, das, was in unsern gegenwärtigen Zeiten geschieht, u n d b e w u n dere u n d bemideide die Blindheit der Menschen, die mit sehenden Augen nichts sehen." 303: „So [ . . . ] finde ich Alles, w o nicht dem Buchstaben, doch dem Geiste nach in der Bibel."

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Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 48: „Es empört sich die menschliche Vernunft dagegen, immer nur v o n einem vergangenen, u n d v o n einem zukünftigen, und nie von einem gegenwärtigen Gabengeber, R e t t e r und Beseliger sprechen zu hören. Es empört sich die menschliche Vernunft wider einen Glauben, der immer einen gewesenen Allmächtigen und Allgütigen preist, und v o n einem zukünftigen Alles erwartet, und der entscheidenden Beweise seiner Gewesenheit und der gewissesten Pfander seiner Z u k u n f t nicht will, nämlich Erfahrungen seiner Gegenwart." 54: „ N u r dann ist unser Glaube vernünftig, w e n n er den geglaubten Unsichtbaren zur antwortenden Sprache bringt, w e n n er zur Erfahrung k o m m t , die sagen macht: ,Ich glaube es nicht m e h r u m des Zeugnisses eines Andern willen, ich habe es selbst erfahren, daß dieser Jesus der Welt und mein Heiland ist'; denn ich sprach menschlich mit ihm und er antwortete mir göttlich u n d menschlich; ich rufte ihn als R e t t e r an, und als R e t t e r entsprach er mir."

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Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 53. Ferner: Antworten

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1790 (s. Anm. 48). Orelli I, 245 f.: ,Jeder Glaube ist Aberglaube oder Unglaube, der nicht reinlebendige Seelenkraft und Energie ist. Es ist alles nichts, bis wir etwas so glauben können daß der Glaube den Effekt des Wissens, die Bestimmungskraft des Anschauens hat" (1786). Verfall des Christenthums 1776 (s. Anm. 63), 174 f.: „Das, was man Wunder nennt, wirkt nur auf Abrahams und Nathanaele und wird gewiß den nicht überzeugen, der sich nicht überzeugen lassen will; Oder vielmehr, die wirkliche innere Ueberzeugung wird, wenn sie auch durch ein Wunder für einige Augenblicke abgewonnen war, sogleich wieder unterdrückt, und das Herz, das einmal nicht glauben will, wird sich allemal schnell genug davon wegzuwenden und sich hart genug dagegen zu machen wissen." Antworten 1785 (s. Anm. 48). Orelli 1,304: „Das Wort Wunder hat alles verdorben. Nothwendig war es und nothwendig bleibt es, wie das Wort Talent und Genie; aber man hat die bloß relative Bedeutung desselben nicht genug beherzigt." Vermischte unphysiognomische Regeln 1787 (s. Anm. 23). Orelli I, 372. Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 278 (nach Eintrag in das Tagebuch v. 2.6.1773 in einem Brief an Wolke). Forts. S. 278 f.: „Denn alle Schwierigkeiten, mit denen das Christenthum umgeben ist, treffen den Deismus um kein Haar weniger. Wenn die Gottheit nicht durch Christum geredet, nicht durch ihn gehandelt hat; so ist nie keine Gottheit gewesen, die geredet oder gehandelt hat. Wenn Christus - Hazard ist; so ist es der Mensch, so ist es die ganze Welt auch; wenn Christus zu seinen Thaten keinen Gott bedarf, so bedarf die Natur auch keinen. Ich wiederhole es; der Atheismus wird - und muß allgemein werden, und dann wird Gott wieder - handeln; wieder zu seinem Werke stehen; wieder sagen müssen: hier bin ich. Dann wird der einzige Glaubensartikel der Schrift auch wieder der einzige Glaubensartikel der Theologie werden — Gott ist in Christo denen, die ihn suchen, ein Belohner." In einem Brief Lavaters an Crugot vom 21.9.1773, Z B Z FA Lav. Ms. 556 Nr. 80, zitiert nach Weigelt (s. Anm. 6), 178. Grimm, Deutsches Wörterbuch IV, 1,2: 3396-3450. Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh) III, 279-309. Im Genie-Artikel des HWPh bleibt Lavater unerwähnt. Anden J . Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus; II: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, 1985. Die mehrfachen Bezugnahmen auf Lavater in Bd. I decken sich jedoch nicht mit dem, was ich im folgenden als fundamental-religiöse Ausprägung des Geniebegrifls hervorhebe. Verfall des Christenthums 1776 (s. Anm. 63), 177: , Jedem soll geschehen nach seinem Glauben, seinem Drange, seiner Ahndung. - Klopstock trug die Messiade, Colomb - Amerika in seiner Brust, eh' der Eine das Wort Messias, der Andere Ozean höhrte." Z. B. Aussichten I 1768 (s. Anm. 10), 8. Brief. Orelli V, 223: „Newton wird vermuthlich immer ein Genie im Himmel bleiben, wie er eines auf Erden war." Zwölf Monatsblätter für Freunde. Für das Jahr 1794, [Zürich 1794]. Goedeke 73. Orelli II, 122. Aussichten I 1768 (s. Anm. 10), 7. Brief. Orelli V, 180. Physiogn. Fragm. IV 1778 (s. Anm. 19), 1,10. Orelli III, 304-310. Recl. 292-308. Ich möchte freilich nicht unbedingt behaupten, daß „Genie des Herzens" eine Prägung Lavaters sei (wie dies Mary Lavater-Sloman in ihrer so betitelten Bio-

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graphie, neue, erweiterte Auflage 1939, 94, anzunehmen scheint) und allein bei ihm begegne. Auffallenderweise ist diese Wendung, sofern ich nichts übersehen habe, bei Grimm (s. Anm. 84) nicht vermerkt, obwohl dort wiederholt auf Lavater verwiesen wird. Der eindrücklichste Beleg im 1. Gesang über das menschliche Herz (2.2.1789 der Königin Charlotte von Großbritannien gewidmet), erstmals gedruckt im ersten Bändchen der Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Staehelin III, 251: „Genie des Herzens! Dir ist kein Genie gleich! Du bist, so schwach Du bist, ein Held durch Liebe!" Es findet sich auch die Kombination „Genie des Geistes und Herzens" in Nathanaél 1786 (s. Anm. 56). Orelli I, 208: .Jedes Genie des Geistes und Herzens läuft allemal dem gemeinen Geist und Herzen einige hundert Schritte, manchmal einige Jahrhunderte, vor, und erblickt in einem Nichts, was wenigstens Andern das zu sein scheint, eine Welt." „Geist und Herz" wird fast zu einem Hendiadyoin, Hand-Bibl.; s. Anm. 2). Orelli VII, 220. So auch „Genie und Herz", z. B. Eine Predigt an Schriftsteller und zwar an Kritiker (in Goedeke nicht nachweisbar, o.J.) Orelli II, 261: „ [ . . . ] diese scharfzahnigen Benager der Werke des Genie's und des Herzens." Anacharsis 1795 (s. Anm. 24). Orelli II, 142: „Alles verwelkt, was Imagination allein zeugte; nichts, was Herz und Genie zeugten." Vgl. auch die Reihung „Genie, Gefühl und Herz", in: Vermächtniß 1796 (s. Anm. 22). Goedeke 82. Orelli VIII, 293: „Ohne Genie, Gefühl und Herz gibt es keine wahre, tief und dauerhaft wirkende Beredsamkeit. Wohlredenheit (Eloquenz) ist das Werk des Talentes; Beredsamkeit (Persuasión) das Werk genialischer Vernunft und Herzlichkeit." Zu „Genie ohne Herz"s. Anm. 96. Vgl. auch die physiognomische Beschreibung des Wandsbecker Boten Matthias Claudius (diesen Hinweis verdanke ich Albrecht Beutel): „Weder Schwachkopf noch Scharfkopf. Gesunder, schlichtguter . . . aber durchaus nicht fortdringender, reihender, gliedernder Verstand. Hell und richtig und rein wird er sehen und richten, was vor ihn kömmt, den Reichen als den Armen, den Armen als den Reichen; niemand zulieb und zuleid. Kurz! schlecht und recht! einfältig und gerade! Genie des Wahrheitssinnes! Genie des Herzens — Armut und Zufriedenheit!" In: Matthias Claudius, Sämtliche Werke, hg. v. J . Perfahl, 6 1987,1015 Anm. 116. All das weist daraufhin, daß die Wortverbindung „Genie des Herzens" für Lavater besonders charakteristisch ist. 92 93 94

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Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 269. Physiogn. Fragm. IV 1778 (s. Anm. 19), 1,10. Orelli III, 309. Ebd.: „ [ . . . ] ich spreche von unmittelbarem Gottesgefuhl, nicht von Theologie; vom weltüberwindenden Glauben an die Zukunft, nicht von einem symbolischen, auswendig gelernten Glaubensbekenntnisse [ . . . ] . Die Göttlichkeit aller göttlichen Dinge muß gefühlt werden." Vgl. auch den Begriff „Herzensreligion", Anacharsis 1795 (s. Anm.24). Orelli II, 133: „Herzensreligion läßt sich nie aus dem Herzen verdrängen. Imaginationsreligion kann durch stärkere Imaginationen, oder durch Beredungen, oder durch Leidenschaften verdrängt werden; Herzensreligion ist unzerstörbar, wie das Herz; Herzensreligion quillt aus einem uneingepfropften, tiefen, von der Natur unabtrennbaren Gottesbedürfniß." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 270. Physiogn. Fragm. II 1777 (s. Anm. 19), 9,6. Orelli III, 256. Recl. 242. - Friedrich II. von Preußen, den Lavater auf seiner Bildungsreise 1763 zweimal in Berlin sah, ist für ihn ein problematisches Genie ohne Herz. So in Lavaters Brief an Heinrich Heß vom 4./11.8.1763, Z B Z FA Lav. Ms. 565 Nr. 150, zitiert nach H. Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991,

11 : „Sein Genie, seine Politik, sfeine] Geschäftigkeit verdienen die B e w u n d e r u n g und in so weit auch den Dank s[eine]r Unterthanen. Indeßen ist es mir sehr leid, daß ich zuviel Anecdoten v o n s[einem] Geiz, s[eine]r Niederträchtigkeit, s[eine]r Irreligiosität weiß, u m mich überreden zu können, daß er ein menschliches Herz habe." 97

Magnetismus 1786 (s. A n m . 2 5 und ). Orelli IV, 265: „Es gibt in allen Klassen der menschlichen Erkenntnißarten, Empfindungsarten, Wirkungsarten Gemeingeister u n d Virtuosen und Helden. W i e sich der Held zum Furchtsamen, Gluck zum Kruggeiger, C a m p e zu Henning, Klopstock zu Gottsched verhält, so der Christ zum gemeinen, guten Manne. Je m e h r Einer Sinn hat fur Leibnitz, desto treuerer Leibnitzianer; j e mehr Sinn für Pergolesi, desto musikalischer; j e mehr Sinn für Christus, desto mehr Christ. Da läßt sich n u n freilich nichts erzwingen u n d erkünsteln. Liebe ist das Genie des Genies, und Sinn für etwas ist die Seele der Liebe."

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Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 252. Forts, des obigen Zitats: „ W e r Gottes Liebe in Christo glaubt, der und der allein kann heben, wie Christus geliebet hat; oder noch eigentlicher, in d e m kann Gott lieben, wie er in Christo gehebet hat. Alle Liebe ist aus Gott, so eigentlich, so unmittelbar aus Gott, wie Christus aus i h m ist - W e r glaubt, daß Gott in Christo die Liebe sey, ist Liebe, und in der Liebe selig. Alle Seligkeit ist in der Liebe, und außer der Liebe ist keine Seligkeit. Außer Gott ist keine Seligkeit; so wie außer Gott keine Liebe ist. Jesus Christus ist das C e n t r u m der Liebe Gottes. W e r auf dieses sein Auge richtet, v o n d e m ergriffen wird, der wird ein Stral der göttlichen Liebe . . . "

99 Anacharsis 1795 (s. Anm. 24). Orelli II, 141. 100 Vermächtniß 1796 (s. Anm. 22). Orelli VIII, 292. 101 Anacharsis 1795 (s. Anm. 24). Orelli II, 143: „ D o c h ist dagegen auch wahr, daß gerade jetzt in Deutschland entschieden genialische Schriftsteller so gemein schreiben, daß sich alle Leser ins O h r sagen: , W e n n es nicht von einem genialischen Kopfe herrührte, so würde man es, wenige Stellen abgerechnet, w o der Originalgeist durch Wetter leuchtet, für sehr ordinäres M e ß g u t halten.'" 102 Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VI, 221 (1792): „Nicht die Köpfe der Menschen sind vereinbar, mein Lieber! nur die Herzen. - Gott scheint ungleiche Religionsarten, wie ungleiche Gesichter zu wollen. D o c h ist ein schönes, reguläres Angesicht lieblicher, als ein verzogenes, und eine einfache Kindesreligion genußreicher, als eine knechtisch schwerfällige." 228 (1792): „Keiner soll des Andern ganzen Glauben, Jeder soll einen eigenen individuellen Glauben, wie ein eigenes Gesicht, haben." 103 Glaubensbekenntniß\788 (s. Anm. 4). Orelli II, 265: „Der hat die wahrste Religion und den wahrsten Gott, der das einfachst-möglichste und allgenugsamste, immer anwendbare [Ms. applikable], mithin geistigste, inwohnendste M e d i u m des frohesten Selbstgenusses in seiner Gewalt hat. [... ] Das kräftigste, reichste, genießbarste, genußverschaffendste, immer gegenwärtigste, nie erschöpfliche Eins ist allein der wahre Gott des wahrhaft Religiösen." 104 Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 12: „ [ . . . ] ihn [Christus] nicht genießen, heißt: keinen reellen Nutzen von ihm, als ihm haben; keinen N u t z e n von i h m haben, heißt: ihn nicht haben." 105 Taschenbüchlein für Liebe Reisende (s. Anm. 21). Orelli II, 289 (1787). 106 Hand-Bibl. 1791? (s. Anm. 2). Orelli V, 278. Unmittelbar vor dem oben Zitierten: „ G e n u ß ist der Z w e c k der Tugend; oder was sonst? Genuß der Z w e c k der G e -

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wissenhaftigkeit und Religion; oder was sonst? W e n n die Sünde nichts als Genuß verschaffen würde, w e n n sie nicht Genuß rauben, zum Genuß unfähig machen würde, — wer wäre so thöricht, sie zu hassen, und so barbarisch, sie zu verbieten?" 107 Ebd. 279: „In nichts, was nur einen Geruch von sogenanntem Religionsstreit zu haben scheinen könnte, lasse ich mich j e ein. Also sind Sie sicher, daß ich kein W o r t des Widerspruchs oder der Bestreitung Ihres Glaubenssystems sagen werde. Religion ist eine innere Geistes- und Herzenssache zwischen dem, das sich endlich nennt, u n d dem, was das Endliche unendlich nennt; ein geistiger G e n u ß unsichtbarer und ewiger Dinge, die nicht zu der wandelbaren P h ä n o m e n e n - W e l t gehören." 108 Ebd. 279 f. 109 Antworten (s. Anm.48). Darin Orelli I, 2-253: „Ein W o r t über Mystizismus" (1787). 2: „Daß der reine Mystizismus irgend eine Art reellen, geistigen Genusses verschafft, weiß ich. Der Mensch kann nichts ehren, lieben, suchen, was nicht irgend eine Art Genusses verschafft. Alle Operationen unserer geistigen Natur, sie mögen auf Einfachheit oder Mannigfaltigkeit zielen, gewähren uns Vergnügen. Je mehr Abstraktion dabei ist, desto mehr geistigen Genuß gewähren sie uns." HandBibl. (s. Anm. 2). Orelli VI, 239: „Mystizismus gewährt gewiß ächt mystischen Seelen unaussprechlichen Genuß, und es ist Thorheit, dagegen zu streiten. ,Nie kämpft ächter Genuß entgegen ächtem Genüsse.' Aber gestehen müssen wir, daß das evangelisch-apostolische Christenthum mehr auf historischen Gründen, als denen des Mystizismus beruht. Menschlicher, fester, analoger d e m Gemeinsinn und geistigsten Bedürfnissen zugleich scheint das apostolische Christenthum." 110 Antworten 1787 (s. A n m . 4 8 ) . Orelli I, 247f. Forts, des obigen Zitats: „Wäre es i h m möglich, seinen Z w e c k ganz zu erreichen, sein gesuchtes pures Eins würde zur Null werden; denn, wie gesagt, Ein Eins ohne alle Zerlegbarkeit, Mannigfaltigkeit ist für eine Organisation unserer Art schlechterdings undenkbar und ungenießbar. Es hat keine Berührungspunkte für uns; wir haben keine für das bloße Eins, als bloßes Eins." 248: „Der Mystizismus, dessen Wesen ist: bloße Vereinfachung und Vernichtigung alles Kreatürlichen, kann weder mit der N a t u r der Dinge, noch mit den Lehren, Erfahrungen, Darstellungsarten j e n e r gottvertrauten Männer, von denen die Tradition spricht, bestehen." 111 Ebd. 249. Forts, des obigen Zitats: „ [ . . . ] Figürlichkeit, bewegsame Thätigkeit; ein n o n plus ultra von Unkörperlichkeit, Unsinnlichkeit, Unwahrnehmbarkeit [...]." 112 Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 269. 113 Im Anschluß an das Zitat in Anm. 111. Forts, des obigen Zitats Orelli I, 249: „ [ . . . ] ist Einer, der todt war, und von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt; ist ein G e kreuzigter, der nach seiner Auferstehung sich sehen, hören, betasten ließ. Dieser Menschensohn erscheint als Menschensohn den Gläubigsten seiner Verehrer. Er ist so persönlich, so herrlich, mithin so sinnlich wahrnehmbar, wie möglich. So kreatürlich, wie möglich, so sehr er sich über Alles, was Natur heißt, durch Kraft, Energie u n d Lebensflille erhebt." 250: „Gott, welch' eine andere Sprache, als die der Mystiker! welch' ein anderer Menschengott, der Menschensohn Christus, der nämlich der Apostel, als der sublimirte, abstrakte, unhistorische, völlig u n thätig quietistische Lichtgott der Mystiker, den ich nota bene gar nicht verwerfe, (denn Alles, was reellen G e n u ß gewährt, ist mir respektabel), den ich aber nicht für den Bibelgott, den Christus des Evangeliums halte. Die mystischen Zustände halte ich für deliziöse, psychologische Erfahrungen, für lieblich-geistige Selbst-

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genüsse, sowie ich die Genüsse des sinnlichen Menschen für wahre, obgleich rohere, niedrige Genüsse halte." Antworten 1790 (s. Anm.48). Orelli I, 322: Der Boshafte „lebt im krassesten, Menschheit verhöhnenden Egoismus; er ist allein, Alles ist nur für ihn; er lebt und schwebt in nichts, als in egoistischer Herrschsucht über Andere; er allein will besitzen, genießen, und zwar auf Unkosten Anderer, denen er jeden Genuß versagen oder rauben möchte." 324: „Alles und Alles reducirt sich mir auf Selbstverleugnung und Egoismus." Taschenbüchleinfiir Liebe Reisende 1787 (s. Anm.21). Orelli II, 281: „ [ . . . ] die Reisen der meisten Sterblichen sind Wallfahrten des Egoismus zum Egoismus. [... ] Der Egoist genießt sein Ich, nicht sich. [... ] Wie der Egoismus zunimmt, so nimmt der Selbstgenuß ab; wie der Egoismus abnimmt, so nimmt der Selbstgenuß zu." Als Ursünde kann Lavater freilich ebenfalls Trägheit und Unglaube angeben. Vermischte unphysiognomische Regeln 1787 (s. Anm. 23). Orelli I, 359: „Wenn du mich fragst: Welches ist wohl die allgemeinste Erb- und Todsünde der menschlichen Natur? meinst du, ich werde sagen: der Stolz? oder die Wollust? oder der Leichtsinn? oder der Egoismus und die Herrschsucht? Nein, ich werde sagen: die Trägheit! Wer diese aus eigenem freiem Triebe bezwingen kann, wird alle andern bezwingen können. Auch die allerthätigsten Menschen haben keinen ärgern Feind, als die Trägheit. Diese anerkannte und unerkannte Tyrannin der Menschheit ist die unerbittlichste Feindin alles Reinen, Wahren und ganz Guten. Könnte ich diese ganz bezwingen, ich würde mit allem Andern bald fertig sein." Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 242 (Eintrag vom 10.4.1773): „Unter allen Sünden ist keine Sünde so tief vergiftet, wie der Unglaube. Unglaube ist die Sünde aller Sünden; ist das Territorium des Satans - Frommscheinender Unglaube, Unglaube der falschen Demuth gehört zu den feinsten Stratagemen des Feindes Gottes und der Wahrheit." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Bei Orelli II, 264 fehlt vor Zeile 4 v. u. und ist gemäß dem Originalmanuskript einzuschieben: „Wie die Größe der Kraft, die mich berührt, ohne mich zu drücken - desto größer meine eigene Kraft. Wie das Objekt lebendig, vielfach und einfach ist, durch dessen Medium ich mich selbst empfinde - so bin ich selbst lebendig, vielfach, einfach -Jedes Objekt, jede Kraft außer mir ist ein Du für mein Ich. J e mehr Du ich habe, die sich einigen lassen in mir — desto mehr ist mein Ich ich. Je mehr sich mein Ich als Ich in einem Objekt außer mir verliert, desto mehr genießt es sich selber." Nach der letzten Zeile auf S. 264 ist anzufügen: „Unser Ich empfindet sich nur, lebt nur, genießt sich nur durch wirkliche oder scheinbare Berührungen von außen. Wie das O b jekt, so das Subjekt, wie das, wodurch wir berührt werden oder berührt zu werden glauben, so wir selbst." Nach der 4. Zeile auf S. 265 ist einzuschieben: „Alles kommt also auf das Medium unsers Daseyns-Gefühles, unsers Selbstgenusses an." Vgl. Anm. 114: Orelli II, 281. Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 269. Forts, v. oben: „Ich, Person, muß etwas Persönliches haben! Ich, Lebendiger, einen Lebendigen! Ich, Mensch, einen Menschen, der äußerst einfach, wie ich, und unendlich lebendiger und wirksamer ist, als ich; etwas, das ich als vor mir, über mir, außer mir denken, und dennoch wie Speise und Trank mit mir vereinigen, wodurch ich meine Existenz, mein wahres Leben wie durch Speise und Trank nähren, erweitern, sichern, vervollkommnen kann." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 274: „Er [Christus] ward von ihnen als ein allgenugsames und einfaches Universalmedium des frohen Daseins

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oder des kräftigen Selbstgenusses verehrt, als ein Medium, das jedes andere M e dium aus der sichtbaren und unsichtbaren Welt, insofern es nicht von i h m beseelt, v o n i h m empfohlen ward, entweder unentbehrlich oder dem Z w e c k e des kräftigsten Daseinsgefiihles hinderlich und gefährlich erklärte." Antworten 1790 (s. Anm. 48). Orelli I, 253: „In der Schöpfung ist nichts, das d e m Menschen c o n venienter sei, als der Mensch; kein reichhaltigeres und einfacheres M e d i u m des Selbstgenusses. U n d unter allen Menschen ist, dem Evangelium zufolge, nur Einer die S u m m e v o n Allen, mithin das genießbarste und unausgenießbarste M e dium des Selbstgenusses oder der Menschengott." Taschenbüchlein für Liebe Reisende 1787 (s. Anm.21). Orelli II, 332: „ [ . . . ] das geistigste M e d i u m des geistigsten Selbstgenusses." 119 Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 268. Vgl. dazu: Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VI, 265 (1791): „Sie ärgert oder befremdet das W o r t magisch, das ich oft brauche. Mir ist es eines der unentbehrlichsten Wörter, u m schnelle, tiefe mächtige, unveranstaltbare, energische, wunderähnliche W i r k u n g e n der Begeisterung, der Concentration unserer Seelenkräfte auf Einen Punkt, scheinbare W i r k u n g auf die Ferne (actio in distans) auszudrücken." 120 Hand-Bibl. (s. Anm. 2) I 1790: „Das menschliche Herz", 6. Gesang, 1789. Staehelin III, 257. 121 Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 270. An dieser Stelle möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine Äußerung Lavaters lenken, die ich ebenfalls (vgl. Anm. 39) weder datieren noch nach einem Erstdruck oder einer handschriftlichen Aufzeichnung identifizieren, sondern nur mit Orelli II, 251 belegen kann. Es handelt sich u m eine kurze grundsätzliche Bemerkung unter der Überschrift „Christlicher Katechismus": .Jeder Katechismus soll ein kindlich brauchbarer Auszug der Bibel oder des N e u e n Testamentes sein; das Ganze desselben d e m Ganzen der Bibel oder des N e u e n Testamentes correspondent. Jesus ist die Hauptperson des N e u e n Testamentes; Alles ist Zeuge von ihm; so, so ganz sei es auch der Katechismus! Ich habe vor einigen Jahren mit Anstrengung aller meiner Kräfte einen solchen Katechismus zu machen versucht, und ich halte ihn für das beste W e r k , das ich jemals gemacht habe, und dennoch für unwürdig, gedruckt zu werden, so indiscret ich auch sonst mit meinen Schreibereien gegen das Publikum sein mag. Ich halte keine Sache für schwerer, wichtiger, nützlicher und ohne göttliche Erleuchtung unmöglicher, als einen Katechismus." HandBibl. X X I 1793, 168f. Orelli II, [251]. 122 Pontius Pilatus 1782/85 (s. Anm. 51). Orelli 1,140. Forts, des oben Zitierten: „daß man wohl vor nichts m e h r auf seiner H u t sein kann, als vor dem Hauche der Alles anschnaubenden Schwärmer wider die Schwärmerei." 123 Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 283: „ [ . . . ] w o h e r es k o m m e , daß so viele aufgeklärte Köpfe sich meiner schämen, aus Furcht für Schwärmer angesehen zu werden, ungeachtet ich glaube, behaupten zu dürfen, daß die Schwärmerey keinen unversöhnlicheren Feind habe, als mich . . . " Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 259: „Ich weiß, daß dieser Treusinn Schwärmerei heißt, aber bei wem? und wo? und wie lange noch? Herzlich leid thut es mir, w e n n u n p r ü fende Feinde der Vernunft mich an ihre Spitze stellen. Aber Keiner, nicht Einer, der eine Seite von mir gelesen und geraden Sinn hat, wird diesen R e c h t geben. Kein Mensch arbeitet vielleicht der Schwärmerei mehr entgegen, wie ich." 124 Unveränderte Fragmente (s. A n m . 18), 190f. Forts, des oben Zitierten: „ W i e oft rissen sie mich nahe an diesen schrecklichen Abgrund, aus dem keine menschli-

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che H a n d mehr erretten kann! Aber v o n früher Jugend an arbeitete die göttliche Fürsehung durch Freunde und Feinde daran - mich von diesem Abgrunde zurückzuziehen." Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 54. Orelli V, 53. Dazu 43: „ W e n n der Herr Jesus Christus nicht unser Herr, unser Schutzgott, nicht Gebeterhörer in unserm Zeitalter, nicht unserer eigenen Personen Begnadiger, Helfer, Lehrer, Führer, Begaber ist, so ist unser Glaube W a h n glauben, Schwärmerei, eitel; w e n n Zeit und R a u m uns v o n ihm trennen, so ist er überall nicht für uns [...]. Soll er für uns sein, so m u ß kein R a u m und keine Zeit ihn von uns trennen. Er selbst m u ß uns durch Wirkungen, die v o n i h m ausgehen, die sein Gepräge haben, die wir als seine Wirkungen erkennen k ö n n e n u n d die durch nichts nachgeahmt werden können, entscheidend bekannt sein, w e n n wir ihn unter seinem N a m e n als unsern Freund und Wohlthäter anpreisen wollen." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 274. Ebd. 264. Orelli erläutert „analog" durch ein vorangestelltes „gleichförmig." Hand-Bibl. (s. A n m . 2 ) . Orelli VI, 231 (1792). Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli V, 247. Vor dem obigen Zitat: „Die Glaubensintuition ist nicht ein äußerliches imaginatives Anschauen; nicht das Beschauen einer Form, eines materiellen Bildes, wie man mir tausend Mal, ganz gegen meinen Sinn, zur Last gelegt hat. Es ist [ . . . ] . " Ebd. Ebd. 247f. Forts.: „Ein Senfkorn dieses innerlich intuitiven, das ist, bildlosen Glaubens versetzt Berge von Ideen, Begierden, Sinnlichkeiten, Sünden; e n t w u r zelt die tiefsten Leidenschaften, gibt uns mit einem Mal, statt eines todten, kraftlosen Buchstaben-Gottes, einen lebendigen Gott, der Alles, was er will, im H i m mel u n d auf Erden schafft, und überreich ist für Alle, die ihn anrufen." Vgl. die briefliche Ä u ß e r u n g Lavaters gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi v o m 21.4.1787 (zitiert nach Wernle, s. Anm. 7, 273): „Gewiß scheint mir, wir haben in uns eine Kraft, die ich nicht anders als magisch nennen kann. - Alle Magie schafft, wie sie meint, aus nichts — sie realisiert Ideen zu Gestalten, gibt diesen Gestalten Solidität und Leben. Würdest du dich entsetzen, w e n n ich das eigentliche Wesen der Religion, insofern sie von Moral unterschieden ist, diese G ö t terzauberei, Engelerschaffung, Gottesrealisierung, diese Hypostasis in uns — M a gie nennen würde? So wenig H u m e zu seiner Idee von dem Dasein der Dinge außer uns ein ander W o r t finden konnte als Glaube, so kann ich für das eigentliche der Religion kein anderes finden als Magie. D e r Glaube, den Christus so sehr erregen will, so sehr der Liebe ankorporieren will . . . was ist er anders als Magie, als Allmacht, als Schöpfungskraft?" Hand-Bibl. (s. A n m . 2). Orelli V, 248. Vgl. auch 270: „Die Menschen, die u m uns sind, die Guten sowohl wie die Bösen, machen eine Gesellschaft Aerzte aus, die, o h n e es zu wissen und ohne es zu wollen, uns von uns selbst und von ihnen kurieren und uns zu einer unsterblichen Gesundheit, und zwar wider ihren Willen, hinarzneien." Als Beispiele seien folgende Texte erwähnt: Fragment eines Schreibens an S"* über den Verfall des Christenthums 1776 (s. Anm. 63). Synodalrede gegen Deismus und kirchlichen Rationalismus 1779 (s. Anm. 64). Z B Z FA Lav. Ms. 36,6. Staehelin III, 1 - 2 7 . Mein Traum von den Heiligen Felix und Regula 1797 (s. Anm. 57). Orelli V, 71-108. Vermächtniß 1796 (s. Anm. 22). Orelli VIII, 307.

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136 Hand-Bibl. (s. A n m . 2 ) . Orelli V, 270. 137 Vermächtniß 1796 (s. Anm. 22). Orelli VIII, 301. Forts, des oben Zitierten: „ [ . . . ] oder mein H a u p t salbe, daß niemand mein Fasten v o n aller Freude merken kann." 138 Antworten (s. Anm. 48). Orelli I, 298 (1779): „Ich gestehe gern, alle mir bekannten Vertheidigungen des Christenthums fehlen darin gar sehr, daß sie sich nicht bestimmte Gegner oder Zweifler vorstellen und mit diesen gerade von dem Punkte ausgehen, auf den sie ihre Erkenntnisse gefuhrt haben. Allenthalben wird, däucht mir, zu viel vorausgesetzt; allenthalben werden diesem oder j e n e m Kreise der Menschheit zu Gefällen, eine Menge erschlichener oder nicht bis zur Intuition gewisser Sätze angenommen; vielleicht aber wäre es am besten, schlechterdings nichts vorauszusetzen, keinen Freund, keinen Gegner des Christenthums, und Alles aus d e m Punkte der menschlichen Bedürfnisse herzuleiten und allein in dieser Rücksicht das Christenthum als ein vorhanden sein sollendes, genugthuendes B e friedigungsmittel der menschlichen Bedürfhisse zu prüfen." Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VII, 200: „Auch ist es zu beklagen, daß das Christenthum nicht auf die eigentlichen (non fäctices) Bedürfnisse der Menschheit gepflanzt wird. N u r als Gegenanstalt gegen menschliche Schwachheiten, als Befriedigungsmittel der B e dürfnisse, welche die Natur nicht befriedigen kann, sollte es angesehen werden." 139 Magnetismus (s. Anm. 25 u n d ). Orelli IV, 262 (1785): „ [ . . . ] jetzt schon gestehe ich geraden Weges: ,Mein System taugt nicht für das Gros der Menschen.' Das sehe ich mehr als zu gut ein, das macht mich mehr, als ich sagen kann, leiden, mich, ich darf es sagen, so menschlichen Menschen." Ebd. 281 (1785): „Ich glaube n u n [... ] so ziemlich auf Alles geantwortet zu haben, w o nicht dem B u c h staben, doch dem Geiste nach. Gar nicht in der Absicht, Dir meine Ueberzeugung beizubringen (denn ist irgend etwas nicht meine, sondern Gottes Sache, so ist es Ueberzeugung im aktiven und passiven Sinne), sondern nur Dir von meiner Ueberzeugung Rechenschaft zu geben, und Dich höchstens das noch fühlen zu machen, daß mein System, oder wie D u es heißen willst, ich mag es philosophisch oder menschlich oder biblisch betrachten, consequent ist." Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 276 f.: „Es ist kein Artikel in den Z w ö l f des christlichen Glaubens; es ist keine Bezeugung der Evangelisten und Apostel v o n Christus u n d seinem Verhältnisse zu uns, von seinem R e i c h e oder seiner beseligenden Alleinherrschaft über Alles, was ich mir unter dem N a m e n Universum denke, v o n seiner vollkommenen Menschheit und seiner allervollkommensten Gottähnlichkeit, v o n seinem K o m m e n v o m Vater in die Welt und von seinem Hingehen aus der sichtbaren Welt zum Vater, v o n seinem sichtbaren W i e d e r k o m m e n u n d seinem R i c h t e n der Lebendigen und Todten; keiner v o m Essen und T r i n k e n seines Fleisches und Blutes, von den verschiedenen Gaben des Geistes, v o m Gebet und seiner Kraft, von Christo, als dem Haupt und Bräutigam der Gemeine: es ist, sage ich, kein Punkt der apostolischen Lehre, den ich nicht konsequent, d e m ganzen System analog und konform und nach meiner Vorstellungsweise gedenkbar und mit meinen Erkenntnissen harmonisch finde. Die, welche die Aeußerung lesen, dürften nur die Probe machen, mir irgend eine Schriftlehre oder einen klaren Vernunftsatz zu nennen, welcher sich mit dieser Vorstellungsweise nicht leicht ausgleichen und in luminöse Harmonie bringen ließe." Anacharsis (s. Anm. 24). Orelli II, 150f. (1794): „Ich nahm mit einigen Freunden Lektionen bei Fichte, u m diesen scharfsinnigen M a n n zu benutzen und u m v o n der Kantischen Philosophie einen richtigen Begriff zu b e k o m m e n .

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Diese Lektionen, die ich nicht ganz verstand, schärften meinen Verstand und gaben mir Stoff zu vielem Nachdenken. Allein weder diese Vorlesungen, die das Christenthum weder wenig, noch viel berührten, noch einige Privatunterredungen, die ich sonst mit diesem außerordentlichen Manne hatte, in denen ich mich über einige meiner besondern Glaubenspunkte einließ, hatten in meinem bisherigen Glaubenssysteme (heiße es nun mystisch, oder supernaturalistisch) nicht das Geringste geändert." Magnetismus (s. Anm.25 und ). Orelli IV, 266 (1785): „ [ . . . ] mein Christenthum scheint mir die reinste, genugthuendste, zwangfreieste Philosophie [ . . . ] . " Ebd. Dazu unter Anspielung auf Gen 22,3: „Wenn wir uns Beide [Anrede an Campe] gemeinschaftlich hoch genug zu allgemeinen Gesichtspunkten erhoben, wenn wir alle Terminologie, wie Abraham, da er auf Moriah ging, seine Esel unten am Berge, stehen gelassen hätten, welche Erscheinungen der Wahrheit würden uns beseligt und vereinigt haben! Wohlverstanden, im Thale, beim Zurückkehren, hätten wir die Esel wieder ablösen und mitnehmen müssen; aber unser tête à tête hätte uns doch Beide fühlen lassen: ,Wahrheitssinn und Denkensfreiheit ist etwas mehr werth, als begrenzende, lasttragende Terminologie, und die Aussicht auf Moriah ist schöner, als die, wo wir die Esel anbanden.'" Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 6: .Jesus ist das einzige Universalmedium, das den Menschen, und zwar allen Menschen aller Zeiten und Orte, dargestellt wird und dargestellt werden soll! Mit Dem ist Alles gewonnen, ohne Den Alles verloren. Wer an dieß einzige Universalmedium, als das Göttlichste, was der Menschheit gegeben werden konnte, glaubt, an dieß sich anschließt, durch dieß sich bestimmen läßt, der hat das ewige Leben; wer dem nicht glaubt, ist unfähig der besondem Gottesgemeinschaft, des frohen Gottesgenusses und der höhern Messias-Reichsseligkeit, unfähig der dem Christusverehrer besonders verheißenen und zugedachten Glückseligkeit, das ist, einer immer fortsteigenden Veredlung und Verherrlichung seiner Natur, in der Konnexion mit dem einst gekreuzigten Nazarener Jesus!" Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), 283f. (Eintragung vom 2.6.1773): „ [ . . . ] unwillig über das Bücherlesen unsrer Jugend, das unser Auge der Natur verschlossen hatte — die doch eigentlich das Buch der Bücher, und der Text zur Bibel ist." Magnetismus (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 266f. (1785): „Homo sum - humani nil a me alienum puto — ist der Schlüssel zur Bibel. Wer sie nicht mit diesem Sinne lieset, der lieset sie eigentlich überall nicht. [... ] Sehen Sie Alles, Colomb und Christus, Bibelgeschichte und Weltgeschichte, mit Einem Auge an, Alles als Kommentar der Menschennatur." Antworten 1785 (s. Anm. 48). Orelli I, 303: „Ich glaube, alle Menschen haben etwas in sich von dem, wodurch die Welt geworden ist. Alle Menschen sind, der Schrift zufolge, Ebenbilder und Kinder Gottes. Christus ist der Prototypus Aller. Er vereinigt Alles, was in Allen zerstreut ist, auf die vollkommenste Weise, so daß Gott nie götdicher erscheinen kann, als in Ihm und durch Ihn. Christus Verdienst scheint mir darin zu bestehen, des Menschen Gotteswürde theils in sich aufgeschlossen, theils durch sich rehabilitirt zu haben. Die Bibel ist mir Geschichte des göttlichen Ebenbildes." Unveränderte Fragmente (s. Anm. 18), xviii (Vorwort vom 19.6.1773): „Es ist in dem Evangelio kein Gebot, keine Vorschrift, die nicht dem Wesen nach in aller Menschen Herzen geschrieben sey; ja, das menschliche Herz ist immer noch viel

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größer, weitumsichgreifender, erhabener, als der strengste Buchstabe des Evangeliums. Das Evangelium bringt nichts in unser Herz herein, so wenig als ein treuer Ausleger in den Text. Es soll nur das aufwecken, was in dem Herzen ist. Das Evangelium fordert nur mit T ö n e n und Buchstaben und in leuchtenden Beispielen - was unser Herz durch Triebe und Empfindungen fordert. Das Evangelium ist nur der C o m m e n t a r (die Auslegebibel) über unser Herz. Gott und der Mensch ist immer der Text. Alle Buchstaben sind nur Auslegung; was sage ich, sind nur Bild, Copie, U m r i ß , Schatten... " 147 Hand-Bibl. (s. A n m . 2 ) . Orelli VI, 244. 148 Anacharsis 1794 (s. Anm. 24). Orelli II, 151 f.: „Ich glaube besonders an die h ö c h ste Göttlichkeit der Person und der Lehre des Nazareners Jesu; halte ihn täglich mit neuer Ueberzeugung und Freude für den unmittelbaren Gegenstand unsers religiösen Kultus, für das allerhöchste Ideal der Menschheit und der v o n M e n schen gedenkbaren Gottheit; glaube immer mit mehr intuitiver Erkenntniß, daß ohne ihn N i e m a n d zum Vater k o m m e n und mit dem Ersten aller Wesen in reelle Genussesgemeinschaft treten könne; glaube, daß allein durch dessen Person und Vermitdung das Menschengeschlecht zu seiner Bestimmung geführt, zu seiner wahren W ü r d e gehoben und das werden könne, was es nach dem Plane der ewigen Liebe werden soll." Forts. Anm. 24. 149 Pontius Pilatus 1782/85 (s. Anm. 51). Orelli I, 59: „ W e r hat den Menschen einfaltiger u n d wahrer das Wesen aller Wesen genannt? wer mehr ihn vor Grübeleien des Unerforschlichen bewahrt? wer wahrer und verständlicher v o m Allerhöchsten gesprochen, als der, der unser eigen Herz immer zum Maßstabe der göttlichen Gesinnungen gegen uns machte?" Forts, oben! 150 Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 13: „Ich spreche mit Christen, die es für das größte Glück, das ihnen widerfahren könnte, halten w ü r den, mit d e m H e r r n in eine reelle Konnexion, Genusses-Gemeinschaft, Korrespondenz zu k o m m e n [ . . . ] . " 44: „Wir sind sehr inkonsequent und widersprechend mit uns selbst, w e n n wir dieß Abendmahl fortgenießen, das uns seiner fortdauernden Gegenwart unter uns versichern soll, seine beständige Verwendung für uns klar machen soll, daß er eins mit uns sein will, gleichsam in unser Fleisch u n d Blut übergehen will; w e n n das Alles nichts ist, w e n n es Schwärmerei oder Vermessenheit oder Gottversuchen ist, in eine reelle Konnexion u n d Korrespondenz mit ihm treten zu wollen. [... ] Welch' ein elendes Spiel, das wir spielen - Abendmahl halten - ohne den Herrn?" 151 Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 9f.: „Viele, viele der Gläubigsten sind ungläubig, so bald sie in eigener N o t h , in eigenem Gedränge sind. [... ] Christus ist ihnen der allerverehrungswürdigste Mann; aber auch wie ein unanrührbares Heiligthum. Er ist ihnen als Christus fremd, das ist, ihre Person steht mit der Person Christi in keinem reellen, uneingebildeten, erweislichen Verhältnisse; sie stehen in keiner reellen Genussesgemeinschaft mit ihm, wobei sie gewiß sein können, daß es Christus der Gekreuzigte selbst ist, mit d e m sie in Gemeinschaft stehen; sie wollen ihn nicht so erfahren, wie er von Tausenden in den ersten Zeiten erfahren ward." 61: „Zeit und R a u m [... ] sind zwei Hindernisse für unsere Imagination und unsere Schwachheit, den H e r r n so zu genießen, wie ihn die ersten seiner Jünger und Apostel genossen; das heißt, in eine solche reelle, wahre, unzweifelhafte, beweisreiche erfahrungsvolle Gemeinschaft mit i h m zu treten, wie die Gemeinschaft war, in welcher sie mit ihm standen, so mit i h m standen, daß sie mit der reinsten Vernunft sagen konnten: Jesus Christus

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hat mir geantwortet, hat mich erhört; er, und kein Anderer, als er, hat mir geholfen.' " 60: „Christus, liebe Christen, müsse uns Christus werden! N o c h ist er es uns nicht, wie er uns sein kann und sein will. Christus, er selbst, dessen G e schichte uns in den Evangelien hinterlassen ist, werde uns, werde j e d e m Einzelnen v o n uns das, was jeder Einzelne bedarf, und was ihm Niemand, als er, sein oder geben kann; J e d e m eine lebendige, immer überfließende Hülfsquelle, Lichtquelle, Kraftquelle, Gabenquelle, Weisheitsquelle, so wie er es D e n e n war, die sich vor Zeiten, obgleich Menschen, gleichen Anfechtungen unterworfen, wie wir, über Zeit u n d R a u m hinaussetzten, und mit dem über Alles Erhöhten so sprachen, als w e n n sie an sein O h r sprächen - so daß wir es keinem Andern nachsprechen dürfen - daß es uns innere, lebendige, täglich allen Einwendungen u n d Zweifeln trotzbietende Erfahrungswahrheit werde [ . . . ] . " 152 Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 20. 153 Taschenbüchlein für Liebe Reisende 1790 (s. Anm. 21). Orelli II, 333. S.auch Nathanael 1786 (s. A n m . 5 6 ) . Orelli I, 201: „ [ . . . ] was uns zu den genußfähigsten und genießbarsten, den geliebtesten und liebendsten Wesen macht, ist das Beste. Mit diesem Maßstabe messe ich das Evangelium nach seiner Uebereinkunft mit den Bedürfnissen, Wünschen, Ahnungen der besten Menschen in den besten M o m e n t e n des Lebens; und ich glaube, das Göttliche desselben wird nur von den menschlichsten Menschen in den menschlichsten Augenblicken durch die Menschlichkeiten desselben w a h r g e n o m m e n . " Pontius Pilatus 1782/85 (s. Anm. 51). Orelli I, 57: „ [ . . . ] was ist alle Weisheit, deren Gegenstand und M i t telpunkt nicht der Mensch ist?" 154 Nacherinnerung von Moses Mendelssohn, Berlin 1770. Goedeke 10. Orelli IV, 132. 155 S. bei und mit A n m . . 156 Z. B. Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Orelli II, 269: „ U m die metaphysische N a t u r dieser sonderbaren und einzigen Person [Jesus Christus] habe ich mich gar nicht zu b e k ü m m e r n , so wenig sich ein Kind u m die metaphysische Natur seines Vaters zu b e k ü m m e r n hat. Ich will nichts, als sein Verhältniß mit mir erkennen, - am allerwenigsten ihn anders, als nach dem, was er mir ist oder mir sein und werden kann." Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VII, 206: „Es sind alles praktische Lehren, die d e m menschlichen Geiste und Herzen einen innigen geistigen G e n u ß verschaffen sollen. Sobald dieser Z w e c k ihrer Offenbarung aus den Augen gesetzt und irgend eine Lehre als ein metaphysisches T h e m a angesehen wird, so verwirrt sich der menschliche Geist in einem dunkeln, bald engheißen, bald kaltfeuchten Labyrinthe, aus dem er sich nicht mehr heraus zu finden weiß." 157 S. Anm. 47. 158 Antworten 1790 (s. Anm. 48). Orelli I, 330. 159 Vgl. z. B. bei und mit Anm. 117. 160 Nathanael 1786 (s. Anm.56). Orelli I, 215. Ebd. 211: „Was götdich ist, wirkt göttlich." Antworten 1785 (s. Anm. 48). Orelli I, 306: „ ,Mir ist völliges N i c h t wirken und völliges Nichtsein völlig einerlei.' Was nicht durch irgend eine Art v o n Äußerung oder W i r k u n g erkannt werden kann, kann überall nicht erkannt werden. Was völlig unerkennbar ist, das ist, wenigstens für uns, nicht." Philosophische Unterhaltungen 1791 (s. A n m . ) . Orelli II, 17: „Die Körper existiren wirklich, weil ich sie sehe und ihre Existenz fühle, ihre Aktion fällt mir allerwärts auf; diese Aktion ist ihr Sein. Eine existierende Aktion und ein agirendes Wesen, v o n d e m ich nichts als die Aktion kenne, sind zwei Synonyma für mich und n o t h wendig eins und dasselbe." Sätze dieser Art eröffnen das Manuskript Philosophische

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Sätze und Beobachtungen, Z B Z FA Lav. Ms. 5 5 b l . N a c h der Vorrede vom 29.8.1784 sollten beinahe täglich einige Sätze in dieses Buch geschrieben w e r den, nicht z u m Druck bestimmt, j e d o c h als Vorbereitung eines möglichst vollständigen Organon (vgl. Anm. 47) zur Erkenntnis der Wahrheit. S. 1: „ [ . . . ] was wirkt, ist. Was nicht verändert, wirkt nicht." S. 2: „[...] wer nichts wirken kann, der lebt nicht." 161 Mein Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm.4). Orelli II, 264: „Die Basis, der Inhalt und die S u m m e aller meiner Philosophie, Moral, Religion ist nur Eins." Forts, wie oben. „Keine Kraft ist ohne Gegenkraft, die sie berührt oder zu berühren scheint." D e r Kernsatz wiederholt sich in diesem Text noch zweimal: 269 und 270, u n d begegnet auch später: Reise nach Kopenhagen 1793 (s. Anm. 52). Orelli II, 172. Etwas variiert in: Vermischte unphysiognomische Regeln 1 7 8 7 / 8 8 (s. Anm. 23). Orelli I, 340: „ W i e die Media des Selbstgenusses, wie die Gegenstände seiner Liebe, so der W e r t h , der Charakter, die Existenz, die Seinsart des M e n schen; wie sein D u , so sein Ich. Lerne das D u des Menschen erkennen, so hast du sein Ich erkannt." 162 Glaubensbekenntniß 1788 (s. Anm. 4). Im Anschluß an Orelli II, 264 Zeile 5 v. u. (dort fortgelassen), Z B Z FA Lav. Ms. 56. Z u m weiteren Kontext s. Anm. 115. 163 Ebd. Orelli II, 265 im Ms. vor Zeile 1: „Unser Ich empfindet sich nur, lebt nur, genießt nur durch wirkliche oder scheinbare Berührungen v o n außen. W i e das Objekt, so das Subjekt, wie das, wodurch wir berührt zu werden glauben, so wir selbst, wie [hier setzt der gedruckte Text Orelli II, 265 ein: Je] geistloser das ist, was uns afficirt, desto geisdoser sind wir; j e lebendiger, harmonisch kraftreicher das ist, was uns leicht und in allen Punkten zu berühren scheint, desto lebendiger, harmonisch-kraftreicher, allgenugsamer, vollexistenter, seliger sind wir." 164 Z B Z FA Lav. Ms. 55 b2 (vgl. Anm. 160): .Jedem Leben ist etwas das nächste, genießbarste Liebste. W e m etwas das Liebste ist, der kann lieben." Forts, wie oben. 165 Jesus Christus stets derselbe 1798 (s. Anm. 172). Orelli V, 52: ,Je lebendiger, mächtiger, origineller ein Wesen ist, desto leichter ist es ihm, sich als Sich zu beweisen, und v o n allen Wesen, die nicht Es sind, unvermischbar und entscheidend zu unterscheiden." Vermischte unphysiognomische Regeln 1787/88 (s. Anm. 23). Orelli I, 350: „Der Heiligste und Verruchteste sind nur durch Eins verschieden, durch den Gegenstand ihrer Liebe." 166 Aussichten IV 1778 (s. A n m . 10), 34. 167 Magnetismus 1786 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 254. Der Satz bei A n m . 166 ist hier mit einbezogen. Vgl. Vermischte unphysiognomische Regeln 1 7 8 7 / 8 8 (s. Anm. 23). Orelli I, 368: .Jedes menschliche Herz ist eine Welt voll Nationen, Menschenklassen und Individuen, voll Freunde, Feinde, Gleichgültiger, voll Lebender, Sterbender, Werdender, Gestorbener, Gesunder, Kranker, voll Helden und menschlicher Riesen und Zwerge, Schönheiten und Krüppel. D u findest alles in dir, was du außer dir findest." 168 Brey Gespraeche über Wahrheit und Irrthum 1791 (s. A n m . ) . Orelli II, 87: „Wir sehen die Welt als das an, was sie uns durch die Sinne scheint, und die Welt ist doch dieses nicht, was sie scheint; das, was wir Wirklichkeit nennen, ist nur relativ unserer Sinne wirklich, nicht absolut [...]. W e n n sich die Sinne verändern, verändern sich unsere vermeintlichen Wirklichkeiten." Hand-Bibl. (s. Anm. 2). Orelli VII, 206: „Die Sonne ist zur Erleuchtung unserer Augen und zur Erwärmung der unzähligen lebendigen Naturen da; armselige Philosophie, die sie greifen, oder anatomiren, oder v o n anderm Standpunkte, als dem der Erde

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ansehen will! Sie soll uns nur so scheinen, wie sie erscheint; anders sich zeigend, wäre sie nicht m e h r Sonne für uns. So Gott, so der Vater, der Sohn, der Geist, so die Versöhnung durch Christum, so das Abendmahl - Alles m u ß historisch [d. h. aufsein Geschehen hin!] betrachtet, Alles genießbar gemacht werden, alles unsern wahren Bedürfnissen angemessen sein." Antworten (s. A n m . 48). Orelli I, 306 (1785): „ W u n d e r und natürlich sind in meinen Augen untergeordnete, nicht entgegengesetzte Dinge; Vernunft und O f f e n barung untergeordnete, nicht entgegengesetzte Dinge; Mensch und Christus u n tergeordnete, nicht entgegengesetzte Dinge, wie Vater und Kind." 330: „Alles, denke ich, [... ] floß in Christus, das, was unsre Sprache göttlich und übernatürlich nennen m u ß , mit dem, was sie menschlich, natürlich nennt, so in Eins zusammen, daß man kleinlich, unweise und widerbiblisch handelt, w e n n man sagt: Das war göttlich ohne Menschheit, das menschlich ohne Gottheit. Alles war das einfachste Eins." Magnetismus 1785 (s. Anm. 25 und ). Orelli IV, 271: „ W u n d e r oder nicht W u n d e r , Natur oder Gnade, göttlich oder menschlich, christlich oder deistisch, gesandt oder nicht gesandt, das alles sind im Grunde für den ächten Philosophen sehr subalterne Untersuchungspunkte [ . . . ] . " Aussichten IV 1778 (s. A n m . 10), 165 f.: „Durch Jesum und sein alldurchdringendes Schöpferisches W o r t wird jede Existenz existirender werden." Vgl. Nathanael 1789 (s. Anm. 56). Orelli I, 200: „Christenthum ist nichts, w e n n es mich nicht lebendiger und existenter macht." Wichtige Anregungen dafür vermittelt die Untersuchung von K. Radwan (s. Anm. 8) trotz ihres Befangenbleibens in geistesgeschichdichen Schematisierungen. .Jesus Christus stets derselbe; nicht beschränkt durch Zeit und R a u m ; unbeschränkt durch unsere moralische Unwürdigkeit. Oder: N e u e Ausgabe des alten Evangeliums für f r o m m e und ächtgläubige Christen", in: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene[n]Schriften II, hg. v. G. Geßner, Zürich 1801 f., 109-220, entstanden 1798. Goedeke 91. Orelli V, 1 - 7 0 . In dem erhaltenen Manuskript von fremder H a n d und ohne Jahresangabe (ZBZ FA Lav. Ms. 213,1) fehlen die im Petit-Satz d e m Druck beigegebenen „Anmerkungen v o n Freundes H a n d " und „Gegenanm e r k u n g e n des Verfassers": Orelli V, 12f.15f.23f.29f.35f.37f.40-43.47.4951.56f.67-70. Orelli V, 70 mit der vorausgehenden Begründung: .Jetzt, indem ich dieß schreibe, ist die gegenwärtige Lage meines Vaterlandes so, daß kein redlicher M a n n , der Wahrheit liebt und sagt, seines Lebens sicher ist; auch ich m u ß mich auf Alles gefaßt machen und das Schlimmste erwarten (das Schlimmste, was Menschen thun, ist das Beste, was Gott geschehen läßt)... Ich lege also noch das Bekenntniß ab, daß [ . . . ] • " Forts, wie oben. Orelli V, 67-70. Orelli V, 68. Orelli V, 68. Orelli V, 68 f. Dieser wichtige Passus zum Selbstverständnis Lavaters lautet: „Es ist also Thatsache, daß diese Lehre, so wie sie in dieser Abhandlung vorgetragen wird, verschwand . . . Dieser so sehr wider mich scheinende Umstand ist mir nicht nur kein Beweis dagegen, sondern er erregt die H o f f n u n g in mir, daß sie wieder in ein neues, kraftvolles Leben k o m m e n werde, weil es (nach meiner Ansicht) dem Herrn gefallen, einen Menschen zu erwecken, der es wagt, sie wieder hervorzuziehen, zu beleuchten, und der sich gedrungen und berufen fühlt, sie allen Jahrhunderten, ja allen Zeitgenossen von der entgegengesetztesten

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Denkensart — ich mag das mißverstehbare W o r t nicht sagen, zum Trotz - aber doch entgegen, vielleicht zuwider, muthig und ohne Furcht zu irren, wieder empor zu bringen; da es, sage ich, dem Herrn gefallen, einen solchen Menschen zu erwecken und ihn so zu leiten, daß diese Lehre, mehr oder minder entwickelt schon v o n seiner frühsten Jugend an in seiner Seele aufkeimte; darf man nicht hoffen [als Frage zu verstehen!], daß dieß ein W e r k v o n ihm sei, daß er n u n die Zeiten der Unwissenheit, des Schwachglaubens und Halbglaubens übersehen habe, und daß er am Ziele der Zeiten sei, welche der Vater in seiner eigenen Gewalt hat, und daß er n u n hervortreten und auf diese trostvolle und mit j e d e m Tag unentbehrlicher werdende Lehre bald, gleichsam in eigener Person, das Siegel drücken werde. Weil er es geschehen ließ, daß ein Aufsatz wie dieser, geschrieben wurde, so ist mir beinahe gewiß, er wird geschehen lassen, daß sie dreißig-, sechzig- und hundertfältige Frucht bringe; sie kann und wird ein Mittel in seiner H a n d werden, die Herzen (von der croyance zur foi) v o n der Verstandesüberzeugung zum Herzensglauben zu leiten." 178 Die anfangs angedeuteten Vorbehalte seien am Schluß in Hinsicht auf meine Verfahrensweise noch ein wenig konkretisiert. Die Ausführungen haben das Hauptgewicht auf die späteren Texte Lavaters gelegt, vor allem die der achtziger und neunziger Jahre, und außerdem die Fragen des Biographischen und Politischen, der Physiognomik und der supranaturalen Erwartungen weitestgehend ausgeklammert. Es lag mir daran, zum Kern des Theologischen bei Lavater vorzudringen und dafür stärker, als es in der Sekundärliteratur bisher üblich ist, die Texte reden zu lassen. Völlig verzichtet habe ich darauf, theologiegeschichtliche Beziehungen indirekter Art zu erwägen wie etwa zu Schleiermacher oder Feuerbach. Für all diese Blickrichtungen bleibt mein Interpretationsversuch offen u n d sollte für sie auch die Augen schärfen.

Nachträgliche

Berichtigung

Anläßlich einer genaueren Durchsicht der Hand-Bibliothek für Freunde stieß ich in Bd. XIII, 5 4 - 9 0 auf den bei Orelli II, 264-278 abgedruckten Text (s.o. Anm. 4). Die verkürzte Fassung ließ Lavater selbst unter der Überschrift „Fragment meines Glaubensbekenntnisses etc." 1792 im ersten Bändchen des dritten Jahrgangs der Hand-Bibliothekfür Freunde „als Manuskript" drucken. Dies wird dadurch bestätigt, daß die eine Abschrift des Originals (FA Lav. Ms. 56a) deudiche Spuren der Zubereitung für den auswahlweisen Abdruck samt gewissen dabei zu berücksichtigenden Textänderungen enthält. Die zweite oben erwähnte Reinschrift gibt entgegen meiner dortigen Angabe das Original vollständig wieder und ist mit Randbemerkungen in holländischer Sprache versehen (datiert auf Juli 1791). Näheres zum Überlieferungsbefund ist m e i n e m Aufsatz .Johann Caspar Lavaters Glaubensbekenntnis" (Zeitschriftfür Theologie und Kirche 9 0 / 2 (1993), [175]-212) zu entnehmen, der mit einführenden Bemerkungen und einem editorischen Apparat den Originaltext Lavaters zur Kenntnis bringt. Dort läßt sich auch der jeweilige Kontext des oben in Anm. 30, 55, 69, 103, 115, 117, 118, 119, 121, 156, 161 und 162 Zitierten aufsuchen.

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KLAAS HUIZING

Verschattete Epiphanie. Lavaters physiognomischer Gottesbeweis Ein Beweis für die Allgemeinheit des physiognomischen Gefühles [... ] ist die Menge physiognomischer Wörter in allen Sprachen. J. C. Lavater N o c h immer ist der Diskurs zwischen Lavater und der systematischen T h e o logie erstaunlich naiv — naiv, weil ein Gespräch zwischen einem Vertreter kritischer und dem Exponenten einer Kraft- und Wunder-Theologie zumeist in einer zweiten babylonischen Sprachverwirrung mündet; noch immer herrscht in den Instituten zur Klärung der theologischen Wahrheitsfrage ungebrochen eine Uberlegenheitsunterstellung allen Formen von Theologie gegenüber, die sich nicht auf der gemutmaßten Höhe des Begriffs bewegen; noch immer besteht ein affektiver Distanzierungsbedarf, der sich vorschnell mit einem Verweis auf biographische Sonderlichkeiten und Gespreiztheiten Lavaters sättigen kann und mit dem Mogeletikett des Schwärmers seine Position rezeptionsgeschichtlich folgenreich anathematisiert. Nach einem zweihundertjährigen Moratorium auf Besserung zu hoffen scheint zunächst müßig, denn die semantische Achse von Kraft und Wunder liegt quer zu der von Wahrheit und Begriff. So gibt es beim besten Willen kein Vorankommen. Lavater gehört zum Kritizismus und zur Aufklärung wie Aschenputtel zur Stiefmutter und ein glückliches Ende wäre wahrlich märchenhaft. Es sei denn, es gelänge, den alten binären Oppositionsschematismus zu verabschieden und das Kontroversfeld umzubesetzen. Einmal entsorgt von allen Wächtermentalitäten, plädiere ich für eine animositätenfreie Wahrnehmung der geistesgeschichtlichen Leistung Lavaters. Der Zeitpunkt, vielleicht sogar ein Kairos, ist nicht ungünstig, weil die alten monolithischen Blöcke im Verfall begriffen sind. Verunsicherungen allenthalben. Auch in theologicis befinden wir uns zwischen den Zeiten, auf jeden Fall nach dem Kalten Krieg theologie-ideologischer Ausgrenzung. Heute müssen sich die protestantischen Profile nicht mehr ausschließlich imitativ an der Silhouette Kants, an dem Philosophen des Protestantismus 1 ausrichten. Hamanns, Herders und eben Lavaters Denkzüge sind nicht weniger markant, und noch unentschieden ist, ob diese nicht kategorischer und imperativer sind. Machen wir also die Probe aufs Exempel. 61

Mein Vortrag soll vier Teile haben. In einem ersten skizziere ich den anstehenden Paradigmenwechsel heutiger Denkgesittung. Unterschieden vom gegenwartsflüchtigen Futurismus neoapokalyptischer und einer unheilbaren Sinnenängstlichkeit der Wort-Gottes-Theologie, steht eine Theologie mit inkarnationslogisch geschärfter Optik an. In dieses Vakuum hinein zeuge ich den Kirchenvater für eine entsprechende Theologie: Lavater. Präsenztheologie also, abgelesen als Programm an den blinden Flecken der Stimmfuhrenden Diskurse. Der Titel des Symposions benennt das Desiderat selten glücklich: ,Das Anditz Gottes im Antlitz des Menschen.' Daß für den Schrifttheologen Lavater eine Präsenztheologie auch Anhalt am „historischen Apriori" der Schrift 2 haben muß, versteht sich von selbst. Teil zwei skizziert den Zusammenhang. Auferstehung des Leibes im Text und Auferstehung des Textes im Leib. Das ist das Leitmotiv. Danach diskutiere ich Lavaters These einer polyphonen Sprachmächtigkeit des H o m o Dei. T h e m a ist eine ästhetisch-physiognomisch begründete Religionstheorie. Hier werden die Bedingungen gelegt, von einem neuen Rationalitätsmodell zu sprechen, das für einen anderen Argumentationsstil von Gottesbeweis Voraussetzung ist. Schließlich der letzte Teil, der an der Entdeckungssituation des Schattenrisses, lesenderseits beim Studium der physiognomischen Fragmente also, einen (Gottes-)Beweis des Geistes und der Kraft erfahrt. Leben verstanden als Verhalten in dem von einem Gesicht erschlossenen Horizont. Dieses Verhalten heiße Liebe. So auch will der Titel verstanden werden: Epiphanie steht für den Modus außerordentlicher Gegenwart. Verschattung ist das semantische Korrektiv zu Aufklärung. Steht flir die dunkle Seite radikaler Aufklärung. Der Untertitel soll endlich andeuten, daß die Theologie der Symbolisten durchaus zu uralten Fragen Antworten anzubieten hat. Bisher wurden ihre Problemlösungen allerdings nicht als solche wahrgenommen, weil sie, zugegebenermaßen, ganz anders als die vertrauten ausfielen. Hier besteht Sensibilisierungsbedarf. Deshalb die pointierte R e d e vom Gottesbeweis.

I. Gesucht: Präsenztheologie. Über die blinden Flecke theologischer Diskurse Es ist kein Geheimnis: die Philosophie und — oft in ihrem Schlepptau — die protestantische Theologie war seit dem ersten Weltkrieg in großen Zügen gegenwartsflüchtig und gegenwartsuntüchtig. Heideggers frühes Programm Sein aus der Zeit 3 her zu verstehen, führte zu einer Ummünzung im klassischen Zuordnungsverhältnis der Modalbegriffe. Seitdem hat die Möglichkeit einen ontologischen Vorrang vor der Wirklichkeit. Mit Konsequenzen für das ausgezeichnete Seiende, den Menschen, der sich zu seiner Seinsstruktur definitiv verhalten muß. Als endliches Möglichsein muß das Dasein vorlaufen auf

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sein Ende, um die unvertretbaren eigenen Handlungsentwürfe in den derart aufgespannten Zeithorizont einzutragen. In einer weitgefächerten Parallelaktion der Temporalisierung alter O n t o l o gie sekundierte Ernst Bloch. Galt für die Klassiker die frier jene gamilie, bie »ot bem SSefwtter cineö Slffen fietyt. i(t ein SSater, ein ef>rlicf)et ^Jäc^tcr ouö ber ber feine gfjeftäifte unb bie ©pröfjKnge fetner tyoffnungööollen Gtye ^iec^ergefü^rt fyat, u m iljnen bie Sßunber unb bie feltfamen Saunen ber iflatur j u ¿eigen.

2BeIcf; ein plumper (Stolj bröauen fie ben armen gefangenen Slffen im Jiäftg, ber mit ben Slffen aufiet$al6 beö Jtäfigd eine frappante ^ n t i ^ f e i t ftat. 216er bie gamilie tyegt Neroon natürlich feine Sfynung; eS ijV fein SKitglieb berfelben, baö f i $ nicfyt für fcfjön hielte unb oollfommen bt> recfytigt, über bie J^äfjtic^feit beö Slffen j u fpotten." Abb. 7. Alexander von Sternberg: Tutu. Phantastische Episoden und poetische E x cursionen. Leipzig 1846, Holzschnitt v. Sylvan (d. i. A. v. Sternberg). — Satirischer Prädarwinismus!

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Abb. 8. Alexander von Sternberg: Tutu. Leipzig 1846. Holzschnitt v. Sylvan (d. i. A. v. Sternberg). - Physiognomische Korrektur der Nasenbildung mittels Gattenwahl.

Abb. 9. R . Töpffer, 1845: Es ist allgemein gültig, daß eine breite und hohe Stirn ein Hauptkriterium der geistigen Fähigkeit ist, hier sind aber breite und hohe Stirnen, die, soviel ich weiß, keinen geistig hervorragenden Persönlichkeiten gehören.

Abb. 10. R . Töpffer, 1845: Das Umgekehrte, nämlich eine niedrige und platte Stirn ist als ein Hauptkriterium der geistigen Unfähigkeit allgemein anerkannt. Nun, hier sind eine Reihe Individuen, die mit verhältnismäßig niedrigen und platten Stirnen doch Geist, Verstand und Klugheit und im ganzen hundertmal mehr Intelligenz haben als unsere obigen, breiten Stirnen.

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Anmerkungen Vorbemerkung Aus J. K. Lavaters Physiognomischen Fragmenten wird zitiert nach der ersten Ausgabe: Leipzig und Winterthur 1775—1778; und zwar nur mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl. G.-C. Lichtenberg wird in gleicher Weise zitiert nach der Ausgabe Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, München 1968 ff. Immanuel Kants drei große Kritiken werden wie folgt zitiert: a) nach den Ausgaben von Karl Kehrbach Leipzig 1878 ff. b) wird die Paginierung der ersten (A) oder zweiten (B) Auflage nachgewiesen. Es werden die Sigel verwendet: Kritik der reinen Vernunft: KrV Kritik der praktischen Vernunft: KpV Kritik der Urteilskraft: K U 1

Verwiesen sei auf meine Analyse der Rezeption von Physiognomik und Phrenologie im 18. Jahrhundert (Blankenburg, „Seelengespenster: Zur deutschen R e zeption von Physiognomik und Phrenologie im 19.Jh.", in: Gunter Mann, Jost Benedum, W . F. Kümmel (Hg.), Gehirn — Nerven — Seele. Anatomie und Physiologie im Umfeld S. Th. Soemmerrings, Stuttgart/New York 1988) sowie auf eine lexikalische Gesamtdarstellung (Blankenburg, Art. „Physiognomik" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VII, hg. v o n j . Ritter u. K. Gründer, Basel 1989). Weitgehend vollständig ist eine chronologische Bibliographie der Primärliteratur der Physiognomik von ca. 1475 bis heute, deren Publikation ich vorbereite (Blankenburg 1993: ,corpus physiognomicum.' Bibliographie der physiognomischen Primärliteratur 1475—1990, unveröffentlicht). Verwandte Bestrebungen verfolgt neuerdings Claudia Schmölders, die rhetorisch-topische Aspekte einer physiognomischen Hermeneutik zu entfalten versucht: Das Profil im Schatten. Zu einem physiognomischen ¡Ganzen' im 18.Jahrhundert. Vortrag Wolfenbüttel, Juli 1992.

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Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, daß der Metapherntransfer auch umgekehrt praktiziert wurde: So nennt der medizinische Kompilator E. L. W . Nebel die früheren astrologischen Iatromathematiker „Himmelsphysiognomiker" (Medizinisches Vademecum fur lustige Ärzte und lustige Kranke [...], 4 Teile, Frankfurt/Leipzig 1795-98, II, 120). Z u den 609 Seiten k o m m e n ein unpaginiertes Vorwort und Register. Von einem kenntnisreichen Autor wurde Sander „als einer der selbständigsten und selbstdenkenden und -beobachtenden Nachfolger Bonnets" bezeichnet (August Thienemann, „Die Stufenfolge der Dinge, der Versuch eines natürlichen Systems der Naturkörper im 18.Jh.", in: Zoologische Annalen. Zeitschrift für Geschichte der Zoologie, hg. von Max Braun, 3 (1910), 185-274, hier 242). Sander ist Lavater jedoch nicht nur als Gefolgsmann von Bonnet (Contemplation de la nature, Genf 1764; dt. 1766) und Robinet (De la nature, 1761-66; sowie: Vue philosophique de la gradation naturelle des formes de l'être, Amsterdam 1768), sondern auch offensichtlich als Leser von Lavaters Aussichten verbunden. Vgl. Heinrich Sander, Von der Güte und Weisheit Gottes in der Natur, Karlsruhe 2 1780, 411 ff. über „Geistersprache", feinere Sinne, Planetenreisen, die auch auf eine mögliche Swedenborg-Kenntnis verweisen. Vgl. E. Benz, Kosmische Bruderschaft. Die Pluralität der

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Welten, Freiburg 1978, Kap. 10 sowie Kap. 13. Das Textzitat aus Sander 2 1780, 65. Auch Kant spricht in der Kritik der reinen Vernunft (1781) durchaus noch im T o n fall v o n Sanders: „Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut. Selbst Gifte dienen dazu [ . . . ] " (KrV, ed. Kehrbach 591, A 743-14). Dieses Verblassen ist einerseits eine Folge der Entmythologisierung des Himmels durch die moderne Kosmologie und Meteorologie, andererseits eine Folge der religionskritischen Zersetzung des mirakel- und zeichengläubigen Anthropozentrismus. In Pierre Bayles Pensées sur la comète (1682) verschränken sich auf wirksame Weise beide Stränge. Beispielhaft deutlich wird die Verwandlung der Z o r n zeichen zumal in das Genre des „dynamisch" (Kant) Erhabenen (vgl. Blankenburg, „F. A. Mesmer - Aufklärer und Citoyen", in: Heinz Schott (Hg.), Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Stuttgart 1985, 68 ff.) im 18.Jh. in Büchern wie dem Dictionnaire des Merveilles de la Nature, Paris 1781, von Sigaud de la Fond, das bereits 1782/83 in Leipzig unter dem Titel erschien: Wunder der Natur, eine Sammlung außerordentlicher und merkwürdiger Erscheinungen und Begebenheiten [...] zum Unterricht und Vergnügen nach alphabetischer Ordnung (2 Bde.). Die irritierende Störung der Stetigkeit und Graduation der Natur durch „ W u n d e r " wird hier bereits als ästhetische Steigerung der Mannigfaltigkeit und Unterhaltungsgewinn verbucht. Vgl. Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zur Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18.Jahrhunderts, Frankf u r t / M . 1987.

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Spätestens seit Christian Thomasius' berühmter Dissertation De Crimine Magiae (1701) lieferten die „Zaubereisünden" nur noch Rückzugsgefechte. Z u einigen Daten vgl. Blankenburg, „Der ,thierische Magnetismus' in Deutschland", in: R o b e r t Darnton, Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, M ü n c h e n / W i e n 1983 ( 2 1986, Frankfurt/M./Berlin), 221, A n m . 6 . Historisch waren sowohl Physiognomik als auch Chiromantie seit dem ausgehenden Mittelalter zumal wegen ihres astrologischen Determinismus zunehmend sowohl kirchlicher wie auch humanistischer Verdammung anheimgefallen: Gebrandmarkt w u r d e n sie als mehr oder minder teuflische Künste, Gott ins Handwerk der Vorsehung zu pfuschen, u.a. v o n Jacques le Grand (Sopholegium, Anfang 15.Jh.), Johannes Hartlieb (Buch aller verbotenen Künste, 1456) und v o n Ludovicus Vives im 16.Jh. D e m folgten die Päpste Paul IV. 1559 und Sixtus V. 1586 mit Bullen gegen fast alle Formen der Divination.

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D e r Magdeburger R e k t o r Elias Caspar Reichard zählt in seinem heute nurmehr wenig bekannten W e r k Vermischte Beyträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich. Zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens (2 Bde., 1781/88), das als Fortsetzung der Magischen Bibliotheck v o n D . E . H a u b e r erschien, 87 verschiedene mantische Künste auf. Z u r Physiognomie bemerkt er j e d o c h ausdrücklich: „Hiervon kann doch aber, weil sie einige sichere Gründe und Regeln hat, der Aberglauben abgesondert werden; s. H e r r n Lavaters Physiognomick" (I, 542, Anm.). Reichards Liste ist annähernd vollständig u n d n i m m t danach eher ab. So nennt Gustav W . Gessmann (Katechismus der Wahrsagekünste, Berlin 3 1919) nur 48, darunter bezeichnenderweise nicht mehr die Physiognomik, u n d Bd. V der Enzyklopädie Die Geheimwissenschaften (Gütersloh 1982, 19 f.) n u r noch 35. - Die Zitate aus A n h o r n 1674, 228.5 f. Lavaters „Zauberei" hegt eher auf dem Gebiet des theurgischen Beschwörungsgebets (den Begriff der „Gnosis" halte ich für historisch zu unscharf.) sowie eines

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philosophisch an G. H. Jacobi und möglicherweise noch am frühen Fichte orientierten „magischen Idealismus", wie ihn später Novalis, von dem der Begriff stammt, kultivierte (hierzu Christian Janentzky,_/o/ia«« Caspar Lavater, Frauenfeld/Leipzig 1928 und Horst Weigelt, J. K. Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991). - Lavaters Peuschel-Kritik in: Von der Physiognomik (1772), Neudruck Zürich 1944, 31. Zur Verfallsgeschichte der „magja naturalis" vgl. meinen bislang unveröffentlichten Vortrag anläßlich der Mesmer-Ausstellung in Freiburg, Mai 1985: „Die natürliche Magie der Einbildungskraft. Weltharmonik, Organismus und Moral in der Vorgeschichte des .tierischen Magnetismus.' " „So greulich theuer", schreibt Christian Garve (Briefe von C. Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde, Breslau 1803, 70). C. Garve, Briefe (s. Anm. 11), 104, vgl. Justus Möser, Sämtliche Werke III, hg. v. B . R . Abeken, Berlin 1842/43, 250f. sowie Ulrich Bräker, „Dergroße Lavater", in: Leben und Schriften, hg. v. S. Voellmy u. Heinz Weder, Basel 1978. Die Füßli-Stelle aus Heinrich Füßli, Briefe, hg. v. Walther Muschg, Basel 1942, 173. Zur Tele- bzw. Mikroskopie vgl. Blankenburg 1985 (s. Anm. 6), 77. Zur Mehrschichtigkeit des Verhältnisses Füßli-Klopstock vgl. Frederick Antal, Füssli-Studien, Dresden 1973, 144, sowie zum englischen Kontext der Stelle Arnold Federmann, Der junge Goethe und England, Berlin 1949, 94—104. C. Garve, Briefe (s. Anm. 11), 72.232 Im Hinblick auf Lavaters Stellung als „Gewissensrat" auch in erotisch-intimen Fragen könnte man auch vom „Fürstinnenfreund" sprechen. Denn den devotschmeichlerischen Z u g eines höfischen „Fürstenfreundes" entbehrte Lavater durchaus. Zur Galerie hochwohlgeborener Damen vgl. Graeme Tytler, Physiognomy in the European Novel: Faces and Fortunes, Princeton, N.J. 1982, 25: „It was almost notorious that his greatest admirers were wellborn ladies." Thomasius ergänzte diesen Vorschlag 1692 durch Weitere Erläuterungen (vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Hildesheim 1964. Repr. d. Ausg. Tübingen 1945, 47f.; Max Steinitzer, Von den menschlichen und tierischen Gemütsbewegungen als Gegenstand der Wissenschaß, München 1889, 233 ff.). Die Quintessenz der Vorschläge zur Menschenbeobachtung des auch in pietistischen Kreisen wohlgelittenen Thomasius läuft auf eine charakterologische Skalierung und graduelle Einteilung von Affekten und Neigungen hinaus, wie wir sie bezeichnenderweise auch in der pietistischen Autobiographie eines Adam Bernd (1738) wiederfinden, der sich „ohngefähr im 30. Grade cholerisch und hochmütig, im 50. Grade sanguinisch und wollüstig, und im 60. Grade melancholisch oder furchtsam und traurig" erklärt: A. Bernd (1738), Eigene Lebensbeschreibung, München 1973,17. Anders als später bei Lavater kommt es hier jedoch nicht zu einer grundlegend neuen Auffassung der Temperamente. Vgl. im Text Abschnitt Ill.b. Zur Ästhetik der .délicatesse' vgl. Heinrich von Stein, Die Entstehung der neueren Ästhetik, Stuttgart 1886, und Alfred Baeumler, Kants Kritik der Urteilskrafi. Ihre Geschichte und Systematik I (alles!), Halle 1923. Novalis, der bedeutendste philosophische Erbe der Physiognomik Lavaters, schreibt: „Die vollkommenste Physiognomie muß allgemein und absolut verständlich sein." Dieses Allgemeinheitspathos geht jedoch nicht allein auf Lavater zurück, sondern auf die Physiognomik des hermetischen Sonderlings Abbé Antoine-Joseph Pernety, der aufgrund einer Verwechslung zum Kgl. Bibliothekar

Friedrichs II. nach Berlin berufen wurde (1768). Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften führte Pernety 1768/69 einen Akademiestreit mit Heinrich Catt über physiognomische Fragen. Als Buch erschienen seine Vorträge franz. in Berlin 1776 sowie deutsch in drei Bdn. in Dresden 1784/85 (Versuch einer Physiognomik, oder Erklärung des moralischen Menschen durch die Kenntniß des physischen). Pernety war bereits 1758 mit einem Dictionnaire mytho-hermétique hervorgetreten und zog sich nach 1783 nach Avignon zurück, w o er eine swedenborgianische theosophische Sekte begründete. Vgl. Antoine Faivre, L'Esotérisme au XVille siècle, Paris 1973, 182ff. Überraschend oberflächlich über Pernety u r teilt M a x Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, Berlin 2 1902, 482 f. Vgl. zu „Allgemeinheit" Pernety I, 15.89; zu den notwendigen Eigenschaften des Physiognomen I, 216. Zweifellos ist Pernety der eigentliche physiognomische Hermetiker, der - anders als Lavater! - mehrfach ausführlich auf Swedenborg Bezug nimmt, und generell fur die enzyklopädisch-pansophische Tradition einer universalen Zeichenlehre als Signaturen einsteht, die bei Lavater mitunter m e h r zur Stilfrage verblaßt (J.K. Lavater, Von der Physiognomik, Leipzig 1772, N e u d r u c k v. Teil I, hg. v. D . Brinkmann, Zürich 1944, 5. Abschn.). Auch Lavaters Herleitung seiner physiognomischen Gabe wiederholt Pernetys Ähnlichkeitslehre (1,41); ebenso stammt der Newton-Lappländer bzw. — H o t t e n t o t t e n Vergleich von Pernety (1,176). Z u Swedenborg vgl. 1,175 und II, 11, Anm., w o auch Swedenborgs hirnphysiologische Ideen gewürdigt werden. 19

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Hans Blumenberg, der gegenüber Erich Rothacker (Das Buch der Natur. Materialien und Grundsätzliches zur Metaphemgeschichte, hg. v. W . Perpeet, B o n n 1979) die Physiognomik insgesamt eher zurücknimmt, hat sich in seiner Lesbarkeit der Welt (Frankfurt/M. 2 1983) bezeichnenderweise ein Lavater-Kapitel „gespart" u n d den Physiognomik-Komplex nur in der satirischen Spiegelung Lichtenbergs vorgeführt. Er hält Physiognomik grosso m o d o für eine Gattung erfahrungsleeren Buchwissens. „Die Physiognomik, so erfahrungsfreudig sie sich in Lavaters sii— houettierender Betriebsamkeit auch geben mochte, erweist sich als Ausgeburt des Ausschreibens von Büchern aus Büchern, wie die Traumbücher sich fortgezeugt hatten. [ . . . ] Physiognomik ist das in Buchform geronnene Vorurteil" ( ^ S S , 200 f.). D e m ist bei allem gehörigen Respekt vor Blumenbergs gelehrsam e m O e u v r e füglich zu widersprechen: Zwar schneiden sich häufig Physiognomik und Chiromantie mit der Oneiromantie, zumal bei den Kommentatoren u n d Kompilatoren der Renaissance (z.B. Peucer 1550, Scaliger 1561 und Cardanus 1562, vgl. Jacques Solé, Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklärung, F r a n k f u r t / M . / B e r l i n / W i e n 1982, 173-184), j e d o c h die an Artemidorus anschließende Traumdeutungsliteratur (vgl. die u m einen Beitrag v o n Melanchton angereicherte Ausgabe Straßburg 1624 u. ö.), hat sich zumindest nicht in dem M a ß e wie die Physiognomik durch Anlehnung an die jeweiligen zeitgenössischen medizinischen Konzepte (Temperamentenlehre, Konstitution, Anatomie und Physiologie) als modernisierungsfähig erwiesen. Freud hat bezeichnenderweise gerade diese „Geschichtslosigkeit" der historischen Traumliteratur beklagt (Traumdeutung, Kap. I, Anfang). Das gilt so sicherlich nicht für das ,corpusphysiognomicum. ' Vgl. m e i n e n Versuch einer chronologischen Bibliographie (s. Anm. 1). Beide Stellen aus Auguste Viatte, Les sources occultes du Romanticisme I, Paris 1928, 159; die letzte aus einem Brief an Burckhard v o m 30. August 1779. Eine spezielle Beziehung zur N a t u r m u ß für Lavater (wie auch zur Geschichte!) verneint w e r -

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den; vgl. Goethes zutreffende Antwort auf die entsprechende Frage Eckermanns (17.2.1829). Lavaters Christologie: Die anthropologische D e u t u n g Christi ist am Schluß des verunglückten Werkes Pontius Pilatus (1782-85, 4 Bde.) besonders deutlich zum Ausdruck gebracht w o r d e n ; vgl. die „Ecce homo"-Abschnitte im IV.Bd., 4. Kap. Trotz Bienen, Birnen und Äpfeln (in den Fragmenten!) hat Lavater durch seine anthroponome Christologie den Universalitätsanspruch der traditionellen hermetischen Pansophie und Signaturenlehre auf die Beziehung Mensch - Christus, letztlich auf die diese Relation entfaltende Gattung, konzentriert. Das menschliche Gesicht wird i h m zum Projektionsfeld der einstigen Vielfalt v o n Bedeutungen, Korrespondenzen, Ähnlichkeiten und Sympathien, die den lebendigen Kosmos des traditionellen Weltbildes durchwebten. Das fuhrt j e d o c h zeichentheoretisch zu inflationären Konsequenzen, die das Gesicht allein nicht tragen kann. Die romantische Entgrenzung der Lavaterschen Konzentration hat j e doch den status quo ante nicht wieder herstellen können und hat einen Zustand poetischer Beliebigkeit erzeugt, dem auch Polaritäts- und Analogielehren nicht gegensteuern konnten. Allenfalls J. P. V. Troxler hat in seiner auch formal durch den fragmentarischen Charakter an Lavater gemahnenden „Anthroposophie", die nicht mit R u d o l f Steiners Lehre zu verwechseln ist, zentrale Motive v o n Lavaters Ansinnen, w e n n auch ohne direkte Bezugnahme, im 19.Jh. weiter verfolgt: vgl. Naturlehre (Aarau 1828) und Blicke in das Wesen des Menschen (1812, 2 1921). Auch hinsichtlich der anthroponomen R e d u k t i o n erweist sich der erstaunliche Pernety zur Stelle: „Ich schränke also die physiognomische Wissenschaft hier blos auf den Menschen ein [ . . . ] " (I 1784, 97, s. Anm. 18).

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Es ist a u f j e d e n Fall bemerkenswert, daß neuerdings Lavater gerade wegen seiner angeblichen R e d u k t i o n des Individuums auf ein Exemplar durch „verdinglichende" M e ß w u t kritisiert wird. „Der T o d wird hier simuliert in der R e p r o d u k t i o n des Gegenstandes als mortifiziertem" (Rotraud Fischer, C . Stumpp, „Das k o n struierte Individuum. Z u r Physiognomik J. K. Lavaters und C. G. Carus' " in: D . Kamper, C . W u l f (Hg.), Transfigurationen des Körpers: Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, 129). Dieser „maßlosen" D e u t u n g folgt auch R o l f j o a chim Heger („Physiognomisches Buchstabieren", in: Emile, H . 3 (1990), 29—38), der Lavater unsinnigerweise genau das vorwirft, wogegen er angetreten war: die R e d u z i e r u n g des Menschen auf eine additive Summe einzelner physiognomischer Merkmale.

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So Karl Philipp Moritz in seinem „Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde", in: Deutsches Museum I (1782), 485-503, hier 494. D a ß Moritz, zumal nach dessen antispinozistischer Haltung, eher gegen Lavater eingenommen war, tut der objektiven Beziehung keinen Abbruch. A. Viatte, Sources occultes I (s. Anm. 20), Kap. V; ihm folgend A. Faivre, L'Esoterisme (s. A n m . 18), 90. Gemeint ist die Pionierarbeit von R o l f Christian Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18.Jahrhunderts I, M ü n c h e n 1969, hier S. 31. Die hermetischen Aspekte der Physiognomik Lavaters sind, entgegen der singulär auf Goethe blickenden Ansicht von Hartmut B ö h m e („Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18.Jhs. und ihre hermetische Tradition", in: Kamper, Wulf (s. Anm. 22) 1989, 168), mit Sicherheit auch von anderen bemerkt worden. Anders wäre die Rezeption in freimaurerischen Kreisen in Deutschland wie in R u ß l a n d - wobei sich die phi-

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lanthropischen (vgl. den Untertitel der Physiognomischen Fragmente1.) mit den esoterischen Impulsen verschränkten - kaum vorstellbar. Tatsächlich gibt es deutliche Beziehungen zwischen Lavaters eschatologischer Anthropologie und adamitisch-sprachmystischen Traditionen von Jakob Böhme bis zu Franz von Baader. Auch die esoterische Signaturenlehre des Lavater-Zeitgenossen und katholischen Mystikers Karl von Eckartshausen (1752-1803), zumal dessen Stellung zu Lavater, wäre eingehender in Betracht zu ziehen. Vgl. ausfuhrlich A. Faivre, Eckartshausen et la Théosophie chrétienne, Paris 1969, u.a. 51 f.: Studium der Fragmente durch die Mitglieder der Münchener Akademie der Wissenschaften 1787 etc. Vor allem aber zu untersuchen wären Lavaters Abhängigkeiten von einem weiteren „inconnu", seinem hermetischen Zeitgenossen D o m A.-J. Pernety (s. Anm. 18). 26

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Hätte Ernst Manheim nicht bereits den Begriff der „intimen Öffentlichkeit" (Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit des 18.Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Cannstatt 1979) geprägt - er hätte speziell fur Lavater erfunden werden müssen! Die Bedeutung Lavaters fur den Genie-Begriff des „Sturm und Drang" ist weder in der monumentalen Darstellung von Jochen Schmitt (Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 1985, 2 Bde.) noch in der scharfzüngigen und fur die Untiefen des Komplexes hellsichtigen Analyse von Edgar Zilsel (Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer historischen Begründung, I. [kritischer] Bd., Wien/Leipzig 1918) angemessen gewürdigt worden. Lavaters Genie-Begriff scheint noch einmal den Abgrund zwischen Biaise Pascals „esprit de finesse" und dem „esprit de géometrie" zu schließen. Für „finesse" steht Genie und Gefühl, fur „Geométrie" die Ambition der mathematischen Methode. Finesse hat sich historisch zu „délicatesse" entwickelt und steht mit mehr „coeur" als „esprit" gegen „raison" und „système." Der „Triumph des Herzens" bewirkt das „Fragmentarische", das freilich stets die große Form der modernen Moralistik (nicht: Ethik!) gewesen ist. Der Stirnmesser bei Lavater Physiogn. Fragm. IV, 237 ff., 2 Tafeln. Z u r Kephalometrie vgl. Moritz Benedikt, Kraniometrie und Kephalometrie. Vorlesungen, Wien/Leipzig 1888, mit eindrucksvollen Tafeln. Die Humboldt-Stelle aus Wilhelm von Humboldt, „Tagebücher 1788 — 1798", hg. v. Albert Leitzmann, in: Gesammelte Schriften IV, Berlin 1916, 156. Z u m „Schnellblick": Auch Mendelssohns ästhetische „anschauende Erkenntnis" (Schriften 1,194) ist verschwistert mit „Plötzlichkeit" und „Schnelligkeit" (Moses Mendelssohn 1771 (1758): „Betrachtungen über das Erhabene und Naive [... ]", in: Gesammelte Schriften I, Jubiläumsausgabe, Berlin 1 9 2 9 f f , Neudruck hg. von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971). - Z u r empirischen Erhebung: „Es ist keines Menschen, keiner Akademie keines Jahrhunderts W e r k eine Physiognomik zu schreiben" (Lavater 1,15), ähnlich Pernety: „ [ . . . ] daß die Physiognomik nicht das Studium eines einzigen Menschen seyn kann" (I, 20, s. Anm. 18). Auch Garve hat in einem Brief an Weise v o m 1. April 1775 ein apriori-Wissen verworfen und die empirische Erforschung für nicht zu bewältigen erklärt: Garve, Briefe (s. Anm. 11), 105. Indessen lobt der kommunikationstheoretische Relativist R a y L. Birdwhistell, trotz Gegnerschaft zum „semantic universalist" („Background Considérations to the Study of the Body as a Medium of .Expression ' ", in: Jonathan Benthall, Ted Polhemus (Hg.), The Body as a

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Medium of Expression, L o n d o n / N e w York 1975, 46) Lavater, dessen „insistence u p o n rigour and discipline" (ebd. 49), also gerade das, was kritische Zeitgenossen entschieden vermißten! Das Galilei-Zitat ist Blumenberg entnommen: „Das Fernrohr und die O h n m a c h t der Wahrheit", in: Galileo Galilei, Sidereus Nurcius, hg. und eingeleitet v. Hans Blumenberg, Frankfurt/M. 1966, 51. Lavater an Bonnet, August 1778; zitiert nach der Ausgabe v o n Christoph Siegrist, Physiognomische Fragmente. Eine Auswahl, Stuttgart 1984, 380. Max Bense (Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik, H a m b u r g 1946, 61) bezeichnet die H o mogenität als „eines der allgemeinen Prinzipien Leibnizischer Denkweise", w o z u auch die Mathematisierung des „Kontinuitätsproblems" (ebd. 63) gehöre, die Leibniz nicht zuletzt dem hermetischen (dazu: Serge Hutin, Henri More. Essai sur les doctrines théosophiques chez les Platoniciens de Cambridge, Hildesheim 1966) N e o platoniker der Cambridge-Schule, Henry More, verdankt (Dietrich Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Cenealogie der mathematischen Mystik, Halle 1937, 19 ff.). Lavaters Einheits- und Ganzheitsbegriff korrespondiert mit d e m mehr kosmologischen bei Pernety (I 1784, 71, s. Anm. 18) und d e m mehr zahlenmystisch orientierten bei von Eckartshausen: „Das Gesetz der Einheit regiert die ganze N a t u r " (Faivre 1969,451 f., s. Anm. 25). Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang auf die häufig zu pauschal wiedergegebene Auffassung Kants zu rekurrieren, wonach „in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigendiche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist" (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786; Akad.-Ausg. IV, 470; Ausg. Weischedel IV, 14). Kant hat j e d o c h wohlweislich nur die exakten Disziplinen auf das mathematische Paradigma der Newtonschen Mechanik vereidigt, u n d z.B. einen „ N e w t o n des Grashalms" (KU 1790, A 333/34; Kehrbach-Ausg. 286) für eine schlechterdings ungereimte Erwartung erklärt. Daß Kants Position zur Mathematik insgesamt differenzierter ist, hat unlängst Martina T h o m gezeigt (Ideologie und Erkenntnistheorie. Untersuchung am Beispiel der Entstehung des Kritizismus und Transzendentalismus Immanuel Kants, Berlin 1980, 23.201). Vgl. auch zum „opus p o s t h u m u m " Gerhard Lehmann, Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, B e r l i n / N e w York 1980,127. K o n sultiert man einige markante Stellen der Fragmente zur Mathematik (z.B. I, 52; IV, 154 f. 481 sowie ergänzend: Brief an Goethe, N o v . 1773, in: H . Funck (Hg.), Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher (Schriften der Goethe Gesellschaft 16), W e i m a r 1901, 7), so erhellt, daß der in diesem Zusammenhang erwähnenswerte, eigenartige Versuch v o n Fischer u. Stumpp (1989, s. Anm. 22) ausgerechnet Lavater u n d Carus zu P r o m o t o r e n einer metrischen Verdinglichung des Menschen zu machen u n d einer szientistisch mißdeuteten Aufklärung zuzuordnen, ebenso b e m ü h t wie unhistorisch ist. Organon dieses bösen Blicks scheint mir eine wilde Lektüre der Dialektik der Aufklärung v o n H o r k h e i m e r u. A d o m o , die immer Dinghaftes wähnt, w e n n v o n Sache oder Gegenstand die R e d e ist. Lavaters A n liegen war nicht, den Menschen einem abstrakten metrischen Schema zu unterwerfen (IV, 316), vielmehr bemühte er sich, ein „menschliches M a ß " am Leitfaden des Leibes zu gewinnen, das C . G. Carus schließlich in seiner Symbolik (1853) mit der Kategorie des „Moduls" gefunden zu haben glaubte: C. G. Carus (1853), Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntniß, Leipzig, erweiterter Neudr. v. T h e o d o r Lessing, Celle 1925. Ein „maßloser" Qualitätsbegriff, wie ihn die Autorinnen zu propagieren scheinen, bleibt indessen

wissenschaftlich unfruchtbar und philosophisch t u m b (vgl. meine Hinweise zur „Dialektik des Maßes": M . Blankenburg, „Taxonomie und Dialektik", in: H . D . Strüning (Hg.), „Unser Philosoph"Josef Dietzgen, Frankfurt/M. 1980, A n m . 6 ) . Größenverhältnisse u n d Maße haben nämlich auch eine qualitative, eine W e sensdimension: Vieles - zumal im biologischen Bereich - wäre nicht dasselbe, hätte es eine andere Dimensionierung und Proportionierung. D e r G r u n d für diese interessante Korrelation v o n Gestalt und Größe ist wiederum stereometrisch-mathematisch formulierbar: Gesetz der schnelleren Z u n a h m e des Volumens als der Oberfläche! Es gibt also tatsächlich ein „Maß", zumindest eine G r ö ß e n o r d n u n g aller Dinge, d. h. auch des Menschen. 32

W ä h r e n d j edoch der silhouettenbesessene Goethe sich bekanntlich sogar in einen Schattenriß, den der Frau von Stein, verliebte, hat Fichte die Silhouetten für nichtssagende, „todte Bilder" ohne den Liebreiz und den Ausdruck des Urbildes erklärt (Leben und Litterarischer Briefwechsel II, Sulzbach 1830/31, 117). Die grassierende M o d e hat Lichtenberg die sarkastische Bemerkung entlockt, man ließe jetzt seinen Schatten besehen wie einstmals sein Wasser. Tatsächlich war die Harnbeschauung, wie ein Bück auf die florierende Praxis des Emmentaler „Bauerndoktors" Michael Schüppach (gest. 1781) zeigt, noch in vollem Schwange. Die „ W u t von Schattenrissen", von denen der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift,]. F. Biester, 1775 in einem Brief an Bürger schreibt (von Boehn, Miniaturen und Silhouetten, M ü n c h e n 1917, 180), entspricht dabei exakt jener „ R a serei für Physiognomik" (Lichtenberg (s. oben, Vorbemerkung), III, 564), über die sich Lichtenberg mokiert. Z u r M o d e vgl. auch Wilfried F. Schoeller, „Lob einer Kleinkunst", in: Das Silhouetten- Cabinet. Deutsche Silhouetten aus zwei Jahrhunderten, hg. v. W . F. Schoeller, O . O . 1973. Z u m Verlust des Gesichts im Profil vgl. Fritz Gutbrodt, „ ,Eine Sprache für alle Augen': Spekulationen eines Physiognomen", in: Neue Zürcher Zeitung, 15. N o v . 1991, 41, Schluß.

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I. Kant, K U , Kehrbach-Ausg., 71; A B C 41/42. Das Calas-Bild v o n Chodowiecki, sein erster großer Erfolg 1787 (Werkverz. Bauer Nr. 50), der seinen R u h m begründete, ist geradezu eine Ikone der Aufklärung. Jean Calas, ein Hugenotte aus Toulouse, jener Stadt, in der nach der A u f h e b u n g des Edikts von Nantes 1562 ca. 3000 Hugenotten ermordet worden sind, wurde 1761, also im Vorfeld der 200-Jahrfeier dieses Ereignisses (!), bezichtigt, seinen Sohn, der Selbstmord begangen hatte, umgebracht zu haben, u m dessen Übertritt z u m Katholizismus zu verhindern. N a c h schweren Folterungen, die i h m j e d o c h kein Geständnis entrangen, wurde er erdrosselt und seine Leiche am 9. März 1762 öffentlich verbrannt. Aufgrund vor allem der hilfreichen Initiative Voltaires, der eine europaweite Agitation gegen Fanatismus und für Toleranz entfachte, wurde das Urteil 1765 von einer Kgl. Revisionsinstanz aufgehoben u n d Calas für unschuldig erklärt. Vgl. Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation, II: T h e science of Freedom, London 1970, 430-437, sowie, auch zu C h o dowiecki, Carl Brinitzer, Die Geschichte des Daniel Chodowiecki. Ein Sittenbild des 18.Jahrhunderts, Stuttgart 1973, 84ff., dessen Lavater-Kritik historisch wie philologisch nicht immer sehr treffsicher ist. W i r dürfen annehmen, daß Lavater bei seinem bekannten h o h e n Gerechtigkeitssinn als Zeitgenosse dieses Ereignisses v o n der Calas-AfFäre mächtig berührt worden ist. In dem sentimentalen A n dachtsbild der Abschiedsszene von Chodowicki verschränken sich mindestens vier verschiedene Motive: 1. das bürgerliche Familienidyll, 2. das Motiv der verfolgten Unschuld, und damit konnotiert zwei zentrale Projekte der Aufklärung:

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3. die Strafrechtsreform und 4. der Antiklerikalismus/-fanatismus. Für das CalasDrama von C. F. Weise, das offenbar erstmals in Bd. V seiner Trauerspiele 1780 gedruckt wurde (dort im Anhang auch eine kurze Darstellung der historischen Umstände), hat Chodowiecki eine kleinere Neufassung (Bauer Nr. 748) des „großen Calas" gestochen. Vgl. ferner Werner Busch, Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge, Hildesh e i m / N e w York 1977, 218ff., sowie Peter Märker (Bearb.), Bürgerliches Leben im 18.Jahrhundert. Daniel Chodowiecki 1726-1801, Katalog Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M. 1978, 33-37. 35

Eine analoge Entwicklung vollzog sich etwas früher in der Lexik der psychologischen Literatur sowie im französischen R o m a n des 18.Jhs.: vom „humeur" zur „fibre", vgl. Hans Sckommodau, Der französische psychologische Wortschatz der 2.Hälftedes 18.Jahrhunderts, Leipzig/Paris 1933,15-26. Ein zeitgenössischer französischer Autor klagte über die hypochondrische Mode der Zeit: „nous n'avons plus de caractère, depuis qu'on nous a donné des nerfs." Das entspricht in etwa der deutschen Kritik an der grassierenden Empfindsamkeit. - Z u m folgenden vgl. Esther Fischer-Homberger, Geschichte der Medizin, Berlin/Heidelberg/New York 2 1977, 78 sowie Thomas Henkelmann, Zur Geschichte des pathophysiologischen Denkens. John Brown und sein System der Medizin, Berlin/Heidelberg/New York 1981, 49.

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Der hier verwendete Begriff von „Ideal" ist orientiert an Kants Terminologie (KrV, Kehrbach-Ausg., 510fE; A 653ff.), w o von „regulativen Prinzipien" und „transzendentalen Gesetzen" als „legitimen Interessen der Vernunft" die Rede ist. Lavater zur Homogenität, Brief an Goethe, Nov. 1773, in: H . Funck (s. Anm. 31), 7. Lavater zur Analogie: 1772 (s. Anm. 9), 29 f. Gerade in diesem Fall erwies sich die Kritik von H. P. Sturz, der Lavateis interessante Angelogie fur weit übertrieben hielt (Rezension der Abhandlung von 1772, Helfrich Peter Sturz, Die Reise nach dem Deister. Prosa und Briefe, Berlin 1976, 204), als zu kurzsichtig. Mein Hinweis auf die prognostische Fehleinschätzung von Cuvier als „Engel" durch Lavater soll keineswegs dessen Eschatologie karikieren, vielmehr daraufhinweisen, wie rasch sich der Aufstieg der Lebenswissenschaften von Linné und Buffon bis zu dem von Goethe noch mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten Akademiestreit zwischen Cuvier und E. G. Saint-Hilaire 1830 über typologische und morphologische Fragen vollzogen hat. W i r können ziemlich sicher sein, daß Lavater Position auf Seiten Lamarcks (Selbstvervollkommnungsprinzip) und Saint-Hilaires („unité de composition" der Tierwelt; spekulativer Evolutionismus) gleichsam als Gefolgsleuten Bonnets bezogen hätte. Was freilich den „englischen Verstand" betrifft, so dürfen wir ihn mit Swedenborg getrost im Wortsinne verstehen, denn die Engländer befinden sich in der geistigen Welt laut Swedenborg „im Mittelpunkt aller Christen", „weil sie ein inwendigeres Verstandeslicht haben": „Dieses Licht haben sie von der R e d e - und Schreibfreiheit, und damit der Denkfreiheit; bei Andern, welche nicht in dieser Freiheit sind, wird jenes Licht, weil es keinen Ausfluß findet, erstickt" (Emanuel Swedenborg, 1873, 914f.). Dies gilt, wie Swedenborg ausdrücklich hinzufugt, zumal fur die der Presse- und Denkfreiheit entbehrenden, unter „zwingherrlichem R e giment" stehenden Deutschen (ebd. 918). Man sieht, wie realitätshaltig Visionen sein können! Zur Swedenborg-Interpretation als bürgerlichem Emanzipationsdenker vgl. auch Gernot Böhme, Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1985,250 ff.

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Goethe, der für die Osteologie der Physiognomischen Fragmente verantwortlich zeichnete, hat sich verständlicherweise später sehr für Galls Schädellehre interessiert und, wie auch Heinrich Steffens, dessen Demonstrationen in Halle 1805 aufmerksam beigewohnt (Gunter Mann, „F.J. Galls kranioskopische Reise durch Europa", in: Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschafter Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik, 3 4 / 3 (1984),86-114, hier 98). D e r Gall-Schüler Kaspar Spurzheim hat die „expressive Homogenität und mystische Totalität" (Blankenburg 1988, s. Anm. 1, 213) der Lavaterschen Physiognomik als reine Spekulation einer minutiösen Detailkritik unterzogen und dabei besonderen W e r t auf die physiologischen Disproportionen gelegt (Spurzheim 1815, 254).

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Vgl.August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, T ü b i n g e n 2 1968; W e r n e r Mahrholz, Deutsche Selbstbekenntnisse. Zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919; R o b e r t Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus, Frankfurt/M. 1974; R . R . W u t h e n o w , Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18.fahrhundert, M ü n c h e n 1974; Gerhard Sauder, Empfindsamkeit I: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974; Günter Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im i8.fh. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977, sowie, zur Ästhetik: Martin Schmidt, Pietismus, Stuttgart/Berlin u.a. 1972, 166. - An dieser Stelle mag ein W o r t zur Säkularisierungsfrage angebracht sein, die v o n Sukeyoshi Shimbo u m das K o n strukt einer „innerpietistischen" Säkularisation" am Beispiel des Bekenntnisbriefes noch erweitert wurde (S. Shimbo, „Die innerpietistische Säkularisation des Bekenntnisbriefes", in: Deutsche Vierteljahresschrift56/2 (1982), 198-224). N i m m t man den Begriff „Säkularisierung", abgesehen von jeglicher Legitimitätsdebatte, zunächst rein lemmatisch, so fällt auf, daß es auch durchaus gegenläufige Prozesse gibt, nämlich einer Sakralisierung v o n profanem Material, w o f ü r auch Lavaters Physiognomik einen Belegfall abgibt. Auch Ernst Troeltsch hat im Blick auf Lavater quasi eine Re-pietisierung ausgemacht (E. Troeltsch, Gesammelte Schriften IV.2: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. v. Hans Baron, T ü b i n g e n 1925, 559). U n d inwieweit nicht gerade Lavater ein Modell für „Säkularisierung durch Eschatologie" (vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, 32) liefert, m u ß einstweilen offenbleiben. Z u berücksichtigen bleibt, daß Lavaters Aussichten niemals die Prätention einer visionären Erfahrung erheben, wie dies mitunter bei somnambulen Jenseitserfahrungen der Fall ist. Gleichwohl fällt die Parallelität zwischen jesuitisch-mystischen Jenseitsdarstellungen und Lavaters eher rationalen Deduktionen und Extrapolationen auf. Lavater selbst hat im 2. Brief der Aussichten als Quellen der Gewißheit über das künftige Leben folgende Instanzen befragt: 1. „unsere eigene N a t u r " , 2. die Analogie u n d 3. „vornehmlich die göttlichen Schriften".

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Mit R e c h t schreibt M a x Koch in seinem Lavater-Artikel für Ersch u. G r u b e n Encyklopädie: „Allein schon durch die Anregung, welche Lavater den bildenden Künsten gab, hat seine Physiognomik eine unvergängliche Bedeutung" (Sect. 2, Bd. XLII, 295). Diese kunstphilosophische Bedeutung der Physiognomik ist v o n den Zeitgenossen sofort erkannt worden, zumal in Frankreich und England. G r i m m wundert sich in seiner Korrespondenz anläßlich der ersten französischen Übersetzung (1781-1803) über die „mystisch-theologische T ü n c h e " in einer „Auseinandersetzung, bei der es nur u m Kunst und Philosophie geht" (Melchior Grimm, Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz, Leipzig 1977, 434), u n d Füßli b e m ü h t sich wie die Monthly Review (1801) bei der v o n i h m betreuten

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englischen Ausgabe besonders u m „connoisseurs and artists" sowie „teachers of art" (nach Tytler 1982, s. Anm. 15, 104f.). Z u r künsderischen Dimension vgl. die ältere Untersuchung von Steinbrucker (1915) sowie M . Allentuck (Fuseli and Lavater: Physiognomical Theory and the Enlightenment, Oxford 1967 (Studies o n Voltaire and the Enlightenment 55, 89-112); nützlich auch H . Krukenberg, Der Gesichtsausdruck des Menschen, Stuttgart 1913, 3 1923. 41

Karl Markus Michel hat den sicherlich witzigsten, w e n n auch historisch nicht immer ganz sicheren Traktat der letzten Jahre zur Physiognomik geschrieben: Gesichter. Physiognomische Streifzüge, Frankfurt/M. 1990, hier 59. - Die plastische Anatomie wurde häufig in künstlerischer Absicht bearbeitet, vgl. besonders Emil Harless, Lehrbuch der plastischen Anatomie, hg. v. R . Hartmann, Stuttgart 2 1876, 479f. - W e n i g bekannt ist, daß Dr. med. Heinrich Lavater (1768-1819), J . K . Lavaters ältester Sohn, eine Anatomie für Künstler verfaßt hat, für deren Ü b e r setzung ins Englische der getreue Füßli Sorge trug. In Paris erschien sie unter dem Titel Elemens anatomiques d'ostheologie et de myologie ä l'usage des peintres et sculpteurs bereits 1797 (157 S., 27 Kupfertafeln).

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Empirische Charakterologie: vgl. C . Garve, Briefe (s. A n m . 11), 105. Das Zitat „Physiognomik ist nichts [ . . . ] " stammt aus einer Kassner-Rezension von T h e o phil Spoerri in der Neuen Schweizer Rundschau 23 (1930),914. Eher eine andere Auffassung vertritt Blumenberg (s. Anm. 19) 2 1983, Kap. XVI. Aufgrund der tausendfach verbreiteten süßlich-schönen Christusdarstellungen im nazarenischen Trivialstil des 19.Jhs. sind uns diese Dantellungen gänzlich verleidet. Überhaupt leuchtet uns nicht mehr so recht ein, warum denn Christus u n bedingt „schön" vorzustellen sei. Die negative christliche Ikonographie eines Arnulf Rainer ist vielleicht der stärkste Ausdruck dieses Unbehagens. Rainer ist bezeichnenderweise einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künsder-Physiognomiker. Vgl. Lichtenberg II, 554 (s. oben: Vorbemerkung), sowie ders. III, 261, fast w ö r t lich! Vgl. ferner Peter v o n Matt, ...fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, M ü n c h e n 1983, 94. - Das Zitat von Karamsin aus: Briefe eines russischen Reisenden, Berlin (Ost) 1977, 596. Vgl. J. K. Lavater, „Hundert physiognomische Regeln", in: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene[n] Schriften V, hg. v. Georg Geßner, Zürich 1802, 107. - D e n H i n weis auf R . Bradley gibt Thienemann (s. Anm. 4), 240 ff. Die Darwin-Stelle stammt aus der Dokumentation Charles Darwin - ein Leben. Autobiographie, Briefe, Dokumente, M ü n c h e n 1982, 57; vgl. auch Siegfried Schmitz, Charles Darwin. Leben, Werk, Wirkung, Düsseldorf 1983, 87 ff. U n m i t telbar nach d e m Erscheinen von Darwins W e r k sinkt die Zahl der Lavater-Adaptionen i m englischen Sprachraum ganz rapide: Tyder 1982 (s. A n m . 15), 85. Zwar gibt es weiterhin ein deutliches Interesse an Physiognomik (Blankenburg 1988 (s. Anm. 1), 223f.), aber auch in Deutschland sinkt Lavaters Stern nach Piderits und W u n d t s Arbeiten (Blankenburg 1989, s. Anm. 1) bis zur W i e d e r entdeckung und zum Neudruck (anläßlich der Zentenarfeier des Todestages) durch neuromantisch-antidarwinistische Theoretiker: u.a. Ludwig Klages (1901), „Prinzipielles bei Lavater", in: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde. Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1926 (Vorwort dat. 1927!). N u r wenige Hinweise: Spengler und seine physiognomische Morphologie der Weltgeschichte; Hans Freyers hermeneutische Theorie des objektiven Geistes, 1923; Wilhelm Fraengers diverse kunstphysiogomische Fallstudien zu H . Seghers und

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M . Grunewald sowie im R a h m e n einer phänomenologisch bewußten philosophischen Anthropologie die Arbeiten von Helmuth Plessner. B. A. Morel, Traite des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l'espèce humaine, 1857. Z u den interessanten theologischen Aspekten des D e g e n e rationsbegrifls vgl. W e r n e r Leibbrand, Annemarie Wettley, Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Freiburg/München 1961, 524ff., sowie zu den Weiterungen auch M a n n 1984 (s. Anm. 38). Sogar in der apologetischen Schrift v o n Heinrich W . J. Thiersch heißt es defensiv über Lavaters Physiognomik: „Es fehlte seiner Physiognomik die nothwendige Ergänzung durch die Schädellehre oder Phrenologie, deren Grundlagen erst später durch Gall festgestellt wurden. Lavater hat dieser Entdeckung vorgearbeitet, aber er hat sie nicht erlebt. Die Schädelbildung gewährt sicherere Anhaltspunkte fur die W a h r n e h m u n g der verschiedenen Anlagen als die Physiognomik" (H. W . J . Thiersch, Lavater, Augsburg 1881, 9). Diese Nivellierung, ja Konfusion ist weithin im 19.Jh. festzustellen, vgl. Tytler 1982 (s. Anm. 15), 34. Tytler hat unter Verarbeitung zahlreicher Spezialstudien zumal fur den angelsächsischen R a u m wesentliche Vorarbeiten geleistet für eine umfassende Darstellung dieser paritätischen Rezeption v o n Physiognomik/Phrenologie in der Weltliteratur des 19.Jahrhunderts, die über Melville und Hawthorne, E. A. Poe und Walt W h i t man, Sénancourt u n d Stendhal, Balzac und Zola, Jean Paul und die deutschen Romantiker, bis zu Lermontov und Turgenjev fuhren müßte, vgl. E d m u n d H e i er, Studies on J. C. Lavater (1741—1801) in Russia, B e r n / F r a n k f u r t / M . / L a s Vegas 1991. Monika Handschuch, Herausgeberin der Teufels-Predigten Lavaters, vertritt die völlig abwegige Behauptung, die „anfängliche B e w u n d e r u n g " zumal französischer Schriftsteller v o n Balzac bis zu Baudelaire „verlöschte bald durch seinen [Lavaters, M . B . ] zunehmenden H a n g zur religiösen Schwärmerei und seine o k kulten Neigungen", als seien diese Autoren Zeitgenossen Lavaters gewesen, vgl. M . Handschuch, Nachwort zu: J. K. Lavater. Predigten über die Existenz des Teufels und andere Schriften, Frankfiirt/M./Berlin 1991 (Teuflische Bücher 5), 394. Z u d e m ist inhaltlich das Gegenteil eher richtig. Hier haben Ferdinand Baldensperger (Les théories de Lavater dans la littérature française, Etudes d'histoire littéraire, 2e série, 51-91, Paris 1910) u n d E . R . Curtius (Balzac, Bern 2 1951) offenbar umsonst gearbeitet! Vgl. ferner J o h n Graham, Lavater's Essays on Physiognomy. A Study in the History of Ideas, Bern/Frankfurt/M./Las Vegas 1979, 129 f. Gall setzt damit die Tradition des neuzeitlichen wissenschaftlichen Selbstversuchs in statu moriendi bzw. mortis fort. Vgl. fur A. v. Haller sowie den Anatomen Philipp Meckel: W o l f Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, M ü n c h e n / W i e n 1976, 35.208f., zu Mesmers entsprechender Sektionsanweisung: Blankenburg 1985 (s. Anm. 6), 84 f. Lavaters Selbstversuche waren, w e n n auch weniger solemner Natur, so doch nicht minder ernsthafte Versuche einer physiognomischen Selbstdeutung, vgl. Weigelt 1991 (s. Anm. 9), 111. Vielleicht wäre aber auch die Absprache mit d e m frühverstorbenen Felix H e ß über spiritistische Kontakte hier zu nennen: „Abholen am Totenbett", vgl. A. V o e m e l . J . Caspar Lavater 17411801. Ein Lebensbild, Elberfeld 1923, 207 ff. Auch dieser Aspekt ist eine Konsequenz seines „hartnäckige[n] Drängenfs] auf reale Transzendenzerfahrung", vgl. Weigelt 1991 (s. A n m . 9), 49). August von Kotzebue, „Die Organe des Gehirns", in: Theater, 27. Theil, W i e n 1811, 35; das Zitat zum „Physiognomischen Kabinett": Gustav Solar, ,J. C . Lavater i m Spiegel seiner Sammlung", in: Neue Zürcher Zeitung, 18. Februar 1973,

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51 f. - Angeblich hat Kotzebue in Berlin 1805 eine Weile mit Gall zusammen gelebt und diesen flir sein Stück gewissermaßen „angezapft." Gall habe selbst darüber am meisten gelacht. Vgl. Alphonse Esquiros, Paris oder die Wissenschaften, öffentlichen Anstalten und die Sitten im 19.Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart 1848, I, 233, Anm. Aufgrund ähnlicher Überlegungen hat ein Vertreter der Warburg-Schule, Ernst Gombrich, mit Bezug auf Lichtenberg die Grenzen der Physiognomik und der expressiven Ästhetik des „natürlichen" Ausdruckszeichens enger gezogen. „Wir dürfen Ansprechen nicht mit Verstehen, und Ausdruck nicht mit Aussage verwechseln" (E. H . Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, W i e n 1973, 84). Gombrichs Beispiele für das, was R . M . Holzapfel als physiognomische „Verkürzung" bezeichnet hat, gehen dabei bis an die Schwelle des Pathologischen (z. B. Hetzkarikaturen) und berühren das P r o blem einer Ikonographie des Ideologischen, das von Goethe bereits avisiert w u r de: „ D u m m e s , aber, vors Auge gestellt,/ Hat ein magisches R e c h t : / Weil es die Sinne gefesselt hält,/ Bleibt der Geist ein Knecht." - Z u einer ausfuhrlichen Behandlung der physiognomischen Etüden Toepffers vgl. E. H . Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, 376fF. R u d o l f Kassner, „Der U m r i ß einer universalen Physiognomik" (1919), in: Zahl und Gesicht, hg. v. Ernst Zinn, Frankfurt/M. 1979,16. Vgl. E. Burdach, „ Ü b e r die Gall'sche Schädellehre und die physiologische Cranioscopie nach Carus", in: Königsberger Naturwissenschaftliche Unterhaltungen 1/1 (datiert 1847/48), 49.53, der Vortrag stammt von 1844; sowie Blankenburg 1988 (s. A n m . 1), 229. Dr. Cranoise in R u d o l f T o e p f f e r , Komische Bilderromane, 2 Bde., hg. v. Karl Riha, Frankfurt/M. 1975, hier I, 55. - Wissen oder kennen: Albrecht v. Haller hatte bereits in seiner Rezension des I. Bandes der Physiognomischen Fragmente in den Göttingischen Anzeigen vermutet, Lavater habe wohl aus den Schriften mancher Personen in seinem W e r k mehr herausgelesen als aus der Nase oder der Silhouette möglich sei (18. St., 10. Febr. 1786, 144). Auch Isaac Iselin hatte die Fragmente in seinen Ephemeriden ganz ähnlich rezensiert und wollte den schriftlichen Bekundungen mehr Gewicht beimessen (vgl. Ulrich Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, Bern 1967, 209.259). Dies, so w u ß t e n die Enzyklopädisten, war der Ansatzpunkt der Scharlatane, die gerade in den mantischen Künsten verstärkt ihr Unwesen treiben und an unsere W ü n s c h e und H o f f n u n g e n anknüpfen. „Wir glauben leicht das, was wir w ü n schen" (Enzyklopädie, Ausg. 1972, 209; der Art. „Scharlatan" stammt aus Bd. III, 1753). Allerdings gilt auch, „daß jeder Beruf seine Scharlatane k e n n t " (ebd. 215). Elias Caspar Reichard (Vermischte Beyträge zur Beförderung einer nahem Einsicht in das gesamte Geisterreich. Zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens, 2 Bde., Helmstedt 1781/88,1, 536) hatte ein gewisses Verständnis für solche Futurologie des Gefühls: „Die Menschen haben gleichsam eine angeborne Begierde, in die Z u k u n f t zu sehen, und darinn die Schicksale ihres Lebens und den Ausgang ihrer Unternehmungen, hinter der Decke, welche doch die weise Fürsehung Gottes davor gezogen hat, klar aufgedeckt zu sehen." Lavater meinte indessen (Eintrag im Tagebuch „Noli m e nolle" unter dem 12.Junius 1789): „ O h n ' Orakel leben ist T o d für den Gottesbedürfer" (Fritz Behrend (Hg.), Lava teriana, Berlin 1916). Dagegen vermochte Reichard j e d o c h nur an ein d e m ü tiges Gottvertrauen zu appellieren: „Wir wollen unsere künftgen Schicksale in

den Händen dieser allgütigen Fiirsehung, die nun schon beynahe 6000Jahr Himmel und Erde nach den Regeln der vollkommensten Weltweißheit regieret hat, unbesorgt stehen lassen, als in welchen sie ohnstreitig am besten verwahrt sind" (ebd. 537, Anm.). Das konservative Motto lautet also, was lange währt, bleibt immer gut! 58 59

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So das volksaufklärerische Werk von Heinrich L. Fischer, Das Buch vom Aberglauben, Theil I, Leipzig 1791, 280 bzw. 251. Zur Entropie des Charakters vgl. Gert Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek 1982 sowie ders., Blindgänger. Physiognomische Essays, Frankfurt/M. 1986; zu den „bekannten Handlungen" Lichtenberg III, 293 sowie zu „Sprache und Arbeit" G . W . F. Hegel, „Phänomenologie des Geistes" (1807), in: Suhrkamp Theorie- Werkausgabe III, Frankfurt/M. 1970. Die philosophische Berücksichtigung der „Sonderstellung der sprachlichen Selbstbekundung gegenüber dem sichtbaren Leibesausdruck" hat August Vetter (Natur und Person. Umriß einer Anthropognomik, Stuttgart 1949, 21) zur Erweiterung der Physiognomik auf eine Anthropognomik hin veranlaßt. - Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse mitzuteilen, daß Vetters runenhafte Piktogramme für elementare Gemütszustände z. T . eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den von Waija Lavater wiederentdeckten Symbolzeichen aus J . K . Lavaters letzter Lebensphase aufweisen; vgl. Warja Lavater, Perception. When signs Start to communicate, Zürich November 1991.

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ALFRED MESSERLI

Die Bildwürdigkeit der Bauern in Lavaters „Physiognomischen Fragmenten" (1775-1778) „Den 5ten Brachmonat zeichnete Herr Schellenberg mein Bildniß, und ich konnte nicht begreiffen, daß ich so aussehe. Er schickte mein Portrait an Lavater, und schenkte mir dessen Predigten über das Buch Jonas." 1 Die Szene trug sich im Jahre 1774 zu, und der porträtierte Heinrich Boßhard, der darüber in seiner Autobiographie schreibt, war 26 Jahre alt. Bis dahin hatte er im Taglohn in den Rebbergen und Gärten der Winterthurer Bürger gearbeitet, hatte Jauche getragen und das Zwirnrad im Keller der Reinhardschen Fabrik getrieben, hatte ein Jahre zuvor geheiratet und das kleine verschuldete Bauerngut seines Vaters übernommen. Wie aber ist die Stelle zu verstehen? Boßhard erinnert den Umstand, von Schellenberg gezeichnet worden zu sein und seine Reaktion darauf, es nicht fassen zu können, so auszusehen. Das Erstaunen aber über das Bild erklärt sich nicht daraus, daß dieses zu wenig oder gar keine Ähnlichkeit mit seinem Selbstbild aufwies. Weder die Möglichkeit noch das Bedürfnis eines solchen Vergleichens dürfen bei Heinrich Boßhard vorausgesetzt werden. Das eigene Gesicht als ein bedeutsames Zeichen wird in dieser Situation zum erstenmal eingeführt und konfrontiert ihn auf eine Weise mit sich selbst, die ihm äußerst fremd vorkommen mußte. Das Zitat belegt die fehlende Praxis der Unterschicht noch im 18. Jahrhundert mit dem Bildmedium des eigenen Porträts. Auch Ulrich Bräker beruft sich erst auf das Urteil anderer, wenn er über das Familienporträt, welches der Luzerner Maler Joseph Reinhard (1749—1824) — gegen Bezahlung — für die Sammlung des Aarauer Seidenbandfabrikanten Johann Rudolf Meyer (1739— 1813) anfertigte, urteilt: „Kenner sagens, und mich dünkts auch, das wir alle sehr gut getroffen seyen." 2 Was der Unterschicht, zumal den einzelnen Subjekten, aus bürgerlicher Sicht fehlte, ist das Bewußtsein der Identität. U n d dieses Bewußtsein hat sowohl seinen kognitiven Anteil so zu sein, das heißt einmalig und unverwechselbar, als auch seinen visuellen, so auszusehen. Z u dem ist die beschriebene Interaktion zwischen städtischem Bürgertum und ländlicher Unterschicht in unserem Beispiel neu und noch nicht ritualisiert. Heinrich Boßhards Bereitschaft, sich porträtieren zu lassen, wird mit einem Buch honoriert, wodurch eine Tauschsituation evoziert wird. Als Leser erfahrt man allerdings nichts darüber, ob er einen Abzug der Radierung, die Schellenberg von der Zeichnung anfertigte, erhalten hatte. 214

Eine andere Szene fand im gleichen Jahre im Hause des Zürcher Stadtarztes und Regierungsmitgliedes Hans Caspar Hirzel (1725—1803) statt. Wir erfahren davon in dem Briefe Hirzeis vom l.Mai 1774 an Herrn HülshofF, Doktor und Prediger in Amsterdam, worin er über seinen Schützling Jakob Gujer (1716-1785), genannt Kleinjogg, berichtet. Der Kupferstecher Christian von Mechel aus Basel weilte eines Tages in Hirzeis Haus in Zürich. Zufallig war auch Kleinjogg dort auf Besuch. Auf Hirzeis Wunsch zeichnete Mechel den Kopf Kleinjoggs: „Kleinjogg lachte anfangs über meinen Einfall, endlich ergab er sich aus Freundschaft für mich, indem er sagte: Mir macht es wenig Mühe, stille zu sitzen, aber ich sehe keinen Nutzen davon, doch wenn ihr glaubt, daß es nutzen könne, so will ich es gern thun, ich verstehe von solchen Sachen nichts. Mechel erstaunte über das himmlische Feuer, das aus seinen Augen strahlte, und jedem Kenner der Mienen einen starken Verstand, Menschenfreundlichkeit und innere Zufriedenheit verrieth. Unter der Arbeit verloren sich mit einmal alle Züge des Gesichts; die Ründung der Muskeln fiel nieder, das Auge ward matt und das ganze Gesicht legte sich in Falten - man hatte das Zeichen zu der Hinführung einer Unglücklichen gegeben, welche ihr Kind, die unglückliche Frucht ihrer Ueppigkeit, ermordet hatte. Ach Gott! sagte er mit einem tiefen Seufzer, was hilft itzt das Kopfwegschlagen dieser Unglücklichen! Hätte man den Anfängen ihrer Ausschweifungen gewehrt, da diese Magd (sie war aus seiner Nachbarschaft) sich dem Müßiggang ergab, an den Freudentagen die Wirthshäuser besuchte, und an den verderblichen Lustbarkeiten Anteil nahm. Hier sollte man wehren und den oberkeitlichen Ernst zeigen; itzt ist es zu Späth, und das traurige Schauspiel, das man itzt giebt, wird nichts nützen, so lange man zugiebt, daß die Jugend die Anfange des Lasters für unschuldige Ergötzlichkeiten ansehe." 3 Hier nun fehlt jenes schockartige Innewerden über das Porträt, wovon Boßhard berichtete. Vom Resultat dieser Sitzung ist weiter nichts überliefert.4 Der höfliche „Socrate rustique" läßt es gleichmütig und gefaßt mit sich geschehen, den Sinn des Unternehmens sieht er jedoch nicht ein. Dann aber läßt seine Konzentration nach, die zivilisatorische Leistung des Stillesitzens wird in dieser wohl unkommunikativen Situation zwar erbracht, ohne daß er dabei sein lebhaftes Wesen hätte bewahren können. Dankbar ergreift Kleinjogg die Gelegenheit, über einen Gegenstand zu reden. Aber es sind noch andere Reaktionsweisen denkbar. In seinen Erinnerungen erzählt der Maler und Bruder Wilhelm und Jacob Grimms, Ludwig Emil Grimm, von der Begeisterung des 72jährigen jüdischen Händlers Mordechai Löb (1745—1817), genannt das Preußehe, über sein Bildnis. Es ist das „naive Staunen eines weitgehend in einer bilderlosen Tradition aufgewachsenen Menschen, der von seinem Bildnis überwältigt ist".5 Emil Ludwig Grimm schreibt: „Als ich es zeichnete, saß es eine Stunde, ohne sich zu rühren: ,No, Preußche, betrachtet einmal Euer Bild!' Er setzte seine Brille auf die spitze Nase 215

und sagte dann wie versteinert: ,1s es meglich in der Welt, so was mache zu kenne?' " 6 Über das Bedürfnis und die Fähigkeit, sein eigenes Bild entziffern, das meint, das zweidimensionale Bild als Abbild der dreidimensionalen Wirklichkeit begreifen und sinnvoll deuten zu können, liegen Berichte von Ethnologen vor. Sie zeigen, welche besondere Abstraktionsleistung die Bildbetrachtung „realistischer" Porträts von den Ungeübten erfordert. So berichtet Edmund Carpenter über die Reaktion der Biami in Neuguinea auf Polaroidfotos, auf denen sie selber dargestellt waren und die ihnen gezeigt wurden. Er schreibt: „In einem abgelegenen Dorf, das zwischen Sepik und dem Hochland lag, gaben wir jeder Person einen Polaroid-Schnappschuß von sich selbst. Zunächst fehlte das Verständnis: die Fotos waren schwarz und weiß, flach, statisch, geruchlos — weit entfernt von aller Wirklichkeit, die sie kannten. Wir mußten ihnen beibringen, sie zu ,lesen'. Ich deutete auf eine Nase auf dem Bild, berührte dann die wirkliche Nase etc. Dann geschah es oft, daß sich einer oder mehrere Jungen einmischten, aufmerksam vom Bild zum Subjekt schauten und dann riefen: ,Das bist du'." 7 Der Umgang mit Bildmedien ist als eine Kulturleistung, ähnlich dem Lesen und Schreiben, aufzufassen. Den Betrachtenden wird ein Abstraktionsvermögen abverlangt, das mit den gesellschaftlichen Wertungen in Bedeutsames und Unbedeutsames vertraut ist. Jede Abbildung vereinfacht und verzerrt entsprechend den herrschenden Darstellungskonventionen, und diese müssen erlernt werden. Nun ist aber nicht davon auszugehen, daß die beiden Bauern - Heinrich Boßhard und Jakob Gujer — bar allen Bilderwissens gewesen sind. Holzschnitt und Buchillustration gehörten zum Erfahrungshorizont auch der ländlichen Unterschicht. Boßhard zählte den Tag, an dem ihm der Dienstherr seiner Schwester in Meilen die Landkarten in der Münsterschen Kosmographie zeigte, zu den glücklichsten seines Lebens. Später kaufte er sich auf dem Martinimarkt fünf Landkärtchen. Und in der Wohnung des französischen Gesandten in Frauenfeld, dem er seidene Handschuhe bringen mußte, bewunderte er nichts mehr als die „schönen Landschäftgen, die an der Wand hiengen".8 Die fehlende Sensibilisierung der Unterschicht für das Porträt hat vielerlei Ursachen. Die dörfliche Öffentlichkeit ist durch die physische Präsenz der Teilnehmer an einem Ort gestiftet, und sie ist in ihrer Hauptsache mündlich, über die Wechselrede, die Mitteilung, das Gerücht organisiert. In diesem Kontext interessiert die menschliche Figur als Zeichnung nur, insofern sie - etwa als Karikatur — innerhalb des dörflichen Kommunikationszusammenhangs verbleibt. Jakob Stutz (1801—1877) überliefert in seiner Lebensgeschichte einen Vorfall, der dafür typisch ist. Er zeichnete einmal als Knabe außen an der Wand einer Scheune mit Kreide mehrere weibliche und männliche Figuren von Leuten, von denen er irgend etwas Böses wußte. Er schreibt: „Ich konnte zwar nur ihre Kleider so ziemlich treulich nach216

bilden und denjenigen, welche rauchten, denen gab ich eine Pfeife ins Maul. Dann aber schrieb ich unter jedes Bild dessen Übernamen, wie solche fast jedes, Alts und Jungs, im Dörflein haben mußte, nebst dem, was Böses von der betreffenden Person gesagt wurde. Zum Beispiel: ,Das Tintenfaß ist eine H . . . , das Luderzeug ist auch eine H . . . , der Pfeiferkübis ist ein Holzdieb, der Düchel ist ein Spieler, der Gälocher ist ein Hoffärtschwanz, das Blüderaug ist eine Lügen . . . ' . Der Schopfstand gerade an der Straße, wo die Leute häufig vorübergingen. Da aber zu jener Zeit fast niemand Geschriebenes lesen konnte, selbst solche nicht, welche schreiben gelernt hatten, so betrachtete man nur bloß die Figuren und lachte; auch diejenigen lachten arglos, welche da gezeichnet waren und so gleichsam am Pranger standen. Eines Abends aber hörte ich einen Höllenlärm von der Straße herauf; Männer, Weiber, Mädchen und Buben standen bei dem Schopf; die einen fluchten, die andern lachten; denn die Sache war entziffert worden. Die Ubernamen und alles weitere wurde wiederholt gelesen und dann hieß es: Ja, der oder die sieht präzis so.' Endlich kam das Luderzeug mit einem Kübel voll Wasser, goß ihn wütend an die Wand, und s' Zehräugli fuhr ebenso eifrig mit einem Besen über die Figuren her und vertilgte sie bis auf die letzte Spur." 9 Durch die ,Bildlegende' veränderte sich die indifferente Rezeption in eine engagierte, wo die einen über ihre Darstellung fluchen, die anderen darüber lachen. Es ist die Schrift, und nicht etwa eine visuelle Ähnlichkeit, die hier Identität stiftet. Die Schrift weist die Betrachter an, die Figuren ,richtig' zu sehen. Noch im 18. Jahrhundert war die Bildnisdarstellung ein Privileg einer Minderheit, die das Bildnis zur Repräsentation, als .Gedächtnis' für die Nachfahren, als Bewältigung der Angst vor der Vergänglichkeit nutzte. Die Frage stellt sich also, welche Voraussetzungen erfüllt sein mußten, damit jemand zu einem Bildnis gelangte. Die Öffentlichkeit mußte an seinem Gesicht interessiert sein. Es sind die positiven oder negativen Eigenschaften oder Leistungen einer Person, die den Ausschlag gaben, ob sie bildwürdig war.10 Von einfachen Leuten sind Porträtdarstellungen noch bis weit ins 19.Jahrhundert selten.11 Erst die Photographie schaffte hier neue Verhältnisse. Warum unseren beiden Bauern dieser Status der Bildwürdigkeit in Lavaters Physiognomik zuerkannt wurde, hat unter anderem mit der engen Beziehung von Jakob Gujer und Heinrich Boßhard zu der seit 1759 wirkenden Ökonomischen Kommission der Naturforschenden Gesellschaft Zürichs zu tun. 12 Beide galten als Musterbauern, die sich den innovativen Bestrebungen der städtischen Oberschicht nicht verschlossen. Sie waren nicht die einzigen, aber doch die bekanntesten. Als Diskurs zwischen Zentrum und Peripherie reagierte die Ökonomische Kommission auf den durch „wachsenden Bevölkerungsdruck sich verengenden Nahrungsmittel-Spielraum" 13 und die sich wiederholenden schweren Subsistenzkrisen mit der Forderung nach Kapitalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft - unter Wahrung der überkommenen Herrschaftsverhältnisse. 217

Dieser Zusammenhang zwischen dem Interesse der städtischen Führungsschicht an der Verbesserung der Landwirtschaft und der visuellen Aufwertung einzelner Bauern wird auch durch die dreizehn „Silhouettes von verdienstvollen Landwirthen" 1 4 im Protokollband 1778 der Ökonomischen Kommission deutlich (Abb. I). 15 Sowohl Jacob Gujer als auch Heinrich Boßhard sind gleich mehrmals in J o hann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775—1778) dargestellt. Grundlage von Lavaters Werk ist die behauptete Korrespondenz von Innerem und Äußerem: „Das Aeußerliche ist nichts, als die Endung, die Gränzen des Innern — und das Innre eine unmittelbare Fortsetzung des Aeußern." 1 6 In genauer Analogie zu der Arbeitsweise eines Charles Bonnet zerlegt Lavater das menschliche Gesicht in seine Teile, analysiert und ordnet sie. Über das Skandalöse, daraus auf den Charakter des betreffenden Menschen schließen zu wollen, hat ein Georg Christoph Lichtenberg alles Nötige gesagt.17 Der durchaus wissenschaftliche Anspruch eines Lavater m u ß notwendig vor dem komplexen Gegenstand scheitern. D e n n der menschliche Körper erzählt „nicht allein u n sere N e i g u n g e n und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach. Dazu seien ja die Grenzen der .Biegsamkeit' des Körpers, seine Perfektibilität und seine Korruptibilität unbekannt. ,Die Falte, die sich bei dem Einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung bricht, zeigt sich bei dem Andern nach weniger.'" 1 8 Aber nicht die Physiognomik als aufklärerisches Kuriosum interessiert hier, sondern als ein Dokument visueller Bemächtigung (beobachten, messen, vergleichen) von Menschen, deren Folgen bis heute nicht abzusehen sind. D e n n ein Bild ist nicht nur eine „Huldigung an den Gegenstand", es ist „Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstands"; und es ist ein wirksames Mittel, „ihn in Besitz zu n e h m e n [und] unter Kontrolle zu bringen". 19 Die Leidenschaft eines Lavater zum menschlichen Gesicht läßt sich einmal nach Peter von Matt als „Symptom des Durchbruchs moderner Individualität" begreifen. Das Gesicht wird in seiner Einmaligkeit zur sinnlichen, anschaulichen Metapher eines Prozesses, in dessen Verlauf der einzelne aus der überpersönlichen O r d n u n g der politischen Feudalität entlassen wird. 20 Von diesem Vorgang ist in erster Linie das Bürgertum betroffen. Zugleich thematisiert die Beschäftigung mit Gesichtern die dadurch entstandene Verunsicherung, nicht mehr zu wissen, mit w e m man es zu tun hat: „Der Bürger als der unabhängige Handeltreibende, der immer entschlossener auf freie Merkantilität Erpichte, findet sich dem Geschäftspartner allein und Aug' in Auge gegenüber. Wieviel er immer schriftlich abmacht, auf Papier bestätigt und besiegelt, über Vertrag und Unterschrift hinaus bedarf das erfolgreiche Geschäft einer Basis von Treu und Glauben. Das kommerzielle Risiko ist zu guten Teilen ein Wagnis auf den Charakter des Geschäftspartners [...]. So m u ß der Kaufmann die Fähigkeit entwickeln, dem Partner die Wahrheit v o m Gesicht zu lesen." 21 Komme, 218

schreibt Lavater, ein Unbekannter, „der ihm etwas verkaufen, oder abkaufen will, aufsein Comtoir", werde er ihn nicht ansehen, nichts aufsein Gesicht rechnen? Und weiter: „Wird er nicht, kaum mag er weg seyn, ein Urtheil über ihn feilen? ,Der Mann hat ein ehrliches Gesicht'; oder: ,Er hat ein schlimmes Paar Augen'; oder: ,Er hat was Widriges oder Einnehmendes?' " 22 Diese Seite der Physiognomik war den Zeitgenossen ohne weiteres evident. Die Kunst, Gesichter zu lesen, „schafft Lebenssicherheiten, die auf vielfache Weise als bedroht erfahren werden und es auch tatsächlich sind."23 Die Physiognomik Lavaters läßt sich aber nach Jean-Jacques Courtine und Claudine Haroche ebenso als eine Anleitung zur Kontrolle des Gesichts lesen, indem sie die Angst, vom anderen „erkannt" zu werden, ebenso befördert, wie den Versuch, dieser Festlegung zu entkommen. 24 Unter eben diesem Eindruck stand Joachim Brunschweiler (geb. 5.3.1770), ein Thurgauer Kleinmeister, als er sich anschickte, Lavater in Zürich zu besuchen: „Ich befand mich in einer nicht geringen Verlegenheit, da ich ganz allein, unbekannt und ohne Empfehlung vor den weltberühmten Gelehrten treten sollte, weil man mir sagte, er sehe den Leuten gerade an dem Gesicht, was sie wären, was sie denken und treiben, eine Kunst, dachte ich, welche die meinige noch übertrifft." 25 Ja, der Begriff des „ehrlichen Gesichtes" wird so allgemein, daß selbst ein Johann Bückler, genannt der Schinderhannes, sich dessen Bedeutung bewußt war. Auf die Bemerkung eines Mitangeklagten während des Prozesses, „daß da jemand Sie abmale, erwiederte Schinderhannes: ,Laß du den Mann gehen, ich habe ein ehrliches Gesicht, das sich nicht zu scheuen braucht; wer sich furchtet, mag sich umkehren'". 26 Bei seinem ersten Versuch über Kleinjogg benennt Lavater vor allem die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit seines Vorhabens. Ein Gesicht lasse sich weder richtig zeichnen noch richtig beschreiben. Schon oft habe er ihn beredet zu sitzen: „drey sehr geschickte und im Treffen glückliche Porträtmahler haben ihre Kräfte an ihm versucht. Ich hab alles aufgeboten, daß er erreicht werde. Alle Zeichnungen waren kennbar; aber vollkommen ähnlich keine! Alle mehr oder weniger Karrikatur."27 In der Beschreibung von Jakob Gujers Porträt, einem Brustbild im Profil nach rechts von Johann Heinrich Lips nach einer Zeichnung Georg Friedrich Schmolls gestochen28, vollzieht Lavater eine ins Sprachliche übersetzte Augenbewegung von oben nach unten und von innen nach außen. Er beginnt bei den Augen und den Augenbrauen und analysiert dann Nase, Mund, Kinn, Backen, Ohr und äußeren Umriß des Profils.29 Diese Hierarchie wird auch bei einem weiteren Versuch eingehalten. Dort ist von der Stirn, dem Auge, der Nase und dem Mund die Rede. 30 In einer zweiten Darstellung ist das Brustbild Kleinjoggs von Johann Rudolf Schellenberg, im Profil nach rechts (Abb. 2)31, auf einem ovalen, auf dem Gesimse einer Steinplatte aufgestellten Medaillon mit neutralem Hintergrund wiedergegeben. Der Dargestellte trägt „schulterlanges Haar, einen Rock ohne Knopfleiste sowie eine dunkle Halsbinde."32 Vor dem Fuße des Gesimses liegen eine Getreidegarbe, Sichel und Feldflasche; ein Putto, der den Bildbetrachter anblickt, 219

zeigt mit der linken Hand auf Kleinjogg, mit der rechten auf ein Stück Papier, auf welchem „Klyjogg" geschrieben steht. Wir haben hier auch ein Beispiel der von August Langen beschriebenen Rahmenschau33, dem Bedürfnis nach Beschränkung des Gesichtsfeldes, nach Isolierung und Eingrenzung des betrachteten Gegenstandes. Der Erkenntnisgegenstand wird durch die Medaillondarstellung abgesondert und isoliert, um so die Aufmerksamkeit und eine geschärfte Wahrnehmung zu unterstützen. Doch weder dieses noch jenes von Lips gestochene Porträt vermögen Lavater zu befriedigen, da doch „keine C o pie von einem solchen Originale möglich" 34 sei. Und auch in der von Daniel N. Chodowiecki gestochenen Zeichnung Heinrich Pfenningers findet Lavater „nicht die bäurische Lässigkeit, nicht die einfaltige Naivetät, nicht die unbedächtige Treuherzigkeit des Originals"35 (Abb. 3). Heinrich Boßhard ist gleich vier Mal in Lavaters Physiognomischen Fragmenten dargestellt, ohne Angaben seines Namens oder seiner Initialen. Daß es sich beim Dargestellten um Boßhard handelt, wissen wir dank der handschriftlichen Eintragungen Lavaters in sein Handexemplar. Eine erste Abbildung im sechundzwanzigsten Fragment des zweiten Teils („Treue, feste Charakter von Leuten gemeiner Extraktion") stellt Heinrich Boßhard, im Profil nach rechts, vor neutralem Hintergrund dar. Der Dargestellte hat dunkles, lockiges Haar und trägt bäuerliche Kleidung, ein Hemd mit Bündchenkragen, dunkle Halsbinde und kragenlosen R o c k (Abb. 4).36 Lavater schreibt: „Welch ein sichtbarer Unterschied von den beyden vorhergehenden! — Wer sieht da nicht bald in der festen vordringenden Stirne, in der kecken, vollen Augbraue, in der Tiefe und Festigkeit des Auges, den selbststehenden Mann - so fest, und fester als der vorige, obgleich weniger hart und beschnitten, obgleich mehr beugsam und leicht tretender? Sieht nicht den durchdringenden, ordnenden und urtheilenden Beobachter; in den kleinen Gebrochenheiten des äussersten Umrisses von der Nasenwurzel an bis zur Unterlippe den feinen, cultivirbaren und cultivirten Denker? In der Mittellinie des Mundes und in den Muskeln um Auge, Nase, Mund, welche Empfindsamkeit der Natur, nicht der Kunst! Im Ganzen, welche Stärke! Im Haarwuchs, im Lockenfälle, welche Zuverlässigkeit und Kraft! Doch von diesem Manne werden wir vielleicht bey einer bessern Zeichnung an einem andern Orte mehr reden — Er sey hier nur Beispiel fester, treuer Ergebenheit mit Kraft und That." 37 Ein weiteres Bildnis Boßhards befindet sich auf einem Blatt mit dem Titel „Zwanzig Silhouetten von Liebenden und Geliebten" (Abb. 5). 38 In diesem visuellen Diagramm von Lavaters Freundschaftsbeziehungen ist Boßhard als Nr. 17 (unmittelbar neben Jakob Gujer, der Nr. 18) abgebildet. Dazu der Text: „17. liebt, wie 14, unaussprechlich — und kann nicht so geliebt werden." 39 Und zu einer weiteren Abbildung Boßhards - „Und nachstehende Silhouette wird die stille Seele allen Aussichten der Religion weit öffnen" 40 (Abb. 6). Und noch einmal, im vierten Teil, wird das Porträt Boßhards gegeben, diesmal in seiner ganzen Gestalt, nach rechts gewandt, gezeichnet und gestochen von Schellenberg (Abb. 7). 41 Heinrich Boßhard trägt eine Pelzmütze, eine Arbeitsschürze über

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einer fein gestreiften Weste, darüber einen kragenlosen Rock, dessen linker Ärmel zerrissen ist. Im Knopfloch ist ein Paar Handschuhe befestigt, in der rechten Rocktasche ist der obere Teil einer Flasche sichtbar. In der Linken hält der Dargestellte einen Stock. Lavater schließt aus den Gesichtszügen notwendigerweise auf den klugen und verschwiegenen Menschen: „Wie einer hören kann, so kann er schweigen. Wie einer schweigen kann, so kann er dulden und handeln." 42 Dabei kannte Lavater Boßhard persönlich. 1774 hatte ihn Boßhard zusammen mit Pfarrer Sulzer von Seuzach in Zürich besucht. Boßhard ist von Lavaters Freundlichkeit und Demut tief beeindruckt. 43 Lavater fragte Boßhard bei dieser Gelegenheit, ob das von ihm eben gedichtete Osterlied „Auferstanden, auferstanden, bist du Herr, der uns versühnt" für „gemeine Leute verständlich genug seye." 44 Später schrieb Boßhard, bewegt von seiner Herder-Lektüre, Lavater einen Brief, da er gehört hatte, dieser verstehe und liebe das Buch. Er erhielt keine Antwort, erfuhr aber später, Lavater hätte sich über den Brief sehr gefreut und ihn an Herder weitergesandt. 45 Am 9. August 1775 erhielt er einen Brief Lavaters, worin dieser ihn bat, mit ihm nach Bauma zu gehen und drei der vornehmsten Separatisten nach Hegi zu begleiten, da er mit diesen reden wollte. 46 Im drauffolgenden Jahr besuchte Lavater auf der Rückreise von Elsau Boßhard in dessen „Hütte": „ [ . . . ] er [Lavater] durchgieng mein Häuschen und durchblätterte auch mein Tagbüchlein mit Wehmuth, sähe meine zerfallene Hütte, und sagte zu den anwesenden Freunden: ,Man muß da helfen — So kann dieser Mann nicht mehr wohnen!'" 4 7 Boßhard besuchte 1787, nach seinem Aufenthalt in Dessau, wo er hätte schweizerische Landwirtschaft einfuhren sollen, ein weiteres Mal Lavater in Zürich. Von den vier Darstellungen bezieht sich Boßhards Äußerung, die ich eingangs aus seiner Lebensgeschichte zitierte, mit großer Wahrscheinlichkeit auf das erste Profilbildnis. Die ganzfigurige Darstellung entfallt, da die Kleidung auf eine kalte Jahreszeit und nicht auf den Brachmonat (Juni) hinweist. Zudem entspricht die traditionelle Kleidung in vorbildlicher Weise den Erwartungen und Vorschriften der städtischen Führungsschicht, gemäß welcher die soziale Schichtzugehörigkeit vom äußeren Erscheinungsbild eindeutig ablesbar zu sein hatte. Dieses konventionelle Zeichensystem war Boßhard ohne weiteres geläufig, und sein Befremden, „so auszusehen", müßte überraschen. Die Profildarstellung hingegen verfährt, was diesen durch die Kleidung ausgedrückten Standesaspekt („der typische Bauer") betrifft, reduzierend. Das Individuum ist im Bild isoliert und tritt sich und seiner Gesellschaft als Einzelner gegenüber. Wider die Intention Lavaters, durch Profil, Schattenriß oder „Gränzumrisse" das „Feste von dem Zufälligen" 48 zu trennen, rückt das Profilbildnis hier den Dargestellten vom Betrachter ab, „versagt jeden Kontakt mit ihm" 4 9 und verleiht dem Bildnis die Aura des Besonderen. Ich möchte abschließend auf die literarische und visuelle Praxis Lavaters näher eingehen. Beständig stößt er an die Grenzen des Schrift- und Bildmediums. 221

Weder Sprache noch abbildende Kunst reichen, das „Original" oder „Urbild" zu treffen. Das Bildnis Goethes ist „nur so wahr, als wahr ein Gesicht, wie das seine, auf Kupfer zu bringen möglich ist." 50 Jedes Porträt vermag seine Aufgabe, das Urbild abzubilden, nur in unterschiedlichen Graden zu erfüllen. Seine Abhängigkeit von diesem ist struktureller Natur und begründet sein U n genügen: „Kein Mensch erschafft sich eine Sprache. Alle Sprache ist N a c h ahmung — Kein Mensch erschafft sich eine Schrift. Alle Schrift ist Nachahmung - kein Mensch erschafft ein Bild - alle seine Bilder sind Nachahmungen." 5 1 Lavaters Urbild-Abbild-Modell geht auf die Bildauffkssung Piatons zurück. „Da die Dinge die Ideen nur unvollkommen und teilweise widerspiegeln, konnte die Kunst, die wiederum die Dinge noch unvollkommener nachahmte, für ihn nur eine sehr mangelhafte und untergeordnete Bedeutung für die Erkenntnis der Wahrheit haben." 52 Doch wenn nach reformiertem Verständnis das Verhältnis der Ähnlichkeit, in welchem Abbild und Urbild zueinander stehen, zu Mißbräuchen bei „Unverständigen" fuhren kann, indem sie jenes mit diesem verwechseln, j e n e m die Verehrung zukommen lassen, die diesem zu gelten hätte, verkehrt sich bei Lavater die Relation: „Schöne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunst sind also immer ganz zuverläßiges Siegel und Pfand — schönerer Urbilder, schönerer Natur." 5 3 U n d sowenig Lavater dem künsderischen Nachbild Eigenständigkeit zugesteht, so wenig bewegen sich seine Dichtungen jenseits einer aufs Praktische gerichteten Wirksamkeit. 54 Der Text in den Physiognomischen Fragmenten ist Bildauslegung und nicht Bildbeschreibung. Der Text will das Bild nicht ersetzen, und dieses wiederum ist auf den interpretierenden Text angewiesen. Die Vorgehensweise dieser Bildbearbeitung frustriert regelmäßig die narrative Neugierde, welche das Bild beim ersten Betrachten auslöst, da nur selten auf die persönlichen Verhältnisse der Dargestellten eingegangen wird. Die Weise aber, wie derlei soziale Phantasien in Natur überführt werden, bleibt eindrücklich. Matthias Claudius hat in einer Besprechung der Physiognomischen Fragmente mit einiger Verwunderung die suggestive Wirkung, die von den Texten ausgeht, vermerkt: „Bei den meisten war's aber so: wenn ich 'n Gesicht angesehen habe, ohne den Text zu lesen, so hab ich nicht gewußt, was darin wäre und was ich davon sagen sollte; sobald ich aber Lavaters schönen Text dazu gelesen, hab ich's alles darin gefunden [... ]." 55 Ich habe mich bei meiner Darstellung auf zwei Bauern beschränkt. 56 Ihre Idealisierung - in Kleinjoggs Gegenwart verspürt Lavater „ein sanftes Ahnden der unverdorbenen Menschheit" 5 7 —, ihr Vorbild- und Vorzeigecharakter geht über die landwirtschaftliche Sphäre weit hinaus, indem sie in ihrer Einfachheit, in ihrer Treue und angeblichen Naturnähe der durch die Photoindustrie einsetzenden sozialen und kulturellen Mobilität der ländlichen Unterschicht ein erzieherisches Leitbild abgeben müssen. 58 In den Worten Lavaters: „der ganze Mensch Bauer! der ganze Bauer — Mensch! So ohne Sorgen! ohne A n strengung! ohne Plan!" 59

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Abb. 1. Dreizehn „Silhouettes von verdienstvollen Landwirthen"; aus dem Protokollband 1778 der ökonomischen Kommission (Staatsarchiv Zürich: B IX 68-229-231).

Abb. 2. Brustbild Jakob Gujers, im Profil nach rechts, gezeichnet und gestochen von Johann Rudolf Schellenberg (Lavater, Physiognomische Fragmente, I, 238).

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Abb. 3. Brustbild Jakob Gujers, im Profil nach links, gezeichnet von Heinrich Pfenningen gestochen von Daniel N. Chodowiecki (Lavater, Physiognomische Fragmente, II, zu 216).

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Abb. 4. B. Heinrich Boßhard, im Profil nach rechts, gezeichnet und gestochen Johann Rudolf Schellenberg (Lavater, Physiognomische Fragmente, II, zu 212).

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Abb. 5. „Zwanzig Silhouetten von Liebenden und Geliebten"; den handschriftlichen Notizen in Lavaters Handexemplar ist zu entnehmen, wer jeweils abgebildet ist (von links nach rechts und von oben nach unten): 1. Hans Heinrich Schultheß (1699-1783),

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Seidenfabrikant zu Hottingen; 2. Graf Christian August Heinrich Kurt Haugwitz (1752-1832), preußischer Staatsmann; 3. Doctor Johannes Hotze (1734-1801), Arzt in Richterswil; 4. Jakob Ludwig Passavant (1751—1827), Geistlicher, Prediger; 5. Johann Jakob Stolz (1753-1823), Prediger und Schriftsteller in Bremen; 6. Ulysses von Salis (Marschlins) (1728-1800), Minister; 7. Johannes Tobler (1732-1808), Zürcher Chorherr, Schriftsteller und Übersetzer; 8. Philipp Christoph Kayser (1755—1823), Musiker; 9. Lavater; 10. Johann Konrad Pfenninger (1747-1792), Pfarrer und Dekan L.s; 11. Johann Georg Schlosser (1739-1799), Schriftsteller; 12. Christoph Kaufmann (1753-1795), Abenteurer; 13. Johann Georg Zimmermann (1728-1795), Arzt und Popularphilosoph; 14. Johann Kaspar Häfeli (1754-1811), Pfarrer; 15. Graf Christian zu Stolberg-Stolberg (1748—1821), Dichter und Übersetzer; 16. Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1750-1819), Dichter; 17. Heinrich Boßhard; 18. Jakob Gujer (1716-1785), genannt Kleinjogg; 19. Johann Gottfried Herder (1744-1803) und 20. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) (Lavater, Physiognomische Fragmente, III, zu 36).

Abb. 6. Heinrich Boßhard, Silhouette nach rechts (Lavater, Physiognomische Fragmente, III, 258).

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Abb. 7. Heinrich Boßhard, gezeichnet und gestochen von Johann Rudolf Schellenberg (Lavater, Physiognomische Fragmente, IV, 396).

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Anmerkungen 1

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Heinrich Boßhard, Eines schweizerischen Landmannes Lebensgeschichte, vom ihm selbst beschrieben, hg. von Johann Georg Müller, Winterthur, Steinerische Buchhandlung 1804, 67. Zu Johann Rudolf Schellenberg (1740-1806) vgl. Brigitte Tanner/ Hans-Konrad Schmutz/ Armin Geus Johann Rudolf Schellenberg. Der Künstler und die naturwissenschaftliche Illustration im 18.Jahrhundert, Winterthur 1987 (Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur, 318). Brief Ulrich Bräkers vom 30. Oktober 1793 an seinen Verleger Johann Heinrich Füßli, in: Leo Weiß (Hg.), „Der Arme Mann im Tockenburg", Raschers Monatshefte 6 (1930), 348. Hans Caspar Hirzel, Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers, Zürich, Orell, Geßner, Füeßün u. Comp. 2 1774, 204-205 (Erstausgabe 1761; Nachdruck 1768). Vgl. auch Walter Gujer, Kleinjogg, der Zürcher Bauer 1716-1785, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1972, 74. Zu Christian von Mechel (1737-1817) aus Basel vgl. Schweizerisches Künstler-Lexikon, hg. vom Schweizerischen Kunstverein, 8 Bde., Frauenfeld 1905-1917; hier II, 2, 345-348. Von Christian von Mechel ist nur eine Radierung Jakob Gujers nach einer Zeichnung Schellenbergs überliefert; vgl. Lukas Heinrich Wüthrich, Das Oeuvre des Kupferstechers Christian von Mechel, Basel/Stuttgart 1959 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 75), 15 (Nr. 37). Ludwig Emil Grimm 1790-1863. Maler, Zeichner, Radierer, hg. von Ingrid Koszinowski, Vera Leuschner, Kassel 1985 (Ausstellungskatalog II: „200 Jahre Brüder Grimm"), 117; ebenso 57.163. Vgl. auch Karl Friedrich Schinkel, Reisen nach Italien. Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Aquarelle, Berlin 2 1982,191: „Wir kauften köstliche Trauben und Brot auf dem Markt (zwischen Amalfi und Neapel), gingen vor die Tür eines Weinkellers und tranken zu dieser Kost Wein, während die halbe Stadt sich um uns drängte und nur verscheucht werden konnte, wenn einer oder der andere der Maler anfing, die Personen zu zeichnen; denn sie haben den Aberglauben, daß sie sterben, wenn sie gezeichnet sind" (12. September 1824). Ludwig Emil Grimm, Erinnerungen aus meinem Leben, hg. u. ergänzt von Adolf Stoll, Leipzig 1911, 561 (s. Anm. 1); vgl. auch 560-561.611. Edmund Carpenter, The Tribal Terror of Self-Awareness: Principles of Visual Anthropology, hg. von Paul Hockings, The Hague/Paris 1975, 451-461.454: „In one remote village located between the Sepik River and the Highlands, we gave each person a Polaroid shot of himself. At first there was no understanding: the photographs were black and white, flat, static, oderless - far removed from any reality they knew. They had to be taught to ,read' them. I pointed to a nose in the picture, then touched the real nose etc. Often one or more boys would intrude, peering intendy from picture to subject, then shout, ,It's you!'" Das Zitat ist übersetzt in Ricabeth Steiger, „Fotos schaffen neue Bilder. Über die Nützlichkeit der Fotographie in der Ethnologie", in: Fremden-Bilder. Frühe ethnographische Fotografie; Fotografien vom Royal Anthropological Institute, London (Katalog), hg. von Martin Brauen, Zürich 1982, 78-104.86. Boßhard, Lebensgeschichte (s. Anm. 1), 13.26.41. Jakob Stutz, Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben als Beitrag zur Kenntnis des Volkes, Winterthur 1960, 150 f.

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Vgl. Martin Wamke, Cranachs Luther. Entwürfefür ein Image, Frankfurt/M. 1984 (Reihe „kunst stück", Fischer Taschenbuch 3904), 6 f. Lena Johannesson, Mass Mediated Faces. 19th Century and New Concepts of Visual Identity: Man and Piäure. Papers from The First International Symposium for Ethnological Picture Research in Lund 1984, ed. by Nild-Arvid BrinGeus, Stockholm 1986, 184-200, hier 186 f. Zur Ökonomischen Kommission vgl. Lob der Tüchtigkeit, Kleinjogg und die Zürcher Landwirtschaft am Vorabend des Industriezeitalters. Zum zweihundertsten Todesjahr Kleinjogg Gujers (1716-1785), Zürich 1985; Emil Eine, Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschafien des 18.Jahrhunderts in der Schweiz, Zürich 1986, 144-149. Zu Boßhard vgl. Boßhard, Lebensgeschichte (s. Anm. 1), 104: „ [ . . . ] und den 4ten May erhielt ich den ersten Preis von 2 Ducaten von der löblichen Naturforschenden Gesellschaft in Zürich"; ebenso 64-65.126. Peter Stadler, Pestalozzi. Geschichtliche Biographie. Von der alten Ordnung zur Revolution (1746-1797), Zürich 1988, 67. Staatsarchiv Zürich: B IX 68, 229-231. Siehe S. 223. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde, Leipzig/Winterthur, Weidmanns Erben u. Reich/Heinrich Steiner 1775-1778; hier I, 33. Vgl. Franz H. Mautner, Lichtenberg. Geschichte seines Geistes, Berlin 1968, 179— 208; ebenso Peter von Matt, . . . fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München/Wien 1983 (Literaturals Kunst), 93-99.137-140. Zitiert nach Mautner, Lichtenberg (s. Anm. 17), 186. Susan Sonntag, Über Photographie, München/Wien 1978, 143. Vgl. auch Paul Hugger, „Der schöne Augenblick". Schweizer Photographen des Alltags, Zürich o.J. [1990], 22; Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 161. Von Matt, Angesicht (s. Anm. 17), 137. Ebd. Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 47. Gert Mattenklott, „Der physiognomische Leib", in: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982, 18. Jean-Jacques Courtine, Claudine Haroche, Histoire du visage. Exprimer et taire ses emotions XVT-debut XIX siecle, Paris 1988,19-21. Vgl. auch Thomas Kleinspehn, Derflüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek bei Hamburg 1989 (kulturen u. ideen, in rowohlts enzyklopädie 485), 30. Joachim Brunschweiler, „Lehr- und Wanderjahre eines Portraitmalers am Ende des XVIII. und im Anfänge des gegenwärtigen Jahrhunderts", in: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, 9. Heft (1868), Frauenfeld 1867, 1-94, hier 14. Der erzählende Schweizer oder neuer und alter Haushaltungs-Kalender auf dasJahr 1805, Schafihausen, bey Johann Ulrich Schwarz zum Kessel (ohne Paginierung). Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 235. Ebd., zu 234. Ebd. 237. Ebd. II, 216f. Ebd. 235; Abbüdung 2 siehe S. S. 224. Brigitte Thanner, Schweizerische Buchillustration im Zeitalter der Aufklärung am Bei231

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spiel vonJohann Rudolf Schellenberg, 2 Bde., Diss. phil. M ü n c h e n , Winterthur 1987, 737 (Nr. 854). August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18.Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Darmstadt 2 1966 (1934). Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 235. Lavater, Physiognomische Fragmente II (s. Anm. 16), 216. Weitere Dantellungen Jakob Gujers finden sich in Teil III, 217 und in Teil III, zu 36 (Nr. 18); Abbildung 3 siehe S. 225. Lavater, Physiognomische Fragmente II (s. Anm. 16), zu 213; Abbildung 4 siehe S. 226. Ebd. 214. Ebd. III, zu 36; Abbildung 5 siehe S. 227. Ebd. III, 38. Ebd. III, 258; Abbildung 6 siehe S. 228. Ebd. IV, 396; Abbüdung 7 siehe S. 229. Ebd. Boßhard, Lebensgeschichte (s. Anm. 1), 68. Ebd. 68. Ebd. 89. Ebd. 9 4 - 9 7 . Ebd. 101. Lavater, Physiognomische Fragmente III (s. Anm. 16), 321. Warnke, Cranachs Luther (s. Anm. 10), 42. Lavater, Physiognomische Fragmente III (s. Anm. 16), 222. Ebd. III, 40. Carsten-Peter Warncke, Sprechende Bilder — sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen 33), 21 f. Lavater, Physiognomische Fragmente III, 41. Vgl. dazu auch Charlotte Steinbrucker, Lavaters Physiognomische Fragmente im Verhältnis zur bildenden Kunst, Berlin 1915, 188-194 („Über Kunst u n d Natur"). Vgl. Oskar v o n Arx, Lavaters Schweizerlieder, Diss.phil. Zürich, Ölten 1897, 1 f. Matthias Claudius, Ausgewählte Werke, hg. v o n Walter Münz, Stuttgart 1991 ( R e clams Universal-Bibliothek 1691), 9 8 - 1 0 2 , hier 99. Z u weiteren Bauerndarstellungen vgl. Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 2 3 9 - 2 4 0 („Ein zürcherischer Landmann B."); II, 211 f. („Ein Zürcherscher Landmann. ZB."); III, 307 f. („Maria Flückiger": „Der ganze äußere U m r i ß - gemein bäuerisch - "); III, 253 f. („Ein schwäbischer Bauer von vornen. M.K."); IV, 73f. („Melchior T h u t , ein Riese" aus Glarus: „Er war lange Zeit sogenannter Hoftürke oder Cammerdiener zu Ludwigsburg, und baut nun, w e n n ihn nicht irgend ein frommer Fürst an einen stillen H o f beruft, sein Land"). Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 236. Vgl. R u d o l f Schenda, „Der gezügelte Bauernphilosoph [... ] oder W a r u m Kleinj o g g (und manch anderer Landmann) kein Freund des Lesens war", in: Schweizerisches Archivfür Volkskunde 76 (1980), 214—228; Christoph Siegrist, „Zwischen O b j e k t und Subjekt. Darstellung und Selbstdarstellung des Bauern in der Schweizer Literatur des 18.Jahrhunderts", in: Recherches Germaniques 11 (1981), 7 - 2 7 . Lavater, Physiognomische Fragmente I (s. Anm. 16), 236.

AUGUST OHAGE

Über „Raserei fur Physiognomik in Niedersachsen" im Jahre 1777. Zur frühen Rezeption von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten" M o b y Dick hat Eigenschaften, die Ismael, den beschreibenden Erzähler, als Lavater-Schüler charakterisieren: „To scan the lines of his face, or feel the bumps o n the head of this Leviathan; this is a thing which no Physiognomist or Phrenologist has yet undertaken. Such an enterprise would seem almost as hopeful as for Lavater to have scrutinized the wrinkles on the R o c k of G i braltar, or for Gall to have mounted a ladder and manipulated the D o m e of the Pantheon." 1 So beginnt das Kapitel „ T h e Prairie" v o n Herman Melvilles grandiosem Prosa-Epos aus dem Jahre 1851, genau ein halbes Jahrhundert nach Lavaters Tod. D e m Leser stellt sich hier ein wissenschaftsgeschichtlich wohlinformierter, Lavaters und Galls „semisciences" ironisch verquickender Erzähler vor, dem die alle R e i c h e der Natur betrachtende Vielfalt der Physiognomischen Fragmente offenbar aus eigener Anschauung vertraut ist: „Lavater not only treats of the various faces of men, but also attentively studies the faces of horses, birds, serpents, and fish."2 A n d e n , knapper, verweist, nochmals fast genau hundert Jahre später, Karl Richter, der Ich-Erzähler in Arno Schmidts R o m a n Kaff auch Mare Crisium (1960), auf den Physiognomen, w e n n er in einer heiklen Szene über „1 wüste Fratze" seiner Partnerin erschrickt: „(Und dieser Gesichz = Ausdruck = jetz?): Hertha! —: Was w ü r d e Lawwatter dazu sagn. —«"3 (Lawwatter: In der eigenwilligphonetischen Orthographie des R o m a n s mit D o p p e l - W und Doppel-T: so spricht man den N a m e n in Norddeutschland, w o die Handlung spielt.) Hat etwa die „ W i r k u n g " Lavaters (also seiner Physiognomischen Fragmente) nachgelassen? Nicht, weil eine Romanfigur nicht mehr, wie noch bei M e l ville, seitenlang lavaterisch beschreibt und deutet, sondern weil sie nur noch den N a m e n des großen Physiognomen mit „Gesichz = Ausdruck" assoziiert? Lavater der Gesichterdeuter: Daß dies Klischee älter ist als die Physiognomischen Fragmente, läßt sich nachweisen (es verbreitet sich bereits im Zuge der Auseinandersetzung u m die beiden vorbereitenden Aufsätze Lavaters Von der Physiognomik aus d e m Jahre 1772), und so wie Melvilles Kapitel auf eigene Kenntnis einer der Ubersetzungen dieses Werks zurückgehen dürfte, so wird man andererseits Arno Schmidts Anspielung getrost als Versatzstück aus dem

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Fundus literarhistorischen Allgemeinwissens dieses als nonkonformistischen poeta doctus der deutschen Nachkriegsliteratur sich stilisierenden Autors bezeichnen können. Seine Anspielung ist also nicht einfach ein weiteres Zeugnis für Lavaters wie auch immer gearteten „Einfluß" auf einen Romancier, ähnlich wie bei Melville. D e n n die Lavater-Rezeption des amerikanischen Autors ist, anders als diejenige in Deutschland seit 1833, dem Erscheinungsjahr des Vierten Theils von Dichtung und Wahrheit, unbeeinflußt von Goethes Lavater-Porträt. Was immer dagegen unter der „Wirkung Lavaters" (sprich: seiner Physiognomischen Fragmente) in Deutschland zu verstehen sein mag: sie ist, vermutlich schon seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, kaum mehr durch eigene Lektüre des berühmt-berüchtigten Werkes selbst bestimmt, sondern meist sekundär durch Kritiken in Zeitschriften — den Journalen der Zeit - und Satiren, durch Parodien und Travestien, schließlich vor allem durch das Kapitel in Goethes Autobiographie vermittelt. Während die Physiognomischen Fragmente selbst deutlich Zeugnis geben von Lavaters Rezeption etwa der Schriften Winckelmanns und des Laokoon von Lessing, wie der Wortlaut nicht weniger Fragmente zeigt, fallt es dagegen schwer, eine überprüfbare Bezugnahme auf die eigentümlichen Positionen der Physiognomischen Fragmente bei einer Vielzahl von Autoren seit dem 18. Jahrhundert nachzuweisen, denen solches nachgesagt wird. 4 Damit sind grundlegende Fragen der Lavater-Rezeption berührt, die jetzt nicht zu diskutieren sind. Ich möchte an einem Einzelfall prüfen, ob nicht auch die in der Lichtenberg-Forschung verbreitete R e d e von der prinzipiellen Gegnerschaft des Antiphysiognomen in Göttingen gegen den Physiognomen in Zürich zu kurz greift und ihrerseits zum Klischee erstarrt ist. Der Fall gehört in das Jahr 1777, in dieselbe Zeit, in der Lavaters Freund und übereifriger Propagandist Johann Georg Zimmermann in Hannover enttäuscht feststellt: „Überhaupt m u ß ich dir [Lavater] sagen, es scheine mir, die wenigsten Menschen lesen deine Physiognomik, oder wenigstens finde ich beynahe keinen, der weiß was darinn ist. Sie beurtheilen dich bloß nach dem was sie in den Journalen gegen dich lesen." 5 Der Vor fäll, der Zimmermann geradezu in Verzweiflung stürzt, ist die von ihm in Hannover beobachtete und aus Göttingen berichtete Reaktion des Publikums auf Lichtenbergs Kalenderabhandlung Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis v o m September desselben Jahres. W i e erklärt sich n u n in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das „im Jahr 1777 im Sommer in Niedersachsen" wahrgenommen wurde: eine „Raserei für Physiognomik"? „Als im Jahr 1777 im Sommer Niedersachsen von einer Raserei für Physiognomik befallen wurde, die allen Vernünftigen, welche wußten, mit was für unermeßlichen Schwierigkeiten die Sache verbunden ist, abscheulich vork o m m e n mußte, so dachte ich, dem nach dem Herrn Professor Elxlebens Tode die Ausgabe des hiesigen [Göttingischen] Taschenkalenders aufgetragen worden war, ich könnte den Kalender nicht nützlicher machen, als w e n n ich 234

einige Mittel gegen diese Seuche darin vorschriebe, indem ich dem gemeinen Haufen zeigte, daß man wenigstens behutsam verfahren müßte, und daß man den Menschen aus seiner äußern Form nicht so beurteilen könne wie die Viehhändler die Ochsen." Mit diesen wohl 1780 geschriebenen Sätzen leitet Lichtenberg seinen Bericht von den über die Abhandlung wider die Physiognomen [also seine eigene sog. Antiphysiognomik] entstandenen Streitigkeiten ein. „Raserei für Physiognomik" in „Niedersachsen" „im Jahr 1777 im Sommer" - die Lichtenberg-Kommentatoren wissen offenbar, w o r u m es sich handelt, denn nähere Erläuterungen scheinen ihnen nicht nötig. 6 Tatsächlich läßt der Kontext keinen Zweifel, daß es - auch wenn statt des Namens die Andeutung „auf einen gewissen M a n n " sich beschränkt — u m den „Schwärmer" Lavater und u m dessen Publikum geht, ebenfalls „Schwärmer", die „auf Tausende angewachsen" waren, vor allem aber u m die zwischen Hannover und Zürich bekanntermaßen gepflegte Korrespondenz Zimmermann — Lavater. Allein der N a m e des Hofrats Z i m mermann, in dem „Deutschland [... ] wenigstens den jetzigen weltlichen Arm der Physiognomik" sieht, wird ausdrücklich genannt und seine „herkulische Laune" apostrophiert, „die sich leicht, wenn er seinen Stolz gekränkt glaubt, sogar ins Rohrsperlingische zieht". 7 So sachlich darstellend, wie dieser „Bericht" anhebt, so polemisch aggressiv gebärdet er sich, nach ironischem Zwischenspiel, schon in den zitierten Sätzen am Schluß des zweiten Absatzes. Ist nicht aber vielleicht bereits der erste Satz, insbesondere der Ausdruck „von einer Raserei für Physiognomik" zumindest in seiner Tendenz eine Übertreibung, rhetorisch: eine Hyperbel? Eine nähere Untersuchung kann erweisen, wie sehr Lichtenberg an die Adresse eines b e stimmten, über Hintergründe informierten Publikums, also implicite redet. Zielscheibe seines Redens ist, wie sich zeigen wird, v o m ersten Satz an mindestens ebensosehr wie Lavater dessen eigenmächtiger Agitator Zimmermann in Hannover. Zunächst der Zeitpunkt: „im Sommer 1777." An ein besonderes Ereignis zu denken, ein punktuelles Vorkommnis, das Lichtenberg meinte, scheint mir nicht nötig, wenn man den zeidichen Kontext bedenkt, in den die Formulierung gehört: Drei Bände der Physiognomischen Fragmente (1775, 1776, 1777) lagen bereits vor, der Leipziger Oster-Meßkatalog 1777 hatte angekündigt, es werde „künftig" ein „4. und letzter Versuch" (so die korrekte Bezeichnung der einzelnen Bände) erscheinen 8 , die Zahl der Subscribenten ging zurück, das Unternehmen geriet in eine Krise. Nebenbei bemerkt: Die in der Lichtenberg-Forschung verbreitete Behauptung, (allein oder doch vorwiegend) Lichtenbergs antiphysiognomische Schriften hätten den Erfolg von Lavaters Physiognomischen Fragmenten beendet, ist schon deswegen unzutreffend, weil ihnen weniger spektakuläre, aber u m so wirksamere Schritte anderer M e n t o ren und Autoren, Mitarbeiter und Beiträger vorausgingen: Goethes Rückzug in eine bloße Vermittlerrolle zwischen Autor und Verlag, Herders auffällig 235

abnehmendes Interesse, Wielands Schwanken, Nicolais Ablehnung, Verleger Reichs Drängen auf Abschluß mit Band IV. Im Sommer 1777 lag Zimmermanns Werben um eine „Freundschaft" zwischen Lavater und Lichtenberg aus der Anfängsphase der Zusammenarbeit zahlreicher Beiträger zu Lavaters großem Werk weit zurück. Ohne Zweifel ist Lichtenberg anfangs, während seines Aufenthalts in London und vor Erscheinen des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente, zu den Beiträgern zu rechnen, weil er von sich aus, also aus eigenem Antrieb, geeignete Kupferstiche für Lavaters Werk nach Hannover schickte, teils sogar auf Zimmermanns ausdrückliche Bestellung. Seine im Timorus (1773) formulierten Invektiven gegen den Zürcher Physiognomen hinderten ihn so wenig an dem Kooperationsangebot wie umgekehrt Lavater nicht aus Vorbehalten gegen Lichtenberg dessen aus London über Hannover nach Zürich übersandte Kupfer verschmähte. Der Grund scheint mir, abgesehen von seiner Furcht vor der weiter anschwellenden Flutwelle alter und neuer Korrespondentenpost, in dem bereits fesdiegenden Konzept fiir den ersten Versuch der Physiognomischen Fragmente zu liegen, das als Gegenbild moralischer und körperlicher Schönheit drei Tafeln mit einem Ensemble von Köpfen nach Hogarth präsentierte, so daß es der Karikaturen, die Lichtenberg anbot, — Blätter von Henry William Bunbury, dem neuen Hogarth, — nicht mehr bedurfte. Vor allem aber werden schon hier prinzipiell unterschiedliche Auffassungen zweier Physiognomen erkennbar, wie sie erst später einem größeren Publikum sich präsentierten. Denn der jeweilige Begriff von Welt- und Menschenkenntnis in seiner fundamentalen Differenz tritt hervor, wenn der perfektibilitätsgläubige, auch im Gesicht des Verworfensten nach Spuren der Gottebenbildlichkeit forschende Lavater, dem Lichtenbergs in London geübte Menschenbeobachtungsgabe durch Zimmermann monatelang aufdringlich anempfohlen wurde, schließlich mit den Worten absagt: „Lichtenberg könnte mein Freund werden, wenn wir nur Einen zusammentreffungsPunkt [!] wählten. Seit ich die Welt beßer kenne, liegt's mir ob, die Menschen nur von der Seite gegen einander zuwenden [!], wo sie sich anziehn, — nicht mehr wie ehmals ganze Menschen mit ganzen Menschen zusammenzuschmelzen. - Wer kann verschiedener seyn, wie Goethe u: ich? u: wer mehr zusammenhangen? Mehr - wol! Aber wer fester an den wenigen Punkten die sich berühren? Suchen mag ich indessen keine Freunde mehr. Ich habe genug. Kommen mir ungesucht mehr, mag' ich's annehmen. Im hiesigen (meiner Seelsorge übergebenen) Zuchthause hab' ich auch Anlaß (nämlich nur für mich) Lichtenbergische Beobachtungen zumachen." 9 „Lichtenbergische Beobachtungen": Das meint den kritisch karikierenden Blick auf die Welt mit den Augen Hogarths und Bunburys; ihm widersetzt sich Lavater programmatisch mit seiner Suche nach Übereinstimmungen im Sinne von Menschenliebe, die Gottebenbildlichkeit aufspürt.10 Sodann der Ort: „Niedersachsen." Dieser Name, im 18.Jahrhundert eher gelehrter Sprachgebrauch und von Lichtenberg nicht eben häufig benutzt, be-

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gegnet erst seit den sechziger Jahren häufiger in der Reiseliteratur. Jedenfalls meint er den alten Reichskreis, also Saxonia inferior, verglichen mit dem heutigen Bundesland ein größeres, nach Norden das Herzogtum Holstein, im Nordosten Mecklenburg, im Osten auch Teile des heutigen Sachsen-Anhalt umfassendes Gebiet. Große Teile dieses Gebiets hatte Lichtenberg, mit Aufgaben der Landesvermessung betraut, seit 1772 mehrfach bereist, wie er andererseits in dem westlich angrenzenden westfälischen Kreis, also in Minden, Osnabrück, Bückeburg unterwegs war, w o er im September 1772 Herder persönlich kennen lernte. W e n n er nur „Niedersachsen" nennt, so vermutlich deswegen, weil hier die meisten Subscribenten der Physiognomischen Fragmente saßen, wie aus den Subsribentenverzeichnissen besonders der beiden ersten Bände ablesbar ist. Zweifellos war Lichtenberg außerdem durch hannoversche Gewährsleute bekannt, daß es Zimmermann war, dessen eigenmächtige W e r becampagne zugunsten Lavaters seit Herbst 1774 dem Autor und dem Verleger diese zahlungskräftige Klientel eingebracht hatte. Zimmermanns „ C o n nexionen" mit den höheren Ständen waren also im Spiel.11 Schließlich „Raserei fîir Physiognomik": Raserei überhaupt, ein Lichtenberg selbst durchaus nicht unvertrauter Zustand bedenklich reduzierter Vernunftkontrolle, ist zu unterscheiden von „Raserei für" [etwas], ein Seelenzustand, der vielleicht zu paraphrasieren wäre mit .übertriebenes, obgleich widervernünftiges Eintreten zugunsten von etwas Umstrittenem.' Er selbst notiert in einem Brief an seinen besten Freund (tatsächlich wohl nur in sein Merkbuch /„Sudelbuch"), Werther antizipierend und frühzeitig spätere Attacken gegen dessen Autor und den R o m a n relativierend, unter die eigenen Eingeständnisse erotischer Bedrängnis: „geraßt gegen Ende des Februars 1769 da der Saffi anfieng in die Bäume zu steigen. Viel Nonsense was im Rausch vernunfFt zu seyn schien". 12 So die nachträgliche Selbstkritik eines unbestechlichen Psychologen. Ebenfalls in seinem Merkbuch hält er fest: „Das Studium der Naturhistorie ist n u n [Mitte Nov. 1776] in Deutschland bis zur Raserey gediehen." 13 Das richtet sich gegen eine mit Linné bloß klassifizierende und im übrigen noch latent physicotheologisch bestimmte Naturgeschichte. Diese Formulierung führt zeitlich und thematisch in die Nähe jener „Raserei für Physiognomik". Physiognomik: Dies Fremdwort, bisher nur unter Gelehrten bekannt, der N a me einer Wissenschaft aristotelischer Dignität, die hier und da wissenschaftliche Akademien beschäftigt hatte, im übrigen aber großer Skepsis begegnete, war seit 1772, als Lavaters beide Abhandlungen Von der Physiognomik die Lehre von der Entsprechung zwischen dem Äußeren des Menschen und seinem I n neren aufzuwerten versuchten, oft mit dem Namen Lavater assoziiert worden. Es war Zimmermanns Indiscrétion, die Lavaters Vortrag vor der Naturfbrschenden Gesellschaft in Zürich dem großen Publikum zugänglich machte. Für diese Vorgänge seit Februar 1772, das heißt für die Frühphase der R e z e p tion von Lavaters Schriften über Physiognomik und darüber hinaus fur die 237

wechselhafte Entstehungsgeschichte des Werks überhaupt, ist Lichtenberg einer der verläßlichsten Zeugen. Der erste Aufsatz Von der Physiognomik, im Februar 1772 von Zimmermann anonym im Hannoverischen Magazin publiziert, wurde in Göttingen kurz darauf Lichtenberg zugeschrieben, wie dieser sich selbst später erinnert: ein für ihn schmeichelhaftes Mißverständnis. 14 W i e denn der Zürcher Gelehrte ihm längere Zeit noch als Selbstbeobachter, Psycholog und Schriftsteller, der „zu weilen ausserordentliche Empfindungen habe, die sich nicht sagen lassen", als bedeutender Zeitgenosse galt: „ein groser Kopf'. 1 5 U n d Zimmermann ist damals noch „der verehrungswürdige Herausgeber". 16 Dieser Herausgeber nun trat zur selben Zeit, als sich Lichtenberg übrigens in Hannover aufhielt, wiederum durch Lavater nicht ausdrücklich autorisiert, in derselben Rolle, aber in anderem Gewand, abermals als Lavaters selbstbestellter Mentor auf. D e n n der Separatdruck der ersten Abhandlung, nun unter dem Titel J.C. Lavater von der Physiognomik bei Weidmanns Erben und Reich im Sommer 1772 erschienen, datiert in seinem Vorbericht mit „Hannover den 20. Merz 1772" und dem Herausgebernamen, J . G. Zimmermann". Auch diesen Separatdruck kannte Lichtenberg. Denn sein Befund einer „Raserei für Physiognomik" ist ganz offenbar die wördiche Replik einer Formulierung Zimmermanns am Schluß seines Vorberichts: „Eine Physiognomanie ist durch die Bekanntmachung dieser Blätter nicht leicht zu befürchten, w e n n man erwäget, was mir neulich ein Philosoph ohne Bildsäule, Mantel und Bart, aber ein ebenso großer Philosoph als irgend einer aus dem Alterthume (Herr Sulzer in Berlin) geschrieben hat: in Lavaters Physiognomik sind wirklich tiefsinnige Einsichten. Aber wehe dem, der glaubt daraus die Kunst zu lernen, w e n n er nicht Lavaters Aug und Herz hat." 17 A m Schluß zitiert Zimmermann großzügig aus einem Privatbrief, den er soeben erhalten hatte. 18 Ein weiteres Indiz für eine implicite Bezugnahme Lichtenbergs auf Z i m mermann dürfte in der Kennzeichnung der „Raserei" als einer „Seuche" liegen. Auch darin konnten zeitgenössische Leser eine Replik auf Zimmermann erkennen, nämlich auf seinen Aufsatz Von der Windepidemie in der Stadt Hannover, und der sogenannten neuen Krankheit, der ebenfalls im Hannoverischen Magazin, und zwar im Januar 1772, nur einen Monat vor Lavaters erster Abhandlung zu lesen war über eine kollektiv eingebildete Epidemie (daher „ W i n d epidemie"), eine von Zimmermann tatsächlich als gewöhnliches „gallichtes Fieber" bezeichnete Krankheit. Von einer „Windepidemie" in der Stadt H a n nover also, die der Leibarzt als ein in Wahrheit harmloses Fieber entlarvte, zu einer „Raserei für Physiognomik" als veritabler „Seuche", die der Physiker und Astronom wenige Jahre später in „Niedersachsen" diagnostizierte — eine bedenkliche Konjunktur des Umgangs mit dem W o r t Physiognomik und noch mehr der Praxis des Physiognomisierens. Was genau und was im einzelnen mit „Raserei" gemeint sein kann: ungegründetes R e d e n über eine bloß in der Tradition - überdies einer fragwürdigen Tradition — „Wissenschaft" genannte Disziplin, leichtfertiges Urteilen 238

über Porträts, insbesondere von Zeitgenossen, unsinnige Vorstellungen von zukünftigen Möglichkeiten dieser „Wissenschaft" (etc.) — was hier alles gemeint sein kann, soll jetzt nicht erörtert werden. Fest steht, daß Lichtenberg selbst betroffen, ja das Opfer war von dem, was Zimmermann in Szene setzte. Als der nämlich erkennen mußte, daß der Göttingische Professor mehr und mehr zu Lavater auf Distanz ging, ja als dessen Opponent sich einen N a m e n schuf, da scheute er nicht vor Denunziation zurück: Lichtenberg habe „Bosheit und persönlichen Haß gegen dich" [Lavater].19 In dieser Situation, in einer Phase der Irritation und der Enttäuschung über Lavaters immer noch nicht auf Abstraktion, Regeln, Anwendbarkeit hinarbeitende physiognomische Praxis, schickte Zimmermann die Silhouette Lichtenbergs an Lavater, nachdem er zuvor bereits mehrfach auf dessen Mißbildung hingewiesen hatte, mit dem Bemerken: „Alles dreht sich darinn [gemeint ist die Kalenderabhandlung Über Physiognomik; wider die Physiognomen] u m die Achse von Lichtenbergs Buckel." 20 Lenz forderte fast gleichzeitig im Teutschen Merkur Lichtenberg öffendich auf, sein Gesicht durch Lavater beurteilen zu lassen. Lichtenberg bot, ebenso öffendich, sein Schattenbild an21, nachdem er längst wissen mußte, daß Zimmermann, eigens u m Lavater mit Porträts zu versorgen, seit Jahren in Hannover einen Silhouetteur beschäftigte, der auch Göttinger Studenten bediente. O b Lichtenberg die über seine Silhouette niedergeschriebenen Urteile, den Stadtklatsch von Hannover und Göttingen, h ö ren mußte, ist nicht überliefert, aber nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls war er unter allen, die mit dem Zürcher Physiognomen in einen Disput gerieten, am stärksten ausgesetzt und betroffen. Der Mörder Rüdgerodt als „Urgenie", die „odenschnaubenden" Klopstockanhänger Friedrich Leopold und Christian Stolberg, die in Göttingen ums Haar seine Nachbarn geworden wären, der Werther-Dichter und andere „webende Genies" in effigie — nicht allein die im Geniestil beschriebenen und gedeuteten Porträts in den Physiognomischen Fragmenten, sondern der halböffentliche Umgang mit Porträtkupfern überhaupt, wie er im ZimmermannKreis in Hannover schon vor Publikation des ersten Bandes betrieben wurde, dürfte Lichtenberg als „Raserei" erschienen sein. Dazu vielleicht auch die keineswegs eindeutig gegen Lavater gerichtete Haltung mancher Gelehrter, darunter seines Freundes Deluc, Boies, Bürgers, Sturz', ja Mendelssohns. 22 Insgesamt gesehen, nicht allein in Bezug a u f j e n e „Raserei für Physiognomik", ist Lichtenberg, wie mir scheint, viel zu wenig als der für die Wirkungsgeschichte der Physiognomischen Fragmente in den siebziger Jahren besonders verläßliche Zeuge gesehen worden, der er tatsächlich ist. Sein unvoreingenommenes, aus der Lektüre der Aussichten in die Ewigkeit, des Geheimen Tagebuchs, der beiden frühen Abhandlungen Von der Physiognomik gewonnenes U r teil über den Psychologen Lavater, sein Lob von Ausstattung und Druckqualität des Werks zu Beginn („Das Papier, Format, Druck und die gröstentheils guten Kupferstiche machen einen Eindruck auf einen ehe man noch ließt, der den Bemerckungen selbst zum Vortheil gereicht" 23 ), sein Vorsatz, „Eine kurze

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Physiognomik [zusammenzustellen]. Das bewährteste aus Lavatern gezogen, ohne Wörterpracht" 2 4 nach Abschluß des Werks werden meist übersehen. Woraus Lichtenberg-Leser (und nicht nur sie) seit zweihundert Jahren Lavater kennen, das ist die schon im Herbst 1778 in einer Auflagenhöhe von mehr als 8 000 Exemplaren verbreitete Antiphysiognomik und das gleichzeitige Fragment von Schwänzen. Eines der 750 Exemplare der Originalausgabe der Physiognomischen Fragmente (die übrigens u m dieselbe Zeit noch nicht verkauft waren) haben, nicht nur in Hannover, wie Zimmermann meldete, sondern auch in Göttingen, wie die Ausleihregister der Universitätsbibliothek beweisen, nur die wenigsten Zeitgenossen zu Gesicht bekommen. Wer aber u n ter den Göttinger Lesern — fast ausnahmslos Professoren aus allen vier Fakultäten — das Werk eher als Erbauungslektüre, wer dagegen es als wissenschaftliches Werk aufnahm, ist schwer auszumachen. Der berühmte Jurist J o hann Stephan Pütter, ein frommer Mann, dürfte zur ersten, der Mediziner Johann Friedrich Blumenbach, der Begründer der modernen physischen A n thropologie, zur zweiten Gruppe gehören. Im Jahre 1801 geschah es, daß in der Göttinger Bibliothek, deren vollständige und im Geiste enzyklopädischen Denkens des Aufklärungszeitalters systematisierten Bestände auch den Zugriff auf abgelegene Spezialliteratur erlaubte, jemand nach Titeln suchte, die in den ihm unterstehenden Bibliotheken von Weimar und von Jena nicht anzutreffen waren — Goethe, auf der Suche nach Literatur zur Geschichte der Farbenlehre. Er fand sie, ohne auf N a m e n von Autoren sich beziehen zu müssen, dank des reich differenzierten Göttinger Realkatalogs. Lavaters Physiognomische Fragmente hätte er damals unter der Signatur Physiologia gefunden. Diese systematische Zuordnung durch die Göttinger Bibliothekare des Jahres 1775 folgt der modernen Begriffsbestimmung der Physiognomik durch Albrecht von Haller, die Lavater im ersten Band der Physiognomischen Fragmente unter den „Zeugnissen fur Physiognomik" selbst zitiert: zwischen dem Affekt und der Muskelbewegung „nascitur Physiognomie"25 Seit Beginn des 19.Jahrhunderts lautet die Göttinger Signatur fur die Physiognomischen Fragmente: 4° Zoología XI1907. Darin bildet sich Wissenschaftsgeschichte ab: Die physische Anthropologie als die (neue) Lehre von der Natur des Menschen hat sich durchgesetzt. O b indessen nicht Lavaters Hauptwerk eher, wie die Mehrzahl seiner übrigen Schriften, unter die Signatur Theologia gehörte, wäre die Frage.

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Anmerkungen 1 2 3 4

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Herman Melville, Moby Dick, N e w York 1967, 221. Ebd. Arno Schmidt, Kaff auch Mare Crisium, Karlsruhe 1960, 213 f. Vgl. bes. Graeme Tytler, Physiognomy in the European Novel. Faces and Fortunes, Princeton, N. J., 1982. Diese Arbeit geht in der Behauptung eines „Einflusses" (impact) von Lavaters physiognomischen Schriften speziell auf die Erzählliteratur des 18. und des 19.Jahrhunderts bisher am weitesten, kann aber als Beitrag zu einer Wirkungsgeschichte in vielfacher Hinsicht nicht befriedigen. Die folgenden Hinweise, verabredungsgemäß verfaßt als Kurzreferat für das Zürcher LavaterSymposion, müssen notgedrungen auf eine Auseinandersetzung mit Tyder ebenso wie auf eine prinzipielle Kritik eines verbreiteten unreflektierten Redens über die Fortwirkung Lavaters als des bekannten Physiognomen verzichten. Die Form des Vortrags ist beibehalten, Nachweise in den Anmerkungen beschränken sich auf das Nötigste. Zimmermann an Lavater, 6. Okt. 1777, ZBZ FA Lav. Ms. 535 (ungedruckt). Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Kommentar zu Bd. III, München 1974, 271, zu 564, Anm. 1. Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe III, hg. von Wolfgang Promies, München 1972, 564 f. Allgemeines Verzeichniß derer Bücher, welche in der Frankfurter und Leipziger Ostermesse des i 777Jahres [...] herauskommen sollen [Meßkatalog], 306f. Lavater an Zimmermann, 14.-16.3.1775, ZBZ FA Lav. Ms. 587 (ungedruckt). Über die Zusammenarbeit Lichtenbergs und Zimmermanns zugunsten Lavaters, insbesondere über Lichtenbergs Beschaffung von Kupferstichen des Karikaturisten Henry William Bunbury (1750-1811) in London für Lavater siehe August Ohage, „Lichtenberg als Beiträger zu Lavaters .Physiognomischen Fragmenten'", in: Lichtenberg Jahrbuch 1990, 28-51. Siehe Lichtenberg an Schernhagen, 19.3.1778. Georg Christoph Lichtenberg. Briefwechsel I, hg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne, München 1983, Nr. 461, 805. Lichtenberg an Jons Matthias Ljungberg, [Ende Februar 1769], (s. Anm. 11), Nr. 8, 13. Lichtenbergs Aphorismen, hg. von Albert Leitzmann, Heft 3, Berlin 1906, F 261 (Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe I, hg. von Wolfgang Promies, München 1968, F262). Lichtenberg (s. Anm. 11), 261. Lichtenberg, „Anmerckungen über des Bruders Brief' [an Friedr. Christian [?] Lichtenberg, Winter 1772/73 ?] (s. Anm. 11), Nr. 111, 214. Lichtenberg (s. Anm. 13), F 796. (Schriften u. Briefe I, hg. von Promies (s. Anm. 6), F804). J. C. Lavater von der Physiognomik, Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich 1772, Vorbericht, 6. Joh. Georg Sulzer an Zimmermann, 13.3.1772. Siehe Eduard Bodemann, Johann Georg Zimmermann, Hannover 1878, 210. Zimmermann an Lavater, 15.9.1777, ZBZ FA Lav. Ms. 535 (ungedruckt). Zimmermann an Lavater, 3.11.1777, ZBZ FA Lav. Ms. 535.

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Details dazu in meinem Aufsatz (s. Anm. 10), hier S.34. Mendelssohn: „Die Mathematici wollen immer wie die Elephanten einhergehen, nirgendwo den Fuß hinsetzen als wo er feststeht; aber wenn sie dann einmal zu galoppiren anfangen, so behüte Gott uns und die Wahrheit vor ihrem Elephantengallop." Zimmermann überliefert dies Diktum Mendelssohns in unmittelbarem Anschluß an seine Inbezugsetzung von Lichtenbergs Buckel und dessen Antiphysiognomik (s. Anm. 19). Er fährt an dieser Stelle fort: „Ich erstaunte, daß ein Astronom so entsetzlich deraisonniren könne. Aber gestern noch, sagte mir Herr Moses Mendelssohn in meinem Hause hier in Hannover" [folgt das Zitat über die Mathematici als Elefanten], O b der Wortlaut authentisch ist oder nicht, jedenfalls handelt es sich hier um eine Opposition Mendelssohns gegen Lichtenberg, die in den Kontext anderer seiner Äußerungen zum Thema Physiognomik sich fugen.

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Lichtenberg an Schernhagen, 17. Okt. 1775 (s. Anm. 11), Nr. 289, 569 f. Lichtenberg, Aphorismen (s. Anm. 13), 429 (gestrichene Notiz Lichtenbergs auf dem Schlußblatt unter der Überschrift: „Vielleicht zu Dieterichs Kalender"). „In terrore musculi validissime os et oculos aperiunt. Hinc nascitur Physiognomia", zitiert in: Physiognomische Fragmente I, 27, aus Hallers Elementa Physiologiae V, 590 f.

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ELLIS SHOOKMAN

Wissenschaft, Mode, Wunder: Über die Popularität von Lavaters Physiognomik Il n'est rien plus vraisemblable que la conformité et relation du corps à l'esprit. Montaigne, De la phisionomie, 1585/88 Auch spricht der Mund nur Gedanken eines Menschen, das Gesicht einen Gedanken der Natur aus. Daher ist Jeder werth, daß man ihn aufmerksam betrachte; wenn auch nicht Jeder, daß man mit ihm rede. Schopenhauer, Zur Physiognomik, 1851

I.

Im März 1991 erschien im Feuilleton einer regionalen amerikanischen Zeitung eine Buchbesprechung unter dem Titel „Face Value". 1 Sie handelt von der Kunst, Gesichter zu lesen, der Entdeckung verborgener Charaktereigenschaften also, die angeblich nichts mit oberflächlicher Schönheit zu tun haben und nur durch die sorgfältige, fachmännische Porträtanalyse erschlossen werden können. Laut der Besprechung behauptet die Verfasserin eines neuen B u ches — I Can Read Your Face - daß der Durchschnittsmensch nur etwa fünf Prozent der „Charaktereinsichten" gewinnt, die einem geübten Gesichtsleser gleich auf den ersten Blick auffallen. Aus Gemälden und Fotos, zum Beispiel, „sieht" oder „liest" die Verfasserin den Ehrgeiz der Mona Lisa, Elvis Presleys Mißtrauen gegenüber Intellektuellen und die Sparsamkeit von Barbara Bush, der Frau des amerikanischen Präsidenten. Sie weiß aber auch, daß es mit der Glaubwürdigkeit ihrer Urteile bei manchem wohl etwas hapert, und sie beruft sich deshalb auf eine altchinesische Tradition des Gesichtslesens, ohne allzu voreilige und abfallige Schlüsse über die Personen zu ziehen, die sie selber unter die Lupe nimmt. Ja, alles Abschätzige scheint bei ihr schon von vornherein ausgeschlossen, und zwar durch ihr religiöses (wenn auch ungrammatisches) Motto „ G o d don't make no j u n k " — frei übersetzt: „Gott schafft doch keinen Mist nicht." Von Johann Caspar Lavater weiß diese Gesichtsleserin vermutlich überhaupt nichts, obwohl die Menschenliebe, die sie als Motiv ihrer Tätigkeit an243

gibt, an den Untertitel und vermeindichen Zweck von Lavaters Physiognomischen Fragmenten erinnert. Auch die Menschenkenntnis, die Lavater ebenfalls im Untertitel seiner Fragmente betont, will die Autorin fördern, allerdings aus einem pragmatischen Grund, denn - wie es auch in ihrem Buch heißt - „Wissen ist Macht". All das zeigt, daß es hier u m eine Physiognomik geht, die starke Parallelen zu den Bemühungen Lavaters aufweist. Die Wahrsagerei aus dem menschlichen Gesicht, die Neugier, etwas von dem Privadeben anderer zu erfahren, die zweifelhafte Glaubwürdigkeit, der Grundgedanke der Nächstenliebe, die menschenfreundliche Motivation und die sehr praktische Anwendung — all das mutet bei dieser banalen Physiognomik kaum anders an als bei den differenzierteren Versuchen Lavaters, hinter die Masken seiner Mitmenschen zu schauen. Auf einem recht trivialen Niveau also gedeiht die Physiognomik wie eh und je, und zwar aus Gründen, die auch Lavaters unerhörten Erfolg erklären. Das Ausmaß, das dieser Erfolg im Laufe der Entstehung und Rezeption seiner Fragmente angenommen hat, läßt sich heute kaum noch übersehen. 2 Lavater war damals in aller Munde und erfreute sich einer Beliebtheit, die heute nur noch Filmstars und Rocksängern zuteil wird. 3 Man hielt die Fragmente für genauso wichtig wie die Bibel, und sie waren so weit verbreitet, daß kaum ein literarisch gebildeter Mensch sie nicht gekannt haben wird. 4 Dafür gibt es verschiedene Gründe. Z u m einen ermöglicht die Kenntnis der menschlichen Körpersprache eine „Lesbarkeit des Ichs", die die Verstellung eines Gegenübers durchschauen läßt. 5 Ein solches Wissen wird besonders in anonymen Großstädten nützlich gewesen sein, auch weil die einzelnen Stände nicht mehr an äußeren Merkmalen (z.B. vorgeschriebener Kleidung) zu erkennen waren. 6 O b es eher als esoterische Geheimlehre oder als demokratisches Manifest zu gelten hat, steht allerdings nicht fest.7 Auf jeden Fall bekam man durch den Erwerb von Lavaters Werk mit seinen zahlreichen u n d schönen Silhouetten und Kupferstichen auch eine kleine Gemäldegalerie. 8 Schließlich war Lavater selber ein beliebter und redegewandter Pfarrer, der außerdem seine Fragmente geschickt zu verpacken und zu verkaufen wußte. 9 Die erstaunliche Verbreitung, Resonanz und Beliebtheit - kurz die Popularität - von Lavaters Physiognomik läßt sich aber auch aus anderen Gründen erklären, nämlich aus ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, ihrer sozialen Anziehungskraft und der Art ihres literarischen Einflusses. Von diesem dreifachen Gesichtspunkt aus betrachtet, zeigt die Physiognomik selber ein anderes — ja, vielleicht ihr wahres — Gesicht. Meine Überlegungen kreisen also u m Lavaters Physiognomik als eine vermeintliche Wissenschaft, eine gesellschaftliche M o d e und - wie noch zu zeigen sein wird — ein literarisches Wunder.

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II.

Was die Wissenschaftlichkeit der Physiognomik betrifft, ist Lavaters Werk nur als Pseudowissenschaft einzustufen. Er hat zwar immer wieder behauptet, sie sei oder werde wenigstens bald eine richtige Wissenschaft, aber mit diesem Begriff geht er sehr großzügig um, indem er empirische, logische und auch mathematische Beweise ziemlich durcheinander bringt. Er ruft sogar an einer Stelle aus: „ [ . . . ] w o ist die Wissenschaft, w o alles bestimmbar - nichts dem Geschmacke, dem Gefühle, dem Genius übrig gelassen sey? — Wehe der Wissenschaft, wenn eine solche wäre!" 10 Kein Wunder, daß Wieland fand, es w ü r de Jahrhunderte dauern, bis aus der Kunst der Physiognomik eine Wissenschaft werden könnte, dieselbe Zeitspanne, in der Nicolai meinte, die Physiognomik würde verhöhnt werden, dank dem Schaden, den ihr Lavater zugefügt habe. Als spiritus rector von Goethes Morphologie, sowie der Phrenologie Franz Joseph Galls oder Carl Gustav Carus' und der anthropologischen Forschungen Alexander von Humboldts ist Lavater vielleicht doch nicht ganz ohne wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. 11 Fest steht jedenfalls, daß wenigstens Ansätze zu einer wissenschaftlichen Methode bei ihm vorhanden sind, deren U r sachen und Wirkungen man sowohl positiv als auch negativ bewerten kann. 12 Da er aber im Grunde genommen nicht wissenschafdich, sondern ästhetisch und literarisch veranlagt war, nimmt er heute nur einen recht dubiosen Platz in der Wissenschafts- und Medizingeschichte ein. 13 Nähere Aufschlüsse über Lavaters Popularität geben zwei konkrete Beispiele seines Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit. Im ersten geht es u m die Semiotik. Er bestand darauf, daß der Gegenstand der Physiognomik aus Zeichen und Symbolen bestehe, ja daß Wahrheit und Wissen überhaupt erst wissenschaftlich zu nennen wären, wenn sie über Zeichen verfügen und dadurch mitgeteilt werden können. Maßgebend für ihn war die Überzeugung, es gebe kein Zeichen ohne tiefere und sogar ganz natürliche Bedeutung. Daher seine Frage: „ U n d was ist am Menschen bloß Zeichen, und nicht Sache?" 14 Diese Überzeugung unterscheidet Lavater in semiotischer Hinsicht sowohl von den Zeitgenossen Mendelssohn und Lessing als auch von der heutigen Literaturtheorie. Aber Lessing selber charakterisierte Lavaters Physiognomik als „ m o ralische Semiotik", und Herder spielte mit dem Gedanken, eine Physiognomik der Völker aufgrund ihrer Sprachen zu entwerfen. 15 Damals schien sie eben Teil einer neuen Wissenschaft — der Semiotik — was Lavaters Erfolg unter gebildeten Lesern zum Teil erklärt. Lavaters Riesenerfolg erklärt zum Teil aber auch ein zweites Beispiel seiner wissenschaftlichen Ansprüche, nämlich seine Behauptung, er teile physiognomische Einsichten mit, die jedermann sowieso, wenn auch nur intuitiv, im täglichen Leben nun einmal hat. Mit der allgemeinen Theorie seiner Fragmente war jeder daher aus eigener Erfährung schon vertraut, auch wenn es nur w e nige z u m eigentlichen Physiognomen bringen würden. Unter Leuten, die w e -

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niger von der aufkommenden Semiotik als Lessing oder Mendelssohn verstanden, wird dieser schlichte und oft volkstümliche Ton seine Wirkung nicht verfehlt haben, zumal Lavater wiederholt hinzugefügt hat, daß es nur seines Buchs bedürfe, um ihre Einsichten in die alltägliche Pathognomik in die wissenschaftliche Physiognomik aufzuwerten. Dadurch hat er einer alltäglichen Küchenpsychologie den Glanz der Wissenschafdichkeit verliehen, durch einen logischen Zirkel also, der nicht nur zwischen mehr und weniger Gebildeten nahtlos vermittelt hat, sondern auch einer modernen Werbekampagne in nichts nachsteht. Mit anderen Worten war Lavaters Physiognomik eine Wissenschaft für alle, und deshalb wohl in jeder Hinsicht populär.

III. Zu seiner Zeit machte Lavaters Pseudowissenschaft auch in der Gesellschaft Furore. Ob verehrt oder verschrien, hat Lavater es immer verstanden, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Nach Goethes Dichtung und Wahrheit fühlte er sich in Menschenmengen sehr wohl. Er habe die Leute einfach bezaubert, und wer ihm von fern mißtraute, sei seinem Charisma erlegen, sobald man ihm begegnete. Es sei einem in seiner Nähe aber auch oft unheimlich, weil er nicht nur Gesichter, sondern auch Gedanken habe lesen können. Goethe empfand diese Lektüre als „Spionieren", vermutlich aus denselben Gründen, aus denen Joseph II. sich Lavater gegenüber große Zurückhaltung auferlegte: „[Sie sind] ein gefahrlicher Mensch . . . Sie sehen den Menschen ins Herz hinein; man muß wohl verwahrt sein, wenn man Ihnen zu nahe kommt." 16 Es steckt wohl auch sehr viel Zurückhaltung, ja sogar Ironie, in Goethes Satz: „Lavaters .Physiognomik' hatte dem sitdich-geselligen Interesse eine ganz andere Wendung verliehen." 17 Nach solchen zwiespältigen Aussagen zu urteilen, war Lavaters Erfolg einfach ein succès de scandale. Auch andere Schriftsteller haben Kritik an der Physiognomik aus sozialer Sicht geübt. Da wäre vor allem an Lichtenberg zu denken, der Lavaters großen Erfolg in Deutschland auf den allgemeinen Mangel an Selbst- und Menschenkenntnis zurückführte, der dort geherrscht haben soll. Sehr lehrreich sind auch Johann Karl Musäus' Physiognomische Reisen (1778/79), die neben aller witzigen Satire auf Lavater und die Physiognomik auch treffende Gründe für seine Beliebtheit in der Gesellschaft anführen. Nach ihm sei Eigenliebe, nicht Nächstenliebe, der Hauptgrund dafür: „Kein Mensch kan in Abrede seyn, daß sie [die Physiognomik] dem Geiste eine befriedigende Unterhaltung gewähre, die darum desto interessanter ist, weil sie eines ieden Beschauers eigne Persönlichkeit unvermerkt ins Studium mit hinein zieht. Wir messen uns in Gedanken mit iedem Kopf der uns vorkommt . . . Denn stillschweigend haben wir mit unserm Witz die Convention getroffen, das dieser Vergleich nie zu unserm Nachtheil, sondern immer zu unserm Gewinn und Vortheil ausfallen

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muß." 18 Als soziales Phänomen gewann die Physiognomik also gerade dadurch, daß sie Lavaters philanthropischer Absicht widersprach und statt dessen die Ängste und Eitelkeit seiner Mitmenschen schürte.

IV. Obwohl Lavaters Physiognomik als Wissenschaft und Mode sehr bedenklich erscheint, hat sie eine außerordentlich wichtige Rolle in der deutschen Literatur gespielt. Einige Autoren haben Lavater hochgeschätzt, wie Johann Jakob Engel, dessen Figuren in seinem Roman Herr Lorenz Stark (1795-96) ausdrücklich mit physiognomischen Mitteln beschrieben werden. Andere waren eher ambivalent. Goethes zartes „Lied eines physiognomischen Zeichners" (1774), zum Beispiel, und Schillers spöttische „Grabschrift eines gewissen Physiognomen" (1782) bilden eine Art Rahmen, zeitlich und auch gedanklich, für den Aufstieg und Fall von Lavaters Popularität. Ambivalent waren auch Sophie von La Roche, Karl Philipp Moritz und Wilhelm Heinse, um etwas weniger bekannte Beispiele zu nennen. In La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) sehen die guten Figuren auch gut aus, und alle schließen von Gesichtern auf die moralische Beschaffenheit ihrer Träger, auch wenn sich Sophie selber dagegen wehrt, Schönheit und Tugend gleichzusetzen. In Moritz' Anton Reiser (1780-85) begeht der Leiter einer Wandertruppe, der Anton beizutreten versucht, einen schwerwiegenden Fehler, wenn er ihn ablehnt und dabei meint, Goethe sei „ohngefähr von Reisers Statur, aber gut physiognomiert".19 In Heinses Ardinghello (1787) dagegen soll die bildende Kunst „physiognomische Wahrheit" vermitteln, aber wer die Kunst mehr als die Dichtung achtet, braucht „eine gigantische Einbildung von seinem physiognomischen Sinn". 20 Noch andere, wie Musäus, Lichtenberg (Über Physiognomik; wider die Physiognomen, 1778) und Jean Paul („Physiognomisches Postskript über die Nasen der Menschen", in seiner Auswahl aus des Teufels Papieren, 1789), haben Lavater einfach ad absurdum geführt.21 Ich möchte mich aber hier auf zwei Zeitgenossen beschränken, nämlich Wieland und Lessing. Beide zeigen, wie Lavaters Physiognomik trotz aller berechtigten Kritik in der Literatur auch Positives zu bewirken imstande war. Wieland hat den ersten Band der Fragmente mit überschwenglichem Lob begrüßt, aber er hat auch bemängelt, daß der hohe Anschaffungspreis nicht allzusehr nach Menschenliebe aussehe. Bald wandte er sich noch kritischer gegen Lavaters „ewiges Sitzen auf dem heiligen Dreyfuß, und die Miene von Unfehlbarkeit, womit er seine Göttersprüche von sich giebt, und das verdammte Schimpfen und Verpfuyen unseres Jahrhunderts".22 Diese Bemerkung bezieht sich auf ihren Streit über die Schönheit der altgriechischen Bildhauerei. In dem Fragment „Über Ideale der Alten; schöne Natur; Nachahmung" hatte Lavater behauptet, diese Schönheit sei darauf zurückzuführen, daß die grie247

chischen Künstler damals schönere Natur und schönere Menschen u m sich hatten als ihre modernen Nachfolger. R e c h t naiv faßt er die Kunst überhaupt als Widerspiegelung auf, wobei die Ideale und Einbildungskraft der Künstler eine sehr untergeordnete Rolle spielen. In Fragen der Ästhetik folgte er eben nicht nur Winckelmann, sondern auch Locke. Wieland kannte sich viel besser in dieser Materie aus u n d widersprach Lavater in dem langen Aufsatz „Über die Ideale der griechischen Künstler" (1777). Die Schönheit der griechischen Kunst erklärt er dadurch, daß künstlerische Ideale, nicht die Natur selbst d. h. Imagination, nicht Imitation - bei den alten Griechen entscheidend gewesen seien. Vorausgesetzt, daß solche künstlerischen Ideale wieder freigesetzt werden könnten, ließe sich wohl denken, die „modernes" könnten die „anciens" nicht nur erreichen, sondern auch übertreffen. Daß eine solche Aufwertung der modernen Kunst auch der deutschen Literatur über die Aufklärung und allen übertriebenen Klassizismus hinweg half, liegt auf der Hand. Bei Lessing ist die Einschätzung in Sachen Lavater umgekehrt - d. h. vom Negativen z u m Positiven. Lessings Skepsis gegenüber Lavater ist in dem Fall Mendelssohn bekannt. Lavater hatte Mendelssohn aufgefordert, zum Christentum überzutreten, falls er den Beweis seiner Wahrheit durch Charles B o n net nicht widerlegen könnte. Darauf hatte Lessing geschrieben: „Lavater ist ein Schwärmer, als nur einer des Tollhauses werth gewesen. Er macht schon kein Geheimniß mehr daraus, daß er W u n d e r thun kann, zu Folge seiner Meinung, daß die Wundergabe das Kennzeichen eines wahren Xsten sey." 23 Später meinte Lessing auch, es lohne sich nicht, eine Geschichte der Physiognomik — dieser „sogenannten Wissenschaft", wie er schreibt — aus den sehr beachtlichen Beständen der Wolfenbüttler Bibliothek zu schreiben: „Welch ein Wust! Mit leichter M ü h e hätte ich eine litterarische Geschichte der ganzen vermeinten Wissenschaft daraus zusammenschreiben wollen, wenn ich geglaubt hätte, daß es sich der M ü h e verlohne." 24 Sowohl von Lavater selber als auch von seinen Fragmenten scheint Lessing recht wenig gehalten zu haben. Aber in oft übersehenen Notizen fand Lessing die Werke anderer Physiognomen doch sehr wertvoll, besonders ihre Bemerkungen über Augen. 25 Die Frage ist daher berechtigt, ob seine eigenen Figuren das reden, was er physiognomische „Augensprache" nennt. Anzeichen dafür finden sich in Miß Sara Sampson (1755), wenn der Vater der Titelfigur seinem Diener erklärt, warum er sie besonders scharf beobachten soll: „Du wirst ihre ganze Seele in ihrem Gesichte lesen" (III, l). 26 In Emilia Galotti (1772) gibt es ähnliche Anzeichen, da alle Frauen dort erraten, was mit ihnen und anderen tatsächlich geschehen ist, indem sie auf die Gesichter der Männer achten. Aber in beiden Fällen ist solche Aufmerksamkeit auf Gesichtszüge und Mienen eigentlich pathognomisch statt physiognomisch und gehört daher einer älteren Tradition an. Von irgendeinem Einfluß Lavaters kann also hier keine R e d e sein. In Nathan der Weise (1779) sieht die Sache ganz anders aus, zum Beispiel in der Szene, in der Recha nur dann v o m Tempelherrn gerettet wird, nachdem er seinerseits — und dank seiner Ähnlichkeit mit dem Bruder des Sultans Sa-

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ladin — dem Tode knapp entkommen ist. Nathan beschreibt den Tempelherrn und seine Rettung Rechas mit Worten, die wegen ihrer großen Ähnlichkeit mit dem Vokabular von Lavaters Physiognomischen Fragmenten auffallen: Sieh! Eine Stirn, so oder so gewölbt; Der Rücken einer Nase, so vielmehr Als so gefiihret; Augenbrauen, die Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen So oder so sich schlängeln; eine Linie, Ein Bug, ein Winkel, eine Falt', ein Mal, Ein Nichts, auf eines wilden Europäers Gesicht: — und du entkömmst dem Feu'r, in Asien! Das wär' kein Wunder, wundersücht'ges Volk?27

Diese Stelle legt viel mehr Gewicht auf „feste" Gesichtszüge als Lessings frühere Dramen, die aber alle geschrieben wurden — im Gegensatz zu Nathan — bevor er sich mit den Fragmenten beschäftigte. Eine zweite Stelle bringt solche Züge sogar in Verbindung mit moralischen Eigenschaften, wenn der Tempelherr sich auf seine Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Bruder des Sultans beruft, um zu beweisen, daß er nicht insgeheim dem Gegner des Sultans, dem Patriarchen, gedient hat: Wie? die Natur hätt' auch nur Einen Zug Von mir in deines Bruders Form gebildet: Und dem entspräche nichts in meiner Seele? Was dem entspräche, könnt' ich unterdrücken, U m einem Patriarchen zu gefallen? Natur, so leugst du nicht! So widerspricht Sich Gott in seinen Werken nicht!28

Eine solche Übereinstimmung von Gesichts- und Charakterzügen läßt vermuten, daß die ganze Handlung und Bedeutung von Nathan aufs engste mit den Fragmenten verknüpft ist. Dieser Gebrauch der Physiognomik in Nathan scheint wohl paradox, da die religiöse Toleranz, die dort gepredigt wird, im Gegensatz zu der ausschließlich christlichen „Schwärmerei" steht, die Lessing als Lavaters Hauptfehler rügt. Solche Toleranz wird sogar gerade dann gelehrt, als Saladin Nathan auffordert, Gründe anzugeben, warum er Jude bleibt, anstatt zum Christentum oder zum Islam überzutreten. Genau um eine solche Aufforderung ging es natürlich auch in Lavaters peinlicher Auseinandersetzung mit Mendelssohn. In Nathan also scheint Lavaters Theorie seinem eignen religiösen Eifer den Boden zu entziehen. Daß dadurch dieselbe Menschenliebe in Lessings Stück empfohlen wird, die Lavater mit seinen Fragmenten fordern will, beweist, daß die Physiognomischen Fragmente (auch im Sinne Nathans) kein kleines literarisches Wunder waren.

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V. Trotz der Banalität seiner heutigen Nachfolger und über die Ergebnisse der bisherigen Forschung hinaus zeigen die wissenschafdichen, gesellschaftlichen und literarischen Gründe für die Popularität von Lavaters Fragmenten, daß sie mehr als nur Spott und Hohn verdienen. Ob eigentliche Semiotik oder einfach Aberglaube, ob gesellschaftlicher Segen oder psychologischer Fluch, ob lächerliche Farce oder völliger Ernst in der Literatur — die Physiognomik hat selbst Lavaters eigene Erwartungen übertreffen. Daß sie noch heute interessiert, legt es nahe, sie mit einem zweiten, moderneren Allheilmittel zu vergleichen, nämlich der Psychoanalyse. So gewagt es auch klingen mag, die beiden Disziplinen miteinander in Verbindung zu bringen, so haben sie doch als Pseudowissenschaften, gesellschaftliche Moden und literarische Wunder — im Sinne, wie diese Ausdrücke hier verwendet werden — sehr viel gemeinsam. Nun könnte man natürlich auch beide auf die satirische Weise verwerfen, wie Karl Kraus die Psychoanalyse ablehnte, indem er ihre Anhänger als „Psychoanalen" beschimpfte. Aber die Ähnlichkeit dieser beiden geistigen Paradigmen sollte einen doch dazu bewegen, Lavaters Physiognomik nicht ganz so satirisch zu schmälern und nicht so brutal zu verkleinern, indem man alle seine heutigen Leser als bloße „Physio-gnomen" abtut.

Anmerkungen 1

Molly Walsh, „Face Value: Beauty may be only skin deep, but portrait analysis often reveals hidden traits", Burlington [Vermont] Free Press, 31. März 1991.

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Siehe Christoph Siegrists Nachwort zu Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, hg. v. Christoph Siegrist, Stuttgart 1984,377-394; auch Carsten Zelles Nachwort zu Johann Caspar Lavater, Von der Physiognomik, hg. v. Karl Riha und Carsten Celle, Frankfurt 1991, 109-145. Graeme Tytler, Physiognomy in the European Novel: Faces and Fortunes, Princeton 1982, 6.78. John Graham, Lavater's Essays on Physiognomy: A Study in the History of Ideas, Bern 1979, 61 f. Gerhard Neumann, „.Rede, damit ich dich sehe': Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick", in: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Ulrich Fülleborn und Manfred Engel, München 1988, 71; Peter von Matt, . . . fertig ist das Angesicht: Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München 1983,137; Gerd Mattenklott, „Der physiognomische Leib", in: ders., Der übersinnliche Leib: Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982, 30 f. Judith Wechsler, A Human Comedy: Physiognomy and Caricature in 19th Century Paris, Chicago 1982, 13; Michael Shortland, „The Power of a Thousand Eyes: Johann Caspar Lavater's Science of Physiognomical Perception", in: Criticism

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28.4 (Herbst 1986), 397. Siehe auch Shortland, „Skin deep: Barthes, Lavater and the legible body", in: Economy and Society 14.3 (August 1985), 273-312. Siehe z. B. Erläuterungen zur deutschen Literatur: Sturm und Drang, Berlin 1964, 66. Graham (s. A n m . 4), 62. Eine Einfuhrung in Lavaters Leben und W e r k mit besonderer Berücksichtigung seiner theologischen Stellung und Bedeutung gibt H o n t Weigelt, Johann Kaspar Lavater: Leben, Werk. Wirkung, Göttingen 1991. J o h a n n Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Faksimiledruck nach der Ausgabe Winterthur 1775-1778, hg. v. Walter Brednow, Zürich 1968/69; hier I, 55. Ü b e r Lavater u n d Gall berichten G. P. Brooks und R . W . Johnson, „Contributions to the History of Psychology XXIV: J o h a n n Caspar Lavater's Essays on Physiognomy", in: Psychological Reports 46 (1980), 3 - 2 0 ; über Lavaters Physiognomik u n d Goethes Morphologie schreibt Kurt W e r n e r Peukert, „Physiognomik in Goethes Morphologie", Deutsche Vierteljahresschrift 47.3 (September 1973), 4 0 0 419. Siehe Tytler (s. Anm. 3), 54; Walter Brednow, „Wesen und Bedeutung der ,Physiognomischen Fragmente'J. C . Lavaters", in: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe IV, Z ü rich: Orell Füssli 1969, 30f.37; Graham (s. Anm. 4), 62; Andreas Käuser, Physiognomik und Roman im i 8.Jahrhundert, Bern/Frankfurt 1989; Rotraut Fischer u n d Gabriele Stumpp, „Die Allegorisierung des Individuums in der Physiognomik J o h a n n Caspar Lavaters und Carl Custav Carus'", in: R o t r a u t Fischer, Gerd Schräder und Gabriele Stumpp, Natur nach Maß: Physiognomik zwischen Wissenschaft und Ästhetik, Marburg 1989, 11-58. Siehe z.B. Oskar Holl, „Von steifer Halbwürde, horchendem Argwohn und anderen Physiognomien: Unbekannte Chodowiecki-Figurinen und Lavater-Autographien", in: Lessing Yearbook 14 (1972), 7 - 2 6 ; Liliane Weissberg, „Literatur als Repräsentationsform: Z u r Lektüre von Lektüre", in: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, hg. v. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Stuttgart 1992, 293-313. Siehe auch Sander Gilman, „ T h e Physiognomy ofMadness", in: Ders., Seeing the Insane, N e w York 1982, 5 8 - 7 1 und Gilman, Disease and Representation: Images of Illness from Madness to Aids, Ithaca 1988. Physiognomische Fragmente (s. Anm. 10), II, 81. Ü b e r Lavaters Bedeutung in semiotischer Hinsicht siehe Richard T. Gray, „The Transcendence of the Body in the Transparency of its En-Signment: Johann Kaspar Lavater's Physiognomical .Surface Hermeneutics' and the Ideological (Con)Text of Bourgeois M o d e r nism", in: Lessing Yearbook 23 (1991), 127-148. Lessing an Friedrich Nicolai, 9.Juli 1776. Zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker, 23 Bde., Leipzig 1886-1924; hier XVIII, 177. Zitiert nach B r e d n o w (s. Anm. 12), 19. Goethes Werke, hg. v. Erich Trunz, M ü n c h e n 7 1981, X, 322. Ü b e r Goethes literarische Porträts und seine Stellung zur Physiognomik im allgemeinen, siehe R o b e r t R i e m a n n , Goethes Romantechnik, Leipzig 1902, und Gert Mattenklott, „Goethe als Physiognomiker", in: Goethe: Vorträge aus Anlaß seines 150. Todestages, hg. v. Thomas Ciasen und Erwin Leibfried, Bern/Frankfurt 1984, 125-141. J o h a n n Karl Musäus, Physiognomische Reisen III, Altenburg 1779, 116£

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Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser. Ein psychologischer Roman", Werke I, hg. v. Horst Günther, Frankfurt 1981, 339. Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln, hg. v. Max Baeumer, Stuttgart 1975, 182. Siehe Siegfried Frey, Nachwort zum Göttinger Taschen Calender vom Jahr 1778, hg. v. Georg Christoph Lichtenberg. Reprint Mainz 1991. Zitiert nach Hans Wahl, Geschichte des Teutschen Merkur, Berlin 1914, 120 f. Über Wieland und Lavater siehe Renate Schostack, Wieland und Lavater: Beitrag zur Geistesgeschichte des ausgehenden 18.Jahrhunderts, Diss. Freiburg 1964. Lessing an seinen Bruder Karl Lessing, 4.Januar 1770. Zitiert nach Lessing, Sämtliche Schriften (s. Anm. 15), XVII, 310. Lessing an Friedrich Nicolai, 9. Juli 1776. Zitiert nach Lessing, Sämtliche Schriften (s. Anm. 15), XVIII, 176. Siehe August Ohage, „Von Lessings ,Wust' zu einer Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik im 18. Jahrhundert", in: Lessing Yearbook 21 (1989), 55-87. Lessing, Sämtliche Schriften (s. Anm. 15), XV, 344f.417; XXII, 277f.; XVI, 250. Gotthold Ephraim Lessing, Werke II, 45, hg. v. Herbert Göpfert, München 1971. Ebd. 216. Ebd. 231.

HANS H . WALSER

Johann Caspar Lavater und die Psychiatrie Diese Arbeit ist dem Andenken meines Vaters, Hermann Walser (1891-1971), gewidmet, der mich in meiner Jugend erstmals aufJ. C. Lavater hinwies. Lavater u n d die Psychiatrie — das T h e m a mag zunächst ungewöhnlich scheinen. Aber in den meisten geschichtlichen Darstellungen der Medizin — u n d insbesondere der Psychiatrie — taucht sein N a m e eben auf, zumeist in Verbind u n g mit d e m Mesmerismus (der Hypnose). Lavater ist aber auch in anderer Hinsicht für den Psychiater bemerkenswert. Lavaters Bild in der erwähnten historischen Literatur ist aber eigentümlich unbestimmt — als w ü ß t e man nicht recht, was mit ihm anzufangen sei. Z u nächst liegt das w o h l daran, daß er Pfarrer u n d nicht Arzt war. Als Arzt hätte er sich in j e n e n Jahrzehnten der werdenden m o d e r n e n Psychiatrie zuerst u m die menschliche Behandlung der Geisteskranken gekümmert, die in Zürich wie überall traurig dahinvegetierten. Sodann war sein Anliegen keineswegs ein medizinisches, sondern ein religiöses. Er geriet aber unversehens auf das Gebiet der Medizin, da seine Physiognomik den Z u s a m m e n h a n g zwischen Leib u n d Seele z u m Inhalt hatte — dieses uralte, auch heute n o c h nicht gelöste Problem. U n d als er sich doch einmal therapeutisch betätigte, geschah das lediglich aus d e m Bestreben heraus, Nächststehenden zu helfen. Diesem Sproß einer alten Ärztefamilie war Ärztliches freilich schon v o n früher J u g e n d an vertraut. Vier T h e m e n sind bei Lavater für den Psychiatriehistoriker von Bedeutung: Zunächst ist es natürlich die Physiognomik, dann der Mesmerismus („Thierischer Magnetismus" oder in heutiger Terminologie: die Hypnose), des w e i teren die Autobiographik (im Sinne der Psychohistorie) u n d schließlich seine B e m e r k u n g e n zur Psychologie. Hier k ö n n e n nur die beiden ersten T h e m e n kurz beleuchtet werden.

I. Die Physiognomischen

Fragmente

Das W e r k Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe erschien 1775—1778 in vier großen Bänden. 1 Allgemein bekannt 253

ist, welch großes Aufsehen das Buch erweckte. Sehr bezeichnend ist, daß dieses Werk auf Anregung eines Arztes entstand. Lavater schreibt, wie er ganz zufallig einmal seinen Freund, den Arzt Johann Georg Zimmermann, mit einer ganz unüberlegt gemachten physiognomischen Einsicht überraschte, worauf Zimmermann zu weiteren Studien ermuntert habe. „Dieses war eigentlich die Geburtsstunde meines physiognomischen Studiums" fügt Lavater bei. 2 Lavater scheint zunächst seine Ideen gar nicht sehr ernst genommen zu haben, wenn er von „Beobachtungen, Empfindungen, Radotages, Träumereyen, Schwärmereyen" spricht, doch wurde diese Stimmung bald von einem „täglichen Wachsthum im Glauben an die Wahrheit der Gesichtsbildung" abgelöst.3 Diese feste Überzeugung von der Wesentlichkeit und Richtigkeit der Physiognomik spürt man im ganzen Werk. Diese sollte freilich nicht Selbstzweck sein, sondern im Dienste der Menschenliebe und einer enthusiastischen Christusgläubigkeit stehen. So nahm das Gefühlsmäßige, Intuitive, dann aber auch das unkontrolliert Phantastische bei seinen Bestrebungen und Untersuchungen einen großen Raum ein. Lavaters Physiognomik hat aber zweifellos auch rationale Seiten, wofür einige Beispiele erwähnt werden sollen: So definiert er die Physiognomik als „die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen". Er versteht darunter also „alle unmittelbaren Aeußerungen [eines] Menschen. Alle Züge, Umrisse, alle passive[n] und active[n] Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Körpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch [ . . . ] seine Person zeigt." 4 Zu diesen Äußerungen gehört auch die Handschrift (Graphomotorik, bzw. Graphologie). Nur im engeren Sinn ist Physiognomik Kenntnis der Gesichtszüge. Lavater strebt, ausgehend von der Physiognomik, etwas wie eine umfassende Anthropologie an, die man eine medizinische nennen kann. So unterscheidet er etwa5: 1) eine physiologische oder Fundamental-Physiognomik, die sich mit den Proportionen, dem Umriß, dem Ebenmaß des Menschen befaßt; 2) eine anatomische Physiognomik mit Beurteilung der Knochen, Bänder, Muskeln, Eingeweide, Drüsen, Gefäße, Nerven; 3) eine Temperaments-Physiognomik, die sich mit Blutmischung, Konstitution, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, Reizbarkeit befaßt; 4) eine medizinische Physiognomik, Gesundheit und Krankheit betreffend; 5) aber auch eine moralische Physiognomik, die Gut und Böse erforscht; 6) eine intellektuelle Physiognomik, die sich um die Geisteskräfte kümmert. Lavater postuliert eine Physiognomik als Wissenschaft, die in Regeln gebracht werden soll, die sich lehren und lernen läßt, auch wenn man vieles dem Gefühl überlassen müsse, da es für vieles „noch" (sie!) keine bestimmten Zeichen und Regeln gebe. 6 Entsprechend hoch sind seine Anforderungen an den Physiognomisten: Er müsse einen scharfen und hohen Verstand haben, damit er beobachten, ver254

gleichen, unterscheiden könne, Imagination und „Witz" müssen ihm zur Verfügung stehen, wie auch künstlerische und sprachliche Fähigkeiten, er m u ß Anatomie verstehen u n d die Temperamente kennen und m u ß schließlich ein Kenner „des menschlichen Herzens und der Welt" sein.7 In moderner D i k tion: Er m u ß einen guten Verstand, eine scharfe Beobachtungsgabe, U n t e r scheidungs- und Abstraktionsvermögen, Kreativität haben und die Natur des Menschen u n d seine soziale Umwelt gut kennen. Diese Forderungen könnten heute noch von jedem Dozenten unterschrieben werden, der Medizinstudenten unterrichtet. W e n n Lavater dazu noch dringend eine vertiefte Selbsterkenntnis fordert, so begegnet er auch hier einer Voraussetzung der modernen Psychotherapie. Es lag Lavater aber nicht, auf dem so bereiteten Weg geduldig induktiv voranzuschreiten — hätte er es getan, so wäre er wohl gar nicht so berühmt geworden. Sein Denken entglitt sehr leicht ins Unkontrollierte, Willkürliche, Schöngeistige, Phantastische. Diese irrationale Seite nimmt quantitativ den größeren Teil seines Werkes ein; sie hat die Menschen vorzugsweise interessiert. Es genügt, einige der physiognomischen Beschreibungen zu lesen, u m sich v o m Unwert solchen „Forschens" zu überzeugen. Was sollen psychographische Ausführungen über N e w t o n , Michelangelo, Loyola, Luther und sehr viele andere, wenn deren Charakter sowieso nicht genügend bekannt oder nicht zu ergründen ist? Was sollen tabellarische Abbildungen von Augen, Mündern, Silhouetten? Was der Vergleich von Tier- mit Menschenköpfen? Ansätze etwa zu kraniologischen Messungen fehlen fast ganz 8 , und der im vierten Band abgebildete Stirnmeßapparat wirkt in dieser Umgebung wie ein Kuriosum. Immer m u ß man sich aber vor Augen halten, daß Lavaters Ziel keineswegs die naturwissenschaftliche, medizinisch-psychologische Forschung war, sondern das Moralische, das Religiöse: Die Menschen zu bessern, sie miteinander zu versöhnen, sie zu Christus zu führen, und ihnen immer wieder zu sagen, daß sie Gottes Ebenbild seien. Z u R e c h t nahm man Anstoß an seiner Behauptung, Laster verunstalte, T u gend verschöne den Menschen. 9 Dies sollte sogar proportional sein: „Die Schönheit und Häßlichkeit des Angesichts, hat ein richtiges und genaues Verhältniß zur Schönheit und Häßlichkeit der moralischen Beschaffenheit des Menschen." 1 0 Eine solche Behauptung ist schlicht unsinnig. 11 Er ging sogar noch weiter: „Furchtbar ist die Physiognomik dem Laster!" 12 D e r arglose M a n n hat wohl nicht geahnt, welch gefahrliche Gedanken er damit in die Welt setzte. Fragt man sich nach den Gründen für den Erfolg Lavaters, so stößt man zunächst auf das „mystomane Bedürfnis" der Menschen, auf die Sucht, Irrationales zu glauben. Sodann entstand wohl auch das Gefühl, mit der Physiognomik dem uralten Weltenrätsel des Zusammenhanges zwischen Körper und Seele näherkommen zu können; und wer in den Fünfzigerjahren als junger Psychiater die Begeisterung für Ernst Kretschmers Buch Körperbau und Cha255

rakter geteilt hat, wird dieses Gefühl nicht leichthin abtun können. 1 3 Schließlich schien die Physiognomik dem Kundigen Macht über andere Menschen zu geben. So sagte Kaiser Joseph II. zu Lavater: „Na, Sie sind ein gefährlicher Mensch; ich weiß nicht, ob man sich von Ihnen darf sehen lassen; Sie sehen den Menschen ins Herz hinein; man m u ß wohl verwahrt seyn, w e n n man Ihnen zu nahe kommt!" 1 4 Psychiater haben sich zeitweise ftir die Physiognomik ihrer Patienten besonders interessiert, wobei auch auf Lavater Bezug genommen wurde. 15 Auf die medizinische Illustration, insbesondere auf die psychiatrische Ikonographie hatte Lavater einen großen Einfluß. Schon 1806 gab der französische Arzt J. L. Moreau (de la Sarthe) eine veränderte, flir Ärzte bestimmte Ausgabe von Lavaters Physiognomik heraus. 16 Von n u n an kam wohl kein Psychiater, der die Gesichtszüge von Geisteskranken abbildete, ganz u m Lavater herum. Später ging man von der Zeichnung zur Photographie über, so bei der Iconographie photographique de la Salpetriere aus der Schule des großen J.-M. Charcot in Paris. In Italien machte der Kriminalanthropologe C. Lombroso von der Physiognomik wie von der Graphologie Gebrauch. 17 D e n U m fang dieses ganzen Gebietes machte eine Ausstellung in Venedig i m Jahre 1981 deutlich. 18 Lavaters Physiognomik wird oft in einem Atemzug mit der Phrenologie von Franz Joseph Gall (1758—1828) genannt 19 , freilich oft in unkritischer Weise. Gemeinsam ist, daß sie von körperlichen Zeichen auf psychische Eigenschaften schließen wollten. Der eine maß dem Gesicht, der andere der Schädelkapsel besondere Bedeutung bei. Beider Lehren erregten auch bei gebildeten Laien großes Aufsehen. Schließlich wurde der u m siebzehn Jahre jüngere Gall — wie jedermann - von Lavaters Lehre beeinflußt. Damit sind die Gemeinsamkeiten aber zu Ende. Gall interessierte sich später wenig für Physiognomik 20 , sein Forschungsgebiet war das Gehirn. Er postulierte eine Lokalisation der psychischen Fähigkeiten, und diese Hypothese erwies sich später als grundlegend, während seine Annahme, daß sich diese Lokalisation auch auf die Schädelform auswirke, in den Bereich der Phantasie gehört. Entscheidend aber ist, daß in Galls Werk ein völlig anderer Geist weht: Es ist der Geist der naturwissenschafdichen Medizin, des induktiven Forschens der m o dernen Heilkunde. Hier ist ein Exkurs unvermeidlich, den man sich gerne ersparen würde: Lavater wird heute gelegentlich mit dem mörderischen faschistischen Rassenwahn in Verbindung gebracht. Die Methode ist einfach: Man schlägt einige unbekümmerte „logische" Purzelbäume von Lavater zu Gall, von Gall zu Lombroso, von Lombroso zu den rasseverrückten PseudoWissenschaftern der deutschen Faschisten. Man kann dann nach Belieben schreiben, Lavater könne nichts dafür: das Unheil ist geschehen, die Verbindung ist hergestellt, und etwas bleibt immer hängen. Eine solche Handlungsweise ist nicht nur menschlich unanständig, sie ist auch historisch falsch, weil sie Lavaters Gesinnung und Absicht nicht berücksichtigt. 21 256

II. Der „ Thierische Magnetismus"

(die

Hypnose)

Im Jahre 1766 behauptete der Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815), er habe eine kosmische Kraft entdeckt, die auf den Menschen übertragen werden könne und die durch Wiederherstellung der Harmonie im Körper imstande sei, Krankheiten zu heilen.22 Dies war eine wichtige Entdeckung. Es sollte aber bis um 1880 dauern, bis der richtige Kern der Sache als Hypnose erkannt und in die Medizin eingeführt wurde (durch J. M. Charcot, H.-M. Bernheim, A. Forel u. a.; bekanndich hat auch die Psychoanalyse von S. Freud von der Hypnose ihren Ursprung genommen). Zunächst schloß sich aber an Mesmers Wirken ein Wust von parapsychologischen, mirakulösen, kurpfuscherischen und auch schlicht betrügerischen Vorkommnissen an, die den Mesmerismus bei den meisten Ärzten in Mißkredit brachten.23 Leider wurde Lavater gerade von solchen Wunderdingen fasziniert. So besuchte er 1778 den katholischen Pfarrer J.J. Gassner in Deutschland, der durch eine Art von hypnotischem Exorzismus heilen wollte, und 1783 eilte er gar zu dem berüchtigten „Grafen" Cagliostro nach Straßburg. Lavaters Interesse war zunächst vorwiegend religiös: Zwar sah er im Mesmerismus eine Naturkraft - schließlich lebte er im Zeitalter der Aufklärung —, zugleich aber ein direktes, wundertätiges Eingreifen Gottes wie zu der Apostel Zeiten24: Die Natur selbst schien die biblischen Wundertaten zu bestätigen. Wäre es bei dieser glaubensstärkenden Thaumatomanie geblieben, Lavater würde keinen Platz in der Geschichte des Hypnotismus verdienen. Es gab aber eine praktische Seite: Lavaters Frau, die „Frau Helferin Lavater", war krank. Sie war damals etwas über vierzig, hatte schon in ihrer Jugendzeit an „Nervenübeln", Krämpfen und Ohnmächten gelitten, wozu nun heftige Kolikschmerzen, hartnäckige Verstopfung und eine schlimme Migräne sowie Schwindelanfälle gekommen waren. Natürlich wurde sie bestens ärztlich versorgt, aber alle Mittel hatten versagt. Nach Aufregungen waren die Anfälle bisweilen so heftig, daß die Kranke glaubte, sterben zu müssen. In dieser verzweifelten Lage beschloß Lavater, selbst tätig zu werden. Dies war in jener Zeit, als ein großer Teil der Bevölkerung ärztlich unterversorgt war, nicht so ungewöhnlich, wurden doch Pfärrherren öfter zu Krankenbehandlungen zugezogen. Man muß Lavater zugute halten, daß er sich durch Ärzte genau instruieren und überwachen ließ. So reiste er 1785 nach Genf, wo er sich von dem Arzt Pierre Butini in die Praxis des Mesmerismus einführen ließ, und zwar nach der besten, selbst heute noch gebräuchlichen Methode von Puysegur. Nach einigem Zögern begann er nun bei seiner Frau eine „magnetische Kur". Die Beschreibung zeigt, daß er die Technik der Hypnose gut beherrschte. Wie andere Hypnotiseure erlebte er zunächst eine Verschlimmerung des Zustandes seiner Frau. Ärzte und Magnetiseure rieten aber zur Fortsetzung der Kur25, und nach etwa 10 Tagen trat der Erfolg ein. Triumphierend schrieb 257

Lavater am 11. September 1785 an den Magnetiseur Armand de Puységur: „Dieu merci, respectable Puységur! ma femme est venue, peu de jours après les effets horribles du Magnétisme Animal, dans le somnambulisme le plus tranquille ... Tout va bien. Mais, je l'ai magnétisé et par ma main indigne Dieu l'a sauvée."26 Lavaters Begeisterung stieg nun ins Ungemessene, er war bereit, auch das Unsinnigste zu glauben: Als man ihm versicherte, ein Magnetisierter könne Schriften durch einen dicken Pappdeckel hindurch lesen, fand er: Dies sei ihm, dem verschrieenen Wundersmann, kein Wunder, sondern erscheine ihm so natürlich wie die Auferweckung des Lazarus.27 Bei der Berühmtheit, die Lavater damals genoß, konnte es nicht ausbleiben, daß seine Begeisterung für den Mesmerismus dazu beitrug, diese Heilmethode — die man heute hypnotische Psychotherapie nennt - nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Zusammenfassung

J . C. Lavaters Bedeutung fur die Psychiatrie liegt darin, daß er der physiognomischen Forschung an Geisteskranken einen weiteren Anstoß gab, und daß er die Abbildungen der Gesichtszüge von psychisch Kranken („Irrenporträts") beförderte. Des weiteren hat seine Beschäftigung mit dem Mesmerismus (der Hypnose) und seine praktische Tätigkeit als Heilmagnetiseur dazu beigetragen, diese Methode nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Für spätere Forschungen könnten auch seine autobiographischen Aufzeichnungen und seine Bemerkungen über die Psychologie von Bedeutung sein.

Anmerkungen 1

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1) J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig und Winterthur 1 7 7 5 - 1 7 7 8 (Faksimile-Druck, o. O. u. J. [Zürich und Leipzig, 1968-1969]); 2) Johann Kaspar Lavater's ausgewählte Schriften, hg. v o n Johann Kaspar Orelli, 3. und 4. Bd., Zürich 2 1844; 3) Physiognomische Fragmente (Auswahl aus 1.), hg. v o n Christoph Siegrist, Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek 350); 4) Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, hg. v o n Ernst Staehelin, 4 Bde., Zürich 1943; 5) Lavaters Jugend von ihm selbst erzählt. Mit Erläuterungen, hg. v o n Oskar Farner, Zürich 1939. — Da eine kritische Gesamtausgabe v o n Lavaters Werken immer noch fehlt, wird nach 3) und 4) zitiert: Siegrist, Staehelin. Siegrist (s. Anm. 1), 18. Ebd. 19. Ebd. 21. Ebd. 22 f. Ebd. 40. Ebd. 110 ff.

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Gelegentliche Versuche von Messungen, wie etwa auf der Abbildung in 3) (s. Anm. 1), 163, dürfen kaum als Anfänge von exakten kraniologischen Messungen gewertet werden. Siegrist (s. Anm. 1), 81. Ebd. 53. - Lavaters Pathos riß ihn zu eigenartigen Übertreibungen hin: „Nichts verunstaltet den Menschen so sehr, als das Laster! Feste, donnernde Wahrheit! Nichts verschönert den Menschen so sehr, als die Tugend! Feste, herrliche W a h r heit! D e r Hauptinhalt, die Seele meines Werks! W e n n dies nicht e m p f u n d e n wird, diese Empfindung nicht wirkt, so wünscht' ich, keine physiognomische Zeile geschrieben zu haben" (ebd. 81 ). Albrecht v o n Haller, der der Lavaterschen Physiognomik ohnehin sehr kritisch gegenüberstand, fand dazu denn auch (hinsichtlich seines verehrten Lehrers, des großen H e r m a n n Boerhaave): „Boerhaave hatte mit seiner eingedruckten Nase den grössten Geist und das beste H e r z " (Reinhard Kunz, Johann Caspar Lavaters Physiognomielehre im Urteil von Haller, Zimmermann und anderen zeitgenössischen Aerzten, Diss. med. Zürich 1970, 21). Unsinnig, aber konsequent: Lavater verlangte nämlich auch v o m Physiognomisten als Voraussetzung für sein Wirken: „einen wohlgebauten, wohlgestalteten und fein organisirten Körper". Siegrist (s. Anm. 1), 97. H e u t e spielt diese Lehre Kretschmers in der wissenschaftlichen Psychiatrie kaum noch eine Rolle (persönliche Mitteilung der Herren Prof. Dr. med. K. Ernst, H . Kind, C . Müller, die ich bestens verdanke). Staehelin II (s. Anm. 1), 239. Ein Beispiel dafür ist der Artikel „Physiognomy of the Insane", in: A Dictionary of Psychological Medicine, by D . Hack Tuke, London 1892 (Reprint N e w York 1976). Anne-Marie ]nton,Jokann Caspar Lavater. Eine Bildbiographie, Luzem 1988 (mit weiteren Literaturangaben). Vgl. die Abbildungen in Cesare Lombroso, L'uomo delinquente, T o r i n o 1884. D e n Hinweis und die Einsicht in den Katalog verdanke ich der Freundlichkeit v o n Herrn Prof. Karl Pestalozzi, Basel (Nascità délia fotografia psichiatrica. A cura di Franco Cagnetta, Venezia, La Biennale 1981). Erna Lesky, Franz Joseph Gall, Naturforscher und Anthropologe. Ausgewählte Texte, Bern, Stuttgart, W i e n 1979. Gall nannte Lavaters Physiognomik sogar „nichtig und unsicher" und machte sich bisweilen darüber lustig; vgl. Kunz, Lavaters Physiognomielehre (s. Anm. 10), 26 ff. „Gottes Ebenbild?" Johann Caspar Lavater. Seine Physiognomik in ihrer Konzeption und Auswirkung. Broschüre zur Ausstellung im Strauhof Zürich 1991/92: „ O h n e einen direkten Einfluß Lavaters auf Kriminologie oder gar Judenverfolgung behaupten zu dürfen, m u ß zugestanden werden [ . . . ] " usw. F. A. Mesmer, Mémoires et aphorismes, éd. J . - M . A. Ricard, Paris 1846. Bernhard Milt, Franz Anton Mesmer und seine Beziehungen zur Schweiz, Zürich 1952, 10. Staehelin III (s. Anm. 1), 192. Bernhard Milt, Franz Anton Mesmer und seine Beziehungen zur Schweiz, Zürich 1952. A. M . J. Chastenet de Puységur, Du magnétisme animal, considéré dans ses rapports avec diverses branches de la physiologie générale, Paris 1807, 244. Staehelin III (s. Anm. 1), 191.

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III. Lavater und Zeitgenossen

KARL PESTALOZZI

Lavaters Hoffnung auf Goethe „Es ist etwas Problematisches um die Gesellschaft eines solchen Schlingels, wie Goethe ist, man wird von dem ungeschlachten vordringlichen Herren allzu leicht verdunkelt; doch auch beleuchtet manchmal. Ich glaube positiv, daß man von Lavater noch weniger sprechen würde jetzt, als es geschieht, wenn er sich nicht soviel an Goethe gerieben hätte, und wenn dieser nicht eine solche Menge wunderlicher Liebhabereien gehabt hätte." 1 Das schrieb Gottfried Keller am 28. Januar 1849 seinem Freund Salomon Hegi, in einem Brief, in dem er berichtet, wie er in Straßburg den Turm des Münsters bestiegen und dort die Namen Goethes und seiner Studiengenossen eingehauen gefunden habe, auch den „unseres wackeren Lavater". Keller hatte recht: Lavater verdankte die irdische Unsterblichkeit, die wir R u h m nennen, bis in die jüngste Zeit vor allem dem Denkmal, das Goethe seinem Wesen und ihrer beider Freundschaft in Dichtung und Wahrheit2 gesetzt hatte. Die Literaturwissenschaft hat von ihm als einem der vielen Satelliten Goethes Notiz genommen. Lavaters Eigenstes, das er sein „System" nannte, von dem aus seine vielfaltigen Aktivitäten Sinn und Zusammenhang bekommen, geriet dadurch in Vergessenheit, manches ging, losgelöst davon, andere Traditionsverbindungen ein wie die Physiognomik. Damit trat in den Hintergrand oder verschwand, was er für die Zeitgenossen Faszinierendes und Anstößiges an sich hatte. Im Gegenzug dazu möchte ich im folgenden versuchen, die Freundschaft zwischen Goethe und Lavater bewußt von Lavater her zu rekonstruieren und zu verstehen, hauptsächlich chronologisch. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Anfang ihrer Beziehung. Das ist insofern vertretbar, als darin alle Elemente enthalten sind, die dreizehn Jahre später zu Goethes Aufkündigung der Freundschaft führten. Mein Zugang ist dabei der eines Literaturinterpreten und Geistesgeschichders, also weder eines Theologen noch gar eines Psychologen. Ich halte mich möglichst an Texte. 260

I.

Goethe schreibt rückblickend über den Anfang der Freundschaft: „Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der Brief des Pastors an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen überein." 3 Das bestätigt sich von Lavaters Seite. Im Tagebuch eines Beobachters Seiner Selbst ist ein Brief an Z i m mermann abgedruckt, in dem es heißt: „Diese Schrift müssen Sie lesen, zu lesen geben und loben oder schelten, wie es am besten ist, sie gangbar zu machen." 4 U n d wenig später an den Pietisten Hasenkamp 5 : „Hast D u den Brief des Pastors zu * * * an den Pastor zu *** gelesen? — O lies ihn, lies ihn!" Das war im Mai und Juni 1773. Lavater war zweiunddreißig Jahre alt, ein berühmter Mann, zunächst als mutiger Patriot, der den Zürcher Landvogt Grebel unschädlich gemacht hatte 6 , vor allem aber als Schriftsteller. Im Februar 1773 war ein Verzeichniß aller von Herrn Johann Caspar Lavater herausgegebenen Schriften7 erschienen, die Bibliographie von Ernst Schulte-Strathaus 8 zählt bis dann 56 Titel. Goethe war vierundzwanzig Jahre alt und über seinen engeren Kreis hinaus kaum bekannt. Er hatte erst wenig veröffentlicht, und auch das meist anonym. An selbständigen Publikationen war der Pastorbrief9 erst N u m m e r drei, als nächstes kam, noch im gleichen Jahr, der Götz von Berlichingeni0 als erstes Drama. Die Leiden des jungen Werther, der R o m a n , der Goethe mit einem Schlag berühmt machte, erschien erst im Jahr darauf. - Der Pas torbriefwar nicht nur anonym erschienen, er gab sich als Übersetzung aus dem Französischen und fingierte als Verfasser einen älteren Landgeistlichen. Es macht Lavaters Sensibilität alle Ehre, daß er an dieser Klaue bereits den Löwen erkannte. Er ließ nicht locker, bis er den Verfasser identifiziert und Kontakt zu ihm gefunden hatte. Dabei konnte er nicht wissen, daß es derselbe war, der kurz vorher den dritten Band seiner Aussichten in die Ewigkeit in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen recht von oben herab rezensiert hatte. 11 Darüber, wie der junge Goethe dazu kam, den Pastorbrief zu schreiben, weiß man wenig. Er probierte damals verschiedene Stilmöglichkeiten aus. Der Brief ist ein Stück Rollenprosa aus dem M u n d eines Pfarrers, der an einen neuen Amtsbruder schreibt in einer pietistisch gefärbten pastoralen Sprache, die G o e the wohl aus dem Kreis der Susanna von Klettenberg, seiner geistlichen Freundin, kannte. Man könnte also fest von einer Stilübung sprechen. Leitthema des Briefes ist die Toleranz gegenüber anderen christlichen Glaubensformen gemäß dem Grundsatz: „So hat jeder seine eigene Religion." 1 2 Versucht man den Brief mit Lavaters Augen zu lesen, das heißt auf dem Hintergrund des „Systems", das die Aussichten in die Ewigkeit und andere Texte entfalten, treten andere Aspekte in den Vordergrund, in erster Linie die Christologie, von der der Pastor sagt: „Ich halte den Glauben an die göttliche Liebe, die vor soviel hundert Jahren unter dem Namen Jesus Christus, auf 261

einem kleinen Stückgen Welt, eine kleine Zeit als Mensch herumzog, für den einzigen G r u n d meiner Seligkeit, u n d das sage ich meiner Gemeinde so oft Gelegenheit dazu ist; ich subtilisire die Materie nicht; denn da Gott Mensch geworden ist, damit wir arme sinnliche Creaturen ihn m ö g t e n fassen u n d b e greiffen k ö n n e n , so m u ß m a n sich vor nichts m e h r hüten, als ihn wieder zu G o t t zu machen." 1 3 D e r Pastor folgt hier der sogenannten Akkommodationslehre der spätaufklärerischen Theologie (Zachariae, Semler), die besagt, Gott habe sich in Christus auf eine der menschlichen Auffassungsgabe gemäße W e i se offenbart, aus liebender Rücksicht auf diese sei er für die Menschen Mensch geworden. Lavater hat zwanzig Jahre später diese Auffassung in der F o r m u lierung des Pastotbriefes als seine eigene weitergegeben, als er schrieb: „ G o t t will sich humanisiren: hüten wir uns, dass wir ihn nicht wieder z u m Gott machen." 1 4 Er n a h m J o h 14,6 „ N i e m a n d k o m m t z u m Vater denn durch m i c h " in diesem Sinne absolut. A u c h in den Konsequenzen stimmte er mit Goethes Pastor überein, der schreibt: „ W i r glauben, daß die ewige Liebe d a r u m Mensch geworden ist, u m uns zu verschaffen wornach wir uns sehnen, u n d alles, was uns dient uns mit ihr näher zu vereinigen, ist uns liebenswürdig [.. .]". 1 5 Lavater k o n n t e das als Bestätigung seines Glaubens lesen, man k ö n n e sich mit Christus vereinigen, u n d zwar i h m als Mensch, der besondere Gaben hatte, gleich werden. Er war überzeugt davon, daß in j e d e m Menschen die Anlage liege, so zu werden, wie Christus es vorgelebt hatte. So wörtlich verstand er den alten Gedanken der imitatio Christi. Die Voraussetzung dafür war eine bestimmte Auffassung des Heiligen Geistes. 1769 hatte er darüber eine U m f r a g e gemacht. 16 Er wollte aus d e m N e u e n Testament exegetisch widerlegt haben: Erstens, daß Geist im N e u e n Testam e n t „übernatürliche Einsichten u n d Kräfte" bezeichne. Zweitens stellte er seine Ü b e r z e u g u n g zur Diskussion, daß der so verstandene Geist „allen C h r i sten aller Zeiten u n d O r t e " verheißen sei, sich also die W i r k u n g des Geistes nicht auf die ersten Christen einschränke. Hinter diesen Fragen stand Lavaters unumstößliche Gewißheit, daß alles, was im N e u e n Testament v o n Christus, den J ü n g e r n u n d den ersten Christen erzählt werde, auch zu seiner Zeit, für ihn selbst u n d andere, Realität werden könne. Goethes Pastor schien damit übereinzustimmen, w e n n er zur Verteidigung der Inspirierten und Schwärmer schreibt: „Wollt ihr die W ü r k u n g e n des heiligen Geistes schmälern? bestimmet mir die Zeit, w e n n er aufgehöret hat an die Herzen zu predigen u n d euern schaalen Diskursen das A m t überlassen hat, v o n d e m R e i c h e Gottes zu z e u gen." 1 7 Aus allem K o m m e n d e n m u ß man schließen, daß Lavater dem Pastorbrief nicht nur inhaltlich beipflichtete, sondern daß er den Brief selbst als eine u n mittelbare Bestätigung erlebte. Hier sprach offensichtlich einer, der genauso v o m Geist erfüllt war wie die Apostel u n d ersten Christen. Er hatte einen m o d e r n e n Apostelbrief vor sich, wie er selber einen dritten Timotheusbrief schreiben wollte. Er m u ß t e diesen zeitgenössischen Apostel kennenlernen, der so genau seinen H o f f n u n g e n entsprach.

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Goethes anonym erschienener Pastorbrief hatte Frankfurt als Druckort. Also erkundigte sich Lavater bei dem ihm bekannten Frankfurter Verleger Deinet nach dem Verfasser.18 Deinet muß Goethe von Lavaters Begeisterung berichtet haben, dieser übergab ihm zuhanden Lavaters ein Exemplar seines soeben erschienenen Götz. Mit dem Dankbrief Lavaters für den Götz setzt dann am 14. August 1773 die direkte Korrespondenz zwischen beiden ein.19

II. Der erste Brief beginnt folgendermaßen: „Wenn ich Herrn Hofrath Deinet recht verstanden habe, so empfange ich durch ihn von ihnen, mein verehrungswürdiger Herr Doctor, den Götz mit der eisernen Hand." 20 So hatte nach der Konvention der Brief an einen Unbekannten zu lauten, „Herr Hofrath" - „Herr Doctor", wer weiß, wie empfindlich er auf Titel ist. Der nächste Satz fahrt in diesem Ton fort: „Sie werden sich vorstellen, mit welcher Freude ich dieses Merkmal Ihrer Gütigkeit von Ihnen empfangen und — verschlungen habe." Plötzlich, durch Gedankenstriche angekündigt, wirft Lavater die gesellschaftliche Maske weg und gibt seiner Begeisterung freien Ausdruck. Die Herzenssprache durchbricht die Sprache der Konvention. Beider Verhältnis zu einander wird anschließend zum Thema: „Gewiß nicht den Zwanzigsten Theil von dem, was ich Ihnen sagen mögte, darf ich Ihnen sagen, um nicht das Ansehen zu haben, daß ich Ihnen schmeicheln wolle, welches doch gewiß meine Sache nicht ist." Die Konvention droht noch die Herzenssprache zu vereinnahmen und als Schmeichelei erscheinen zu lassen, also zum Gegenteil zu machen. Der nächste Satz faßt diesen Konflikt in eine Sentenz: „Es ist eine traurige Sache, daß Menschen - Menschen nicht sagen dürfen, was sie denken." Auf indirektem Weg wird so dem Adressaten dennoch bedeutet, als wer er angesprochen wird: als Mensch, das heißt als spontan empfindsames Einzelwesen hinter allem gesellschaftlichen Zwang und aller höflichen Titulatur. — Den unbekannten Goethe so anzusprechen war ein Wagnis — und doch nicht. Denn im Götz, für den sich Lavater so bedankte, sagt der Held am Schluß: „Schließt eure Herzen sorgfaltiger als eure Thore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freyheit gegeben."21 Mit seiner Demonstration nahm Lavater darauf Bezug und deutete zugleich an, daß er die Zeit für gekommen hielt, von der Freiheit des Herzens Gebrauch zu machen, für die Götz gestorben war. In Goethe sprach er einen Partner einer solchen Kommunikation von Herz zu Herz, und das hieß für ihn: von Mensch zu Mensch, an. Auch der nächste Brief greift das Problem des Aussprechens an, nun aber noch grundsätzlicher, wenn es heißt: „Ich kann nicht aussprechen, wie meine Seele dürstet, von einem Doctor Juris — Theologie zu lernen — warum haben wir Theologen keinen Sinn? — Ich kann nur - zittern, glühen, schweigen -

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aber nicht aussprechen — wie sehr ich wünsche — mehr große Winke, ausgedehnte Ahndungen meiner Seele — von Ihnen zu sehen — zu empfangen." 22 „Ich kann nicht aussprechen", heißt es zweimal: damit wird auch die H e r zenssprache für untauglich erklärt, dem Innersten der bewegten Seele Ausdruck zu geben. Graphisch deuten das die Gedankenstriche an, mit denen der Text durchsetzt ist. Sie markieren Verstummen und Schweigen und werden damit zum Kern der Herzensmitteilung. Sie sind bekanndich ein Kennzeichen von Lavaters Stil, der als „lavaterisieren" in der Zeit Schule machte. Verständlich wird dieser Brief erst, wenn man einbezieht, daß er ebenfalls auf eine Schrift Goethes reagierte, die Lavater erhalten hatte. Es ist das andere Stück geisdicher Rollenprosa des jungen Goethe, das Pendant zum Pastorbrief, mit dem Titel Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben.23 Die zweite Frage lautet: „Was heißt mit Zungen reden?" 24 Sie gilt dem Pfingstwunder und dem 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes, das sich mit dem Zungenreden, in dem der Geist laut wird, befaßt. „Mehr als Pantomime doch unartikulirt m u ß die Sprache gewesen seyn", läßt Goethe den Landgeistlichen sagen.25 Lavaters Brief markiert mit den Gedankenstrichen solches Lallen des Geistes. U n d wenn er einleitend fragt: „Warum haben wir Theologen keinen Sinn?", bezieht er sich auf folgenden Satz bei Goethe: „Paulus setzt die zur Empfindung des Geistes bewegte Seele (pneuma) dem ruhigen Sinn (nous) entgegen, nebeneinander, vielmehr nacheinander! Wie ihr wollt! Es ist Vater und Sohn, Keim und Pflanze. rtveuna! rcveuna! was wäre voo? ohne dich!" 26 Geist und Sinn, 7tveö(ia und voü£ brauchen einander gegenseitig, der Geist den Sinn, u m andern verständlich zu werden, nicht in sich selbst eingeschlossen zu sein. W e n n nun Lavater Goethe solchen Sinn zubilligt als bewiesene Fähigkeit, den Geist mitteilbar zu machen, deutet er an, er besitze die Gabe des Geistes und zugleich diejenige, ohne Verlust in Worte zu fassen, was Lavater selbst nur empfand. Damit war es nun eindeutig der Dichter Goethe, an den Lavater sich wandte. Indem er pneuma und nous besaß, entsprach er nicht nur dem, was Paulus verlangte, sondern war auch unter diesem Aspekt ein anderer Paulus oder doch ein neuer Apostel. Die Vermutung, Lavater habe den Pastorbrief als einen zeitgenössischen Apostelbrief gelesen, findet hier eine Stütze. Für Lavater waren die Briefe und Schriften, die er mit Goethe wechselte, u m ihn kennenzulernen, ein Notbehelf. Wirkliches Vertrauen hatte er in eine andere Mitteilungsform des Geistes, die er „die Wahrheitssprache des Gesichts" nannte. Das war das Medium, das sein eigenes war und für dessen breitere Anerkennung er sich im Jahr zuvor mit seiner Schrift Von der Physiognomik27 eingesetzt hatte. Gleichzeitig mit dem ersten Brief an Goethe suchte er sich via Deinet ein Bild von ihm zu verschaffen: „unaussprechlich wünsch ich mir sein Bild [ . . . ] Auch der fehlerhafteste Schattenumriß — ist mir hinreichend, die Claße zu entdeken, in welche ich die Menschen setzen m u ß . " U n d zuvor schon: „[... ] ich muß, kost es, was es wolle, ein bestimmt kenntliches Porträt auf einem Oktavblat, im Profil, (trägt er eine Perüke, im Kahl-

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köpf) von ihm haben." 28 Goethe erzählt in Dichtung und Wahrheit29, daß, als man Lavater statt seiner die Silhouette des Theologen Bahrdt schickte, er gleich erkannte, das könne nicht Goethe sein. Er trug seine Bitte Goethe selber vor und gab, als sie erfüllt war, eine kurze Analyse: „Ich glaub' es, Die Natur spricht. N u r die zu lange Nase, denn das ist sie gewiß, mindert den Eindruck der Augen und der Stirne. Aber welche Naivetät - in dem Munde. [... ] Ich bin unaussprechlich froh, daß Ihr Gesicht so ganz anders ist als Bahrdt, u. daß Sie vielmehr Stille und Ruhe bey dieser Heiterkeit u. diesem Leben haben, als ich hoffen dürfte." 30 Es war konsequent, daß Lavater mit einem Umriß von sich selbst antwortete. Indem er dem Dichter des Geistes als dessen Physiognomiker gegenübertrat, machte er seine Ebenbürtigkeit geltend im Sinne des Satzes, mit dem Herder später auf die Übersendung der Physiognomischen Fragmente reagierte: „Ein Physiognom ist ein so Auserwählter Gottes wie ein Dichter: sein Auge m u ß wie der Blitz treffen, kann er Empfindung zeichnen, Geist malen." 31 Indem Lavater so neben der verbalen eine physiognomische Kommunikation mit Goethe anstrebte, zog er Goethe aufsein eigenstes Interessengebiet, im nächsten Brief wünscht er denn auch schon, Goethe möge ihm helfen bei der Materialsammlung für seinen Nachweis der Berechtigung der Physiognomik. Aber diese Bemühungen waren für Lavater nicht Selbstzweck. In seinen Aussichten in die Ewigkeit hatte er dargetan, daß im Jenseits die Auferstandenen in einer unmittelbaren Sprache kommunizieren werden, die alle symbolische, das heißt Wort-Sprache entbehrlich mache: „Diese unmittelbare Sprache ist physionomisch - pantomimisch - musicalisch." 32 Er nennt sie in den Aussichten wie im zitierten Brief „Natursprache". Wenn Lavater also mit Goethe Silhouetten austauschte, und das geschah immer wieder, so nahm er die Sprache im Himmel vorweg und setzte die Fähigkeit dazu auch bei Goethe voraus. Das durfte er, wenn seine Gleichsetzung Goethes mit einem Apostel zutraf; denn in seiner Schrift Von der Physiognomik im Jahr vorher hatte er gesagt: „Er [sc. der Physiognomist] m u ß den Charakter jener Apostel und ersten Christen haben, die die Gabe besaßen, die Geister zu unterscheiden und die Gedanken der Seele zu lesen." 33 Schließlich wählte Lavater noch einen weiteren Weg, Goethe kennenzulernen. Im 6. Brief schrieb er Goethe: „ — und wenn im Packete, das ich erwarte, kein Christuskopf ist (— Siehe, Bruder, mein Glaub ist groß! mir sollte geschehen, wie ich glaube) - so erwart' ich mit erster Post unfehlbar einen gelungenen, oder mißlungenen [sc. Christuskopf] von der Hand deßen, der wie keine [andere] Seele aus meiner Seele herausgedacht, in mein Herz hinein e m p f u n d e n hat, von der Hand, die nicht wahr? die — X X X an X X X schrieb?" 34 Schon über Deinet hatte Lavater denselben Wunsch an Goethe herangetragen. Der Schlüssel zum Verständnis der Bitte nach einem von G o e the gezeichneten Christuskopf findet sich im 4. Band der Physiognomischen Fragmente, w o es unter dem Titel „Ueber Christusbilder" heißt: „Nicht jeder Christ kann ein Christusgesicht zeichnen. Aber gewiß der geschickteste M a h 265

ler ohne Glauben und Liebe zu Christus wird nichts erträgliches schaffen. Jeder Mahler mahlt mehr oder minder sich selbst. Wie einer ist, so mahlt er auch."3S Ein Christusporträt also ein Selbstporträt, Lavater verweist auf Rubens, man könnte auch an Dürer denken. Hinter dieser Gleichsetzung stand Lavaters christologische Grundüberzeugung, die er auch Goethe darlegte. Danach ist Christus das Urbild des M e n schen. Das bedeutet, daß in jedem Menschen die Anlage liegt, so zu werden wie Christus als Mensch war, und zwar in jeder Hinsicht. Jeder Mensch sollte den Christus in sich so weit ausbilden können, daß er die Fähigkeit erlangte, wie Christus wirkungsvoll zu predigen, erhörlich zu beten, j a selbst Wunder zu tun. Auch die physiognomische Fähigkeit verstand Lavater als Christusanlage. Die Nachfolge Christi bestand darin, daß man im Glauben an Christus so wurde wie er. Entsprechend würde man im Jenseits wie Christus verklärt werden. Diesen Grundgedanken malen die Aussichten in die Ewigkeit aus. Ein Christuskopf war insofern ein Selbstporträt, als er zur sichtbaren Darstellung brachte, wie weit es derjenige, der ihn malte oder zeichnete, in dieser Christusnachfolge gebracht hatte. Daß er es bei Goethe mit einem zu tun hatte, der ein zeitgenössischer Apostel war, stand, wie wir gesehen haben, für Lavater von Anfang an fest aufgrund der starken Wirkung, die vom Pastorbrief auf ihn ausgegangen war. Wenn er nun dessen Verfasser, unter Hinweis auf den Pastorbrief, um einen Christuskopf von derselben Hand bat, so konnte es nur noch darum gehen, die unmittelbar empfundene Christusnähe Goethes zu verifizieren, nochmals physiognomisch nachzuweisen. Für Lavater war, auf diesen Befund läuft alles zu, Goethe als Autor des Pastorbriefes ein Mensch von großer Christusnähe und Christusähnlichkeit und gerade insofern der Inbegriff eines Menschen. Damit unterschied er sich nur dem Grade, nicht der Art nach von anderen Menschen; denn alle Menschen hatten ja Christus zum Urbild, das sie in sich entwickeln sollten. Das Verfahren, das Lavater einsetzte, um Goethe genauer kennenzulernen, pflegte er denn auch in andern Fällen anzuwenden, immer dann, wenn er auf jemanden traf, von dem er den Eindruck hatte, er habe es in der Annäherung an das Urbild besonders weit gebracht. Das ließe sich zum Beispiel am Briefwechsel mit Herder zeigen, der zeitlich nebenher lief. Früher hatte Lavater auf den Pädagogen Basedow ähnliche Hoffnungen gesetzt. Auch sein Interesse für Wundertäter, Wunderheiler aller Art war letztlich eines an realisierten Ebenbildern Christi. Schließlich war Lavater vom Bewußtsein erfüllt, selber Christusgaben zu besitzen. Nicht nur seine physiognomische Begabung zählte er dazu, auch die Wirkung, die von seinen Predigten ausging, verstand er so, und in ein kleines Heft notierte er sich seine eigenen kleinen Gebethserhörungen.36 Aufgrund des starken Eindruckes, den der Pastorbrief auf ihn machte, vermutete er somit in Goethe seinesgleichen. Die entscheidende Differenz aber zwischen sich und Goethe sah Lavater darin, daß Goethe der Bestimmung des Menschen, Ebenbild Christi zu sein, näher stand als er selbst. Den Abstand drückt die Grußformel des Briefes vom 25.Januar 1774 aus: „Lebe wohl — im

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Leben der Liebe - du allen alles — u. trage den schwachen alles allen seyn wollenden Gedanken = Müdling." 3 7 „ M ü d l i n g " ist nach d e m Grimmschen Wörterbuch38 ein damals in der Schweiz auch sonst bezeugter Ausdruck. Lavater v e r w e n d e t ihn gern, u m seine christologische U n v o l l k o m m e n h e i t auszudrücken. Leitmotivischer noch ist bei ihm die W e n d u n g „allen alles". „Allen alles" zitiert l K o r 9 , 2 2 , w o Paulus schreibt: nctoiv y e y o v a Ttavta, was die Z ü r c h e r Bibel übersetzt „allen bin ich alles geworden." Bei Luther steht an dieser Stelle weniger prägnant: „Ich bin j e d e r m a n n allerlei w o r d e n . " D e r Vers faßt die bekannte Passage zusammen, w o Paulus ausfuhrt, er habe sich den J u d e n , d e n e n unter d e m Gesetz, denen ohne Gesetz, den Schwachen angepaßt, u m sie zu gewinnen. Lavater hatte „allen alles" zu seinem Wahlspruch gemacht u n d als solchen verbreitet. „Allen alles" zu werden hieß für ihn, auf die andern einzugehen, von sich selber abzusehen, es war seine Formel fiir Menschenkenntnis u n d Menschenliebe. Es hieß letztlich zu w e r d e n wie P a u lus u n d wie Christus selbst. W e n n Lavater n u n Goethe anredet als „ D u allen alles" u n d sich selbst als nur „allen alles seyn wollenden" von i h m absetzt, so bringt er z u m Ausdruck, daß er von Goethe für sich selbst Hilfe, Stärkung, Leitung auf d e m W e g zur Christusähnlichkeit erwartete. Ganz unverhüllt spricht er das einmal in Versen aus: O belebe mich, und tödte Meine Schwachheit; starker Goethe! Laß mich suchen, laß mich finden! Gib mir Nahrung zum empfinden, Gib mir Liecht und gib mir Wärme, Wenn ich kalt bin, wenn ich schwärme! [...] Laß dich gläubig nur berühren Und wir werden lebend spüren: Sieh uns wenn wir zu dir nahn, Brüderlich und segnend an. Amen.39 Diese Verse machen die Differenz zwischen Goethe u n d Lavater so groß, daß G o e t h e z u m Heilbringer wird u n d nun tatsächlich auch in diesem Sinne Z ü g e Christi verliehen b e k o m m t , der den „Müdling" zu sich emporziehen könnte, als sein Meister u n d Lehrer. Etwas prosaischer drückte Lavater dasselbe H e r d e r gegenüber aus: „ G e w i ß ists, daß mir der M a n n unendlich viel nützen kann, m i c h erheben, erwärmen, begeistern, abschleifen, demüthigen, reinigen kann. G e w i ß ists aber auch, daß es einem Betrug eher als j e n e r obengerühmten Brudereinfalt gleichsiehet, w e n n ich seine Freundschaft annehme, da ich i h m vielleicht minder als nichts werde sein können; aber — ich bin eigennützig u n d gebe, wie D u weißt, weil ich nicht Silber u n d Gold habe - was ich habe, u n d wärs auch n u r N ü r n b e r g e r Metallschlag." 40 Schwer faßbar geistert durch Lavaters erste Briefe an Goethe n o c h eine weitergehende H o f f n u n g . A m deutlichsten hat Lavater sie w i e d e r u m H e r d e r 267

gegenüber ausgesprochen, dem gegenüber er Goethe auch immer wieder „den Einzigen" nennt. „Hat jemals eine Abgeschmaktheit, die bonton ward, Züchtigung, Geisel des Satyrs verdient, so verdient es — weniger die Theologie der Orthodoxen - als der Teller, Semlers, Eberhards &c &c - Wäre nicht vielleicht Göthe der Mann — (denn er sieht erstaunlich tief in die Tiefen der Schrift und Natur des Menschen) der die Geisel nehmen sollte . . . ?" 41 Das weist Goethe eine Rolle zu, die erst ganz verständlich wird, wenn man einbezieht, daß Lavater zu dieser Zeit in der Erwartung lebte, das Tausendjährige Reich Christi auf Erden stehe unmittelbar bevor und „itzo schon" kündige es sich in einzelnen Menschen und Ereignissen an. Man gewinnt den Eindruck, in Goethe habe diese Naherwartung eine besonders deutliche Bestätigung gefunden, ja Lavater habe im Umgang mit ihm vorwegzunehmen gesucht, was er von der Ewigkeit erhoffte. Da für ihn diese Ewigkeit merkwürdig zwischen Jenseits und Zukunft changierte, konnte unbestimmt bleiben, ob Goethe in der ihm zugedachten Rolle dessen, der die deistische Theologie geißelte, das Eschaton oder eine bessere irdische Zukunft vorbereitete. In dieser Funktion würde Goethe nicht allein wirken, sondern war Teil einer kleinen geistigen Elite, die aus den bedeutenden Köpfen der Zeit, Philosophen, Theologen und Dichtern bestand, die Lavater kennengelernt hatte.

III. Aus den Anfängen der Korrespondenz haben sich nur Lavaters Briefe erhalten, diejenigen Goethes sind verschollen. Es könnte sein, daß sie, mindestens in Abschriften, noch einmal zum Vorschein kommen im Nachlaß eines Mitgliedes des Zürcher Kreises um Lavater. Dieser ließ ja die Briefe, die er erhielt, gern bei seinen Freunden zirkulieren. Bei dieser einseitigen Uberlieferung ist es schwer, genau auszumachen, wie Goethe auf das so überaus kühne Suchbild reagierte, das Lavater an ihn herantrug. Auf Lavaters physiognomische Interessen scheint sich Goethe sogleich eingelassen zu haben. Nicht nur erfüllte er den Wunsch nach einem Porträt von sich, der Austausch von Silhouetten, Zeichnungen, Gesichtscharakterisierungen und anderen Mitteilungen dieser Art bilden den sachlichen Boden der Korrespondenz, erst recht, als es dann um Goethes aktive Mitarbeit an den Physiognomischen Fragmenten ging.42 Aber die letztlich christologischen Prämissen von Lavaters physiognomischen Studien teilte Goethe offensichdich nicht, und erst recht nicht die Deutung seiner Person als Ebenbild Christi. Was Lavater aus Goethes Antworten zitiert43, deutet auf eine schroffe Abwehr: „Ich bin kein Christ", muß er erwidert haben. Wie das gemeint war, wird wenig später aus einem anderen Goethezitat deutlich: „Wenn du einen Meßias brauchst, so halte dich an dem, der dir von immer quellendem Waßer versprochen hat." 44 Goethes Satz „Ich bin kein Christ" ist somit keine Absage an 268

das Christentum, sondern eine an Lavaters Ineinssetzung von Goethe und Christus u n d an die Auffassung, Christus sei das Urbild des Menschen. An einer späteren Stelle bezieht sich Lavater darauf, daß Goethe offenbar zurückgewiesen hatte, es bedürfe heute noch Zeugen des Lebens Christi, wie es die Apostel waren. Auf die Gegenfrage, wie denn Christus heute noch erfahrbar sei, ließ Goethe Susanna von Klettenberg antworten. Gut pietistisch verweist sie auf das bleibende „Gefühl". Das war Lavater zu wenig. Lavater schlug verschiedene Wege ein, seine H o f f n u n g gegen Goethes Abwehr aufrechtzuerhalten. Er umspielt Markus 9,24, „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben", wenn er schreibt: „Gott weiß es, du bist's noch mehr, seit du's mir gesagt hast: Ich bin kein Christ. Ich nehm's keiner Seele übel, die nicht glauben kann; aber von denen wend' ich mein Angesicht, die sagen: Sie glauben, u: nicht glauben. Wer glaubt? — u: w e m ist des Herrn Arm offenbar? [... ] Es ist kein Christ auf Erden; ich bin noch keiner; Aber du sollst Einer werden - oder ich werde was du bist." 45 — Die Differenz zwischen Sein und Bewußtsein, die Lavater bei Goethe feststellt, wird dialektisch ins Positive gedeutet u n d als Versprechen auf die Zukunft. So kann die H o f f n u n g auf Goethe weiterbestehen. Ein anderer Versuch, Goethes Abwehr zu verstehen, berief sich implizite auf j e n e Anrede „ D u allen alles". Goethe, so legte es sich Lavater zurecht, gab sich als Ungläubiger, u m Lavaters eigenem Unglauben entgegenzukommen. Er paßte sich ihm an — aus Liebe. Damit handelte er wie Paulus und wie Christus. So konnte Goethes Wort „Ich bin kein Christ" als Ausdruck liebender Herablassung sich selbst widerlegen. Lavaters Reaktion konnte so die W i e derholung der Bitte sein, ihm zu helfen. „Lohne, lohne mein Harren mit Licht u: meinen Hunger mit Wahrheit! U n d verachte den Frager, der Wahrheit tragen kann, Freünd, nicht. Amen", schreibt er später wieder wie unerschüttert. 46 D e n n o c h machte es Lavater doch schwer zu schaffen, daß Goethe hatte den Pastorbrief schreiben können und nun sagte, er sei kein Christ, wobei der Widerspruch nicht nur den Inhalt betraf, sondern auch die Wirkung, die Lavater bei der Lektüre empfunden hatte. Immer wieder kommt er auf diese Unvereinbarkeit zurück. Kurz taucht einmal der Gedanke an Unredlichkeit auf. Weiterverfolgt, hätte er dazu fuhren können, wie wir das heute tun, zwischen Selbstaussage Goethes und dichterischer Fiktion zu unterscheiden. D o c h das kam Lavater nicht in den Blick. So blieb die Irritation bestehen: „Sag' mir doch, wie kannst du Einheit — zwey seyn? Ich kann's nicht. [... ] meine Vielfachheit ist nicht heterogenisch — deine, wollt's mir ein paarmal auffallen — scheint's." 47 U n d dann folgt erneut ein Hinweis auf das unverständliche N e beneinander von Pastorbrief und erklärtem Unglauben an Christus. Keinen dieser Versuche, die H o f f n u n g auf Goethe gegen dessen argumentative Abwehr zu verteidigen, hielt Lavater durch. Die aus dem Pastorbrief geschöpfte unmittelbare Gewißheit blieb siegreich. Offenbar vermochte Lavater auch seine Nächsten, Pfenninger und Barbara Schulthess, von der Berechti-

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gung seiner Hoffnung zu überzeugen. Und gab ihr Goethe nicht schon dadurch neue Nahrung, daß er den Briefwechsel nicht abbrach, als er erkannte, wie Lavater ihn verstand? Die erste erhaltene Antwort Goethes vom 26. April 1774, die an Lavaters Vertrauten Pfenninger gerichtet ist, zeigt, wie Goethe die Situation beurteilte: „Glaube mir es wird die Zeit kommen da wir uns verstehen werden. Lieber du redest mit mir als einem Ungläubigen der begreifen will, der bewiesen haben will, der nicht erfahren hat. Und von all dem ist grade das Gegentheil in meinem Herzen. [... ] Bin ich nicht resignirter im Begreifen und Beweisen als ihr? Hab ich nicht eben das erfahren als ihr? — Ich bin vielleicht ein Tohr dass ich euch nicht den Gefallen thue mich mit euern Worten auszudrücken, und dass ich nicht einmal durch eine reine Experimental Phychologie [so!] meines Innersten, euch darlege dass ich ein Mensch binn, und daher nicht anders sentiren kann als andre Menschen, dass das alles was unter uns Widerspruch scheint nur Wortstreit ist der daraus entsteht weil ich die Sachen unter andern Combinationen sentire und drum ihre Relativität ausdrückend, sie anders benennen muss."48 Das knüpft an die Kritik der Sprache an, die Lavaters erste Briefe zum Thema haben. Auch Lavater hatte auf das verwiesen, was der Sprache vorausging, die Empfindung, was Goethe sentiren nennt, die er mit dem Geist, dem pneuma, gleichsetzte. Goethe hatte er gerade als den gepriesen, der dieses Pneuma mitteilbar machen, ihm als Dichter Sprache geben konnte. Soweit ist Goethe mit ihm einig. Nun zeigt es sich aber, daß sich Lavater als Ausdrucksform der Empfindung, die er dem Geist gleichsetzte, nur die Sprache und Vorstellungswelt der Bibel denken konnte, daß Christus für ihn der einzige angemessene Name für das war, was den Menschen von innen heraus erfüllte. Für Goethe gab es auch andere Möglichkeiten, der Empfindung Worte zu geben, und er beanspruchte für sich, dafür verschiedene Sprachen zu verwenden. Das R e gister, das er im Pastorbrief gespielt hatte, brauchte nicht das einzige zu sein. In dem zitierten Brief kündigte er den Zürchern das Manuskript des Werther an als unmittelbar in den diskutierten Problemkreis gehörend. Darin hatte er für das fühlende Herz eine ganz neue Sprache geschaffen, die zwar auch biblische Vorstellungen und Wörter verwendet, man hat auf die vielen Christusanspielungen nach Johannes aufmerksam gemacht, aber sie doch einer allgemeineren Herzenssprache integriert. Es kam also für Goethe nicht darauf an, wie das Herz sich aussprach, wenn es das nur überhaupt tat. Der zitierte Brief an Pfenninger endet mit der berühmten Stelle: „Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes es mögens Pfaffen oder Huren gesammelt und zum Canon gerollt oder als Fragmente hingestreut haben. Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals Moses! Prophet! Evangelist! Apostel, Spinoza oder Machiavell. Darf aber auch zu iedem sagen, lieber Freund geht dirs doch wie mir! Im einzelnen sentirst du kräfftig und herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig wie in meinen." 49 Das ist die Explikation des Satzes aus dem Pastorbrief: „So hat

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jeder seine eigene Religion." Christus, Evangelist und Apostel, die für Lavater allein die angemessenen Repräsentanten der Empfindung waren und deshalb aus ihrer historischen Situation in die Jederzeitigkeit erhoben werden mußten, treten für Goethe in eine Reihe, die sich beliebig verlängern ließe, wenn nur die Bedingung intensiven Fühlens erfüllt war. Die Bibel hatte für ihn kein Monopol. Unter dieser Voraussetzung konnte er die Freundschaft mit Lavater aufrecht erhalten. Er gestand ihm zu, eine andere Sprache zu verwenden für das, was ihnen als Menschen gemeinsam war, das fühlende Herz. U n d was sie unangefochten verband, die Arbeit an den Physiognomischeti Fragmenten, machte ja gerade anschaulich, wie verschieden die Menschen auch in dem waren, was Lavater die Wahrheitssprache des Gesichts nannte.

IV. Daß der sich anbahnenden Freundschaft zwischen Lavater und Goethe dennoch nicht nur Mißverständnisse zugrunde lagen, trat bei der persönlichen Begegnung zu Tage, die am 23. Juni 1774 in Frankfurt stattfand. Lavater hatte sich mit den Worten angekündigt: „Ich will selbst kommen, Visitation zuhalten wegen deines Gesichts." 50 Darin äußerten sich die Hoffnungen, aus dem unmittelbaren Anblick zweifelsfrei erkennen zu können, wie es tatsächlich u m Goethe stand. In sein Tagebuch notierte sich Lavater am Abend nach dem ersten Zusammentreffen: „Zu Goethe, allein in seinem Zimmer, mit Schneider von Darmstadt, zu Nacht. ,bists* — bin ichs — unaussprechlich süßer u n beschreiblicher Antritt des Schauens — sehr ähnlich u: unähnlich der Erwartung. Von Tausend Dingen. Einige mal schreckliche Phisiognomie. Portrait. [... ] ach! wie viel hundert Sachen hab ich vergeßen, die Er mir mit der Miene des sich fühlenden Genius sagte. N o c h wünschten mir sein Vater u. Mutter eine treflich natürliche Frau eine gute Nacht. Herzliche Umarmung! alles Geist u. Wahrheit was er sagte, ich nicht mehr weiß." 51 „Ähnlich und unähnlich der Erwartung." Aus Goethes späterem Bericht in Dichtung und Wahrheit bestätigt sich das: „Er verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten R e a lismus, das, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen."52 Goethe bestand also den physiognomischen Test nicht, die Unvereinbarkeiten, die Lavater zu schaffen gemacht hatten, zeigten sich auch auf diesem untrüglichen Feld. Aber das trat in den Hintergrund vor Goethes offenbar überwältigender Präsenz. In Lavaters Tagebuchnotiz häufen sich die Hinweise auf deren Unaussprechlichkeit. U n d was beide miteinander sprachen, haftete nicht im Gedächtnis. Man gewinnt den Eindruck, alle systemgebundenen Hoffnungen Lavaters, ja 271

noch den Glauben an die Physiognomie habe der unmittelbare persönliche Kontakt weggeschmolzen, unnötig gemacht. Goethe ging es ähnlich. Wir wissen davon aus einem Brief an seinen Freund Schönborn, den er vor der Begegnung mit Lavater begann und danach weiterschrieb. Es heißt zunächst: „Lavater, der mich recht liebt, kommt in einigen Wochen her, wenn ich ihm nur einige Tropfen Selbstständigen Gefühls einflösen kann, soll michs hoch freuen. Die beste Seele wird von dem Menschenschicksaal so innig gepeinigt, weil ein krancker Körper und ein schweiffender Geist ihm die kollecktive Krafft entzogen, und so der besten Freude, des Wohnens in sich selbst beraubt hat. Es ist unglaublich wie schwach er ist, und wie man ihm, der doch den schönsten schlichtesten Menschenverstand hat, den ich ie gefunden habe, wie man ihm gleich Rätsel und Mysterion spricht, wenn man aus dem in sich, und durch sich lebend und würckenden Herzen redet." 53 Das ist richtig wiedergegeben, Lavater war ein Mysterium, was Goethe aus sich heraus dichtete. Aber Goethe reagiert doch sehr herablassend darauf, daß ihn Lavater über sich stellte und von ihm zu lernen hoffte, und deutete es gar als krankhaft. Aber auch Goethes Vorurteil wurde in der persönlichen Begegnung ausgelöscht. Entsprechend schrieb er an Schönborn: „Lavater war fünf Tage bey mir und ich habe auch da wieder gelernt, dass man über niemand reden soll den man nicht persönlich gesehen hat; wie ganz anders wird doch alles. Er sagt so ofift daß er schwach sey, und ich habe niemand gekannt der schönere Stärcken gehabt hätte als er. In seinem Elemente ist er unermüdet thätig, fertig, entschlossen, und eine Seele voll der herzlichsten Liebe und Unschuld. Ich habe ihn nie für einen Schwärmer gehalten und er hat noch weniger Einbildungskraft als ich mir vorstellte. Aber weil seine Empfindungen ihm die wahrsten, so sehr verkannten Verhältnisse der Natur in seine Seele prägen, er nun also iede Terminologie wegschmeisst, aus vollem Herzen spricht und handelt und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannte Winckel ihres eignen Herzens fuhrt; so kann er dem Vorwurf eines Phantasten nicht entgehen. Er ist im Emser Bade, wohin ich ihn begleitet habe." 54 Auch auf Goethe war der Eindruck von Lavaters Präsenz offensichtlich so stark, daß die in der Korrespondenz aufgebrochenen Gegensätze gegenstandslos wurden. Sie schienen den Mißverständnissen anzugehören, denen alle sprachliche Kommunikation der empfindenden Herzen notwendig ausgesetzt war. Lavaters Kritik an der Sprache erwies sich als berechtigt. Und wenn Goethe zugab, man müsse jemanden gesehen haben, um über ihn angemessen reden zu können, machte er sich Lavaters Glauben an die größere Wahrheit der Gesichtssprache zu eigen. Beide hatten erfahren und praktiziert, daß man jede Terminologie wegschmeißen müsse, wie Goethe sich ausdrückt. Dann fiel auch weg, was sie in der Korrespondenz zu entzweien gedroht hatte. Auf der gemeinsamen Reise nach Ems konnten sie nun ganz unbefangen und in gegenseitiger bewundern272

der Anerkennung zusammen sein in festlicher Freundschaft. Lavater las den Werther und konnte ihn kaum mehr weglegen. Daß der R o m a n seinen Glauben an Goethes Einzigkeit, den er zuerst am Pastorbrief gewonnen hatte, u n vermindert bestärkte, zeigt, wie frei er nun mit seiner H o f f n u n g umgehen konnte.

V. Die hochgemute Unmittelbarkeit und Spontaneität dieser gemeinsam verlebten Tage macht nun aber auch verständlich, weshalb die Freundschaft zwischen Lavater und Goethe schließlich in die Brüche ging. Sie brauchte lebendige Gegenwart, die Kommunikation jenseits aller symbolischen Sprache. Ihre Gefahr war deshalb die räumliche Ferne, denn die Briefe, das hatte sich gezeigt, konnten kein Ersatz sein. Auch nicht, daß schließlich bei j e d e m zu H a u se die Porträtbüste des Freundes stand. Goethe sprach es einmal aus: „Es ist eine schöne Sache ums sehn. Wollte Gott ich wäre dir die Hälfte näher und könnte alle Jahr dich einmal acht Tage haben." 55 Beide bedurften neuerlicher Gelegenheit, sich mit Unmittelbarkeit aneinander aufzutanken, wie bei Goethes Besuch in Zürich 1775 und vier Jahre später auf der zweiten Schweizerreise mit Carl August. Die Freundschaft war dann endgültig zu Ende, als G o e the dem Wiedersehen auswich. Daß es soweit kam, hing nun aber aufs engste damit zusammen, daß die räumliche Distanz Lavaters christologische H o f f n u n g auf Goethe reaktivierte, die auf der Reise nach Ems weggeschmolzen war. Aber diese Hoffnung nahm nun eine neue Wendung. Man höre die folgenden erstaunlichen Sätze aus Lavaters Brief an Goethe v o m 16. August 1781, in dem Lavater auf Goethes Vorwurf antwortet, sein Christus sei nur eine Projektion, eine Erdichtung, nichts Wirkliches: „Wenn das, was ich vor mir sehe, nicht in sondern außer mir ist; w e n n du ein freyes Wesen in Weymar bist, an welches ich, freyes Wesen in Zürich, izt schreibe — wenn ich izt nicht an mich selber, sondern an dich einen andern außer mir schreibe — so kann's auch einen Christus geben, der so im Himmel ist, wie du in Weymar - mit dem ich mich so unterhalten kann, wie mit dir — der so auf mich zurückwirken kann, wie du auf mich zurück wirkest, w e n n du mir Briefe beantwortest. - Ist nun diese Evangelische Geschichte wahr; Erweckt sie mir ähnliche Sensazionen, wie der Gedanke, wie die Überzeügung: Goethe ist in Weymar. [... ] So, u. noch unendlich mehr hat Christus Relazion zu dir! So ist Er an dich - so an's Universum attaschirt." 56 Dieser Gedanke wird dann noch lange weitergeführt. Lavater stellt hier eine Analogie her, die für ihn Beweiskraft hat, zwischen Goethe und Christus. Das ist das Muster, das wir aus den ersten Briefen kennen. Verstand aber damals Lavater den ihm unbekannten Goethe von Christus respektive seiner Christologie her, so hat sich nun die Richtung der Analogie

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umgekehrt. Goethe wird zum Beweis für die Existenz Christi. Und nicht nur zum Beweis. Aus allem, was vorausging, kann man schließen, daß der Vergleichspunkt zwischen Goethe und Christus nicht nur die Wirkung aus der Ferne war (Weimar in Analogie zum Himmel), sondern daß Christus für Lavater auch im einzelnen von Goethe her konkretere Gestalt angenommen, sich Goethe angeglichen hatte. „Du Menschen Mensch" redet er Goethe gegen Ende dieses langen Briefes an, „Adieü! Lieber! Einziger! Braver!"57 Goethe wurde so zum Christusbeweis. Während Gassner, Cagliostro und alle W u n dermänner und -frauen, in denen Lavater ebenfalls christusähnliche Figuren vermutete, sich früher oder später als Scharlatane erwiesen, wurde Goethe zum zuverlässigen Eckstein, zum Zeugen für die objektive Gültigkeit und Erfahrbarkeit seines Systems, und Lavater brauchte solch einen unwidersprechlichen Beweis. Immer wieder sah er sich, von außen und in sich selbst, dem Verdacht ausgesetzt, sein auf Christus bezogenes System sei Irrtum, Täuschung, eine Wahnidee, gar, mit seinem eigenen wiederholten Ausdruck, „geistliche Onanie". 58 Die Existenz des fernen Freundes und der Kontakt mit ihm gab ihm Gewißheit, daß Christus nicht ein Idol seiner Wünsche, sondern ein wirkliches Wesen und die Liebe zu ihm die zu einem wirklichen Du sei. Goethe hatte Lavaters Christusglauben mit einem poetischen Bild charakterisiert: „Selbst deinen Christus hab' ich noch niemals so gern, als in diesen [gedruckten] Briefen angesehen und bewundert. Es erhebt die Seele und giebt zu den schönsten Betrachtungen Anlaß, wann man dich das herrliche crystallhelle Gefäs (denn das war er, und als ein solches verdient er iede Verehrung) mit der höchsten Inbrunst fassen, mit deinem eigenen hochrothen Trank schäumend füllen, und den, über den Rand hinübersteigenden Gischt, mit Wollust wieder schlürfen sieht. Ich gönne dir gern dieses Glük, denn du müßtest, ohne daßelbe elend werden. Bei dem Wunsch und der Begierde, in einem Individuo alles zu genießen, und bei der Unmöglichkeit, daß dir ein Individuum genugthun kann, ist es herrlich, daß aus alten Zeiten uns ein Bild übrig blieb, in das du dein Alles übertragen, und, in ihm dich bespiegelnd dich selbst anbeten kannst." 59 Damit ist Lavaters Christologie anerkannt und kritisiert in einem. Anerkannt und legitimiert aus Lavaters eigenem individuellem Bedürfiiis, als Ausdruck seiner „Wünsche und Begierden", damit als Dichtung, wie sie Goethe verstand, von der heilende Wirkung auf den zurückging, der sie geschaffen hatte. Die Kritik, die Goethe dann breit ausführt, richtet sich dagegen, daß Lavater für seinen Christus allgemeine Verbindlichkeit beanspruchte, als sei er der Christus in einem objektiven Sinne. Darin sah Goethe einen Zug der Intoleranz gegenüber anderen individuellen Glaubensformen, nicht zuletzt seiner eigenen, die Gott und Natur gleichsetzte. Der Vorwurf bestand, auf Lavaters Äußerungen und nicht auf seine Person bezogen, zu Recht. Aber Goethe ahnte wohl nicht, daß gerade seine Existenz es war, die Lavater in seinem Glauben bestärkte, daß sein Christus der einzig richtige und deshalb für alle verbindlich sei. Diese Dialektik wird daran greif274

bar, daß Lavater für sein Werk Pontius Pilatus, für das er den Untertitel „ecce h o m o , sehet den Menschen" wählte, Goethe u m „einige Aphorismen aus deiner seele Tiefen" bat, daß dann der veröffentlichte Pontius Pilatus just das Werk wurde, das Goethes Entfremdung von Lavater unwiderruflich machte. Darauf zielt das bekannte Wort: „Da ich zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist binn, so haben mir dein Pilatus und so weiter widrige Eindrücke gemacht, weil du dich gar zu ungebärdig gegen den alten Gott und seine Kinder stellst. [... ] D r u m laß mich deine Menschen Stimme hören damit wir von der Seite verbunden bleiben, da es von der andern nicht geht." 60 Goethe wiederholte damit seine erste Abwehr „Ich bin kein Christ" von vor neun Jahren. Nach allem, was inzwischen zwischen ihm u n d Lavater geschehen war, w o g diese Absage schwerer. Goethe zog sich damit endgültig aus der Christusähnlichkeit zurück, die Lavater an ihn herangetragen hatte und die er nun brauchte, u m sich der Objektivität seines Systems zu vergewissern. Es ist ein letzter Versuch, die Freundschaft zu retten, wenn Goethe an Lavaters Menschenstimme appellierte, als ob Lavater zwischen Mensch und Christus hätte unterscheiden können. Lavater mußte an seiner Hoffnung auf Goethe festhalten, wenn er nicht sein ganzes „System" in Frage stellen wollte. Wie zentral das für ihn war, läßt sich daraus ersehen, daß er damit an die Öffentlichkeit trat mit der W i d m u n g seines Werkes Nathanael oder die ebenso gewisse als unerweisliche Göttlichkeit des Christentums. Die W i d m u n g „An einen Nathanael, dessen Stunde noch nicht gekommen ist" sprach, ohne einen Namen zu nennen, zu Goethe und trag noch einmal an ihn heran, was der Pastorbrief als H o f f n u n g in Lavater geweckt hatte. Die W i d m u n g schließt mit den Sätzen: „ [ . . . ] es giebt Tausende, die sich dem Menschen, den ich als meinen Gott anbete oder vielmehr würdiger anzubeten täglich streben soll, sehr nahe wähnen und unermeßlich entfernt von Ihm sind - und Viele, die unermeßlich von Ihm entfernt scheinen, und denen Er, meines Bedünkens, näher als nah ist — D u wirst meiner nicht bosmüthigen Hoffnung, daß Du unter diesen nicht der Letzte seyst, edelherzig lächeln, u n d mir, wohl einmal in einem Momente, w o mir eine nicht unedle Thräne bey deinem, mich allemal innigsterquickenden Anblick, und zwahr aus einer ganz andern Ursache, als u m deines Nichtglaubens willen, in's Auge tritt, die H a n d drücken und sagen:,[...] W i e gern gönn' ich dir deinen Christus, der dein Herz so froh und durch die Freude so duldsam macht! Laßt uns Beyde warten!' " 61 Dieses Warten war nicht nur eines auf Goethes Annahme der Christusebenbildlichkeit als Bekenntnis. Es war ein eschatologisches Warten, die gewisse Hoffnung, daß im Tausendjährigen Reich Christi Goethes Christusgleichfbrmigkeit unwiderlegbar in sichtbare Erscheinung treten werde. Mit der Aufforderung „Laßt uns beide warten" machte sich Lavaters H o f f n u n g auf G o e t h e unabhängig von Goethes Zustimmung oder Abweisung u n d schloß ihn in die Jenseitshoffnung ein, die Lavater in den Aussichten in die Ewigkeit ausgebreitet hatte. So sehr es Lavater persönlich kränkte, daß ihm 275

Goethe auswich, als er 1797 nochmals Zürich besuchte, die H o f f n u n g war und blieb so weitgespannt, daß ihr das im Grunde nichts anhaben konnte.

Schluß Lavater und Goethe, das sollte deudich geworden sein, ging es, von uns aus gesehen, darum, Kategorien, besser: Bilder zu finden flir das Verständnis dessen, was sie an sich selbst und aneinander erfuhren, für die moderne Individualität, verstanden als von innen, aus dem eigenen Herzen heraus lebendes Wesen, das sich mutig der Welt der Konventionen, in der es sich vorfindet, entgegenstellt. Beide suchten dieses erregend Neue von der christlichen Ü b e r lieferung her zu fassen. Lavater hielt am Evangelium fest. In einer kühnen Umdeutung, die ihm als solche wohl nicht bewußt war, identifizierte er die moderne Individualität mit dem Christus des N e u e n Testaments. In Christus hatte sie ihr Urbild. Damit unterstellte er sie zugleich einer N o r m . An Christus könne der kraftvoll sich fühlende Einzelne gemessen werden, von ihm ging der Imperativ aus, sich zu verwirklichen, an sich zu arbeiten. Christus und das Evangelium hatten als Vorbilder zudem die Aufgabe, die Individualität in j e dem Menschen zu wecken. Denn alle waren berufen, Individualitäten zu werden. Indem Christus zum Urbild und Vorbild der Individualität erhoben w u r de, war auch eine Garantie gegeben, daß der Einzelne den Bezug zu den Mitmenschen nicht verlor. Von Christus her war er als sich Mitteilender und Liebender verstanden. Gemeinschaft aller ausgebildeten Einzelnen war schon im Diesseits, erst recht im Jenseits das utopische Ziel. Aus Lavaters Biographie ließe sich zeigen, daß er damit auch einen D a m m gegen die Vereinzelung aufrichten wollte, die er als Gefahr des Selbstgefühls früh an sich erfahren hatte. Goethe verstand die moderne Individualität ebenfalls in biblisch-religiösem Zusammenhang. Alle lebenden Wesen waren für ihn Kinder des Vaters als der lebendigen Natur. Auch für Goethe hatten die Individualitäten Anteil am Götdichen, es wirkte unmittelbar in jedem Menschen als treibende Lebenskraft und bedurfte keiner Vorbilder. Die göttliche Lebenskraft prägte sich in j e d e m Menschen je nach Anlage und Umständen aufbesondere Art aus. Daher konnte die Physiognomik auch Goethes Interesse gewinnen. Aber die Einzelnen ließen sich über ihre Verwandtschaft als Kinder der einen Gott-Natur nicht aneinander messen, jeder war eigenen Rechts, „individuum ineffabile" war Goethes Einwand gegen Lavaters physiognomisch-moralische, letztlich christologische Menschenbeurteilung. Mit höchstem Interesse verfolgte G o e the, wie sich jeder Einzelne auf unverwechselbar eigene Weise entwickelte. „Alles wirkt verhältnißmäßig in der Welt" — diese Devise schmuggelte Goethe in Lavaters Physiognomische Fragmente ein. 62 Verhältnismäßig, das heißt unter j e besonderen Bedingungen. An Lavater bewunderte Goethe gerade die einmalige und eigenartige Individualität, die so stark war, daß sie selbst Christus

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ihren eigenen Bedürfnissen assimilierte, deshalb mußte er aber auch Lavater das R e c h t absprechen, eine allgemeine Wahrheit zu vertreten. Es ist und bleibt verblüffend, mit welch sicherem Gespür Lavater am jungen Goethe das wahrnahm, was er seither für die deutsche Kultur geworden ist, Inbegriff v o n Individualität im modernen Sinne. Die Hoffiiung, die er auf ihn setzte, hatte z u m einen das Ziel, diese Individualität allgemein zu machen, zugleich aber, sie i m R a h m e n des Christentums zu halten und damit die ihr innewohnende Gefahr der Relativierung und Dissoziierung zu bannen. G o e the erkannte, daß das w o h l eine anachronistische Hoffnung war. Uns ist seither als Aufgabe geblieben, die unendliche Vielfalt der Kinder der Natur im G o e theschen Sinne positiv anzuerkennen und zugleich etwas v o n Lavaters H o f f nung auf eine universale Menschengemeinschaft im Zeichen liebender Hilfe und Z u w e n d u n g zu bewahren. Lassen Sie mich schließen mit der Charakterisierung seiner selbst, die Lavater einem Porträt v o n sich eingeschoben hat: Wessen ist dies Bild? Ich will es Dir sagen: Es ist es von dem Schwächsten, der doch in der Kraft des Stärksten sich stark fühlt... Bild des Freundes ist's, der zu sehr von Freunden geliebt wird Bild des Glaubenden ist's, des HofFers des selten Gehofften, Bild des Sterblichen ist's, der seiner Sterblichkeit Last fühlt; Bild des Begnadigten ist's, der lebt im Schoosse der Langmuth. 63

Anmerkungen 1 2

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Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, hg. von Carl Helbling; hier I, 213. Brief vom 28. Januar 1849 an Salomon Hegi. J . W . Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, IV. Teil, 19. Buch, Hamburger Ausgabe Bd. X, 1959, 54—160 {Goethes Werke. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Bd. I—XIV, Hamburg 1948—1969). Vgl. dazu vom Verfasser: „Zum Lavater-Porträt in Goethes Dichtung und Wahrheit", in: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Goethe im Kontext, T ü bingen 1984, 283-297. Dichtung und Wahrheit (s. Anm.2), 15. J.K. Lavater an Dr. med. Johann Georg Zimmermann, 4.Mai 1773, in: [J. C. Lavater], Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, bearbeitet von Christoph Siegrist, Bern und Stuttgart 1978 (Schweizer Texte 3), zitiert: Tagebuch II, 1773, 266. Lavater an Hasenkamp, 5.Juni 1773, ebd. 305. Z u m „Grebelstreit" vgl. [Johann Kaspar Lavater], Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten, 21. November 1762, O . O . u. J. [Zürich 1762], Gedruckt in: Johann Kaspar Lavaters ausgewählte Werke, 4 Bde., hg. von Ernst Staehelin, Zürich 1943; hier I: Die neue Kreatur in Christo (ca. 1748-1772), 33-40 (zitiert: Staehelin). - 1769 erschien ohne Lavaters Wissen in Arnheim eine weitere anonyme Ausgabe unter dem Titel: Der von Johann Kaspar Lavater glücklich besiegte Landvogt Felix Grebel. Lavater wehrte sich gegen diese „von mehr als einer Seite, 277

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fehlerhafte Bogen, deren Inhalt [er] weder gesammelt, noch zur Herausgabe mitgeteilt." Siehe auch die ausführlichen Berichte von Lavaters Studienfreund Leonhard Usteri (1741-1789) an Rousseau vom 20.Januar und 8. März 1763, in: Correspondance de Jean-Jacques Rousseau avec Leonhard Usteri, 1910, 37-48.51-54. Siehe auch Rolf Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746-1780, Diss. Zürich 1993. Verzeichniß aller von Herrn Johann Caspar Lavater herausgegebenen Schriften, SchulteStrathaus Nr. 77 (vgl. die folgende Anmerkung). Bibliographie der Originalausgaben deutscher Dichtungen im Zeitalter Goethes. Nach den Quellen bearbeitet von Emst Schulte-Strathaus, Bd. 1,1: Lavater als Vorläufer und Anfuhrer des „Sturm und Drang", München u. Leipzig 1913. Johann Wolfgang Goethe, „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. Aus dem Französischen, 1773", in: Der junge Goethe III (DjG), hg. von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1966, [108]—116. Zitiert: Pastorbrief. J. W . Goethe, „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand", DjG III, 175297. In: Frankfurter Gelehrten Anzeigen (FGA) Nr. 88, 3. November 1772, N S. 579 ff. DjG III, 88-91. DjG III, 113. DjG III, 110. Lavater an Cuningham, 23. Februar 1793, in: Johann Caspar Lavater 1741—1801. Denkschrift zur 100. Wiederkehr seines Todestages, hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee, Zürich 1902, 264. Zitiert: Denkschrift. DjG III, 115. Johann Kaspar Lavater, Drey Fragen von den Gaben des heiligen Geistes. Allen Freunden der Wahrheit zur unpartheyisch - exegetischen Untersuchung vorgelegt. Im September 1769 (Zürich 1769). Orelli IV, 2 1844, [95f.]; Staehelin I, 208-212. DjG III, 114. Vgl. Lavater an Herder, 4. November 1773, in: Aus Herders Nachlaß, hg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder, Frankfurt/M 1857; hier II, 70: „Goethe hat mir seinen ,Götz von Berlichingen' geschickt. Ich ließ ihn durch Deinet um sein Porträt bitten." Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher, hg. von Heinrich Funck (Schriften der Goethe Gesellschaft 16), Weimar 1901, [3f.]. Zitiert: BW. BW, [3]. DjG III, 297. Lavater an Goethe, 1. September 1773, BW, 4. J. W . Goethe, Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zum ersten mal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben, Lindau am Bodensee 1773. DjG III, [117]-124. DjG III, 122. DjG III, 123. Ebd. Johann C. Lavater, Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln. Mit zahlreichen Abbildungen hg. und mit einem Nachwort von Karl Riha und Carsten Zelle (Insel Taschenbuch 1366), Frankfurt/Main und Leipzig 1991, 62. Lavater an Deinet, 11.Juli 1773, BW, 382. J. W . Goethe, Dkhtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch, Hamburger Ausgabe Bd.X, 1959, 15.

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BW, 6. Herder an Lavater, 20.2.1775; Herders Nachlaß II (s. Anm. 18), 122. [Johann Kaspar Lavater], Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Johann Georg(e) Zimmermann, Königl. Großbrittannischen Leibarzt in Hannover, Zürich 1773, III. Band, 16. Brief: „Von der Sprache im Himmel", 108 (zitiert: Aussichten). Vgl. auch Staehelin II, 183. Von der Physiognomik, 1991, 62. Lavater an Goethe, 19. November 1773, BW, 8. Physiognomische Fragmente IV, 1778, 435. J. K. Lavater, Gebethserhörungen, Ms. in Privatbesitz. Lavater an Goethe, 25.Januar 1774, BW, 19. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. I-XVI (1854— 1960), Leipzig. Lavater an Goethe, 7.Januar 1774, BW, 16. Lavater an Herder, 4. November 1773, Herders Nachlaß II (s. Anm. 18), 71. Lavater an Herder, 21.8. und 23.9.1773, Abschrift, Z B Z FA Lav. Ms. 564, Nr. 125. Frau Dr. Judith Steinmann herzlichen Dank für die sorgfältige und prompte Überprüfung von Guinaudeaus ungenauem kompilierten Zitat mit der Zürcher Handschrift. Vgl. Olivier Guinaudeau, Jean-Gaspard Lavater. Etudes sur sa Vie et sa pensée jusqu'en 1786, Paris 1924, 619, Anm. 373. Dazu Eduard von der Hellen, Goethes Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, Frankfurt/Main 1888; DjG IV, [276]-279. Lavater an Goethe, 30. November 1773, BW, 9. Lavater an Goethe, 4.Januar 1774, BW, 12. Lavater an Goethe, 30. November 1773, BW, 9f. Lavater an Goethe, 5. Februar 1774, BW, 21. Lavater an Goethe, 28. Dezember 1773, BW, 10. Goethe an Pfenninger und Lavater, 26. April 1774, BW, 23 f. Ebd. 24. Lavater an Goethe, 11. Mai 1774, B W, 31. Lavaters Tagebucheintrag, Donnerstag, 23.Juni 1774, BW, 281. J . W . von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 14. Buch, 179 (vgl. Anm. 2). Goethe an Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn, Frankfurt, l.Juni - 4.Juli 1774, DjG IV, 23 f. Ebd. 24. Goethe an Lavater, 13. Oktober 1780, BW, 143. Lavater an Goethe, 16. August 1781, BW, 186. Ebd. 191. Lavater an Goethe, 16. August 1781 und 28.Juli 1782, BW, 188.207. Goethe an Lavater, 22.Juni 1781, BW, 181. Goethe an Lavater, 29.Juli 1782, BW, 209 f. (Johann Kaspar Lavater], Nathanaél. Oder die eben so gewisse als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums o. O. 1786. Vgl. Staehelin III, 214. Daß Goethe Nathanaél zur Kenntnis genommen hat, zeigt sich daran, daß sein böses Epigramm auf Lavater das „Lied eines Christen an Christus" am Schluß des Werkes parodiert, in dem dreißigmal die Anrede „Du bist!" wiederkehrt (Freundliche Mitteilung von Frau Dr. phil. des. Gisela Luginbühl-Weber, Basel). DjG IV, 279. Ms. in Privatbesitz.

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FRIEDHELM ACKVA

Die Bedeutung von Lavater für das theologische Werk von Johann Jakob Heß (1741-1828) Prof. Dr. Gustav Adolf Benrath Litt. D. h. c., zum 7.12.1991 Es gibt viele Gründe dafür, bei einem Lavater-Symposion auch einen Blick auf seinen Zürcher Freund und Kollegen Johann Jakob Heß zu werfen. Heß wurde ebenfalls im Jahre 1741 geboren, wie übrigens auch Johann Heinrich Füßli, mit dem Lavater seine erste Bildungsreise unternahm und der 1825 in London als Präsident der Akademie der Künste starb. Auch der Theologe und Lokalhistoriker Leonhard Meister (j" 1811) war gleichen Jahrgangs und bedürfte hier der Würdigung, ganz zu schweigen von dem engen Jugendfreund Heinrich Heß (1741-1770) und dessen jüngerem Bruder Felix Heß (17421768). Erst wenn man diese lokalen Weggenossen mit im Blick hat, wird das Lavater-Bild vollständig. Die Behandlung des Verhältnisses Lavaters zu J . J . Heß kann somit nur repräsentativen Charakter haben. Es handelt sich dabei gewiß um ein wichtiges und vor allem — bei Lavater j a keine Selbstverständlichkeit — um ein andauerndes Verhältnis. Vor 150 Jahren feierte man den Geburtstag der beiden großen Zürcher gemeinsam. Damals stand es offenbar noch nicht fest, daß Lavater eine größere Bedeutung hat als Heß, denn man wählte den 21.10.1841 zum Jubiläumstag, und dies war der 100. Geburtstag von Heß. 1 Heß war Lavater nicht nur um diese knappen vier Wochen zwischen dem 21.10. und dem 15.11. voraus. Er durchlief auch seine Schul- und Studienzeit rascher als jener. Schon im Frühjahr 1760 wurde Heß ordiniert, zwei Jahre vor Lavater. Nach seiner Ordination wurde er für sieben Jahre seinem berühmten Onkel Johann Caspar Heß in Neftenbach als Vikar und Hauslehrer zugeordnet. Dies hinderte ihn daran, wie Lavater und Füßli eine Bildungsreise zu unternehmen 2 , wobei sein Wunschziel England gewesen wäre. Heß heiratete 1767 ausgerechnet die Frau, die Lavater zuvor begehrt hatte, aber die ihm wegen des Standesdünkels seiner Mutter verwehrt geblieben war: Die zehn Jahre ältere Anna Maria Schinz (f 1811), Tochter eines einfachen Amtmanns in Einbrach, die schon Klopstock bei seiner Reise auf dem Zürichsee (1750) besonders ins Auge gefallen war.3 Auch im diensdichen Bereich lief Heß Lavater einige Male den R a n g ab. Zwar gründete Lavater im April 1768 die Asketische Gesellschaft in Zürich, doch war es Heß, der 1777, nach dem Tode des wichtigen Förderers und Begleiters der dort versammelten jungen 280

Theologen, Johann Jakob Breitinger, zum Vorsteher der Gesellschaft ernannt wurde. Ebenso wählte ihn 1795 der Große R a t mit fast doppelt so vielen Stimmen als Lavater zum Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche. Dieser stand er bis zu seinem Tode im Jahre 1828 vor. 4 Er überlebte somit seinen Altersgenossen u m achtundzwanzig Jahre und wurde, wie es Georg Geßner als Biograph beider einmal ausdrückte, gegenüber dem Petrus-Typ Lavater ein greiser Johannes. 5 Anders als Lavater, der 1769 Diakon am Waisenhaus geworden war, mußte H e ß noch über acht Jahre auf sein erstes Amt warten. Erst 1777 wurde er Diakon am Fraumünster. H e ß nützte die lange Exspektantenzeit, durch das väterliche Erbe gut versorgt, u m seine Hauptschriften zu veröffentlichen. Zwischen 1768 u n d 1773 erschien in sechs Teilen seine Geschichte der drey letzten Lebensjahre Jesu. Diese Evangelienparaphrase war bestimmt von den Grundsätzen der aufklärerisch-pragmatischen Geschichtserzählung und trug — nach dem Geschmack der Zeit - romanhafte Züge. Dabei überging H e ß die Wunderberichte zwar nicht völlig, doch reduzierte er sie auf ein Mindestmaß und versuchte, sie immanent zu erklären. Weil ihm die Geburtsgeschichte Jesu zu wunderhaft erschien, beschränkte er sich auf die drei letzten Lebensjahre, in denen Jesus als Held der Geschichte seine Geschicke selbst in die Hand nahm. Z u d e m grenzte sich H e ß durch die Bevorzugung einer harmonisierenden Geschichtserzählung bewußt gegen eine Messiade ab. Solche überschwenglichen Evangelien-Epen, wie sie in der Nachfolge Klopstocks u n d im Umfeld Bodmers und Breitingers auch in Zürich beliebt waren, waren vielmehr Lavaters Sache. 6 Die Lebensgeschichte Jesu, wie sie später hieß, erlebte bis zum Tode von H e ß acht Zürcher Auflagen (51776!) und viele deutsche Nachdrucke (Tübingen; Frankfurt) sowie niederländische und dänische Übersetzungen. 1774 veröffentlichte H e ß die zweibändige Schrift Von dem Reiche Gottes; ein Versuch über den Plan der göttlichen Anstalten und Offenbarungen, in der er versuchte, die einzelnen biblischen Ereignisse in ihren großen Zusammenhängen und in ihrer organischen Einheit darzustellen. Aus den Geschichten wurde eine Geschichte, die den Gesetzmäßigkeiten der Pragmatik, des Wolffschen Ursache-Folge-Denkens, unterworfen zu sein schien. Der nexus causarum ersetzte darin den heilsgeschichtlichen Faden, wie er in der alten Bundestheologie hervorgehoben worden war. Diesem mehr systematisch-hermeneutischen Durchgang durch die gesamte Bibel folgten die Geschichte und Schriften der Apostel (2 Bde., 1775) und die zwölfbändige Geschichte der Israeliten vor den Zeiten Jesu (1776—1788), mit denen Heß die Biographie Jesu in beide R i c h tungen erzählerisch ausdehnte. Das literarische Schaffen des Zürcher Exspektanten ist somit dem Umfang und der Verbreitung nach mit dem Lavaters zu vergleichen, wenn auch Lavaters Veröffentlichungen und Interessen vielseitiger waren. Beide standen bei der Abfassung ihrer Frühwerke in ständiger Verbindung. So war Lavater der erste, äußerst wohlwollende Rezensent der Lebensgeschichte Jesu im Lindauer Journal.7 Im Vorbericht seiner Aussichten in die Ewigkeit lobt Lavater H e ß neben 281

seinen Lehrern Bodmer und Breitinger und seinen neuen deutschen Freunden als einen „Depositair des gesunden Verstandes, des guten Geschmackes, der wahren Weltweisheit, und der apostolischen Gottesgelehrsamkeit". 8 Andererseits erwies H e ß Lavater eine deutliche Reverenz: Am Ende seiner ReichGottes-Schrift, als H e ß davon spricht, daß Gott alles in allem sein wird (IKor 15,28), findet sich ganz unvermittelt der Satz: „Ich werde es dir einst [dann] sagen, verehrenswürdiger Lavater! forschender Geist! oder vielmehr du mir." 9 Gerade dieses überraschende Wort an so entscheidender Stelle deutet auf ein gemeinsames Rangen u m Erkenntnis hin, das jedoch unterschiedliche Ergebnisse hervorbrachte. Heß war von ähnlichen Fragen bestimmt wie Lavater, doch fand er andere Antworten. Ich vermute zudem, daß Lavaters extreme Antworten und Positionen auf die Heß'sehe, wesentlich ausgeglichenere Position kontraproduktiv wirkten. Der bestimmende Kontrast läßt sich vereinfacht zusammenfassen: Es ging Heß um Einsichten in den göttlichen Geschichtsplan und nicht, wie Lavater, um Aussichten in die Ewigkeit. Diesen Kontrast kann man an drei Phasen nachweisen:

I. Die Zeit der gemeinsamen

theologischen

Umorientierung

(1768/69) Während Lavater sich 1768 nach übersinnlichen Erfahrungen sehnte und seinen Glauben durch die Zukunft vorwegnehmenden Aussichten in die Ewigkeit zu erwecken und zu beglücken suchte, konzentrierte sich Heß auf die Lektüre der Bibel, u m darin Einsichten in die göttlichen Handlungen der Vergangenheit zu gewinnen. 10 Er sah den gesetzmäßigen göttlichen Handlungen eine „Philosophie der Offenbarungen" 11 zugrundeliegen. Diese biblisch-theologische Philosophie wurde ihm zum wichtigen Hilfsmittel, um seine Zweifel und Anfechtungen zu überwinden, die ihm - wie Lavater - ein zu starker Einfluß der Aufklärungsphilosophie bereitet hatte. Heß, der an sich einen recht kühlen Charakter hatte, gelangte durch diese, sein weiteres Schaffen grundlegend bestimmende Entdeckung in eine überschwengliche Euphorie, von der auch Lavater mitgerissen wurde. Jener vertiefte sich ebenso verstärkt in die Bibel, entdeckte aber darin nicht den philosophischen Zusammenhang, staunte nicht über Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, sondern legte seinen Akzent auf einen Begriffsstrang: „Reich Christi, Himmelreich, zukünftige[s] Leben, Gericht, Auferstehung." 12 Mit dem Reich Christi und Gottes identifizierte Lavater in seinen Briefen an Heß, aber auch in seinen Aussichten, fast durchgehend das sehnlich erwartete Tausendjährige Reich 13 , während Heß darin die alles umspannende Regierungsgeschichte Gottes sah. Der Unterschied zwischen retrospektiver Einsicht bei Heß und spekulativer Aussicht bei Lavater wird am besten deutlich an den zwei verschiedenen 282

Wahlsprüchen. Heß schrieb in alle seine Bücher mit der Hand auf griechisch 2Tim 1,12: „Ich weiß, wem ich glaube" (seine Übersetzung). Das Wissen u m Gottes sichtbare Erweise in der Geschichte verlieh ihm Glaubensgewißheit. In Lavaters Aussichten von 1768 dagegen findet sich auf der Rückseite des Titelblattes 2 Kor 4,18 auf griechisch abgedruckt: „Wir schauen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare." Dieser Vers spiegelt deudich Lavaters stete Sehnsucht nach Transzendenzerfahrungen wider.

II. Die Zeit der besonderen Wundersicht

Lavaters

(1169-1115)

Die Diskrepanz, die zwischen diesen beiden Wahlsprüchen liegt, verstärkte sich, als Lavaters Drang nach übersinnlichen Erlebnissen so weit ging, die neutestamentlichen außerordentlichen Geistesgaben wie das Wundertun und die Totenauferweckungen für allgemein zu halten, d. h. sie als „allen Christen aller Zeiten und Orten" verheißen anzusehen. 14 Diese Meinung, die er im Sommer 1769 in einem Traktat vertrat und die mit vielfältigen Kontakten zu medialen Personen einherging, ja, die sogar in der Uberzeugung gipfelte, er werde seinen gerade verstorbenen geliebten Freund Felix Heß wieder zum Leben erwecken, stieß bei J.J. H e ß wie bei vielen anderen auf erbitterte Ablehnung. 15 Breitinger versuchte in der Asketischen Gesellschaft, der sich Lavater aufgrund seiner fanatischen Wundersucht mehr und mehr entfremdete 16 , die Frage der „perpetuitas miraculorum in ecclesia" im Rahmen einer eigenen Vortragsreihe zu klären. Heß hielt dabei zwei wichtige Referate, in denen er zwischen W u n dergaben im engeren Sinn und im weiteren Sinn unterschied. Wunder im engeren Sinn wie Heilungen und Totenauferweckungen seien auf die Zeit des Neuen Testaments beschränkt. 17 Wunder im weiteren Sinne, zu denen er — recht aufklärerisch — „Erhebungen des Gemüths", „Rührungen des Gewissens", „Beleuchtungen des Verstandes und Beßerungen des Herzens" zählte18, konnten und sollten natürlich zu allen Zeiten und bei allen Christen geschehen. Z u den „Beleuchtungen des Verstandes" rechnete Heß besonders die Einsicht in den ganzen Inhalt der göttlichen Offenbarung. Sie war ihm nun ein trösdicher und wunderbarer Ersatz für das Ausbleiben der Wundergaben im engeren Sinne.19 Je stärker sich Lavater in der Wundersucht verstieg, um so mehr konzentrierte sich Heß auf diese Alternative. Für Heß schwand das Interesse am einzelnen, isolierten Wunder. Das eigentliche Wunder war für ihn der Ursache-Folge-Zusammenhang innerhalb der Heiligen Schrift, in dem die Wunder neben den anderen Begebenheiten und Lehren ihren Platz hatten. Dieses, das eigentliche Wunder, konnte für jeden aufmerksamen Bibelleser aktuell werden und seine den Glauben belebenden Kräfte verbreiten. 20 Heß wurde nicht müde, mit dieser Sichtweise Lavater zu dämpfen und ihn für seine Alternative zu gewinnen. Als Anfang 1775 in Berlin/Leipzig ein bissiges anonymes Sendschreiben gegen Lavater und seinen Enthusiasmus er283

schien, war es neben J.L. Passavant vor allem Heß, der sich in einer vierunddreißigseitigen Verteidigungsschrift hinter ihn stellte.21 Darin kritisierte Heß in einem ruhig-sachlichen Ton das feige und unlautere Vorgehen des Anonymus — es war Steinbrücheis Lieblingsschüler Johann Jakob Hottinger - und warb um Verständnis für Lavaters Grundanliegen in der Wunderfrage, die Heß ja auch angesichts von Mk 16,17 £ nicht leichtfertig vom Tisch wischen konnte.22 Er bot jedoch Lavater auf diesem Wege noch einmal seine Lösung des Problems an: W ü r d e er seinen „Blick aufs Ganze des ächten historischen Schriftsystems" richten, so würde er „weniger Gefahr laufen, gewisse Verheißungen zu eingeschränkt, oder auch zu allgemein zu nehmen". 23 Gegenüber den Zürcher Kritikern versuchte Heß, Lavater jedoch auch ins rechte Licht zu rücken, indem er seine Verdienste abgesehen von seinem „Wunderkram" hervorstrich. 24

III. Die Zeit der Beschäftigung Lavaters mit dem

Magnetismus

(1785/86) Lavater ging auf die Ratschläge von Heß nicht ein. Sie mußten ihn bei seinem Naturell unbefriedigt lassen. Zehn Jahre nach dem Sendschreiben-Streit vertiefte sich Lavater in die Geheimnisse des animalischen Magnetismus. Er versuchte, diesen nicht nur als hypnotische Heilmethode anzuwenden, sondern auch die Wundererzählungen der Bibel damit zu erklären. Jesus wurde zum Magnetiseur.25 Nach seiner Reise nach Genf, Bern und Lausanne, wo er die magnetischen Praktiken studierte und sich hypnotisieren ließ, wollte Lavater u.a. auch H e ß von dieser Erklärungsmöglichkeit der neutestamentlichen Wunder überzeugen. Damit provozierte Lavater jedoch den heftigsten Zorn seines Freundes, der die Freundschaft auf die allergrößte Probe stellte: „Lieber Mann, D u siehst die Gefahr nicht, wie nah und groß sie ist — sonst würdest D u dich itzt lieber in die Schriften als in die geheimen Gegenden der Natur- und Geister Welt vertiefen, wo es schlüpfrig ist zu wandeln und w o uns irgend ein vielversprechender Theosoph leicht vom simplen Geschichts-Glauben ab — aber nicht so leicht wieder zu demselben zurücke führt." 26 Die Gefahr, die Heß hier zu erkennen glaubte, war neben der Gefahr, die er in der aufkommenden mythischen Interpretation der Bibel und der historischen Kritik erkannte, der Grund für seinen Rückzug auf seinen einmal gewonnenen offenbarungstheologischen Standpunkt, durch den er sich mehr und mehr wieder der orthodoxen Inspirationslehre annäherte. Der Streit legte sich im Laufe des Jahres 1786.27 Als Lavater im Dezember 1786 zum Pfarrer an St. Peter gewählt wurde, freute sich Heß aufrichtig, daß damit der Verbleib Lavaters in Zürich gesichert war. In seinem Glückwunschschreiben schrieb er ihm versöhnlich: „Mein Lieber, Du bist zwar in der Aus284

dehnung stark; doch konzentriere dich mehr für die Hauptsache. [... ] Die zu zerstreuten Kräfte laß sich wieder auf Einen Brennpunkt sammeln!"28 Mit diesem Brennpunkt meinte Heß nichts anderes als seinen ausschließlich offenbarungstheologischen Standpunkt. Dieser Standpunkt war für ihn eine erhabene Position, dort, „wo die Geschichte stille steht".29 Er verlieh Heß gegenüber Lavater eine beachtliche Kontinuität und einen Gleichmut, besonders in den aufziehenden politischen Wirren der Revolutionsjahre und der Helvetik, denen Lavater schließlich zum Opfer fiel. In dieser Zeit sollte nicht nur der unterschiedliche Charakter der beiden, sondern auch ihre unterschiedliche Sicht vom Reiche Gottes Bedeutung erlangen.30 Gegenüber der schwankenden Haltung Lavaters zur Französischen Revolution und zur Helvetik31 zeichnete Heß von Anfing an die Revolutionsereignisse von seinem erhöhten Standpunkt aus in den Gesamtplan vom Reiche Gottes ein.32 Während Lavater erst vor der Feier der Eidesleistung auf die Helvetische Republik im August 1798 dieselbe, „wenngleich widerstrebend, als Gottes unerforschlichen Willen akzeptierte]" 33 , hat Heß bei aller Wachheit gegenüber den politischen Umwälzungen schon im Frühjahr 1798, als es zum Umsturz kam, das „Beruhigende der Lehre von der Unveränderlichkeit der Regierung Gottes" bei allen Veränderungen menschlicher Verfassungen und Regierungsarten hervorgehoben. 34 Die Lehre von dem Reiche Gottes, wie sie Heß in der Bibel nachgewiesen hatte, war ihm jetzt das beste Hilfsmittel im „Nebel so vieler unbegründeten Furchten und Hoffnungen, so vieler täuschender Erwartungen". 35 Der Wechsel der menschlichen Regierungsformen gehöre mit zu Gottes dynamischer Geschichte, wie er an Dan 5, der BelsazarErzählung, verdeutlichte. 36 Somit plädierte Heß als Antistes nicht dafür, mit Gewalt die alten, von Despotismus ja nicht freien Verhältnisse wiederherzustellen und damit erneut Zwietracht zu stiften. Vielmehr ermunterte er die Christen des Kantons, den er als „eine der kleinsten [... ] Provinz[en] in Gottes unermeßlichem Königreich" 37 bezeichnete, mit Optimismus in die Zukunft zu blicken. Sofern die Träger der Staatserneuerung in den Bahnen der Moralität wandelten und den der Kirche zukommenden Platz akzeptierten, sei die Helvetische Republik zu begrüßen. 38 Heß wurde somit bei aller Kritik an moralischen Ausschreitungen einzelner Politiker zu keiner Zeit gefahrlich für die neue Regierung als ganze. Für diese gab es somit auch keinen hinreichenden Grund, ihn — wie Lavater — durch eine Deportation seiner Zürcher Einflußsphäre zu entziehen. 39 Er erwies sich aufgrund seines Charakters und seiner Theologie für Kirche und Staat in dieser schwierigen Lage als diplomatischer Antistes.40 Lavater als Antistes hätte nicht die Ruhe besessen, die Kirche so sicher und geschickt durch diese Wirren hindurchzuführen. Dies wußte auch Lavater selbst, denn er urteilte im Jahr 1799: „Der Antistes benimmt sich wirklich trefflich und ist vielleicht in Helvetien der einzige, der mehr als jeder andere an seinem Platze ist."41 Erst nach dem Tode Lavaters, als die Helvetische Republik im Jahr 1802 nach vier Staatsstreichen und durch einen beginnenden Bürgerkrieg ihrem 285

Zerfall entgegenzugehen schien, entfernte sich Heß mehr und mehr davon, mithilfe seiner Reich-Gottes-Theologie staatstragend und -erhaltend zu wirken. Jetzt endlich wandte er sich der Apokalypse des Johannes zu und erkannte in den rasanten Entwicklungen die Vorboten des endzeidichen Gerichtes. A n ders als Lavater hatte H e ß zuvor die Apokalypse nahezu völlig aus seiner G e schichtskonzeption ausgeblendet. N u n erlangte sie mit ihrer Staatskritik und ihren großen Hoffnungen auch für ihn an Bedeutung. H e ß führte damit das Werk Lavaters bezüglich der eschatologischen Orientierung 4 2 fort und suchte Anschluß an den Patriarchen der Erweckung, J. H. Jung-Stilling, der in seiner Siegsgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnüzigen [...] Erklärung der Offenbarung Johannis (1799) eine zeitgeschichtliche Deutung der Offenbarung vorgelegt hatte. 43 Darüber hinaus korrespondierte H e ß zwischen 1808 und 1811 mit der frommen Gräfin Wilhelmine von Oeynhausen über die O f f e n barung des Johannes. Die Briefe wurden posthum 1843 in Kommentarform von einem ungenannten Freund herausgegeben, nachdem sie in Abschriften in erweckten Kreisen in Deutschland und der Schweiz kursiert hatten. H e ß war in seinen zeitgeschichtlichen Deutungen und Erwartungen zwar wesentlich zurückhaltender als Lavater und Jung-Stilling. Dennoch zeigt die Tatsache der eschatologischen Orientierung überhaupt, daß er mehr und mehr dem Anliegen der erweckten Kreise näherrückte. Dies bestätigt sich auch durch seinen Anschluß an die Herrnhuter Predigerkonferenz im Jahr 1809/10 44 und seine Kontakte zur Basler Christentumsgesellschaft. Z u beiden Gemeinschaften war Lavaters Verhältnis aufgrund seiner extremen und die „Stillen im Lande" oft erschreckenden Positionen sehr ambivalent, wie Horst Weigelt gezeigt hat. 45 H e ß initiierte aufgrund seiner guten Beziehungen nach Basel, vornehmlich zu K. F.A. Steinkopf, 1812 die Gründung der Zürcher Bibelgesellschaft; er wurde ihr erster Präsident. Z u d e m öffnete er sich dem Missionswesen, wie es in der Basler Mission seit 1816 Gestalt gewann. Auf der ersten Generalversammlung der Zürcher Bibelgesellschaft im November 1819 regte der greise Antistes die Einrichtung von kirchlichen Abendversammlungen an, bei denen man die Berichte über den Fortgang in Bibelverbreitung und Mission besprechen sollte. Hier sollte über die Grenzen der eigenen Kirchlichkeit hinweggeschaut und an Gottes weltweitem Wirken zur Verwirklichung des Reiches Gottes teilgenommen werden. 46 Dahinter trat - wie allgemein nach 1815 die R e d e von der Endzeit aufgrund der politischen Ereignisse zurück. Im Basler Missionsseminar selbst wurde die Heß'sche Biblische Geschichte47 unter der Anleitung von C. G. Blumhardt eine beliebte Lektüre, durch die die Missionsschüler ihren Platz im Entwicklungsgang des Reiches Gottes finden konnten. 4 8 Man kann J. J. H e ß somit zurecht mit Heinrich Hermelink 4 9 nach dem Tode Lavaters als einen der Führer der Erweckung in der Schweiz ansehen, neben Georg Geßner, dem Schwiegersohn Lavaters und Nachfolger von H e ß im Antistesamt. H e ß hat jedoch, anders als es wohl bei Lavater der Fall gewesen

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wäre, dazu beigetragen, daß die Erweckung in Zürich in nüchternen und in kirchlichen Bahnen geblieben ist.50

Anmerkungen 1

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Paul Diethelm Heß, „ Antistes Dr. Joh. Jacob H e ß und Pfarrer Joh. Caspar Lavater in ihren gegenseitigen Beziehungen", in: Zürcher Taschenbuch, N F 18 (1895), 84. Dieser Aufsatz des UrgroßnefFen von J.J. H e ß ist bisher die einzige Veröffentlichung zum Thema. Horst Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 10 f. H e ß konnte Lavater nur noch wehmütig eine „ O d e an meinen reisenden Freund Herrn L***" hinterherschicken, die in den Freymiitigen Nachrichten [...] abgedruckt wurde (20.Jg., XXVI. Stück, 29.6.1763, 204f.). P . D . Heß, Heß und Lavater (s. Anm. 1), 92f.; vgl. auch ders., Art. „ H e ß , J o h a n n Jakob", in: Real-Encyklopädie fiir protestantische Theologie und Kirche (zitiert: RE), hier VII ( 3 1899), 793-801. Vgl. Georg R u d o l f Zimmermann, Die Zürcher Kirche von der Reformation bis zum dritten Reformationsjubiläum (1519-1819) nach der Reihenfolge der Zürcherischen Antistes geschildert, Zürich 1878, 358 f. Georg Geßner, Lavater und Heß. Zeugen von dem Leben und der HerrlichkeitJesu des Sohnes Gottes. Gedichtet am 2.Januar 1821, als der zwanzigsten Todesfeyer des Erstem, und beym Beginnen des achtzigsten Lebensjahres des Letztem. Eine Beylage zum 7. Stück des , Sonntagblatts vom Verfasser desselben', Basel 1823. Gegenüber der dreibändigen Lavater-Biographie Geßners (Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung von seinem Tochtermann, Winterthur 1802/03) sind seine Blicke auf das Leben und Wesen des verewigten Johann Jakob Heß, Antistes der Kirche Zürich. Von seinem Amts-Nachfolger (Zürich 1829) nur ein schmaler, jedoch bisher kaum übertroffener Beitrag zur Biographie von Heß. Z u erwähnen ist hier nur noch Heinrich Escher, Joh. Jak. Hess. Doktor der Theologie und Antistes der Zürcherischen Kirche. Skizze seines Lebens und seiner Ansichten, Zürich 1837. Die vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes angefertigte Dissertation über H e ß (s. Anm. 50) enthält neben der Werkanalyse zwei biographische Kapitel (Kap. 2 und 8). So in einem Nachbericht von H e ß in seiner LebensgeschichteJesu, Zürich 7 1794, Bd. II, 614. Vgl. zu Lavaters Messiaden (1780 und 1783-1786) Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 86f. Das Lindauer Journal trug den Namen Vollständige und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unserer Zeit nebst andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen, Lindau und Chur; die anonyme Rezension findet sich im 19. Stück (1769), 191-209. [Johann Caspar Lavater], Aussichten in die Ewigkeit [...], Bd. I, Zürich 1768, 11. In der zweiten Auflage Frankfurt 1773 verzichtete Lavater auf die Auflistung der einzelnen Namen. J.J. H e ß , Von dem Reiche Gottes II, Zürich 1774, 423. Vgl. zu Lavaters „theologische[r] Umorientierung" vor allem Weigelt (s. Anm. 2), 14-19 und zum Vergleich derselben mit der Neuorientierung von H e ß Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert III, Tübingen 1925, 318-320.

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So Heß in seinem über seine „Wende" berichtenden Brief an den Diakon Heinrich Waser in Winterthur vom 20.1.1769. Der Brief findet sich wie die gesamte Privatkorrespondenz - häufig mit einer autographen Kopie des abgesandten Briefes - in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich (ZBZ), und zwar im Familienarchiv (FA) Hess 1741, 181 c, Nr.3a, S.6. Brief von Lavater an Heß vom 21.2.1769 (FA Hess 1741, 181c, Nr. 14); vgl. auch P. D. Heß, Heß und Lavater (s. Anm. 1), 95f. Das Urteil von Wernle, Protestantismus III (s. Anm. 10), 319, Heß sei ein ,,gelehrte[r] Bibelforscher" Lavater jedoch ein „leidenschaftlich frommefr] Bibeldilettant", erscheint bei den wahren Tendenzen, die es anzeigt, doch etwas überspitzt formuliert. Z. B. Lavater an Heß vom 25.2.1769 (FA Hess 1741, 181 c, Nr. 16, S. 1-7) und Lavater, Aussichten II, Vorrede xxiv-cx. [Lavater], Drey Fragen von den Gaben des heiligen Geistes. Allen Freunden der Wahrheit zur unpartheyisch-exegetischen Untersuchung vorgelegt. Im September 1769 (Selbstverlag), 2. Frage, 2v. Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 16; P. D. Heß, Heß und Lavater (s. Anm. 1), 97 f. Nach dem Verzeichniß der Gesetze und Schriften der Ascetischen Gesellschaft (Zürich 1782) hielt Lavater um 1770 keine Vorträge mehr vor der Gesellschaft. Siehe auch Martin Hürlimann, Die Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung des zürcherischen Protestantismus im 18.Jahrhundert, Leipzig 1924, 129. ZBZ, Ascetische Gesellschaft, Archiv A, Theke lila., VI. Aufgabe, 2.8. Ebd. 3 f. Ebd., IX. Aufgabe, 8. Vgl. Wernle, Protestantismus III (s. Anm. 10), 325 f. J. J. Heß, Gedanken über das Sendschreiben eines Zürcherischen Geistlichen, Zürich 1775. Z u m gesamten Sendschreiben-Streit vgl. ausfuhrlich Hürlimann (s. Anm. 16), 183-205. Heß, Gedanken (s. Anm. 21), 21. Ebd. 23. Ebd. 29.31. So im handschriftlichen Aufsatz Lavaters mit dem Titel „Magnetismus und Christenthum", vorhanden in FA Hess 1741, 181m, Nr.8a, S.7 (21. These). Vgl. P. D. Heß, Heß und Lavater (s. Anm. 1), 119 und Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 41 f. Heß an Lavater vom 2.1.1786 (Kopie in FA Hess 1741, 181 1, Nr. 161, S.23). Heß äußerte Lavater gegenüber am 10.1.1786 (1811, Nr. 9) einen noch größeren Ärger, weil ihm die entscheidende Schrift Lavaters über „Magnetismus und Christenthum", die dieser schon am 17.12.1785 verfaßt hatte, erst am 4.1.1786 zugegangen war. Er fühlte sich dadurch von Lavater an der Nase herumgeführt. Vgl. Geßner, Lavater II (s. Anm.5), 402.409f.; P.D. Heß, Heß und Lavater (s. Anm. 1), 123. Daß Heß Lavater im Jahr 1785 tatsächlich alle Privatfreundschaft kündigte, wie Alexander Vömel,Joh. Caspar Lavater. 1741/1801. Ein Lebensbild, Neukirchen 2 1927, 139 behauptet, ist nicht richtig. Nach einem 60seitigen Erläuterungsschreiben Lavaters vom 14. bzw. 17.1.1786 (FA Hess 1741, 181m, Nr. 12) und einer bedingt erfreuten Antwort von Heß vom 31.1.1786 (Kopie ebd. Nr. 24; 26 Seiten). Als autographe Kopie in FA Hess 1741, 181n, Nr. 213 (17.12.1786), 4. So Heß, Ueber die Lehren, Thaten und Schicksale unsers Herrn. Von dem Verfasser der Lebensgeschichte Jesu. Ein Anhang zu derselben, Zürich 1782, 404.

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Wernle, Protestantismus III (s. Anm. 10), 332 kontrastiert allerdings zu stark, wenn er in der Zeit dieser Wirren in Heß den „Mann", in Lavater jedoch das „Kind" entdeckt. Vgl. Klaus Martin Sauer, Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741-1801). Darstellung und Quellengrundlage, Zürich 1988, 287-290 und Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 65-67. Wernle, Protestantismus III (s. Anm. 10), 470.513. Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 67. So Heß in seiner aufschlußreichen Predigtsammlung Der Christ bey den Gefahren des Vaterlandes. Predigten zur Revolutionszeit gehalten [letzter Sonntag 1797 bis Mai 1800], 3 Bde., Winterthur 1799-1800, hier I, 115-126 (9. Predigt vom 18.3.1798 über H e b r l , 8 f . ) ; vgl. dazu auch Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus in der Zeit der Helvetik I, Zürich/Leipzig 1938, 474. Heß, Der Christ bey den Gefahren (s. Anm. 34), 116. Ebd. 118. Ebd. 45 (3.Predigt). Ebd. 125 (9.Predigt); vgl. auch seine Schrift Helvetiens neue Staatsverfassung von Seite des Einflusses der Religion und Sittlichkeit auf das Glück der Freystaaten betrachtet, Zürich 1798, 91 f. Zu Lavaters Gefangennahme und Deportation nach Basel, wo er von Mai bis August 1799 bleiben mußte, vgl. Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 69 f. und ders., Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18.Jahrhundert, Göttingen 1988, 118f. Durch die Verkündigung seiner alles umgreifenden Reich-Gottes-Theologie erhoffte er—in einer fast naiven Weise — die widerstrebenden Anliegen der Zürcher zu versöhnen und in der „helvetischen Einen und untheilbarne Republik" auch Religionseintracht herzustellen; vgl. Heß, Helvetiens neue Staatsverfassung (s. Anm. 38), 102. Zitiert nach Wernle, Helvetik I (s. Anm. 34), 468; vgl. auch schon Lavaters gedrucktes Glückwunschgedicht zur Wahl von Heß zum Antistes Ulrich und Heß (Zürich 1795), wo er ihn als den „Treuen, Weisen, Vielbegabten und Festen" (ebd. 6) pries. Vgl. Weigelt, Lavater (s. Anm. 2), 79-81. Die Korrespondenz zwischen Jung-Stilling und Heß ist nahezu vollständig vorhanden im FA Hess 1741,181 ba. Ediert wurde s i e - m i t L ü c k e n - i n den Briefe[n] Jung-Stillings an seine Freunde, hg. von Alexander Vömel, Leipzig 2 1924, 64-102. Vgl. den Brief nach Herrnhut vom 28.4.1810 (autographe Kopie in FA Hess 1741, 182, Nr. 88, S.2). Lavater hatte zwar Zinzendorf hoch geschätzt, doch schloß er einen auch nur lockeren Anschluß an die Brüdergemeine völlig aus; vgl. Weigelt, Lavater und die Stillen (s. Anm. 39), 105. Den Baslern war Lavater in vielem nicht nur theologisch, sondern auch politisch zu extrem; vgl. ebd. 114-117.125 f. Dagegen hätten sie schon 1780 den soliden Bibelforscher Heß zu ihren Mitgliedern gezählt: ebd. 112. [Heß], Nachricht von der ersten General-Versammlung der Zürcher Bibel-Gesellschaß den 25. November 1819. Gedruckt zum Besten der Anstalt, o. O. [Zürich], o.J. [1819], Vorrede, 5. J.J. Heß, Biblische Geschichte, A. und NTs, 23 Bde., Zürich. Zitiert nach RE 1 (31899), 800.

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Vgl. Gustav Adolf Benrath, „Die Basler Christentumsgesellschaft in ihrem Gegensatz gegen Aufklärung und Neologie", in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 7, Göttingen 1981, 111. Heinrich Hermelink, Das Christentum in der Menschheitsgeschichte. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart I: Revolution und Restauration 1789-1835, Tübingen/Stuttgart 1951, 238. Vgl. Rudolf Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz III: Von 1720-1950, Zürich 1984,181. - Zu Heß vgl. meine 1991 an der Universität Mainz vorgelegte theologische Dissertation mit dem Titel Johann Jakob Heß (1741—1828) und seine Biblische Geschichte: Leben, Werk und Wirkung des Zürcher Antistes, Bern/Frankf u r t / N e w York/Paris/Wien 1992 (Basier und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 63).

PETER STADLER

Lavater und Pestalozzi Zunächst eine Vorbemerkung: Das Thema Lavater und Pestalozzi erscheint von der Quellenlage her disparitätisch. Von Pestalozzi gibt es eine umfassende, praktisch abgeschlossene, kritische Gesamtausgabe der Werke. Das ist nur die letzte von etlichen Ausgaben, deren erste Pestalozzi im Alter selbst noch und sehr zielbewußt inauguriert hatte. Dazu kommt eine entsprechende Edition der Briefe und erst noch — von dem Pestalozziforscher Dr. E. Dejung gesammelt, aber noch nicht veröffentlicht - eine Sammlung von Briefen an Pestalozzi, die in den nächsten Jahren herauskommen soll. Von dem vorzeitig verstorbenen Lavater hingegen nichts dergleichen; da muß man teils auf Auswahlen, teils sogar auf alte Ausgaben oder selbst auf die Handschriften zurückgreifen. Hier editorische Nachholarbeit zu leisten, wäre ein dringendes Bedürfiiis, wobei dies — angesichts der weiten Verzweigung des Nachlasses — eine Aufgabe von Jahrzehnten sein dürfte. Eine Gesamtausgabe der Werke Lavaters ist jedenfalls ein Forschungsdesiderat — wenn nicht für dieses, so doch fur das nächste Jahrhundert. Ideal wäre es, wenn sie zum 300. Geburtstag (also im Jahre 2041) vorläge, zumindest teilweise und abgeschlossen wenigstens in der Planung. Überblickt man die stattliche Reihe von Werkeditionen bedeutender und minder bedeutender Schweizer (sie erstreckt sich von Geistesgrößen bis hinunter zu Figuren wie Arnold Ott), so erscheint dieser Wunsch gewiß als angemessen.1 Damit aber zum engeren Thema selbst. Lavater und Pestalozzi waren Zeitgenossen, getrennt durch einen Altersunterschied von gut vier Jahren, die Lavater dem künftigen Pädagogen voraushatte; sie wurden Zeitzeugen des Ancien régime bis zu dessen Untergang. Zusammen mit dem Maler Johann Heinrich Füßli bildeten sie die berühmteste Dreiheit, welche das Zürich jener Generation hervorbrachte — im Zeichen und unter der Einwirkung des alten Bodmer. Damit ist wohl der stärkste Impuls genannt: jener Lehrer der Schweizergeschichte, der sich indirekt in dem großartigen Schwurgemälde Füßlis, in Lavaters Schweizerliedern und in Pestalozzis vaterländischen Mahnappellen verewigte, über sein eigenes Leben und seine Zeit hinaus. Lavater und Pestalozzi haben sich von Zeit zu Zeit Briefe geschrieben, ohne daß man — selbst wenn etliches verlorenging — von einem kontinuierlichen Briefwechsel sprechen könnte. Vielmehr bedurfte es, wie im Alltag häufig, bestimmter Anlässe. Für Pestalozzi trat Lavater wohl erstmals ins Bewußtsein, als dieser zusammen mit Füßli den sogenannten Grebelhandel entfachte — jene Protestaktion 291

zorniger junger Männer gegen einen korrupten Landvogt, dessen Machtmißbrauch sie anprangerten und damit - freilich unter Überwindung einer höchst gefahrlichen Risikozone — auch durchdrangen. Der Tyrann wurde gestürzt, sie kamen mit einem landesväterlich milden Verweis davon und erstiegen zugleich die erste Stufe einer Berühmtheit, die noch in Goethes Dichtung und Wahrheit nachhallt. Der Nachahmungseffekt dieser jugendlichen Tat zeigte sich augenblicklich, auch im Leben Pestalozzis. Nachdem er, sehr im Unterschied zu dem geordneten und auf disziplinierten Lebensgang ausgerichteten Lavater, das Collegium Carolinum brüsk verlassen und damit seine Chance auf ein Pfarramt verspielt hatte — das einzige Amt, das einem mittellosen Halbwaisen und Stadtbürger von höherer Bildung in Aussicht stand - tat er, bürgerlich gesprochen, nichts, und gehörte wie Lavater stattdessen zum Kreis der Patrioten, jener von Bodmer gestützten vaterländischen Gesellschaft auf dem Bach (also am heutigen Neumarkt, w o damals ein Bach durchging), die sich u m Grundfragen der Politik und Geschichte bemühte. Aus diesem Kreis entbrannte der sogenannte „Müllerhandel", ein Konflikt u m eine anonyme Flugschrift, in welcher Zürichs militärisches Engagement zum Schutz der Genfer Oligarchie gegen die dortige Opposition angeprangert wurde. Mit R e c h t sah der Verfasser darin eine Art von innerem Stellvertreterkrieg, d. h. in Genf sollte das abgewehrt werden, was auch Zürich (und jeder Stadt des Ancien régime) drohte: eine Infragestellung der Privilegienwirtschaft. Diesmal griff die O b rigkeit schärfer durch als zuvor. D e n n der Autor der Flugschrift, Christian Müller, gehörte nicht einer führenden Familie an, sondern war der Sohn des Stadttrompeters und als solcher ohne höheren Schutz; so ergriff er die Flucht, vermutlich zu seinem Heil. Pestalozzi setzte sich, im Unterschied zum diesmal zurückhaltenden Lavater, direkt ein - als Kontaktperson des Schuldigen wurde er in die Untersuchung einbezogen, aber weiter nicht behelligt. Doch hatte eben damals die erste Phase einer Zusammenarbeit der beiden jungen Männer begonnen. Sie stand im Zeichen einer gemeinsam redigierten Zeitschrift, die den Titel Der Erinnerer führte. Zuvor schon hatte Pestalozzi mit der kleinen Schrift Agis, die von einem späten Spartanerkönig und dessen tragischem Schicksal handelt, einen ersten Einstieg in die Publizistik gewagt: es geht darin u m die Niedergangsthematik in antiker Verhüllung. Zürich leidet unter der Herrschaft der Reichen u n d Mächtigen, welche die staatlichen Amter m o nopolisieren. Das ist ein Leitmotiv im Schrifttum des jungen und dann auch nicht mehr ganz jungen Pestalozzi. Das war auch, obgleich in moderierten Formen, eines der T h e m e n des Erinnerers. An sich war die Kreation einer neuen Zeitschrift zwar ein gewagtes, aber nicht ein sonderlich originelles Unterfangen. Gesamteuropäisch nahm gerade diese Form der Wissens- und Meinungsvermittlung in jenem Jahrzehnt eines .Strukturwandels der Öffentlichkeit' (um die Formel von Jürgen Habermas aufzugreifen) fast lawinenartig zu. Die Lavater-Pestalozzische Koproduktion von 1765/66 ist also nur das Fünklein eines prasselnden Feuers, inhaltlich zwischen Mahnung, Belehrung und Klatsch schwankend. Pestalozzi wettert 292

etwa gegen die anakreontischen Lieder der Gleim, Lessing und Uz, die er am liebsten verboten sähe, er ärgert sich über etwas laszive französische Kupferstiche und lehnt sogar Salomon Geßners Landschaftsbilder ab. Aber er sieht auch Positives: Dr. Hirzeis Schrift über den philosophischen Bauern und die des Arztes Dr. Tissot Avis au peuple sur la santé, was ihn zum Ausruf verleitet: „Daß doch jemand einige Bogen voll einfältiger, guter Grundsätze der Erziehung, die auch für den gemeinsten Bürger oder Bauer verständlich und brauchbar wären, drucken ließ, und daß dann einige großmüthige Personen [... ] verschafften, daß diese sehr wenige Bogen umsonst oder nur etwa für einen einzigen Schilling an das Publikum überlassen würden." 2 Hier erklingt erstmals das Stichwort der Erziehung und zwar eindeutig in volkspädagogischem Kontext, Jahrzehnte bevor Pestalozzi zum Erzieher wurde: diesen W e g fand er bekanntlich auf dem U m w e g über Landwirtschaft und Schriftstellerei. Das kurze Intermezzo des Erinnerers fand ein brüskes Ende, als die Zensur zufolge des Müllerhandels durchgriff und das Organ verbot - ob es sonst noch lange bestanden hätte, mag offenbleiben. Von nun an gingen die beiden H e r ausgeber ihre getrennten Lebenswege: Lavater schlug die geistliche Laufbahn ein, die angesichts der Überfullung dieses Berufs mit Stellenanwärtern eigentlich mehr eine Stehbahn war. Während langer Jahre amtete er als Diakon, selbst als er schon ein berühmter Mann geworden war und die Physiognomik ihre europaweiten Kreise zog. Gewiß blieben die beiden Männer auch weiterhin gut bekannt in dem kleinen Zürich von damals, das in einer halben Stunde bequem zu durchmessen war. Doch entzog sich Pestalozzi schon früh der Vaterstadt, die er nur noch sporadisch wiederbetreten sollte. Seine Beziehung zur Landschaft war viel lebendiger als die des Stadtmenschen Lavater; seine Mutter entstammte dem Lande, und das gab ihm einen gewissen Sinn für die Untertanen und Unterprivilegierten mit. Mit dreiundzwanzig Jahren etablierte er sich auf dem Neuhof — unweit von Brugg - als Landwirt zunächst, dann mit mehr Erfolg als Schriftsteller. Indessen ginge man fehl in der A n nahme, Pestalozzi wäre nun zum Leser der Werke seines aufsteigenden Generationsgenossen geworden; dafür gibt es keine Zeugnisse. Pestalozzi war ohnehin kein Bücherleser und wurde es nie; am meisten interessierten ihn seine eigenen Schriften. Anders Lavater. Als Lienhard und Gertrud erschien, entstammt wohl eine der gehaltvollsten Besprechungen seiner Feder — j e d e n falls halte ich ohne Beweis des Gegenteils dafür, daß die sorgfältige und eindringende, mit L. gezeichnete Rezension im l . B a n d der in Zürich erschienenen Bibliothek der neuesten theologischen, philosophischen und schönen Literatur von ihm stammt. Sie ist eine der wenigen Besprechungen, die sich auch mit dem weniger beachteten zweiten Teil des Romans befaßt und enthält neben grundsätzlichem Lob doch auch Einschränkungen: es sei kein Buch fur, sondern eines über das Volk, zur Belehrung der Pfarrer und Beamten, überhaupt der Aufseher des Volkes. D e m Ganzen gehe doch etwas die kompositorische Einheit ab: „Ein R o m a n , der sich keinen Hauptzweck vorsetzt, in welchem nicht jede Szene zu diesem Hauptzwecke mitwirkt, gleicht einem Guckkasten.

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Die abwechselnden Bilder können belustigen, rühren, allein aus gemeinschaftlicher Verbindung bleiben sie am Ende ohne Totaleindruck." 3 Das trifft sicher nicht ganz daneben und dürfte den Gutsherrn auf dem Neuhof, der auf Kritik eher empfindlich reagierte, kaum nur erfreut haben. Daß eine gewisse Distanz bestehen blieb, zeigt der Anflug von Schadenfreude, mit dem Pestalozzi nur zwei Jahre später die innerzürcherischen Meinungsverschiedenheiten u m den Physiognomiker und Pfarrer am St. Peter registrierte. „Lavater magnetisirt und sinkt", schrieb er seinem Illuminatenfreund Mieg; „ H e ß " — also der Antistes der Zürcher Kirchen - „hat öffentlich gegen ihn geprediget über den Text: ,Und es waren herumlauffende Juden, die machten Kranke gesund' etc. Die Predigt hat äußerste Sensation eregt und würklich die Party, die bis jez die Lavatersche hieß, in zwey Theil getheilt [.. .]." 4 N u n drohte Lavater damals mit seinem modischen Magnetismus etwas ins Abseits zu geraten; auffallend nur, wie prompt Pestalozzi das weiterleitet; offensichtlich spielt hier — wie auch aus späteren Äußerungen hervorgeht - ein gewisser Gegensatz des Physiognomen z u m Illuminatenorden mit. Im übrigen bleibt das Verhältnis Lavaters zu Pestalozzi relativ unkompliziert, man möchte sagen: sachbezogen. Ein Ringen u m den künftigen Erzieher — wie man es von der späteren Bedeutung Pestalozzis her vermuten könnte — fand nicht statt, wenigstens lassen die vorhandenen Quellenaussagen keinen derartigen Schluß zu. Ein früher Porträtumriß Pestalozzis scheint zwar fiir Lavaters Physiognomik angefertigt worden zu sein, aber wir wissen nichts Näheres über die Entstehungsumstände. Soviel zu den früheren Jahren. Allerdings m u ß man hier einschränkend bemerken, daß die lückenhafte Überlieferung manches offen läßt. Wahrscheinlich hat es doch mehr Beziehungsfaden gegeben, als die paar damaligen Hinweise vermuten lassen. W i r wissen von einer pietistischen Phase in Pestalozzis Leben, die ihn mit Lavater in engeren Gedankenaustausch gebracht haben mag. Ganz am Ende seines Lebens und wenige Wochen vor seinem Tod, als Pestalozzi, aufgewühlt durch das Pamphlet Eduard Bibers, das ihn auch persönlich heruntermachte, u m eine Replik rang, die nicht mehr fertig wurde, notierte er Reflexionen und R ü c k blicke. Da gibt es für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Neuhofprojekts, da er - seinen eigenen Worten zufolge — einer eigentlichen Geisteszerrüttung zu verfallen drohte —, Stichworte wie die folgenden: „Der Glaube an die Vorsehung, an eine höhere Leitung meines Schicksahls, dunkle Folgen des Einflusses des Christentums in meiner Jugend. Bekandtschäfft mit Lavater, Neigung zu christlicher Schwermerey" — soweit Zitat. 5 Das Wort Bekanntschaft ist wohl im Sinne einer erneuerten Bindung zu verstehen, denn gekannt haben sich die beiden Männer ja seit längerem — es gab eine kurze mystisch-pietistische Phase in Pestalozzis Leben, die ihn Lavater wieder näherbrachte, von der wir aber wenig wissen. Vor allem fehlt die Möglichkeit einer genauen chronologischen Zuordnung. Die nächste Etappe brachte die Französische R e v o lution, die zunächst von ihnen beiden — wie von so vielen Zeitgenossen — begrüßt wurde. Die Wende brachte die Hinrichtung Ludwigs XVI. mit dem

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Übergang zur Schreckensherrschaft („Terreur"). Lavater hat sich darüber dermaßen empört, daß er einer Predigt wegen sogar Schwierigkeiten mit der Zensur bekam, die keine Anstände mit dem mächtigen französischen Nachbarn wünschte. Anders Pestalozzi, der sich zwar keineswegs mit dem Jakobinertum identifizierte, aber eine Kontinuität der Unterdrückung und Nivellierung v o m Absolutismus zu den — wie er sagte — hosenlosen Egaliseurs wahrnahm; diese hätten eben von j e n e n gelernt. So erklärte er sich b e w u ß t .parteiisch fur das Volk' in einer Schrift, deren Dialektik schon aus dem Titel Ja oder Nein hervorgeht. Lavater gehörte zu denen, die das noch unveröffentlichte Manuskript lesen durften. U n d da hat er Pestalozzi — ohne dessen Freund zu sein — doch einen wirklichen Freundesdienst geleistet, indem er ihn von der Publikation abhielt. Zwar ist Pestalozzi dadurch dem R u h m entgangen, mit einer brillanten Flugschrift in die meinungspolitische Auseinandersetzung jener Zeit eingegriffen zu haben, aber wahrscheinlich auch der Gefahr, dadurch zum Mittelpunkt einer Polemik zu werden, die wohl seine ganze Z u kunft — auch die als Erzieher — gefährdet hätte. Offenbar sind sich die beiden Zürcher über dieser Kontroverse wieder nähergekommen. Das zeigt die Episode des Stäfner Handels, als möglicherweise die Predigten Lavaters die städtische Obrigkeit von der Torheit eines Todesurteils gegen die dörflichen Aufrührer — die in Wirklichkeit gar keine waren, sondern sich einfach auf die alten Freiheiten besannen - abhielten. Pestalozzis „Fürsprache für die O p f e r " wies in die nämliche Richtung, allerdings mit einer bezeichnenden und einschränkenden Warnung: die Landleute sollten es nicht einfach ihrerseits der Stadt im Reichtumsstreben gleichtun wollen — ein berechtigter und sorgenvoller Blick auf den liberalen Kapitalismus nach einer politischen Wende. A b schaffung der Privilegien ja, aber nicht zugunsten eines frei expandierenden ländlichen Unternehmertums. 6 Seine Kritik - das geht aus einem Brief an Lavater hervor - war immer auch Kritik an den wirtschaftlich Übermächtigen; das Armutsproblem spielt bei ihm überhaupt zeidebens eine größere Rolle als bei Lavater. Es kam der Untergang der alten Eidgenossenschaft. In den Wochen unmittelbar vor der Katastrophe erwuchs nun die Bekanntschaft Lavaters und P e stalozzis zur vielleicht engsten Zusammenarbeit seit der nun mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Zeit des Erinnerers. Pestalozzi hatte enge Kontakte zu den Seedörfern; Lavater wußte das und versuchte, ihn als informellen Vertrauensmann und Meinungserkunder einzusetzen und seine Informationen dem wankenden Ancien régime zuzuhalten. Allein die Konzessionsbereitschaft der Regierenden war bruchstückhaft und kam zu spät. Der Vertrauensrest der Untertanen war verspielt. „Umsonst sind jez alle unbestimten Klagen", schrieb Pestalozzi u m den 26. Januar 1798 an Lavater. „So hat das Schiksahl Schlag auf Schlag noch nie gewürkt, wie es sint acht Tagen auf den Geist und auf das Herz des Volks würkt." Es heißt dann noch: „Man glaubt keinem Wort mehr, man will für alles Bewies." 7 Wenige Wochen später war der Z u sammenbruch vollendete Tatsache, die neue Einheitsrepublik der Helvetik trat

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ins Leben. Ihr hat sich Pestalozzi vorbehaltlos zur Verfügung gestellt, im U n terschied (aber nicht eigentlich im Gegensatz) zu Lavater. Der fuhr mit seinen Predigten am St. Peter fort, während Pestalozzi erstmals in die Lage kam, Ämter zu übernehmen: Mitarbeit am Helvetischen Volksblatt, das zu einer Art Einpeitschungsorgan des neuen Regimes werden sollte (dies aber nicht schaffte), vor allem aber als Waisenhausvorsteher in Stans und Vertrauensmann der Regierung - der schwierigsten und populärsten Phase seines Wirkens. Es war übrigens auch Lavater gewesen, der ihn an diesen Posten empfahl. „Pestaluzz von N e u h o f hat meines Bedenkens treffliche Ideen für Erziehung, die man benützen sollte", hatte er bereits am 9. Mai 1798 an den helvetischen Unterrichtsminister Stapfer geschrieben. 8 Das Diktum zeigt, daß die Kontakte der beiden Persönlichkeiten doch enger gewesen sein müssen, als die schriftlichen Spuren dies bezeugen. Vermutlich hat es zwischen ihnen intensive Gespräche über Erziehung gegeben, von denen wir weiter nichts wissen — denn das bisherige Schrifttum Pestalozzis berührte pädagogische Probleme mehr nur am Rande. Die Bewährung in Stans und die obrigkeitliche Förderung verhalfen ihm alsbald zur nächsten und repräsentativeren Stellung an die Spitze eines Erziehungsinstitutes auf Schloß Burgdorf, das nach seinem Willen aus einer Schule eine zentrale Lehrerausbildungsstätte der Republik hätte werden sollen. Während Pestalozzi sich im vollen Aufschwung des endlich gefundenen Berufes befand - „ich will Schulmeister werden", war ja sein Motto geworden — neigte das Leben Lavaters bereits dem Ende zu, als Folge des törichten Zufalls jener tödlichen Verwundung durch einen französischen Soldaten. Hinter alledem aber stand das Schicksal der historischen Katastrophe, die den einen emportrug, den anderen jedoch vernichtete. Seltsam: Kurz zuvor, fast genau ein Jahr vor Lavaters Tod, wandte sich Pestalozzi — aus der Arbeit an seinem Erziehungsbuch heraus, das dann den Verlegertitel Wie Gertrud ihre Kinder lehrt bekam - an den Pfarrer. A m Neujahrstag 1800 erbat er dessen Auskunft über mehrere Punkte, die ihm „by Verfassung einiger Erziehungsschriften" zu schaffen machten. Eine erste Frage stieß gleich ins Zentrum: „Welches sind die Stellen der Bibel, die die Weitleufigkeit oder vielmehr das Wortwesen im Gottesdienst als der Religion selbst schedlich erkleren?" Lavater antwortete postwendend und verwies auf die „stärksten Stellen", die „dem Wortwesen im Kultus entgegen" stünden: aufjesaias (besonders im 1. und 58. Kapitel) sowie auf das Johanneswort „Gott ist Geist". Schwieriger zu beantworten, weil im Kern eine bestimmte Antwort suggerierend, die zweite Frage: „Aus was für Schriftstellen erhellet, daß die chrisdiche Religion nicht als Fundament der Vernumftübung, sonder als psychologisches Mittel der Gemüthsstimmung, die die Sicherheit der Vernumftskraft zu ihrer Folge hat, m u ß angesehen werden?" Was Pestalozzi hier scheinbar unbefangen zu wissen begehrte, lief im Grunde auf ein psychologisierendes Bibelverständnis hinaus, zu dem sich auch ein unorthodoxer Theologe kaum bereitfinden konnte. Lavater wich zunächst aus, wußte „keine beleuchtende Schriftstelle" und schützte U n klarheit der Frage vor, holte dann aber seinerseits zu einem Bekenntnis aus.

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„Das Christentum (objektive), oder Christus in allen seinen Verhältnissen ist mir nichts als ein Kommentar über die menschliche Natur, eine Darstellung der M e n schenbestimmung u n d der Menschenkräfte. Das Evangelium zeigt mir die Menschheit in ihrem Krankheits-, Genesung- u n d Gesundheitszustand. Die Bibel ist mir eine Geschichte des Menschen-Verfalls, der M e n s c h e n - W i e d e r herstellung [ . . . ] " , deshalb k ö n n e sie sich „also nie auf psychologische B e leuchtungen einlassen. Sie spricht so viel als nie von Vernunft, T u g e n d , im gewöhnlichen Sinne; sogar das W o r t Religion gebraucht sie nie. Sie ist historische Darstellung in lebenden Charakteren u n d notorischen Schicksalen, nicht so fast einzelne Stellen, als ihre Geschichte stellen ihren großen Z w e k dar." Lavater beruft sich somit gegenüber didaktischen Sonderansprüchen an die Bibel auf deren großen theologischen u n d geschichtlichen Sinnzusammenhang. D a ß er dabei den W ü n s c h e n seines Interpellanten nicht völlig entsprach, m o c h t e er in Kauf n e h m e n . Zuletzt noch die private Bemerkung, daß „Kälte nicht ertragende U m s t ä n d e " i h m verböten, seine „kalte K a m m e r " - offenbar den Bibliotheksraum — aufzusuchen: dies der einzige Hinweis aufsein fortgeschrittenes Leiden. D e m trug Pestalozzi in einem zweiten Brief unter Verdank u n g der p r o m p t e n A n t w o r t R e c h n u n g ; er bat den großen M a n n , „keinen Augenblik sich der Kälte oder Feuchte auszusezen", und präzisierte die i h m offenbar besonders wichtige zweite Frage. Eine A n t w o r t Lavaters hat er — soweit ersichtlich - nicht erhalten; der Kranke war wohl bei fortschreitendem gesundheidichen Zerfall zu erschöpft, u m den Diskurs weiterzuspinnen. Kurz vor d e m Ende bedachte er den Erzieher noch mit einem D e n k - und Segensspruch: Einziger, oft Mißkannter, doch oft bewundert von Vielen. Schneller Versucher des, was vor Dir niemand versuchte, Schenke Gelingen Dir Gott und kröne Dein Alter mit Ruhe! Sein T o d schloß dann ohnehin die Möglichkeit weiteren Meinungsaustausches ab. 9 Endeten damit auch die inneren Beziehungen, die ja zu Lebzeiten der beiden Persönlichkeiten ein förmliches Wechselbad von Anziehung, Anteilnahme, Abstoßung, Interesse u n d Distanz gewesen waren? Eigentlich nicht, aber sie gewannen gleichsam eine andere Dimension. Lavater blieb, ja er w u r d e jetzt recht eigentlich eine entschwundene Respektsperson, der stets fiir seine — Pestalozzis — Ideale Verständnis aufgebracht hatte. „Es wachsen Kinder u m mich a u f ' , schrieb er bald nach Eröffnung des Instituts v o n Yverdon an A n tistes H e ß , „deren religiösen Sinn ich Lavatern zeigen möchte, w e n n er n o c h lebte, der gute, freye M a n n . Er w ü r d e sich meines T h u n s u n d meines Erfolgs wie niemand freüen, w e n n er n o c h da wäre. Aber er ist nicht mehr, u n d das Erbarmen über das R ü k s t e h e n unsers Volks in aller Kraft u n d in aller Kunst, das so tief in diesem edeln M a n n lag u n d sich so rein und w a r m bey i h m aussprach, liegt in wenig Schweizern, wie es in i h m lag, u n d spricht sich in wenigen aus, wie es sich in ihm aussprach. Ich denke oft, lebte er noch, ich 297

hätte an ihm einen Mittelmann für meine Methode, der im Vaterland einige gute Herzen für sie gewinnen würde. Für das Ausland habe ich keinen solchen Mann nöthig." 10 Damit stimmt Pestalozzi ein Motiv an, das häufig wiederkehren wird: er ist zwar ein international berühmter Pädagoge, in seiner Heimat aber ein verkannter Prophet, obwohl er doch gerade seinem Lande volkserzieherisch besonders viel zu bieten hätte. Ein rundes Jahrzehnt später tönt es ganz ähnlich, aber nun nicht mehr in einem Privatbrief, sondern im repräsentativen Rahmen der programmatischen Schrift „An die Unschuld, den Ernst und Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes" von 1815, mit welcher er dem anhebenden Zeitalter der Restauration die Richtung zu weisen hoffte — in dem Sinne, daß diese Ära zu einer wirklichen Erneuerung von erprobten Werten und nicht einfach zur Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände fuhren sollte. Da werden nun Lavater und der ebenfalls dahingegangene Johannes von Müller beschworen, als die Männer, die der Wahrheit das Zeugnis gegeben, dessen wir heute bedürfen. „Ach, daß das Vaterland eurer mangeln mußte, in der Stunde seines größten dringendsten Bedürfnisses." Man sieht: hier ersteht nun eine Trias, fast eine Dreieinigkeit, deren einziger Überlebender - eben Pestalozzi — sich auf sich selbst gestellt findet. Es ist schwer, sich der rhetorischen Kraft dieser Beschwörung zu entziehen — nur entsinnt sich der Biograph, daß Müller und Lavater damals, als sie noch lebten — um 1797/98 und in der Krise der Eidgenossenschaft - keineswegs ganz mit Pestalozzi übereinstimmten, sondern es lieber bei einer maßvollen Reform des Alten hätten bewenden lassen wollen. Das zählt jetzt aber nicht mehr so sehr, weil im Grunde auch Pestalozzi nie ganz genau wußte, wie eine Neuordnung wirklich an die Hand genommen werden sollte; da blieb er auch jetzt (1815) noch abstrakt, sprach von „dieser altschweizerischen Erhebung für Recht und Freyheit", von der „Belebung des allgemeinen bürgerlichen Freyheitssinns" und so weiter.11 Wir können damit unsere Betrachtung schließen. Der ehrwürdige Name taucht bei Pestalozzi noch gelegentlich auf, spät einmal in einem um 1824 Lavaters Enkelin gewidmeten Albumblatt, wo er Religiosität und Christentum vorzugsweise durch den Zeitgeist und seine Gewohnheiten und Lebensweisen gefährdet sieht, oder dann, wieder mehr episodisch, im „Schwanengesang".12 Stets ist Lavater der Vertreter einer entschwundenen Generation und einer Gesinnung, deren Gläubigkeit noch echt war, deren Religion nicht — wie nach 1815 - zu politischen Zwecken mißbraucht und umfunktioniert wurde. Kurz: ein Mann, der dem .Zeitgeist' - und dieses Wort bewahrt bei Pestalozzi stets einen negativen Beiklang - widerstand, weil er selber vom Feuer der Wahrheit durchdrungen und deshalb geistesmächtig genug gewesen war.

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Anmerkungen 1

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Ich beschränke mich im folgenden auf den Nachweis der Zitate. Den ausführlichen Hintergrund der Parallelbetrachtung bietet Peter Stadler, Pestalozzi. Geschichtliche Biographie (Bd. I, Zürich 1988, bis 1797 reichend; Bd. II erscheint voraussichtlich 1993). Im weiteren werden abgekürzt zitiert: Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bde. Iff. (zuerst Leipzig-Berlin, dann Zürich 1927 ff.) = W. -Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. 13 Bde., Z ü rich 1946-1971 - B. - Dazu kommt eine von Dr. E. Dejung angelegte, noch unveröffentlichte Sammlung von Briefen an Pestalozzi (ND. = Nachlaß Dejung. Sammlung von Briefen an Pestalozzi aus dem Nachlaß von Dr. E. Dejung, Pestalozzianum Zürich. Enthält keine Originale). Für die Frühzeit: Karl Giering, Lavater und der junge Pestalozzi. Ihre persönlichen und gedanklichen Beziehungen bis 1782 (Pestalozzi-Studien III), Berlin u. Leipzig 1932. W. I, 28. Zit. (mit weiteren Belegen) bei P. Stadler (s. Anm. 1), 230f. B. III, 232. An Mieg 1785/86 (ohne nähere Dat.). W. XXVIII, 372. Z u m Thema Pietismus: Horst Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande, Göttingen 1988; Thomas Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18.Jahrhundert, Zürich 1990 (beide Autoren gehen auf Pestalozzi nicht ein). Z u m Stäfener Handel ausfuhrlich P. Stadler (s. Anm. 1), 389ff. Vgl. auch noch Klaus Martin Sauer, Die PredigttätigkeitJohann Kaspar Lavaters (1741-1801). Darstellung und Quellengrundlage, Zürich 1988 (insbes. 288 ff.). B. IV, 4. Rudolf Luginbühl, Aus Stapfers Briefwechsel I, Basel 1891, 6. B. IV, 28 f. 49 f. 536. Briefe Pestalozzis an Lavater aus Burgdorf vom 1. und 6.1.1800. Lavaters Antwort vom Abend des 2.1.1800. ND. (s. Anm. 1). B. V, 33. An Antistes Heß, Yverdon, 1.9.1805. Zitate aus der Schrift „An die Unschuld" etc.: W. XXIV A, 53.57. B. XIII, 103. An eine Enkelin Lavaters, Yverdon, um 1824. „Schwanengesang": W. XXVIII, 222.240.

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U L R I C H IM H O F

Lavater als Patriot I. Die einzelnen Phasen des patriotischen Einsatzes Lavater gehört zu den großen Patrioten des schweizerischen Ancien régime. W e n n wir heute jedoch den Begriff des Patrioten verwenden, so wissen wir, daß er suspekt geworden ist. Schon im 19. oder gar im 20.Jahrhundert wurde er allzuoft mißbraucht, geriet in die bedrohliche Nähe des rücksichtslosen N a tionalismus oder degenerierte zur hohlen vaterländischen Phrase. Einst aber bedeutete Patriotismus den Einsatz für die Menschheit überhaupt — allerdings hic et nunc beginnend mit dem Wirken in der engsten Heimat, in der Vaterstadt, endend aber in universaler Humanität, über und zwischen den Nationen. In Lavaters vielgestaltigem Leben tritt die patriotische Haltung einmal stärker, einmal schwächer hervor. Wir wissen alle, daß am Beginn der mutige Einsatz gegen den „ungerechten" Landvogt steht. Es folgt der Einsatz in der eben gegründeten Helvetischen Gesellschaft. Dann kamen die langen Jahre religiös-spiritualistischer und psychologischer Wirksamkeit, bis ihn die französische und die helvetische Umwälzung wiederum zum „Patrioten" machen sollten. Lavaters aktives Eingreifen in die Politik zu Beginn und zu Ende seines Wirkens soll hier den R a h m e n bilden fur eine eingehendere Darstellung der Theorie seines Patriotismus anhand einer Analyse seiner Schweizerlieder. Als Patriot bezeichnete sich Lavater selbst, wenn er dem Pamphlet gegen den korrupten Felix Grebel den Titel gab: Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten.1 In altschweizerischer Weise hieß es da: „Weh mir, daß ich unter einem Volke wohne, unter dessen Landvögden Tyrannen sind, und dessen Richter die Ungerechtigkeit zudeken [ . . . ] " . Es ging eben in Zürich typisch republikanisch zu. Die Behörden verschlossen ihre Augen vor Grebels Mißwirtschaft während seines Statthalteramts im Zürcher Oberland und deckten in altgewohnter Vetternwirtschaft ihren Standesgenossen. Nicht aber die jungen Leute aus der Schule Bodmers, die u m ein republikanisches Widerstandsrecht wußten: „Sollte Zürich keine Teilen, keine Baumgarten mehr haben?" 2 Es ging gegen einen neuen Geßler, einen neuen Landenberg. Es ging darum „ein faules Glied unseres Staates ab[zu]hauen". 3 Mutig war es, diesen Skandal in die Öffentlichkeit zu tragen, einen Sachverhalt, der jedermann bekannt war, so öffentlich zu machen, daß von Behördenseite aus gehandelt 300

werden mußte. Da eine freie Presse fehlte, griff man zum Mittel des Pamphlets. Die Folgen sind bekannt. Grebel wurde hart verurteilt - aber auch die patriotischen Täter, Lavater und Heinrich Füßli, bekamen etwas ab. Sie wurden zur Abbitte vor den Räten genötigt, der unziemlichen Mittel wegen, die sie angewandt hatten. Legitim wäre nur ein Vorstoß im Großen Rat gewesen, und welches Ratsmitglied wollte es schon riskieren, gegen den Schwiegersohn des Bürgermeisters aufzutreten. Fortan war Lavater überall bekannt, bekannt als „Patriot", der die „schlafenden Patrioten", d. h. die Behörden seiner Vaterstadt, aufgeweckt hatte und weiterhin aufwecken wollte: Sei es in Zürich im Rahmen der verschiedenen politisch-philanthropischen Sozietäten oder in der eben entstehenden Helvetischen Gesellschaft von Schinznach. Daselbst sollte er für das nächste Jahrzehnt in einem gleichdenkenden Freundeskreise ein Wirkungsfeld mit allgemeinschweizerischer Ausstrahlung finden.4 Der dritte patriotische Einsatz fand erst viel später statt, als die patriotischen Probleme zwangsläufig wieder aktuell wurden im Rahmen der Polarisation, die durch die Französische Revolution auch in der Schweiz aufbrach und zur Stellungnahme in innen- wie außenpolitischer Richtung zwang.5 Es war nicht mehr der junge „Stürmer und Dränger", sondern der angesehene und international bekannte, bald sechzigjährige Pfarrer an St. Peter, der sich äußerte. Wie viele hatte er — erschreckt durch den Terror der Jakobiner — sich vorerst zurückhaltend verhalten, bis ihn die bedrohliche Entwicklung des „Stäfner Handels" aufrüttelte. Man weiß, daß es vor allem Lavater war, der in diskretem Gespräch mit den ihm seit Jugend vertrauten Staatsoberhäuptern das Schlimmste — nämlich den Vollzug des Todesurteils verhindern konnte. Jetzt geschah die patriotische Intervention klugerweise ohne großes Aufheben, denn Lavater wußte nun, daß in einer Republik öffentliches Vorgehen nicht immer das weiseste Mittel war und daß Gespräch - die Aufklärung innerhalb der regierenden Schicht, der er als St. Peterspfarrer ja durchaus angehörte - ein sicherer Weg zum Erfolg sein konnte. Aber Lavaters Predigten politisierten sich immer mehr. Zur letzten deutlichen patriotischen Stellungnahme wurde Lavater wieder durch sein inneres patriotisch-christliches Engagement gezwungen. Er mußte erkennen, daß die idealen Ziele der Helvetischen Republik durch französische Besetzung und entsprechende Kontributionen entstellt worden waren. So hat er sich an die helvetischen Behörden bzw. an die französischen Machthaber, mit öffendichen Briefen gewandt, beginnend am 10. Mai 1798 mit dem Wort eines freyeti Schweizers an die große Nation.6 Er bezeichnet sich nicht mehr als Patriot, sondern als „Freyer Schweizer" und nimmt damit bewußt diese Bezeichnung auf, die an die alten Schweizer der heroischen Epoche erinnert. Der Begriff „Patriot" war inzwischen leider zur Parteibezeichnung geworden. Eine letzte Stellungnahme sollte ihm die Deportation nach Basel bringen, wo allerdings ein human gesinnter Regierungsstatthalter bald seine Freilassung er301

wirkte. Man befand sich mitten in den Parteiungen der Helvetischen R e p u blik, mitten in der politisch äußerst gespannten Lage Europas, die der östlichen Schweiz die Besetzung durch Österreicher und Russen bringen sollte. Das Grauen des Krieges hat damals ein letztes Mal die Schweiz erschüttert. Zwei angesehene Zürcher, Zunftmeister Hans Jakob Irminger u n d Pfarrer Lavater, sollten Opfer der Besetzung werden: Irminger durch einen russischen, Lavater durch einen französischen Soldaten . . . M a n kann sich fragen, warum sich Lavater der Helvetischen Republik nicht zur Verfugung gestellt hat, wie ein Stapfer, ein Rengger, ein Kuhn, ein Meyer von Schauensee, ein Père Girard, ein Pestalozzi. Lavater gehörte eben zur alten Generation, zur altaufklärerischen, und er war letztlich doch Stadtbürger. Im Sinn der vorrevolutionären Aufklärung protestiert er gegen den Mißbrauch der ihm so teuren politischen Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit. N o c h redet er die helvetischen Regierungsmänner als „Patrioten" an, wenigstens die „ächten Patrioten" unter ihnen. Sie sollten „Billigkeit und Menschlichkeit walten lassen". 7

II. Die Schweizerlieder und der Begriff des Patriotismus W e n n Lavater den Begriff des Patrioten auch noch in seinen letzten Äußerungen verwendet, so sieht er ihn wohl noch so, wie er ihn in seinen „historischen" und „patriotischen" Schweizerliedern verwendet hat. 8 Er hatte sie in „einigen Nebenstunden" hingeworfen, zuhanden der helvetischen Versammlung des Jahres 1767. In Schinznach sind sie mit großem Erfolg damals zum ersten Mal gemeinsam gesungen worden. Er hatte damit einen Wunsch erfüllt, den Martin Planta — der Leiter des pietistisch orientierten Haldensteiner Seminars - zuhanden „getreuer Patrioten" der Gesellschaft ein Jahr vorher vorgetragen hatte. 9 Die Schweizerlieder sollten weit über die Helvetische Gesellschaft hinaus wirksam sein und erlebten bis 1798 ohne oder mit Melodien insgesamt neun Auflagen. Lavater gibt den gegenwartsbezogenen Liedern den Titel „Patriotische Lieder". D e r Begriff des Patrioten ist damals durchaus üblich: Sechs schweizerische Gesellschaften (ab 1762) und mindestens vier Zeitschriften (ab 1755) haben ihn auf Deutsch oder Französisch zum Titel. 10 Schon im Griechischen bedeutet das Adjektiv JI&TQIO£ vom Vater her stammend, sich heimisch f ü h lend. Im Mittellateinischen hat der Begriff „Patriota" den Sinn von „Landsmann". Er wird dann v o m französischen „patriote" aus als „vaterländisch" interpretiert und ab Ende des 17.Jahrhunderts im deutschen Sprachbereich allgemeiner. 11 „Patriot" bezeichnet schließlich den „civis bonus", den guten Bürger. „Bürgerlich" hat im Reichsdeutschen immer mehr den Klang des „ H u m a n e n "

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bekommen. In der Schweiz allerdings ist nur der Städter „Bürger" und dies im Gegensatz zum „Hintersassen", bzw. zum „Untertan". Patriot kann aber jeder sein, der vaterländisch-human denkt und handelt — auch der Untertan. Lavater hat den Begriff einige Male in seinen Schweizerliedern verwendet. „Sey Patriot!" ist i m Lied der „Schweizerbund" der „feyrliche" Aufruf zum Rüdischwur. 1 2 Das „Schwerdt der Gerechtigkeit! / Sey heute, und sey allezeit / in Patrioten Händen!" (57) ist der Wunsch Lavaters fiir die Landammänner der demokratischen Kantone. Schließlich sei durch das Singen seiner Schweizerlieder — so meinte Lavater rückblickend — mancher der politischen „Trägheit müde", ein „feuervoller Patriot" geworden (73). W e n n wir die Schweizerlieder gesamthaft betrachten, wird deutlich, was damals Patriotismus bedeutete, das gilt sowohl für die vierzehn „historischen", wie für die achtzehn „patriotischen" Lieder, w o banale Verse unmittelbar neben genialen zu finden sind.

III. Das Geschichtsbild Die historischen Lieder geben primär Lavaters Geschichtsbild wieder. Darin geht es wie bei Albrecht von Haller u m das „Heldenvaterland" (35), u m die ,,Schweizerheld[en]" (46), u m den Appell an die „Heldensöhne" (49) und an die „Heldentöchter" (51), denn Lavater weiß u m die heroische Rolle der Frau. Schon das Lied über die österreichische Belagerung von Zürich — das erste in der Reihe der historischen Lieder — ist vor allem ein Lied auf die Heldinnen (7). Im „Lied fiir Schweizermädchen" heißt es: „Auch wir M ä d chen sind nicht minder / Als die Knaben Heldenkinder" (51). Dieser feministische Ton entspricht durchaus der Haltung der ersten Generation einer sich abzeichnenden Frauenemanzipation. Die historischen Lieder handeln allerdings fast ausschließlich von männlichen kriegerischen Aktionen, von Schlachten und Belagerungen, von Siegen und — w e n n es u m „Der Schweizer höchste Dapferkeit" geht — von der Niederlage zu St. Jakob an der Birs. Es sind Lieder auf das Heldenkollektiv der alten Schweizer, wobei Einzelhelden natürlich herausgehoben werden. N u r der Rütlischwur und das Lied für Nikiaus von Flüe handeln von unkriegerischen Themen. In diesen Liedern tobt sich ein Sturm-und-Drang-Lavater so richtig aus: W e n n er etwa im Morgartenlied „tetscht" auf „zerquetscht" (13) reimt, w e n n er Teil mit „Patriotenlust" das „Mörderblut" Geßlers erblicken läßt (9) oder im Murtenlied ausruft: „Gebt Eure keuschen Mädchen ja,/ den Walchen nicht zu Theil" (28). Lavater erfaßt die zweihundert Jahre zwischen 1292 und 1499, zwischen der Zürcher Belagerung und dem Schwabenkrieg: Das Bild der heroischen Nation, wie es der Tradition entsprach und eben durch den Schinznacher

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Freund Vinzenz Bernhard Tscharner in seiner Historie der Eidsgenossen neu konzipiert worden war, j e n e m Werk, das Lavater als historische Basis diente. Historische Kritik, wie sie sich schon lange — aber gerade in jenen Jahren sehr deutlich am Teilenmärchen geübt hatte, ist fiir Lavater nicht zu gebrauchen, im Gegenteil! Sein Tellenlied erscheint wie ein Protest auf das sechs Jahre vorher erschienene Entlarvungspamphlet der zwei Berner Freudenberger und Haller. Lavater — biblischer Tradition verpflichtet — unterläßt es nicht, den Vergleich mit dem Volk Israel zu wagen: Im Schwabenkrieglied heißt es über die Schlacht von Frastenz: „So hat kein Heer gesiegt, / Seit Israel mit seinem Gott / Die Heidenwelt bekriegt" (33). Die „Heiden" sind n u n m e h r die Schwaben, die ja damals, zur Zeit ihres „Schweizerkrieges", die Schweizer als Heiden, bzw. Türken beschimpft haben. Schöner und tiefer aber ist der Vergleich im „Gebethlied eines Schweizers": „Du, der Väter Schild und Fels, / Gott! D u fuhrest sie, wie Schaafe, / Gleich den Söhnen Israels!" (71). Es ist aber nicht zu vergessen, daß Lavater — als er für die dritte Auflage weitere Liedthemen in Vorschlag brachte 13 - ein Lied wünschte, „Worinn alle Fehler der alten Schweizer, und insbesondere ihre Barbarey geschildert würde, mit der Lehre ,seyd nicht abergläubische Verehrer eurer Vorväter'." Hier ist der wilde Sänger plötzlich der kritische Aufklärer. Das Lied sollte den Titel tragen „Gift und Gegengift". Zwar hat Lavater dieses Lied nicht geschrieben, noch einer der zahlreichen weiteren Verfasser von Schweizerliedern, die den Heldenton nur noch variiert haben: Vom „Zug der Helvetier in Gallien" bis zum Fontanalied des Johann Gaudenz von Salis. Aber Lavater hat immerhin die fünf „Kriegslieder" (62—69), die mit „Schlacht" und „Sieg" für die Gegenwart, fiir einen möglichen Abwehrkampf der Schweizer gedacht waren, als „meiner nicht würdig" zurückgenommen. 1 4 Als er sie schrieb, stand man noch ganz unter dem Eindruck der friederizianischen Siege. Es wäre im Bereich der Möglichkeit, daß die isolierte Schweiz ins Kriegsgeschehen hätte einbezogen werden können. Die Kriege der alten Schweizer vollzogen sich in der „kleinen Bergbegränzte[n] Welt, / Von grossen Thaten voll!" (77). So heißt es in Lavaters letztem „Schweizerlied", dem Lied an „Die Natur im Schweizerland". Schon in früheren Liedern hatten die „Alpensöhne" (12), die „Berge" (39), die „Felsen", die „Thäler", der „Wasserfall" (36) ihre Rolle gespielt. Das war der Niederschlag der ungemeinen Alpenbegeisterung, die - vor allem durch die ausländischen Besucher — über dieses Hirtenland hereingebrochen war. Bei Lavater dominiert aber die historische Seite des alpinen Mythos. Mit der heroischen Vergangenheit und der gottgewollten Natur — „Hoch hast D u uns, Herr, umschanzet" — war den natürlichen und den historischen Gegebenheiten Genüge getan. Der Tenor der übrigen Schweizerlieder ist politisch und moralisch. Es ist der zweite Teil der Schweizerlieder, den er „patriotische Lieder" nennt, der uns Lavaters Patriotismus in allen Fazetten deutlich macht.

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IV. Die Bundesideologie

Das politische Element ist hier einerseits durch die Bi'ndesideologie, andererseits durch die republikanische Ideologie vertreten. Der Schweizerbund ist nicht nur das Thema des Rütliliedes, sondern des „Gemeineidsgenößischefn] Liedfes]" (36.37). Da heißt es: .Jeder Staat soll allen Staaten / Gutes wünschen, Gutes rathen" (36). Unter „Staat" ist hier der Kanton zu verstehen. „Hallet täglich unsre Lieder / Von Kanton zu Kanton wieder" (37) heißt es in der Schlußstrophe. Es gibt in den Schweizerliedern nur noch eine weitere Stelle, w o der Begriff „Kanton" verwendet wird: Die bunte Welt der Kantone soll dem Schweizer nachdrücklich eingeprägt werden: „Lern jedes freyen Staates Recht, / Der steht i m Schweizerbund" (60). Der Schweizerbund ist wichtiger als der Einzelstaat. Immer wieder wird der Begriff des Schweizers beschworen, in allen möglichen Wortbildungen: „Schweizerblut", „Schweizersinn", „Schweizerland", „Schweizerhütten", „Schweizer Wanderstab", „Schweizer Berge", „Schweizeralpenland" (20.47.55.60). Schon figuriert der im 19.Jahrhundert so beliebte „Schweizerknabe" (48.74). Selbst das Adjektiv „schweizerlich" wird kreiert (47). Manchmal tritt der Begriff „Helvetier" bzw. „Helvetien" an die Stelle des Schweizers. „Helvetier" nennen sich die Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft. Da spricht er vom „Zusammenfluß / Helvetischer Gemüther" (4). Das Schlachtlied von Sempach beginnt mit „Helvetier! singt von der Schlacht, / U n d von dem hohen Sieg" (21). — Humanistisch wie im 16.Jahrhundert tönt es, w e n n er im Schwabenkrieglied in bezug auf Kaiser Maximilian sagt: „Doch G O t t im Himmel lachte sein, / Da er so stolz ihn sah, / U n d sprach: ,Sey Staub! der Sieg ist mein, / U n d mein Helvetia'" (33). An einem andern O r t verpflichtet er die „Schweizerinnen", „Söhne, die von Freyheit glühen, / Dir, Helvetien, [zu] erziehen" (51). Der Begriff der „Eidgenossen" ist selten anzutreffen (36.37), obwohl er allmählich in Schinznach als Anredeformel üblich wird: „Theuerste Freunde, Brüder u n d Eidsgenossen." Es entspricht dem Stil der Zeit, daß es vor allem das Vaterland ist, das beschworen wird. U n d es hat fast immer die Bedeutung des Schweizerlandes — nur zweimal wird der Begriff Vaterland für bestimmte Kantone (für Zürich S. 54, für die demokratischen Kantone S. 56) verwendet. Lateinischer Anklang findet sich in der Formulierung des „voll von Vaterland", das auf die Helden von St. Jakob wie auf Bürgermeister Waldmann bezogen wird (24.25). U n d schließlich reimt „Vaterland" auf „sey niemals deiner Väter Schand" (35). Lavater hat auch ein Lied auf die Tagsatzung postuliert. 15 Sein eigenes Lied auf eine schweizerische Obrigkeit gilt jedoch den kantonalen Regierungen. Das „Gemeineidsgenößische Lied" bleibt wie das „Lied auf die Helvetische Eintracht" recht allgemein. Es ergeht ein Appell an die „Holde Eintracht"

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(38), an die „Alte Eintracht" (36.39). Lavater wird nicht konkreter - weder in zentralistischer noch in föderalistischer Richtung — aber, wenn er schreibt: „Weh dem, der uns zu entzweyen, / Kriege zu entzünden sucht!" (39), muß man wissen, daß die Schweizerlieder nur ein halbes Jahrhundert nach dem Zwölferkrieg, nach dem äußerst blutigen Kampf von Villmergen, geschrieben wurden. - Alte Leute konnten sich noch an ihn erinnern und Deutsch- wie Welschbern feierten nach wie vor ihren Sieg am St. Jakobstag, an „La St. Jacques". Aber gerade darum wird Lavater im „Loblied auf Helvetische Eintracht" (38) sehr konkret, denn da weist er auf die konfessionelle Spaltung hin und postuliert eine präökumenische Einigkeit.16 Einen Gott im Himmel bethen Wir, nur Einen Vater an; Einen nur, der uns vertreten, Und uns selig machen kann. Brüder! Er will wol uns allen! Jede Tugend jedes Stands, Redlichkeit wird ihm gefallen, Mit und ohne Rosenkranz. Nur nach einem Himmel streben Wir, wir treuverbundne Freund'! Ewig bey einander leben Alle, die sich hie vereint. Namen sollen nie uns trennen! Wer Gott liebt und redlich ist, Mag! wie er nur will, sich nennen; Bruder ist er, und ein Christ! (38.39)

Die Konfessionen sind fiir Lavater bloße Namen. Gegenseitig soll die verschiedene Art der Gottesverehrung anerkannt werden: „mit und ohne R o senkranz" bedeutet nicht Abwertung und Verachtung der katholischen Form der Devotion. Bedingung des ökumenischen Patriotismus ist gegenseitige Achtung. „Stolz", „Argwohn", „Neid" sollen „Brüderfreuden, alte Treu und Ehrlichkeit" nicht „verlaiden". Nie soll es der Himmel geschehen lassen, daß „Brüder sollten Brüder hassen".17 Dies war deutlich genug. Weiteres hätte nur die alten Wunden wieder aufgerissen.

V. Das republikanische

Bewußtsein

Den Begriff „Republik" verwendet Lavater im „Lied einer glüklichen Republik" (42) und im „Republikanische[n] Trinklied [...]". Im ersten stehen die Verse: „Riegel sind der Macht gestossen; / Freyheit hält die Wage fest" (42). Damit trifft Lavater einfach und richtig das Grundwesen der Republik, jenes Staatssystems, in welchem die Staatsgewalten sich ausbalancieren. Das Stichwort 306

Freiheit wird verdeutlicht, wenn er beifügt: , Jeder darf die Wahrheit lieben" (42). Das „Republikanische Trinklied" gilt fiir die republikanischen Anlässe und Festlichkeiten, bei denen das Trinken „zum Wohl des Landes", auf „unsre Obrigkeit", auf die „Vaterstadt", auf deren „Lehrer" und den „Landmann" aufgezählt wird (54.55). Lavater bezieht sich auf den konkreten Fall eines Zunftfestes in seiner Stadt Zürich, denn man trinkt den „Zürcherwein". Wenn dieses Lied möglicherweise anderswo gesungen wurde, konnte man den Zürcherwein leichdich durch Schaffhauser- oder Baslerwein ersetzen. Lavater hütete sich, auf die Unterschiede der städtischen Verfassungen einzutreten. Der Begriff „Demokratie" wird nur in bezug auf die Landsgemeindekantone verwendet. Das „Lied der demokratischen Kantone bey ihrer jährlichen Landsgemeine" beginnt mit dem schönen Anruf: „Auf, freyes Volk! versammle dich!" Aber mit den Passagen „Tumulte fern!" oder „Auf Ordnung ruht des Staates Macht" (56) wird wohl auf die wilden Ausbrüche des Volkszorns angespielt, wie sie vor nur wenig Jahren in Schwyz die „großen Hansen" hinweggefegt hatten. Lavaters typisch „städtischer" Appell „Besetzet redlich jeden Stand" (56) oder „Und jeder freye Landmann soll / Rechtschaffen, treu und eifervoll, / Des Landes Schaden wenden!" (57) geht auf die Praxis der Wahlbestechung und andere Landsgemeindemißbräuche. Aber andererseits wird durch Lavater das in manchen Landsgemeindekantonen umstrittene und beschnittene Antragsrecht jedes Landmanns besonders hervorgehoben: „Wer uns was Gutes rathen kann, / Steh auf bescheiden, zeig es an! / Das Vaterland will hören" (57). Demokratisch tönt es aber auch im „Lied auf den Meistertag in Zürich", wo es um die Wahl des Zunftmeisters geht: „Es seh sich jeder mit Vernunft / und Freyheit um auf seiner Zunft, / und prüfe still die Geister" (53). Vor allem mahnt Lavater, den Eid, den Wahleid der Wählenden und der Gewählten, tief ernst zu nehmen, als Verantwortung vor Gott. In Basel und in Bern war das gerade in jenen Jahren ein Gegenstand heftiger politischer Diskussion.18 Lavaters Ausführungen lassen sich auch auf die anderen „demokratisch" verfaßten Städte transponieren, auf Basel, Schaffhausen, St. Gallen, Chur und Biel. In bezug auf alle demokratischen Kantone, die städtischen wie die ländlichen, wird immer wieder der Grundsatz der „Freyheit" evoziert und beschworen. O b auch der Grundsatz der „Gleichheit"? Freiheit und Gleichheit waren ja die alten Devisen für Demokratie wie für Aristokratie, wenn auch im Rahmen einer gegliederten ständischen Gesellschaft verstanden. Im „Republikanischen Trinklied" steht immerhin die deudiche Strophe: „Wir seyen arm, wir seyen reich, / der Grosse wie der Kleine, / sind Brüder, sind sich alle gleich, / Der Edle, der Gemeine!" (54). In der Republik ist auch der Altadlige oder der Patrizier möglich - aber er ist zum Respekt vor den Freiheiten und Gleichheiten der republikanischen Verfassung verpflichtet. Das Problem der Untertanen der „Gnädigen Herren" von Stadt (und Land) hat Lavater nur in seinem „Lied für Schweizerbauern" berührt (44.45). Hier 307

sah er sich genötigt, diesem von der Helvetischen Gesellschaft verlangten Lied eine Erklärung voranzuschicken19: „Die Schweizerbauern sind sich selbst so ungleich, sowohl in Ansehung ihrer Freyheiten und Glücksumstände, als auch in Ansehung ihrer Denkens- und Lebensart; daß man vielleicht wol ein Dutzend verschiedene Lieder für verschiedene Schweizerbauern machen könnte." So verzichtet er auf „manche schöne Besonderheit, die etwa den Democratischen Kantonen eigen ist". Doch klingt der Unterschied zwischen den Gebirgsbauern des Hirtenlandes und den Ackerbauern des Mittellandes durch, nicht aber die Welt der Tauner und der Armen. 20 Das Lied konzentriert sich auf den allgemeinen Wohlstand der Schweizerbauern, der nicht von Fürsten verpraßt wird: „Andre Bauren, was sie pflanzen, / was sie auf- und angebracht, / Das verschmausen, das vertanzen, / Fürsten oft in einer Nacht" (45). Man befand sich trotz allem in einem Land, in welchem es vielen wohl war unter ihren „lieben Gnädigen Herren". Lavater gehörte zur regierenden Schicht. Die gegebene soziale und politische Ordnung wird nicht hinterfragt. — So endet er das Lied mit dem Lobpreis, daß „Gott im Himmel [... ] Er, Er ließ uns Schweizer werden! Er, Er macht von Tyranney / Uns und unsre Kinder frey!" (45). Der „freie Schweizer", das gilt auch für Untertanen, widerspricht aber immer wieder der Realität, spätestens seit dem Bauernkrieg. Zur Zeit, als Lavater sein Bauernlied schrieb, erfuhren die dem Land Schwyz und dem Fürstabt unterworfenen Bauern der Waldstatt Einsiedeln und etwas später die der Stadt Freiburg unterworfenen Greyerzer Bauern, daß die sprichwörtliche Schweizer Freiheit nicht als Untertanenbefreiung zu verstehen sei. Lavater hat erst im Stäfrier Handel geahnt, daß U n tertänigkeit keine Selbstverständlichkeit mehr war. Die im Bauernlied angesprochenen Kinder der Bauern haben sich ja kurz danach in der Helvetischen Revolution allüberall frei gemacht und sind ihren ehemaligen Herren gleich geworden. — Lavaters Bauernlied ist ein Lied, das letztlich nur für Besitzbauern - also etwa ein Drittel der jeweiligen Dorfbewohner — gilt: „In den Dörfern, in den Städten; / Keiner ist so frey und reich" (44).

VI. Gerechtigkeit und

Ordnung

Wenn Lavater sagte: „Riegel sind der Macht gestossen / Freyheit hält die Wage fest" (42), so schwebt ihm wohl das Bild der Gerechtigkeit der Justitia vor Augen, das von so und so vielen Stadtbrunnen hinunterschaute, mit Schwert und Waage. Das „Schwerdt der Gerechtigkeit" hat ja in „Patriotenhänden" zu liegen (57). Der Schweizer ist ein Mann, der „das Gute schüzt, dem Bösen wehrt" (35). Er sorgt dafiir, daß „Recht und Freyheit" beschützt werden (5). Die Obrigkeit ist da „Zum Schuze der Gerechtigkeit,/ Zur Straf dem Uebertretter" (54). Der Schweizer ist jemand, der „ganz sein Herz dem Staate gibt" (5). Die Obrigkeiten sind „Knechte des Staates" — das Friederizianische 308

vom „ersten Diener des Staates" wird hier republikanisch umgemünzt. Darum kann er auch einmal sagen, „Groß ist [...] des Gehorsams Glück" (41). Das Begriffspaar „Recht und Ordnung" fehlt nicht in den Schweizerliedern (41): Die Helden der „goldnen Zeit", sie waren „Nur stolz auf Recht und Gott". Gerechtigkeit korrelliert hier mit Ordnung: „Auf Ordnung ruht des Staates Macht; / Drum gebt, o Wächter, treulich Acht, / Wer treulos sie verleze" (56). Nicht in die Mitte der Zunftbrüder gehört, „Der Fried und Ordnung störet" (54). Jedenfalls lehren die Schulen „Ordnung, Tugend, Fleiß..." (42).

VII. Arbeitsethos Der Begriff der Ordnung steht in der Nähe des Begriffs „Fleiß". Lavater müßte nicht Zwinglianer sein, wenn er nicht um das Arbeitsethos wüßte. Lavater bewundert „Stärk' und [ . . . ] Fleiß / der rohe Felder pflügt" (60). Was für die Bauern gilt, gilt auch für die Handwerker. Seine Hand ist „zur Arbeit stark" (53), wenn er „Zur Arbeit munter eilet, / Und seine Werkstatt nie verläßt, / Bis Tag und Nacht sich theilet" (54). Weil er so fleißig arbeitet, ist „sein Gesind" „geseegnet" (54). Besonderes Lob erteilt er der Frauenarbeit: „Nur zu arbeitsfrohen Händen / Soll sich Herz und Auge wenden" (51). „Schaarenweis mit muntern Sinnen / Bey der Kunkel; singen, spinnen/ Dapfer bey der Lampe Schein, / Tief bis in die Nacht hinein" (51). Auch das ganze Bauernlied ist ein fröhliches, singendes Feld- und Alpwerk. Abschließend sagt Lavater im „Zuruf des Schweizerliederdichters": „Laßt Arbeit keine Last, laßt Fleiß euch Wollust seyn, / Und lernet Müßiggang, als wie die Hölle scheun" (86). Schon weiß er um die Bedeutung von Arbeit als nationalem Wert: „Und Arbeit schüzt Euch mehr, als Fels- und Felsenschlösser" (86): Arbeit erhält die Schweiz. Wir befinden uns im frühindustriellen Zeitalter: „Müßiggang bringt Pein; und Seegen die Geschäfte" (87). Die endgültige Disziplinierung des noch nicht arbeitswilligen Teils der Bevölkerung, der Armen, der Betder, stand vor den Türen.

VIII. Kampf dem Luxus,

der Weichlichkeit, der Entartung

Im „Lied einer glüklichen Republik" heißt es: „Ferne sind uns weiche Sitten, / Ausgefeilte Lüsternheit; / Nein! es wohnt in Schweizerhütten / Einfalt und Genügsamkeit" (42). Wie oft mußte nicht Lavater auf Wollust, Stolz, Pracht, Üppigkeit, Müßiggang, „dumme Tändeley" (86) hinweisen. Darum tritt an die Stelle der alten Feindbilder, der Österreicher, der Burgunder, der Schwaben, nun die „Franzosenweichlichkeit" (86), die „weichlichen Pariserinnen" (51). Vor Paris, den Verführungskünsten der mondänen Welt, warnt sein „Lied für Schweizermädchen" (50/51) sowie das „Abschiedslied an einen

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Schweizer, der auf Reisen geht" (60/61). Im Ausland warten auf ihn „Monarchenpracht", „Fürstenglanz", „Monarchienlust" und die „Götzen eines Königstaates", die den „Schweizersinn" vergiften. Lavater ist ja erster Promotor der Schweizerreise, die bald zum Obligatorium werden sollte: „Und reise, wie man reisen soll, / im Schweizeralpenland" (60). U n d nicht nur im Alpenland, sondern von Kanton zu Kanton, aufsuchend die „braßten Schweizer", auf deren Wort hörend, jedes Standes „Recht" dergestalt kennenlernend (60).

IX. Die Schweiz

als Nation

unter andern

Nationen

Das Reiselied wirkt noch nationalistischer als die übrigen Schweizerlieder. Lavater geißelt die politische Auslandabhängigkeit: „Auch das Gold in Königshänden / Soll kein Schweizerauge blenden; / [ . . . ] / Goldne Fesseln fesseln auch" (37). Offenkundig war immer noch die außenpolitische Abhängigkeit von Frankreich, insbesondere als Folge der Pensionsgelder, die immer noch in die Kassen der Regierungen und den Sack gewisser Politiker flössen. Im ,,Gemeineidsgenößische[n] Lied" steht der eindeutige Angriff auf die Fremden Dienste: „Fremder Fürsten Feinde schlagen, / Feil sein Blut und Leben tragen, / Schweizer! das ist Raserey! / Das ist Knechtschaft! bleibet frey! / Sucht bey keinem fremden Heere, / sucht nur in der Freyheit Ehre! [ . . . ] " (37). Solche Worte waren hart — denn nur wenige Jahre vorher hatten noch die Schweizerregimenter in französischen Diensten bei Roßbach und anderswo im Krieg gegen Friedrich II. ihren Blutzoll entrichten müssen. Umso mehr war die einheimische Miliz zu stärken. Darum die zwei Lieder für „Schweizer" (46.47), bzw. „Schweizerknaben, die sich in den Waffen üben" (48/49). Letzteres, ein Kadettenlied, ist „herzhaft und lustig" zu singen (48). Hinter diesen zwei Liedern stehen alle „historischen Lieder" vom Heldentod für das Vaterland (21). Sie werden durch Lavater sprachlich aktualisiert, wenn er nicht nur in seinem Sempacherlied von Soldaten und Offizieren und ihren Säbeln (7.21.29.32) spricht, wenn er die alten Schweizer „Victoria" schreien läßt.21 Diese Miliz wäre für den Ernstfall bereit: „Doch alle Fürsten bleiben still, / U n d fürchten unsern Muth; / U n d lassen uns mit Frieden gehn, / So lang sie uns in Waffen sehn; / so dapfer und so stark" (47). R e a listischer tönt es, wenn er im Hinblick auf das Exerzieren und Marschieren den Vers kreiert: „Und was wir schwizen, schwizen wir / dem Vaterland zu lieb!" (47). Diese Lieder liegen in der allgemein patriotischen Linie, die vermehrte Wehranstrengungen und einen neuen militärischen Geist forderte besonders gepflegt in den beiden Helvetischen Gesellschaften, vor allem in der militärischen. Hiezu ist zu sagen, daß die „virtù militare" seit der Renaissance im Wesen der Republik liegt. Die immense Militärreform des ^ . J a h r hunderts ist dann von ähnlichen Liedern begleitet, wie sie Lavater verfaßt hat. 310

Obwohl die Neutralität zu Zeiten Lavaters noch nicht den dogmatischen Stellenwert einnahm, den sie später beanspruchen sollte, so ist sie doch seit den Italienkriegen schweizerische Realität. Lavater erhellt nur an einer Stelle diese Rolle der Schweiz. Aber es handelt sich um eine kräftige Stelle: „Wenn Europens Völker kriegen, / Singen wir von alten Siegen, / Sehen im Gefühl der R u h / Ihren Blutgefechten zu; / Weiden selbsterzogne Heerden, / Pflügen sicher eigne Erden, / Essen froh, nach altem Schrot, / Käse, Milch und Roggenbrod" (36). Da ist der „Balcon sur l'Europe" schon vorgebildet — naiv klingt ein bestimmtes schweizerisch-egoistisches Sicherheitsgefühl durch. Lavater müßte nicht Lavater sein, wenn er dabei stehen bliebe. E r weiß, daß „unbesiegte Menschlichkeit" „unendlich höher noch" als „Heldendapferkeit" ist. Aber er geht noch weiter. Im „Lied eines schweizerischen Geistlichen" stehen die Verse: „Auch Fremden, die bey uns durchreisen, / Lehr ich sie Gutes nur erweisen: / Erquikt, beherbergt, leitet sie!/ Nehmt von dem Armen keinen Kreuzer, / Daß jeder sage: Nein! wie Schweizer / so gute Leute sah ich nie!" (59). Geht es da letzdich um das Asylrecht als besondere Aufgabe der Geistlichkeit? Ist das eine Erinnerung an die nun achtzig Jahre zurückliegende große Asylgewährung an die Hugenotten? Die Rolle der Schweiz, die Aufgabe der Schweiz in der Welt, wird im „Gebethlied eines Schweizers" in einer einmalig eindrücklichen Strophe aufgezeigt: Laß uns seyn ein Licht auf Erden, Und ein Beyspiel stäter Treu; Frey, wie wir sind, andre werden; Und zertritt die Tyranney! Gieb, daß alle sicher wohnen, Bis die Zeit die Pforte schließt, Bis aus allen Nationen Eine nur geworden ist! (72) Die so schweizerisch konzipierten Lieder waren im Grund weit über die Schweiz hinaus gedacht: Die Schweiz als Vorbild der „glüklichen Republik" an sich. Lavaters Schweizerlieder sind auch von Ausländern, von Deutschen, mit Begeisterung gesungen worden. Sie konnten allgemeingültig sein. Für die Schweizer selbst aber Mission und Verpflichtung. Lavater weiß zu gut, daß sein Zeitalter noch nicht reif dazu ist, daß auch die Schweizer keinesfalls dem Ideal entsprechen. E r verlegt die Erfüllung der Utopie in eine endzeitliche Erwartung des Reiches Gottes auf Erden, w o „aus allen Nationen / Eine nur geworden ist". U n d damit erhält all der Nationalismus des Patrioten Lavater seinen richtigen Platz.

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X . Die Freiheit W e n n die Schweiz Vorbild ist, dann vor allem, weil sie ein Land der Freiheit ist. „Frey wie wir sind" sollen auch die andern werden. D e r Begriff der Freiheit findet sich in den Schweizerliedern noch häufiger als der des „Vaterlands". Der Begriff ist aber vieldeutig. Er bedeutet oft einfach Unabhängigkeit von nicht-schweizerischen Mächten. Diese Freiheit wurde durch die Väter erkämpft. Die „Historischen Lieder" erzählen davon (40). Die heutige Generation m u ß sich dieser Freiheit wieder bewußt werden: „Daß immer Dir dein Vaterland / Lieb wie die Freyheit, sey" (61). Aber Unabhängigkeit allein genügt nicht. Historisch ist der schweizerische Ursprung ein Kampf gegen „Tyrannen". Der Begriff des „Tyrannen" kehrt häufig wieder, häufig auch bezogen auf die Gegenwart der absolutistischen Monarchien (42.45.49): „Helvetier, du bist kein Sklave, - bist kein Fürst" (86). Es geht dabei nicht nur u m republikanisches Verhalten im politischen Bereich. Es geht u m den „Freiheitssinn" an sich. Lavater postuliert: „Verachtung gib dem Frechen, / Der Treue Dummheit nennt und Freyheitssinn Verbrechen" (87). Im „Lied einer glüklichen Republik" heißt es: .Jeder darf die Wahrheit lieben . . . Jeder jede Tugend üben, die er üben will und kann" (42). Es geht hier u m die ethische und die geistige Freiheit. An einer Stelle kommt Lavater sogar auf die Freiheit der Forschung, der Wissenschaft, zu sprechen: „Ich will nicht, daß du d u m m der Wissenschaften lachest" (86). W i e oft lachten doch die politisch und wirtschaftlich Mächtigen über die geistigen B e m ü hungen ihrer gelehrten Mitbürger, statt stolz zu sein auf deren Leistungen, die im Ausland hohe Anerkennung fanden.

XI. Tugend als Inbegriff des schweizerischen Patriotismus H ö h e r als die Freiheit steht die Tugend: „Die Tugend nur macht frey" (87). „Tugend" hat im 18.Jahrhundert noch ihren unbedingten Stellenwert. Der Begriff ist aber im Laufe der neueren Zeit zu Biederkeit, zu Bravheit, ja zur Scheinheiligkeit geworden. Der Begriff war einst stark und kraftvoll wie der Begriff der antiken „virtus". Tugend schließt keineswegs Lebensfreude aus. Der richtige Schweizer ist der, der „was ihm Gott gibt, froh genießt" (35). Wieviele „Schweizerlieder" sind nicht „froh", „lebhaft", „lustig", „vergnügt, freudig" zu singen! Man weiß wie Lavater in Schinzach dafür besorgt war, alles in fröhlichen Betrieb zu setzen! Es geht etwas Heiter-Strahlendes von Lavaters Tugendbegriff aus. Der Dienst an der Tugend ist das, was man damals Patriotismus nannte. Patriotismus umfaßt all das, was wir versucht haben unter einzelnen thematischen Aspekten abzuwandeln. Er beruht an sich auf dem Geschichtsbild, dem Rückgriff auf die heroische Epoche. Sein Symbol wird immer mehr die 312

erhabene Alpenwelt. Patriotismus ist das Bewußtsein der nationalen Einigkeit und der konfessionellen Toleranz. Patriotismus ist das republikanische Bewußtsein im engern Sinn, das auf der Gleichheitsidee beruht. Patriotisch ist der Appell an die Gerechtigkeit und den Ordnungssinn, patriotisch das Arbeitsethos und die moralische Festigung der Nation. Der Patriotismus gipfelt in der Idee der Freiheit im Sinn von Unabhängigkeit und im Sinn bürgerlicher Freiheit. D e r Patriotismus setzt das Wissen u m eine schweizerische Aufgabe in der Welt voraus. N o c h nicht angesprochen wird die Viersprachigkeit als Beispiel des friedlichen Zusammenlebens von verschiedenen nationalen Idiomen. Viersprachigkeit wird erst zum nationalen Identitätsfaktor mit der Schaffung eines gesamtschweizerischen modernen Staates, sei es durch die Helvetik oder durch den Bundesstaat von 1848. Auch die soziale Frage existiert bei Lavater nur als Mitleid mit den Armen, als christliches Almosendenken. Sie ist erst in Ansätzen vorhanden, bis dann die endgültige Industrialisierung die Sozialgesetzgebung zur Notwendigkeit machte. Weiterhin fehlt bei Lavater das traditionelle Symbol u n d Zeichen der Schweiz. In keinem der Schweizerlieder wird auf das „Schweizerkreuz" angespielt. Das entspricht den Vorstellungen des 18.Jahrhunderts. Das Schweizerkreuz war einst das Zeichen schweizerischer Verbundenheit, und auch die Humanisten wußten u m die „crux helvetica". Das weiße Kreuz lag zwar noch auf den kantonalfarbenen Militärfahnen, war aber nur noch eine schwache Andeutung des Gesamtzusammenhanges. Erst nach Lavater, erst in der romantischen Restaurationszeit und der liberalen Volksbewegung wird das Schweizerkreuz wieder entdeckt und wird zum „weissen Kreuz im roten Feld" der vielen Vaterlandslieder. Es fehlt auch die Muttergestalt der „Helvetia", die wie die „Germania", die „Gallia", die „Italia" wenig aussagend das nachfolgende Jahrhundert dick und marmorn beherrschen wird. Lavater spricht nur die „Mut[t]er Freyheit" an (74). Die „Mutter Freyheit" ist es, die über der Tugend wacht. Man spricht damals von „Schweizertugenden". Die Tugend soll fortan „sicherer" gehen. Sie soll nicht mehr weiterhin der Verachtung anheimfallen. Gegen die philosophischen Skeptiker und die libertinistischen Rokokodichter gewandt, sagt Lavater: „Warum belacht Ihr jeden Dichter, / D e m Tugend über alles gilt?" (75). Mit Bodmer erklärt er: „Nein! was nicht gut ist, ist nicht schön!" (75). Es geht u m den „Moralischen Geschmak", dem „alle meine Lieder" geweiht sind (75). Lavater nimmt in diesem rationalistischen Zeitalter auch die ratio in Anspruch: „Vernunft, D u sollst das Urtheil sprechen!/ Du, Tugend, ihr zur Seite stehn" (75). Letztlich wacht über allem die Vorstellung, daß die Schweiz eine Nation vor Gott ist. „Der Gott, der immer helfen kann / der half uns; singt ihm Dank", heißt es i m Morgartenlied (13). Wer sein Leben für andere hingibt, „Der ist ein Schweizer u n d ein Christ" (35). „Der wägste Bürger, beßte Christ; / Der werde unser Meister!" verlangt er im Lied über die Zunftmei313

sterwahl (53). Der „fromme Schweizer", der später im „Schweizerpsalm" angesprochen wird, ist schon im „Lied eines Schweizerischen Geisdichen" vorausgenommen (59). W e n n der Begriff „Schweizer" ab und zu durch den Begriff „Bruder" ersetzt ist, klingt religiöses Verständnis an. Schließlich setzt Lavater „Bruder Niclaus von der Flüe", den „Heiligen", neben „Vater" Teil (8): „Wo, Brüder! ist ein frömmrer Bether / Ein beßrer Bürger in der Welt?" (31). Nikolaus von der Flüe als „Menschenfreund" angesprochen, im Sinn von M i rabeaus „Ami de l ' h o m m e " oder von Iselins „Menschenfreundschaft". Wir können mit Andreas Lindt sagen, daß es hier u m „christlich verklärten Bürgersinn" gehe. 22

XII. Lavaters Patriotische Kritik Die dritte Auflage der Schweizerlieder von 1768 schloß Lavater mit dem „Lied des Schweizerliederdichters" ab. Er fand, „Genug hab ich Dir nun gesungen, / Mein herzgeliebtes Vaterland" (73). Er hatte für die Jünglinge gesungen. Es singen seine Lieder die „Schweizerbauern", die „Schweizermütter", „Väter", „Töchter" und nicht nur der „volle C h o r " in Schinznach. Es war „Schön, bey des Mondes Silberlicht, / Von Tugend und von Gott zu dichten" (75). Etwas triumphalistisch stellt er fest, „Euch jauchzt mein Lied den vollen Seegen / des künftigen Geschlechts entgegen" (75). Sieben Jahre danach — als eine vierte Auflage nötig wurde — wechselt Ton und Haltung. Abschließend verfaßt er den „Zuruf des Schweizerliederdichters." Der Zuruf beginnt mit den Worten „ N o c h einmal, Vaterland, du meiner Freuden Freude, / Erheb ich meine Stimm, und klage, was ich leide" (86). Die Klage lautet: „Ach! Sinken seh ich dich — seh' deine Hoheit fallen" (86). Fühllos ist der Helvetier für die „Hoheit der Natur": „Wir stehn am Quell der Kraft und schöpfen keine Stärke!/ Die Kunst der Weichlichkeit zerstampfet jede Spur" (86). Die alten Heldenväter sind im heutigen Geschlecht nicht mehr zu finden: „ W o ist noch Spur von dem, was alte Schriften melden [...]?" (86). Lavater wollte Helden vorstellen — nur stolz auf „Recht und Gott." Er wollte aber nicht, daß die jetzigen Schweizer gleich werden der alten „Krieger Schaar, / so trozig, roh u n d wild, wie's jene Vorzeit war" (86). Hier klingt ein Erschrecken an über die Barbarei der alten Schweizer, die er eigentlich als einfache, starke, tapfere Menschen sehen wollte, im Gegensatz zu den Zeitgenossen, die nur noch „in Sammt und Seide" einhergehen können, fernab vom „rohen Zwillich-Kleide" (86) der Vorfahren. W e n n die Schweizer so weitermachen mit ihrem Luxus und ihrer „Weichlichkeit", dann: „Morgen schon seid ihr der Fürsten Beute" (87). Warum so plötzlich dieser skeptische, klagende Ton? Als Lavater den „ Z u r u f ' schrieb, schien ja alles noch gut zu gehen. Man hatte eben die schlimme 314

Wirtschaftskrise der Siebzigeijahre überwunden. Kein Untertanenaufstand trübte die Ruhe der Republiken, selbst Genf genoß eine Ruhepause seiner permanenten Verfassungswirren. Die ihm so teure Helvetische Gesellschaft hatte ihre innere Krise überwunden und erlebte gerade durch sein Zutun eine neue Blütezeit. Und in Europa befand man sich seit einem Dutzend von Jahren in politisch-militärischem Frieden. Lavater aber sieht ahnungsvoll jener Zukunft entgegen, die dann mit der Französischen Revolution einen tiefen Graben zwischen progressiven und reaktionären Kräften heraufbeschwören sollte. Die Jahre kamen, in denen man sich schämte, Lavaters Lieder weiterzusingen. Aber dann, mit der großen freiheitlichen Bewegung von den Zwanzigerjahren an, da brach Lavaters Schweizerliederwelt wieder auf, stärker denn j e und in vier Sprachen — wenn auch nicht mehr mit Lavaters Worten, sondern in zeitgemäßeren, aber im Inhalt und in der Haltung und der Zuversicht den alten Schweizerliedern und ihrem Patriotismus sehr ähnlich, ja fast gleich. Einzelne Lieder - wie „Der Schweizer" — konnten sich sogar noch lange halten. Die Vorväter wurden nun endgültig zum großen Beispiel und die hehre Natur zu deren Symbol. — Vergeblich hatte Lavater nicht gesungen. Patriotismus ist bei Lavater keine rhetorische Angelegenheit, so viel übertriebene Rhetorik in den Schweizerliedern auch aufgewendet wird. Lavater besaß den persönlichen Mut, seinen Patriotismus zu leben, der ihn nicht nur kühne Predigten halten ließ, sondern zu Beginn und zu Ende seines Lebens der politischen Verfolgung überantwortete. Da stand er dann wie ein „alter Schweizer", heldenhaft wie die Vorväter - aber im Gewand und mit der Sprache des aufklärerischen Zeitalters. Er ist dem ausgesprochen stadtrepublikanisch-schweizerischen Erbe als reformierter Pfarrer ganz besonders verpflichtet, im zwinglischen Sinn des Wächteramtes: Teilhaber der Obrigkeit und gleichzeitig ihr patriotisches Gewissen.

Anmerkungen Vorbemerkung Die in Klammern gesetzten Zahlen sind ein Hinweis auf die entsprechenden Seiten in: Schweizerlieder mit Melodieen, des l.ten Theils vermehrte 4.te Auflage, gedruckt und verlegt bey David Bürkli: Zürich 1796. 1 2 3 4 5

Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werkel, hg. von Ernst Staehelin, Zürich 1943, 33-40. Ebd. 39. Ebd. 40. Ulrich Im H o f und François de Capitani, Die Helvetische Geselbchaft, Frauenfeld 1983, passim. Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18.Jahrhundert III, Tübingen 1925, 2 2 1 - 4 3 9 . Paul Wernle, Der Schweizerische Protestantismus in der Zeit der Hel-

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vetik, 2 Bde., Zürich 1938/Basel 1942. Wolfgang von Wartburg, Zürich und die französische Revolution, Basel 1956. Karl Pestalozzi, „Dem Evangelium verpflichtet - dem Staat verpflichtet, Johann Caspar Lavater (1741-1801)", Vortrag, 8. September 1981 (Ms). J. C. Lavaters ausgewählte Werke IV (s. Anm. 1), 132f. Ebd. 169 („An das Helvetische Direktorium in Aarau zu Händen der Gesetzgeber, l.Juli 1798"). Im H o f / d e Capitani, Helvetische Gesellschaß I (s. Anm. 4), 199f. Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft 1 766, 87. Auskünfte von Emil Erne und Hanspeter Marti (Bearbeiter der Périodiques suisses, 1. Hälfte 18. Jahrhundert). Auskünfte von Hellmut Thomke, Universität Bern. Vgl. Vorbemerkung. Im H o f / d e Capitani, Helvetische Gesellschaft I (s. Anm. 4), 243. Ulrich Im Hof, „Pietismus und ökumenischer Patriotismus. Zu Lavaters,Schweizerliedern' ", in: Pietismus und Neuzeit 11, Göttingen 1985: Hoffnung der Kirche und Erneuerung der Welt. Festschriftfür Andreas Lindt, hier 100. H. C. Fischer, „Auf die Tagsatzung zu Frauenfeld", „Schweizerlieder von verschiedenen Verfassern", 2. Teil zu Lavaters Schweizerliedern, 2. Aufl. Zürich 1798, 54/55. Ulrich Im Hof (s. Anm. 14), 103 f. Ebd. 104, Anm. 48-50. Hans Utz, „Ein Opfer der bernischen Zensur: Pfarrer Herborts Buch .Versuch über wichtige Wahrheiten zur Glückseligkeit der Menschen, 1766' ", in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 44, 1957. Ulrich Im Hof, Isaak Iselin I, Basel 1947, 148 f. Ulrich Im Hof, „Freiheit der Untertanen? Aus den Diskussionen in der Helvetischen Gesellschaft", in: Von derfreien Gemeinde zum föderalistischen Europa. Festschriftfür Adolf Gasser, Berlin 1983, 63-76. Schweizerlieder, 3. Aufl., 285. Im H o f / d e Capitani, Helvetische Gesellschaft I (s. Anm. 4), 172f. Andreas Lindt, „Zum Verhältnis der Konfessionen in der Schweiz im 18. Jahrhundert", in: Zwischen Polemik und Irenik, Untersuchungen zum Verhältnis der Konfessionen im späten 18. und frühen 19.fahrhundert, hg. von Georg Schwaiger, Göttingen 1977, 62.

PETER W A L S E R - W I L H E L M

„... bis die Gerechtigkeit die Muse der Historie ihr zum Beystand aufgerufen." Zum Waser-Handel 1780: Bonstetten, Johannes von Müller und Lavater Karl Viktor von Bonstetten, einem alten Zürcher Geschlecht entstammend, aber aus einem Berner Zweig hervorgegangen — aus einem der sechs renommierten Berner Patriziergeschlechter — war vier Jahre jünger als Lavater, und sein Leben endete wenige Wochen vor demjenigen Goethes, mit dem er im hohen Alter in Verbindung gestanden hatte.1 Bonstetten verbrachte die erste Hälfte seines Lebens in Bern, die zweite in Genf, und nahezu ein Jahrzehnt weilte er im Ausland, in Holland, England, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Italien. Neugier, scharfe Beobachtung und Vielseitigkeit verbanden sich in Bonstetten mit einer Witterung für gesellschaftliche Wandlungen und mit einem Liberalismus, durch den er sich, in der Republik Bern selber politisch aktiv, nicht nur Freunde gemacht, sondern auch Verachtung und Haß eingehandelt hat. Letzteres war ein Grund, warum er nach der Jahrhundertwende seinen Wohnsitz von Bern nach Genf verlegte. Dort wechselte er als Schriftsteller für immer in die französische Sprache. Bonstetten hatte seit den sechziger Jahren gute und dauerhafte Beziehungen nach Zürich. Salomon Geßner schätzte seine französische Idyllendichtung, mit Johann Heinrich Füßli, dem späteren Nachfolger Bodmers als Professor der vaterländischen Geschichte in Zürich, Verleger, Politiker, Obmann, verband ihn eine lebenslange Freundschaft, so wie mit dem „Ausland-Zürcher" Jakob Heinrich Meister, dem Pariser Meister. Der gleichaltrige Kaufmann Johannes Bürkli und dessen Gattin Ursula, geb. Schultheß, gewährten ihm Gastrecht in Zürich, so wie er ihnen in Nyon. — Bonstettens Beziehung zu Lavater war kühl, und sie wurde erst in den neunziger Jahren ein wenig erwärmt durch die Vermittlung der deutsch-dänischen Dichterin Friederike Brun, geb. Münter. Die Beziehungen Bonstettens nach Zürich gehen zu einem Teil zurück auf seine Studienzeit in Genf in den Jahren 1763—66, als sich nicht wenige junge Zürcher Patrioten für kürzere Zeit dort aufhielten 2 — damals hat er in Genf Meister kennengelernt und vermutlich durch ihn 1764 auch Lavater - , zu einem andern Teil auf die Helvetische Gesellschaft, an deren Jahresversamm317

lungen er 1767 erstmals teilgenommen hat, mit Salomon Geßner, Lavater und Füßli. Sechs Jahre später, an der Versammlung von 1773, tauchte auch ein junger SchaQhauser Griechischprofessor in Schinznach auf, Johann Müller, der später als der Historiker, Publizist, Diplomat und Staatsmann Johannes von Müller zu Berühmtheit gelangt ist.3 Am ersten Versammlungstag, am 10. Mai 1773, verließen Bonstetten und Müller die Schinznacher Gesellschaft, um einander droben auf den Trümmern der Habsburg bei Blitz und Donner ewige Freundschaft zu geloben. Das Ereignis blieb nicht unbemerkt. Bonstetten, achtundzwanzigjährig, war der Sohn des zweithöchsten Amtsträgers der Republik Bern, Müller, erst einundzwanzigjährig, von sonderbarem Aussehen und Benehmen, der Sohn eines Schafïhauser Pfarrers. Lavaters Freundschafts-Orakel ist in einem Brief Müllers an Johann Wilhelm Ludwig Gleim aus dem folgenden Jahre festgehalten: „Lavater fand unsere Physiognomie, also unsere Charakter aus der Maaßen verschieden. Wir gestehen einige Verschiedenheit der Nebenzüge; die Verschiedenheit unserer Erziehung und dieses Einen große Reisen hatten sie unausweichlich gemacht. Aber das Ganze des Characters, sein Wesen, unser Vergnügen, unsre Geisteskräfte, derselben Proportion in unsern Seelen, fänden wir nach dem anhaltendsten Briefwechsel, nach täglichem Umgang vieler Wochen, nach dem Zeugniß aller die uns sahen und kennen, so übereinstimmend, so identisch, daß dieser H[err] v[on] Bonstetten aus Bern mein Freünd wurde, wie Sie Jacobi's seiner sind. Hier in Genf findet man unsre Züge selbst gewißermaßen so ähnlich, daß mich einige, die mich nicht kannten, fur meines Freündes verwandten hielten." 4 Der junge Müller wollte Lavaters Orakel nicht wahrhaben. 5 Nach Lavater wäre physiognomische Gleichartigkeit die Voraussetzung fur eine dauerhafte Freundschaft mit Bonstetten gewesen. 6 Dennoch schien dieser Freundschaft Dauer beschieden zu sein. Und in der Tat sollte sie sich, durch manche Stürme und eine jahrelange Entfremdung hindurch, als unauflöslich und als sehr fruchtbar erweisen. Lavaters physiognomische Täuschung — wenn es eine war — mag daraus erklärlich sein, daß, nach Bonstettens Worten, nichts auffallender war „als der kontrast zwischen M[üllers] aüßerm und seiner innern Bildung". 7 Lassen Sie mich aus der Frühgeschichte von Bonstettens Freundschaft mit Müller zwei Aspekte herausheben. Der ente: Beide jungen Freunde verdankten ihre innere Bildung sowie ihren gesellschaftlichen Umgang in hohem Maße ihren mehrjährigen Aufenthalten in Genf Diese weltoffene Stadtrepublik überragte im 18.Jahrhundert die andern Städte der Schweiz nicht nur durch die Bevölkerungszahl, sondern auch durch die höchst erfolgreiche Zusammenarbeit von wirtschafdicher, industrieller, politischer und wissenschaftlicher Intelligenz. Der hohe Bildungsstand der Bevölkerung kam in einer sprachkräftigen öffentlichen Meinung zum Ausdruck. Die politischen Auseinandersetzungen der aristokratisch-oligarchischen Négatifs und der demokratischen Représentants führten die Republik mehrmals an den Rand des Bürgerkriegs. 318

Bonstetten und Müller hatten als junge Männer in Genf j e eine der härtesten politischen Auseinandersetzungen erlebt, Bonstetten in den 1760er, Müller in den siebziger Jahren. Der Patriziersohn Bonstetten reagierte darauf durch eine demokratische Wendung, der Bürgersohn Müller durch eine Huldigung an die Aristokratie. Die politische Impfung, die ihnen in den Straßen der Genfer Unterstadt und in den Salons der Oberstadt verabreicht wurde, blieb nachhaltig, und dies ganz besonders in einer Hinsicht: Beide reagierten fortan heftig auf alle Anzeichen von Staatsgeheimnis, von obrigkeidicher Geheimniskrämerei und obrigkeidicher Zensur. Bonstetten blieb zeidebens ein Vorkämpfer und Verfechter der Pressefreiheit, Müller schmiedete sich in Genf das Instrumentarium, um nicht zu sagen das Waffenarsenal, seiner künftigen publizistischen Tätigkeit. Der zweite Aspekt dieser frühen Freundschaft: Müller gewann daraus den Mut und die Kraft zu seinem ersten großen publizistischen Werk. Es entsprang im Mai 1776 dem Briefwechsel mit Bonstetten und wuchs während eines Jahres heran in der fortwährenden Spannung zwischen dem Freundschaftsdialog und der Anrede an die Menschheit. Müller schrieb es in französischer Sprache nieder - im Hause seines Mentors Charles Bonnet in Genthod — und übertrug es gleichzeitig in die Sprache der Alten Eidgenossenschaft, ins Deutsche. Während dieser Übertragung vollzog sich ein Prozeß der politischen Selbstzensur, der sich unmittelbar beobachten läßt, wenn man die französische und die deutsche Fassung nebeneinander hält.8 Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs in dieses Müllersche Frühwerk von 1776-77. Er wird uns die Richtung vorgeben, in der wir Müllers Konfrontation mit Lavater im zürcherischen Waser-Handel sichten werden. - Müller schließt die Vorrede seines Frühwerks mit einer Ermahnung der Wissenschaften zu ihrer politischen Verantwortung: „Es ist den Wissenschafften eigen, daß sie dem Gemüth jene Hoheit geben, welche ihm Herzhafftigkeit einflößt, jene Grösse, mit welcher es R a n g und Reichthum verachtet. Sie [die Wissenschaften] geben dem Geist jene Unabhängigkeit, mit welcher er die Völker und ihre Vorsteher richtet, und erhaben über Schmeicheley und Neid, Herr der Unsterblichkeit, Lehrer der Nachwelt, den folgenden Zeitaltern Zeügniß bringt von den Lastern der Grossen, von dem Geheimniß der Scheinheiligen, von dem unerkannten Verdienst." 9 Müller ruft in seinem Werk dazu auf, gute Bürger sollten überall in der Schweiz aufstehen und die Begebenheiten ihrer Gegenden in schlichter Einfachheit aufzeichnen, zum Schrecken der Tyrannen. 10 Der allgemeine Aspekt vom politischen Wächteramt der Wissenschaften verbindet sich an einer Stelle von Müllers Buch mit der Ablehnung des Bluturteils. Müller gibt da zu bedenken, daß durch die unerbittliche Strenge freier Männer, welche die Geschichten aufschrieben, Tyrannen in denjenigen Augenblicken zurückgehalten werden könnten, da sie, durch Schmeichelei und Leidenschaften verblendet, blutige Urteile unterzeichnen wollten. 11 Müller mißbilligt die Todesstrafe, weil sie den Schuldigen der Möglichkeit 319

beraube, „einst seines Daseyns würdig zu werden". 1 2 Müllers Ablehnung des Bluturteils entsprach Bonstettens entschiedener Verurteilung von Folter u n d Todesstrafe. Bonstetten hatte während seines ersten Aufenthalts in Italien, im Frühjahr 1774, Zutritt zum Kreis der Riformatori Lombardi erhalten, dem die Brüder Pietro u n d Alessandro Verri, Paolo Frisi und Cesare Beccaria und andere angehörten. Durch Bonstettens Italienbriefe an Müller ist übrigens eine Anekdote überliefert, die daraufschließen läßt, daß die Anregung zu Beccarias 1764 erschienenem berühmten Buch Dei Delitti e delle Pette indirekt auf den deutschen Rechtsgelehrten Christian Thomasius zurückging. 13 So weit der Exkurs in Müllers Frühwerk. Müller gedachte die beiden Versionen im Ausland zu veröffentlichen, u m die schweizerische Zensur zu u m gehen. Nach einer Aussprache mit Bonstetten entschloß er sich, beide Versionen zurückzubehalten und die deutsche Fassung gänzlich umzuarbeiten. Teile der neuen deutschen Fassung wurden 1777 von der Berner Bücherzensur zurückgewiesen. N u n reifte in Müller der Entschluß, Genf u n d die Schweiz zu verlassen und sich nach Berlin in die Nähe seines großen Helden Friedrich zu begeben. Als Empfehlungsbrief schrieb er ein drittes Buch, seine Geschichten der Schweizer. Zur Umgehung der Zensur ließ er das Buch, unter N e n n u n g seines Verfassernamens, in Boston erscheinen — ein Deckname für Bern. Dorthin, zu Bonstetten, begab er sich im Mai 1780, u m vor seiner Abreise nach Berlin den Druck zu überwachen und zu beschleunigen. In Bern erhielten Müller und Bonstetten anfangs Juni 1780 aus Zürich die Nachricht von der Hinrichtung des Theologen und vielfältigen Publizisten Johann Heinrich Waser, der auch ein Mann der Wissenschaften gewesen war. 14 Müller reagierte sogleich. Er rückte in das Quellenverzeichnis seines Buches, zwischen Vorrede und erstem Kapitel, die folgende Bemerkung ein: „Die Besizer der ungedruckten Urkunden bitten sehr verschwiegen zu bleiben, dann wol eher haben ein Bürgermeister und Rath, in diesem achtzehenden Jahrhundert, mitten in Europa, vor den Augen gesitteter Nationen, einen gelehrten Mann auf den Argwohn einer bösen Absicht mit einem alten Brief alsobald hinzurichten keine Scheu getragen; zu lang beschirmte Dunkelheit Staaten und Minister vor dem Aug der Welt, bis die Gerechtigkeit die Muse der H i storie ihr zum Beystand aufgerufen." 15 Müller spielte damit auf den Kasus an, daß Waser, nach seinem eigenen Geständnis, einen widerrechdich zurückbehaltenen österreichischen Pfandbrief über die Grafschaft Kyburg, worin die von Zürich erworbenen R e c h t e über den nordösdichen Kantonsteil verzeichnet waren, im äußersten Falle der N o t zu seinem Nutzen zu gebrauchen, nach der Auslegung seiner Richter dem österreichischen H o f zum Schaden des Vaterlandes zuzuspielen beabsichtigt hatte. Einen Monat nach der Veröffentlichung seiner Geschichten der Schweizer mit der bösen Bemerkung über Zürich erreichte Müller auf dem Weg nach Berlin in Schaffhausen, w o er bei seiner Mutter eingekehrt war, ein Brief Lavaters v o m 26. August 1780. 16

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Lavaters umfangreicher Brief an Müller hat die Schlagkraft und die Schärfe einer zermürbenden Anklageschrift. Lavater stellt sich schützend vor die Zürcher Obrigkeit und fordert Müller zum öffendichen Widerrufseiner Bemerkung auf. Wasers Vergehungen und Verbrechen hätten, schreibt Lavater, „zusammen genommen", ihm seinen Kopf gekostet. Lavater gliedert Wasers Schuldentotal in die Einzelposten auf: zwei Pressevergehen (ein nachweisbares und ein mutmaßlich beabsichtigtes), Entwendung und förmlicher Diebstahl, Vorenthaltung geliehener Urkunden, Vernichtung von Urkunden, die von Müller anvisierte böse Absicht mit dem Kyburgerbrief und endlich Wasers Bekenntnis, „er habe sich ausser aller Verbindlichkeit gegen Obrigkeit und Vaterland zu sein geglaubt". Diese exakte Auflistung von Wasers todeswürdigen Vergehungen und Verbrechen stellt Lavater der Leichtfertigkeit Müllers gegenüber, des jungen Gelehrten, der es, wie Lavater schreibt, an der „eines Geschichtschreibers höchst würdigen Untersuchung und Nachfrage" nach der Wahrheit habe fehlen lassen. Lavater setzt klare Grenzen. Er verwehrt Müller ausdrücklich eine Diskussion darüber, ob das obrigkeidiche Bluturteil gerecht oder ungerecht gewesen sei. Lavater stellt klar: „Wir untersuchen blos, ,ob Ihre Erzählung oder meine von Wasers Verbrechen wahr oder nicht wahr sey'." Und er fordert Müller auf, „die öffendich gesagte Unwahrheit durch öffentlich bezeugte Wahrheit zu vernichten, und auf diese Weise mit der Wahrheit zugleich [sein] Geschichtschreiber ansehen zu retten." Lavater unterläßt es nicht, Müller zu parodieren: „Wenn es deütsch und möglich wäre, mein werthester Herr Profeßor, daß die Gerechtigkeit die Muse der Historie anrufen könnte, so würd ich meinen Brief schließen wie Sie Ihre Anmerkung." 17 Müller antwortete Lavater sogleich, aber nicht deutsch, sondern französisch.18 ,Je Vous remercie de Votre lettre autant que si elle m'avoit appris quelque chose." Er weist den Vorwurf der Leichtfertigkeit zurück. Er habe seine Bemerkung nicht auf das Hörensagen gestützt, sondern auf Akten, auf das obrigkeitliche Kriminalurteil und auf das Finalverhör19 mit Waser. Das obrigkeidiche Urteil brauche er freilich nicht mehr zu kommentieren; der österreichische Hof und die frei denkenden Menschen in Europa, ja auch in der Schweiz, hätten dies bereits getan. Die Zürcher Regierung möge sein Buch verbieten oder verbrennen, um dem Lärm um Waser ein Ende zu bereiten. Ja, er, Müller, werde seine inkriminierte Bemerkung sogar widerrufen, wenn man dies wünsche, dann aber in der Fortsetzung seines Werks jene U r kunden, auf welche sich die zürcherischen Hoheitsrechte stützten, auf ihre Beschaffenheit prüfen. Vielleicht werde man dann erkennen, daß man in Z ü rich Menschen, welche solche Urkunden zu veröffendichen gedächten, nicht ohne Grund dem Tod überantworte. Man gebe sich falschen Hoffnungen hin, wenn man ihn, Müller, einzuschüchtern versuche. Und er schließt seinen Brief mit dem Satz: „Qu'il serait aisé à Votre gouvernemfen]' de faire mourir de leur belle mort toutes les vaines disputes et tous les mauvais propos, s'il publioit toute la procédure de cette fameuse cause. Tout autre moyen repondoit mal à l'opinion que j'ai de sa sagesse; toute autre moyen ne serait pas de 321

ce siecle et ne sauroit reiissir." Lavaters Parodie kontert Müller mit dem sarkastischen Satz: ,Je Vous remercie, Monsieur, de la remarque qu'on ne sauroit dire en allemand que Themis implore le secours des Muses; effectivement j e m'apperçois qu'elle n'en profite gueres." 20 Es ist eine Frage, was Lavater dazu bewogen haben könnte, Müller in einem privaten Brief zum Fall Waser in derartiger Schärfe zu attackieren. Ich gestehe, daß mir Lavaters Vorgehen rätselhaft bleibt, auch wenn die nachfolgenden Überlegungen etwas fur sich haben mögen. Müller hat in Lavaters Attacke offenbar nicht nur dessen eigenen Antrieb vermutet, sondern auch den Versuch der zürcherischen Obrigkeit, ihn durch den Psychologen Lavater auf privatbrieflichem Wege mürbe machen und auf den W e g des öffentlichen Bußfälls weisen zu lassen. Jedenfalls gibt Müller in seiner Antwort an Lavater zu erkennen, daß er nicht dessen eigene Sprache zu hören glaube: „Sans doute les mots si souvent répétés dans Votre lettre, Lüge und Verdrehung, ne s'adressent point à moi; Vous êtes Monsieur trop aimable, trop poli, Vous avés trop d'usage du monde pour ignorer que ces gros mots [ne se] prononcent plus entre les honnêtes gens." Auf der andern Seite gab sich Lavater in seinem Brief derart selbstsicher und überlegen, daß er offenbar des Erfolgs seiner Attacke gewiß war. Wahrscheinlich verließ er sich auf das Urteil über Müller, das er sich zur Zeit von Müllen Freundschaftsbündnis mit Bonstetten gebildet und damals in die folgenden, später oft zitierten Worte gefaßt hatte: „Müller ist ein zwanzigjähriges Monstrum Eruditionis. Er hat das beste Herz, aber ist im Schreiben dreist und absprechend [...]. Genie hat er gewiß. Er steht bei vielen Gelehrten in großer Achtung. [... ] Er hat [... ] das Gute, daß er sich gern belehren läßt und sich leicht schämen kann. [... ] Ich glaube, man kann aus ihm machen, was man will." 21 Ich nehme nicht an, daß sich Lavater gegen sein eigenes Gewissen einem obrigkeidichen Ansinnen unterzogen hätte, Müller auf brieflichem Wege zurechtzuweisen. 22 Es ist unbezweifelbar, daß Lavater selber Wasers Hinrichtung für gerechtfertigt hielt, und zwar nicht nur jener Vergehungen und Verbrechen wegen, die er in seinem Brief an Müller auflistete. 23 Aus Lavaters Sicht kam in Waser auch der aufklärerische Wahrheitsanspruch selbstherrlicher Wissenschaften zu Fall. In der Predigt, die er am Tage nach Wasers Hinrichtung dem makabren Lehrstück widmete, führte er den Fall des unglücklichen M a n nes unter anderem auf dessen Wissenschaftsdünkel zurück. Lavater warnte in jener denkwürdigen Predigt vor den Anmaßungen der Vielwissenden. „Man hat mehr Wissenschaft als andere", sagte Lavater, „man erkennt gewisse Wahrheiten, man ist über gewisse Vorurtheile und Unwissenheiten gemeiner M e n schen hinweg - das blähet auf; man erspiegelt und gefallt sich in hellem oder vielem Wissen; man hält Wissen für Verdienst, und Erkennen für Tugend; viel Wissenschaft aber giebt der Seele keine Kraft, schwächt vielmehr die Stärke der Tugend." 2 4 In Lavaters Apostrophierung des jungen Müller als Monstrum eruditionis kommt eine Art Schauder auch vor Müllers Vielwissen zum Ausdruck, vor 322

Müllers „Vielheit" - wie dies Lavater einmal genannt hat.25 In Müllers böser öffentlicher Bemerkung über Zürich zeigte seine ungeheure Wissenschaft einen politischen Stachel, den es auszureißen galt. Wir erinnern uns zurück an Müllers Frühwerk, worin die Wissenschaften zu politischer Verantwortung ermahnt wurden. An dieser Stelle ist Karl Viktor von Bonstettens Position zu Lavaters Attacke auf Müller einzublenden. Bonstetten entwarf für Müller ein Libell, worin er die Unterdrückung der Freiheit und die Intoleranz in der Schweiz anprangerte und auf zwei Ursachen zurückführte. 26 Erste Ursache: Die reformierte Frömmigkeit, die sich in engstirnigen Menschen in Fanatismus verwandle und den Geist der Intoleranz fördere. Als Beispiel führt er die Maßregelung eines schweizerischen Geschichtschreiben [d.h. Müllers] durch die Schafïhauser Geisdichkeit an, und er schließt: „Et come dans toute la Suisse ce sont les Eclesiastiques qui président à l'Education et aux etablissemens formés pour les Sciences on concoit aisement combien il y faut de Genie pour arriver à la Médiocrité." Die zweite Ursache der Unfreiheit in der Schweiz: Je korrupter die Regierungen, umso mächtiger ihre Intoleranz. „Delà vient que les Gouvernemens Suisses ou il y a le moins d'abus sont peu intolerans, tandis que ceux ou il y en le plus punissent de mort quiconque ose toucher aux voile qui couvre les sacrés mysteres de leur administration." Auf den Fall Waser ist Bonstetten noch im hohen Alter und lange nach Müllers Ableben mehrmals zurückgekommen. In seinen „Pensées sur divers objets de bien public", 1815 veröffentlicht, spricht er von Gegenden in der Schweiz, „qui ont de temps en temps des accès de folie et pour ainsi dire, de démence religieuse". Als warnendes Beispiel ruft er der Zürcher Jugend den Fall Waser in Erinnerung. „D'après un fait pareil, on peut se faire une idée de ce qu'était la liberté de la presse en Suisse. C'est en signalant et non en cachant les écueils qu'on parvient à rendre plus sûre la marche des gouvernemens." 27 Als Bonstetten in den Zeiten der Restauration, 1826, von Zürchern hörte, die „noch izt Wasen Hinrichtung gut finden", rief er aus: „Welche sonderbare Stadt [wo] so viel Weises neben Unsinn wohnt. Es fehlt ihnen an gesellschaftlichem Leben, und geselliger Verbindung." 28 Ein Jahr später, 1827, forderte er seinen Zürcher Freund Füßli auf, eine Geschichte des Waser-Handels zu veröffentlichen. Er schrieb an Füßli: „Ihr wunderliches Zürich, das Mischmasch von Schwarz und Weiss, von starrer Dummheit und feinem Wiz, ist zu wenig bekannt." 29 Kurz darauf, 1828-29, publizierte der Luzerner Ratsherr Josef Anton Balthasar, der mit Bonstetten in Beziehung stand und ihn hochschätzte, die erste große, nicht durch Parteilichkeit bestimmte Aktensammlung zum Fall Waser, bezeichnenderweise unter dem Titel „Exemplarische Bestrafung eines Pressvergehens". Diese Publikation wird von Historikern noch heute als Quelle benützt. 30 Der erste, welcher öffentlich die Muse der Historie aufgerufen hatte, im Falle des zürcherischen Blutgerichts der Gerechtigkeit beizustehen, war der 323

junge Müller gewesen. Nachdem Müller von Lavater brieflich zum Widerruf aufgefordert worden war, begab sich Bonstetten nach Zürich, um die peinliche Angelegenheit zu recherchieren. Bei seinen Zürcher Freunden, bei Füßli, Johannes Bürkli und andern, fand er Vertrauen, und er war dafiir besorgt, daß sie ihr Vertrauen nicht zu bereuen brauchten. Neben mündlichen Auskünften über verborgene Triebkräfte im obrigkeidichen Verfahren gegen Waser wurden ihm geheime Aktenstücke gegeben. Die Auskünfte, die man ihm gab, sowie seinen Auszug aus dem Tagebuch eines Richters und dazu die Ratsprotokolle (Ratserkenntnisse) übersandte Bonstetten im Dezember 1780 nach Berlin an Johannes Müller. Von dort ging das Aktenpaket im Mai 1781 nach Halberstadt an Müllen väterlichen Freund Gleim, ergänzt um den Brief Lavaters an Müller und um eine Kopie von Müllers Antwort an Lavater. Gleim ließ das Dossier unverzüglich über Deckadressen dem Göttinger Professor August Ludwig Schlözer zugehen, einst Müllers Universitätslehrer und noch immer dessen Freund. In der Folge erfuhr der Waser-Handel seine publizistische Ausweitung zum Zürcher Justizskandal, der „in fast ganz Europa ein lebhaftes und äußerst zwiespältiges Echo"31 fand. Wasers Geschichte wurde zur „Sache der Menschheit", wie damals ein Kunsthistoriker schrieb.32 Die publizistische Ausweitung des Falls und deren Auswirkungen warten auf eine gründliche geschichtliche Darstellung. Sie dürfte auch die Lavater-Biographie interessieren.33

Anmerkungen 1

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Z u Karl Viktor v o n Bonstetten (1745-1832): Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz II, 3 0 8 f . , Nr. 28 (M.-L. Herking). - Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy, II 1 9 8 9 , 1 0 9 f. (Jürg Peter Walser). - Actualité de Bonstetten, Actes de la sixième Journée de Coppet, p . p . J e a n Daniel Candaux, Paris 1983. Bonstettens Studienjahre in G e n f u n d seine Verbindungen mit jungen Zürcher Patrioten in Genf sind durch Briefe und Tagebuchauszüge dokumentiert in: Bonstettiana. Karl Viktor von Bonstetten, Charles Victor de Bonstetten, Briefwechsel und Schriften, hg. v. Doris und Peter Walser-Wilhelm, Erster Teil, Erster Band (in Vorbereitung). Z u Johannes v o n Müller (1752—1809) : .Johannes v o n Müller — Geschichtsschreiber der Goethezeit" (Interdisziplinäres Kolloquium in Bad Homburg vor der H ö h e v o m 2 3 . - 2 6 . Februar 1983), hg. v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, SchaShausen 1986. Müller an Johann Wilhelm Ludwig Gleim am lO.Juli 1774 (Halberstadt, Gleimhaus, Hs. A 2812). - Originaltranskriptionen sind auch im folgenden durch die Angabe des Standorts der Autographen gekennzeichnet. D i e Materialien sind d e m Bonstetten-Archiv des Verf. entnommen. Müller an Christoph Friedrich Nicolai am 1 O.Juli 1773: „In Schinznach war Lavater w i e andere Menschen und wir hatten Vergnügen mit ihm, aber seine R e d e n waren gleichwohl eines übelgeleiteten Enthusiasten Hyperbeln" (zitiert

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nach Karl Henking, Johannes von Müller I, Stuttgart und Berlin 1909,138). — Z u m absprechenden Urteil des jungen Müller (und Gleims, Schlözers) über Lavater vgl. Henking, 107-110. Physiognomische Fragmente [...], von Johann Caspar Lavater. Dritter Versuch. Leipzig und Winterthur 1777, 31: „Zeiget mir, Zweifler — ein Paar würklich vertraute, und nicht nur vertraute - würklich sich liebende — mit einander leidende, nach einander sich sehnende Menschen - die ihre Thaten wie ihre Worte, ihre Erkenntnisse wie ihre Empfindungen sich einander mittheilen - und - heterogenisch gebildet sind!" Bonstetten an Friedrich von Matthisson am 6. Dezember 1821 (Dessau, Stadtbibliothek, Ms. 15/44). Beide Fassungen, als Müllersches Frühwerk bisher unbekannt, sind kürzlich zum erstenmal nach den Handschriften herausgegeben worden: Jean Muller ßean de Muller), Vue Générale de la République Fédérative des Suisses, Version Française. Première Edition. - Johann Müller (Johannes von Müller), Allgemeine Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland. Deutsche Fassung. Erstausgabe. Nach den Handschriften hg. v. Doris und Peter Walser-Wilhelm, 2 Bde., Zürich 1991. Ebd. Anm. 8, dt. Fsg., 33. Ebd. Anm. 8, dt. Fsg., 282. Ebd. Anm. 8, dt. Fsg., 199. - Weitere Belegstellen sind ebd. im Sachregister unter den Stichwörtern „Geschichte, Geschichtschreibung,, usw. und „Kritik, Ermahnung" usw. zu finden. Ebd. Anm. 8, deutsche Fassung, 120, auch 136. Die Anekdote findet sich in Bonstettens Brief an Müller vom 7.-9. Dezember 1773 aus Mailand (Papiers Dominicé, privat): „L'idée de ce livre sort de la tete d'une ferne, une Mad. Bentingh hollandaise [Charlotte Sophie Gräfin Bentinck, 1715-1800] dit un soir au comte Verri (c'etoit à Venise) quelle avoit lu un livre allemand dans lequel l'auteur soutenoit qu'aucun Souverain n'avoit le droit de mettre à mort. Cette idée frapa Verri, il la dit à Beccaria, il[s] la poussèrent, et voila le livre." — Das zürcherische Bluturteil gegen Johann Heinrich Waser (1780) provozierte damals eine kontroverse Beurteilung der zürcherischen Kriminaljustiz und der Todesstrafe — die Kontroverse hält bis in unsere Zeit an. Es trifft nicht generell fur die damalige Schweiz zu, daß die von der Zürcher Justiz gegen Waser vorgebrachten Argumente „in ihrer Zeit zehnmal zur Begründung der Todesstrafe" genügt hätten (Stückelberger, s. Anm. 14, 112). In Bern wäre der Fall Waser offenbar anders beurteilt worden. Bonstetten an Müller am [15. September 1780]: „Mr. le Tres[orier Nikiaus Friedrich von] Steiguer ne vous blâme point, il a toujours soutenu aux Z[urichois] qu'ils avoient fait une Sottise. Il dit que les Intentions peuvent faire qu'on jugera les actions avec plus de rigueur, mais que les actions meme ne sont jamais que ce quelles sont en elles memes. Il en parle come nous; il dit qu'à B[erne] on l'auroit [Waser] peutetre fait arreter et renfermer pour 1. ou 2. ans. Que par rap[ort] à l'acte d'hyp[othétique], c'etoit le Chancelier [Stadtarchivar Landolt] qui etoit coupable; d'autant plus etoit il affreux que le meme Chancelier ait été son acusateur." (Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 63/227) - Vgl. Erich Wettstein, Die Geschichte der Todesstrafe im Kanton Zürich, Diss. Zürich, Winterthur 1958. Eine Mißbilligung der Zürcher Blutjustiz kann man auch einem Brief des aus Rousseaus Biographie bekannten Genfer Generalprokurators Jean-Robert Tronchin an Johann Müller aus dem Jahre 1781 nach Kassel entnehmen. Tronchins Zürcher Gewährsmann war Rats-

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herr David von Wyss (der ältere), der mit Seckelmeister von Steiger in den Genfer Unruhen desselben Jahres zu vermitteln hatte und Tronchins Gast war. Tronchin an Müller am 18. April: „Ne craignés point Zurich, M. r Wyss m'a parlé de vous, fort raisonnablem[en]' et fort naturellem[en]'; il croit q[ue] vous auriés pu vous dispenser de votre note, et il vous le dira t[ou]t bonnemfen]' au besoin; mais il sait q[ue] le jugem[en]' q[ue] vous avés censuré l'a été dans presqfue] t[ou]te l'Allem[agn]e, et d'ailleurs il vous rend justice, et Vous verra avec plaisir." (Ähnlich auch am 13.Juni 1781; Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 66/45—46, 37-38.) 14

Zu Johann Heinrich Waser (1742-1780): C.K. Müller, „Joh. Heinrich Waser, der zürcherische Volkswirthschafter des 18. Jahrhunderts, seine Bestrebungen und Schicksale und sein statistischer Nachlass", in: ZürcherJahrbuchßir Gemeinnützigkeit 1877, 86-166 (auch als Separatabdruck: Zürich 1878). - Adolf Hadorn, Die politischen und sozialen Zustände im Kanton Zürich gegen Ende des 18.Jahrhunderts und Alt-Pfarrer Joh. Heinrich Wasers Prozess und Hinrichtung, Diss. Bern, Biel 1890. Emil Anderegg, Johann Heinrich Waser, sein Leben und sein Werk. Ein Beitrag zur Geschichte der Volkswirtschaft der Stadt Zürich in der 2. Hälfte des 18.Jahrhunderts, Diss. Zürich, Zürich 1932. - Hans Martin Stückelberger, Johann Heinrich Waser von Zürich, Diss. Zürich, Zürich 1932 (mit Zusammenstellung von Wasers veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften sowie der handschriftlichen Quellen im Staatsarchiv und in der Zentralbibliothek Zürich). - Albert Häuser, .Johann Heinrich Waser, Leben und Werk eines großen Volkswirtschafters im Zeitalter der Aufklärung", in: Kultur und Wirtschaft. Festschnji [...] Eugen Böhler, Zürich 1963, 43-58. - Rolf Graber, „Der Waser-Handel, Analyse eines sozialpolitischen Konflikts in der Alten Eidgenossenschaft", in: Schweizerische Zeitschriftjur Geschichte 30, 1980,321-356. - R . Gräber und U. Böschenstein, „Geschichte eines Justizmordes im Alten Zürich", in: Tagesanzeiger-Magazin Nr. 21, 24.5.1980. - Johannes Aider, „Der zürcherische Waserhandel 1780 und seine Ausweitung zum Justizskandal unter Mithilfe des Historikers der Eidgenossen Johannes Müller", in: Schönhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 1987, 7—21.

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Die Geschichten der Schweizer. Durch Johannes Müller. Das Erste Buch. Boston, bey der neuen typographischen Gesellschaft. 1780, XXV-XXVI. Vollständiger Abdruck des Briefs in Anhang A. Bonstetten an Müller am [10. September 1780]: „La phrase que L[avater] critique est de ces malheureuses phrases tronquées - qui devien[nen]t contre-sens." Bonstetten bemühte sich im zitierten Brief erfolglos, die von Lavater parodierte Stelle zu verbessern (Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 63/221). Vollständiger Abdruck des Briefs in Anhang B. In Müllers Brief: „L'interrogatoire du 26 du Mai." Müller meint doch wohl das Final-Examen, dem Waser am Tage der Urteilssprechung und Hinrichtung unterzogen wurde, am 27. Mai 1780. - Kriminalurteil und Final-Examen sind abgedruckt in: Helvetia (s. Anm. 30), Vierter Band, S. 312-318. Lavater war über Müllers Antwort erzürnt. Sogleich nach deren Erhalt, am 6. September 1780, wandte er sich brieflich an August Ludwig Schlözer: „Ich muß Sie bitten, mit Allem, was Sie je über Waser schreiben mögen, nur so lange inne zu halten, bis Sie diese ganze Geschichte haben. Dann, was Sie wollen, so frei Sie wollen, so strenge Sie wollen; nur erst die Geschichte, die der jugendliche Müller, so unwürdig eines Historikers, verstellt hat. Ich habe ihm, wie ich glaubte, bescheiden und ehrlich darüber geschrieben; aber er hat mir nicht wie ein

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gelaßener Freund der Wahrheit geantwortet. Von Ihnen erwarte ich mehr Billigkeit"; vgl. Helvetia (s. Anm.30), Fünfter Band, Aarau 1829, 151. - Bonstetten mißbilligte Müllen Antwort an Lavater: ,Je suis fache que vous ayez repondu a Lfavater], et vous etez bien maladroit de menacer - II falloit moins parier de l'Etat, et moins menager ce lourd predicant, ou encore mieux ne point lui repondré" (Bonstetten an Müller am [10. September 1780], Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 63/221). 21

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Gekürzt zitiert nach Henking (s. Anm. 5), 109 f., aus einem Brief Lavaters an J. J. Spalding. - Über Müllers Verhältnis zu August Friedrich Wilhelm Sack und Johann Joachim Spalding siehe Henking, 87. Als „Zurechtweisung" verstand G. Meyer von Knonau Lavaters Brief an Müller: „Eine briefliche Zurechtweisung johannes Müller's durch Johann Caspar Lavater aus dem Jahre 1780", in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1902, 64-69. Lavaters Brief war jedoch mehr als eine Zurechtweisung. Lavater an August Ludwig Schlözer am 20.Juni 1780: „[Wasers] ganzes Leben und alle seine Handlungen sind verfehlte Experimente. Redlich und gerade heraus: Ich hätte ihn nicht getödtet, aber dann auch wahrlich keinen andern Verbrecher mehr, als die gewalttätigsten Mörder; aber ich bin nun herzlich froh, daß er todt ist. Ich habe Beweise in Händen, daß er immer und immer so gehandelt hätte, daß das Vaterland durch ihn in Gefahr gesetzt worden, oder daß er sich einen noch schrecklichem Tod zubereitet haben würde" (Helvetia (s. Anm.30), Fünfter Band, Aarau 1829, 146). Merkwürdige Schriften und Anecdoten von dem 21. May 1180 in Zürich enthaupteten Prediger Heinrich Waser, Berlin und Leipzig, bey George Jacob Decker, 1780,115 (Abdruck von Lavaters Predigt vom 28. Mai 1780). — Lavater an August Ludwig Schlözer am 20.Juni 1780: „[Waser] hatte zu seinem Unglücke zu viel und zu wenig Kopf, zu viel Wissens, zu wenig Klugheit im Kopfe, und log dabei wie der Satan"; vgl. Helvetia (s. Anm.30), Fünfter Band, Aarau 1829, 146. Bonstetten an Johann Müller am 28.Juni 1786, bezüglich der Gedrängtheit von Müllers Stil im soeben veröffentlichten ersten Band seiner Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft: „Der Spruch pag. X. .Seit als durch Eüere Tugend' — ist die einzige alte Dunkelheitssünde die deine Vielheit — wie Lavater schrieb, begangen hat" (Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 64/157. Hervorhebung von Bonstetten). Schafihausen, Stadtbibliothek, Mülleriana 63/219. Pensées sur divers objets de bien public, par Charles-Victor de Bonstetten. Genève 1815, 226-228. Bonstetten an Johann Heinrich Füßli am 1. Dezember 1826 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. M. 1. 22/27). Bonstetten an Johann Heinrich Füßli am 18. März 1827 (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. M. 1. 22/34). - Auf Bonstettens Ersuchen hatte Füßli schon früher eine Charakteristik Wasers verfaßt. Sie wurde 1824 in Paris anonym veröffentlicht; siehe Anhang C. Helvetia. Denkwürdigkeiten für die XXII Freistaaten der Eidgenossenschaft [hg. von Josef Anton Balthasar], Vierter Band, Aarau 1828, 288—416. Fünfter Band, Aarau 1829, 127-160. Horst Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, 107. - Zur Nachtmahlsweinvergiftung am allgemeinen Büß- und Bettag 1776:

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ebd. 39. — Auf Lavaters Verdächtigung, Waser sei der Urheber der Vergiftung gewesen, wies u. a. Johann Heinrich Füßli hin; s. Anhang C. Über Wasern und seinen Prozeß an Herrn Canonicus Gleim von Wplhelm] G[ottlieb] Becker nebst Herrn Prof. Schlözers zerstreuten Anmerkungen darüber, Frankfurt/M. 1782, 3. Müller selber versuchte offenbar Lavater vor einer allzu scharfen öffentlichen Verurteilung durch Schlözer zu bewahren. Müller an Schlözer am 30. Mai 1781: „Zürich, ja, das ist nicht Bern. Wenn Sie seiner Verbrechen erwähnen, so vergessen Sie die Parallele nicht mit jenem Pasquill gegen den Landvogt Grebel, [... ] das Lavater vor 14 Jahren mit Füßlin unter das Volk ausgestreut hat"; vgl. Helvetia (s. Anm. 30), Fünfter Band, Aarau 1829,160. — Gleims unveröffentlichte satirische Verse auf Lavater sind abgedruckt in: Alder (s. Anm. 14), 18.

Anhang A Johann Caspar Lavater an Johannes Müller Brief, Abschrift vonfremderHand. Zürich, Zentralbibliothek, FA Lav. Ms 575/5. 12 Seiten. Abdruck: ZTb 1902 (vgl. Anm.22). Adressat beantwortet diesen Brief am 4. September 1780 aus Schafihausen.

Aus Müllers Geschichten der Schweizer „Die Besitzer der ungedruckten Urkunden bitten sehr, verschwiegen zu bleiben, dann wohl eher haben ein Bürgermeister u[nd] Rath in diesem achtzehnten Jahrhundert, mitten in Eüropa — vor den Augen gesitteter Nationen — einen gelahrten Mann, auf den Argwohn einer bösen absieht mit einem alten Brief alsobald hinzurichten, keine Scheü getragen. Zu lang beschirmte Dunkelheit Staaten und Minister vor dem Auge der Welt, bis die Gerechtigkeit die Muse der Historie ihr zum Beystand aufgerufen."1 Lieber Herr Profeßor - und so schreiben Sie? Sie wollen dem Publikum insinuiren, daß beym Besiz ungedruckter Urkunden Gefahr sey — daß um des willen, weil man argwohnt, daß vielleicht ein sonst ganz guter unschuldiger Mann bösen Gebrauch davon machen möchte, Hinrichtung zu besorgen sey So schreiben Sie — ? Laßen Sie mich erstaunen — mein Erstaunen Ihnen Brüderlich eids genößisch mittheilen — und den Namen, der mir immer auf die Zunge will, und solche Aüßerung charakterisirt, unterdrüken. . . . Ich will mich vest halten, mein Lieber, und Ihnen ganz gelaßen sagen, was wahr ist - dann werden Sie gewiß von selbst thun, was recht ist. Fehlen ist menschlich, aber geflißentlich im Irrthum verharren — ist — wenigstens nicht christlich. Sie sind wahrhaftig, Sie sind durch Ihre Freünde, und das Publikum ist durch Sie — ganz unrecht berichtet worden. Die mindeste ernsthafte, und eines Geschichtschreibers höchst würdige Untersuchung u[nd] Nachfrage, würde Sie belehrt haben, oder noch belehren können, daß folgende Vergehungen und Verbrechen zusammen genommen, nicht mehr und nicht minder, dem Unglücklichen seinen Kopf gekostet haben. Erstens: Daß Er, wider seine Bürgerliche Pflicht, eine erweislich verleumderische, boshafte und gefahrliche Anmerkung wider seine Landsobrigkeit publizirt, wenigstens den Stoff darzu hergegeben Zweytens: Daß Er sich verschiedener höchstniederträchtiger Entwendungen, auch einiger ganz positiver und förmlicher Diebstähle schuldig gemacht.

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Drittens: Daß Er besonders einige kostbare und zum Theil unersezliche alte Originalurkunden theils entwendet, theils Jahr und Tag vorenthalten, - theils frevendich, und auf gefahr hin, abgelaügnet, und dadurch andern, die ihm ihr zutrauen geschenkt, in die entsezlichste Verlegenheit gesezt Viertens: Daß Er andere, ebenfalls entwendete, oder ungerechter Weise behaltene Staatsurkunden, in der Zeit, w o er Nachforschung besorgte, aus Furcht, daß die Vorfindung dieser und anderer eigener gefahrlicher, und, nach seinem Ausdruk, bosheitvoller Schriften ihm höchst nachtheilig seyn möchte, eigenhändig verbrannt. Fünftens: Daß Er über dieß alles aus - nicht nach bloßem Argwohn - nach seinem eigenen freyen ausdrücklichen Geständnis, von einer der obbesagten U r kunden, im aüßersten Fall der Noth, gegen sein Vaterland verrätherischen Gebrauch zumachen, Willens gewesen — Sechstens: Daß Er eine weitlaüftige Schrift, voller Auszüge aus geheimschriften des Staats, mit der boshaftesten, von ihm selbst gestandenen, und mit Thränen beweynten u[nd] verabscheüten Absicht, Verwirrung und U n r u h ' in sein e m Vaterland anzurichten, aus Rache wegen vermeyndich erlittenen U n rechts, in fremde Hände geliefert, und die Publikazion derselben nach seinem Tode veranstaltet 2 Und endlich: Daß Er mehrmals sich gegen die Obrigkeit, deren Schuz er genoß, und deren er mit Eide zugethan war, in den stärksten ausdrücken aüßerte — Er habe sich außer aller Verbindlichkeit gegen Obrigkeit und Vaterland zu seyn geglaubt. Dieses, mein Lieber, sind die klaren und wahren Verbrechen des unglücklichen Manns, dem zu liebe Sie einen ganzen Staat ununtersuchender Weise prostituiren. Ich will nun gar nicht in die, nicht für mich, sondern vorerst allein für Sie gehörende Untersuchung eintreten: welche von beyden Parthien mehr zu erröthen Ursach habe A.) D e r Bürgermeister und der Rath, der, nach einer langen, sehr ernsthaften Untersuchung, einen solchen Mann, mit zwölfStimmen gegen achte, zum Tod verurtheilt? — oder B.) Der junge Gelehrte, der gleichzeitige Schriftsteller, der helvetische Geschichtschreiber, dem nichts heiliger seyn sollte, als die Wahrheit, nichts abscheülicher, als Lüge und Verdrehung, woraus nichts, als falsche, schiefe und ungerechte Urtheile wider sein Vaterland, entstehen können — Ich sage — D e r Helvetische Geschichtschreiber, der, vor den Augen aller gesitteten Nationen, mitten in Eüropa, mitten in der Schweiz, im achtzehenden Jahrhundert, im Julius 1780. - so falsch, so krumm, und schief, wie möglich, erzählt, und auf diese Weise, wie Sie thaten, darüber abspricht — ? — Ich sage in diese Untersuchung will und darf ich nicht eintreten — Mann urtheile über das Urtheil meiner Obrigkeit, wie man will — dazu hat Jeder Freyheit — Aber der Mensch, der Bürger, der Christ - darf und soll jedem, besonders öffentlichen, Beurtheiler zurufen — „Eh du urtheilst, sey Geschicht-

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Schreiber! Erzähl' erst wahr und ganz den Fall — dein Urtheil hängt von deinen Einsichten und Empfindungen ab - aber nur Wahrheit, nur Geschichte soll das Fundament deiner Beurtheilungen seyn!" Wenn Sie, mein lieber Herr Profeßor! nach genauer Prüfung finden, daß ich dem bedaurenswürdigen Mann eine Sylbe zu viel Verbrechen angedichtet — so will ich nichts weiter von Ihnen verlangen, sondern Ihre verdiente Verachtung tragen — Wenn Sie aber finden werden — und finden müßen, wofern Sie eine wörtliche abschrift aller Punkte irgend einem der Sache kundigen Freünd oder Feind von Wasern — vorgelegt haben werden, daß nicht Ihre, sondern meine Erzählung von den Ursachen seiner traurigen Verurtheilung, die einzig wahre ist, so werde ich Sie wohl nicht bitten oder erinnern dürfen, die öffentlich gesagte Unwahrheit durch öffentlich bezeügte Wahrheit zu vernichten, und auf diese Weise mit der Wahrheit zugleich Ihr Geschichtschreiber ansehen zu retten. — Um allem Misverstand auf die möglichste Weise zuvorzukommen, muß ich wiederholen: Wir untersuchen nicht, „ob das Urtheil über Wasern-gerecht oder ungerecht sey?" Sondern wir untersuchen blos, „Ob Ihre Erzählung oder meine von Wasers Verbrechen wahr oder nicht wahr sey?" Wir haben nichts zu thun, als Ihre Nachricht mit Wasers eigenem Vergicht3 zuvergleichen. Wenn es deutsch und möglich wäre, mein werthester Herr Profeßor. Daß die Gerechtigkeit die Muse der Historie anrufen könnte. So würd ich meinen Brief schließen, wie Sie Ihre Anmerkung; statt deßen sag' ich ganz deütsch und einfaltig: Die Wahrheit und der Freünd der Wahrheit scheüt das Licht der Untersuchung nicht - und wer dieß Licht scheüt, liebt die Wahrheit nicht Aber wir beyde wollen sie lieben, wie Gott - und alle Lüge hasen4, wie den Satan. Zürich den 26.sten Augstm[onat] 1780. Johann Caspar Lavater [Am Briefkopf späterer Vermerk von Lavaters Hand:] Prof Müller in Maynz. 26. VIII. 1780. 5

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Anhang B Johannes Müller an Johann Caspar Lavater Brief, Autograph, signiert, 4 Seiten. Zürich, Zentralbibliothek, FA Lav. Ms. 521/7. Nimmt Bezug auf Brief des Adressaten vom 26. August 1780.

Schafhouse ce 4 de Sept. 80. Je serois un joli historien si j'ecrivois sur des ouï-dire; ce que j'ai dit sur Vaser, j e l'ai écrit d'après la sentence de sa condemnation & l'interrogatoire du 26 du Mai. Néanmoins, Monsieur, j e Vous remercie de Votre lettre autant que si elle m'avoit appris quelque chose. Il ne s'agit point ici de faire le commentaire de cette sentence qui a fait des impressions si sinistres à la Cour de Vienne & révolté tant d'ames libres répandues en Europa. Les lettres que j e reçus dans le tems & d'Angleterre & des Pays-Bas & de diverses parties de la suisse, plusieurs entretiens & mes propres reflexions sur le mauvais état de la procédure criminelle en suisse me firent ecrire ce que Vous avés lû. J'ai crû faire mon devoir, auquel j e ne manquerai jamais. En écartant les mots emphatiques qu'il est si aise d'entasser pour aggraver mon pretendu crime, on trouvera que cet endroit qui fait tant de bruit, n'est que le sentiment particulier d'un auteur qui n'écrit pas assés bien pour se faire lire par beaucoup de persones. Le gouvernement de Zuric désire-t-il de mettre fin à tout ce vacarme sur Vaser? cela est aisé: on defendra, on brûlera, si l'on veut, mon 1er volume6, c'est dans l'ordre, j e le comprends. Quelqu'un de vos savans écrira un bien gros livre en bien bon allemand, où il prouvera que j'ai eû tort & en trois semaines le public n'y songera plus; pour moi je n'en parlerais plus dans le reste de mon ouvrage. J e ferai plus; j e révoquerai, si Vous voulés, ce que j'ai écrit; alorsje discuterai la nature des documens en question, j'exposerai les titre de la domination territoriale du canton & l'origine du pouvoir de la magistrature; peut-être verra-t-on alors que ce n'est pas sans des bonnes raisons qu'on execute ceux qui voudraient divulguer ces titres. Mon cher Monsieur, j'aime la paix, autant & plus que personne & par bien des raisons; mais si on essayerait de m'intimider, on se bercerait d'une vaine esperance & si on prefereroit des voies de rigueur au silence & à la douceur, j e pense, que ce seroit s'ecarter beaucoup du but auquel on veut parvenir.

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Je Vous remercie, Monsieur, de la remarque qu'on ne sauroit dire en allemand que Themis implore le secours des Muses; effectivement je m'apperçois qu'elle n'en profite gueres. Sans doute les mots si souvent repeté/e/s dans Votre lettre, Lüge und Verdrehung, ne s'adressent point à moi; Vous êtes Monsieur trop aimable, trop poli, Vous avés trop d'usage du monde pour ignorer que ces gros mots [ne se] prononcent plus entre les honnêtes gens. Qu'il seroit aisé à Votre gouvernement de faire mourir de leur belle mort toutes les vaines disputes & tous les mauvais propos, s'il publioit toute la procédure de cette fameuse cause. Tout autre moyen repondoit mal à l'opinion que j'ai de sa sagesse; toute autre moyen ne seroit pas de ce siecle & ne sauroit reüssir. J. Muller P. S. Votre lettre, Monsieur, ne m'est parvenue qu'aujourd'hui [Adresse:] A Monsieur / Monsieur Lavater / Ministre du St. Evangile / à / Zuric

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Anhang C [Johann Heinrich Füßli, Obmann7] an Louis Simond Brief, nach Druckfassung (Autograph verschollen), anonym. Abdruck: VOYAGE EN SUISSE, FAIT DANS LES ANNEES 1 8 1 7 , 1 8 1 8 et 1 8 1 9 [ . . . ] . Par L[ouis] Simond. Seconde

édition, entièrement revue et corrigée. Tome premier. Paris: Treuttel et Wiirtz 1824, Appendice.

Zurich, 11 Juin 1823. Infandum regina jubés!* Waser était un h o m m e plein de connaissances, surtout dans la partie de l'histoire; mais ces connaissances n'étaient pas toujours très solides. Il tenait o b stinément aux hypothèses qu'il s'était forgées, et cette obstination dans ses idées, il la reportait dans le commerce journalier de la vie. Pasteur d'une église de la banlieue de la ville, il était plein de zèle pour ses devoirs; mais bientôt il se fit des affaires avec tous les magistrats et tous les supérieurs de sa commune. Les tribunaux lui rendaient quelquefois, mais rarement, un peu de justice, ce qui peu à peu lui rendit le gouvernement même odieux. Son étude favorite était la diplomatie, surtout celle de sa patrie. Il traduisit assez bien le fameux ouvrage des bénédictins, l'Art de vérifier les dates. Les Archives lui étaient ouvertes, comme (alors) à tous les Zuricois. Le chancelier, c o m m e c h e f des Archives, faisait cas des connaissances de Waser, et employait utilement son zèle et son savoir. Waser avait souvent chez lui, pendant des années entières, des tas d'actes et de documens, qu'il obtenait contre des reçus, et souvent sans reçus. U n j o u r le chancelier s'aperçut qu'il lui manquait l'acte de cession de la comté de Kybourg, faite à la république de Zurich par l'Autriche en 1452. Waser nia d'avoir jamais reçu cet acte dont le chancelier n'avait pas de reçu, mais qu'il se souvenait distinctement d'avoir remis à Waser. O n conçoit les craintes du chancelier, et sa colère de voir l'abus qu'on avait fait de sa confiance. Il fit citer Waser devant le conseil d'état; Waser fut emprisonné. E n faisant des recherches dans la maison du prévenu, l'acte en question fut trouvé sous son Ht, dans une boîte ouverte, pêle-mêle avec un tas de documens, la plupart de nulle importance. O n se demanda (notez que le gouvernement était alors plein d'inquiétudes, causées par le mécontentement de ses sujets), on se demanda ce que Waser avait voulu faire de cet acte; et, sans attendre sa réponse, on se disait: Q u ' e n 334

aurait-il fait, si ce n'est de le vendre à l'Autriche? E n effet, ses réponses étaient évasives et pleines d'une singulière malice qui faisait partie de son bizarre caractère. a) Mais ce qui e n v e n i m a surtout la haine q u ' o n portait à Waser, était l'absurde s o u p ç o n q u ' o n avait eu (il y avait déjà long-temps) d'avoir e m p o i s o n n é ses compatriotes dans le pain de la sainte C è n e ! C e c o n t e de vieille f e m m e , c o n t e répandu par Lavater, qui n o u s avait rendu la fable de toute l'Allemagne, servit singulièrement à la perte de Waser. Toutes ces circonstances réunies amenèrent c e j u g e m e n t qui n o u s d é s h o nore. La majorité des j u g e s décida que la mort seule était digne de tant de crimes. O n j u g e a que, c o m m e coupable de haute trahison, et c o m m e voleur, il fallait e m p ê c h e r qu'il ne se sauvât à V i e n n e , o u qu'il c o m m î t d'autres vols, etc. Le grand reproche q u e j e luis fais maintenant est d'avoir rendu l'accès aux Archives tellement difficile, qu'elles sont devenues à p e u près inabordables. ^ [Fußnote von Füßli:] Il aimait quelquefois à voler, mais ses larcins n'étaient encore que bizarrerie de caractère. Il m'a souvent fait des copies pour plus de 50 florins, dont il ne voulait pas être payé, tandis qu'il coupait des culs-de-lampe et des estampes des livres que j e lui prêtais, qui n'étaient d'aucune valeur.

Anmerkungen (zu Anhang 1 2

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A-C)

Lavater zitiert die nachträglich eingeschobene Bemerkung aus Johannes Müllers Die Geschichten der Schweizer, s. oben Anm. 15. Lavater hatte am Tage von Wasers Hinrichtung einen Briefwechsel mit August Ludwig von Schlözer aufgenommen, u m darüber Aufschluß zu erhalten, ob Schlözer tatsächlich im Besitz der angeblich v o n Waser verfaßten geheimen A n klageschrift sei: „Zürich wie es ist, nicht wie es sein sollte." Eben dies hatte Waser behauptet, Schlözer verneinte es, und Lavater rang sich zur prekären Überzeugung durch, daß Schlözer ihm die Wahrheit gesagt habe (Briefwechsel LavaterSchlözer in: Helvetia (s. oben Anm. 30), Fünfter Band, 127-158. Aussage, Bekenntnis. Versehentlich statt: haßen. W o h i n Lavater den vorliegenden Brief gesandt hat, ist unbekannt, w o h l entweder nach Genf oder nach Bern, w o sich Müller, von Genf anreisend, seit der zweiten Hälfte des Monats Mai 1780 aufhielt, u m den Druck seiner Geschichten der Schweizer zu überwachen. Müller beabsichtigte seine Geschichten der Schweizer fortzusetzen; es blieb j e d o c h beim „Ersten Buch". Statt der Fortsetzung veröffentlichte er 1786 das 1. und 2. Buch seiner Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft. J o h a n n Heinrich Füßlis Verfasserschaft ist gesichert durch Bonstettens Brief an ihn v o m 4. Januar 1824: „Haben Sie Ihren Brief in Simon[d]s neuer Ausgab gelesen gelesen[?] Nichts konte beßeres über Waser geschrieben werden als diese 335

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Schilderang seines Charakters. Der Brief ist vortrefflich" (Zürich, Zentralbibliothek, Ms. M. 1. 22/9). Verg. Aeti. 11,3: „infandum, regina, iubes renovare dolorem." — „Unaussprechlichen Schmerz, o Königin, soll ich erneuen" (Übersetzung Emil Staiger).

EDMUND HEIER

J. C. Lavater im geistigen und kulturellen Leben Rußlands des 18. und 19.Jahrhunderts Lavaters Einfuhrung in R u ß l a n d könnte wohl am besten im allgemeinen Z u sammenhang der Europäisierung Rußlands und spezifischer durch die schweizerisch-russischen Beziehungen erörtert werden. Dies weltumfassende T h e m a wird aber hier nur kursorisch behandelt, denn die nur am R a n d e berührten Aspekte dieses Themas könnten alle als separate Referate entwickelt werden. 1 Die W i r k u n g der Lavaterschen Ideen werden daher hier auf zwei Hauptgebiete beschränkt — Lavater der Theologe, der Dichter vieler geistlicher Erbauungsschriften u n d der berühmte Physiognomiker, der einen dauernden Einfluß auf die Darstellung des Menschen in der Kunst, besonders in der Literatur ausübte. Erste Nachweise über Lavaters Verbindung mit R u ß l a n d reichen bis in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts zurück. Schweizer wie w o h l auch russisches Archivmaterial zeugen davon, daß Lavater oft u m Empfehlungen nach R u ß l a n d gebeten wurde — eine Tätigkeit, die er anscheinend erfolgreich bewältigte, denn sie dauerte an bis zum Ende seines Lebens. Meistens waren es Lehrkräfte, aber auch Offiziere, die empfohlen wurden. Anfang der siebziger Jahre hatte Lavater schon mehrere Freunde, d . h . Schweizer, die in R u ß land waren wie Pastor Brunner, Dr. Fries und Dr. Frankel und den Hofmeister des Grafen Bibikov, J o h a n n R u d o l f Füßli. Nicht minder bedeutend waren Lavaters Verhältnisse zum Baltikum und dem Buchhändler Hartknoch in Riga. Lavater kannte man damals hauptsächlich durch drei seiner Werke: Christliches Handbüchlein oder auserlesene Stellen der Heiligen Schrift (1767); die ersten beiden Bände der Aussichten in die Ewigkeit (1768-69) und die Teilübersetzung von Bonnets Palingenesie Philosophique mit dem Titel: Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum (1769). Die R e a k t i o n auf Lavaters Schriften im Baltikum war zweierlei. Zunächst erschienen zwei Kampfschriften gegen Lavater, eine betitelt: Gedanken über die Lavaterschen Aussichten in die Ewigkeit u n d die andere unter dem Titel: Dienstfreundliches Promemoria an die, welche den Herrn Moses Mendelssohn durchaus zum Christen machen wollen.2 Beide Schmähschriften w u r d e n v o n livländischen Pastoren verfaßt und beide waren Anhänger des Berliner Aufklärers Nicolai, so daß wir es hier mit zwei verschiedenen Grundhaltungen zu tun haben. A n dererseits hatten Lavaters Schriften gerade durch ihre leidenschaftliche e m o tionelle Darstellung des Religiösen, das überschwengliche Gefühl, den dichterischen Schwung seiner Prosa, einen enormen Erfolg bei den Balten erwirkt. 337

Lavaters Christliches Handbüchlein wurde ins Lettische übersetzt und laut Gadebusch (1777) hieß es: „Man fing in dem kurländischen Oberlande an, den Lavater zu vergöttern, und zugleich mit ihm zu schwärmen." 3 Lavaters Popularität im eigentlichen Rußland, d.h. in den Hauptstädten, Moskau und St. Petersburg, geht auch hier wie in Kurland zunächst auf seine religiösen Schriften zurück. Z u nennen wären hier hauptsächlich seine Erbauungsschriften: Christliches Handbüchlein (1767) und die darauffolgenden ähnlichen Arbeiten — Christliches Handbüchlein ftir Kinder (1771), Taschenbüchlein fiir Dienstboten (1772), Brüderliches Schreiben an Jünglinge (1782), Christlicher Religionsunterricht für denkende Jünglinge (1788), Aussichten in die Ewigkeit (17681778) und sein Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst (1771-73). Lavaters Lehre fand wohl die größte Verbreitung und die größte Anhängerschaft unter den Moskauer Freimaurern. Philanthropische Tätigkeit, die Errichtung von Schulen für mittellose Kinder, die Abgabe kostenloser Arznei an Arme, die Verteilung von Lebensmitteln an Hungernde, die Errichtung von Büchereien, die Verteilung von Büchern und besonders Sittenstrenge, Bruderschaft, Freiheit des Gewissens und Bildung des Herzens, wie die Bildung der moralischen und geistigen Fakultäten, die überhaupt zur Erhöhung des Menschen fuhren sollte, waren Interessen und Ideale der Moskauer Freimaurer. Diese wurden auch zeitlebens von Lavater verteidigt. W i e die Lavaters, so war auch die geistige Welt der Freimaurer von der Mystik und vom Pietismus bestimmt. 4 Die führenden Männer der Freimaurer waren in Moskau der Verleger N o vikov, Professor Schwarz, I. V. Lopuchin und Ivan Turgenev, die auch, u m ihre Bildungstätigkeit zu fördern, im Jahre 1781 die Gelehrte Freundesgesellschaft ins Leben riefen. Das Ziel der Gesellschaft war nach den Worten Lopuchins „geistliche Bücher zu veröffentlichen und moralische Erziehung im Sinne der Heiligen Schrift zu verbreiten [ . . . ] " . Selbstvervollkommnung, die Beschäftigung mit sich selbst, die inneren Zustände seiner selbst zu analysieren und sich dadurch zu verbessern, waren die Hauptaufgabe von deren Erziehung. Man erinnere sich hier an Lavaters Selbstentblößung in seinem Geheimen Tagebuch und wie auch überhaupt an sein Werk, dessen Ziel es doch schließlich war, „Menschenkenntniß und Menschenliebe" zu verbreiten. Hauptvertreter der Bildungsarbeit der Moskauer Freimaurer war Professor Schwarz, ein Siebenbürger Deutscher, der 1776 nach Moskau kam und dort zum Professor der deutschen Sprache und Philosophie und zum Leiter des pädagogischen Universitätsinstituts ernannt wurde. Er gründete Volksschulen, Lehrerbildungsanstalten, brachte ausgezeichnete Lehrbücher heraus und wollte die Kenntnis der reifsten Werke europäischen Denkens durch gute Ü b e r tragungen auch den breiteren russischen Schichten vermitteln. Hinzugefugt m u ß noch werden, daß wohl die meisten Bücher der Freimaurer in Massenauflagen erschienen, einzelne jedoch waren nur für den Gebrauch der Freimaurer gedruckt worden. Darunter waren die meisten Werke der deutschen Mystiker (Johannes Arndt und besonders die Schriften Jakob Böhmes) wie 338

auch eine besondere Ausgabe der Bibel. Zu diesen m u ß auch Lavater gesellt werden, dessen Werke nicht in dem Maße übersetzt wurden, wie sie immer wieder empfohlen wurden. Ferner sei noch bemerkt, daß die freimaurerischen Zeitschriften: Morgenröte (1777-90), Sonnenuntergang (1782), Kinderlektüre für Herz und Verstand (1785-89) und Moskauer Nachrichten (1783-84) fest nur Auszüge ohne Quellenangabe aus den Werken europäischer Denker brachten. D e m Inhalt nach ging es hier u m rein christliche Erbauungsschriften, die vielfach den Schriften Zimmermanns, Zollikofers, Lavaters und Bonnets entlehnt waren. 5 Lavaters Popularität unter den Moskauer Freimaurern, mit denen er im Briefwechsel stand, erreichte ihren Höhepunkt in den 1780er-Jahren. Lavater selbst war nicht Freimaurer, er schrieb jedoch nach den Tagen des großen Wilhelmsbader Konvents der Freimaurer, w o auch Schwarz anwesend war, eine Art Denkschrift über die Freimaurer. Er lobt die brüderliche Verbundenheit und mahnt die Mitglieder zur praktischen Anwendung der allgemeinen Wahrheiten. U n d somit wurde er in deren Augen zu ihrem geistigen Bruder. Von besonderer Wichtigkeit ist Lavaters Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst, das allerdings erst 1849 aus dem Französischen ins R u s sische übersetzt wurde. Der Hauptzweck dieser Arbeit war, denjenigen ein Modell anzubieten, welche ernstlich bereit waren, sich selbst zu erkennen, u m sich dadurch zu bessern. Aber gerade dies war ja auch der Tenor der Erziehung der Freimaurer. Die jüngeren Brüder mußten oft den älteren Berichte über ihren inneren Zustand liefern: „Die Aufgabe bestand [... ] darin, die inneren Vorgänge, seien sie tugend- oder lasterhaft, bewußt zu machen [ . . . ] . " Lavaters Geheimes Tagebuch war den Freimaurern bekannt. Schon der erste Band wurde den damals in Leipzig studierenden russischen Studenten von ihrem Lehrer und Begleiter Witzmann vorgelegt. Unter diesen war auch A. Radishchev und sein bester Freund, A. M. Kutuzov, einer der am besten ausgebildeten russischen Freimaurer und Vertreter des russischen Sentimentalismus. Radishchev widmete auch seine Reise von St. Petersburg nach Moskau dem Freund. W e n n man die Zusammenhänge weiter betrachtet, so ergibt sich, daß Radishchevs erstes literarisches Werk, Tagebuch einer Woche (Dnevnik odnoi nedeli, 1772-1773?) direkt an Lavaters Geheimes Tagebuch anknüpft, denn auch hier werden in sentimentalem Stil die Seelenregungen des Helden bloßgelegt. Es war also nicht Rousseau, der mit seinen Bekenntnissen (1782) als erster die Tradition der Beschäftigung mit dem Selbst, der psychologischen Selbstentblößung, einführte. Es war ein anderer Schweizer, nicht minder populär, der mit nicht minder schonungsloser Offenheit sein inneres Selbst der Welt offenbarte, und dazu zehn Jahre vor dem Genfer. 6 Auch in St. Petersburg blieb Witzmann stets ein Verehrer Lavaters, der seine Schüler nach den Erziehungsschriften Lavaters erzog. Lavaters Erbauungsschriften wurden von ihm seit 1778 in dem zweisprachigen St. Petersburgischen Wochenblatt veröffentlicht. 1798 und 1799 wurden von ihm auch die Handbüchlein für Kinder und Erwachsene in deutsch-russischen Ausgaben herausgebracht. 339

Witzmanns ehemaliger Schüler, Radishchev, war einer der ersten russischen Dichter, der Lavater mehrere Male in seinen Werken erwähnt. Dies geschieht in der Reise von St. Petersburg nach Moskau, und zwar, als er sich mit der Beschreibung u n d Darstellung der vielen Charaktere befaßt. Dabei wünschte er sich, die Fähigkeiten eines Lavater zu besitzen, damit der Leser schon aus seiner physiognomischen Beschreibung die Charaktereigenschaften der Personen ablesen könne. Auch in dem Werk Über den Menschen, seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit wird Lavater von Radishchev als Autorität herangezogen. Außerdem ist das ganze Werk von Lavaters Prinzip der organischen Einheit und Harmonie zwischen physischen und geistigen Aspekten durchdrungen. Auch das Problem des Zusammenhangs der Seele mit dem menschlichen Körper wird behandelt, ein Problem, das unter den Freimaurern heftig diskutiert wurde, wobei Lavater als Kenner auf diesem Gebiet galt. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß der junge Karamzin, ein Zögling der Freimaurer, dessen ganze Erziehung von deren Idealen bestimmt war, sich gerade mit dem Problem des Zusammenhangs der Seele mit dem Körper an Lavater wandte. Jedoch das Karamzin-Lavater Verhältnis soll nicht weiter verfolgt werden, da es wohl das bisher am ausführlichsten behandelte Thema ist.7 D e m Freundeskreis Ivan Turgenevs gebührt wohl der größte Verdienst der Lavaterschen Popularität in Moskau. In diesem Kreis wurde Karamzin auch in Lavaters Werke eingeführt. Wegen seiner unermüdlichen Betätigung als Freimaurer wurde Turgenev, „einer der erleuchtetsten Männer seiner Zeit", schon 1792 ins Exil auf sein Gut „Turgenevo" verbannt, bis ihn nach dem Tode Katharinas II. Paul I. 1796 zurückrief und zum Rektor der Moskauer Universität ernannte. Z u der Zeit war die Erziehung und Bildung seiner vier Söhne hauptsächlich dem Schweizer Johann Konrad Tobler, einem Verwandten Lavaters aus Zürich, anvertraut. Tobler und Turgenev trugen die Verantwortung dafür, daß die Söhne im Sinne der pietistisch-moralischen Auffassung erzogen wurden. Uberhaupt waren die Werke deutscher Pietisten die Lieblingslektüre im Hause Turgenevs. U n d so konnte dann später, während des Verbots der Freimaurerei am Ausgang des 18. und Anfang des ^ . J a h r h u n derts, die jüngere Generation die Arbeit ihrer Väter fortfuhren. Daß das Lavaterbild im geistigen Leben Rußlands weiter durch Lavaters Beziehungen zu mehreren deutschen Dichtern im russischen Zarenreich erhellt werden könnte, ist selbstverständlich. Darunter waren Elise von der R e c k e , Maximilian Klinger, Ludwig Heinrich v. Nicolay u n d Lenz. Aufschlußreich ist besonders die Korrespondenz zwischen Lavater und der Dichterin Elise von der Recke, worin hauptsächlich physiognomische Fragen und die Entlarvung Cagliostros besprochen werden. Lenz, der bekanntlich 1779 ins Baltikum zurückkehrte und seine letzten zehn Jahre unter den Moskauer Freimaurern verlebte, war bedeutender in Hinsicht auf die Verbreitung der Lavaterschen Ideen in Rußland. Er wurde immerhin in seinen letzten Jahren von den Freimaurern in Moskau betreut. 8

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Daß Lavater in den achtziger Jahren, auf dem Gipfel seiner Popularität, mit vielen fürstlichen Häusern einen regen Briefwechsel führte und dort oft Besuche abstattete, ist wohl bekannt. Weniger bekannt sind seine Beziehungen zum russischen Kaiserhaus, oder doch nur teilweise. Es geht hier nicht u m Katharina die Große, sondern u m ihren Sohn, den Großfürsten und nachmaligen Zar Paul und dessen Gattin, Maria Feodorovna, geborene Sofie, Prinzessin von Württemberg. Katharina selbst verehrte Lavater kaum. Sie fand vielmehr ihren Verbündeten in dem Berliner Nicolai. Sie verehrte zwar Zimmermann, ging aber in ihren späteren Jahren rücksichtslos gegen die Freimaurer vor und verbot jegliches Buch, welches irgend einen Fanatismus oder Irrationales verkündete. Lavaters Werke wurden zwar nicht verboten, aber als der Buchhändler Weitbrecht ihr den ersten Band der Physiognomischen Fragmente vorlegte, wurde dieser zurückgesandt mit den derben Worten: „Der Kerl ist ein Narr." 9 Enge Freundschaft verband Lavater mit dem sogenannten „Kleinen H o f ' Pauls. Die persönliche Bekanntschaft des Großfürstlichen Paares mit Lavater fand i m Herbst 1782 statt. Die Folge dieser Begegnung war ein langer Briefwechsel, der bis in Lavaters letzte Tage andauern sollte. Die Briefe Lavaters behandeln verschiedene Themen, manche sind Empfehlungsschreiben, in anderen wird u m Geld gebeten, aber nie für sich selbst. Der größte Teil bezieht sich auf den Verkauf seines Physiognomischen Cabinets an den Zarenhof. Auch dieses Thema, wie interessant es auch sein mag, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Einen Teil dieser Briefe konnte ich vor einigen Jahren in den Schweizer Monatsheften veröffentlichen; das Schicksal des Physiognomischen Cabinets hat ein glückliches Ende erreicht, da dieses durch Herrn Blaß-Laufers R ü c k kauf wieder nach Zürich kam.' 0 W i e sehr Lavater von Seiten des russischen Zarenhofs verehrt wurde und wie sehr sich Paul I. in jenen Tagen der Verwirrung u m Lavater kümmerte, bezeugt ein Befehl vom September 1799 an den Oberkommandierenden der russischen Armee, Rimskij-Korsakov. Laut diesem Befehl sollte Rimskij-Korsakov, sobald er Zürich besetzt habe, den „berühmten Lavater" in Schutz nehmen; er sollte auch feststellen, womit er Lavater dienen könne, ob er einen Rang, eine Ordensauszeichnung, eine Pension oder sonst irgend eine Auszeichnung wünsche. Dazu solle er Lavater einen Brief überreichen, in dem mitgeteilt wird, wie sehr Paul sich an ihre Begegnung erinnere, wie aufschlußreich seine Schriften seien und wie sehr er ihn als „Freund der Menschheit" schätze. Unglücklicherweise wurde Pauls I. Anerbieten in Lavaters dunkelster Stunde erteilt. A m 26. September 1799 geschah die Verwundung Lavaters, die ihm nach qualvollen Leiden am 2. Januar 1801 den Tod brachte; Paul I. selbst w u r de zwei Monate später ermordet. Es ist zweifelhaft, ob Lavater überhaupt Pauls Briefe zu Gesicht bekam, denn das Original wurde später noch in den Archiven Rimskij-Korsakovs gefunden. 11 U n t e r der Moskauer Jugend, d. h. der zweiten Generation der Freimaurer, zu Beginn des 19.Jahrhunderts wurde die Verehrung Lavaters aufrechterhal341

ten, zumal die Bildung dieser Jugend in den Händen der Freimaurer blieb. Mit Ivan Turgenev als Rektor der Moskauer Universität und A. A. Prokopovich-Antonskij als Leiter des Universitäts-Pensionats wurde die Universität wiederum das Zentrum einer ethisch-moralischen Erziehung im Sinne der Freimaurer. Außerdem traf man sich im Hause Turgenevs zur weiteren Selbstausbildung. Daraus entstand dann 1801 die Literarische Freundesgesellschaft, deren Ziel und Zweck genau mit denen der Freimaurer übereinstimmte. Dazu gehörten unter anderem die Brüder Turgenev, die Dichter Zhukovskij, Merzljakov u n d die Brüder Kajsarov. Der fuhrende Mentor war wieder der Schweizer Tobler. Aus der Korrespondenz dieser jungen Männer geht hervor, daß sie mit den Ideen Lavaters und seiner Physiognomik aufs engste vertraut waren. Aleksander Turgenev, dessen Bruder Nikolaj als Dekabrist in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, hinterließ vielleicht die besten Zeugnisse über die Tätigkeit der Jugend dieser Zeit. Seine Briefe und Tagebücher zeugen ferner von Lavaters Bedeutung in Rußland. Als er auf späteren Reisen nach Zürich kam, schrieb er folgendes in sein Tagebuch: „Ich war auf dem Platz, w o das Denkmal von Gessner steht. [ . . . ] Ich dachte an seine Schriften, die wir damals in Turgenevo mit dem unvergeßlichen Tobler lasen. Uberhaupt denkt unsere Familie mit Dankbarkeit an Zürich: Es ist die Heimat Toblers und Lavaters, mit dem mein Vater eine freundliche und religiöse Korrespondenz führte. [... ] Schade, daß am anderen Ende Zürichs kein Denkmal zu Ehren Lavaters errichtet wurde." Ähnlich schrieb er auch an seinen Bruder Nikolaj im Jahre 1827, als er nach Zürich kam: „Meine Gedanken kehrten zur Vergangenheit zurück [...]. Ich dachte an Lavater, der von unserem Vater und Ivan Vladimirovich [Lopuchin] geliebt wurde [.. .]." 12 Während anfangs Lavaters Einfluß hauptsächlich von seinen religiösen Schriften ausging, so ging später, d.h. gegen Ende des 18. und Anfang des 19.Jahrhunderts, sein Einfluß aus den Physiognomischen Fragmenten hervor. Rußland selbst hatte keine physiognomische Tradition wie der Westen. Die erste Arbeit über Physiognomik wurde erst 1763 verfaßt und mehrere Male verlegt. Die Physiognomischen Fragmente wurden erst im Jahre 1808 übersetzt. Sie erschienen unter dem Titel: Die meisten und vollkommensten Methoden zur Entdeckung der Charaktereigenschaften jedes Menschen nach den Lehren des berühmten Lavater. Aber auch dieses Werk ist kaum mit Lavater zu vergleichen, denn es bestand überwiegend aus Darstellungen von Regeln, so daß der physiognomische Einfluß auf Kunst und Literatur auf das Originalwerk und die französischen Übersetzungen zurückzuführen ist. Nach Lavaters Tode wurden mehrere Artikel über ihn veröffendicht, besonders in der Zeitschrift Der Bote Europas. In j e d e m Aufsatz wurden die Physiognomischen Fragmente als hervorragendes Werk dargestellt. Als Zhukovskij im Jahre 1808 Herausgeber des Boten wurde, stand Lavaters Bild auf dem U m schlag der Zeitschrift. Darauf folgten dann auch mehrere Aufsätze über Lavater, in denen der Mann und sein Werk überschwenglich gepriesen wurden. Eine weitere Veröffentlichung in Buchform, die wiederum auf Lavater beruht,

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erschien 1819 und nochmals 1828 mit dem Titel Damen Lavater [Lavater damskij] oder die Kunst die Charaktereigenschaften der Frauen nach deren Gesichtzügen zu erkennen. W i e man vermuten kann, war solch ein Werk unter den j u n g e n russischen Offizieren äußerst populär. Eine vollständige Übersetzung der Fragmente, wie es in England und Frankreich geschah, wurde den Russen nie vorgelegt. Man begnügte sich mit dem Original und den französischen Übersetzungen. 13 Lavater wurde auch auf der russischen Bühne gebracht. Allerdings wurde er — wie in westlichen Stücken — satirisch dargestellt, und zwar in einer K o mödie von Il'in im Jahre 1816, die den Titel Der Physiognomist und der Chiromantiker trägt. Abgesehen von Radishchev und Karamzin fingen auch die R o mantiker an, sich auf Lavater zu beziehen. Pushkin selbst kaufte zwei der u n heimlich teuren französischen Ausgaben im Jahre 1836. Lermontov schreibt 1841 in diesem Zusammenhang an seinen Freund: „Ich kaufe alles was Lavater geschrieben hat." Von äußerster Wichtigkeit für die Verbreitung der Lavaterschen physiognomischen Ideen im russischen Realismus waren literarische Werke aus Frankreich und England, in denen die Physiognomik Lavaters als eines der wichtigsten Mittel der Charakterdarstellung verwendet wurde. A n geregt durch solche psychisch-physiologischen Porträts wandten sich die R u s sen an das eigentliche Werk Lavaters. Es soll hier nicht gefragt werden, ob Physiognomik als Wissenschaft zu betrachten ist, oder nicht. Wichtig für u n sere Zwecke ist die Tatsache, daß man damals an Physiognomik glaubte und daß der Dichter mit physiognomischen Kenntnissen seiner Leser rechnen konnte. Aber viel bedeutender ist die Tatsache, daß der Dichter von der Physiognomik Gebrauch machte, vor allem wenn es u m eine realistische Darstellung ging. Unter dem Einfluß Lavaters gewann das konkrete physische Element als Offenbarungsmittel des Charakters zugleich auch als Mittel der Individualisierung an Bedeutung. Lavater selbst verlangte eine realistische Darstellung, d . h . eine physiognomische Beschreibung, eine wahre Wiedergebung einer Person im Porträt. In Lavaters Lehre fand der Dichter somit etwas Handgreifliches für eine realistische Darstellung. Er hat sozusagen die Mittel bloßgelegt, d. h. die Kunstmittel für eine realistische Porträtierung, in der keine Idealisierung Platz hatte. Daher ist es nicht überraschend, wenn Lavaters Bedeutung gerade während der Periode des Realismus in der europäischen, und somit auch in der russischen Literatur am stärksten zu bemerken ist. Der größte Verkünder der Lavaterschen physiognomischen Ideen dürfte wohl Balzac sein; so war es auf jeden Fall in Rußland. Balzac selbst gebrauchte die Physiognomischen Fragmente wie eine Bibel, aus der er nicht nur Kunstmittel schöpfte, sondern in der er auch Anregung für seine vielen Charaktere fand. Er fand bei Lavater den Ansatz für realistische Darstellungen und vor allem die Idee der Ganzheit, oder organischen Einheit des Menschen, die er sich zu eigen machte. Balzac verkündet mit Überzeugung und Klarheit: „Lavaters Physiognomie hat eine wirkliche Wissenschaft gegründet. Endlich hat sie ih-

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ren Platz unter den menschlichen Kenntnissen eingenommen [ . . . ] . " Er geht sogar weiter und läßt den wahrsagerischen Teil der physiognomischen Schriften gelten, indem er sagt: „Die Gesetze der Physiognomie sind genau, nicht nur in ihrer Anwendung auf den Charakter, sondern auch dann, wenn sie das Schicksal des Daseins betreffen. Es gibt prophetische Physiognomien [ . . . ] . Ja, das Schicksal prägt seine Spur auf die Gesichter derjenigen, die irgendeines gewaltsamen Todes sterben müssen." Und so stellt Balzac uns seine literarischen Figuren vor, deren Äußeres im vollen Einklang mit der inneren Charakterveranlagung ist. Die neue Art realistischer Porträtierung wurde systematisch in seinen mehr als hundert Erzählungen und Romanen angewandt. Wie bedeutend Balzac für die Entwicklung der russischen Literatur war, ist wohl bekannt. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte in Rußland somit eine neue Etappe des Interesses für Lavater ein. Diese Anregung geht auf Frankreich zurück und ist eng mit der Naturalistischen Schule der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Rußland verbunden. Viel bedeutender aber ist, daß auch die Russen jetzt selbst Stellung zur Physiognomik und Phrenologie nehmen. Dies geschieht zunächst in einer Reihe von wissenschaftlichen Artikeln. Hervorzuheben wären die Arbeiten von Professor Kutorga, der im Jahre 1845 einen Vergleich zwischen Lavater und Gall darbot. Kutorgas Arbeit kann als erste ernste russische Rezension der Fragmente betrachtet werden. Er bewundert Lavaters Werk, welches ganz Europa zu neuem Sehen und Beobachten bewege. Ob daraus aber eine exakte Wissenschaft entstehen könne, bezweifelt er. Ein anderer Professor der Anatomie, Aristov, verteidigte in seiner Arbeit Die Bedeutung des Äußeren des Menschen (1847) das Prinzip der organischen Einheit und kam zu dem gewöhnlichen Schluß, daß die Seele sich im menschlichen Antlitz tatsächlich widerspiegele. Eine viel wichtigere Arbeit erschien im Jahre 1849, — allerdings anonym, aber dazu in der bedeutendsten Zeitschrift der Zeit, herausgegeben von Panaev und Nekrasov. Hier wird ein Überblick der physiognomischen Entwicklung gebracht, und die Arbeit schließt mit einer detaillierten Besprechung des Lavaterschen Versuches. Er appelliert an die Wissenschaft, zu vollenden, was Lavater in Gang gesetzt hat.14 Aber abgesehen von wissenschaftlichen Arbeiten über Lavater war seine Popularität in der ersten Häfte des 19.Jahrhunderts in solch einem Grade gestiegen, daß es wirklich keinen russischen Gelehrten und keinen russischen Dichter gab, der mit seinen Ideen nicht vertraut gewesen wäre. Er wurde geradezu zum Symbol jeglicher physiognomischen Deutung und menschlicher Darstellung in der Kunst. Der Gebrauch der Physiognomie im literarischen Porträt der russischen Literatur manifestiert sich auf zwei Arten. Zunächst begegnen wir einer langen detaillierten Beschreibung der physischen Teile eines Charakters und dann der Interpretation derselben. Um dies nicht weiter zu verfolgen, zitiere ich den bekannten Literaturhistoriker und Kritiker Tseitlin, der 1965 in seinem letzten Buch hervorhebt: „Wir können die Entwicklung des literarischen Porträts der Naturalistischen Schule nicht ver-

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folgen, wenn wir nicht die Rolle beachten, die Lavater und Gall in diesem Prozeß gespielt haben. [... ] Lavaters Bücher waren bekannt, und man hat sie in Rußland geschätzt. [ . . . ] Die russischen physiologischen Dichter der 1840er Jahre konnten nicht anders, als an der Lehre der Physiognomie interessiert zu sein."15 Doch nicht jeder Dichter hat Lavater und Balzac sklavisch nachgeahmt. Erstens waren die langen Beschreibungen nicht immer ästhetisch annehmbar und zweitens entdeckte man, daß der Realismus nicht nur durch detaillierte Darstellung erreicht werden kann, sondern auch durch impressionistische Methoden, wie es bei Turgenev und Tolstoj der Fall war. Und trotzdem verwendet Turgenev Lavaters Physiognomik mehr als andere russische Dichter. Turgenevs Freund I. Vasilevskij schreibt in seinen Erinnerungen, daß er schon lange vermutete, daß Turgenev nicht nur Lavaters Physiognomik kannte, sondern daß er sie auch praktisch angewandt hatte. Dies wurde dann auch von Turgenev bestätigt: „In einem Gespräch mit mir erwähnte Turgenev, ganz nebenbei, daß er die Geduld hatte, den ganzen Lavater durchzustudieren („prostudirovat' vsego Lavatera") und daß er alle seine neuen Bekannten immer genau beobachtete; instinktiv analysierte er deren Erscheinung, Mimik, Gestik und Haltung, die Modulierung ihrer Stimmen und andere Details, die nur einem geübten Auge vernehmbar sind."16 Diese Leidenschaft, aus dem Äußeren auf das Innere zu schließen, wurde sogar von Turgenev zu einem Gesellschaftsspiel erhoben: „Igra v portrety" — „Ein Spiel in Porträts." Im Kreise seiner Freunde wurden etwa fünf von Turgenev gemalte Profile herumgereicht und jeder mußte seine Interpretation dazu schreiben. Etwa 200 dieser Porträts sind erhalten geblieben und wurden vor kurzem veröffentlicht mit einer genauen Beschreibung ihrer Entstehung, aber von Lavater oder seiner Physiognomielehre ist darin kein Wort zu finden. Jedoch ohne diese Verbindung mit Lavater bleibt das Ganze rätselhaft. Turgenev selbst hat diese Porträts aufbewahrt und versprach, davon literarischen Gebrauch zu machen. Die langen detaillierten Beschreibungen von Personen in Briefen und die genaue Beschreibung seiner Figuren in den ersten Entwürfen seiner Arbeiten sind in den gedruckten Werken nicht zu finden. Obwohl alle seine Helden durch ein literarisches Porträt eingeführt werden, sind sie nur durch die wichtigsten Merkmale bezeichnet. Was er dem Leser darbietet, ist das Resultat einer physiognomischen Analyse. Der Effekt einer Figur wird vielmehr beschrieben. Andeutungen und Anspielungen und lakonische Darstellungen werden dem Leser geboten, der aufgefordert wird, das Bild selbst zu vollenden. Und so wird dann einer seiner bekanntesten Helden, Bazarov, in nur ganz wenigen Worten gemalt, was dann auch genau der Turgenevschen Ästhetik entspricht — physiognomische Andeutungen und die Beschreibung des Effekts in Kürze und Klarheit.17 Während Turgenev in seiner physiognomischen Darstellung impressionistisch vorgeht, verwenden Goncharov und Dostojevskij die detaillierte lange Beschreibung in den literarischen Porträts. Tolstoj, der ebenfalls physiognomisch vorgeht, vermeidet das lange Porträt 345

und zeigt seine Helden in aufgeteilten Porträts, d. h. er zeigt sie in fortwährender Veränderung, wie sie in einer gewissen Situation erscheinen. Zum Schluß möchte ich einen Artikel erwähnen, der 1965 in Rußland erschien - wirklich eine Seltenheit zu der Zeit, denn der Artikel ist Lavater gewidmet und wurde in dem populären Wochenblatt Das literarische Rußland gedruckt. Der Autor, Nikolaj Kuzmin, war Künstler und ein bekannter Illustrator vieler klassischer russischer Romane. Der Autor, der sich nun jahrelang mit Porträtzeichnung vieler literarischer Charaktere befaßte, stimmt zu, daß Lavaters Physiognomik keine wissenschaftliche Basis habe, andererseits aber habe gerade diese Pseudowissenschaft unendlich viel zur Literatur und Kunst beigetragen. Lavater sei sozusagen im Laufe der Zeit entthront worden, aber kein anderer habe bisher seinen Platz eingenommen. Das Problem des Zusammenhanges des Äußeren mit dem Inneren sei ein praktisches Arbeitsproblem, welches täglich von neuem vom Dichter, vom Künstler, vom Schauspieler, vom Theaterdirektor und vom Gremierer gelöst werden müsse. „Das Problem, welches Gesicht paßt nun am besten zu diesem oder jenem Charakter" bleibt bestehen, so lange die Theoretiker schweigen. Und nur der geniale intuitive Geist des Künstlers vermag uns bleibende Gestalten und Bilder zu schaffen. Kuzmin, der Autor, wünschte, daß vielleicht doch noch einer, wie einst Lavater, die Arbeit unternehme und uns von Tausenden von Porträts etwa zehn, zwanzig oder dreißig Typen von Gesichtern vorlegen würde. Dies wäre ein Schritt vorwärts zur Lösung des Problems.18

Anmerkungen 1

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5

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346

Vergleiche hierzu: E. Heier, Studies on Johann Caspar Lavater (1741—1801) in Russia, in: Slavica Helvetica 37, Bern 1991; C. Benzinger, „Die Beziehungen der Schweiz mit Rußland", in: Schweizerisches Konsular-Bulletin, Beilage Nr. 1 7 , 1 9 2 9 ; R.J. Danilevskij, Rossija i Shveitsaria, Leningrad 1984. [August Wilhelm Hupel], Dienstfreundliches Promemoria an die, welche den Herrn Moses Mendelssohn durchaus zum Christen machen wollen, oder sich doch wenigstens herzlich wundem, daß er es noch nicht geworden ist, Riga 1771. H. Ischreyt, „Zur Rezeption Lavaters in Kurland und Livland", in: Nordost-Archiv. Zeitschriftfiir Kulturgeschichte und Landeskunde 73, Lüneburg 1984, 53—68. Svodnyj Katalog russkoi knigi XVIII v. 1725-1800, Moskva 1963-67; H. R o t h e , N. M. Karamzins europäische Reise: Der Beginn des russischen Romans, Bad H o m burg, Berlin, Zürich 1968, 2 6 - 5 6 . V. Vernadskij, Russkoe masonstvo v tsarstvovanieEkateriny II, Petrograd 1917; A . N . Pypin, Russkoe masanstvo, Petrograd 1915; V. Vernadskij, „Beiträge zur G e schichte der Freimaurerei und des Mystizismus in Rußland", in: Zeitschrift Jur SlavischePhilologie4 (1927), 1 6 2 - 7 8 ; V. V. Sipovskij, N.M. Karamzin, avtor,Pisma russkogo puteshestvenika', St. Petersburg 1899, 44—51; Pypin (s. A n m . 5 ) , VIII. P. Brang, „A. M . Kutuzov als Vermittler des europäischen Sentimentalismus in Rußland", in: Zeitschrift für Slavische Philologie 30 (1962), 4 4 - 5 7 ; D . Gerhardt,

7 8

9 10 11 12 13 14

15 16 17 18

„Stil und Einfluß", in: Stil und Formprobleme in der Literatur, Heidelberg 1959, 54-56. Heier, Studies (s. Anm. 1), 50-65. M . Rieger, Friedrich Maximillian Klinger, 3 Bde., Darmstadt 1880-1896; J. V. Sievers, Deutsche Dichter in Rußland, Berlin 1955; M. N . Rozanov, Poet perioda burnykh stremlenij,Jakov Lenz, Moskava 1901; Heier, L. H. Nicolay (1737-1820) and His contemporaries, T h e Hague 1965. Heier, L. H. Nicolay (s. Anm. 8), 136. Vergleiche hierzu: E. Heier,, J. C. Lavater und der russische Z a r e n h o f ' , in Studies (s. Anm. 1), 105-132. Russkii arkhiv 4 (1900), 491-92. N . S. Tikhonravov, Sochinenija III, Moskva 1898, 433-34; A. I. Turgenev, Khronika russkogo: Dnevniki 1825-1826 gg., Moskva 1964, 31. Heier, Studies (s. Anm. 1), 73-98. S. S. Kutorga, „Lavater i Gall", in: Biblioteka dlja chtenija 52 (1845), 1-32; E.F. Aristov, „ O znachenii vneshnosti cheloveka", in: Obozreniep. v. K. universitete na 1846-1847 u.goda (1847), 3 - 1 8 ; „Traktat o Fizionomike", in: Literatumyjsbomik s illustratsijami, St. Peterburg 1847. A. G. Tseitlin, Stanovlenie realisma v russkoj literature, Moskva 1954, 202. Russkie pisateli o literature I, Leningrad 1939, 362. Beiträge und Skizzen zum Werk Turgenevs, München 1977, 7 - 5 2 . N . Kuzmin, „ O b odnom ljubopytnom zabluzhdenii", in: Literatumaja Rossija XVII, 20.

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Personenregister Abbt, Thomas 116, 124, 134, 135, 139 f. Adorno, Theodor 176, 178, 206 Albertus Magnus 147 Anhom, Bartholomäus 179 f. Aristoteles, Pseudo-Aristoteles 183 Arnim, Albert Friedrich von 124 Aristov 344 Arndt, Johann 338 Arnold, Gottfried 110, 113 Artemidorus 203 Augustin 16, 35, 94 Baader, Franz von 205 Bahrdt, Karl Friedrich 265 Balthasar, Josef Anton 323 Balzac, Honoré de 190-192, 211, 343-345 Barth, Karl 75 Basedow, Johann Bernhard 101 f., 118, 149, 266 Baudelaire, Charles 211 Baumgarten, Sigmund Jakob 93, 148, 182 Bayle, Pierre 201 Beaumont, Etienne 124, 139 Beccaria, Cesare 320, 325 Bennelle, Jacob 134 Bentinck, Charlotte Sophie Gräfin von 325 Benz, Ernst 78 Bernstorff, Henriette von 160 Biber, Eduard 294 Bibikov, Graf von 337 Biester, Johann F. 207 Bloch, Ernst 63, 75 Blumenbach, Johann Friedrich 240 Blumhardt, Christian Gottlieb 286 Bodmer, Johann Jakob 10-16, 20 f., 29, 116, 118, 123, 125, 138, 147, 181, 281 f., 292, 300, 313, 317 Böhme, Jakob 77, 102, 128, 144, 204, 338

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Boerhaave, Hermann 259 Boie 239 Bolingbroke, Henry 138 Bonnet, Charles 14, 21, 25, 38, 114-148, 186, 191, 200, 206, 208, 218, 319, 337, 339 Bonstetten, Karl Viktor von 317-328, 335 Boßhard, Heinrich 214-233 Bradley, Richard 189 Bräker, Ulrich 181, 193, 214, 230 Branconi, Maria Antonia von 183 Breitinger, Johann Jakob 16, 29, 116, 118, 125, 137-139, 141, 281 f. Brennwald, Salomon 161 Brun, Friederike 317 Brunner 337 Brunschweiler, Joachim 219, 231 Buchrucker, Christian Friedrich 88, 91 Bückler, Johann 219 Bürger, Gottfried August 207, 239 Bürkli, Johannes 317, 324 Bürkli geb. Schultheß, Ursula 317 Buffon, George Louis Leclerc 193 Bultmann, Rudolf 64, 75 Bunbury, Henry William 236, 241 Burckhard 203 Burini, Pierre 257 Cagliostro, Alessandro, Ps. fur Guiseppe Balsamo 257, 274, 340 Calas, Jean 194, 207 f. Calvin, Jean 31, 35 Campe, Johann Heinrich 49, 55 Camper, Pieter 184, 189 Cardanus 203 Carus, Cari Gustav 178, 186, 204, 206, 212, 246 Caspari, Anton Philipp 102 Catt, Heinrich 203 Cenci, Beatrice 19 Charcot, J.-M. 256

Charlotte, Königin von Großbritannien 48, 80 Chodowiecki, Daniel Nicolaus 186, 194, 207 f., 220, 225 Claudius, Matthias 48, 222, 232 Clauss, L. F. 190 Collenbusch, Samuel 102 f. Condillac 125 Cramer, Johann Andreas 118 Cranoise 192 Cromwell, Oliver 136 Crugot, Martin 47, 90, 118 Cuningham, Francis, Ps. fur Goens, Ryclow Michael 278 Cuvier, Georges 186-208 Darwin, Charles 189, 197, 210 Daumier, Honoré 190 David, J.-L. 189 Deinet, Johann Konrad 263-265, 278 della Porta 187 f. Deluc 239 Dostojewski, Feodor Michajlovich 345 Duchenne, G. B. 189 Dürer, Albrecht 266 Ebeling, Gerhard 65, 75, 78 Eberhard 99, 268 Eckartshausen, Karl von 205 Eduard, Prinz von England 80 Eibenschütz, Jonathan 128 f., 143, 145 Emden, Jacob (Jacob Hirschel) 128 f., 144-146 Engel, Johann Jakob 247 Ernesti, Johann August 118 Erxleben 234 Escher (von der Linth), Konrad 20, 22 Felgenhauer, Paul 117, 135 £ Fellenberg, Daniel 124 Feuerbach, Ludwig 60 Fichte, Johann Gottlieb 202 Fischer, H. C. 316 Flaxman, John 188 Formey, Johann Heinrich Samuel 139 Frankel, Johann Caspar 337 Freitag, Rudolf 151, 162 Freud, Sigmund 184 f., 203, 257

Friedrich II., König von Preußen 48, 203, 304, 308-310, 320 Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg 182 Fries, Jakob Friedrich 69, 337 Frisi, Paolo 320 Füßli zum Feuermörser 16 Füßli, Johann Conrad 118 Füßli, Johann Heinrich 9, 11, 19, 123 f., 138, 181, 202, 209 f., 230, 280, 301, 317 f , 323, 327 f., 334 f Füßli, Johann Rudolf 337 Fugger von Glött, Josef Sebastian Graf von 79 Galilei, Galileo 185, 206 Gall, Franz Joseph 190-192, 209, 211 f., 233, 245, 251, 256, 259, 344 f. Garve, Christian G. 129 f., 148, 202, 205, 210 Gaßner, Johann 81, 257, 274 Geliert, Christian Fürchtegott 118 Geßner, Georg 17, 286 f., 342 Geßner, Salomon 10, 14, 16, 118, 293, 317 f. Girard 302 Girodet, Anne-Louise 189 Glein, Johann Wilhelm Ludwig 11, 293, 318, 324, 328 Gluck, Christian Willibald von 49 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 19 f., 36, 69, 79, 82 f., 90, 102, 111, 147, 149, 166, 177, 186 f., 204, 206-209, 212, 222, 228, 234 f., 239 f., 245247, 251, 260-279, 292 Goncharov 345 Gottsched, Johann Christoph 49 Grandville 190, 197 Gratiolet, L. P. 189 Grebel, Felix 261, 277, 291, 300 f., 328 Grimm, Ludwig Emil 215 f., 230 Gugenheim, Abraham 134 Gujer, Jakob (Kleinjogg) 215-232 Habermas, Jürgen 184, 292 Häfeli, Johann Kaspar 228 Hahn, Philipp Matthäus 82 Halem, Gerhard Anton von 160

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Halevi, Hasdai 145 Halle 186 Haller, Albrecht von 19, 118, 135 f., 186, 211 f., 240, 242, 259, 303 Hamann, Johann Georg 17, 61, 69, 77 Haneike, Peter 71, 77 Hartknoch 337 Hartlieb, Johannes 201 Hartmann, Israel 82 Hasenkamp, Johann Gerhard 86, 102 f., 111, 153, 159, 261, 277 Hauber, D. E. 201 Haugwitz, Christian August Heinrich Kurt Graf von 228 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 213 Hegi, Salomon 260 Heidegger, Martin 62, 74 Heinse, Wilhelm 102, 247, 252 Henning 49 Herbort 316 Herder, Johann Gottfried von 17, 20, 28, 61, 69 f., 72, 77, 79, 99, 118, 166, 177, 221, 228, 235, 245, 265, 267, 278 f. Herz, Elkan 142 Heß, Johann Caspar 280 Heß, Johann Felix 123 f., 134, 138, 158, 211, 280, 283 Heß, Johann Heinrich 48, 134, 138, 162, 280 Heß, Johann Jacob 91, 117, 138, 152, 280-290, 294, 299 Heymann, Mendel 134 Hirzel, Johann Caspar 16, 215, 230, 293 Hogarth, William 188, 208, 236 Horkheimer, Max 176, 178, 206 Hottinger, Johann Jakob 12, 16, 22, 284 Hotze, Johannes 228 Hülshoff 215 Humboldt, Alexander von 245 Humboldt, Wilhelm von 205 Husserl, Edmund 190 Huter, Carl 186 Ibn Gabirol 147 Irminger, Jakob 302 Iselin, Isaak 124, 128, 137 f., 143, 212

350

Jacobi, Friedrich Heinrich 42, 53, 102, 202, 318 Jean Paul (Friedrich Richter) 26, 41, 211, 248 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhem 117 f., 125, 135, 140 f. Joseph II., Kaiser 246, 256 Jüngel, Eberhard 75 Jung-Stilling, Heinrich 20, 85, 102-112, 286, 289 Kafka, Franz 75 Kant, Immanuel 39, 69, 71, 114, 118, 132, 185, 193, 200 f., 206-208 Karamzin, Nikolai 188, 340, 343 Karg, Johann Christoph 89 Karl August, Herzog von Sachsen-Weimar 273 Kassner, Rudolf 192 Katharina II., Zarin 340 f. Kaufmann, Christoph 228 Kayser, Philipp Christoph 228 Keller, Gottfried 18-20, 22, 260, 277 Klages, Ludwig 186 Klettenberg, Susanna Katharina von 83, 261, 269 Klinger, Friedrich Maximilian von 340 Klopstock, Friedrich Gotdieb 11, 13— 15, 47-49, 118, 181 f., 202, 239, 280 f. Klotz, Christian Adolf 118, 129, 148 Knorr von Rosenroth, Christian 146 Kolumbus, Christoph 30, 47, 55 Kotzebue, August 191, 211 f. Krafft-Ebing 190 Krämer, Johann Jakob 38 Kraus, Karl 250 Kretschmer, Ernst 186, 255, 259 Kuhn 302 Kutorga 344 Kutuzov, A. M. 339 Lamarck, Jean Baptiste 208 Lambert, Johann Heinrich 118, 169, 178 Landolt 325 La Roche, Sophie von 247 Lavater, Diethelm 12, 158

Lavater, Heinrich 160, 210 Lavater, Johann Heinrich 157 f., 163 Lavater geb. Escher, Regula 157, 163, 257, 280 Le Brun 187 f. Leade, Jane 113 Le Grand, Jacques 201 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 114 f., 125, 132 f., 135, 141, 147, 168 f , 177, 182, 206 Lenz, Jakob Michael Reinhold 166, 177, 340 Lermontov, Michael Jürgewitsch 211, 343 Lessing, Gotthold Ephraim 77 f., 93, 96, 98, 104 f., 111, 128, 133, 137, 143, 177, 245-249, 251 f., 293 Lichtenberg, Georg Christoph 168— 175, 177-179, 188, 192 f., 200, 207, 210, 212, 218, 231, 234-242, 246 f., 252 Lips, Johann Heinrich 219 Linne, Carl von 187, 237 Ljungberg, Jons Matthias 241 Locke, John 125, 141, 185, 248 Low, Sophie von 90 Lombroso, C. 256, 259 Lopuchin, Ivan Vladimirovich 338, 342 Loyola, Ignatius von 255 Ludwig XVI., König von Frankreich 12, 294 Lüdke, Friedrich Germanus 148 Luga, Isaak 142 Luther, Martin 22, 31, 35, 232, 255, 267 Macchiavelli, Nicolo 270 Maimonides 127, 129, 143, 145-147 Manasseh Ben Israel 136 Maria Feodorovna, Gemahlin von Zar Paul I. 107, 111, 341 Matthisson, Friedrich von 325 Maximilian, Kaiser 305 Maximilian Julius Leopold, Erbprinz von Braunschweig 135, 140 Mechel, Christian von 215, 230 Meckel, Philipp 211 Meiners, Christoph 156, 165

Meister, Heinrich 16, 317 Meister, Leonhard 16, 280 Melanchthon, Philipp 203 Melville, Hermann 233 f., 241 Menasche Ben Israel 145 Mendelssohn, Hayyim 134 Mendelssohn, Moses 11, 34, 57, 114-148, 205, 239, 242, 245 f., 248, 337 Merzljakov 342 Mesner, Franz Anton 201, 211, 253, 257, 259 Meyer von Schauensee 302 Meyer, Johann Rudolf 214 Michelangelo 255 Milton, John 13 f. Moser, Justus 181, 202 Moltmann, Jürgen 63 f., 75 Montaigne, Michel 243 Mordechai 215 More, Henry 206 Moreau de la Sarthe, J. L. 188, 256 Morel, B.A. 189 f. Moritz, Karl Philipp 184, 204, 247, 252 Moses Ben Schern Tov de Leon 142 Müller, Christian 292 Müller, Johannes von 298, 317-336 Müller, Marianus 125, 140 Muralt, Anna Barbara von 161 Musäus, Johann Karl 181, 246, 251 Nebel, E. L. W. 200 Nekrasov 344 Newton, Isaac 30, 47, 206, 255 Nicolai, Friedrich 97, 116, 135-137, 147, 177 f., 236, 245, 251 f., 324, 337, 341 Nicolay, Ludwig Heinrich von 340 Niklaus von Flüe 303, 314 Nordau, Max 190 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 202 Novikov 338 Obereit, Jakob Hermann 136 Obereit, Johann Jakob 69, 77 Oberlin, Johann Friedrich 85, 90 f. Oetinger, Friedrich Christoph 103, 128, 144

351

Oeynhausen, Wilhelmine Gräfin von 286 Origenes 35, 104 f., 110 Otto, Rudolf 77 Overbeck, Franz 95, 100 Panaev 344 Pannenberg, Wolfhart 64, 75 Pascal, Biaise 16, 129, 147, 205 Passavant, Jakob Ludwig 228, 284 Paul VI., Papst 201 Paul I., Zar 340 f. Pergolesi, Giovanni Battista 49 Pernety, Antoine-Joseph 184, 202-205 Persius 114, 132 Pestalozzi, Johann Heinrich 9, 12, 20, 22, 147, 291-299, 302 Petersen, Johann Wilhelm 104, 110, 113 Petersen, Johanna Eleonora 110, 113 Peucer 203 Peuschel, C. A. 181 Pfenninger, Johann Heinrich 220, 225 Pfenninger, Johann Konrad 228, 269 f., 279 Planta, Martin 302 Piaton 128, 143 Poe, Edgar Allan 211 Polanyi, Michael 187 Pope, Alexander 13, 129, 183 Prokopovich-Antonskij, A. A. 342 Pütter, Johann Stephan 240 Pushkin, Aleksander Sergejevitch 343 Puységur, Armand de 257 f. Radishchev, A. 339 f., 343 Recke, Elise von der 340 Reich, Philipp Erasmus 236 Reichard, Elias Caspar 201, 212 f. Reimarus, Hermann Samuel 93 f., 96 Reinhard, Joseph 214 Rengger, Albrecht 20, 22, 302 Resewitz, Johann Friedrich Gabriel 118, 130, 148 Reventlow, Julia von 85, 89 f. Riedel, Friedrich Justus 118, 129, 136, 148 Rimskij-Korsakov 341

352

Rinderknecht, Katharina 88 Robinet 200 Rousseau, Jean Jacques 12, 30, 278, 325, 339 Rubens, Peter Paul 266 Ruoesch, Johann Baptist von 84 Sabbatai Zwi 128, 135, 143 f. Sack, August Friedrich Wilhelm 99, 118, 327 Sailer, Johann Michael 79, 84 Saint-Hilaire, E. G. 208 Salis, Johann Gaudenz von 304 Salis, Ulysses von 228 Salzer, Johann Christoph 152 Sander, Heinrich 180, 200 f. Scaliger, Joseph Justus 203 Schellenberg, Johann Rudolf 214, 219, 224, 226, 229-232 Schernhagen 241 Schiller, Friedrich von 247 Schinkel, Karl Friedrich 230 Schinz, Anna Maria 280 Schleiermacher, Friedrich 60, 69 f., 77 f., 98 Schleiss von Löwenfeld, Bernhard Josef 89 Schlözer, August Ludwig 324, 326-328, 335 Schlosser, Johann Georg 228 Schmidt, Arno 233, 241 Schmitz, Hermann 76 Schmoll, Georg Friedrich 219 Schönborn, Gottlieb Friedrich Ernst 272, 279 Schopenhauer, Arthur 243 Schrautenbach, Carl Freiherr von 83, 90 Schreiber, Johannes 85 Schwarz 338 f. Schüppach, Michael 207 Schultheß, Hans Heinrich 227 Schultheß verh. Heß, Maria Barbara 158, 269 Schweitzer, Albert 96 f., 100 Segner, von 140 Seniler, Johann Salomo 24, 89, 94, 96-99, 262, 268 Senancourt 211

Settele, Johann 79, 84, 89 f. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 13, 114, 138 Shakespeare, William 41 Sigaud de la Fond 186, 201 Sixtus V., Papst 201 Sokrates 114, 116 f., 123, 125, 129 f., 143 Spalding, Georg Ludwig 39 Spalding, Johann Joachim 14, 24, 26, 38, 40, 99, 114-118, 122, 124 f., 129, 132, 327 Spengler, Oswald 210 Spinoza, Baruch 143, 270 Spurzheim, Kaspar 209 Stapfer, Philipp Albrecht 296, 302 Steffens, Heinrich 209 Steiger, Nikiaus Friedrich von 235 f. Steinbart, Gotthelf Samuel 93-97, 99 f. Steinbrüchel, Johann Jakob 16, 284 Steiner, Rudolf 204 Steinkopf, Karl Friedrich Adolf 81, 86, 91, 286 Stendhal (Henri Beyle) 211 Sternberg, Alexander von 198 f. Stolberg, Catharina 85 Stolbeig-Stolberg, Christian Graf zu 228, 239 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 160, 228, 239 Stolz, Johann Jakob 228 Stumpf, Kaspar 161 Sturz 239 Stutz, Jakob 216 f. Sulger, Johann Heinrich 90 Sulzer 221 Sulzer, Johann Georg 16, 19, 22, 118, 123 f., 138, 238, 241 Swedenborg, Emanuel 103, 183, 203, 208 Teller, Wilhelm Abraham 94, 96, 99, 268 Thomas a Kempis 16 Thomas von Aquin 147 Thomasius, Christian 182, 201 f., 320 Thourneyser, Etienne 127, 133, 139 Thorvaldsen, Bertel 188 Tillich, Paul 76

Timm, Hermann 76-78 Tissot, Auguste 293 Tobler, Johann Konrad 16, 228, 340, 342 Töllner, Johann Gottlieb 93, 97 Toepffer, Rodolphe 192 f., 199, 212 Tolstoj, Leo 345 Troeltsch, Ernst 209 Tronchin, Jean-Robert 325 f. Troxler, J. P. V. 204 Tscharner, Vinzenz Bernhard 304 Turgenev, Aleksander 342 Turgenev, Ivan 211, 338, 340, 342, 345 Turgenev, Nikolaj 342 Ulrich, Johann Kaspar 14, 16 Ulrich, Johann Rudolf 92, 96 Urlsperger, Johann August 134 Usteri, Leonhard 278 Uz, Johann Peter 293 Vasilevskij, I. 345 Vergü 336 Verri, Alessandro und Pietro 320, 325 Vinci, Leonardo da 188 Voltaire [François-Marie Arouet] 30 Waldmann 305 Wartensleben, Isabella von 84, 90 Waser, Johann Heinrich 288, 317-336 Wegelin 118 Weise, C. F. 205, 208 Weiß, Heinrich 88 Weitbrecht 341 Wesseley, Hartwig 128, 143 Wette, M. L. de 69 Whitman, Walt 211 Wieland, Christoph Martin 236, 245, 247 f., 252 Winckelmann, Johann Joachim 188, 234, 248 Wirz, Johann Konrad 14 Witzmann 339 f. Wolff, Christian 114, 169-174, 177 f., 182, 190, 281 Wolke 47 Wuppermann, Dorothea 102 f. Wyss, David von 326 353

Young, Edward 14, 117 Zachariae, Friedrich Wilhelm 262 Zhukovskij 342 Zimmermann, Johann Georg 16, 19, 22, 38, 88, 90, 112, 114, 116, 119, 125, 129, 131, 135 f., 138, 141, 147, 228, 234-241, 254, 277, 339, 341

354

Zimmermann, Johann Jakob 14 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 77, 83 f., 289 Zola, Emile 211 Zollikofer, Georg joachim 148, 339 Zwingli, Ulrich 31

Die Autoren ACKVA, Friedhelm (1959), Dr. theol., Pfarrer, Evangl. Landeskirche Baden/ Deutschland BLANKENBURG, Martin (1949), M . A . (phil.), wiss. Publizist, freischaffender Redakteur, Berlin/Deutschland DELLSPERGER, Rudolf (1943), Prof. Dr. theol., Ordinarius für Neuere Kirchengeschichte, Konfessionskunde u. Theologiegeschichte, Ev.-theol. Fakultät, Universität Bern/Schweiz EßELING, Gerhard (1912), Honorarprofessor, Prof em., Dr.D., Universität Zürich/Schweiz GRAY, Richard T. (1952), Ph.D., Prof., Department of Germanics, University of Washington, Seattle/USA HEIER, Edmund (1926), Prof. Dr., Dpt. of Germanic and Slavic Lang, und Lit., University of Waterloo/Canada HuiziNG, Klaas (1958), Privatdozent Dr. phil. Dr. theol. habil., Institut für Systematische Theologie, Universität München/Deutschland IM HOF, Ulrich (1917), o. Prof. Dr. (em.), Phil.-Hist. Fakultät, Universität Bern/Schweiz LUGINBÜHL-WEBER, Gisela, Dr., freie wissenschaftliche Mitarbeiterin, Basel/ Schweiz MESSERLI, Alfred (1953), Dr., Zürich/Schweiz OHAGE, August (1933), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für deutsche Philologie, Universität Göttingen/Deutschland PESTALOZZI, Karl (1929), o. Prof. Dr. phil., Deutsches Seminar der Universität Basel/Schweiz SAUER, Martin (1951), Dr. theol., Fachbereich Evangelische Theologie, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz/Deutschland SHIMBO, Sukeyoshi (1938), Prof. f. Germanistik, Kuyushu-Universität in Fukuoka/Japan SHOOKMAN, Ellis (1957), Ph.D., Associate Professor of German, Dartmouth College, Hanover, New Hampshire/USA STADLER, Peter (1925), o. Prof. Dr. em., Universität Zürich/Schweiz WALSER, Hans H. (1920), Prof Dr. med., Arztpraxis (Psychiatrie), Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich/Schweiz WALSER, Jürg Peter (1934), Dr., Bonstettenarchiv, Zürich/Schweiz WEHRLI, Max (1909), Prof. Dr. phil. (Dr. phil. h.c.), Universität Zürich/ Schweiz WEIGELT, Horst (1934), Prof. Dr., Institut fur Evang. Theologie, Otto-Friedrich Universität Bamberg/Deutschland 355

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Kurt Aland, Erhard Peschke und Gerhard Schäfer. Eine Auswahl:

28: Erhard Peschke

Die frühen Katechismuspredigten August Hermann Franckes 1693—1695 1992. 235 Seiten, gebunden. ISBN 3-525-55812-0 Diese Arbeit vermittelt einen umfassenden Einblick in die religiös-theologische und sozialethische Gedankenwelt des jungen Francke. Der Grundriß der Predigten ist mit dem Kleinen Katechismus Luthers gegeben, den Hintergrund bilden die sozialen und sittlichen Zustände der Gemeinde Glaucha, das Anliegen Franckes ist eine alle Bereiche des Lebens neu gestaltende Gemeindereform. Die Darstellung will den Leser mit der Methode, dem Gedankengang und den wichtigsten Begriffen der Predigten vertraut machen, auch durch größere Textauszüge. Ein Vergleich mit Franckes späteren, 1726 veröffentlichten Katechismuspredigten läßt bezeichnende Akzentunterschiede erkennen.

29: Daniel L. Brunner

Halle Pietists in England: Anthony William Boehm and the Society for Promoting Christian Knowledge 1993. 271 Seiten mit 2 Abbildungen, gebunden. ISBN 3-525-55813-9 Im Zusammenhang mit verschiedenen moralischen und religiösen Reformbewegungen am Ende des 17. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent, in England und in Neuengland, entstanden persönliche Verbindungen zwischen dem Halleschen Pietismus und der Society for Promoting Christian Knowledge (S.P.C.K.) in London. Die vorliegende Monographie belegt diese Interaktion, indem sie das Wirken hallescher Pietisten im England des frühen 18.Jahrhunderts untersucht, insbesondere das Anton Wilhelm Böhmes (1673 bis 1722), des einflußreichsten Hallensers außerhalb Deutschlands.

30: Markus Matthias

Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. 1993. 404 Seiten, gebunden. ISBN 3-525-55814-7 Die Studie zeichnet das Leben zweier der fesselndsten Gestalten des frühen Pietismus und Weggefahrten Philipp Jakob Speners bis in die Mitte ihres Lebens nach. Radikaler als Spener und später August Hermann Francke haben die Petersens dem theologischen Impetus des Pietismus in sich Raum gegeben und die Konsequenzen aus seiner Gedankenwelt gezogen. Besondere Bedeutung gewinnt dabei ihr Einstehen für eine von der subjektiven Erfahrung bestimmte Theologie, in der Leben und Denken ursächlich miteinander verknüpft sind (Praxis pietatis).

V&R

Vandenhoeck Ruprecht