Von Konstantinopel nach Genf: Quellen zum Wirken Richard Lichtheims [1 ed.] 9783666311482, 9783525311486


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Von Konstantinopel nach Genf: Quellen zum Wirken Richard Lichtheims [1 ed.]
 9783666311482, 9783525311486

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VON KONSTANTINOPEL NACH GENF Quellen zum Wirken Richard Lichtheims

Herausgegeben von Andrea Kirchner

archiv jüdischer geschichte und kultur

Band 7

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666311482 | CC BY-NC-ND 4.0

Archiv jüdischer Geschichte und Kultur Archive of Jewish History and Culture Band / Volume 7

Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig



On behalf of the Saxonian Academy of Sciences and Humanities at Leipzig



Stefan Hofmann Martin Jost Georg Wehse



Franziska Jockenhöfer Markus Kirchhoff

herausgegeben / edited von / by Dan Diner Redaktion / editorial staff

Vandenhoeck & Ruprecht © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666311482 | CC BY-NC-ND 4.0

Von Konstantinopel nach Genf Quellen zum Wirken Richard Lichtheims Herausgegeben von Andrea Kirchner

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Das »Archiv jüdischer Geschichte und Kultur« ist Teil des Forschungsvorhabens »Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und wird im Rahmen des Akademien­programms von der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Sachsen gefördert. Das Akademienprogramm wird koordiniert von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Diese Publikation wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6673 ISBN (Print) 978-3-525-31148-6 ISBN (PDF) 978-3-666-31148-2 https://doi.org/10.13109/9783666311482

Dieses Material steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org / licenses / by-nc-nd/4.0/.

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Richard Lichtheim, o. O., um 1930 (CZA, PHG/1106275)

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Richard Lichtheim: Biografie und Wirken . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Jüdischer Diplomat und nonkonformer Zionist . . . . . . . 15 1.2 Herkunft und politisches Erwachen . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3 Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw . . . . . . . . . 20 1.4 Berlin: In der Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.5 Genf: Diplomatie während des Holocaust . . . . . . . . . . . 36 1.6 Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas . . . . . . . . 48 1.7 Historiografie und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Editorische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5. Liste der Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 6. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 7. Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 II. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Editorische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw . . . . . . . . . . . 73 2. Berlin: In der Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Genf: Diplomatie während des Holocaust . . . . . . . . . . . . . 295 4. Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas . . . . . . . . . . 527

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Inhalt

III. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

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Vorwort

Richard Lichtheim stand nicht im Zentrum der zionistischen Bewegung. Recht eigentlich war er eine Person, die zu entscheidenden Weichenstellungen des Zionismus vom Rande her wirkte. Indes handelt es sich hierbei um einen Rand, dessen Wahrnehmungs- und Erkenntnispegel ihn in ein Zentrum hinein beförderte, das sich erst im Nachhinein, in historischer Perspektive, erschließt. Randständig war seine politische Orientierung im Zionismus nach dessen diplomatischem Erfolg im Ersten Weltkrieg. Lichtheim, der einer akkulturier­ ten deutsch-jüdischen Familie entstammte, schloss sich in den 1920er Jahren der Fraktion der Zionisten-Revisionisten unter Wladimir Jabotinsky an. Für sein Milieu war das eine höchst ungewöhnliche politische Entscheidung, zumal die Anhängerschaft der Revisionisten eher aus osteuropäischen Juden bestand. Zudem war ihr Programm überaus militant. So strebten sie die Erlangung jüdischer Herrschaft über Palästina mittels sofortiger Masseneinwanderung an und bedienten sich dabei politischer, diplomatischer, vor allem aber militärischer Mittel. Damit standen die Revisionisten in frontaler Opposition zum Mehrheitszionismus unter Führung von Chaim Weizmann und David Ben-Gurion, die die Strategie eines sogenannten synthetischen Zionismus verfolgten. Dabei ging es um eine graduelle Aneignung des Landes mittels schrittweisen Bodenkaufs und seiner landwirtschaftlichen Bearbeitung. Zugleich lagen die Orte Lichtheims zentraler Aktivität innerhalb des Zionismus eher an der Peripherie: Es handelte sich nicht um London, wo bereits vom Ersten Weltkrieg an in erster Linie Weizmann wirkte, auch nicht um New York, von wo aus Ben-Gurion 1942 eine Richtungswende des Zionismus von Großbritannien auf die Vereinigten Staaten einleitete, aber auch nicht um Jerusalem, von wo aus die zionistische Politik im jüdischen Palästina, im Jischuw, umgesetzt wurde. Lichtheim hingegen war im Verlauf seines politisch-diplomatischen Wirkens in Konstantinopel und in Genf anzutreffen. Während des Ersten Weltkriegs war er in Konstantinopel, der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reichs, aktiv, dem die Landschaft Palästina zugehörte. Dort war er im Auftrag des Jischuw besonders damit befasst, die harschen Maßnahmen der Türken in der Levante, die sich gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen richteten, von den dort lebenden Juden abzuwenden, die vornehmlich russische Staatsangehörige waren und damit einem Kriegs­

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Vorwort

gegner zugehörten. Dies ermöglichten ihm seine Kontakte zu den am Bos­ porus residierenden Vertretern des Deutschen Reichs, einem wichtigen Bünd­ nispartner des Osmanischen Reichs. Von seiner dortigen Warte vermochte Lichtheim das Kriegsgeschehen und die davon ausgehenden Weltläufe besonders realitätsnah wahrzunehmen. Das galt nicht zuletzt für den Blick auf den Massenmord an den Armeniern, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs aus Genf und damit aus der neutralen Schweiz, von jener anderen, jetzt im Herzen Europas stehenden Warte seines diplomatischen Wirkens, verstand er als einer der ersten, dass es sich bei den Massenmorden an den europäischen Juden um etwas neues, im äußersten Sinne Radikales handelte: um eine systematische und totale Vernichtung. Als Ort des inzwischen abgedankten Völkerbunds waren in Genf weiterhin Diplomaten sowie Agenten der Alliierten wie der Achse präsent. Diese insulare Konstellation, in der sich zu den Ereignissen des Kriegs Nähe und Distanz mischten, machte den Zugang zu Informationen wie kaum an einem anderen Ort in Europa möglich. Hier schälte sich früher als anderswo ein Gesamtbild dessen heraus, was später als Holocaust bezeichnet wurde. Der Blick in das Antlitz der Medusa erschütterte Lichtheim zutiefst. Von da an distanzierte er sich zunehmend vom Zionismus, dem es, in seiner revisionistischen Variante, in erster Linie um die Behebung der Not der Juden in Europa gegangen war. Die Vernichtung der europäischen Juden hatte in seinen Augen das grundständige Anliegen des Zionismus, vor allem seines Zionismus, zutiefst beschädigt. In der Folge nahm er Abstand vom Revisionismus, dessen inhaltliche Zielsetzungen mittlerweile mehrheitsfähig geworden waren, und näherte sich zunehmend jenen Kreisen im jüdischen Palästina an, die sowohl die Verständigung mit den arabischen Bewohnern des Landes suchten als auch bereit waren, sich mit der britischen Mandatsmacht abzufinden. Dass sich diese Kreise wesentlich aus deutschsprachigen mitteleuropäischen Juden zusammensetzten, erwies sich für Lichtheim als eine Art Rückkehr zu seinen Wurzeln. Als akkulturierter deutscher Jude war er der jüdischen Religion und einer auf hebräischer Sprache und Tradition beruhenden Kultur fremd geblieben und damit auch einer im Werden begriffenen, zwar säkularen, aber hebräischen Nation. Enttäuscht zog sich Lichtheim, der im revisionistischen Zionismus so etwas wie ein »weißer Rabe« gewesen war, aus dem Leben der sich ausbildenden israelischen Öffentlichkeit zurück. Andrea Kirchner gebührt großer Dank dafür, dass sie Richard Lichtheim, eine Person aus der politischen Peripherie des Zionismus, ins Zentrum des forscherischen Interesses gerückt hat. Ihre Arbeit ist Teil eines Prozesses der Historisierung, der jenseits ideologischer Festlegungen einen tiefen Blick in höchst komplexe historische Prozesse erlaubt. Kirchner zeigt, wie der klaren Zugehörigkeiten eher entfernte Lichtheim die Konturen seiner Epoche offen­

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Vorwort

bar nüchterner und damit freilich auch ernüchterter zu erfassen vermochte als viele seiner Zeitgenossen. Mit dieser Dokumentensammlung wie auch der parallel dazu erarbeiteten Dissertation »Emissär der jüdischen Sache. Eine politische Biografie Richard Lichtheims« präsentiert sie ein zionistisches Profil, dessen Schicksal im Schatten der Erfahrung von Enttäuschung, nicht im gleißenden Licht einer Erfüllung aufzusuchen ist. Für die akribische und professionelle editorische und redaktionelle Betreuung dieses Bands dankt der Herausgeber der Reihe Stefan Hofmann, Martin Jost, Georg Wehse, Franziska Jockenhöfer und Markus Kirchhoff. Dan Diner Herausgeber der Reihe

Jerusalem / Leipzig Juni 2022

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Abkürzungen

AC Aktionskomitee CZA Central Zionist Archives EAC Engeres Aktionskomitee IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz JI Jabotinsky Institute JDC American Jewish Joint Distribution Committee (kurz Joint) KH Keren Hayesod KKL Keren Kayemeth LeIsrael (Jüdischer Nationalfonds) ZO Zionistische Organisation ZVfD Zionistische Vereinigung für Deutschland

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I. Einleitung

1. Richard Lichtheim: Biograf ie und Wirken 1.1 Jüdischer Diplomat und nonkonformer Zionist »Man denkt bei Nennung des Landes Israel häufig an [David] Ben-­Gurion – heute ein leitender Staatsmann. Wer indes die Vorgeschichte der aufstrebenden Republik kennt, der begreift, daß [ihre] Entstehung auf die Tätigkeit nicht eines einzigen Führers, sondern einer langen Reihe von Pionieren zurückgeht, auf die jahrzehntelange Aktion der zionistischen Bewegung. Vor ungefähr einem Monat wurde der 75.  Geburtstag eines der verdientesten Vorkämpfer des jüdischen Staatswesens gefeiert, der oft im Stillen gewirkt hat, dessen Wirken aber wesentlich dazu beitrug, die Voraussetzungen für die Geburt des neuen Israels zu schaffen. Richard Lichtheim ist einer der hervorragendsten Staatsmänner des Zionismus: ein Diplomat im besten, positivsten Sinne des Wortes. […] Man glaubte um 1943 bis 1945, Lichtheim werde der Außenminister des künftigen Judenstaats werden; denn niemand war würdiger und geeigneter, die jüdische Außenpolitik zu lenken.«1 Diese huldigende Rückschau veröffentlichte der Historiker und Journalist Peter Bloch 1960 in der schweizerischen Arbeiter-Zeitung. Heute weithin unbekannt, war der 1885 in Berlin geborene Politiker und Publizist Richard Lichtheim, dessen Wirken im Mittelpunkt dieser Edition steht, einer der bedeutendsten Repräsentanten zionistischer Diplomatie. Über Jahrzehnte hinweg vertrat er die Interessen der jüdischen Nationalbewegung und des Jischuw, der vorstaatlichen jüdischen Ansiedlung in Palästina, gegenüber den herrschenden Mächten der Zeit. Gewissermaßen verkörperte er damit eine moderne Variante des traditionellen shtadlan, des Fürsprechers der diasporischen Juden bei nichtjüdischen Autoritäten.2 1 2

Peter Bloch, Ein Wegbereiter des Staates Israel, in: Arbeiter-Zeitung, 29. März 1960, 3. Hervorhebung im Original. Zur jüdischen Diplomatiegeschichte im 19. Jahrhundert siehe Dan Diner, »Meines Bruders Wächter« – Zur Diplomatie jüdischer Fragen, in: Dan Diner, Gedächtniszei-

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Einleitung

Zweimal wirkte Lichtheim als Diplomat des Zionismus  – zu weltgeschichtlich wie für die jüdische Geschichte einschneidenden und katastro­ phalen Zeiten, an diplomatisch bedeutsamen Orten: in Konstantinopel während des Ersten Weltkriegs, in Genf während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. In der politischen Biografie Lichtheims markieren die Orte Konstantinopel und Genf somit die wesentlichen Konstellationen seiner diplomatischen Tätigkeit. Darüber hinaus stehen sie für entscheidende Verschiebungen seiner politischen Orientierung innerhalb des Zionismus. Im Zuge seines diplomatischhumanitären Wirkens während beider Weltkriege aktualisierten sich seine Vorstellungen von jüdischer Selbstbestimmung in Palästina. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss er sich in den 1920er Jahren der Oppositionsbewegung des russischen Zionisten Wladimir Jabotinsky, der Union der Zionisten-Revisionisten, an und forderte die entschiedenere Durchsetzung der jüdischen Ansiedlung in Palästina beiderseits des Jordan sowohl gegenüber der arabischen Bevölkerung als auch gegenüber der Mandatsmacht Großbritannien. Als aber angesichts des Holocaust die Mehrheit der zionistischen Bewegung zu Beginn der 1940er Jahre die wesentlichen Forderungen der Revisionisten übernahm, revidierte Lichtheim seine Ansichten erneut: Er verwarf die Idee umgehender jüdischer Staatlichkeit und trat nunmehr für die Fortsetzung der britischen Verwaltung Palästinas ein. Aus den geläufigen zionistischen Geschichtserzählungen fällt Lichtheim heraus. Dabei erlaubt seine ebenso von den zionistischen Hoffnungen und Erwartungen des 20. Jahrhunderts wie von dessen Katastrophen und Verwerfungen gekennzeichnete Biografie gleich ein ganzes Panorama historischer Entwicklungen in den Blick zu nehmen und einen zeitlich langen sowie geografisch weiten Bogen zu spannen, der von der Hauptstadt des im Ersten Weltkrieg zerfallenden Osmanischen Reichs über London, Berlin und Jerusalem in den 1920er und 1930er Jahren bis hin ins Genf der 1940er und die letzten Jahre der britischen Mandatszeit in Palästina reicht. In Lichtheims Biografie verschränkt sich die Geschichte der innerzionistischen Streitfragen um die Ausgestaltung nationaler Selbstbestimmung mit wenig beachteten Episoden vorstaatlicher jüdischer Diplomatie. Nicht zuletzt scheint in ihr ein

ten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 113–124; Markus Kirchhoff, Einfluss ohne Macht. Jüdische Diplomatiegeschichte 1815–1878, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeiträume jüdischer Geschichte, Göttingen 2005, 121–146. Zur Unterscheidung von diasporischer und zionistischer Diplomatie siehe Markus Kirchhoff, Diasporische versus zionistische Diplomatie, 1878–1917, in: Aschkenaz – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 17 (2007), 123–146.

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Richard Lichtheim: Biografie und Wirken

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vernachlässigtes Kapitel jüdischer Rettungsversuche während des Holocaust auf, das die Wissensgeschichte über den Holocaust erweitert. Die Figur Lichtheim ermöglicht es also, den Blick von der Peripherie auf zentrale Ereignisse und Prozesse der zionistischen wie auch allgemeinen jüdischen Geschichte zu richten. Sie bietet dabei Anlass, die etablierten Narrative kritisch zu überprüfen und die oftmals allzu teleologisch erzählte Erfolgs­geschichte der jüdischen Nationalbewegung von der Judenstaatsidee Theodor Herzls bis zur Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung des Staats Israel im Jahr 1948 zu hinterfragen. 1.2 Herkunft und politisches Erwachen Richard Lichtheim wurde am 16. Februar 1885 in Berlin als Sohn einer bürgerlichen, der jüdischen Tradition und Religion entfremdeten Familie geboren. Sowohl die aus Ostpreußen stammende Familie des als Getreidemakler tätigen Vaters Georg (1849–1908) als auch die der Mutter Clara (1857–1896, geb. Pollack) waren einem ausgeprägten Assimilations- und Integrationsideal verpflichtet; ihr Verhältnis zur jüdischen Religion war allenfalls oberflächlich. So erfuhren Lichtheim und seine Schwester Eva (1883–?) keinerlei jüdische Erziehung.3 Vielmehr wurde ihm auf dem Bismarck-Gymnasium im Berliner Stadtteil Wilmersdorf eine klassisch humanistische Bildung zuteil. Diffuse Gefühle der Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv empfand er laut seinen Memoiren allenfalls in der Begegnung mit jüdischer Geschichte, Kultur und Literatur.4 Einem jüdischen Gottesdienst wohnte er erstmals als junger Student und eher zufällig bei.5 Zugleich zählten antisemitische Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft für ihn zu prägenden Sozialisationserfahrungen, die ihm früh die Grenzen des elterlichen Bemühens deutlich machten. Bereits in seiner Jugend begann er den assimilatorischen Lebensstil seines Elternhauses zu hinterfragen.6 Einer jüdischen Lebensform verlustig und zugleich ohne Hoffnung auf vollständige Integration in die Umgebungsgesellschaft, durchlief Lichtheim schließlich während seines Studiums eine regelrechte Konversion zum Zionismus, der ihm als geeignete Option er-

3 4 5 6

Richard Lichtheim, Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus, Stuttgart 1970, 17–39. Ebd., 62. Ebd., 144–146. Ebd., 50 f.

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Einleitung

schien, das eigene Selbstverständnis im jüdisch-nationalen Sinne neu zu konfigurieren. Nach dem Abitur 1903 studierte er an den Universitäten Berlin und Freiburg zunächst zwei Jahre Medizin (1904–1906) und anschließend fünf Semester Nationalökonomie (1906–1909).7 Bereits während des ersten Semesters an der Berliner Universität traf er auf seinen Kommilitonen Felix A. Theilhaber, der ihm die Lektüre der Schriften Theodor Herzls und anderer zionistischer Vordenker empfahl. Sie überzeugten ihn schließlich von der nationaljüdischen Idee, allein eine souveräne Heimstätte sei der Ausweg aus der wirtschaftlich und sozial prekären Situation der jüdischen Bevölkerung des östlichen wie auch des westlichen Europas.8 Im Herbst 1904 schloss er sich im Alter von 19 Jahren der Berliner zionistischen Studentenverbindung Hasmonäa an und machte sich in den kommenden Jahren innerhalb zionistischer Studentenzirkel einen Namen als talentierter Redner, Journalist und Propagandist.9 Intellektuell geprägt von führenden Zionisten wie Otto Warburg, Arthur Ruppin und Chaim ­Weizmann entwickelte er sich zu einem Befürworter des synthetischen Zionismus, der das Engagement des politischen Zionismus für internationale Garantien mit dem Streben des praktischen Zionismus nach einer sofortigen Ansiedlung in Palästina verband.10 Mit seinen Reden und Propaganda­ schriften erlangte Lichtheim bald Bekanntheit als eine der führenden Figuren dieser Strömung, die spätestens ab 1912 die deutsche Bewegung bestimmte.11 Sie strebte nach der Überwindung der Diaspora und schrieb auf dem 13. De-

7 Eine als Dissertation geplante Schrift wurde zwar angefertigt, aber nicht eingereicht. Siehe Universitätsarchiv der Humboldt Universität Berlin, Abgangszeugnis 10. März 1908 (RS.01, AZ, Nr. 1653); Universitätsarchiv der Universität Freiburg, Studienund Sittenzeugnisse vom 17. August 1905 (B 44/88/213) und vom 5. Februar 1909 (B 44/40/364). Lichtheims auf den 5. Februar 1909 datierte Abschlussarbeit mit dem Titel Psychologie und Werttheorie befindet sich in den Central Zionist Archives unter A56/10. 8 Lichtheim, Rückkehr, 67 f. 9 Zu Richard Lichtheims frühen Reden siehe auch CZA, A56/31. 10 Siehe u. a. Richard Lichtheim, Das Problem der Gegenwartsarbeit, in: Jüdische Rundschau, 3. Mai 1907, 180–182; Richard Lichtheim, Verein oder Bewegung, in: Jüdische Rundschau, 3. Juli 1908, 256 f.; Richard Lichtheim, Die Forderung des Tages, in: Jüdische Rundschau, 19. Juni 1908, 234 f.; Richard Lichtheim, Entwirrung  I. Führerpflicht, in: Jüdische Rundschau, 5. Oktober 1909, 450; Richard Lichtheim, Entwirrung II. Politischer Zionismus, in: Jüdische Rundschau, 15. Oktober 1909, 461. 11 Siehe Jörg Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997, 19–36.

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Richard Lichtheim: Biografie und Wirken

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legiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland in Posen die Auswanderung nach Palästina als Lebensprogramm eines jeden Zionisten fest.12 Innerhalb der zionistischen Institutionen und Gremien Deutschlands stieg Lichtheim zügig auf: 1907 wurde er in das Präsidium des Kartells Zionistischer Verbindungen, einem Zusammenschluss zionistischer Studentenbünde, gewählt; 1908 nahm er erstmals als gewählter Vertreter am Delegiertentag der ZVfD und 1909 am Neunten Zionistenkongress in Hamburg teil. Eine Erbschaft infolge des frühen Todes des wohlhabend gewordenen Vaters brachte Lichtheim finanzielle Unabhängigkeit und erlaubte es ihm, sich gänzlich in den oftmals schlecht oder gar unbezahlten Dienst der zionistischen Bewegung zu stellen. So konnte er Ende Januar 1910 unentgeltlich den Vorsitz der Kommission des Jüdischen Nationalfonds für Deutschland übernehmen.13 Im Frühjahr desselben Jahres reiste Lichtheim gemeinsam mit einer kleinen Gruppe deutscher Zionisten nach Palästina, um sich erstmals selbst ein Bild von den Verhältnissen vor Ort zu machen.14 Laut seinem Reisegefährten Ludwig Pinner reifte infolge dieser Erfahrung in Lichtheim der Wunsch, selbst zeitnah nach Palästina überzusiedeln.15 Im September 1910 wurde er jedoch in den Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD gewählt, was dieses Vorhaben vorerst zum Erliegen brachte.16 Über den deutschen Zionismus hinaus zogen seine Talente die Aufmerksamkeit der Zionistischen Organisation, des Weltverbands der Zionisten, auf sich. Nachdem er mit seiner Schrift Das Programm des Zionismus (1911) innerhalb der Gesamtbewegung bekannt geworden war, wurde er im Nachgang des Zehnten Zionistenkongresses in Basel 1911 von der neuen Leitung der 12 Zur Posener Resolution siehe Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987, 269–279. 13 Lichtheim, Rückkehr, 122. Der Keren Kayemeth LeIsrael oder Jüdische Nationalfonds ist eine 1901 gegründete zionistische Körperschaft, die ursprünglich für den Ankauf von Boden in Palästina zuständig war. 14 Zu Lichtheims Reisegefährten zählten Wilhelm Brünn, der Nationalökonom Franz Oppenheimer, der Arzt Theodor Zlocisti, Ludwig Pinner sowie dessen Vater Reinhold Pinner und Gideon Heymann. Lichtheim hat diese Reise ausführlich in seinen Memoiren beschrieben. Siehe dazu ebd., 147–177. Auch Pinner hat einen kurzen Reisebericht verfasst: CZA, A56/25, Ludwig Pinner, Palästina-Reise 1910. 15 Siehe Ludwig Pinner, Richard Lichtheim, in: Eli Rothschild (Hg.), Meilensteine. Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen (K. J.V.) in der zionistischen Bewegung, Tel Aviv 1972, 379–385, hier 380. Siehe dazu auch die Korrespondenzen mit Elias Auerbach über den Ankauf von Land in Haifa im Nachgang der Reise: CZA, A56/32. 16 Lichtheim, Rückkehr, 178.

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Einleitung

Zionistischen Organisation, dem Engeren Aktionskomitee, zum politischen Sekretär ernannt. Zugleich übernahm er die Stelle des leitenden Redakteurs der Wochenschrift Die Welt, dem 1897 von Herzl gegründeten zionistischen Zentralorgan.17 1.3 Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw Der Quellenteil dieser Edition setzt mit dem Wirken Lichtheims in Konstantinopel während des Ersten Weltkriegs ein (II. 1). 1913 beschloss das Engere Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, Lichtheim in die osmanische Hauptstadt zu entsenden, um dort die Arbeit des russischen Zionisten Victor Jacobson zu unterstützen.18 Initiator dessen war Jacobson selbst, der seit 1908 als ständiger Vertreter der Zionistischen Organisation in Konstantinopel ein Büro unterhielt, das im Zuge der jungtürkischen Revolution und ihrer Verheißung von Reform und Mitbestimmung eingerichtet worden war.19 Mit dem Ansinnen, Lichtheim als Mitarbeiter für das Büro zu gewinnen, hatte Jacobson ihn bereits zweieinhalb Jahre zuvor, im Frühjahr 1911, zu einer Studienfahrt nach Konstantinopel eingeladen. In den wenigen Wochen seines Aufenthalts führte Jacobson ihn in die gesellschaftlichen Kreise der Stadt ein und machte ihn mit den Anforderungen der zionistischen Arbeit vertraut. Dabei lernte Lichtheim auch seine spätere Frau Irene Hefter (1890–1960) kennen, von der nicht viel mehr bekannt ist, als dass sie eine Kaufmanns­ tochter aus angesehenem Hause und Schülerin der Alliance Israélite Universelle war.20 Nachdem Lichtheim die Redaktionsleitung der Welt niedergelegt hatte, reiste er im Herbst 1913 erneut nach Konstantinopel, um den Posten als Stellvertreter Jacobsons anzutreten. Begleitet wurde er diesmal von seiner Familie: Das junge Paar war inzwischen verheiratet; der Sohn George21 war bereits ein 17 Ebd., 197. 18 Ebd., 212. 19 Yvonne Meybohm, David Wolffsohn, Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914), Göttingen 2013, 300–309. 20 Ebd., 192; siehe auch Miriam Lichtheim, Telling it Briefly. A Memoir of My Life, Fribourg 1999, 18. 21 George Lichtheim (1912–1973) begann 1932 ein Jurastudium an der Universität in Heidelberg. Nach der Machtübertragung auf Hitler 1933 ging er zunächst nach London, wo ihm sein Vater eine Anstellung als Abteilungsleiter in der Warenhauskette Marks & Spencer besorgt hatte. 1934 ließ er sich in Jerusalem nieder, wo er ab 1935

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Richard Lichtheim: Biografie und Wirken

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knappes Jahr alt und Irene Lichtheim zu diesem Zeitpunkt erneut schwanger mit der Tochter Miriam,22 die im Mai 1914 in Konstantinopel geboren wurde. War Lichtheim zuvor vor allem als Propagandist der zionistischen Bewegung in Erscheinung getreten, wurde er in Konstantinopel zum ersten Mal mit den Realitäten der Großen Politik konfrontiert. Mit gerade einmal 29 Jahren und ohne dafür eigens geschult worden zu sein nahm er ab Herbst 1913 die Vertretung zionistischer Interessen nach außen und damit quasidiplomatische Funktionen wahr. Eigentlich bloß Stellvertreter Jacobsons, war er schon bald auf sich allein gestellt. Jacobson, der als Mitglied des EAC oft auch in Berlin tätig war, blieb der Arbeit in Konstantinopel zeitweise monatelang fern. Mit dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Krieg auf der Seite der Mittelmächte blieb ihm als russischem Staatsangehörigen und damit feindlichem Ausländer die Rückkehr nach Konstantinopel schließlich ganz verwehrt.23 Bis zum Kriegsbeginn im Sommer 1914 bestanden die Anstrengungen der Zionisten in Konstantinopel zum einen in gezielter Pressearbeit. Damit suchten sie die öffentliche Meinung, die Judenheiten des Osmanischen Reichs sowie Innenminister Talât Pascha, Kriegsminister Enver Pascha und Marineminister Cemal Pascha, die das Reich seit 1913 als Triumvirat diktatorisch regierten, generell positiv gegenüber den zionistischen Palästina-Bestrebungen zu stimmen. Zum anderen bemühten sich Lichtheim und Jacobson in für die Palestine Post als Journalist tätig war. Er gehörte zu dem Kreis um Gershom Scholem, dessen Hauptwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen er ins Englische übersetzte (Major Trends in Jewish Mysticism, 1941). 1945 reiste er als Berichterstatter für die Palestine Post zu den Kriegsverbrecherprozessen nach Nürnberg. Anschließend ließ er sich erneut in London nieder und publizierte ausgiebig zur Geschichte und Theorie des Sozialismus und Marxismus. 1973 nahm er sich in London das Leben. Walter Laqueur, George Lichtheim, 1912–1973, in: Walter Laqueur, America, Europe, and the Soviet Union. Selected Essays, New Brunswick, N. J. / London 1983, 177–190; Thomas Sparr, Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem, Berlin 2018, 106–108. 22 Miriam Lichtheim (1914–2004) legte 1932 ihr Abitur in Berlin ab, siedelte gemeinsam mit ihren Eltern im Sommer 1933 nach Palästina über und studierte bis 1939 Altorientalische Sprachen, Ägyptologie und Gräzistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1941 reiste sie nach kurzem Aufenthalt in Genf in die Vereinigten Staaten, um an der Universität in Chicago zu promovieren. Von 1944 bis 1952 arbeitete sie hier als Forschungsassistentin. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1974 war sie als Ägyptologin an verschiedenen amerikanischen Einrichtungen tätig und publizierte umfassend zu altägyptischer Literatur. 1982 kehrte sie nach Israel zurück und lehrte dort bis 1988 an der Hebräischen Universität. Lichtheim, Telling it Briefly. 23 Lichtheim, Rückkehr, 322 f.

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Einleitung

direkten wie indirekten Verhandlungen mit den jungtürkischen Politikern darum, die Abschaffung der für Juden bestehenden Restriktionen hinsichtlich Einwanderung und Landkauf zu erwirken. Diese hatte die Hohe Pforte angesichts einer zunehmenden jüdischen Immigration vor allem aus Russland in den 1880er Jahren eingeführt und seither wiederholt erneuert (siehe dazu u. a. die Dokumente 1, 2 und 7 in diesem Band).24 Gleichzeitig führte Lichtheim bis zum Sommer 1914 immer wieder Gespräche mit Vertretern arabischer Parteien. Diese Verhandlungen waren im Frühjahr 1913 von Zionisten wie Jacobson, Sami Hochberg, Jacob Thon und Arthur Ruppin initiiert worden, um gemeinsam nach Lösungen für den aufkommenden Konflikt in Palästina zu suchen, und wurden in Konstantinopel und Jaffa sowie in Beirut und Kairo geführt. Ziel des Dialogs war es, die Forderungen der arabischen Gesprächspartner anzuhören und die Rahmenbedingungen für eine mögliche arabisch-zionistische Entente in Palästina auszuloten. Eine eigens dafür geplante Konferenz, die im Sommer 1914 im libanesischen Brumana stattfinden sollte, kam jedoch aufgrund beidseitiger Skepsis an der Vereinbarkeit der jeweiligen Vorstellungen nicht zustande.25 Lichtheim, der die Initiative angesichts erster gewaltsamer Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern26 zwar befürwortet hatte, verlor bereits früh die Hoffnung auf eine Lösung, die beide Seiten hätte zufriedenstellen können. Wie wenige andere Zionisten gelangte er im Zuge der direkten Gespräche zu der Überzeugung, dass in Reaktion auf die territorialen und nationalen Bestrebungen der Zionisten auch auf arabischer Seite zunehmend nationale Aspirationen in den Vordergrund traten. Er widersprach daher der damals in weiten Teilen der zionistischen Bewegung gehegten Annahme, durch Verhandlungen und das Versprechen auf ökonomische Vorteile die Zustimmung der arabischen Bevölkerung Palästinas zur Umgestaltung der Region in ein jüdisches Gemeinwesen erlangen zu können (siehe dazu u. a. die Dokumente 1, 6, 8, 9 und 12).

24 Ebd., 215–221. Zu den Restriktionen siehe Neville J. Mandel, Ottoman Practice as Regards Jewish Settlement in Palestine, 1881–1908, in: Middle Eastern Studies  11 (1975), H. 1, 33–46. 25 Ausführlich zu den Gesprächen siehe Neville  J. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, Berkeley, Calif. / Los Angeles, Calif. / London 1976. 26 Zu Frühgeschichte des Konflikts siehe Alan Dowty, Arabs and Jews in Ottoman Palestine. Two Worlds Collide, Bloomington, Ind. 2019; Louis A. Fishman, Jews and Palestinians in the Late Ottoman Era, 1908–1914. Claiming the Homeland, Edinburgh 2002; Benny Morris, Righteous Victims. A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881–2001, New York 2001, bes. Kapitel 2.

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Die Verhandlungen von 1913/1914 sind eine heute wenig beachtete Episode im Palästina-Konflikt; sie bildeten jedoch den ersten ernsthaft unternommenen Versuch beider Parteien, miteinander ins Gespräch zu kommen. Diese frühen Versuche der Annäherung zeugen davon, welches Gewicht zumindest Teile der frühen zionistischen Bewegung einer Übereinkunft mit den bereits in Palästina ansässigen Arabern beimaßen. Gleichzeitig verweist ihr Scheitern, das in der Unvereinbarkeit der nationalen Ansprüche beider Parteien auf dasselbe Territorium begründet lag, auf den Kern des bis heute anhaltenden Konflikts. Mit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs und der sich stetig verschärfenden jungtürkischen Minderheitenpolitik verschob sich Lichtheims Fokus auf den Schutz der in Palästina ansässigen Judenheiten. Die jungtürkischen Revolutionäre von 1908 hatten den Minderheiten des Vielvölkerstaats zunächst mehr Autonomie und Mitbestimmung in Aussicht gestellt. Angesichts des Aufkommens nationaler Unabhängigkeitsbewegungen, die die Stabilität des ohnehin vom Zerfall bedrohten Reichs von innen her schwächten, gingen die Jungtürken jedoch schon bald gegenüber den nichttürkischen Bevölkerungsgruppen zu einer Politik der Unterdrückung und Verfolgung über. Sie strebten schließlich gar eine demografische Umstrukturierung des gesamten Reichs hin zu einem homogenen türkisch-muslimischen Gemeinwesen an. Dies führte bereits in den Jahren vor dem Weltkrieg zur Verfolgung verschiedener nichttürkischer Bevölkerungsgruppen und gipfelte 1915/1916 im Völkermord an den Armeniern. Die Zerrüttung des Verhältnisses zu den griechisch-orthodoxen Christen kulminierte im Zuge und als Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen, aus denen die moderne Türkei hervorging, in ihrer Vertreibung aus ganz Kleinasien.27 Ähnlich wie andere nichttürkische Bevölkerungsgruppen verdächtigte das jungtürkische Regime vor und im Weltkrieg auch die jüdische Bevölkerung Palästinas des Separatismus. Vor allem der im Dezember 1914 zum Oberkommandierenden der Vierten Türkischen Armee und zum Militärgouverneur Syriens ernannte Cemal Pascha zweifelte an der Loyalität der aus Europa kommenden jüdischen Neueinwanderer und ging von der Entstehung neuer nationaler Ansprüche aus, die er als Gefahr für die osmanische Souveränität und Einheit betrachtete. Bis zu seiner Abberufung im Jahr 1917 27 Siehe dazu ausführlich Benny Morris / Dror Ze’evi, The Thirty-Year Genocide. Turkey’s Destruction of Its Christian Minorities, 1894–1924, Cambrige, Mass. / London 2019; Ronald Grigor Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else.« A History of the Armenian Genocide, Princeton, N. J., 2015; Tessa Hofmann (Hg.), Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, Münster 2004.

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Einleitung

nutzte Cemal Pascha seine Machtfülle dazu, die jüdische Ansiedlung und deren Institutionen zu schikanieren (siehe u. a. die Dokumente  14–18,  24 und 28). Handelte es sich bei den Angriffen auf das jüdische Palästina zwar nicht um eine zentral von Konstantinopel aus gelenkte Politik, so bedrohten die wiederholten Repressalien der Provinzregierung den Jischuw gleichwohl ernsthaft in seiner Existenz. Ihren ersten Höhepunkt fand die Kampagne Cemal Paschas kurz nach seiner Ernennung, als er am 17. Dezember 1914 die Ausweisung sämtlicher russischer Juden aus Palästina anordnete, die nun als feindliche Ausländer galten. Davon betroffen waren rund ein Drittel der circa 60 000 Juden des Jischuws.28 Die vollständige Durchführung des Befehls konnte nicht zuletzt dank des schnellen Agierens Lichtheims verhindert werden.29 Nachdem er vom Leiter des Palästina-Amts in Jaffa, Arthur Ruppin, in einem Telegramm über die ergangene Anordnung informiert worden war, begab er sich zum deutschen Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim und bat ihn, beim türkischen Innenminister Talât Pascha gegen das Vorgehen Cemal Paschas zu intervenieren (siehe Dokument 14). Möglich war dieser umgehende Protest aufgrund von Lichtheims intensiven Kontakten zur deutschen Botschaft, die er seit seiner Ankunft in Konstantinopel geknüpft hatte. In monatelangen Bemühungen hatte er die deutschen Diplomaten allmählich mit der jüdischen Nationalbewegung vertraut gemacht und ihr Wohlwollen erlangt, indem er ihnen in zahlreichen Treffen und Memoranden die Nützlichkeit der zionistischen Aspirationen für die imperialen Zielsetzungen des Deutschen Reichs im Nahen Osten auseinandersetzte (siehe Dokument 4).30 Lichtheims Initiativen zahlten sich aus. Der deutsche Botschafter erhob noch am selben Abend Einspruch bei der Hohen Pforte und bewirkte so, 28 Laut Arthur Ruppins 1916 erschienener Schrift Syrien als Wirtschaftsgebiet lebten im Jahr 1914 rund 85 000 jüdische Einwohner in Palästina. Diese Angaben haben sich in der Historiografie weitgehend durchgesetzt. Jedoch hat der Demograf Justin McCarthy plausibel gezeigt, dass von einer deutlich geringeren jüdischen Bevölkerungszahl am Vorabend des Kriegs, nämlich 60 000, ausgegangen werden muss. Die Arabisch sprechende christliche wie muslimische Bevölkerung Palästinas schätzt McCarthy für 1914/1915 auf 600 000 bis 700 000 Personen. Justin McCarthy, The Population of Palestine. Population History and Statistics of the Late Ottoman Period and the Mandate, New York 1990, 1–24. 29 Isaiah Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, Oxford 1977, 214 f.; Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarb. v. Hans Joachim Bieber, Göttingen 1969, 319. 30 Siehe auch Lichtheim, Rückkehr, 241–246.

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dass der Deportationsbefehl Cemal Paschas durch Großwesir Salim Halim Pascha umgehend aufgehoben wurde (siehe Dokument 15).31 Dennoch gelang es Cemal Pascha letztlich, rund 600 russische Juden nach Alexandria auszuweisen.32 Im Nachgang der verhinderten Deportation bemühten sich sowohl Lichtheim in Konstantinopel als auch Vertreter der Zionistischen Organisation in Berlin, die Kontakte zu den deutschen diplomatischen Kreisen weiter zu intensivieren, um im Auswärtigen Amt und bei der Deutschen Botschaft eine generelle Schutzzusage für den Jischuw zu erwirken. Zum einen setzte Lichtheim die Strategie fort, seine deutschen Gesprächspartner werbend von einer deutsch-jüdischen Interessengemeinschaft in Palästina zu überzeugen, indem er den Jischuw mit den Expansionsvorstellungen des Deutschen Reichs verknüpfte. Erneut argumentierte er, die Einwanderung von mit der deutschen Sprache und Kultur eng verbundenen jüdischen Siedlern nach Palästina stelle die Möglichkeit dar, einen deutschfreundlichen Stützpunkt in der Region zu schaffen und damit die deutsche Einflussnahme im Osmanischen Reich auszubauen. Zum anderen verwies er warnend immer wieder darauf, dass man im Ausland die deutsche Regierung als Verbündete der Hohen Pforte für die Untaten der Jungtürken mitverantwortlich machen würde. Mit einer pro-zionistischen Politik wiederum sei die Gunst der amerikanisch-jüdischen Öffentlichkeit zu gewinnen (siehe die Dokumente 15, 18, 20–22). Lichtheims fortgesetzte Bemühungen mündeten in der Anweisung der deutschen Botschaft vom 22. November 1915 an die Konsuln im Osma­ nischen Reich, für den Schutz der jüdischen Bevölkerung einzutreten (Dokument 23). Der erst seit wenigen Tagen amtierende deutsche Botschafter Paul Graf Wolff Metternich teilte in diesem Schreiben mit, dass die »Kaiserliche Regierung den gedachten Bestrebungen des Judentums freundlich gegenübersteht und ihre wohlwollende Haltung auch zu bestätigen bereit ist.«33 Zu

31 Siehe auch Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 319. 32 In der Literatur finden sich dazu unterschiedliche Angaben. Benny Morris gibt 700 Deportierte an. Morris, Righteous Victims, 85. Laut McCarthy wurden 600 russische Juden ausgewiesen. McCarthy, The Population of Palestine, 20. Lichtheim selbst berichtete zunächst von 800 deportierten russischen Juden (Dokument 15). Er korrigierte seine Angabe in späteren Briefen auf 600 (Dokument 19). Zechlin übernahm unkritisch die erste Angabe Lichtheims von 800 Ausgewiesenen. Siehe Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 319. 33 Kaiserliche Deutsche Botschaft in Konstantinopel an das Kaiserliche Konsulat in Jerusalem, 22. November 1915, abgedruckt in: Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 422 f.

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Einleitung

diesem Zweck ermächtigte er die Konsuln, auch eigenständig zu intervenieren,34 wenn nötig auf direktem Wege bei den zuständigen Stellen, ohne vorher mit der Botschaft in Konstantinopel Rücksprache zu halten. Diese Direktive ermöglichte der deutschen Botschaft auch im Jahr 1917 ein schnelles Eingreifen, als Cemal Pascha angesichts der aus Ägypten nach Palästina vorstoßenden britischen Armee unter dem Vorwand kriegsbedingter Notwendigkeit die Räumung der Zivilbevölkerung Jaffas und Jerusalems durchzusetzen versuchte (siehe die Dokumente 25–28). Durch das unverzügliche Handeln deutscher Diplomaten sowohl in Berlin als auch in Palästina konnte zwar nicht mehr die Evakuierung Jaffas, aber doch zumindest die geplante Räumung Jerusalems verhindert werden.35 Auch wenn die deutsche Politik mit dieser für den internen Gebrauch und nicht zur Veröffentlichung gedachten Arbeitsanweisung kein offizielles Bündnis mit dem Zionismus einging, so stellte sie doch die bis dahin weitreichendste politische Unterstützung einer europäischen Regierung dar. Der gewährte Schutz erfolgte nicht aufgrund einer genuinen Sympathie für die Ziele der jüdischen Nationalbewegung, sondern vielmehr aufgrund pragmatischer Überlegungen, die oft nicht frei von antisemitischen Projektionen waren. Zum einen hoffte die deutsche Regierung – eine weltpolitisch einflussreiche »jüdisch-amerikanische Lobby« imaginierend –, mit einer vorsichtigen prozionistischen Politik dazu beitragen zu können, einen amerikanischen Kriegseintritt aufseiten der Entente-Staaten zu verhindern. Zum anderen glaubte man in Berlin, durch die Förderung zionistischer Bestrebungen den infolge der Kriegsereignisse in Europa einsetzenden Strom jüdischer Flüchtlinge von Ost- nach Westeuropa auf Palästina umlenken zu können.36 Im Ergebnis tritt ein enges Band zwischen Berlin und dem jüdischen Gemeinwesen in Palästina in der Zeit des Ersten Weltkriegs hervor, das in eklatantem Gegensatz zum Ausbleiben ähnlicher Schutzbemühungen für die armenische Bevölkerung und andere ethnische Minderheiten steht.

34 Siehe ebd. 35 Zur Evakuierung Jaffas im Frühjahr 1917 siehe Gur Alroey, Exiles in Their Own Land? The Expelled from Tel Aviv and Jaffa in Lower Galilee, 1917–1918, in: Cathedra (2006), H. 120, 135–160 [hebr.]. Verlässliche Angaben darüber, wie viele jüdische Einwohner im Zuge der Evakuierung Jaffa verlassen mussten, existieren nicht. Die Jüdische Rundschau berichtete von 8000 bis 9000 Personen. Siehe Anonymus, Ohne Titel, in: Jüdische Rundschau, 25. Mai 1917, 173. Diese Angaben haben sich auch in der Forschung weitestgehend durchgesetzt. Siehe auch Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 350–353. 36 Ebd., 252.

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Dieser diplomatische Erfolg Lichtheims trat durch weitere Ereignisse und den Verlauf des Kriegs in den Hintergrund. Überstrahlt wurde er von der britischen Balfour-Deklaration vom 2. November 1917. Überschattet wurde er von der Kriegsniederlage des Deutschen Reichs, in deren Folge die deutschen Zionisten, die bis dahin die Geschicke der Gesamtbewegung maßgeblich bestimmten, erheblich an Bedeutung verloren.37 Im Unterschied zur deutschen Patronage war der amerikanische Einsatz für den Jischuw weniger durch wirtschaftliche, territoriale oder kriegstaktische Interessen motiviert. Die Diplomatie der Vereinigten Staaten war hier vor allem von humanitären und religiösen Motiven geprägt.38 Der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel kam dabei besondere Bedeutung zu. Oft waren es Amerikaner jüdischer Herkunft, die das Amt des Botschafters in Konstantinopel einnahmen – damit verband sich zum einen der Gedanke der Solidarität mit der kleinen jüdischen Bevölkerungsgruppe, zum anderen das Ansinnen weitgehender Neutralität hinsichtlich des politisch aufgeladenen, zu auswärtigen Interventionen einladenden Status der Religionsgruppen im Osmanischen Reich.39 So bekleideten auch in den Jahren des Weltkriegs mit Henry Morgenthau40 und Abram Elkus41 zwei Amerikaner jüdischer Herkunft den Posten des Botschafters im Osmanischen Reich. Nach dem Kriegseintritt der jungtürkischen Regierung und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den Entente-Mächten übernahm die amerikanische Botschaft auch den Schutz der russischen, französischen und englischen Juden Palästinas. Morgenthau konnte sich aufgrund seiner amerikanisch-liberalen, assimilationsorientierten Überzeugung nie für den Zionismus als politische Bewegung begeistern, dennoch war ihm der Schutz der jüdischen Ansiedlungen in Palästina nach einem ausführlichen Besuch selbiger zum persönlichen 37 Zur Bedeutung der deutschsprachigen Zionisten innerhalb der Gesamtbewegung siehe Hagit Lavsky, Before Catastrophe, The Distinctive Path of German Zionism, Jerusalem / Detroit, Mich., 21998, 23–25. 38 Siehe Michael B. Oren, Power, Faith, and Fantasy. America in the Middle East, 1776 to the Present, New York 2007, 325–329; Thomas A. Bryson, American Diplomatic Relations with the Middle East, 1784–1975: A Survey, Metuchen, N. J., 1977, 58–74. 39 Cyrus Adler / Aaron M. Margalith, With Firmness in the Right. American Diplomatic Action Affecting Jews, 1840–1945, New York 1946, 63. 40 Zu Morgenthaus Amtszeit im Osmanischen Reich siehe Henry Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus. The Diaries of Ambassador Morgenthau, 1913–1916, hg. v. Ara Sarafian, Princeton, N. J. / London 2004. 41 Zu Elkus’ Amtszeit in Konstantinopel siehe Abram I. Elkus, The Memoirs of Abram Elkus. Lawyer, Ambassador, Statesman, hg. v. Hilmar Kaiser, Princeton, N. J. / London 2004.

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Einleitung

Anliegen geworden (siehe Dokument 3 und 7).42 Lichtheim fand sowohl in Morgenthau als auch seinem Nachfolger Elkus wichtige Unterstützer, die eine Politik der Werte gegenüber der osmanischen Regierung durchzusetzen suchten und zu engen Verbündeten beim Schutz des Jischuws wurden.43 So erwirkte Morgenthau infolge der gewaltsamen Deportation vom 17. Dezember 1914 nach einer Unterredung mit Lichtheim, dass das amerikanische Kriegsschiff USS Tennessee für die Ausreise derjenigen nichtosmanischen Juden zur Verfügung gestellt wurde, die nicht länger in Palästina bleiben oder sich mit ihren nach Ägypten deportierten Familienangehörigen vereinen wollten (siehe Dokument 16).44 Auch unternahm er im Nachgang der abgewendeten Vertreibung gemeinsam mit dem deutschen Botschafter von Wangenheim Schritte bei der türkischen Regierung, um eine Erleichterung der Einbürgerungsbestimmungen für ausländische Juden zu erwirken, die sich im Osmanischen Reich anzusiedeln wünschten (siehe Dokument 17).45 Neben den direkten politischen Verhandlungen mit der jungtürkischen Regierung war die Unterstützung der amerikanischen Botschaft vor allem in finanzieller Hinsicht für das Überleben des Jischuw von Bedeutung, dessen ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage sich nach Kriegsbeginn zusätzlich verschlechtert hatte. Die kriegsbedingte Blockade wichtiger Handelswege machte den Export palästinensischer Waren unmöglich; andersherum konnten die in den Diasporagemeinden Europas gesammelten Spendengelder, auf die vor allem die orthodoxen jüdischen Gemeinden angewiesen waren, nicht mehr nach Palästina übermittelt werden. In enger Zusammenarbeit mit der 42 Während dieser Reise besuchte Morgenthau Einrichtungen des Hilfsvereins der Deutschen Juden, der Alliance Israélite Universelle sowie des B’nai B’rith. Auf Initiative Lichtheims besuchte Morgenthau auch die jüdischen Neugründungen Tel Aviv und Petah Tikva, wo ihn Ruppin mit den Zielen der zionistischen Bewegung vertraut machte. Zumdem kam er während der Reise mit führenden zionistischen Persönlichkeiten wie David Yellin, Nahum Sokolow, Israel Auerbach und Aaron Aaronsohn ins Gespräch. Siehe dazu auch Georg Wehse, Between Armenian Praise and Zionist Critique: Henry Morgenthau and the Jews of the Ottoman Empire, in: Sarah M. Ross /  Regina Randhofer (Hg.), Armenian and Jewish Experience between Expulsion and Destruction, Berlin / Boston, Mass., 2021, 159–179. 43 Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten nahm Morgenthau zwar einen dezidiert antizionistischen Standpunkt ein, unterstützte den Jischuw allerdings weiterhin. Siehe Henry Morgenthau, All in a Life-Time, New York 1922, 384–404; Wehse, Between Armenian Praise and Zionist Critique, 177. 44 Siehe Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 25. Dezember 1914, 156; Frank E. Manuel, The Realities of American-Palestine Relations, Washington 1949, 123. 45 Siehe auch Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 215.

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Botschaft der bis 1917 neutralen Vereinigten Staaten gelang es Lichtheim und Ruppin, Spenden amerikanischer Juden, nach Palästina zu transferieren und dort zu verteilen. Zentrale Bedeutung kam dabei dem 1914 angesichts der Zwangslage des Jischuw gegründeten American Jewish Joint Distribution Committee zu. So war es möglich, den Jischuw in den Kriegsjahren mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern zu versorgen (siehe die Dokumente 16, 18, 24, 25 und 28).46 Lichtheims enge Zusammenarbeit mit den Vertretern der Regierung Woodrow Wilsons, die im Februar 1917 die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich abbrach und zwei Monate später auf der Seite der Entente in den Krieg eintrat, führte schließlich zu einer Abkühlung seiner Beziehungen zur Deutschen Botschaft. Diese bewirkte im April 1917 – vermutlich aufgrund des Verdachts der Spionage – seine Abberufung aus Konstantinopel (siehe die Dokumente 27 und 28).47 Nach seiner Rückkehr nach Berlin arbeitete Lichtheim als Palästina-Sachverständiger der Zionistischen Organisation und Berater für zionistische Angelegenheiten auch weiterhin eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen, das im Gegensatz zur Deutschen Botschaft nicht an seiner Loyalität zu zweifeln schien.48 Nach dem Ende des Kriegs trug dies dazu bei, dass Lichtheim von der deutschen Politik erneut zur Beratung herangezogen wurde. In der Annahme, über die Bestimmungen des in Paris zu vereinbarenden Friedensvertrags mitverhandeln zu können, gründete sich Anfang 1919 aus dem Auswärtigen Amt heraus die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, die unter Rückgriff auf eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschafts- und Finanzwelt daran mitwirken sollte, die deutschen Interessen gegenüber den Siegermächten zu vertreten. In den Monaten März und April 1919 bereitete diese Geschäftsstelle die antizipierten Gespräche vor und berief unter anderem auch eine Expertenkommission für jüdische Angelegenheiten ein – in der Hoffnung, ein positives Programm zur »Judenfrage« würde dazu beitragen, das geschädigte Ansehen Deutschlands wiederherzustellen. Gemeinsam mit dem 46 Laut Lichtheim brachten im Laufe des Kriegs insgesamt 13 amerikanische Schiffe rund 670 000 Dollar nach Palästina. Siehe Lichtheim, Rückkehr, 250. Morris gibt eine Gesamtsumme von 1,25 Millionen Dollar amerikanischer Hilfsgelder während des Kriegs an den Jischuw an. Siehe Morris, Righteous Victims, 85. Laut Abigail Jacobson brachte allein die USS Vulcan im April 1915 900 Tonnen Lebensmittel nach Palästina. Siehe Abigail Jacobson, From Empire to Empire. Jerusalem between Ottoman and British Rule, Syracuse, N. Y. 2011, 46. 47 CZA, Z3/63, Heinrich Graf von Waldburg in Vertretung Richard von Kühlmanns an Richard Lichtheim, 27. April 1917. 48 Lichtheim, Rückkehr, 369 f.

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Einleitung

Vorsitzenden des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Eugen Fuchs und dem Rabbiner Pinchas Cohen formulierte Lichtheim hier einen Forderungskatalog für die gerechtere Neugestaltung der politischen Verhältnisse der europäisch-jüdischen Diaspora und des Jischuw in Palästina, mit dem sich die Leitung der deutschen Außenpolitik grundsätzlich einverstanden zeigte.49 Nachdem die Siegermächte den deutschen Delegierten, die sie nach Paris einluden, allein konzedierten, zu den Friedensbedingungen schriftlich Stellung zu nehmen, kamen diese im Auswärtigen Amt getroffenen Vorbereitungen gar nicht zur Sprache und waren letztlich hinfällig. Für Lichtheim markierten diese Beratungen das Ende seiner Mission, jüdische Interessen in engem Kontakt zur deutschen Außenpolitik durchzusetzen, die sechs Jahre zuvor in Konstantinopel ihren Anfang genommen hatte. Angesichts des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg beschlossen Richard und Irene Lichtheim noch 1919, Deutschland zu verlassen. Nachdem der Versuch gescheitert war, über die Niederlande nach Palästina auszuwandern, da die Lichtheims als deutsche Juden keine Einreisegenehmigung in das britisch besetzte Gebiet erhielten, kehrten sie bereits im Januar 1920 zurück.50 Die Familie ließ sich in Schönberg im Taunus nieder;51 im nahegelegenen Frankfurt hielt Lichtheim im Wintersemester 1920/1921 Vorlesungen zum modernen Judentum im von Franz Rosenzweig begründeten Freien Jüdischen Lehrhaus.52 1.4 Berlin: In der Opposition Innerhalb der zionistischen Bewegung hatte Lichtheim sein unermüdlicher Einsatz für den Jischuw während des Ersten Weltkriegs zu erheblichem Ansehen verholfen. Im Februar 1921 lud ihn Chaim Weizmann, der angesichts der maßgeblich von ihm erwirkten Balfour-Deklaration der international führende Repräsentant des Zionismus geworden war, persönlich dazu ein, in der Zionistischen Exekutive in London mitzuarbeiten.53 Am 2. März 1921 trat Lichtheim seine neue Stelle an und übernahm die Leitung des Organisationsbüros, das unter anderem für die Sammlung der Mitgliedsbeiträge und

49 Jürgen Matthäus, Tagesordnung: Judenfrage. A German Debate in the Early Stages of the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute Yearbook 48 (2003), 87–110, hier 91. 50 Lichtheim, Rückkehr, 381 f. 51 Stadtarchiv Kronberg, StA Kbg 2121, Meldebuch der Gemeinde Schönberg. 52 CZA, A56/9, Notizbücher zur Vorlesungsreihe gehalten im Wintersemester 1920/1921. 53 Lichtheim, Rückkehr, 382.

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die Vorbereitung und Einberufung der regelmäßigen Treffen der leitenden Körperschaften der Zionistischen Organisation zuständig war.54 Schon bald nach seinem Eintritt in die Exekutive geriet er jedoch in Meinungsverschiedenheiten mit Weizmann. Diese bezogen sich vor allem auf die zionistische Politik gegenüber Großbritannien, die Behandlung der sogenannten arabischen Frage sowie den von Weizmann forcierten Plan einer Beteiligung nichtzionistischer Kreise an der Arbeit der Zionistischen Organisation. Gegenüber den moderaten Einwanderungsplänen Weizmanns, der eine allmähliche Besiedlung Palästinas mit diplomatischer Unterstützung der Briten anstrebte, plädierte Lichtheim zwar für eine ökonomisch abgesicherte, aber massenhafte Immigration, deren Regulierung in den Händen der Zionisten liegen sollte. Auch sprach er sich gegen eine Mitarbeit von Nicht-­ Zionisten in den Gremien der Zionistischen Organisation aus, da er dadurch die nationale Zielsetzung der Bewegung gefährdet sah und eine Verwässerung des zionistischen Programms befürchtete. Ebenso lehnte er die vorsichtige diplomatische Linie Weizmanns gegenüber dem britischen Mandatar ab.55 Seit den gescheiterten Gesprächen 1913/1914 mit den Vertretern arabischer Parteien war Lichtheim von deren unüberwindbarer Gegnerschaft gegenüber den jüdischen Aspirationen in Palästina überzeugt. Zu Beginn der 1920er Jahre trat er daher für eine aktivistischere zionistische Politik ein, die bereit war, das Ziel einer nationalen Heimstätte auch gegen den Willen der arabischen Bevölkerung durchzusetzen. Seine Überlegungen dazu legte er erstmals ausführlich in dem Artikel Unsere arabische Frage dar, der im Januar 1922 in der Jüdischen Rundschau erschien.56 Der sich schnell zuspitzende Konflikt zwischen Weizmann und Lichtheim führte nach nur zwei Jahren zum Austritt Lichtheims aus der Exekutive.57 Nach seiner Rückkehr nach Berlin im Sommer 1923 hielt er sich zunächst mit der Übernahme öffentlicher Funktionen zurück – dies auch, weil ihn der Verlust eines Großteils des geerbten Familienvermögens durch die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre zwang, einer regulären Beschäftigung nach-

54 Anonymus, Der Zionisten-Kongress im August? Bildung einer provisorischen Leitung, in: Jüdische Rundschau, 11. März 1921, 1. 55 Richard Lichtheim, Die Hauptprobleme des XIII. Zionistenkongresses, in: Jüdische Rundschau, 11. Mai 1923, 223–225; Richard Lichtheim, Die Hauptprobleme des XIII. Zionistenkongresses, in: Jüdische Rundschau, 18. Mai 1923, 236–238. 56 Richard Lichtheim, Unsere arabische Frage, in: Jüdische Rundschau, 27. Januar 1922, 47–49, (26. Februar 2022). 57 Richard Lichtheim, Zur neuesten Organisationskrise, in: Jüdische Rundschau, 8. Januar 1924, 10.

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zugehen. Ab 1923 war er zunächst als leitender Angestellter der Allianz-Versicherungs-Aktiengesellschaft tätig. Ende 1927 übernahm er die Leitung der Berliner Filiale der Wiener Versicherungsgesellschaft Phönix.58 Im Dezember 1926 trat Lichtheim Wladimir Jabotinskys Oppositionsbewegung der Union der Zionisten-Revisionisten bei, die im April 1925 gegründet worden war.59 Lichtheims dortiges Wirken ist Gegenstand des zweiten Abschnitts des Quellenteils (II. 2). Jabotinskys Anhänger setzten sich für eine Revision der zionistischen Politik im Sinne einer »Rückkehr« zu dem ein, was sie als die ursprüngliche Vision der Herzl’schen Judenstaatspolitik interpretierten: Sie forderten die schnellstmögliche Herstellung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, die Aufstellung einer jüdischen Armee und allen voran die Etablierung eines souveränen jüdischen Gemeinwesens in Palästina. Als angemessenes Territorium für Letzteres visierten sie langfristig auch das ursprünglich zum britischen Mandatsgebiet gehörige und seit 1921 halbautonome Emirat Transjordanien an, das sie als in historischer, geografischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht untrennbar mit Palästina verknüpft betrachteten.60 Jabotinskys Parole »Der Jordan hat zwei Ufer. Das eine gehört uns, und das andere auch«61 wurde zum Leitmotiv der Bewegung. Innerhalb der zunächst vorrangig von Juden aus dem östlichen Europa geprägten revisionistischen Bewegung war Lichtheim einer der wenigen namhaften deutschen Zionisten. Mit seinem Beitritt zur Union der ZionistenRevisionisten übernahm er auch den Vorsitz des deutschen Landesverbands, der bis dahin wenig in Erscheinung getreten war. Bis zu seiner Auswanderung nach Palästina 1933 versuchte er, dem revisionistischen Programm auch in-

58 CZA, A56/15, Richard Lichtheim an den Direktor der Allianz, R. Beckhaus, 26. Oktober 1927; CZA, A56/15, R. Beckhaus an Richard Lichtheim, 28. Oktober 1927. 59 Anonymus, Empfang für Jabotinsky in Berlin, in: Jüdische Rundschau, 7. Dezember 1926, 698; Richard Lichtheim, Der Revisionismus und seine Kritiker, in: Jüdische Rundschau, 23. Dezember 1926, 731 f. 60 Siehe Zentralbüro der Zionisten-Revisionisten (Hg.), Grundsätze des Revisionismus. Aus den Resolutionen der I., II. und III. Weltkonferenzen der Revisionistischen Union, Paris 1929; Meir Grossmann / Joseph Schechtman, Das Revisionistische Aufbauprogramm, Paris 1929; Richard Lichtheim, Revisionismus, in: Barissia – Jüdische akademisch-technische Verbindung (Hg.), Parteien und Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen, Prag 1931, 44–54. Ausführlich zu den territorialen Forderungen der Revisionisten und deren Begründung siehe Joseph Schechtman, Transjordanien im Bereiche des Palästinamandates, Wien 1937. 61 Wladimir Jabotinsky, Smol ha-Yarden [Links des Jordan], in: Doar ha-yom, 11. April 1930, 2.

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nerhalb der deutschen zionistischen Bewegung Gehör zu verschaffen,62 die in den 1920er Jahren in ihrer Mehrheit linksliberal geprägt war, einen gemäßigten Nationalismus vertrat und eine ausnehmend loyale Haltung gegenüber Chaim Weizmann einnahm (siehe die Dokumente  30,  33,  40,  44 und  45). Unter der Leitung von Kurt Blumenfeld, dem langjährigen Vorsitzenden der ZVfD, und Robert Weltsch, dem Chefredakteur der Jüdischen Rundschau, sprach sich die deutsche Bewegung fast geschlossen dafür aus, einen Kompromiss mit der arabischen Bevölkerung in Palästina zu finden.63 Blumenfeld und Weltsch waren es folglich auch, die die Hauptlast der revisionistischen Kritik zu tragen hatten (siehe Dokument 33). Trotz einer solchen Deutungshoheit gelang es den deutschen Revisionisten um Lichtheim, die innerzionistischen Diskussionen maßgeblich mitzugestalten und den revisionistischen Forderungen nach jüdischer Dominanz in Palästina auch unter den deutschen Zionisten zu mehr Akzeptanz zu verhelfen. Ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Schwäche waren es die Revisionisten, die die schwersten Krisen innerhalb der ZVfD auslösten und deren Einheit immer wieder herausforderten. Insbesondere nach den arabischen Unruhen in Palästina 1929, die von Jerusalem ausgehend schnell das restliche Mandatsgebiet erfasst hatten und in deren Zuge 133 Juden und 116 Araber getötet, 339  Juden und 232  Araber verletzt worden waren,64 gelang es den Revisionisten um Lichtheim, auch in Deutschland ihre Anhängerschaft zu vergrößern.65 Ihre Hoffnung, innerhalb der ZVfD einen Richtungswechsel 62 Siehe dazu auch Francis  R. Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I). Richard Lichtheim and the Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 1926–1933, in: Leo Baeck Institute Yearbook 31 (1986), 209–240. 63 Zu den Besonderheiten der deutschen Zionisten und ihrer Unterstützung für Weizmann siehe u. a. Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016, bes. 94–112; Yfaat Weiss, Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism, in: Jew­ ish Social Studies 11 (2004), H. 1, 93–117; Jehuda Reinharz, Chaim Weizmann and German Jewry, in: Leo Baeck Institute Yearbook 35 (1990), 189–218; Lavsky, Before Catastrophe, bes. 61–87. 64 Für eine detaillierte Darstellung der Ereignisse siehe Hillel Cohen, 1929. Year Zero of the Arab-Israeli Conflict, Waltham, Mass., 2015. 65 Vor allem in Berlin verzeichneten die Revisionisten und ihre Jugendorganisation Brith Trumpeldor in der zweiten Hälfte des Jahres 1929 großen Zulauf. Siehe Ano­ nymus, Germany, in: The Revisionist Bulletin  4, 28. Oktober 1929,  1 f. Der Brith Trumpeldor verzeichnete demzufolge in Berlin 70 Mitglieder. Im Dezember 1929 bestand die Berliner Ortsgruppe der Revisionisten aus mehr als 250 Mitgliedern. Siehe Anonymus, Die Wahlen zum Delegiertentag, in: Hed-Bethar, 14. Dezember 1929, 1. Auch in anderen Städten Deutschlands gründeten sich neue Ortsgruppen.

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herbeiführen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Stark um innere Einheit bemüht, hielt die Mehrheit der deutschen Zionisten auch nach den Unruhen von 1929 an ihrer linksliberalen Haltung und ihrer Unterstützung für Blumenfeld und Weltsch fest.66 Innerhalb der Gesamtbewegung verbesserte sich allerdings die Stellung der Revisionisten nach den Unruhen deutlich. Bereits bei den Wahlen zur jüdischen Nationalversammlung in Palästina im Januar 1931 verzeichneten sie einen deutlichen Stimmengewinn, der sie zur zweitstärksten Fraktion im Jischuw machte.67 Hingegen gelang es ihnen auf dem 17. Zionistenkongress 1931 in Basel nicht, ihr Programm durchzusetzen. Zwar trat Weizmann nach harscher Kritik an seiner ungebrochen probritischen Haltung auf dem Kongress in Basel von seinem Amt als Präsident der Zionistischen Organisation zurück, zu seinem Nachfolger wurde jedoch Nahum Sokolow gewählt – und nicht wie von den Revisionisten erhofft Jabotinsky. Auch die von den Revisionisten geforderte offizielle Festlegung der Organisation auf das langfristige Ziel eines jüdischen Staats beiderseits des Jordan wurde vom Kongress abgelehnt.68 Die Niederlage in Basel wurde zur Zerreißprobe für die Anhänger Jabotinskys, in deren Folge sich erneut diejenigen Stimmen mehrten, die einen Austritt der Union aus der Zionistischen Organisation verlangten.69 In der Folge entbrannte eine Debatte insbesondere zwischen der liberalen Gründergeneration von aus Europa stammenden Revisionisten um Meir Grossmann und Lichtheim einerseits und einer radikaleren, vornehmlich in Palästina agierenden jüngeren Generation um Wolfgang von Weisl und Abba Achimeir, die seit Ende der 1920er Jahre eine immer eigenständigere Politik verfolgten und zunehmend auch faschistische Ideen vertraten.70 Lichtheim und Grossmann wehrten sich entschieden gegen den wachsenden Einfluss der Revisionisten Palästinas und plädierten vehement für die Wahrung der Disziplin gegenüber den offiziell gewählten Körperschaften der Bewegung (siehe die Dokumente 35, 36, 40 und 41). Im Zuge dieser Auseinandersetzungen, in denen sich Jabotinsky weder von den Methoden des palästinensischen

66 Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 223–229; Lavsky, Before Catastrophe, 219–226. 67 Anonymus, Die Wahlen zur Assefath Niwcharim, in: Jüdische Rundschau, 9. Januar 1931, 1. 68 Anonymus, Kongreß-Beschluss gegen Weizmann, in: Jüdische Rundschau, 12. Juli 1931, 1. 69 Zu den Auswirkungen des 17. Zionistenkongresses 1931 in Basel auf die innerrevisio­ nistischen Konflikte siehe auch Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 229–240. 70 Siehe dazu auch Dan Tamir, Hebrew Fascism in Palestine, 1922–1942, Cham 2018.

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Verbandes distanzierte noch seine Austrittspläne aufgab, verschlechterte sich auch Lichtheims Verhältnis zu Jabotinsky fundamental (Dokument 37). Die politischen Richtungskämpfe führten 1933 nicht nur zum endgültigen Bruch zwischen Jabotinsky und Lichtheim / Grossmann, sondern auch zur Spaltung der revisionistischen Bewegung insgesamt und ihrer anschließenden Marginalisierung.71 Auf dem 18. Zionistenkongress, der im Sommer 1933 in Prag stattfand, gründete Meir Grossmann schließlich die Judenstaatspartei, die an den territorialen und politischen Maximalforderungen nach einem jüdischen Staat beiderseits des Jordan festhielt, diese aber auf dem Boden von Parlamentarismus und Demokratie innerhalb der Zionistischen Organisation durchzusetzen suchte.72 Am Prager Kongress nahm Lichtheim schon nicht mehr teil. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland hatte ihn dazu bewegt, Vorbereitungen für die Auswanderung nach Palästina zu treffen. Im September 1933 kehrte er gemeinsam mit seiner Familie Deutschland endgültig den Rücken. Im Herbst desselben Jahres schloss er sich Grossmanns neuer Partei an, hielt sich aus deren Geschicken allerdings weitgehend heraus (siehe Dokument  46). Stattdessen widmete er sich dem Aufbau des bis heute in Israel bestehenden Versicherungsunternehmens Migdal.73 Im Zuge der Diskussionen um den britischen Peel-Plan, der in Reaktion auf den seit 1936 schwelenden arabischen Aufstand eine Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug, trat Lichtheim 1937 schließlich aus der Partei aus.74 Im Gegensatz zu seinen Parteigenossen plädierte er für die Annahme des Plans. Allerdings handelte es sich hier keineswegs um eine Abkehr Lichtheims vom Revisionismus. Vielmehr betrachtete er die Er71 Zur Spaltung der Revisionisten siehe Jan Zouplna, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union: From the Boulogne Agreement to the Katowice Putsch, 1931–1933, in: The Journal of Israeli History 24 (2005), H. 1, 35–63. 72 JI, L6–1, Kongressbeschlüsse der Judenstaatspartei – Sonderverband der Zionisten-­ Revisionisten in der Zionistischen Weltorganisation, 29. August 1933. Zum Programm der Partei siehe Robert Stricker, Was will die Judenstaatspartei?, Wien 1933. Die Diskussionen um das Verhältnis der Union der Zionisten-Revisionisten zur Zionistischen Organisation kamen erst zu einem Ende, als Jabotinsky 1935 seine Forderung durchsetzte und die eigenständige, von der Zionistischen Organisation unabhängige Neue Zionistische Organisation gründete. 73 Zur Gründung der Migdal siehe Anonymus, Notices, in: The Palestine Gazette, 20. September 1934, 960 f.; Anonymus, A New Insurance Co., Migdal Insurance Co., Ltd., Commencement of Activities, in: The Palestine Post, 19. Juni 1934, 8. 74 Anonymus, Jewish State Party Rejects Partition, in: JTA Daily Bulletin, 1. August 1937, 3.

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richtung eines jüdischen Gemeinwesens in einem Teilgebiet Palästinas nur als ersten Schritt hin zu einem großjüdischen Staat beiderseits des Jordan (siehe die Dokumente 47 und 48). 1.5 Genf: Diplomatie während des Holocaust Nachdem Lichtheim sich von der oppositionellen Parteipolitik gelöst hatte, wurde ihm erneut ein Posten durch die offiziellen zionistischen Institutionen angetragen. Dieser führte ihn in der dunkelsten Stunde der europäischen Juden zurück in die Arena der internationalen Diplomatie. Dem Wirken Lichtheims in Genf während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust widmet sich der dritte Abschnitt des Quellenteils (II. 3), der den Schwerpunkt dieser Edition bildet. Auf dem 21. Kongress der Zionistischen Organisation, der im August 1939 in Genf bereits ganz im Zeichen des drohenden Kriegs stattfand, baten David Ben-Gurion und Yitzhak Grünbaum im Namen der Jewish Agency Lichtheim darum, vorerst weiterhin in Europa zu verbleiben: Er sollte während des Kriegs die Verbindung zwischen den zionistischen Leitungsbüros in Jerusalem, London und New York mit den europäischen Landesorganisationen aufrechterhalten.75 Nicht nur hatte ihm sein Austritt aus der Judenstaatspartei und seine Befürwortung des Teilungsplans, für dessen Annahme auch Ben-Gurion plädiert hatte, erneut das Vertrauen der zionistischen Leitung eingebracht, auch schien er aufgrund seiner Erfahrung während des Ersten Weltkriegs ein geeigneter Kandidat für diese Mission zu sein. Lichtheim nahm diesen Auftrag bereitwillig an und noch im September begann er, die Vorbereitungen für die Einrichtung eines Organisationsbüros in Genf zu treffen. Anfang November mietete er dafür Räumlichkeiten in dem renommierten Palais Wilson an. In dem direkt am Genfer See gelegenen Gebäudekomplex, der bis 1936 dem Völkerbund als Organisationssitz gedient hatte, war auch die von Gerhart M. Riegner geleitete Vertretung des World Jewish Congress untergebracht.76 Als Lichtheims Stellvertreter fungierte fortan der 75 CZA, S25/1581, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach (Jewish Agency, Jerusalem), Bericht des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939, 4. Januar 1940; CZA, L22/65, Richard Lichtheim an Kurt Blumenfeld (Keren Hayesod, New York), 4. Dezember 1939. 76 Ebd.; CZA, L22/106, Richard Lichtheim an Eliezer Kaplan (Jewish Agency, Jerusalem), 3. November 1939. Nachdem die Räumlichkeiten im Palais Wilson von den Schweizer Behörden für Regierungsbüros beansprucht wurden, zog Lichtheims Büro im Dezember 1942 in das Centre International um, das im ehemaligen Hotel

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1902 in Böhmen geborene Fritz Ullmann; dessen Frau Charlotte, geb. Einhorn, war als Sekretärin für das Büro tätig.77 In den ersten beiden Kriegsjahren war das Büro mit der Aufrechterhaltung der klassischen zionistischen Organisationsarbeit beschäftigt. Dies umfasste neben der Unterstützung des Schweizer Zionistenverbands vor allem die Regelung der Auswanderung nach Palästina. Gemeinsam mit Ullmann etablierte Lichtheim zudem einen Informationsdienst, der die noch in Europa operierenden zionistischen Verbände über die aktuellen Entwicklungen im Jischuw unterrichtete. Zudem sorgte er in Zusammenarbeit mit Joseph Weiss, dem europäischen Repräsentanten des Keren Kayemeth LeIsrael dafür, dass die in Europa gesammelten Gelder der zionistischen Fonds den Jischuw in Palästina erreichten.78 Zugleich entwickelte sich das Büro bereits in den ersten Wochen und Monaten des Kriegs zu mehr als einer rein zionistischen Verbindungsstelle. Aufgrund seiner Lage in Genf, das als Zentrum der internationalen Diplomatie einen ständigen Informationsaustausch begünstigte, fungierte es als einer der zentralen Kommunikationspunkte zwischen den verfolgten Judenheiten Europas, dem Jischuw und den Hauptstädten der westlichen Alliierten.79 Zeitweise vollständig von den Armeen der Achsenmächte umringt, von einem Angriff jedoch verschont geblieben, ermöglichte es die neutrale Schweiz Lichtheim, die sich stetig radikalisierende Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten aus relativer Nähe zu beobachten. Die ihm zugänglichen Informationen übermittelte er in ausführlichen Berichten und mit der Bitte um Bekanntmachung an seine Kollegen in Jerusalem, London und New York. Sie bildeten eine der Hauptinformationsquellen des Jischuw ebenso wie jüdischer Institutionen in England und den Vereinigten Staaten.80

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Bellevue am Quai Wilson 37 eingerichtet wurde und in das auch die Büros anderer internationaler Organisationen verlagert wurden, CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach und Joseph Linton, 17. Dezember 1942 (Brief Nr. 928); CZA, L22/14, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 26. Februar 1942 (Brief Nr. 629). Jan Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, London 2017, 94. CZA, S25/1581, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Bericht des Genfer Büros; Richard Lichtheim, Geneva Office. A Zionist Message from Europe, in: The New Palestine, 7. Februar 1941, 7 f. Zu Genf als Ort jüdischer Diplomatie siehe Jacques Picard, Art. Genf, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg.  v. Dan Diner [nachfolgend: Diner (Hg.), EJGK], 7 Bde., Weimar / Stuttgart 2011–2017, hier Bd. 2, 411–417. Tuvia Friling, Arrows in the Dark. Ben-Gurion, the Yishuv Leadership, and Rescue Attempts during the Holocaust, 2 Bde., Madison, Wisc., 2005, hier Bd. 1, 33; Dina

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Zu Lichtheims Hauptadressaten zählte Leo Lauterbach vom Organisationsdepartment der Jewish Agency in Jerusalem, der die Berichte auch an die restlichen Mitglieder der Exekutive sowie an David Ben-Gurion persönlich weiterleitete (siehe Dokument  51). Zudem wandte er sich regelmäßig an Joseph Linton, den Leiter des Jewish Agency Büros in London, sowie ab März 1941 an Arthur Lourie, Sekretär des American Emergency Committee for Zionist Affairs in New York. Darüber hinaus war er mit Henry Montor, dem Vizepräsidenten des United Jewish Appeal, und Nahum Goldmann vom World Jewish Congress in Kontakt. Details aus Lichtheims Telegrammen und Briefen wurden für die Berichterstattung in der jüdischen Presse in Palästina und den Vereinigten Staaten verwendet, was er – unter der Bedingung, dass die Identitäten der Informanten geschützt blieben – ausdrücklich befürwortete.81 Ebenso erreichten seine Berichte ab 1941 das von dem litauischen Juristen Jacob Robinson in New York eingerichtete Institute of Jewish Affairs.82 Darüber hinaus zirkulierten Lichtheims Berichte spätestens ab Frühjahr 1942 in den diplomatischen Kreisen der westlichen Alliierten sowie des Vatikans (Dokumente 64 und 79). Seine Informationen bezog er aus der Korrespondenz mit den noch operierenden zionistischen Stellen Europas, von Durchreisenden, Diplomaten, Journalisten und Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Zudem waren Lichtheim und seine Mitarbeiter in Kontakt mit in der Schweiz eintreffenden Geflüchteten,83 Untergrundkurieren sowie den Mitarbeitern anderer in der Schweiz präsenten jüdischen Organisationen, die dort oft bereits in der Zwischenkriegszeit eine rege Tätigkeit entwickelt hatten. Dazu zählten unter anderem die amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation JDC, die zionistische Jugendbewegung He-Ḥ aluz,̣ das Palästina-Amt der Jewish Agency Porat, The Blue and the Yellow Stars of David. The Zionist Leadership in Palestine and the Holocaust, 1939–1945, Cambridge, Mass. / London 1990, 6 f. 81 CZA, S5/233, Leo Lauterbach an Richard Lichtheim, 14. Januar 1940 (Brief Nr. 36); ebd., Henry Montor an Richard Lichtheim, 20. Dezember 1939; ebd., Richard Lichtheim an Henry Montor, 18. Januar 1940; CZA, L22/240, Leo Lauterbach an Richard Lichtheim, 17. Dezember 1940 (Brief Nr. 252); ebd., Leo Lauterbach an Richard Lichtheim, 18. Dezember 1940 (Brief Nr. 254). 82 Jürgen Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust. Jewish Organizations Report from Geneva on the Emergence of the »Final Solution,« 1939–1942, Lanham, Md., 2019, 27 f.; Omry Kaplan-Feuereisen, Art. Institute of Jewish Affairs, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 3, 130–136. 83 Zur Geflüchtetenpolitik der Schweiz siehe Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1997.

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sowie das Relief Committee for the War Stricken Jewish Population (Relico). Engste Verbindungen entwickelte Lichtheim zum Vertreter des World Jewish Congress Gerhart M. Riegner, der bald zu seinen wichtigsten Informanten zählte.84 Der 26 Jahre jüngere Jurist war seit 1936 als Sekretär für die von Nahum Goldmann geleitete Vertretung des World Jewish Congress in Genf tätig und übernahm deren Leitung nach Goldmanns Emigration in die Vereinigten Staaten im Sommer 1940. Er verfügte bereits über ein weit verzweigtes Netzwerk in der Schweiz, als Lichtheim seine Arbeit im Herbst 1939 aufnahm. Die Korrespondenz Lichtheims zeigt, welche Kenntnisse er über die sich während des Kriegs ständig wandelnde Gesamtszenerie in Europa erlangte und welche Handlungsoptionen er aus den ihm zugänglichen Informationen ableitete. Schon bald nach Kriegsbeginn brachte er die schiere Dimension der nationalsozialistischen Verfolgung zur Sprache. In einem seiner ersten Arbeitsberichte beschrieb er mit Blick auf das Schicksal der 2,5  Millionen polnischen Juden, die sich nach dem deutschen Angriff auf Polen unter deutscher Herrschaft befanden, einen »Prozess der Umwälzung, der Wanderung, Vertreibung und Vernichtung […] wie er selbst in der an Schrecknissen so reichen jüdischen Geschichte einzig dasteht«.85 Auch zog er sehr früh Pa­ rallelen zum Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Im Oktober 1939 warnte er seinen Londoner Kollegen Joseph Linton: »I am afraid, we shall have to face the fact that under German rule 2 000 000 Jews will be annihilated in not less  a cruel way, perhaps even more cruel, than 1 000 000 Armenians have been destroyed by the Turks during the last war.« (Dokument 50) Eine klare Linie nationalsozialistischer Verfolgungspolitik war für Lichtheim in den ersten Monaten des Kriegs nicht zu erkennen. Inkohärente, sich zum Teil widersprechende Direktiven verschiedener Instanzen im Zentrum Berlin wie in der Peripherie charakterisierten das Vorgehen der Nationalsozialisten, was sich auch in der Berichterstattung Lichtheims spiegelte (Dokument 53). Allerdings vermutete er bereits, dass die antijüdischen Maßnahmen im deutsch besetzten Polen nur die Vorläufer für ähnliche Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich, im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren und in Österreich sein würden.86 84 Zur Zusammenarbeit von Lichtheim und Riegner siehe auch Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust. Riegners eigene Erzählung seiner Tätigkeit in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs ist hier nachzulesen: Gerhart M. Riegner, Niemals verzweifeln. 60 Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte, Gerlingen 2001. 85 CZA, S25/1581, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Bericht des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939, 4. Januar 1940. 86 CZA, L22/106, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 4. Februar 1940.

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Er sah jedoch keine Möglichkeiten, zur Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in den von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten beitragen zu können. Ernüchtert konstatierte er im Februar 1940: »The difficulties inherent in the situation are such that I really cannot see how the sufferings of the population can be alleviated.«87 Da mit dem schnellen Vordringen der Wehrmacht nach Dänemark, Norwegen sowie in die Benelux-Staaten und von dort nach Frankreich die meisten europäischen Länder ab Mai 1940 als sichere Zufluchtsorte ausschieden, sah er einzig in der Emigration nach Übersee einen Weg, der Verfolgung zu entgehen und mahnte daher eine dringende Änderung der Flüchtlingspolitik nichteuropäischer Staaten an.88 Lichtheim blieb einzig, über die sich in weiten Teilen Europas stetig verschlechternde Lage der jüdischen Bevölkerung zu berichten (Dokumente ­54–56). Ab Winter 1940/1941 zeichnete sich für ihn immer deut­licher ein Muster im Vorgehen der Nationalsozialisten in den eroberten Gebieten ab. Parallel zu den Deportationen nach und in Polen beobachtete er, wie sich in den besetzten Ländern Westeuropas andere, bereits im Reich erprobte Maßnahmen wie die Konzentration der jüdischen Bevölkerung und die erzwungene Einrichtung jüdischer Verwaltungsorgane, die die Befehle des NSRegimes »eigenständig« auszuführen hatten, wiederholten (Dokument 57).89 Die erneute Radikalisierung der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik infolge des Angriffs auf die Sowjetunion im Sommer 1941 verschob nochmals die Prioritäten seiner Arbeit. Vor allem das den Juden im Deutschen Reich im Oktober 1941 erteilte Ausreiseverbot und die hier gleichzeitig beginnenden Massendeportationen bildeten für Lichtheim den Anstoß, nach neuen Reaktionen zu suchen (siehe Dokument 59). Befasste sich sein Büro bis dahin vornehmlich mit der Dokumentation der Verbrechen, verlagerte es seine Aufmerksamkeit fortan fast vollständig auf die Suche nach Möglichkeiten, zugunsten der bedrohten Judenheiten zu intervenieren. Lichtheim griff dabei zunächst auf seine in Konstantinopel gemachten Erfahrungen zurück, im Zuge derer er diplomatischen Druck als wirksames Mittel der internationalen Politik kennengelernt hatte. Im Herbst 1941 drängte er Weizmann dazu, von den Regierungen der westlichen Alliierten eine gemeinsame Erklärung zu verlangen, in der sie die nationalsozialistische Judenverfolgung ausdrücklich verurteilten und ankündigten, die Verantwortlichen nach dem Krieg zur Rechenschaft zu ziehen. Lichtheim hoffte, dass dies 87 Ebd. 88 CZA, S25/1581, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Reports from the Geneva Office. Review of the Period January–May 1940, 31. Mai 1940, 28. 89 Siehe auch CZA, L22/43, Richard Lichtheim an Joseph Linton, 12. Mai 1941.

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zumindest auf diejenigen Regierungen, die aufseiten des Deutschen Reichs, aber noch nicht vollständig unter deutscher Kontrolle standen, abschreckend wirken und sie von einer Kollaboration mit den Nationalsozialisten abhalten würde (siehe Dokument 61).90 Im Lauf des Jahres 1942 begannen sich die in Genf eintreffenden Informationen für Lichtheim allmählich zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Im Februar und März 1942 erreichten ihn Informationen über die massenhaften Deportationen der jüdischen Bevölkerung des Protektorats Böhmen und Mähren in das Konzentrationslager Theresienstadt. Angesichts der unzureichenden Versorgungs- und Ernährungslage prognostiziert er, dass die Deportierten dort langsam verhungern würden. In diesem Zusammenhang äußerte er gegenüber Lauterbach erstmals die Vermutung, dass das massenhafte Sterben der jüdischen Bevölkerung kein Beiwerk des Kriegs, sondern Konsequenz eines absichtsvollen Vorgehens der Nationalsozialisten sei (Dokument 62). Diese Warnung sprach Lichtheim somit mehrere Monate vor jenem Telegramm aus, das Riegner als Vertreter des World Jewish Congress am 8. August 1942 an westliche Regierungsvertreter sandte und das heute gemeinhin als die erste Nachricht über einen auf höchster deutscher Regierungsebene gefassten Plan zum systematischen Massenmord an den europäischen Juden gilt.91 Erschüttert von der Planmäßigkeit des nationalsozialistischen Vorgehens und den stets extremeren Meldungen über die Dimensionen der Gewalt, versuchte Lichtheim mit Regierungsvertretern und Diplomaten in unmittelbaren Kontakt zu kommen. So wurde er im März 1942 gemeinsam mit Riegner und Saly Mayer, dem Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, beim päpstlichen Gesandten Filippo Bernardini in Bern vorstellig und drängte auf eine Intervention des Vatikans (Dokument 64). Die 90 Hierzu auch CZA, L22/151, Richard Lichtheim an Chaim Weizmann, 8. November 1941, abgedruckt in: Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 154 f. 91 Riegner sandte am 8. August 1942 mithilfe der britischen und amerikanischen Konsulate in Genf ein Telegramm an den Vorsitzenden der britischen Sektion des World Jewish Congress in London, Sydney Silverman (1898–1968), und den Präsidenten des World Jewish Congress in New York, Stephen S. Wise (1874–1949). Es enthielt die Nachricht, dass die Nationalsozialisten planten, sämtliche Juden in ihrem Herrschaftsbereich zu ermorden. Im amerikanischen Außenministerium stieß die Nachricht zunächst auf große Skepsis und wurde nicht an Wise weitergeleitet. Silverman erhielt das Telegramm um den 18. August 1942 herum und informierte seinerseits Wise in New York. Erst am 24. November 1942 wurde der Inhalt des Riegner-Telegramms öffentlich gemacht. Richard Breitman, Art.  Riegner-Telegramm, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 5, 219–224; Walter Laqueur, The First News of the Holocaust, New York 1979. Das Telegramm ist abgedruckt in: Matthäus, Predicting the Holocaust, 182 f.

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beiden jüdischen Emissäre hofften, ein Protest der katholischen Kirche würde die Rücknahme oder zumindest Abschwächung der antisemitischen Gesetzgebung in den noch nicht von der Wehrmacht besetzten Ländern bewirken. Vor allem die streng katholische Regierung der Slowakei glaubten sie, so von der Deportation ihrer jüdischen Bevölkerung abhalten zu können (Dokument 63). In der Tat protestierten Papst Pius XII. und der apostolische Legat in Bratislava, Giuseppe Burzio, im Lauf des Kriegs mehrfach bei Staatspräsident Jozef Tiso und Premierminister Vojtech Tuka (siehe Dokument 65).92 Bisher konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, dass diese Interventionen tatsächlich Einfluss auf die slowakische Judenpolitik hatten.93 Auch sind diese Schritte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die Initiative Lichtheims und Riegners zurückzuführen. Währenddessen erreichten Lichtheim stetig neue Berichte über die Gräueltaten der Nationalsozialisten und die Massendeportationen aus den von Deutschland kontrollierten Gebieten. Gleichwohl er nur über unvollständige Informationen verfügte – bisher waren keine Hinweise auf das systematische Morden der Einsatzgruppen in den sowjetischen Gebieten und die seit Ende 1941 errichteten Vernichtungslager nach Genf gelangt –, ließen sie ihn allmählich eine »bewusste Politik der Vernichtung der Juden«94 erkennen. Seine Prognosen fielen dementsprechend düster aus. Im Mai äußerte er, dass diese Politik während des Kriegs zwei bis drei Millionen jüdische Todesopfer fordern und eine ähnlich hohe Anzahl an jüdischen Geflüchteten hervorbringen werde (Dokument 66). Kurze Zeit später war sich Lichtheim 92 Zu den Protesten des Vatikans bei der slowakischen Regierung siehe Michael Hesemann, Der Papst und der Holocaust. Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan, Stuttgart 2018, 288–300; Susanne Heim u. a. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 [nachfolgend: VEJ], Bd. 13: Slowakei, Rumänien, Bulgarien, bearb. v. Mariana Hausleitner / Souzana Hazan / Barbara Hutzelmann, Berlin / Boston, Mass., 2018, 37 f.; Livia Rothkirchen, Vatican Policy and the »Jewish Problem« in »Independent« Slovakia (1939–1945), in: Yad Vashem Studies  6 (1967), 27–53. Allgemein zur Rolle Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs siehe David I. Kertzer, The Pope at War. The Secret History of Pius XII, Mussolini, and Hitler, New York 2022. 93 Zwischen Ende März und Ende 1942 wurden rund 58 000 slowakische Juden nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager verschleppt, bevor es zu einer Phase relativer Ruhe kam, die bis August 1944 anhielt. Der Deportationsstopp 1942 erfolgte vorranging aus wirtschaftlichen und innenpolitischen Gründen. Ausführlich dazu siehe VEJ, Bd. 13, 38–40. 94 CZA, L22/150, Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach, 20. Mai 1942.

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sicher, dass die Deportationen auf die physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung abzielten und Teil eines Tötungsprozesses durch Aushungern und Zwangsarbeit waren (Dokument  67). Im August schätzte er, dass den Nationalsozialisten zwischen vier und fünf Millionen Juden zum Opfer fallen würden (Dokument 69).95 Der Bericht eines nichtjüdischen Polen, der am 14. August 1942 der polnischen Legation in Bern ausführlich die massenhafte Ermordung der jüdischen Bevölkerung Lembergs und Warschaus sowie anderer von den Deutschen besetzter Orte Polens und Litauens geschildert hatte, schien Lichtheims Befürchtungen zu bestätigen (Dokument 70). Nur wenige Tage zuvor hatten auch Riegner Informationen erreicht, die ihn zu seinem bereits erwähnten Telegramm vom 8. August 1942 veranlassten. Lichtheims und ­Riegners Berichte teilten zunächst jedoch das gleiche Schicksal: Sie stießen bei ihrer Leserschaft auf Unglauben. Leo Lauterbach zeigte sich, nachdem er von Lichtheim über den Bericht aus Polen vom 14. August 1942 informiert worden war, »nicht geneigt, alle Behauptungen für bare Münze zu nehmen« und hatte, »ohne das Gegenteil beweisen zu können, starke Zweifel an der Richtigkeit der in dem Bericht enthaltenen Feststellungen.«96 Yitzhak Grünbaum zeigte sich zwar schockiert, fand aber den Bericht ebenso schwer zu glauben und daher nicht für die Veröffentlichung geeignet (Dokument 77). Ähnlich erging es Riegners Telegramm, das im Außenministerium der Vereinigten Staaten als »wildes, von jüdischen Ängsten inspiriertes Gerücht«97 diskreditiert und zunächst vor der Öffentlichkeit zurückgehalten wurde. Während man in den Vereinigten Staaten und in Jerusalem noch am Wahrheitsgehalt der Berichte zweifelte, liefen in Genf immer neue Nachrichten ein (Dokumente 71–76, 78). Nachdem in den Sommermonaten auch im amerikanischen Außenministerium weitere Berichte aus Europa eintrafen – unter anderem auch die von Lichtheim versandte Aussage des polnischen Augenzeugen  –, wies der stellvertretende Außenminister Sumner Welles den amerikanischen Gesandten in Bern, Leland Harrison, an, Riegner und Lichtheim um zusätzliches Beweismaterial zu bitten.98 Am 22. Oktober 1942 legten die beiden jüdischen Emissäre Harrison schließlich ein 30-seitiges

95 Siehe auch CZA, L22/150, Richard Lichtheim an Joseph Linton, 13. August 1942. 96 Leo Lauterbach an Richard Lichtheim, 28. September 1942, zit. n.: Walter Laqueur, Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers »Endlösung«, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1981, 223 f. 97 Walter Laqueur / Richard Breitman, Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr, Frankfurt a. M. / Berlin 1986, 131. 98 Ebd., 139 f.

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Memorandum mit verschiedenen Augenzeugenberichten vor, in dem sie zusammenfassend konstatierten: »Four million Jews are on the verge of complete annihilation by a deliberate policy consisting of starvation, the Ghetto-system, slave-labor, deportation under inhuman conditions, and organised mass-murder by shooting, poisoning and other methods. This policy of total destruction has been repeatedly proclaimed by Hitler and is now being carried out.«99 Als Konsequenz forderten sie von den Alliierten das gezielte Zusammentragen von Beweisen, um die Verantwortlichen nach dem Krieg juristisch zur Rechenschaft ziehen zu können und drängten nochmals nachdrücklich auf eine öffentliche Verurteilung der an der jüdischen Bevölkerung verübten Verbrechen (siehe Dokument 79).100 Lichtheims und Riegners Memorandum trug gemeinsam mit weiteren in London und Washington eintreffenden Informationssplittern wesentlich dazu bei, in den westlichen Regierungskreisen ein Bewusstsein für die Realität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu schaffen. Niederschlag fand dies in der Interalliierten Erklärung vom 18. Dezember 1942, mit der die gegen das Deutsche Reich verbündeten Regierungen erstmals öffentlich auf den Massenmord an den europäischen Juden aufmerksam machten, diesen aufs Schärfste verurteilten und die juristische Ahndung der Verbrechen in Aussicht stellten.101 Nachdem das Wissen um die nationalsozialistische Judenverfolgung mit der Interalliierten Erklärung offizielle Bestätigung gefunden hatte, verlagerte Lichtheim seine Bemühungen erneut. Ab Frühjahr 1943 widmete er sich hauptsächlich der Organisation von Hilfe und Rettung für die noch lebenden Juden Europas (siehe Dokument 82). Gemeinsam mit jüdischen wie nichtjüdischen Hilfsorganisationen, insbesondere dem World Jewish Congress und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, organisierten er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab Frühjahr 1943 humanitäre Hilfe. In der Hoffnung, das Leben für die Häftlinge des Konzentrationslagers Theresienstadt etwas erleichtern zu können und so deren Überlebenschancen zu 99 National Archives and Records Administration, Washington, D.C., RG 84, Entry 3208/Box 7/840.1, Jews in Europe. Auszüge des Memorandums sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: VEJ, Bd. 6: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren Oktober 1941 – März 1943, bearb. v. Susanne Heim, Berlin / Boston, Mass., 2019, 495–499; siehe auch Dokument 76 und 79 in diesem Band. 100 Ebd. 101 Hansard, HC Deb., United Nations Declaration, 17. Dezember 1942, (11. April 2022).

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erhöhen, initiierten sie von Mai 1943 bis September 1944 mehrere Kollektivsendungen bestehend aus Lebensmitteln und Medikamenten.102 Zusätzlich veranlasste Lichtheims Mitarbeiter Ullmann vom Frühjahr 1943 an bis in den Mai 1944 monatlich die Versendung von über hundert individuellen Lebensmittelpaketen; auch diese gingen hauptsächlich nach Theresienstadt.103 Wie viele dieser Pakete letztlich tatsächlich ihre Empfängerinnen und Empfänger erreichten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Eine weitere Möglichkeit erkannten Lichtheim und seine Kolleginnen und Kollegen in der Beschaffung und Verteilung von Schutzpapieren in Form von sogenannten Palästina-Zertifikaten, die das Vorliegen einer Erlaubnis zur legalen Einreise in das britische Mandatsgebiet bestätigten (siehe die Dokumente  84 und  86). Diese Papiere qualifizierten ihre Inhaber für einen möglichen Zivilgefangenenaustausch zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien. Bis Ende 1942 war es bereits zweimal zu solchen Austauschaktionen gekommen. Bei diesen waren insgesamt rund 365 sogenannte Palästina-Deutsche  – zumeist Angehörige der christlich-millenaristischen Templergesellschaft, die sich im 19. Jahrhundert in Palästina niedergelassen hatten und nach Kriegsbeginn von Großbritannien interniert worden waren – gegen 186 von den Deutschen internierte britische Staatsangehörige – rund 120 davon jüdisch – ausgetauscht worden.104 Da die Nationalsozialisten auf dem Höhepunkt der Vernichtung unfähig waren, eine größere Anzahl Juden mit palästinensischen oder britischen Papieren in ihrem Herrschaftsgebiet zu lokalisieren, aber weiterhin ein Interesse daran hatten, deutsche Staats­ angehörige aus dem britischen Einflussbereich freizubekommen, akzeptierten sie ab Frühjahr 1943 auch solche Juden als Austauschkandidaten, die erst nach Kriegsbeginn in den Besitz von Palästina-Zertifikaten gelangt waren.105 102 Für mindestens fünf solcher Sendungen lassen sich in verschiedenen Archiven Belege finden, siehe Andrea Kirchner, Emissär der jüdischen Sache. Eine politische Biografie Richard Lichtheims, Göttingen 2023. Druck in Vorbereitung. 103 In Ullmanns Nachlass befinden sich die Belege über die Bestellungen beim World Jewish Congress in Genf und Zahlungsaufforderungen von Riegner an Lichtheim: CZA, A320/283. Zu Ullmanns Anstrengungen siehe auch Miroslav Kryl, Fritz Ullmann und seine Hilfe für die Theresienstädter Häftlinge, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 4 (1997), 184–215. 104 Einen Überblick über die Geschichte der Palästina-Deutschen liefert Ralf Balke, Das Hakenkreuz im Heiligen Land. Die Gleichschaltung der deutschen Siedler in Palästina, in: Jakob Eisler (Hg.), Deutsche in Palästina und ihr Anteil an der Modernisierung des Landes, Wiesbaden 2008, 168–183. 105 Bettina Zeugin / Thomas Sandkühler (Hg.), Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in den Niederlanden. Vermögensentziehung, Freikauf, Austausch 1940–1945, Zürich 2001, 38.

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Um auf solche Zivilgefangenenaustausche zukünftig vorbereitet zu sein, begannen sie ab April 1943 damit, Juden mit ausländischen Papieren in dem bis dahin für verwundete Kriegsgefangene genutzten Lager Bergen-Belsen zu internieren.106 Gleichzeitig bemühten sich jüdische Einrichtungen in Jerusalem, Istanbul und Genf darum, eine größtmögliche Anzahl potentieller Austauschkandidaten zu benennen, indem sie die entsprechenden Personendaten von noch lokalisierbaren Juden zusammenstellten und sie mit einem Palästina-Zer­tifikat beziehungsweise mit einem Brief ausstatteten, der bestätigte, dass eine Anwartschaft auf ein solches bestand (siehe Dokument 87). Im Zuge dessen telegrafierten Lichtheim und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Details sämtlicher Juden, deren Namen und Aufenthaltsort ihnen bekannt waren und mit denen sie direkt oder vermittelt über das IKRK in Kontakt treten konnten, an die Jewish Agency in Jerusalem, um dort die entsprechenden Papiere ausstellen zu lassen.107 Die von den Briten bestätigten Listen mit Zertifikatsinhabern gelangten schließlich über die Vermittlung der Schweiz als Vertreterin britischer Interessen an die Nationalsozialisten. Gelang es den deutschen Behörden, die aufgelisteten Personen zu lokalisieren, so wurden diese in der Regel von den Deportationen in die Vernichtungslager ausgenommen. Bis Sommer 1944 wurden in Genf mindestens zwölf Listen mit insgesamt mehreren tausend Personen angefertigt, die dank eines Palästina-Zertifikats als Austauschkandidaten infrage kamen.108 Hier handelte es sich vor allem um Juden in Belgien und den Niederlanden. Während ab Herbst 1943 selbst als Austauschkandidaten ausgewiesene niederländische Juden aus dem Sammellager Westerbork nach Auschwitz und Sobibor deportiert wurden, konnten doch viele Hundert dank dieser Papiere geschützt und gerettet werden. Im 106 Bereits am 2. März 1943 teilte das Auswärtige Amt Adolf Eichmann (1906–1962) mit, dass »sämtliche Maßnahmen eingeleitet werden [sollten], die geeignet sind, im Austausch gegen uns zur Verfügung stehende Staatsangehörige der Feindstaaten, deutschen internierten Reichsbürgern die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. […] Das Auswärtige Amt bittet daher, etwa 30 000 für einen eventuellen Austausch geeignet erscheinende Juden […] für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen.« Siehe Fritz Gebhardt von Hahn (Auswärtiges Amt) an Adolf Eichmann (Amt IV B 4, Reichssicherheitshauptamt), 2. Februar 1943, abgedruckt in: Walter Bußmann (Hg.), Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918–1945. Aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, Serie E: 1941–1945, Bd. 5: 1. Januar bis 30. April 1943, Göttingen 1978, 326 f. 107 Martin Gilbert, Auschwitz and the Allies. The Truth about One of this Century’s Most Controversial Episodes, London 1991, 120 f., 123; CZA, L22/258, Richard Lichtheim an Chaim Barlas, 31. März 1943. 108 Yad Vashem Archives, P.12/127, Chaim Posner an Richard Lichtheim, 27. Juli 1944.

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Juni 1944 wurden 222 in Bergen-Belsen internierte Juden mit palästinensischen Papieren tatsächlich in einen dritten deutsch-britischen Zivilgefangenenaustausch aufgenommen.109 Nachdem die Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzt hatte, bemühten sich Lichtheim und sein Mitarbeiter Menachem Kahany, der als Vertreter der Jewish Agency beim Völkerbund fungierte, auch um die Rettung ungarischer Zertifikatsinhaber. In enger Zusammenarbeit mit dem Leiter des Budapester Palästina-Amts und Mitglied des Wa’adat ha-ezra weha-haẓala be-­Budaphesht (Komitee für Hilfe und Rettung in Budapest), Moshe Krausz, verwandten sie sich dafür, den Inhabern von Palästina-Papieren über die Schweizer Botschaft besonderen Schutz angedeihen zu lassen und deren Ausreise zu ermöglichen (siehe die Dokumente 90, 92–94 und 97).110 Trotz der Vielzahl solcher Initiativen treten entlang der Aktivitäten Lichtheims die äußerst engen Grenzen jüdischer Einflussnahme während des Holocaust hervor. Angesichts der vollumfänglichen Vernichtungsabsicht des NS-Regimes einerseits und dem Handeln der Alliierten andererseits, die diese Verbrechen zwar verurteilten, ihre militärischen Interventionen aber ganz auf die Niederringung Deutschlands und seiner Verbündeten insgesamt abstellten, waren jüdische Handlungsspielräume grundsätzlich äußerst begrenzt. Angesichts dieser Konstellation waren die lokalen Schwierigkeiten einer Diplomatie, wie sie Lichtheim von Genf aus betrieb, eher von untergeordneter Bedeutung: Lichtheim selbst standen nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung und Kooperationen mit anderen in der Schweiz tätigen jüdischen Organisationen kamen aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten, politischen Differenzen und manchen persönlichen Konflikten oft nur mühsam zustande (siehe  Dokument  87). Auch die räumliche Distanz und die damit langen, zum Teil auch unterbrochenen Kommunikationswege zwischen Lichtheim in Genf und seinen Vorgesetzten in Jerusalem erschwerten die Organisation effektiver Hilfe. Nach Kriegsende bestand Lichtheims Büro zunächst noch einige Zeit fort und beteiligte sich an der Vermittlung von Geldern und Papieren für in der Schweiz gestrandete jüdische Geflüchtete sowie an der Suche nach Überlebenden. Daneben befasste es sich vor allem mit dem Neuaufbau der zionis-

109 Zu diesem dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch siehe Alexandra-Eileen Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Paderborn 2000, 220–228. Siehe dazu auch folgenden Bericht: Simon Heinrich Herrmann, Austauschlager Bergen-Belsen. Die Geschichte eines Austauschtransportes, Tel Aviv 1944. 110 Näheres dazu auch in Kirchner, Emissär der jüdischen Sache.

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tischen Strukturen in Europa sowie der Vorbereitung des ersten zionistischen Kongresses nach dem Krieg, der für Sommer 1946 in Palästina geplant war und letztlich im Dezember 1946 in Basel stattfand.111 Ab Anfang 1946 besorgte Lichtheim schließlich mit der Zustimmung der Exekutive der Jewish Agency die Liquidierung des Verbindungsbüros112 und kehrte im Mai desselben Jahres mit seiner Frau Irene nach Palästina zurück. Sie ließen sich im Jerusalemer Stadtviertel Rechavia nieder, das seit 1933 zum Zentrum deutschsprachiger Einwanderer geworden war.113 1.6 Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas Das letzte Kapitel der Edition (II. 4) widmet sich Lichtheims zionistischem Selbstverständnis, das sich infolge seiner diplomatischen Tätigkeit während des Holocaust tiefgreifend veränderte. Hatte er noch bis in die späten 1930er Jahre hinein mit dem Maximalismus eines Revisionisten argumentiert und eine starke jüdische Mehrheit sowie ein jüdisches Gemeinwesen beiderseits des Jordan gefordert,114 sah er die Zukunft des jüdischen Volkes in Palästina nun in einem anderen Licht. Im Mai 1942 hatten sich die Zionisten auf einer außerordentlichen Konferenz im New Yorker Biltmore Hotel einvernehmlich darauf verständigt, die von Ben-Gurion als Vorsitzendem der Jewish Agency vorgebrachten Forderungen nach sofortiger Etablierung eines jüdischen Staats nach Kriegsende in ihr Programm aufzunehmen. Überdies mahnte die von der Konferenz verabschiedete Resolution die Öffnung des britischen Mandatsgebiets für eine uneingeschränkte jüdische Einwanderung sowie die Aufstellung bewaffneter jüdischer Streitkräfte an.115

111 Siehe dazu die Korrespondenz des Büros zwischen Februar 1945 und Oktober 1946 in CZA, L22/316, L22/317 und L22/318. 112 CZA, L22/316, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 18. Januar 1946; CZA, L22/316, Menachem Kahany an Leo Lauterbach, 14. Juni 1946. 113 Ausführlich zum deutsch-jüdischen Mikrokosmos in Rechavia siehe Sparr, Grunewald im Orient. 114 Siehe Richard Lichtheim, Das politische Programm, in: Jüdische Weltrundschau, 14. Juli 1939, 1 f. 115 Siehe The Biltmore Program. Towards  a Jewish State (May  11, 1942), in: Walter ­Laqueur / Barry Rubin (Hg.), The Israeli-Arab Reader. A Documentary of the Middle East Conflict, London 72008, 55–57; Dan Diner, Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg, 1935–1942, München 2021, bes. 11–34.

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Damit hatten sich die von den Revisionisten in den 1920er und 1930er Jahren erhobenen Forderungen innerhalb der Gesamtbewegung durchgesetzt. Lichtheim hingegen erteilte diesem Programm, für das er viele Jahre seiner politischen Karriere eingetreten war, ausgerechnet jetzt eine entschiedene Absage. Nachdem der systematische Massenmord für ihn im Laufe der Sommermonate 1942 evident geworden war, legte er im September desselben Jahres in einem Brief an Nahum Goldmann ausführlich die Gründe für seinen Sinneswandel dar: Für ihn hatte das mehrheitlich von den Judenheiten des östlichen Europas getragene Streben nach einem eigenen Gemeinwesen seine demografische Grundlage verloren. Angesichts des Bevölkerungsverhältnisses von einem Drittel Juden und zwei Dritteln Arabern in Palästina, das infolge der millionenfachen Vernichtung selbst bei uneingeschränkter jüdischer Einwanderung nicht mehr entscheidend zugunsten des Jischuw verschoben werden könne, hielt er die Forderung nach einem unabhängigen jüdischen Staat nunmehr weder für praktisch umsetzbar noch gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft zu rechtfertigen (siehe Dokument 98). Lichtheim gelangte zu der Überzeugung, dass nur eine starke Großmacht wie Großbritannien den Schutz der durch den Massenmord in Europa dramatisch reduzierten und traumatisierten Gesellschaft Überlebender würde gewährleisten können. Anstelle des souveränen Staats befürwortete er die Fortsetzung der britischen Verwaltung des Gebiets in Form einer Kolonie oder eines Dominions oder aber die jüdische Selbstverwaltung in Teilen des ursprünglichen Mandatsterritoriums (siehe die Dokumente 99 und 101).116 Diese erneute politische Wandlung erklärt wiederum seinen Beitritt zur Aliya Ḥ adasha (Neue Einwanderung), einer linksliberalen, seit 1942 in Palästina wirkenden Partei, die vorrangig aus deutschen und österreichischen Neueinwanderern bestand und für alternative Modelle der Koexistenz mit der arabischen Bevölkerung sowie eine fortgesetzte Zusammenarbeit des Jischuw mit der britischen Mandatsregierung eintrat.117 Nach seiner Rückkehr nach Jerusalem schloss er sich der Partei offiziell an und diskutierte im Sommer

116 Siehe auch CZA, L22/180, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 14. März 1944. 117 Zur Aliya Ḥ adasha siehe Miriam Getter, Ha-hitʼargenut ha-politit ha-nifredet shel ole Germanya [Die eigenständige politische Organisation der deutschen Einwanderer], in: Ha-Ẓionut 7 (1981), 240–291; Hagit Lavsky, Me-mifleget Aliya Ḥ adasha la-Miflaga Progresivit [Von der Partei Aliya Ḥ adasha zur Progressiven Partei], in: Mordekhai Bar-On / Meir Chazan (Hg.), Politika be-milḥama. Koveẓ meḥkarim al ha-ḥevra ha-ezraḥit ba-milḥemet ha-ʻaẓmaʼut [Politik in Kriegszeiten. Studien zur Zivilgesellschaft während des Unabhängigkeitskriegs], Jerusalem 2014, 322–343.

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und Herbst 1946 in praktisch jeder Ausgabe des Mitteilungsblatts, des Organs der Partei, Alternativen zum souveränen Staat.118 In gewisser Weise war Lichtheim damit zur Tradition des deutschen Zionismus und seiner ursprünglichen politischen Heimat zurückgekehrt. Die Strategie des graduellen Ausbaus Palästinas zu einer jüdischen Heimstätte in Kooperation mit der britischen Mandatsmacht, die er vor dem Holocaust noch abgelehnt hatte, schien ihm nun das Gebot der Stunde. Von der politischen Realität überholt, fanden sowohl die Aliya Ḥ adasha als auch die Karriere Lichtheims mit der im Mai 1948 erfolgten Staatsgründung Israels ein Ende. Lichtheim nahm die damit erlangte Souveränität zwar als neue Realität an und empfahl sich gar für eine Anstellung im diplomati­ schen Dienst des jungen Staats, allerdings blieben seine Bemühungen erfolglos.119 Zunehmend marginalisiert und aus dem gesellschaftlichen Leben Jerusalems zurückgezogen, kümmerte er sich in den 1950er Jahren vor allem um seine schwer kranke Frau Irene und widmete sich der Publikation seines Geschichtswerks zum deutschen Zionismus sowie seinen Memoiren, von deren geplanten drei Bänden er letztlich einen abzuschließen vermochte. Am 29. April 1963 starb er in Jerusalem. Seine diplomatischen Einsätze zum Schutz des Jischuw während des Ersten Weltkriegs und zur Rettung der verfolgten Juden Europas während des Zweiten Weltkriegs waren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend in Vergessenheit geraten. 1.7 Historiografie und Wahrnehmung Ungeachtet seiner unermüdlichen Anstrengungen in den Diensten der vorstaatlichen jüdischen Diplomatie hat Lichtheim in der Literatur kaum ausführliche Würdigung erfahren. Erinnert Blochs eingangs zitierte Lobeshymne eindringlich an die Bedeutung Lichtheims für die Staatswerdung Israels, zeugt sie zugleich davon, dass er bereits zu Lebzeiten aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden begann. Trotz des Erkenntnispotenzials, das seine komplexe politische Biographie sowohl für die jüdische Geschichte im Allgemeinen als auch die zionistische Geschichte im Besonderen bereithält, setzt sich diese Tendenz auch in der umfangreichen Forschungsliteratur zu diesen Themen fort. 118 Die Ausgaben des Mitteilungsblatts sind online einsehbar über die Suchfunktion im Archiv von Massuah. International Institute for Holocaust Studies, in: (11. April 2022). 119 CZA, A56/27, Martin Rosenblüth an Richard Lichtheim, o. D.; ebd., Martin Rosenblüth an Richard Lichtheim, 17. Oktober 1949.

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So ist Lichtheims politisches Engagement erst durch die Herausgeberin umfassend erforscht worden; das Ergebnis ist neben zwei Artikeln eine Dissertation, die auch in Buchform erscheint, sowie die vorliegende Edition.120 Gleichwohl sind einzelne Aspekte seiner Tätigkeit auch zuvor nicht unbeachtet geblieben. Hinweise auf Lichtheims Bewertung der arabisch-zionistischen Gespräche 1913/1914 lassen sich in einer Reihe von Überblicksdarstellungen zum Gegenstand finden.121 Auch das Wirken Lichtheims in Konstantinopel im diplomatischen Geflecht zwischen zerfallendem Osmanischen Reich und nach Einfluss strebendem Deutschen Kaiserreich wurde in einschlägigen früheren Arbeiten berührt.122 Wertvolle Informationen und Hinweise lassen sich auch der Dokumentensammlung Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918 entnehmen, die sowohl Dokumente der Zionisten als auch Akten des Auswärtigen Amts – unkommentiert und abgedruckt als Faksimile – versammelt.123 Lichtheims intensive Kontakte zur amerikanischen Botschaft blieben dabei jedoch weitgehend unbeachtet. Lange Zeit unterbelichtet blieb auch Lichtheims Wirken in Genf. Seine Tätigkeit als Emissär der Jewish Agency wurde, wenn überhaupt, nur bis ins Jahr 1942 in den Blick genommen.124 Seine vor allem ab 1943 unternommenen Rettungsversuche blieben unerforscht. Hingegen ist Lichtheims ausgiebiger Briefwechsel mit seinen Vorgesetzten und Kollegen in Jerusalem, London und New York vereinzelt in Studien zur Frage, ab wann den Alliierten gesi120 Kirchner, Emissär der jüdischen Sache; Andrea Kirchner, Ein vergessenes Kapitel jüdischer Diplomatie. Richard Lichtheim in den Botschaften Konstantinopels (1913– 1917), in: Naharaim 9 (2015), H. 1–2, 128–150; Andrea Kirchner, Wie Noah auf dem Berg Ararat – Richard Lichtheim in Genf, 1939–1946, in: Jörg Osterloh / Katharina Rauschenberger (Hg.), Der Holocaust. Neue Studien zu Tathergängen, Reaktionen und Aufarbeitungen, Frankfurt a. M. / New York 2017, 41–59. 121 Neil Caplan, Futile Diplomacy, Bd. 1: Early Arab-Zionist Negotiation Attempts 1913–1931, London 1983; Mandel, The Arabs and Zionism; Neil Caplan, Attempts at an Arab-Zionist Entente 1913–1914, in: Middle Eastern Studies  1 (1965), H. 3, 238–267; Yaacov Roi, The Zionist Attitude to the Arabs 1908–1914, in: Middle Eastern Studies 4 (1968), H. 3, 198–242. 122 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden; Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918. 123 Isaiah Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918 (The Rise of Israel, Bd. 4), New York / London 1987. 124 Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust. Richard Lichtheim 1939– 1942, in: Yad Vashem Studies  23 (1993), 335–368; Raya Cohen, A Test of Jewish Solidarity, 2 Bde., Dissertation, Universität Tel Aviv 1991 [hebr.]; Raya Cohen, The Lost Honour of Bystanders? The Case of Jewish Emissaries in Switzerland, in: Journal of Holocaust Education 9 (2000), H. 2–3, 146–170.

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Einleitung

cherte Informationen über den Holocaust vorlagen, herangezogen worden.125 Einige der in diesem Kontext relevanten Briefe Lichtheims sind – zum Teil in englischer Übersetzung – bereits in der Dokumentensammlung Predicting the Holocaust. Jewish Organisations Report from Geneva on the Emergence of the »Final Solution,« 1939–1942 abgedruckt.126 Zudem liegt eine geringe Zahl dieser Quellen als Faksimiles in einer älteren, heute vergriffenen Dokumentensammlung vor.127 Lichtheims Bedeutung für die Entwicklungen innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung bis zum Ersten Weltkrieg wurde bereits in verschiedenen Überblicksdarstellungen thematisiert.128 Der deutsche Landesverband der Zionisten-Revisionisten, dem Lichtheim von 1926 bis 1933 vorstand, bleibt dagegen in der mittlerweile umfangreichen Literatur zum ZionismusRevisionismus fast vollständig unbeachtet.129 Einzig ein Aufsatz widmet sich dieser kleinen, aber lautstarken Gruppierung.130 Auch innerhalb der Literatur zum deutschsprachigen Zionismus finden die deutschen Revisionisten unter der Führung Lichtheims oft nur am Rand und mit dem Hinweis auf ihre 125 Richard Breitman, Official Secrets. What the Nazis Planned. What the British and the Americans Knew, New York 1998; Laqueur / Breitman, Der Mann, der das Schweigen brach; Walter Laqueur, The Terrible Secret. Suppression of the Truth about Hitler’s »Final Solution«, Boston, Mass., 1980 (Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers »Endlösung«, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1981). Aber auch: Gilbert, Auschwitz and the Allies. 126 Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust. 127 Henry Friedlander / Sybil Milton (Hg.), Archives of the Holocaust. An International Collection of Selected Documents, Bd. 4: Central Zionist Archives, Jerusalem, 1939–1945, bearb. v. Francis R. Nicosia, New York / London 1990. 128 Eloni, Zionismus in Deutschland; Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias; Sabrina Schütz, Die Konstruktion einer hybriden »jüdischen Nation«. Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914, Göttingen 2019. 129 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zionismus-Revisionismus setzte verhältnismäßig spät ein. Erst seit den 1980er Jahren widmen sich vermehrt Forschungsarbeiten Jabotinsky und der Genese seiner Ideen, so z. B. Colin Shindler, The Rise of the Israeli Right. From Odessa to Hebron, New York 2015; Colin Shindler, The Triumph of Military Zionism. Nationalism and the Origins of the Israeli Right, London / New York 2010; Eran Kaplan, The Jewish Radical Right. Revisionist Zionism and its Ideological Legacy, Madison, Wisc., 2005; Yaacov Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement, 1925–1948, London 1988. Eine frühe Überblicksdarstellung über die Geschichte des Zionismus-Revisionismus stammt von zwei Anhängern Jabotinskys: Joseph B.  Schechtman / Yehuda Benari, The History of the Revisionist Movement, Tel Aviv 1970. 130 Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I).

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Richard Lichtheim: Biografie und Wirken

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Marginalität Erwähnung.131 Seit 2018 liegt eine Dokumentensammlung zur Geschichte der zionistischen Bewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1941 vor, die den deutschen Revisionisten ein eigenes Kapitel widmet.132 Lichtheim selbst hat zwei Schriften hinterlassen, die von zentraler Bedeutung für die historische Beschäftigung mit seiner Person und der deutschen zionistischen Bewegung sind. Über seine Herkunft, sein frühes politisches Engagement und seine Tätigkeit in Konstantinopel geben seine 1954 auf Hebräisch, 1970 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen Auskunft.133 Diese weisen zwar eine biografischen Schriften eigene Subjektivität auf, können aber insbesondere in Bezug auf die Darstellung seines politischen Wirkens als allgemein verlässlich gelten. Mit seiner ebenfalls stark subjektiv gefärbten und in beiden Sprachen erschienenen Geschichte des deutschen Zionismus lieferte er eine erste Gesamtübersicht über die Entwicklung der zionistischen Bewegung in Deutschland bis 1933.134 Auch wenn an einigen Stellen Lichtheims frühere Kritik an der deutschen zionistischen Bewegung aufscheint, würdigte er die Leistungen ihrer führenden Persönlichkeiten, insbesondere die seiner einstigen Opponenten Blumenfeld und Weltsch, ausführlich.

131 Als Standardwerk zur Geschichte des deutschen Zionismus kann noch immer ­Hagit Lavskys Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism gelten. Erstmals ins Zentrum einer wissenschaftlichen Untersuchung rückte die deutsche Bewe­gung im Jahr 1977: Stephen M. Poppel, Zionism in Germany 1897–1933. The Shaping of a Jewish Identity, Philadelphia, Penn., 1977. Seither sind zahlreiche weitere Werke erschienen, u. a. Judith Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas. Eine Untersuchung der deutsch-zionistischen Publikationen 1917–1938, Frankfurt  a. M. / New York, 1982; Andrea Schatz / Christian Wiese (Hg.), Janusfiguren. Jüdische Heimstädte, Exil und Nation im deutschen Zionismus, Berlin 2006; Dimitry Shumsky, Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930, Göttingen 2012; Vogt, Subalterne Positionierungen. Für die Zeit des Nationalsozialismus siehe auch Carsten Teichert, Chasak! Zionismus im nationalsozialistischen Deutschland, 1933–1938, Köln 2000; Francis R. Nicosia, Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich, Göttingen 2012 (zuerst: Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany, Cambridge 2008). 132 Francis R. Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1933–1941, Tübingen 2018. 133 Richard Lichtheim, She’ar Yashuv. Ẓikhronot ẓiyoni mi-Germanya [Ein Rest wird zurückkehren. Zionistische Erinnerungen aus Deutschland], Tel Aviv 1953 (Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus, Stuttgart 1970). 134 Richard Lichtheim, Toldot ha-Ẓiyonut be-Germanya [Geschichte des Zionismus in Deutschland], Tel Aviv 1951 (Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954).

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Einleitung

Die lange Zeit nur geringe Beachtung Lichtheims durch die historische Forschung wie in der Erinnerung des Zionismus und des Staats Israel mag in seiner erratischen politischen Entwicklung begründet liegen, die ihn in den 1920er Jahren in Konflikt mit der zionistischen Mehrheit geraten und ihn bis an das Ende seiner politischen Karriere von einer Außenseiterposition her agieren ließ. Spätestens seit seiner Mission in Konstantinopel positionierte sich Lichtheim stets gegenläufig zum zionistischen Mehrheitswillen, was schließlich dazu führte, dass er nach seinem Austritt aus der zionis­ tischen Exekutive im Jahr 1923 nicht mehr in den von Weizmann und später ­Ben-Gurion dominierten Leitungsgremien der Bewegung tätig war. Fortan agierte er lediglich abseits der großen Bühnen der zionistischen Politik. Hinzu kommt, dass seine Tätigkeiten und Errungenschaften stets von anderen wirkmächtigen Ereignissen überlagert waren und infolgedessen weitgehend aus dem historischen Gedächtnis verschwanden. Der Schutz des Jischuw während des Ersten Weltkriegs, auf den Lichtheim in Zusammenarbeit mit deutschen Diplomaten hinzuwirken vermochte, wurde schon bald von der in London ergangenen Balfour-Deklaration sowie der Eroberung Palästinas durch die britische Armee und die darauffolgende Mandatsherrschaft verdeckt. Sein Wirken in Genf in den 1940er Jahren wiederum wurde in dem jungen Staat Israel, der sich bis in die 1960er Jahre hinein nur wenig mit dem Holocaust konfrontieren wollte, von dringlicheren, auf die Gegenwart und Zukunft gerichteten Fragen in den Hintergrund gedrängt.

2. Zur Quellenlage Diese Edition präsentiert eine Vielzahl von Quellen zum Wirken von Richard Lichtheim. Der Dokumententeil ist in vier Kapitel mit verschiedenen thematischen und geografischen Schwerpunkten gegliedert, innerhalb derer die Dokumente chronologisch angeordnet sind. Die abgedruckten Quellen sind verschiedenen Sammlungen der Central Zionist Archives in Jerusalem sowie dem Archiv des Jabotinsky Institute in Tel Aviv entnommen. In die Edition aufgenommen wurden in der Hauptsache unveröffentlichte Schlüsseldokumente, die sowohl die konkreten Aktivitäten Lichtheims als auch seine persönliche Wahrnehmung und Interpretation der Ereignisse, in die er entweder unmittelbar involviert war oder die mit seiner Tätigkeit in Zusammenhang standen, dokumentieren. Sie gewähren Einblick in die zentralen Arbeitsgebiete Lichtheims sowie seine biografische Entwicklung. Einige wenige Dokumente, die in Übersetzung, fehlerhaft oder unkommentiert bereits an anderer Stelle abgedruckt wurden, sind aufgrund ihrer

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Zur Quellenlage

Bedeutung und Aussagekraft sowie um der inhaltlichen Kohärenz des Bands willen erneut – berichtigt und in Originalsprache – aufgenommen worden. Hingegen ist es nicht der Anspruch dieser Edition, ein vollständiges Bild der Arbeit Lichtheims zu präsentieren. Die vorliegende Auswahl fokussiert einzelne, besonders signifikante Aspekte seiner diplomatischen und politischen Tätigkeit. Dabei bleiben Leerstellen bestehen, die zu schließen die Konsultation weiterer Literatur sowie veröffentlichter und unveröffentlichter Quellen erfordert. Das erste Kapitel (II. 1) versammelt eine Reihe von Lichtheims Briefen, die zwischen 1913 und 1917 in Konstantinopel entstanden sind. Sämtliche dieser Briefe sind in den Central Zionist Archives in Jerusalem einsehbar; sie stammen bis auf eine Ausnahme aus dem Bestand Z3, der die Korrespondenzen des Berliner Zentralbüros der Zionistischen Organisation von 1911 bis 1920 beinhaltet. Ein Brief ist dem Bestand L5 entnommen, der die Akten des von Lichtheim und Victor Jacobson von 1909 bis 1917 geführten Büros der Zionistischen Organisation in Konstantinopel enthält. Eingang in das Kapitel fanden zum einen diejenigen Briefe, die Aufschluss über die zionistisch-arabischen Gespräche 1913/1914 geben; sie ermöglichen eine Identifizierung der arabischen Gesprächspartner sowie ihrer Forderungen und spiegeln darüber hinaus Lichtheims persönliche Einschätzung dieser Gespräche. Zum anderen wurden hier Briefe aufgenommen, anhand derer sich Lichtheims Antichambrieren in den Botschaften der Großmächte in Konstantinopel zwischen 1913 und 1917 rekonstruieren lässt. Sie dokumentieren die Entwicklung und Motive seiner Strategie gegenüber den deutschen und amerikanischen Diplomaten und bezeugen deren Unterstützung für den Jischuw. Das zweite Kapitel (II. 2) thematisiert Lichtheims Wirken innerhalb der deutschen wie internationalen revisionistischen Bewegung bis in das Jahr 1937. Die hier versammelten Dokumente geben Einblick in die innerrevisionistischen Debatten sowie die politischen und ideologischen Machtkämpfe in den 1920er und 1930er Jahren. Sie bezeugen, dass sich innerhalb des Revisionismus mehrere Erscheinungsformen rechter Opposition zum MainstreamZionismus versammelten, die durchaus in Konkurrenz zueinanderstanden. Die Dokumente des zweiten Kapitels stammen überwiegend aus den Beständen des Archivs des Jabotinsky Institute, das sowohl die erhalten gebliebenen Akten der Weltunion der Zionisten-Revisionisten und der einzelnen Landesverbände als auch personenbezogene Sammlungen beherbergt: Im Einzelnen handelt es sich um Dokumente aus den persönlichen Papieren Meir Grossmanns (P59) und Richard Lichtheims (P140), aus der Korrespondenz Jabotinskys (A1), aus den Akten des Hauptbüros des deutschen Landesverbandes der Zionisten-Revisionisten (G1–8) sowie aus der Korrespondenz zwischen dem Zentralbüro der Union der Zionisten-Revisionisten

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Einleitung

in London und dem Büro des Landesverbandes in Berlin (G2–5/21/1 und G2–5/21/2). Einige wenige sind dem Nachlass Lichtheims entnommen, der in den CZA aufbewahrt wird. Eingang in dieses Kapitel fand auch ein 1929 in einer Sondernummer der revisionistischen Publikation Hed-Bethar unter dem Titel Was tut not? veröffentlichter Artikel Lichtheims, um den scharfen Ton zu demonstrieren, in dem die innerzionistischen Auseinandersetzungen im Nachgang der Augustunruhen 1929 in Palästina geführt wurden. Der mit Abstand umfangreichste Teil der Edition (II.  3) widmet sich Lichtheims Funktion als Emissär der Jewish Agency in Genf während des Zweiten Weltkriegs. Die hier versammelten Dokumente bieten die Möglichkeit, sich dem Versuch jüdischer Interessenvertretung sowie deren Grenzen während des Holocaust aus der Zeitgenossenschaft heraus zu nähern. Anhand der Briefe Lichtheims lässt sich erkennen, wie er die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Europas beobachtet und verstanden hat, welche Möglichkeiten des Eingreifens er erkannte und mit welchen Problemen er sich dabei konfrontiert sah. Sie bilden zudem ein ganzes Arsenal antisemitischer Politik in Europa ab, wie es sich Lichtheim als einem der am besten informierten Beobachter darbot. Auch die Rekonstruktion dieser diplomatischen und humanitären Aktivitäten Lichtheims beruht in der Hauptsache auf den Sammlungen der CZA. Die hier versammelten Quellen stammen in der überwiegenden Mehrheit aus den Akten des von Lichtheim geleiteten Büros der Jewish Agency in Genf (L22), aber auch aus dem Büro der Jewish Agency in London (Z4), dem Bestand Yitzhak Grünbaums (S46) sowie dem von Leo Lauterbach geleiteten Organisationsdepartment der Exekutive der Zionistischen Organisation / Jew­ ish Agency in Jerusalem (S5). Allein an das Büro Lauterbachs sandte Lichtheim zwischen 1939 und 1946 mehr als 1500 Briefe, die zum großen Teil erhalten geblieben sind und wertvolle Hinweise über seine Arbeit, die Situation in Europa und seine persönliche Sicht geben. Aufgrund der zerstückelten Aktenlage ist es in dieser Edition indes nicht möglich, die einzelnen Hilfsaktionen des Genfer Büros im Detail abzubilden. Die im vierten und letzten Kapitel (II. 4) präsentierten Briefe dokumentieren, wie sich die Konfrontation mit dem Holocaust auf Lichtheims Vorstellung einer jüdischen Zukunft in Palästina ausgewirkt hat. Aufgenommen wurden hier diejenigen Briefe, die die Entwicklung seines Denkens erkennen lassen und in denen er sich explizit zu den Konsequenzen des nationalsozialistischen Massenmords für die Zukunft eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina äußert – was er während des Kriegs insgesamt an nur sehr wenigen Stellen tat. Von zentraler Bedeutung ist hier sicherlich der vielzitierte Brief an Nahum Goldmann vom 9. September 1942 (Dokument 98), der das früheste und gleichzeitig deutlichste Zeugnis für Lichtheims Gesinnungswandel ist.

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Editorische Prinzipien

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Alle weiteren Briefe zeugen davon, dass sich diese Ansichten im Laufe des Kriegs festigten. Sämtliche Dokumente dieses Kapitels stammen aus dem Nachlass Lichtheims, der von seiner Tochter Miriam an die CZA übergeben wurde und dort unter der Signatur A56 zu finden ist. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der Nachlass unvollständig ist und im Vorfeld eine Auswahl vorgenommen wurde – auffallend ist, dass der Bestand kaum private Dokumente enthält und damit kaum Einblicke in das persönliche Leben Lichtheims und seiner Familie erlaubt –, bietet er doch wesentliche Aufschlüsse zu Biografie und Wirken Lichtheims. Er umfasst neben den wenigen privaten Briefwechseln vor allem geschäftliche Korrespondenzen, einen Teil seiner politischen Denkschriften, Redemanuskripte, Notizbücher sowie eine umfangreiche Sammlung seiner Zeitungsartikel. Die meisten erhaltenen schriftlichen Zeugnisse sind in deutscher und englischer, gelegentlich in französischer Sprache verfasst. Für die meisten der wenigen nach 1946 auf Hebräisch erschienenen Publikationen liegen deutsche Übersetzungen vor oder lassen sich deutschsprachige Originale in den Archiven finden. Geschuldet ist dies Lichtheims reserviertem Verhältnis zur neuen Sprache des Jischuw. Yitzhak Grünbaum unterstellte ihm noch 1939 eine »antisemitische Beziehung zum Hebräischen.«135 Ist sie gewiss auch nicht wörtlich zu verstehen, weißt die Unterstellung Grünbaums doch auf die vehemente Distanz hin, die Lichtheim zeitlebens zum Hebräischen behielt. Die in dieser Edition versammelten Dokumente sind sämtlich in ihrer Originalsprache abgedruckt – Deutsch, Englisch und Französisch und wurden sprachlich nicht geglättet.

3. Editorische Prinzipien Anliegen der Reihe Archiv jüdischer Geschichte und Kultur, in der dieser Band erscheint, ist es, den Anforderungen authentischer Textüberlieferung gerecht zu werden und zugleich eine gute Lesbarkeit der transkribierten Quellen zu bieten. Die Quellentexte werden in Form einer diplomatischen Edition wiedergegeben. Spezifische Texteigenschaften wie Unterstreichungen, nachträgliche Ergänzungen, Einfügungen und Korrekturen sowie Eingriffe der Herausgeberin werden durch editorische Zeichen vermerkt. Eine Übersicht über die verwendeten Zeichen ist dem Quellenteil vorangestellt. Auslassungen werden mit  […] angezeigt und in Fußnoten erläutert. Typografische 135 CZA, S5/166, Yitzhak Grünbaum an Richard Lichtheim, 9. Februar 1939.

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Einleitung

und grammatikalische Fehler werden wie im Original wiedergegeben und mit [sic] gekennzeichnet. Lediglich eindeutige Fehler der Groß- und Kleinschreibung sowie der Interpunktion wurden stillschweigend und mit großer Zurückhaltung korrigiert. Zweifelhafte Lesungen wurden ebenfalls durch editorische Zeichen kenntlich gemacht. Die Umschrift hebräischer Begriffe erfolgt nach den Transkriptionsregeln der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bezeichnungen aus dem Arabischen, Osmanischen und Russischen wurden nach den Regeln der Library of Congress transkribiert. Fettungen und Sperrungen in den Originaltexten, die dort der Hervorhebung dienen, wurden einheitlich in Kursivierungen umgewandelt. In den Quellentexten werden Personen bei ihrer erstmaligen Nennung in einer Fußnote ausführlich vorgestellt. Bei Personen, die sich nicht eindeutig identifizieren ließen bzw. zu denen keine gesicherten Angaben ermittelt werden konnten, wurde auf Annotation verzichtet. Im Personenregister sind sämtliche in der Einleitung wie im Quellenteil namentlich genannten Personen verzeichnet. Daten zur Ereignisgeschichte des Holocaust sind, wenn nicht anders angegeben, der Enzyklopädie des Holocaust entnommen. Eine Übersicht häufig verwendeter Abkürzungen ist dem Band vorangestellt. Weitere Abkürzungen und Akronyme wurden bei ihrer Erstnennung in einer Fußnote aufgelöst. Zu Beginn jeder Quelle steht jeweils ein Dokumentenkopf, der Angaben zum Namen des Autors, zum Entstehungsort und -datum der Quelle, zum Umfang und zur Gattung des Dokuments, zur Art und zum Erhaltungszustand der Vorlage sowie zum archivalischen Standort des Originals enthält. Bei Briefen wird der Name des Adressaten angeben. Bei Dokumenten, die mehr als drei Druckseiten umfassen, folgt zur besseren Orientierung eine kurze Inhaltsangabe unter dem Dokumentenkopf.

4. Danksagung Mein Dank gebührt zunächst Dan Diner, Herausgeber der Reihe Archiv jüdischer Geschichte und Kultur und Leiter des Projekts »Europäische Traditionen  – Enzyklopädie jüdischer Kulturen« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der mich zur Arbeit an dieser Edition einlud und mir stets beratend zur Seite stand. Zu besonderem Dank bin ich auch Stefan Hofmann verpflichtet, der die Entstehung dieser Edition von Beginn an mit viel Geduld und Akribie begleitet und das Manuskript immer wieder einer kritischen Lektüre unterzogen hat. Für Anregung und Unterstützung danke ich herzlich auch dem Leiter der Arbeitsstelle Markus Kirchhoff, der insbesondere der Einleitung zu mehr Struktur und Klarheit verholfen hat.

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Danksagung

Ebenso gilt mein Dank Martin Jost und Georg Wehse, die den Band redaktionell mitbetreut haben. Die Register erstellte Franziska Jockenhöfer. Janina Karolewski und Walid Abdelgawad unterstützten die Transkription aus dem Osmanischen und Arabischen. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Für ihre Hilfe bei der Lokalisierung des relevanten Materials danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Central Zionist Archives in Jerusalem und des Archivs des Jabotinsky Instituts in Tel Aviv. Finanziell möglich gemacht wurde der Band durch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Verbliebene Fehler und Ungenauigkeiten sind allein mir anzulasten.

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5. Liste der Dokumente

1. Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw 1 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 9. Oktober 1913 2 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 20. November 1913 3 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 30. Dezember 1913 4 Memorandum von Richard Lichtheim für Gerhard von Mutius, 16. April 1914 5 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 19. April 1914 6 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 28. April 1914 7 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 12. Mai 1914 8 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 28. Mai 1914 9 Brief von Richard Lichtheim an Victor Jacobson, 7. Juni 1914 10 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 18. Juni 1914 11 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 29. Juni 1914 12 Brief von Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, 3. Juli 1914 13 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 29. November 1914 14 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 18. Dezember 1914 15 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 24. Dezember 1914 16 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 26. Dezember 1914 17 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 6. Januar 1915 18 Brief von Richard Lichtheim an Theodor Weber, 6. März 1915

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Liste der Dokumente

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Brief von Richard Lichtheim an Issac Straus, 27. März 1915 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 24. Juli 1915 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. Juli 1915 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 13. August 1915 23 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 26. November 1915 24 Brief von Richard Lichtheim an die Deutsche Botschaft in Konstantinopel, 22. Dezember 1915 25 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. März 1917 26 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 2. April 1917 27 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 27. April 1917 28 Brief von Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 11. Mai 1917

2. Berlin: In der Opposition 29 Brief von Richard Lichtheim an Meir Grossmann, 15. Januar 1927 30 Brief von Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky, 9. Februar 1927 31 Rundbrief mit Wahlaufruf der Union der Zionisten-Revisionisten an die Mitglieder des Zentralkomitees der Union der Zionisten-Revisionisten, 25. Juli 1927 32 Brief von Richard Lichtheim an die 3. Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten, Dezember 1928 33 Artikel von Richard Lichtheim, »Was tut not?«, in: Hed-Bethar, Sondernummer, 8. September 1929 34 Rundschreiben des Exekutivkomitees des Weltverbands der ZionistenRevisionisten, 1. Dezember 1929 35 Beschlüsse des 1. Delegiertentags des Landesverbands der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 15. März 1931 36 Brief von Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky, 24. März 1931 37 Brief von Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky, 14. August 1931 38 Brief von Richard Lichtheim an Meir Grossmann, 5. September 1931 39 Beschlüsse der 2. Landeskonferenz des Verbands der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 11. Oktober 1931 40 Brief von Richard Lichtheim an Meir Grossmann, 15. November 1931 41 Brief von Richard Lichtheim an die 5. Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten, 23. August 1932

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Einleitung

42 Brief der Union der Zionisten-Revisionisten an den Landesvorstand der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 25. April 1933 43 Brief von Ernst Hamburger an das Exekutivkomitee der Weltunion der Zionisten-Revisionisten, 12. Mai 1933 44 Erstes Rundschreiben des Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten, ohne Datum [Mai 1933] 45 Brief und zweites Rundschreiben des Verbands Deutscher ZionistenRevi­sionisten, 13. Juli 1933 46 Brief von Richard Lichtheim an Meir Grossmann, 26. Februar 1935 47 Brief von Richard Lichtheim an Meir Grossmann, 20. April 1937 48 Redemanuskript von Richard Lichtheim über die Teilung Palästinas, 21. April 1937 49 Artikelentwurf von Richard Lichtheim »Jabotinsky«, ohne Datum [1960]

3. Genf: Diplomatie während des Holocaust 50 51 52 53

Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 12. Oktober 1939 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 12. November 1939 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 5. Dezember 1939 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 11. März 1940 mit einem Bericht eines unbekannten Autors aus dem besetzten Polen im Anhang 54 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 15. September 1940 55 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 15. November 1940 mit Abschriften von Dokumenten aus den besetzten Niederlanden im Anhang 56 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 11. Dezember 1940 57 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 24. Februar 1941 58 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 28. April 1941 59 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 20. Oktober 1941 60 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 4. November 1941 mit Abschrift eines Briefs des Keren Hayesod in Kroatien an Richard Lichtheim, 27. Oktober 1941 im Anhang 61 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 10. November 1941 62 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 4. März 1942 63 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 16. März 1942 64 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach, Gerhart  M. Riegner, 19. März 1942 mit Brief und Memorandum von Richard Lichtheim und Gerhart M. Riegner an Philippe Bernardini, 18. März 1942 im Anhang

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Liste der Dokumente

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65 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 13. Mai 1942 66 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach, 29. Mai 1942 67 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 22. Juli 1942 68 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 10. August 1942 mit einem Bericht aus Frankreich im Anhang 69 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 27. August 1942 70 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, 30. August 1942 mit einem Bericht über Polen, 15. August 1942 im Anhang 71 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 31. August 1942 72 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, 3. September 1942 mit einem Bericht aus VichyFrankreich im Anhang 73 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 15. September 1942 74 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 29. September 1942 75 Brief von Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach 5. Oktober 1942 mit einem Bericht über Lettland im Anhang 76 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 27. Oktober 1942 mit einer Korrekturseite zum Bericht über Lettland im Anhang 77 Brief von Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 8. Oktober 1942 78 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 20. Oktober 1942 79 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 26. Oktober 1942 mit einem Bericht über die deutsche Vernichtungspolitik, 22. Oktober 1942 im Anhang 80 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 1. Dezember 1942 81 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 15. Januar 1943 82 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 24. März 1943 83 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 26. Mai 1943 84 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 8. Juni 1943 85 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 24. September 1943 86 Brief von Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 14. März 1944 87 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 9. Mai 1944 88 Brief von Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 14. Juni 1944 89 Brief von Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 19. Juni 1944 90 Telegramm von Richard Lichtheim an Joseph Linton, 30. Juni 1944 91 Telegramm von Richard Lichtheim und Gerhart M. Riegner an Nahum Goldmann, 16. November 1944 92 Telegramm von Richard Lichtheim an die Exekutive der Jewish Agency, 8. Dezember 1944

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Einleitung

93 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 14. Dezember 1944 94 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 23. Dezember 1944 mit zwei Berichten über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Ungarn im Anhang 95 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 5. Februar 1945 96 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Joseph Linton, Henry Montor, 24. April 1945 97 Brief von Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 10. April 1946, mit Bericht von Richard Lichtheim »Das Genfer Büro 1939–1946«, 10. April 1946 im Anhang

4. Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas 98 99 100 101 102 103

Brief von Richard Lichtheim an Nahum Goldmann, 9. September 1942 Brief von Richard Lichtheim an Robert Weltsch, 11. November 1943 Brief von Richard Lichtheim an Lewis B. Namier, 29. Februar 1944 Brief von Richard Lichtheim an Robert Weltsch, 10. März 1944 Brief von Richard Lichtheim an Martin Rosenblüth, 26. November 1945 Brief von Richard Lichtheim an Nahum Goldmann, 2. September 1946

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6. Abbildungsverzeichnis

S. 5 Richard Lichtheim, o. O., um 1930 Abb. 1 Richard Lichtheim während seiner ersten Reise nach Palästina, Haifa, 30. April 1910 Abb. 2 Irene und Richard Lichtheim, Konstantinopel, Sommer 1914 Abb. 3 Richard Lichtheim, o. O., 1921 Abb. 4 Richard Lichtheim während des 17. Zionistenkongresses, Basel, 1931 Abb. 5 Gruppe von Revisionisten auf dem 17. Zionistenkongress, Basel 1931 Abb. 6 Meir Grossmann und Richard Lichtheim während des 17. Zionistenkongresses, Basel, 1931 Abb. 7 Richard Lichtheim im Verbindungsbüro der Zionistischen Organisation, Genf, Januar 1940 Abb. 8 Irene und Richard Lichtheim, Genf, 1940 Abb. 9 Richard Lichtheim in Israel, Jerusalem, 1955

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7. Abbildungen Abb. 1: Richard Lichtheim während seiner ersten Reise nach Palästina, Haifa, 30. April 1910 (CZA, PHAL/1619970)

Abb. 2: Irene und Richard Lichtheim auf den Prinzeninseln, Konstantinopel, Sommer 1914 (CZA, PHAL/1621285)

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Abbildungen

Abb. 3: Richard Lichtheim, o. O., 1921 (CZA, PHG/1106279)

Abb. 4: Richard Lichtheim (Mitte) und andere Delegierte während einer Pause auf dem 17. Zionistenkongress, Basel, 1931 (CZA, PHG/1106283)

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Abbildungen

Abb. 5: Gruppe von Revisionisten auf dem 17. Zionistenkongress (1. Reihe sitzend: Wladimir Ze’ev Jabotinsky (2. v. rechts), Wladimir Tiomkin (3. v. rechts), Richard Lichtheim (4. v. rechts), Meir Grossmann (3. v. links), Basel, 1931 (JI, PH-8230) Abb. 6: Meir Grossmann (links) und Richard Lichtheim während des 17. Zionistenkongresses, Basel, 1931 (CZA, PHG/1106280)

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Abbildungen

Abb. 7: Richard Lichtheim in dem von ihm geleiteten Verbindungsbüro der Zionistischen Organisation, Genf, Januar 1940 (CZA, PHG/1016760) Abb. 8: Irene und Richard Lichtheim, Genf, 1940 (CZA, PHAL/1621321)

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Abbildungen

Abb. 9: Richard Lichtheim in Israel, Jerusalem, 1955 (CZA, PHAL/1621324)

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II. Quellen

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Unterstreichungen: Unterstrichen Maschinenschriftlicher Text, der mit einer durchgängigen maschinenschriftlichen Linie unterstrichen wurde Unterstrichen Maschinenschriftlicher Text, der mit einer unterbrochenen maschinenschriftlichen Linie unterstrichen wurde Unterstrichen Handschriftliche Unterstreichung Korrekturen und Einfügungen: Handschriftliche Streichung Streichung Streichung Maschinenschriftliche Streichung ### Handschriftliche Streichung eines unleserlichen Worts ### Maschinenschriftliche Streichung eines unleserlichen Worts ¦Einfügung¦ Maschinenschriftliche Einfügung {Einfügung} Handschriftliche Einfügung (auch Unterschriften) [Einfügung] Einfügung der Herausgeberin

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1. Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

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Dokument 1 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 9. Oktober 1913 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00187« bis »00190«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/47 Konstantinopel d. 9.X.[19]13 An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation1 Sehr geehrte Herren! 1) Roter Zettel:2 Bisher ist über die Sache noch keine endgültige Klarheit geschaffen. Ich selbst kann leider keine direkten Schritte tun, weil ich noch 1

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Das (Engere) Aktionskomitee war der geschäftsführende Ausschuss des Großen Aktionskomitees (GAC) der Zionistischen Organisation, die 1897 auf Initiative Theodor Herzls (1860–1904) auf dem Ersten Zionistenkongress in Basel gegründet wurde. Der Sitz des EAC war zunächst in Wien, von 1905 bis 1911 in Köln und von 1911 bis 1920 in Berlin. Das EAC führte die Geschäfte der Zionistischen Organisation weitgehend selbstständig, es war lediglich an die Beschlüsse der Kongresse und der Jahreskonferenzen gebunden. Das EAC hatte das GAC über all seine Beschlüsse zu unterrichten und bei wichtigen Angelegenheiten einzuberufen, mindestens aber einmal im Jahr und auf Antrag von einem Drittel der Mitglieder des GAC. 1913 bestand es aus Otto Warburg (1859–1938), Arthur Hantke (1874–1955), Victor Jacobson (1869–1934), Shmaryahu Levin (1867–1935), Nahum Sokolow (1859–1936) und Yehiel Tschlenow (1864–1918). Offiziell war Juden seit 1881 die dauerhafte Ansiedlung in Palästina durch die osma­ nischen Behörden untersagt. Ab 1901 erhielten sie bei der Einreise in Jaffa eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung für Palästina, die aufgrund der Farbe des Papiers als »roter Zettel« bekannt wurde. Bei Überschreitung der Frist drohte ihnen die Ausweisung. In der Praxis wurde dies allerdings selten umgesetzt, da die zionistischen Einwanderer als Angehörige europäischer Staaten unter dem Schutz ihrer Konsuln standen und nicht ohne deren Zustimmung ausgewiesen werden konnten. Den meisten Einreisenden gelang es so, sich dauerhaft in Palästina niederzulassen. Die Zionisten drängten dennoch auf die Abschaffung des roten Zettels, da es sich um eine Maßnahme handelte, die ausschließlich Juden betraf. Im September 1913 wurde die Praxis des roten Zettels abgeschafft, ohne jedoch das Niederlassungsverbot für Juden aufzuheben. Zu den Einreisebestimmungen für Juden ins Osmanische

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

nirgends eingeführt bin, sondern muss mich auf unsere hiesigen Vertrauensleute verlassen. Herr Hochberg3 konnte bisher Talaat4 nicht sprechen u. die übrigen Recherchen haben keine Klarheit gebracht. Ich habe heute Herrn Neufach5 u. Herrn Hochberg erklärt, dass6 unbedingt Mittel u. Wege gesucht werden müssen, damit wir endlich genau wissen, wie die Sache steht. 2) arabische Bewegung: Es scheint, dass in manchen arabischen Kreisen die friedliche, „ottomanische Richtung“ zu Gunsten der schärferen nationalistischen Richtung in den Hintergrund tritt. |2| Die Araber sind enttäuscht, weil die wichtigsten Regierungsposten in Syrien wiederum mit Türken besetzt wurden.7 Man bemerkt in den grossen Hotels hier sehr viele arabische Führer Reich zwischen 1881 und 1908 siehe Mandel, Ottoman Practice as Regards Jewish Settlement in Palestine. Zu deren allmählicher Lockerung siehe Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 169 f. 3 Sami Hochberg (1869–1917) war ein zionistischer Lehrer und Publizist. In Bessarabien geboren, siedelte er 1889 nach Palästina über. Von 1909 bis 1915 wirkte er in Konstantinopel unter anderem gemeinsam mit Wladimir Ze’ev Jabotinsky (1880–1940) als Mitherausgeber der französischsprachigen prozionistischen Zeitung Le Jeune Turc, die auch die Bewegung der Jungtürken unterstützte. Hochberg stand in engem Austausch mit Lichtheim und Jacobson und stellte den ersten Kontakt zwischen den Zionisten und den arabischen Abgeordneten des osmanischen Parlaments her. 1913 vertrat er die Zionistische Organisation bei dem Arabischen Nationalkongress in Paris. Für eine nichtwissenschaftliche, literarische Biografie Hochbergs siehe Igal Sarna, Shady Agent, Ramat ha-Sharon 2010 [hebr.]. 4 Mehmed Talât Pascha (1874–1921) war von 1908 bis 1917 Innenminister und von 1917 bis 1918 Großwesir des Osmanischen Reichs. Er trat 1906 dem Komitee für Einheit und Fortschritt bei und war 1908 einer der Anführer der jungtürkischen Revolution. Ab 1913 regierte er gemeinsam mit Marineminister Cemal Pascha (1872–1922) und Kriegsminister Enver Pascha (1881–1922) das Osmanische Reich despotisch in einem Triumvirat. Er gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern. 5 Isaac Neufach war ein jüdischer Rechtsanwalt in Konstantinopel. 6 Rechtschreibung wie im Original. In handschriftlichen wie maschinenschriftlichen Briefen verwendete Lichtheim generell »ss« statt »ß«. 7 Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts keimten angesichts der inneren Schwäche des Osmanischen Reichs und der inkonsistenten Reformpolitik der Hohen Pforte nationalistische Ideen in den arabischen Provinzen des Reichs. Besorgt über die zunehmende jüdische Einwanderung nach Palästina und den Einfluss Englands und Frankreichs gründeten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Reihe reformorientierter politischer Gesellschaften, die auf mehr Rechten für die arabische Bevölkerung bestanden. Die Gesellschaften, denen in der Regel sowohl Muslime als auch Christen

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Dokument 1

aller Art: Grossgrundbesitzer, Scheihs [sic], Journalisten etc. Im Hotel PeraPalace8 ist das Zentrum der reichen Effendis, die ziemlich friedlich gestimmt sind, im Hotel Tokatlian9 beraten fortgesat gesetzt die jüngeren, scharf nationalistischen Elemente. Saphir10 besitzt zu letzteren Beziehungen. Es besteht der (vorläufig streng geheime) Plan, hier eine türkische Zeitung zu gründen, die den arabischen Interessen dienen soll. Ferner will man die arabische Bevölkerung systematisch erziehen u. für eine arabisch-politische Bewegung reif machen. Dies soll jedoch nicht im geheimen à la Comité union et progrès,11 sondern öffentlich |3| nach Art politischer Parteien geschehen. Diese Kreise proponieren ein Zusammengehen mit den Juden. Sie meinen, die Juden müssten ottomanische Untertanen und „gute Syrer“ werden.

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angehörten, forderten unter anderem eine dezentrale Verwaltung und den Gebrauch des Arabischen als Amts- und Schulsprache in den arabischen Provinzen. Viele von ihnen agierten zunächst im Geheimen, um eine Unterwanderung durch die osmanische Zentralregierung zu vermeiden. Im Juni 1913 versammelten sich die Vertreter verschiedener arabischer Organisationen auf dem Ersten Arabischen Kongress in Paris, um unterschiedliche Reformforderungen zu diskutieren. Der auf den Kongress entsandte Unterhändler der osmanischen Regierung machte den Delegierten verschiedene Zugeständnisse – unter anderem versprach er eine vermehrte Beteiligung von Arabern im Staatsapparat – die jedoch letztlich nicht eingehalten wurden. Zeine  N. Zeine, Arab-Turkish Relations and the Emergence of Arab Nationalism, Beirut 1958. Das Pera Palace Hotel wurde 1892 im Konstantinopler Stadtteil Pera, dem heutigen Beyoğlu, als luxuriöse Herberge für Fahrgäste des Orient-Express eröffnet. Hier verkehrten bevorzugt ausländische Reisende und Diplomaten. Das Tokatlıyan Hotel wurde 1897 von Mıgırdiç Tokatlıyan gegründet. Es lag an der Hauptgeschäftsstraße Grand Rue de Péra, der heutigen İstiklâl Caddesi, und entwickelte sich zu einem beliebten Treffpunkt der gehobenen Gesellschaft Konstan­ tinopels. Asher Saphir war ein jüdischer Journalist in Konstantinopel und Mitarbeiter des Le Jeune Turc. Lichtheim, Rückkehr, 216. Das Komitee für Einheit und Fortschritt (osman.: İttiḥāt ve Teraḳḳī Cemʿiyeti; frz.: Comité union et progrès, CUP) war die wichtigste und langlebigste Partei der jungtürkischen Bewegung, deren Ziel die Absetzung von Sultan Abdülha­mid  II. (1842–1918) war. Sie war maßgeblich an der konstitutionellen Revolution von 1908 beteiligt. Mit kurzer Unterbrechung von Sommer 1912 bis Januar 1913 regierte sie bis 1918. Sie war verantwortlich für den Völkermord an den Armeniern und die Verfolgung von religiösen und nationalen Minderheiten im Osmanischen Reich. Zu ihren wichtigsten Mitgliedern zählten unter anderem Talât Pascha, Enver Pascha, Cemal Pascha und Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938). Feroz Ahmad, The Young Turks. The Committee of Union and Progress in Turkish Politics 1908–1914, Oxford 1969.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Sie denken sich dies vorläufig als eine Art Assimilation der Araber Juden an die Araber. Saphir, der mit ihnen darüber sprach, hat ihnen klargemacht, dass diese naive Auffassung in den jüdischen Kreisen nicht geteilt wird u. er glaubt, dass man die Araber leicht davon überzeugen kann, dass man den Juden nationale u. kulturelle Autonomie lassen muss. Es scheint diesen Elementen tatsächlich an der praktischen Mitarbeit der Juden gelegen zu sein, wobei weniger an Geld, als vielmehr an die jüdische Hilfe bei der Erziehung des Volkes durch Schulen u. Presse gedacht wird. |4| Obgleich dies nur sehr schwer in die Praxis zu übertragen ist, verdienen diese Stimmungen im arabischen Lager jedenfalls grösste Beachtung. Ich stehe zwar der jüdisch-arabischen Verbrüderungstheorie mit der grössten Skepsis gegenüber, aber man kann diese jetzt gegebenen Stimmungen u. Situationen zu unseren Gunsten ausnutzen, wenn man ständige Fühlung hält, die arabische Presse unterstützt u. so verhindert, dass die Regierung unsere Wünsche aus Angst vor den Arabern ablehnt. Dr. Jacobson12 wird hier ungeduldig erwartet. Es wäre gut, wenn wir erfahren könnten, wann er hier eintreffen wird. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 2 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 20. November 1913 Handschriftlicher Brief, 13 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur in oberer linker Ecke von Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00148« bis »00160«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftlicher Vermerk (»II«) in oberer linker Ecke auf Seite 1 CZA, Z3/47 12 Victor Jacobson (1869–1934) war von 1908 bis 1914 Repräsentant der Zionistischen Organisation in Konstantinopel. Zwischen 1911 und 1920 war er Mitglied des EAC und zwischen 1925 und 1934 stand er der Vertretung der Zionistischen Organisation beim Völkerbund in Genf vor. Lichtheim fungierte in Konstantinopel zunächst als sein Stellvertreter. Nachdem Jacobson, der nach seiner Wahl ins EAC zwischen Berlin und Konstantinopel pendelte, aufgrund seiner russischen Staatsbürgerschaft im April 1915 die Einreise in das Osmanische Reich verweigert wurde, übernahm Lichtheim die Leitung des Büros.

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Dokument 2

[Lichtheim berichtet über die fortgesetzten Bemühungen der Zionisten, die Aufhebung der für Juden geltenden Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen zu erwirken. Zudem plädiert er für eine stärkere Anlehnung der zionistischen Bewegung an die europäischen Großmächte und äußert Zweifel an einer Zusammenarbeit mit den Vertretern der arabischen Nationalbewegung.] Constantinopel d. 20.XI.[19]13 An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Sehr geehrte Herren! Die Angelegenheit des roten Zettels steht augenblicklich folgendermassen: Wir haben aus Palästina Nachrichten erhalten, dass die dortigen Behörden auf Grund einer Besprechung beim Pascha von Jerusalem13 sehr günstige Beschlüsse gefasst haben. Diese Nachrichten sind Ihnen sicherlich auch zugegangen. Herr Kretschmar-Israeli,14 der am 11. XI. mit dem Kaimakam15 in Jaffa gesprochen hat, versichert uns, dass schon jetzt den Einwandernden weder ein roter noch ein weisser Zettel gegeben wird.16 Wir setzen natürlich trotzdem unsere Bemühungen fort, die Regierung zum Erlass einer neuen Ordre zu bewegen. Seit meinem letzten Bericht habe ich wieder mehrfach mit Batzaria Effendi17 gesprochen, der stets versichert, 13 Mecīd Şevket Bey (auch Ahmed Mecīd Bey) war von März 1913 bis 1915 Gouverneur von Jerusalem. 14 Arnold Kretschmar-Israeli war ein Mitglied der zionistisch-sozialistischen Arbeiterbewegung Poʼale Ẓiyon (Arbeiter Zions). Während des Ersten Weltkriegs wirkte er in den Vereinigten Staaten aktiv am Aufbau der Jüdischen Legion mit. Elias Gilner, War and Hope. A History of the Jewish Legion, New York 1968. 15 Ḳāymaḳām (auch Ḳāʾim-maḳām) bezeichnete im Osmanischen Reich den obersten Beamten eines Bezirks. 16 Nach der Abschaffung des roten Zettels im September 1913 konfiszierten die lokalen türkischen Behörden in Jaffa bei der Einreise die Papiere jüdischer Reisender, um sicherzustellen, dass sie nicht länger als drei Monate in Palästina blieben. Die im Gegenzug ausgestellten Quittungen wurden als »weißer Zettel« bekannt. Mitte November wurde auch diese Praxis durch eine neue ersetzt. Fortan wurde das Einreisedatum in den Pässen vermerkt und die Reisenden durften ihre Papiere behalten. Das Niederlassungsverbot wurde allerdings weiterhin aufrechterhalten. Mandel, The Arabs and Zionism Before World War I, 169 f. 17 Nicolae Constantin Batzaria (1874–1952) war ein aromunischer Politiker, Journalist und Schriftsteller. 1908 schloss er sich der jungtürkischen Bewegung an, wurde nach der Revolution im selben Jahr zum Senator ernannt und wirkte kurzzeitig als Minister

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

bei der nächsten Gelegenheit mit Talaat sprechen zu wollen. Der Grossrabbiner18 ist nach wie vor optimistisch. |2| Er hat schon zweimal mit Talaat gesprochen. Vor einigen Tagen erhielt der Grossrabbiner den Besuch des Landwirtschaftsministers El Bostani19 (Syrer) dem er gleichfalls die Sache vortrug. Nahum20 behauptet, Bostani sei über den Text der Ordre ganz erstrau erstaunt gewesen. Nach seiner Darstellung habe der Ministerrat eine solche Ordre, welche die Entscheidung in die Hände der Beamten in Palästina legt, gar nicht beschlossen. Bostani versprach, die Angelegenheit im Ministerrat nochmals zur Sprache zu bringen. So steht die Sache heute. Sollte in den nächsten Tagen etwas geschehen, so telegraphiere ich. Ich muss Ihnen nun über eine Sache von grosser Wichtigkeit schreiben, welche mit der Frage des roten Zettels in Zusammenhang steht: Das ist unser Verhältnis zur russischen Botschaft. Wie ich in früheren Briefen mitteilte, haben wir uns seinerzeit wegen der Ver-[|3|]urteilung zweier Schomrim21 zu langjähriger Zwangsarbeit an die russische Botschaft gewandt. Der Erfolg war überraschend. Die Botschaft hat die Auslieferung der beiden Leute ### {an} den russischen Consul als Bedingung unter die verschiedenen russischen Forderungen aufgenommen, welche in dem jetzt zum Abschluss gelangten russisch-türkischen Vertrag enthalten sind.22 Die Türkei soll bereits prinzi-

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der neuen Regierung. Er war einer der ständigen Mitarbeiter der Zeitung Le Jeune Turc. Beunruhigt durch den zunehmenden Nationalismus der Jungtürken und den Kriegseintritt aufseiten Deutschlands ging er 1916 freiwillig ins Exil. Chaim Nahum (1873–1960) entstammte einer sephardischen Familie und wirkte von 1909 bis 1920 als Oberrabbiner des Osmanischen Reichs. Zwischen 1893 und 1897 studierte er am Rabbinerseminar in Paris, wo er auch erste Kontakte zu Mitgliedern der jungtürkischen Bewegung knüpfte. Sulaymán Al-Bustánī (1856–1925) war ein christlicher Dichter, Historiker und Politiker. Nach der jungtürkischen Revolution wurde er für Beirut in das Abgeordnetenhaus des osmanischen Parlaments gewählt. Ab 1911 war er Mitglied des osmanischen Senats und wirkte von 1913 bis 1914 als Minister für Handel und Landwirtschaft. Nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs aufseiten der Mittelmächte begab er sich ins Schweizer Exil. Chaim Nahum. Der hebräische Begriff shomer (pl. shomrim; Wächter) bezeichnete die Mitglieder des 1909 entstandenen jüdischen Wachbunds Ha-Shomer (Der Wächter), der zum Schutz der jüdischen landwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina etabliert wurde. Da es sich bei den beiden zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilten Wächtern um russische Juden handelte, hatte sich Lichtheim an die russische Botschaft gewandt, die deren Freilassung zur Vorbedingung für den Abschluss eines Handelsabkom-

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Dokument 2

piell zugestimmt haben, sodass man mit der baldigen Befreiung der beiden Leute rechnen kann. Was nun den roten Zettel betrifft, so schrieb ich Ihnen über ein hier verbreitetes und auch vom Grossrabbiner kolportiertes Gerücht, wonach die russische Botschaft gegen die Aufhebung des R. Z.23 gearbeitet habe. Ich habe versucht, zunächst von türkischer Seite hierüber etwas zu hören. Es wurde mir mitgeteilt, dass der russische Botschafter24 gelegentlich eines |4| diplomatischen Empfanges mit dem Grossvesier25 darüber gesprochen hat. In welchem Sinne dies geschah, konnte ich nicht erfahren. Auf der russischen Botschaft aber wurde Herrn Neufach durch den ersten Botschaftsrat, Gulkewitsch,26 mit grösster Bestimmtheit versichert, dass die Botschaft für die Aufhebung des roten Zettels sei. Herr Dr. Neufach, der vor einigen Tagen Sekretär der hiesigen russischen Handelskammer geworden ist, und mit Herrn Gulkewitsch auch dienstlich zu tun hat, benutzte mehrfach die Gelegenheit, mit ihm über unsere Sachen zu sprechen. Daher ergab sich, dass Herr Gulkewitsch, der ein sehr ernster und liberal denkender Mensch sein soll, grosses Interesse und entschiedenes Wohlwollen zeigte. Den praktischen Beweis hierfür haben wir in der Schomrim-Angelegenheit gesehen. Aber auch die Aufhebung des roten |5| Zettels und das Verb noch bestehende Verbot des Bodenkaufs27 interessieren ihn. Vor einigen Tagen war Herr Mar-

mens mit dem Osmanischen Reich machte. Dem hatte die osmanische Regierung zugestimmt und die Wächter schließlich an den russischen Konsul ausgeliefert. Lichtheim, Rückkehr, 232. 23 Roten Zettels. 24 Michail Nikolajewitsch von Giers (1856–1924) war von 1912 bis 1915 russischer Botschafter im Osmanischen Reich. 25 Saʿīd Ḥalīm Paşa (1864–1921) war von 1913 bis 1917 Großwesir des Osmanischen Reichs. 26 Konstantin Nikolajewitsch Gulkewitsch war von 1912 bis 1914 Erster Botschaftsrat der russischen Botschaft in Konstantinopel. 27 Bereits im November 1892 wurde der Verkauf von staatlichem Land an Juden verboten. 1893 gelang es den Mächten, für ausländische Juden, die legal in Palästina residierten, eine Ausnahmeregelung zu erwirken. Diesen war fortan der Kauf von Boden gestattet, es war ihnen jedoch nicht erlaubt, dieses Land nicht in Palästina residierenden Juden zur Ansiedlung zur Verfügung zu stellen. 1901 wurde der Landkauf auch osmanischen Juden und »lang in Palästina residierenden« ausländischen Juden erlaubt. Es blieb ihnen jedoch weiterhin verboten, Neuankömmlingen bei der dauerhaften Ansiedlung zu helfen. Diese Einschränkungen wurden auch nach der Jungtürkischen Revolution 1908 beibehalten und in der Folge mehrfach verschärft. Sie wurden jedoch vielfach mit der Hilfe von Bestechungsgeldern und Mittelsmännern umgangen. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 18–28.

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kus Cahan28 aus Jaffa hier. Er hatte auf der Botschaft zu tun und wurde von Herrn Gulkewitsch privatim eingeladen. Er bestätigte uns, dass G.29 sich für uns interessiert und behauptete sogar, die russische Botschaft werde auch die Aufhebung des roten Zettels u. des Landkaufverbots unter die Bedingungen des russisch-türkischen Vertrages aufnehmen. Dies hat sich nun freilich nicht bestätigt, aber tatsächlich hat Gulkewitsch bereits mit Talaat wegen ### beider Fragen gesprochen. Talaat erklärte darauf die Rote Zettel-Affäre für eine Formsache, leugnete aber, dass es ein Landkaufverbot gäbe. Ich bin nun der Meinung, dass die günstige Stimmung der russischen Botschaft ausgenutzt werden muss. Wir haben heute einen ### Schritt getan, indem wir Herrn Gulkewitsch das in unseren Händen befindliche Material wegen R. Z. u. Bodenkauf |6| übergeben haben. Es handelt sich um die Copie einer Ordre von 1899, welche den Bodenkauf durch Juden, besonders durch russische Juden, streng verbietet {resp. von besonderer Erlaubnis abhängig macht}. Ferner die Copie der neuesten Ordre, welche das frühere Verbot aufrechterhält aber ein beschleunigtes Verfahren fordert. Endlich die Copie der Ordre über die Aufhebung des roten Zettels. Ich möchte bemerken, dass es sich natürlich nicht um einen offiziellen Schritt unserer Organisation handelt. Vielmehr hat Herr Neufach die Sachen persönlich u. privatim Herrn G. übergeben. Markus Cahan hat sich auch bei Herrn G. über den russischen Vize-Konsul in Jaffa beschwert, der die BeilisDemonstration verboten hatte.30 Angeblich soll auch in dieser Frage Herr G. seine Intervention zugesagt haben. In jedem Falle haben wir zur Zeit die besten Chancen, bei unseren Forderungen von der russischen Botschaft unterstützt zu werden |7| und wir müssen diese Chancen energisch ausnutzen. 28 Markus Kahan (auch Kagan bzw. Mordechai Ben Hillel HaCohen, 1856–1936) war ein hebräischer Schriftsteller und zionistischer Aktivist. Er war Mitglied von Ḥ oveve Ẓiyon (Zionsfreunde) und an der Gründung Tel Avivs sowie des hebräischen Schriftstellerverbands beteiligt. 29 Gulkewitsch. 30 Menachem Mendel Beilis (1874–1934) wurde 1911 in Kiew des Ritualmords angeklagt. Der Prozess gegen ihn fand im Herbst 1913 statt und erregte aufgrund seiner klaren antisemitischen Stoßrichtung und politischen Instrumentalisierung weltweit Empörung und Protest. Auch in Palästina kam es zu Solidaritätsbekundungen vor allem russischer Juden mit Beilis. Erfolglos versuchte das russische Konsulat in Jaffa mithilfe der osmanischen Lokalbehörden die Demontrationen zu unterbinden. Beilis wurde letztlich freigesprochen. Rebekah Marks Costin, Mendel Beilis and the Blood Libel, in: Robert A. Garber (Hg.), Jews on Trial, Jersey City, N. J., 2004, 69–93; Evelin Dierauff, Translating Late Ottoman Modernity in Palestine: Debates on Ethnọ Confessional Relations and Identity in the Arab Palestinian Newspaper Filastīn (1911–1914), Göttingen 2020, 366 f.

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Bei dieser Gelegenheit möchte ich mir einige allgemeine Bemerkungen gestatten. Ich habe in den 2  Monaten, seit ich hier bin, die entschiedenste Befestigung meiner seit 3 Jahren festgehaltenen Anschauung erfahren, dass wir eine Anlehnung an die Mächte, vor allem an England, erstreben müssen. Wir sind ja schon seit einiger Zeit in dieser Richtung bemüht, aber wir müssen jetzt ein konkretes Programm aufstellen. Unsere fünfjährige Arbeit hier war nicht vergeblich. Die Stimmung in den türkischen Regierungskreisen ist ganz günstig. Aber ich glaube nicht, dass wir mit den Türken viel mehr erre erreichen werden, als wir schon erreicht haben. Die Türken betrachten uns als ziemlich unwichtigen Faktor. Sie sind nicht imstande, viel dringendere Probleme ihrer Volkswirtschaft zu lösen, sond und ver-|8|kaufen sich daher jetzt an die Mächte, welche ihnen das nötige Geld, die Eisenbahnen und die Oberbeamten liefern sollen. Die Türkei kann nicht anders handeln, aber es ist klar, dass diese Phase keinen neuen Aufstieg, sondern die allmähliche Liquidation des Reiches bedeutet. Die Türken haben also ganz andere Sorgen, als die Frage, ob jährlich in Palästina ein paar tausend Juden einwandern sollen oder nicht. Aber wenn sie sich auch mit uns ernster beschäftigen würden, so sind sie doch gar nicht im Stande uns zu helfen. Einerseits sind sie immer in Geldnot, leben von der Hand in den Mund, schleppen den alten Beamtenschlendrian immer weiter – andererseits haben sie Angst vor inneren Krisen und besonders vor den Arabern. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir ja auch neuerdings angefangen, mit den Arabern |9| zu arbeiten.31 Ich halte das für sehr notwendig, verspreche mir aber nicht zuviel davon. Die Araber sind unsere natürlichen Gegner und werden es bleiben. Sie pfeifen auf den „gemeinsamen semitischen Geist”, genau so, wie sie auf die mohammedanische Solidarität pfeifen. Ich kann vor einer Geschichts- und Kulturträumerei, die uns schweren Schaden bringen kann, nur dringend warnen. Die Araber verlangen keine Erneuerung des Semitismus, sondern eine geordnete Verwaltung, gerechte Steuern, politische Selbstständigkeit. Der Orient erstrebt heute keine Wunder, sondern amerikanische Maschinen und Pariser Toiletten. Natürlich wollen die Araber ihre Nation erhalten und ihre Kultur pfle-

31 Seit dem Frühjahr 1913 versuchten die Zionisten Hochberg und Jacobson – paral­ lel zu Bemühungen von Jacob Thon (später Tahon, 1880–1950), Arthur Ruppin ­(1876–1943) und Nissim Malul (1892–1959) in Jaffa und später auch Nahum Sokolow in Beirut und Kairo –, mit Vertretern arabischer Parteien ins Gespräch zu kommen, um die Möglichkeiten einer arabisch-zionistischen Entente auszuloten. Nach dem Antritt seines Postens in Konstantinopel war auch Lichtheim in diese Gespräche involviert, die schließlich im Sommer 1914 abbrachen. Ausführlich zu diesen Gesprächen Mandel, The Arabs and Zionism before World War I.

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gen. Was sie dazu nötig haben, sind aber spezifisch europäische Dinge: Geld, Organisation, Maschinen. |10|  Der Jude ist für sie ein Konkurrent, der ihre Vorherrschaft im Lande bedroht. Gegen ein europäisches Protektorat würden die meisten Araber viel weniger einzuwenden haben als gegen eine starke jüdische Einwanderung. Bei dieser Sachlage müssen wir natürlich alles aufbieten, um die Feindschaft der Araber zurückzudämmen. Wir müssen die Zeitungen bestechen (das ist bei dem Mangel an {Bildung und}32 Urteil in den arabischen Kreisen die Hauptsache!), müssen durch unsere jungen Leute hier, in Beyrouth u. Kairo in die Clubs33 eindringen u. so eine möglichst gute Stimmung hervorrufen. Ich glaube aber nicht, dass Mit den Türken müssen wir genau so weiterarbeiten wie in den letzten Jahren. Wir müssen ihnen durch die Presse unsere Sympathie bekunden und von Fall zu Fall zu erreichen suchen, was |11| sich erreichen lässt. Wir werden daher gewiss oft Enttäuschungen wie beim roten Zettel erleben, denn die Regierung ist schwach und unfähig. Aber das schadet nichts – sofern wir den dritten Faktor unserer Politik nicht vergessen: nämlich die Mächte. Ich habe den deutlichen Eindruck, dass es nicht keineswegs schwerer ist, bei den Mächten etwas zu erreichen, als bei den Türken oder Arabern. Ich glaube, dass es für England mindestens so wichtig ist, wenn wir in Palästina sind, wie für die Türkei, und ich glaube, dass wir in England auf Grund einer Argumentation, die ich hier nicht zu wieder wiederholen brauche, mindestens so viel Wohlwollen fi finden werden wie bei den Türken oder Arabern. Ich glaube, dass wir mit England, Russland, Amerika, vielleicht auch mit Deutschland und |12| Österreich dahin gelangen können, dass uns die Vertreter dieser Staaten im Orient wohlwollend fördern. Mit Russland ge# ist es wohl am besten, nur durch die hiesige Botschaft zu arbeiten, bei welcher die Protektion der Juden in Palästina bereits eine Tradition ist. M Mit Amerika können wir vielleicht auch in einzelnen Fragen, wie beim R. Z. oder Landkauf, dahin gelangen, dass die Botschaft uns unterstützt. Mit England aber müssen wir in einem umfassenderen Sinn Sinne verhandeln. Die Arbeit muss in London gemacht werden und erst, wenn die Centrale günstig gestimmt ist, können wir von der hiesigen Botschaft etwas erwarten. Diese Politik mit den Großmächten ist gewiss nicht geeignet, uns einen Charter34 für Palästina zu bringen. Den werden wir auf keine Weise erhalten. 32 Einfügung mit anderem Stift. 33 In Beirut und Kairo befanden sich die Zentren der arabischen Nationalbewegung. 34 Der Begriff Charter bezeichnet hier eine international anerkannte Garantie für die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina, die die zionistische Bewegung von der osmanischen oder einer der europäischen Regierungen zu erhalten hoffte. Die

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Aber eine kunf positive |13| Unterstützung unserer Forderungen bei der türkischen Regierung und – was noch wichtiger ist – eine Rückendeckung für künftige politische Ereignisse können sich sehr wohl aus solchen Bemühungen ergeben. Ich weiss natürlich, dass manches in dieser Richtung schon geschehen ist, aber da ich genötigt worden bin, hier bereits in manchen Einzelheiten (wie z. B. mit der russischen Botschaft) selbständige Entscheidungen zu treffen, so habe ich mir erlaubt, andeutungsweise darzulegen, wie ich mir unsere politische Arbeit vorstelle. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 3 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 30. Dezember 1913 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; Papier von Seite 1 an den Rändern eingerissen; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00004« bis »00007«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/47 Constantinopel, 30.XII.[19]13 An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Sehr geehrte Herren! Gestern Nachmittag war Herr Dr. Jacobson bei dem ersten Botschaftsrat der Deutschen Botschaft von Mutius,35 der den Botschafter36 während seiner austark von Theodor Herzl geprägte politische Strömung im Zionismus bemühte sich Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts um eine solche Siedlungsberechtigung für Juden in Palästina. Meybohm, David Wolffsohn, 269–274. 35 Gerhard von Mutius (1872–1934) war ein deutscher Diplomat. Er war von 1911 bis 1914 Erster Botschaftsrat in Konstantinopel. 36 Hans Freiherr von Wangenheim (1859–1915) war von 1912 bis 1915 deutscher Botschafter in Konstantinopel.

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genblicklichen Abwesenheit vertritt. M.37 empfing Dr. J.38 persönlich liebenswürdig, wurde aber ziemlich schroff, als Dr. J. über die hebräische Sprachfrage39 zu reden begann. Er erklärte, er sei bereits informiert, unsere Leute in Palästina seien rabiat, wir müssten uns mit dem Hilfsverein40 verständigen, sonst schnitten wir uns in unser eigenes Fleisch. Dr. J. setzte ihm auseinander, dass er sich nicht um einen Kampf gegen das Deutsche handle, dass die Bewegung nicht – wie v. M. sagte – von der untersten Masse, dem Pöbel, ausginge etc. Aber naturgemäss blieben diese Argumente ziemlich eindruckslos. Dr. J. bot M. an, durch Dr. Ruppin,41 der Deutscher und preussischer Jurist sei, eine Darstellung überreichen zu lassen, die von deutschen Juden Palästinas unter-|2|zeichnet werden solle. Wir schreiben gleichzeitig an Dr. Ruppin in diesem Sinne. Bisher haben wir noch keine Mitteilung, was aus der Unterredung Prof. Warburgs42 im Auswärtigen Amt geworden ist. Es ist sicherlich die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, in Berlin mit möglichster Entschiedenheit unseren Standpunkt zu vertreten, denn von der hiesigen Botschaft, die sich auf die Berichte der Konsuln in Palästina stützt, ist nichts zu erwarten.43 37 Von Mutius. 38 Jacobson. 39 Der Sprachenstreit war ein 1913/1914 in Palästina ausgetragener Konflikt, der sich an der Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache für naturwissenschaftliche und technische Fächer an der vom Hilfsverein der deutschen Juden 1912 gegründeten technischen Hochschule in Haifa, dem Technion (zunächst Technikum), entzündete. Während die Vertreter des aus der Diaspora agierenden Hilfsvereins die deutsche Unterrichtssprache bevorzugten, drängten Zionisten und Vertreter des Jischuw auf das Hebräische als Unterrichtssprache. Der Streit endete 1914 mit der Durchsetzung des Hebräischen als zentraler Bildungssprache in Palästina. Marcel Müller / Friedrich Quaasdorf, Art. Sprachenstreit, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 5, 555–557. 40 Der 1901 gegründete Hilfsverein der deutschen Juden war eine bis 1939 bestehende Hilfsorganisation, die sich für die Verbesserung der wirtschaftlichen und kulturellen Lage von Juden in Vorderasien und im östlichen Europa einsetzte. Im Zuge dessen baute der Verein mit diplomatischer Unterstützung der deutschen Regierung und der Botschaft in Konstantinopel ein Netz von Bildungseinrichtungen in Palästina auf. 41 Arthur Ruppin (1876–1943) war ein Soziologe und Leiter des 1908 von der Zionistischen Organisation eingerichteten Palästina-Amts in Jaffa, das den Landkauf sowie die Gründung von Siedlungen organisierte und finanzierte. Ruppin gehörte 1925 zu den Mitbegründern von Brit Shalom, einer Gruppe Intellektueller, die sich für eine jüdisch-­ arabische Verständigung und ein binationales Gemeinwesen in Palästina einsetzten. Amos Morris-Reich, Art. Palästina-Amt, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 4, 478–482. 42 Otto Warburg (1859–1938) war Botaniker und zionistischer Politiker. Seit 1905 war er Mitglied des EAC und zwischen 1911 bis 1920 dessen Vorsitzender. 43 Parallel zu den Bemühungen Lichtheims und Jacobsons, die Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Konstantinopel zu beeinflussen, suchten Warburg und Max

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Ihr Telegramm wegen der Meldung des Osmanischen Lloyd44 haben wir erhalten u. werden versuchen, im Unterrichtsministerium genaueres zu erfahren. Die Meldung ist zwar unangenehm, aber wenig bedeutend, denn eine ernsthafte Stellungnahme ernster arabischer Kreise ist doch nicht zu erwarten.45 Die türkische Regierung werden wir nach Möglichkeit zu beeinflussen suchen. Dr. Jacobson besucht in diesen Tagen Essad |3| Pascha46 und Dr. Nasim,47 der bei den Türken die Autorität in Unterrichtsfragen ist. Leider ist der Moment politisch sehr ungünstig. Die Türkei stützt sich jetzt ganz auf Deutschland und kann im besten Falle Neutralität bewahren. Man müsste nunmehr wohl den öffentlichen Kampf nach Möglichkeit einzuschränken suchen, um ernstere politische Schwierigkeiten zu vermeiden. Der Kampf in Palästina selbst ist ja schon ausgefochten, da Dr. Nathan48 keinen Erfolg gehabt hat. Wir haben hier eine Sammlung eingeleitet, 1000 Frcs. sind schon gezeichnet, wir hoffen, mindestens 3000 aufzubringen. ­ odenheimer (1865–1940) die Mitarbeiter des Auswärtigen Amts in Berlin für die B Sache des Zionismus zu gewinnen. 44 Osmanischer Lloyd war eine deutschsprachige Tageszeitung, die von 1908 bis 1918 in Konstantinopel erschien. Sie wurde auf Initiative des Auswärtigen Amts und der Deutschen Botschaft in Konstantinopel nach der jungtürkischen Revolution als Teil der deutschen Nahostpolitik gegründet. 45 Es ist nicht eindeutig zu klären, auf welche Meldung Lichtheim hier anspielt. Im Dezember 1913 hatte jedoch der deutsche Vizekonsul in Haifa, Julius Löytved-Hardegg (1874–1917) arabische Notabeln in Haifa davor gewarnt, dass die geplante Einführung des Hebräischen am Technion die Aufnahme nichtjüdischer Studenten behindern würde. Auf seine Anregung hin wandten sich verschiedene arabische Notabeln an das Bildungsministerium und die Presse, um diesen Schritt zu verhindern. Die Proteste des deutschen Konsuls sowie der arabischen Notabeln verliefen allerdings im Sande. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 179. 46 Esed Paşa war Mitglied des Zentralkomitees der jungtürkischen Partei Komitee für Einheit und Fortschritt. 47 Meḥmed Nāẓım Bey (1870–1926) war ein osmanischer Arzt und Politiker. Er gehörte ab 1908 zu den führenden Mitgliedern des Komitees für Einheit und Fortschritt und fungierte nach der jungtürkischen Revolution zeitweise als Bildungsminister. Er war maßgeblich am Genozid an den Armeniern und der Verfolgung der griechischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs beteiligt. 1926 wurde ihm vorgeworfen, an dem Attentat auf Mustafa Kemal Atatürk beteiligt gewesen zu sein, woraufhin er zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Während seiner Zeit in Konstantinopel stand Jacobson in gutem Kontakt mit Bey. Laut Lichtheim war er der »einflussreichste Bekannte« Jacobsons. Lichtheim, Rückkehr, 189. 48 Paul Nathan (1857–1927) war Sozialpolitiker und Vorsitzender des Hilfsvereins der deutschen Juden.

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Gestern Nachmittag war Dr. J. beim amerikanischen Botschafter,49 der ihn zum Tee eingeladen hatte. Morgenthau ist offenbar kein überragender Geist, sondern mehr der Typus des einfachen, wenig komplizierten amerikanischen Juden. Er ist persönlich sehr liebenswürdig, sucht sich |4| überall über jüdische Fragen zu informieren u. spricht ganz zwanglos über alles. Dr. J. hat ihm in grossen Zügen erklärt, was Zionismus ist und hat auch die Sprachenfrage berührt. In dieser Angelegenheit wäre es sehr wertvoll, wenn Morgenthau von Amerika aus beeinflusst würde. Wir bitten Sie, hierüber sogleich nach Amerika zu schreiben {oder besser zu telegraphieren}.50 Wenn Magnes,51 Schechter,52 Nathan Straus53 oder andere geeignete Personen ihn von der Richtigkeit unseres Standpunktes zu überzeugen suchen, so wäre dies von grossem Nutzen. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim {Im März fährt Morgenthau nach Palästina}54 49 Henry Morgenthau senior (1856–1946) war ein US-amerikanischer Diplomat deutsch-jüdischer Herkunft, der zwischen 1913 und 1916 als amerikanischer Botschafter in Konstantinopel tätig war. In dieser Funktion bemühte er sich während des Ersten Weltkriegs um den Schutz sowohl der jüdischen als auch der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich. Nach dem Krieg war er Teil einer von Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) nach Polen entsandten Kommission, die nach einer Reihe antisemitischer Ausschreitungen die Situation der polnischen Juden untersuchen sollte. Zu Morgenthaus Zeit in Konstantinopel siehe Henry Morgenthau, Secrets of the Bosphorus. Constantinople, 1913–1916, London 1918; Morgenthau, United States Diplomacy. 50 Einfügung mit anderem Stift. 51 Judah Leon Magnes (1877–1948) war ein einflussreicher amerikanischer Reformrabbiner und Politiker. 1906 war er einer der Gründer des American Jewish Committee, einer der ältesten jüdischen Interessenvertretungen. Zwischen 1908 und 1922 hatte er das Amt des Präsidenten der jüdischen Gemeinde New Yorks inne. Von 1935 bis 1948 war er Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er trat für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung in Palästina ein und stand politisch Brit Shalom nahe. 52 Solomon Schechter (1847–1915) war Präsident des Jewish Theological Seminary in New York. 53 Nathan Straus (1848–1931) war ein amerikanischer Geschäftsmann und Philanthrop deutsch-jüdischer Herkunft. 54 Mit anderem Stift hinzugefügt. Lichtheim arrangierte, dass Ruppin Morgenthau im Zuge dieser mehrwöchigen Reise durch die jüdischen Kolonien Tel Aviv und Petah

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Dokument 4 Richard Lichtheim an Gerhard von Mutius Konstantinopel, 16. April 1914 Maschinenschriftliches Memorandum, 7 Seiten; handschriftliche Unterstreichungen und maschinenschriftliche Korrekturen; handschriftliche Archivsignatur in der unteren linken Ecke von Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00044« bis »00050«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/48 [Lichtheim legt Gemeinsamkeiten zwischen deutschen, zionistischen und osmanischen Interessen dar. Er verweist auf Verbindungen der europäischen und amerikanischen Juden zu Deutschland sowie auf wirtschaftliche und kulturelle Vorteile, die sich aus einer deutschen Unterstützung des Zionismus ergeben würden. Zudem betont er die integrative Wirkung des Jischuw für den Erhalt Palästinas als Provinz des Osmanischen Reichs.] Dem deutschen Geschäftsträger in Konstantinopel, Herrn v.  Mutius, auf Grund einer Unterredung in der deutschen Botschaft am 16.IV.1914 auf seinen Wunsch übergeben. (Lichtheim). Seit dem Beginn der zionistischen Bewegung ergeben sich zwischen der praktischen Tätigkeit des Zionismus in Palästina und der deutschen Orientpolitik gewisse Beziehungen, die zur freundlichen Würdigung des Zionismus von deutscher Seite führten, ohne dass jedoch hieraus ein näher bestimmtes Programm für das Verhalten Deutschlands zum Zionismus abgeleitet worden wäre. Im Jahre 1898 wurde Dr. Herzl,55 der Begründer der Zionistischen Organisation, vom deutschen Kaiser56 in Konstantinopel und in Palästina empfanTikwa führte und ihn mit den Ideen und praktischen Ergebnissen der zionistischen Bewegung vertraut machte. Anonymus, Palästinareise des amerikanischen Botschafters in Konstantinopel, in: Jüdische Rundschau, 10. April 1914, 159; Anonymus, Botschafter Morgenthau über Palästina, in: ebd., 21. Mai 1914, 223; Henry Morgenthau III., Mostly Morgenthaus. A Family History, New York 1991, 135–151. 55 Theodor Herzl (1860–1904) war der Hauptbegründer des politischen Zionismus, der auf eine diplomatische Absicherung des jüdischen Siedlungsprojekts in Palästina zielte. Herzl reiste mehrfach nach Konstantinopel, um mit den osmanischen Machthabern in Kontakt zu kommen. Yoram Mayorek, Herzl and the Ottoman Empire, in: Cahiers d’Études sur la Méditerranée Orientale et le Monde Turco-Iranien 28 (1999), 13–18. 56 Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen, 1859–1941) war von 1888 bis 1918 letzter deutscher Kaiser und König von Preußen.

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gen; es bestand damals der Plan, unter dem Protektorat Deutschlands und der Türkei eine grosse jüdische Siedlung in Palästina zu schaffen und der Kaiser stand diesem Projekt wohlwollend gegenüber.57 Etwa zur gleichen Zeit wurde dem Auswärtigen Amt in Berlin ein Memorandum über den Zionismus und seine Bedeutung für die äussere und innere Politik Deutschlands überreicht.58 Diese Versuche führten zu keinem konkreten Ergebnis, doch herrschte seitdem in manchen deutschen Regierungskreisen eine freundliche Stimmung gegenüber der zionistischen Bewegung. In den leitenden zionistischen Kreisen besteht heute wie damals der Wunsch, die Sympathie und, soweit möglich, die Unterstützung der deutschen Regierung zu gewinnen. Die wichtigsten Gesichtspunkte, aus denen eine Förderung des Zionismus vom deutschen Standpunkt im Allgemeinen und speziell mit Rücksicht auf die gegenwärtige Lage wünschenswert erscheint, sind die folgenden: |2|  I. Die überwiegende Mehrheit der Juden in allen Ländern spricht oder versteht wenigstens Deutsch. Die Juden haben bei ihrer Durchwanderung durch Deutschland die deutsche Sprache angenommen, und so ist das heutige „Jüdisch-Deutsch“, der „Jargon“ der osteuropäischen Juden, ein mit hebräischen und slavischen [sic] Worten vermischtes Mittelhochdeutsch.59 Die etwa 9 Millionen Köpfe zählenden Juden Europas und die 2 Millionen Juden 57 Der Satz wurde auf der linken Marginalie handschriftlich angestrichen und mit einem Fragezeichen versehen; vermutlich da Lichtheim das Wohlwollen des Kaisers an dieser Stelle überbetonte. Zwar traf Herzl, der sich um die Jahrhundertwende darum bemühte, den osmanischen Sultan Abdülhamid II. und weitere europäische Staatsführer für die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu gewinnen, 1898 in Konstantinopel und Jerusalem mit Wilhelm II. zusammen. Doch während der deutsche Kaiser zunächst wohlwollendes Interesse an den landwirtschaftlichen Unternehmungen der jüdischen Einwanderer signalisierte, so betonte er jedoch zugleich die Souveränität des Sultans über Palästina und erteilte einer offenen Unterstützung des Zionismus eine Absage. 58 1898 übergab Max Bodenheimer, damaliger Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, eine Denkschrift an das Auswärtige Amt, in der er auf die Bedeutung des Jiddischen der osteuropäischen Juden für das Deutsche Reich aufmerksam machte. Max Bodenheimer, So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Erinnerungen von Dr. M. I. Bodenheimer, hg. v. Henriette Hannah Bodenheimer, Frankfurt a. M. 1958, 183 f. 59 Lichtheim bezieht sich hier auf das Jiddische, das zwar aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangen ist, aber eine eigene Sprache darstellt. Die Bezeichnungen »Jüdisch-Deutsch« und »Jargon« durch Lichtheim verweisen auf dessen Perspektive als deutscher Jude auf die Judenheiten des östlichen Europas, die oft von Unkenntnis geprägt war und zwischen Abwertung und Idealisierung changierte. Die Strategie, gegenüber der deutschen Politik die Juden des östlichen Europas als »deutschspra-

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Amerikas sind daher heute noch im Wesentlichen als deutschsprachiges Element zu betrachten. In Westeuropa und in Amerika verschwindet zwar das Jüdisch-Deutsch allmählich zugunsten der Landessprache, aber auch in diesen Ländern wirken die traditionellen Beziehungen der Juden zu Deutschland nach. Die Masse der osteuropäischen Juden tendiert bei ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg vollständig nach Deutschland, und von dem gesamten Judentum kann man sagen, dass es sich vorwiegend an deutscher Kultur und Wissenschaft bildet. Aus dieser Sachlage hat [sic] der deutsche Handel und die deutsche Industrie stets Nutzen gezogen, da die Juden auch wirtschaftlich vielfach mit Deutschland verbunden sind und da der deutsche Handlungsreisende sich in allen von Juden bewohnten Gegenden leicht verständlich machen kann. II. Die historisch gegebenen Beziehungen zwischen Deutschtum und Judentum haben auch für den Charakter der in der Entstehung begriffenen jüdischen Siedlung in Palästina Bedeutung. Die in Palästina einwandernden Juden sprechen fast durchweg Jüdisch-Deutsch, sie bringen ihre traditionelle Vorliebe für deutsche Kultur mit und eröffnen durch ihre kolonisatorische Tätigkeit dem deutschen Handel ein Absatzgebiet, auf dem der deutsche Exporteur sich aus den erwähnten Gründen in besserer Lage befindet als die ausländische |3| Konkurrenz. So sind z. B. die in den jüdischen Kolonien verwendeten Maschinen fast sämtlich deutschen Ursprungs. Dazu kommt, dass das Zentrum und die intellektuell entwickelte Anhängerschaft der zionistischen Bewegung sich in Deutschland befindet, dass an der Spitze der zionistischen Kolonisationsarbeit in Jaffa ein Deutscher steht (Dr. Ruppin), und dass in den letzten Jahren auch eine ganze Anzahl deutscher Zionisten als Landwirte, Lehrer, Aerzte, Techniker und Beamte der zionistischen Gesellschaften nach Palästina ausgewandert sind. Dies alles schafft dem deutschen Einfluss innerhalb der jüdischen Siedlung eine bevorzugte Stellung. Was speziell die Ausbreitung der deutschen Sprache unter den Juden Palästinas betrifft, so ist folgendes zu bemerken: Wie in allen anderen Ländern, nach welchen die osteuropäischen Juden auswandern, so weicht auch in Palästina das Jüdisch-Deutsch allmählich zurück. In Europa und Amerika treten die europäischen Kultursprachen an seine Stelle, in Palästina das Hebräische. Angesichts der Vielsprachigkeit der in Palästina zusammenströmenden Juden

chiges Element« darzustellen, erreichte ihren Höhepunkt mit den Versuchen der Ein­ flussnahme deutsch-jüdischer Organisationen auf die deutsche Besatzungspolitik in Polen während des Ersten Weltkriegs. Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison, Wisc., 1982; Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden.

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ist die Einführung einer gemeinsamen Umgangssprache schon aus pädagogischen Gründen unumgänglich, und hierfür kommt nur das Hebräische in Frage, welches allen Juden noch mehr oder weniger vertraut ist. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die jüdische Kolonisation in Palästina von Anfang an einen ausgesprochen nationalen Charakter hatte. Die Juden gehen nicht nur zur Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, sondern auch aus nationalreligiösen Gründen nach Palästina. Es besteht demnach bei ihnen das Bestreben, zur Entwicklung einer jüdischen Kultur, welche einerseits das Judentum Osteuropas aus der mittelalterlichen Erstarrung erlösen und seinen Anschluss an die europäische Civilisation bewirken, andererseits aber zugleich ein |4| seine Eigenart bewahrendes und in jeder Hinsicht selbstbewusstes Judentum erzeugen soll. Bei diesem Charakter der jüdischen Bestrebungen in Palästina musste der hebräischen Sprache der erste Platz im Erziehungswesen eingeräumt werden und tatsächlich hat sich das Hebräische mit so grosser Schnelligkeit durchgesetzt, dass es heute bereits zur Schul- und Umgangssprache des palästinensischen Judentums geworden ist. Es fragt sich nun, ob und inwieweit bei dieser Sachlage der deutsche Spracheinfluss mit dem Anwachsen der jüdischen Siedlung in Palästina ausgedehnt werden kann. Für die gebildeteren und wirtschaftlich führenden jüdischen Elemente Palästinas ist zweifellos die Kenntnis wenigstens einer europäischen Kultursprache unerlässlich. Andernfalls würde das palästinensische Judentum den Zusammenhang mit der europäischen Welt verlieren. Hier bietet sich nun die deutsche Sprache aus den bereits entwickelten Gründen als die in erster Reihe in Frage kommende Weltsprache dar. Das jüdisch-deutsche Idiom der älteren Generation, welches zugunsten des Hebräischen zurücktritt, aber infolge des ständigen Nachschubes neuer Einwanderer sich noch lange Zeit erhalten muss, bildet eine natürliche Ueberleitung zur Erlernung des Hochdeutschen. Es kann nach alledem nicht schwer sein, dahin zu wirken, dass das deutsche – auch bei Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und bei angemessener Wahrung des national-hebräischen Charakters der jüdischen Siedlung – in ausgedehntem Masse seitens des palästinensischen Judentums gepflegt wird. So vertrat ja auch in der Angelegenheit des jüdischen Technikums60 in Haifa die Zionistische Organisation den Standpunkt, dass trotz der all­ mählichen Einführung der hebräischen Unterrichts-|5|sprache das Technikum als deutsches Institut gegründet werden, die deutsche Sprache als

60 Der Hilfsverein verband mit der Gründung des Technikums (später Technion) 1912 auch das Anliegen, deutsche Sprache, Kultur und Bildungsstandards in der Region zu verbreiten. Yossi Ben-Artzi, Art. Technion, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 6, 48–51.

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Unterrichtssprache verwandt und als Hauptfremdsprache sorgfältig gelehrt werden solle.61 III. Aus der allgemeinen politischen Lage ergibt sich, dass die jüdischen Interessen in Palästina mit den Interessen der Türkei übereinstimmen. Durch die jüdische Kolonisation gewinnt die Türkei eine wirtschaftliche Berei­cherung, eine Besserung der hygienischen und Sicherheitsverhältnisse Palästinas, zugleich aber auch eine Festigung ihres gegenwärtigen Besitzstandes. Ob England oder Frankreich in stärkerem Masse an der politischen Herrschaft über Palästina interessiert ist, ob einer dieser beiden Mächte und welcher von ihnen in einer näheren Zukunft die Herrschaft über Palästina zufallen wird, mag dahingestellt bleiben. In jedem Falle würde die arabische Bevölkerung eine Lostrennung Palästinas von der Türkei und die Errichtung eines fremden Protektorats begrüssen. Daher stützen sich die Franzosen bei ihren zur Zeit sehr lebhaften Bemühungen in Syr##¦ie¦n auf das christlicharabische Element und steigern damit wiederum die Abfallsgelüste der Araber.62 Eine Politik, welche darauf gerichtet ist, das türkische Reich zu erhalten und das Vordringen fremder Mächte zu hemmen,63 müsste demnach darauf bedacht sein, das jüdische Element in Palästina zu stärken, weil dieses 61 Auf Vorschlag der zionistischen Vertreter im Kuratorium des Technion wurde im Februar 1914 beschlossen, die naturwissenschaftlichen Fächer (mit Ausnahme von Mathematik und Physik) vorerst auf Deutsch zu unterrichten und im Laufe von vier Jahren Hebräisch als ausschließliche Unterrichtssprache am Technion einzuführen. Weiterhin sollte Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden. Infolge des Beginns des Ersten Weltkriegs kam es nicht mehr zur Umsetzung dieses Kompromissbeschlusses. Das Technion nahm erst 1924 seinen Betrieb auf. 62 In dem durch innere Krisen und Gebietsverluste stark geschwächten Osmanischen Reich rangen im Laufe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die europäischen Großmächte England, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn um Einflusssphären zur Durchsetzung ihre jeweiligen wirtschaftlichen, religiösen, territorialen und machtpolitischen Interessen. Frankreichs Anspruch auf Syrien speiste sich vor allem aus dem Bestreben, die britische Dominanz im Osmanischen Reich einzudämmen und die französische Stellung im Mittelmeerraum auszubauen sowie aus umfassenden wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region und dem Selbstverständnis als Schutzmacht christlicher Minderheiten. Für Großbritannien war vor allem die Sicherung des Land- und Seewegs nach Indien und anderen Überseegebieten in Asien wesentlich. Marian Kent (Hg.), The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984; Leonard Stein, The Balfour Declaration, London 1961, 44–58. 63 Im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien und Russland hegte das Deutsche Reich keine territorial-kolonialen Interessen im Osmanischen Reich und war – um den Ausbau der Machtpositionen der anderen Großmächte in der Region einzudämmen – an der Erhaltung eines schwachen Osmanischen Reichs interessiert. Sul-

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

1) ein Gegengewicht gegen die Araber bildet und weil es 2) an der Verwirklichung eines europäischen Protektorats kein Interesse haben kann. Für die Entwicklung der jüdischen Siedlung in Palästina ist es am vorteilhaftesten, wenn Palästina solange wie möglich türkisch bleibt. Eine europäische Oberherrschaft, insbesondere die französische, würde heute, angesichts der |6| relativen Schwäche des jüdischen Elements, die Bevorzugung der Araber mit sich bringen und die kulturelle Autonomie der Juden gefährden. Die Zionistische Organisation betrachtet es als ein Gebot der Loyalität und zugleich als Gebot der Klugheit, soweit dies in ihren Kräften steht, zur Erhaltung der türkischen Herrschaft beizutragen. Neuerdings scheint die türkische Regierung den ökonomischen und politischen Wert der jüdischen Kolonisation zu erkennen, denn sie hat gewisse Beschränkungen und Ausnahmebestimmungen, welche die jüdische Einwanderung bisher hemmten, im Laufe der letzten Monate beseitigt und sie sucht auch die Naturalisation der palästinensischen Juden zu erleichtern.64 Andererseits kann sie sich, hauptsächlich aus Scheu vor den Arabern, noch nicht zur völligen und offenen Anerkennung des Zionismus entschliessen, wie manche noch bestehenden Schwierigkeiten beweisen.65 Immerhin ist zur Zeit eine wesentlich günstigere Stimmung zu verzeichnen, zu der auch die Berichte der lokalen Behörden in Palästina über den wirtschaftlichen Nutzen der jüdischen Tätigkeit beitragen mögen. tan Abdülhamid II. bemühte sich nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Russisch-Türkischen Krieg 1877/1878 daher um eine enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich auf militärischem Gebiet, die ab 1882 unter Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) auch von deutscher Seite vorangetrieben wurde. Diese Zusammenarbeit fand ihren Höhepunkt in der Reorganisierung der osmanischen Armee unter den preußischen Generälen Colmar von der Goltz (1843–1916) zwischen 1883 und 1895 sowie Otto Liman von Sanders (1855–1929) ab 1913. Die Militärmission zielte ursprünglich auf die Modernisierung der osmanischen Armee, trug letztlich jedoch gemeinsam mit dem Bau der Bagdadbahn maßgeblich zur Intensivierung des deutsch-osmanischen Verhältnisses bei, was im Eintritt des Osmanischen Reichs aufseiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg mündete. 64 Ende Januar 1914 hoben die türkischen Behörden die dreimonatige Beschränkung des Aufenthalts für jüdische Reisende in Palästina auf. In der Folge versuchten die türkischen Behörden die Neuankömmlinge zur Aufgabe ihrer Staatsbürgerschaft zu bewegen, um so die Einflussmöglichkeiten der europäischen Konsuln einzuschränken und den arabischen Widerstand gegen die jüdische Einwanderung abzuschwächen. Im Zuge dessen ordnete der türkische Innenminister Talât Pascha am 2. März 1914 die Erleichterung der Einbürgerungsbestimmungen für Juden an. Mandel, The Arabs and Zionism Before World War I, 171. 65 Das Verbot des Landkaufs durch Juden blieb offiziell bestehen.

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Dokument 4

IV. Die Erwägungen, welche den Zionismus vom türkischen Standpunkt wünschenswert erscheinen lassen, gelten auch für Deutschland, sofern die deutsche Politik darauf gerichtet ist, die Türkei zu erhalten und gegen den auf die Araber sich stützenden Einfluss anderer Mächte in Palästina ein Gegengewicht zu schaffen. Damit ist wohl vereinbar, dass Deutschland gleichzeitig versucht, durch Errichtung von Wohlfahrts- und Bildungsanstalten für sich selbst gewisse Interessen in Palästina zu schaffen und so auch einen Teil der Araber für sich zu gewinnen. Dabei ist freilich zu bemerken, dass die Gewinnung des arabischen Elements für Deutschland |7| nur in recht beschränktem Masse möglich sein dürfte, weil die Araber sich offenbar bereitwillig denjenigen Mächten anschliessen, deren kultureller Einfluss schon seit längerer Zeit in Palästina wirksam ist und von denen sie für die Zukunft die Errichtung des Protektorats über Palästina erwarten. Dagegen entspricht die Haltung des jüdischen Elements viel eher den deutschen Wünschen hinsichtlich der Zukunft Palästinas. Bei einer gewissen Unterstützung des Zionismus durch Deutschland (deren Einzelheiten sich leicht formuleieren liessen), könnten die bereits erörterten natürlichen Beziehungen der jüdischen Bevölkerung dur zu Deutschland durch systematische Pflege noch enger gestaltet werden. Vor allem aber würde durch die Kräftigung des jüdischen Elements das Vordringen anderer Mächte, wenn nicht für die Dauer verhindert, so doch jedenfalls für die nächste Zukunft erschwert und verlangsamt. Durch umfangreiche Landkäufe, wie sie von jüdischer Seite geplant werden und durch Steigerung der jüdischen Einwanderung, kann das palästinensische Judentum im Laufe der nächsten Jahre so weit gestärkt werden, dass es bei seiner höheren Intelligenz und Leistungsfähigkeit den arabischen Einfluss ganz oder grossenteils aufwiegt. Damit wäre die Möglichkeit eines fremden Protektorats in dem Masse vermindert, in dem die wirtschaftlich und kulturell führenden Elemente des Landes dabei mitzureden haben. Je länger Palästina türkisch bleibt, ### ¦umso¦ deutlicher wird dies mit dem Anwachsen der jüdischen Siedlung in Erscheinung treten. Die jüdische Kolonisation bewirkt also eine gewisse politische Neutralisierung Palästinas und zugleich die Erschliessung eines Gebiets, in dem Deutschland mit einer deutschfreundlichen, durch Bande der Sprache, Kultur und Wirtschaft vielfach mit Deutschland verknüpften Bevölkerung zu rechnen hätte.

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Dokument 5 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 19. April 1914 Handschriftlicher Brief, 9 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen CZA, L5/8

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation.

19.IV.[19]14

Sehr geehrte Herren! Herr Dr. Jacobson ist gestern hier eingetroffen und wir haben die zunächst zu erledigenden Arbeiten besprochen. Was aus dem zionistischen Verein werden wird, kann ich Ihnen noch nicht mitteilen, da noch weitere Erkundigungen bei der Regierung nötig sein werden.66 Vor allem werden wir uns bemühen, noch vor der Eröffnung der Kammer67 mit den arabischen Führern in Verbindung zu treten und die arabische Presse, die in letzter Zeit wieder sehr heftige Artikel gegen uns brachte,68 zu be-

66 In den ersten Monaten nach seiner Ankunft in Konstantinopel versuchte Lichtheim vergeblich, bei den osmanischen Autoritäten die Bewilligung für die Gründung eines zionistischen Vereins durchzusetzen. Die osmanische Regierung erlaubte Angehörigen anderer Nationalitäten allerdings nur den Zusammenschluss für religiöse und wohltätige Zwecke, nicht jedoch für politische. Im Frühjahr 1914 verbot das Innenministerium die Vereinsgründung. 67 Das 1914 neu gewählte Parlament trat zum ersten Mal im Mai 1914 zusammen und verzeichnete im Vergleich zu vorhergehenden Parlamenten einen deutlichen Anstieg an arabischen Abgeordneten. Hasan Kayali, Elections and the Electoral Process in the Ottoman Empire, 1876–1919, in: International Journal of Middle East Studies 27 (1995), H. 3, 265–286. 68 Zur Auseinandersetzung mit dem Zionismus in der arabischen Presse zwischen 1908 und 1914 siehe Rashid Khalidi, Palestinian Identity. The Construction of Modern National Consciousness, New York 1997, 119–144. Khalidi hat 22 arabische Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet, darunter die zehn auflagenstärksten Publikationen, die in den intellektuellen Zentren der arabischen Bewegung – Paläsina, Kairo, Beirut und Damaskus – erschienen sind. Er kommt zu dem Ergebnis, dass mit Ausnahme der in Kairo herausgegebenen Al-Mokattam die arabische Presse einhellig negativ über den Zionismus berichtete. Ebd., 123.

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Dokument 5

einflussen. {Gestern hatten wir bereits eine Unterredung mit dem Dr. Haidar Bey.} Der Grossrabbiner hat einen Beschwerdebrief von Herrn Frank69 wegen der zahlreichen Hetzartikel der Zeitung „Palestine“ in Jaffa er-[|2|]halten. Er hat sich bei der Regierung beschwert u. in der Tat ist die Zeitung „Palestine“ verboten wo und der Redakteur angeklagt worden.70 Nun habe ich Ihnen über eine interessante Unterredung zu berichten, die ich vor einigen Tagen mit dem deutschen Geschäftsträger v. Mutius (der wieder den auf Corfu befindlichen Botschafter v. Wangenheim vertritt) über unsere Sache hatte. Ich bin hauptsächlich deshalb hingegangen, dass weil ich jetzt, nachdem wieder einige Wochen Ruhe im Schulkampf71 geherrscht haben, den schlechten Eindruck verwischen wollte, der bei der deutschen Regierung durch unseren Kampf hervorgerufen worden ist. Es war mir jedoch klar, dass wir auch mit der grössten Beredsamkeit die deutsche Regierung [|3|] in der Sprachenfrage nicht für unseren Standpunkt gewinnen können und dass ganz andere, allgemein-politische Gesichtspunkte herangezogen werden müssen, wenn wir das deutsche Wohlwollen erobern wollen. Diese allgemeinen Gesichtspunkte ergeben sich aus der jetzigen politischen Lage. Frankreich strengt sich zwar in Syrien sehr an, um sich dort festzusetzen, aber ohne einen Weltkrieg dürfte es vorläufig doch nicht in den tatsächlichen Besitz Syriens gelangen. England hält sich vorläufig bezüglich Palästinas im Hintergrunde, und Deutschland hat überhaupt keine direkten Absichten auf Palästina. Es liegt also im deutschen Interesse, dass [|4|] Palästina türkisch bleibt, damit es Frankreich oder England gar nicht, oder doch so spät wie 69 Henri Frank (1878–1937) war Ingenieur, Leiter der Jewish Colonization Association (JCA, auch ICA) und der Vertrauensmann des französischen Philanthropen und Mäzens Edmond Baron de Rothschild (1845–1934) in Palästina, der ein aktiver Unterstützter des Zionismus war. Der JCA unterstanden seit 1900 alle von Rothschild erworbenen Ländereien. 70 Falastin (Palästina; oftmals auch transkribiert als Filastin) war eine in Jaffa ansässige, arabischsprachige Zeitung, die ab 1911 zunächst wöchentlich, ab 1929 täglich erschien. Gegründet wurde sie von den arabischen Christen ʻĪsá Al-ʻĪsá (1878–1950) und Yūsuf Al-ʻĪsá (1870–1948), die ihr einen antizionistischen und antibritischen Charakter verliehen. Mitte April 1914 wurde ihr Erscheinen durch das Innenministerium verboten. Ihr Chefredakteur ʻĪsá Al-ʻĪsá musste sich daraufhin vor Gericht verantworten. Von dem Vorwurf, die antizionistische Berichterstattung der Zeitung sähe Zwietracht unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Reichs, wurde er jedoch unter Berufung auf die Pressefreiheit freigesprochen und das Verbot der Zeitung wurde aufgehoben. Emanuel Beška, From Ambivalence to Hostility. The Arabic Newspaper Filastị̄ n and Zionism, 1911–1914, Bratislava 2016; Dierauff, Translating Late Ottoman Modernity in Palestine. 71 Hier handelt es sich um eine andere Bezeichnung für den Sprachenstreit.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

möglich bekommen. Deutschland will überhaupt die Türkei stärken (Militärmission!) um das für Deutschlands Prestige und Wirtschaft gefährliche Vordringen Russland[s], Englands u. Frankreichs möglichst aufzuhalten. Aus dieser politischen Lage ergeben sich die Argumente zur Unterstützung des Zionismus. Was ich Herrn v. M. gesagt habe, finden Sie in dem beiliegenden Exposé.72 Ich bitte, davon 2 Abschriften eingeschrieben an mich zu senden, im übrigen aber wegen des höchst diskreten Charakters der Sache keine [|5|] Copien zu verschicken! Herrn v. Mutius schienen diese Gesichtspunkte zu interessieren. Er bat mich, ihm (zunächst privatim) eine schriftliche Darstellung zu geben, was ich am folgenden Tage auch in Form des beiliegenden Schriftstücks tat. Er war persönlich von grösster Liebenswürdigkeit und liess am nächsten Tage seine Karte bei mir abgeben.73 Aus der Unterredung hebe ich folgende interessante Details hervor. Als ich von den natürlichen kulturellen Beziehungen der Juden zu Deutschland sprach, meinte er, er habe auch in England und Frankreich bemerkt, dass die grossen Juden, ### welche dort eine Rolle spielen, deutsche Juden seien. Er fügte lächelnd hinzu: Sogar [|6|] in manchen komischen Eigentümlichkeiten zeige es sich, dass es typisch deutsche Juden sind. Als ich darauf bemerkte, auch der amerikanische Botschafter sei ein deutscher Jude, äusserte er wörtlich: „Nun ja, das ist allerdings kein grosser Mann, sondern ein ganz kleiner Mann.“ Morgenthau ist nämlich bei vielen Diplomaten unbeliebt, weil er gleich sehr gross aufgetreten ist und das gesellschaftliche Leben sehr stark bei sich konzentriert hat. Vielleicht wollte Herr v. M. auch nur sagen, Morgenthau gehöre in Amerika nicht zu den „Grossjuden“ (was richtig ist), aber eine gewisse Animosität klang durch. Solche Äusserungen müssen wir natürlich hier sehr sorgfältig für uns behalten [|7|] damit kein Klatsch entsteht. Recht interessant war es, was v. M. bezüglich Englands und Frankreichs Einfluss auf Palästina sagte. Als ich von dem starken französischen Einfluss und der Zurückhaltung Englands sprach, meinte er, er sei von einem wirklichen „desinteressement“ Englands sei nichts bekannt. Die Franzosen hätten zwar wirtschaftliche Konzessionen erlangt, aber bei der geographischen Lage Palästinas sei es doch sehr unwahrscheinlich, dass England darauf ganz verzichte. Das entspricht vollständig dem, was wir uns auch immer gesagt haben. Es bestärkt mich in der Überzeugung, wie dringend [|8|] nötig es ist, dass wir mit den Engländern in Fühlung kommen. (Ich bitte um Z## Zusendung einer Copie des Memorandums, das wir im vorigen Jahre der englischen Botschaft in Berlin überreicht haben). 72 Siehe Dokument 4. 73 Die Visitenkarte, mit dem Datum 18. April 1914 versehen, befindet sich in CZA, A56/7.

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Dokument 6

Wenn Deutschland auf unsere Ausführungen eingeht, so kommen wir vielleicht zu einer gewissen moralischen Unterstützung unserer Sache, die auch mit Rücksicht darauf von grösstem Wert [ist], dass unsere Leitung in Berlin ist. Herr v. M. meinte, er wolle gern über unseren Standpunkt nach Berlin berichten. Das werde vielleicht den ungünstigen Eindruck des Sprachen-[|9|] kampfes abschwächen und vielleicht auch auf die dahin führen, dass die Hilfsvereinskreise ihre Meinung ändern. Wir müssen nun abwarten, was erfolgt. Falls die Möglichkeit zu direkten Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt gegeben wird, so müsste der Zionismus vor allem unter den allgemein-politischen Gesichtspunkten behandelt werden, die in dem beiliegenden Exposé ausgeführt sind. Zwingend nötig scheint es mir, dass die nächste A. C. Sitzung sich einmal mit den politischen Grundfragen (Verhältniss zu Türkei, Arabern u. Gross­ mächten) befasst! Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 6 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 28. April 1914 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00015« bis »00018«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftliche Archivsignatur auf erster Seite unten rechts CZA, Z3/48 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {28.IV.[19]14}

Zionistisches Zentralbureau74 Berlin

74 Das Zionistische Zentralbüro war die vom Engeren Aktionskomitee geführte geschäftsführende Instanz der Zionistischen Organisation, die von 1911 bis 1920 ihren Hauptsitz in Berlin hatte.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Sehr geehrte Herren! Wir haben in diesen Tagen, wie bereits angekündigt, verschiedenes unternommen, um mit den Arabern in Fühlung zu kommen. Wir waren mit dem Redakteur des „Peyam“, Nedjib Schoucair,75 zusammen (Araber, der zu der radikalen arabisch-nationalen Gruppe gehört), besuchten ihn vorgestern in seinem Hause auf Prinkipo76 und trafen dort mit Ali Kemal77 (dem früheren antisemitisch gefärbten Redakteur des „Ikdam“, jetzigen Chefredakteur des Peyam) zusammen. Dieser gehört zur Richtung der Entente Liberale, die allerdings gegenwärtig keine Rolle spielt. Sein Blatt hat aber in den intellektuellen türkischen Kreisen starken Einfluss und vor allem auch |2| bei den Arabern. Er versicherte, er sei kein Antisemit, und erzählte wieder von seiner Bekanntschaft mit Nordau78 u. liess sich von Dr. Jacobson auseinandersetzen, wieso der Zionismus für die Türkei nützlich sei. Da er durch Nedjib wusste, dass wir ihm eine Subvention geben wollen, war er mit allem einverstanden. Wir werden die Subvention zunächst niedrig bemessen (120 Ltq79 = 2800 Frcs. pro Jahr). Wir besuchten dann Schukri Bey el Husseini80 aus Jerusalem, der 75 Najīb Shuqayr Bey war ein libanesischer Druse, der sich für eine arabisch-jüdische Verständigung einsetzte. Er war Herausgeber der Zeitung Peyām (Nachricht) und unterhielt Verbindungen zur Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung (Al-Ḥizb al-ʻUthmánī li al-Lá-markazīyah al-Idárīyah). Er informierte Lichtheim regelmäßig über die Vorgänge innerhalb der arabischen Nationalbewegung. Lichtheim, Rückkehr, 226 f.; Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 197 f. 76 Griechischer Name einer Insel vor Konstantinopel. Heute unter dem Namen Büyükada bekannt. 77 ʿAlī Kemāl Bey (1867–1922) war ein osmanischer Journalist und Politiker. Zwischen 1908 und 1913 wirkte er als Chefredakteur der seit 1894 in Konstantinopel erscheinenden liberalen Zeitung İḳdām (Anstrengung) und anschließend als Chefredakteur der Zeitung Peyām. Er kritisierte die Politik des Komitees für Einheit und Fortschritt und war führendes Mitglied der 1911 gegründeten liberalen Partei für Freiheit und Einigkeit (Ḥ ürriyet ve İʾtilāf Fırḳası). 1919 war er kurzzeitig Bildungs- und Innenminister des Osmanischen Reichs unter der Regierung des Großwesirs Damad Ferid Pascha (1853–1923). 78 Max Nordau (1849–1923) war Arzt, zionistischer Schriftsteller und Politiker. Er war Mitbegründer der Zionistischen Organisation und Anhänger des politischen Zionismus Herzls. ̱ ānlı Līrāsı (Osmanische Lira). Die Osmanische Lira war 79 Livre Turque, frz. für ʿOsm zwischen 1844 und 1923 die Währung des Osmanischen Reichs. 80 Shukrī Al-Ḥ usaynī Bey war laut Lichtheim ein arabischer Abgeordneter im osmanischen Parlament. Er entstammte der einflussreichen Jerusalemer Familie Al-Ḥ usaynī,

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Dokument 6

seit Jahren hier wohnt. Er ist – ebenso wie Nedjib Schoucair – ein Günstling des berüchtigten Izzet Pascha81 gewesen, der unter Abdul Hamid82 allmächtig war u. mit dem Herzl seinerzeit zu tun hatte. Durch Izzet sind alle diese Leute reich geworden. Der Gedankengang, den wir den |3| Arabern vortragen, ist etwa folgender: Die arabische Frage ist viel grösser als die Palästinafrage. Wenn die Araber uns gestatten, in Palästina Land zu kaufen u. zu kolonisieren (wobei freilich für die Fellachen irgendwie gesorgt werden muss) so können sie durch unsere Vermittlung die Sympathie der europäischen Presse u. eventuell jüdischer Finanzkreise für die Entwicklung des Arabertums gewinnen. Das nationale Ziel der Araber ist offenbar die Bildung eines grossen arabischen Reiches, und Leute wie Nedjib Schoucair sind offenbar wirklich davon überzeugt, dass es dumm wäre, wenn die Araber sich jetzt die Freundschaft der Juden verscherzen würden. Ferner Sie denken auch an eine Unterstützung durch die |4| Juden in Form von auf kulturellem Gebiet. Sie möchten, dass wir ihnen die Mittel und die Kräfte zur Verbesserung ihrer Schulen liefern. Natürlich sind diese weitgehenden nationalen Aspirationen nicht zu befriedigen, aber in dieser Richtung bewegen sich unsere Gespräche. Praktisch wollen wir dadurch erreichen, dass die Araber in der Kammer u. in der Presse keinen Lärm gegen uns machen. Ob es gelingt, ist fraglich, weil die meisten Deputierten ja in diesen Fragen wenig geschult sind. Vielleicht gelingt es aber doch, die Deputierten aus Jerusalem, Beyrut, Damaskus zu gewinnen. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

der auch der spätere Großmufti von Jerusalem, Ḥájj Muḥammad Amīn Al-Ḥusaynī (c. 1897–1974), angehörte. Shukrī Al-Ḥusaynī Bey war allerdings in Konstantinopel ansässig und bot den Zionisten Land zum Kauf an. Lichtheim, Rückkehr, 226; Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 206. 81 ʿİzzet Paşa Holo Al-ʿĀbit (1855–1924) war ein osmanischer Staatsmann und enger Berater von Sultan Abdülhamid II. 82 Abdülhamid II. (auch Abdulhamid oder Abdul Hamid; 1842–1918) war von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reichs. Seine Absetzung erfolgte kurz nach der jungtürkischen Revolution. Zu Beginn seiner Amtszeit zeigte er sich reformbereit, kehrte jedoch bald zum autoritären Regierungsstil seiner Vorgänger zurück.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Dokument 7 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 12. Mai 1914 Handschriftlicher Brief, 6 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00306« bis »00311«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/49 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {12.V.[19]14}

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Berlin Sehr geehrte Herren! Gestern waren Dr. Jacobson und ich bei Herrn Morgenthau. Er bestätige uns nochmals die guten Eindrücke, die er in Palästina erhalten hat und über die Sie schon direkt aus Pal.83 gehört haben. Er machte anfangs in seinen Ausführungen einen leisen Unterschied zwischen „Zionismus“ und „Kolonisation“. Wir betonten deshalb, dass in Praxi gar kein Unterschied sei und wiesen auf diejenigen kolonisatorischen Arbeiten hin, die direkt von uns geleistet wurden. Dann sagte er, er sei der Ansicht, dass man jetzt den Zionisten (oder wie man |2| die Anhänger der Palästinakolonisation sonst nennen wolle) Gelegenheit geben müsse, zu beweisen, dass man in Palästina wirklich etwas machen könne. Die bisher in 30 Jahren erreichten Resultate seien ja klein, aber jetzt fange gehe die Arbeit in rascherem Tempo fort. Er stellt sich ganz zur Verfügung und will auf jede Weise helfen. Er habe bereits nach seiner Rückkehr mit Talaat und mit dem Grossvesier ge gesprochen. Er habe Talaat auseinandergesetzt, dass die arabischen Grossgrundbesitzer gegen uns sind, weil sie die Fellachen wie bisher ausbeuten wollen. Er habe erklärt, dass wir die Araber |3| nicht verdrängen, sondern ihnen vielfach Arbeit geben. Hierüber habe ihm Dr. Ruppin Material versprochen. Wir baten ihn, dahin zu wirken, dass die Regierung keine ungünstigen Antworten giebt [sic],84 wenn

83 Palästina. 84 Rechtschreibung wie im Original. Hier handelt es sich um eine seit der Rechtschreibreform von 1901 nicht mehr gültige Schreibweise von »gibt«.

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Dokument 7

sie in der Kammer von arabischer Seite interpelliert wird. Eben dazu will er das Material von Dr. Ruppin haben, das wir in diesen Tagen erwarten. Dr. Jacobson sagte, ob man nicht die Regierung veranlassen könnte, ihrerseits zwischen uns den und den Arabern zu vermitteln, da doch die Regierung ihre Zurückhaltung immer mit der Rücksicht auf die Araber entschuldigt. Hierauf erwiderte Morgenthau, |4| Es sei nötig, dass wir die Araber zu beeinflussen suchen, aber vielleicht könne die Regierung es auch direkt tun. Hierauf erwiderte Morgenthau, Talaat habe bereits mit mehreren der in Frage kommenden Personen gesprochen, um Zwischenfälle in der Kammer zu verhindern und zwar habe er gesagt, man dürfe nicht gegen die Juden vorgehen, „sonst verlieren wir die Freundschaft Amerikas“! Hierauf teilten wir ihm zwei Vorfälle mit, die in schroffem Widerspruch zu dem angeblichen Verständnis Talaats für die Sachlage stehen, nämlich 1) die Auflösung unseres Vereins |5| und 2) die skandalösen Schwierigkeiten, die man soeben 120 jüdischen Pilgern aus Saloniki gemacht hat, die nach Palästina fahren wollen. Der türkische Konsul hat sich nämlich zunächst geweigert, ihre Pässe nach Jaffa zu visieren. Er wollte sie nach Konstantinopel visieren. Darauf wandten sich die Leute telegraphisch an Dr. Jacobson und dieser intervenierte durch den Grossrabbiner bei der Regierung. Angeblich versprach Talaat, günstige Ordres zu geben, der Konsul erklärte aber zunächst, die Ordres seien unklar und machten eine Rückfrage nötig. Schliess­ lich |6| weigerte er sich überhaupt, die Pässe zu visieren und behauptete folgende Ordres erhalten zu haben: Der Grossvesier habe ihm depeschiert, die Einwanderung der Juden nach Pal. sei verboten, Talaat habe depeschiert, er dürfe die Pässe nur visieren, wenn die Leute sich verpflichteten, nach 14 Tagen wieder Palästina zu verlassen. Dies alles teilten wir Morgenthau mit, der es gar nicht glauben wollte. Ob er in diesen Angelegenheiten ## etwas tun wird, wissen wir nicht, werden es aber bei einem nächsten Besuch erfahren. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Dokument 8 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 28. Mai 1914 Handschriftlicher Brief, 14 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur in oberer rechter Ecke der ersten Seite; gestempelte Paginierung des Archivs (»00201« bis »00214«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftlicher Vermerk oben mittig auf Seite 1 (»3x«) CZA, Z3/49 [Lichtheim berichtet von einem Treffen mit einer arabischen Delegation und deren Forderungen. Des Weiteren stellt er Überlegungen darüber an, wie durch finanzielle Zuwendungen das arabische Wohlwollen gewonnen werden kann. Außerdem fasst er die zionistischen Forderungen an die osmanische Regierung zusammen und legt dar, welche Vorteile die Zionisten als Gegenleistung in Aussicht stellen könnten.] Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {28.V.[19]14}

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, Berlin Sehr geehrte Herren! Ich berichte Ihnen heute über zwei wichtige Zusammenkünfte, die wir mit arabischen Deputierten und mit dem Wali85 von Beyrouth86 hatten. Vorgestern Abend gaben wir ein Diner, an dem zwei Deputierte aus Jerusalem (Said el Hussenie und Naschaschibi87), einer aus Beyrouth, einer aus Tripolis (Syrien), einer aus Nablus,88 ein früherer Kaimakam aus Palästina, {der Redak-

85 Wali (arab.) ist in der islamischen Welt der Titel für einen Stellvertreter, hier Gou­ verneur. ̣ nduh (1865–1933) war ein osmanischer Diplomat und Politiker. Er war 86 Bekir Sāmī Ku Wali von Beirut und später der erste Außenminister der modernen Türkei. 87 Hier handelt es sich um die beiden Jerusalemer Abgeordneten des Komitees für Einheit und Fortschritt Saʻīd Al-Ḥ usaynī (1878–1945) und Rághib Al-Nasháshībī (1881–1951). Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 206. 88 Saʻīd Shahīn war Abgeordneter des Komitees für Einheit und Fortschritt für Nablus. Ebd.

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Dokument 8

teur des „Peyam” Nedjib Schoucair} und Muktar Behum89 aus Beyrouth teilnahmen. Von unserer Seite waren Dr. Jacobson, Hochberg und ich zugegen. Während des Essens brachte Dr. J.90 einen kurzen Toast auf die Deputierten aus, {in} welchen wir auch unsere Vertreter erblicken, da sie die Interessen |2| Palästinas vertreten. Dann entspann sich eine längere Unterhaltung. Dr. J. setzte auseinander, welche ökonomischen {u.  sonstigen} Vorteile wir dem Lande bringen. Darüber gab es keine Meinungsverschiedenheit. Dagegen konnte man aus den Antworten und Fragen der Araber heraushören, dass sie uns als eine für die Zukunft gefährliche Macht betrachten, von der sie die Verdrängung des Arabertums fürchten. Sie verlangen eine kulturelle Annäherung, wünschen vor allem, dass die Juden nicht ganz für sich leben u. die Araber als Gegner betrachten, sondern dass sie sich mit den Arabern sozusagen als eine Nation betrachten fühlen, arabisch lernen etc. Natürlich wissen sie, dass wir auf diesem Gebiet keine grossen Konzessionen machen können und hierin |3| liegt eben die Schwierigkeit der Situation. Starken Eindruck machte folgendes Argument, das Dr. J. in wirkungsvoller Weise vorbrachte: Die palästinensischen Araber dürfen die Frage nicht nur vom Standpunkte des Palästinensers betrachten. Es giebt in der Türkei vielleicht 15 Millionen Araber, aber nur 600 000 in Palästina. Wenn die Araber den allgemeinen Aufstieg ihres Volkstums wünschen, so sollen sie die bedeutende Hilfe nicht verschmähen, die ihnen von Seiten der Juden zuteil werden kann (Presse, Finanzwelt etc.). Das machte sichtlich Eindruck und schliesslich waren alle einverstanden, mit Dr. J.’s Vorschlag, die Frage gemeinsam zu studieren, um die beiderseitigen Forderungen kennen zu lernen u. zu einer Entente |4| zu gelangen. Wie weit sich das im Ernst realisieren lässt, ist ja freilich schwer zu sagen. Unser nächster Zweck ist, die Leute hinzuhalten, damit sie in der Kammer nichts gegen uns machen. Dies wird uns vielleicht gelingen, obgleich man nach dem heftigen Geschrei der {arabischen} Zeitungen auf alles gefasst sein muss. Um wenigstens für einige Zeit den Schreiern den Mund zu stopfen, giebt es nur einen Weg: Beteiligung der grossen Araber an einigen Geschäften und Subventionen der Presse. Für beides ist Geld nötig, wie denn überhaupt an politische Erfolge nicht gedacht werden kann, solange wir nicht reelles bieten, {sei es zunächst auch nur in kleinem Umfang.} e{E}ine Bestätigung dessen 89 Aḥmad Mukhtár Bayhūm (1878–1922) war Mitglied der 1913 aufgelösten Beiruter Reformgesellschaft (Jamʻiyat Bayrūt al-Iṣláḥīyah) und nahm 1913 am Ersten Arabischen Nationalkongress in Paris teil. Ebd. 90 Victor Jacobson.

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fanden wir gestern Abend, als |5| wir dem Wali von Beyrouth, Bekir Samy Bey, ein Diner gaben. Er war sehr offenherzig, sprach sehr freimütig über alle möglichen Personen und Zustände, versicherte uns, dass er absolut für die Einwanderung der Juden sei und auch in diesem Sinne mit der Regierung gesprochen habe. Er argumentierte folgendermassen: Wenn die Türkei stark ist, so hat sie von den Juden nichts zu fürchten. Ist sie schwach und verliert Palästina, so ist es besser, dass die Juden es bekommen, als irgendeine andere Bevölkerung. Er verlangt aber (ganz wie Talaat), dass die Juden Ottomanen werden. Wir setzten ihm auseinander, dass die Landkäufe von reichen |6| ausländischen Juden gemacht werden (Rothschild)91 oder von Leuten, die dort Pflanzungen anlegen und erst nach Jahren übersiedeln können. Diese Käufer können nicht Ottomanen werden, wenn sie das Land erwerben. Er erwiderte, die Regierung u. er selbst könnten das wohl begreifen, aber die Masse sieht es nicht ein. Dr. Jacobson sagte, wir könnten bei den Juden Ferner müssten wir auf die Araber grössere Rücksicht nehmen. Er hätte gewünscht, dass wir das im Technikum die arabische Sprache einführen, damit auch die Landesbevölkerung davon profitieren könne. Die Gegenargumente begriff er auch und kam schliesslich zu dem Resultat, wir müssten greifbare Vorteile bieten, damit |7| die Regierung uns entgegenkommen könne. Ich sagte, der Hauptvorteil bestehe doch eben in unserer Arbeit in Palästina. Darauf sagte er, die Türkei brauche sofort Hilfe und Unterstützung. In 10 Jahren brauche man uns gar nicht mehr. Wenn wir heute der Türkei das Geld für einen Dreadnought92 geben, so garantiere er, dass man uns unsere Forderungen bewilligen werde. Als Forderungen formulierte Dr. J.: Erlaubnis zur Gründung einer {jüdischen} Einwanderungsgesellschaft für die Türkei, welche in legaler Weise mit der Regierung verhandeln könne, Erlaubnis des Bodenkaufs für ausländische Juden, Aufhebung aller Beschränkungen. Wir haben Über die |8| Araber äusserte der Wali sich ziemlich abfällig und von oben herab. Er behauptet, sie seien alle käuflich und die arabische Bewegung sei ganz unbedeutend: Führer ohne Armee. In diesem Punkte scheint er zu optimistisch zu sein. Auch täuscht er sich wohl, wenn er meint, die Araber – auch die christlichen – seien im Herzen Ottomanen und gegen die fremden Einflüsse. Dr. J. sprach dann mit ihm über einzelne geschäftliche Fragen. Er will für Beyrouth eine Anleihe von 500 000 Ltq haben. Dr. J. denkt daran, Morgenthau hierfür zu interessieren, {sagte dem Wali aber noch nichts davon.} Der Wali äusserte unabhängig davon, er wolle Morgenthau besuchen. Leider spreche dieser 91 Edmond Baron de Rothschild kaufte seit 1882 Grundstücke in Palästina und stellte sie jüdischen Einwanderern zur Verfügung. 92 Bezeichnung für Schlachtschiffe mit Einheitskaliber, die ab 1906 die bisher vorherrschenden Linienschiffe verdrängten.

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nicht französisch und er hätte |9| gerne mit ihm ohne Zeugen geredet. Dr. J. bot unsere Dolmetscherdienste an, was der Wali annahm. Da Dr. J. schon morgen verreisen will, so werde ich wahrscheinlich nächstens mit dem Wali zu Morgenthau gehen. Zu Beginn der Besprechung hatte Dr. J. dem Wali das Projekt einer Lotterie zu Gunsten der jüdischen Schulen im Wilajet93 Beyrouth vorgeschlagen, mit der Bedingung, dass die ottomanischen Schulen einen Teil des Ertrages erhalten sollen. Damit war der Wali einverstanden. Aus allen diesen Unterredungen die richtigen Folgerungen zu ziehen, ist nicht ganz leicht. Dr. J. sagte, als wir wieder |10| allein waren, ob ich nun einsehe, warum er es in letzter Zeit vermeide, mit direkt mit den Ministern zu sprechen: Wir hätten eben die greifbaren Vorteile nicht zu bieten, welche die Regierung als Gegenleistung verlangt. Ich persönlich bin der Meinung, dass man doch direkt mit der Regierung fühlen Fühlung nehmen sollte. Wenn die Vorteile, welche wir fordern (namentlich Bodenkauf für Ausländer) nach unserer eigenen Überzeugung eine Anleihe von 20 Millionen Francs oder dergleichen wert sind, so müssen wir eine solche versprechen und müssen Kopf und Kragen daran setzen, sie das Geld zu schaffen. |11|  Sind wir aber der Ansicht, dass die gebotenen Vorteile eine so grosse Anstrengung nicht wert sind, so müssen wir der Regierung sagen: Wir können nicht für eine Massregel, die morgen wieder umgestossen werden kann, sofort grosse Beträge geben; wenn Ihr wirklich glaubt, dass wir Euch nützen, so fördert uns in dem bescheidenen Massstabe, den wir fordern: Erlaubt uns, eine zionistische Gesellschaft zu gründen, übertragt von Fall zu Fall grössere Terrains auf ausländische Juden und macht uns keine Schwierigkeiten. Dafür versprechen wir, dass die Kolonisten grösstenteils Ottomanen werden (80 % der Kolonisten sind es ja schon). |12|  Wir machen Euch allmählich das Land reich, bieten ein Gegengewicht gegen die Araber und gewähren Euch ferner {so} – entsprechend dem allmählichen Nutzen, den wir von der Eurer Haltung haben – auch allmähliche Vorteile. Ferner aber sind wir bereit {in der Lage}, Euch folgende Vorteile zu bieten: Durch Begünstigung unserer Sache schafft Ihr Euch eine gute Presse in {Europa u.} Amerika. Wir hoffen, Euch von Fall zu Fall in der jüdischen Finanzwelt nützen zu können. Endlich nehmen wir es auf uns, alle nötigen Gelder zu zahlen, um der arabischen Opposition, welche Ihr fürchtet, den Mund zu stopfen. Schliesslich können wir jährlich, {resp.  beim Abschluss 93 Ein Wilajet (wörtl. Herrschergewalt) war eine großprovinziale Verwaltungseinheit im Osmanischen Reich an dessen Spitze ein Wali stand.

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grösserer Käufe, wie Bissan,}94 gewisse Beträge |13| für das {türkische} Schulwesen, für die vom Komitee begünstigten Gesellschaften etc. zahlen. Ich glaube, dass sich auf dieser Basis mit den Leuten reden lässt. Wir verlangen ja keinen Charter, sondern nur eine wohlwollende Haltung. Zu dieser muss die Regierung doch kommen, wenn sie uns für nützlich hält, auch wenn wir ihr keine goldenen Berge versprechen können. Schliesslich aber sind wir in der Lage, wenn die Regierung uns sichtlich fördert, jährlich kleinere Gefälligkeiten zu erweisen, die arabische Presse regierungsfromm zu machen etc. |14|  Jedenfalls meine ich, dass bei der prinzipiell entgegenkommenden Haltung der Regierung auf diesem Wege etwas zu erreichen ist und ich möchte das Prinzip aufstellen, der Regierung tatsächlich so viel zu versprechen, wie uns ihr Entgegenkommen in jedem Zeitpunkt wert ist. Wenn wir den Mut hatten, das Universitätsprojekt95 in die Welt zu setzen, so müssen wir uns auch zutrauen, für grosse Vorteile gr von Seiten der Regierung grosse Summen aufzubringen, oder, was ich für zutreffender halte, für kleine Vorteile kleine Beträge zuzusagen, um so die günstige Stimmung zu befestigen. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim {Bitte Copie an Dr. Ruppin {zur} vertraulichen Kenntnisnahme senden.}96

94 Um Einkommen für den Staat zu generieren, beabsichtigte die jungtürkische Regierung den Verkauf von Ländereien in der Region Bisan (hebr. Bet She’an) im Jordantal. Dies führte in den Jahren zwischen 1909 und 1914 zu Konflikten zwischen der Regierung und der lokalen Bevölkerung, die befürchtete, das Land werde über Mittelsmänner an die Zionisten verkauft. Diese waren zwar tatsächlich am Kauf der Ländereien interessiert; die Befürchtungen der Lokalbevölkerung waren jedoch unbegründet. Fishman, Jews and Palestinians, 74–76. 95 Teil der zionistischen Utopie war von Beginn an die Gründung einer Universität in Palästina. Die Idee wurde bereits auf dem ersten Zionistischen Kongress in Basel 1897 diskutiert. Am 9. März 1914 erwarb Ruppin für die Zionistische Organisation ein auf dem Mount Scopus in Jerusalem gelegenes Areal von Sir John Gray Hill (1839–1914) mit der Absicht, dort die Universität zu errichten. Ausführlich zur Hebräischen Universität Yfaat Weiss, Niemandsland. Hader am Berg Scopus, Göttingen 2021. 96 Einfügung auf linker Marginalie.

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Dokument 9 Richard Lichtheim an Victor Jacobson Konstantinopel, 7. Juni 1914 Handschriftlicher Brief, 3 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur oben mittig auf Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00189« bis »00191«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftlicher Vermerk in oberer linker Ecke von Seite 1 (»IV«) CZA, Z3/49 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {7.VI.[19]14}

Herrn Dr. V. Jacobson Berlin Lieber Herr Doktor, vorgestern Abend war ich mit Essad Dagger97 bei dem Deputierten v. Damaskus, Faris eff. El-Choury,98 der bei Kroecker99 wohnt. Ich hatte eine zweistündige Unterhaltung mit ihm. Er ist uns freundlich gesinnt, doch verlangt er – wie alle anderen Araber – dass wir uns in sozialer Hinsicht mit den Arabern besser verhalten. Das politische Argument (Bündnis der beiden Nationen) interessiert ihn weniger. Er betrachtet die Sache mehr vom Standpunkt des Palästinensers und da meint er, eine kleine Einwanderung von Juden sei ja ganz gut und er selbst sei ein Freund der Juden, aber für die Zukunft müssten wir doch das Interesse haben, die Einw Araber zurückzudrängen. [|2|]  Nun, sie kennen ja unsere Argumente besser als ich und wissen ja, was ich gesagt habe. Das allein wirksame Argument ist aber das politische, Dass wir {und gerade dieses interessierte den Mann – wenigstens scheinbar – nicht sehr.} Dass wir im Interesse der palästinensischen Araber nötig seien, werden 97 Asʻad Khalīl Dághi (1860–1935) war ein libanesischer Journalist und Mitarbeiter der Zeitungen Le Jeune Turc und Al-Mokattam. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 197 f. 98 Fáris Al-Khūrī (1877–1962) war ein syrisch-protestantischer Politiker. Ab 1908 saß er als Abgeordneter für Damaskus im osmanischen Parlament. Von 1944 bis 1945 und 1954 bis 1955 war er Ministerpräsident Syriens. 99 Das Kroecker war ein Grand Hotel im Konstantinopler Stadtviertel Pera, dem heutigen Beyoğlu.

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die Leute nie zugeben, weil sie ganz richtig fühlen, dass alle ökonomischen oder hygienischen Vorteile, die wir dem Lande bringen, die Tatsache nicht aufwiegen können, dass unser Vordringen das Arabertum zurückdrängt. Deshalb ist wäre nur ein Bündnis auf der Grundlage der arabischen Zukunftspolitik möglich und das ist natürlich gefährlich. Die Palästinenser selbst muss man von Fall zu Fall durch Geschenke beschwichtigen. 2) Bekir Samy Bey100 hat Hochberg erzählt, dass er zweimal bei Morgenthau war und noch weiter mit ihm sprechen will. Er habe auch mit Talaat gesprochen und Talaat stelle nur [|3|] eine Bedingung: Ottomanisierung. Im Übrigen sei er sehr günstig gestimmt. Morgen werde ich Morgenthau sehen und hoffe, von ihm näheres über seine Unterredung mit Bekir zu erfahren. 3) Der Grossrabbiner versprach mir, morgen wegen der Naturalisierung, resp. wegen nochmaliger Ordres nach Palästina nach der Hohe Pforte zu gehen. 4) Wegen Ihres Zangwill-Projektes wird sie eine Notiz interessieren, die am 29. oder 30. April im Jewish Chronicle erschien. Danach hat Zangwill an die ungarischen Ito-Hochstapler einen Brief geschrieben, in dem er sehr auf den Zionismus schimpft.101 5) Fresco hat sich bei mir wieder 200 Frs geholt. Herzlichen Gruss Ihr Lichtheim

Dokument 10 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 18. Juni 1914 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichun100 Bekir Sāmī Ḳunduh. 101 Israel Zangwill (1864–1926) war ein britischer Schriftsteller und Journalist. Er gilt als Vordenker der territorialen Strömung im Zionismus, die dafür warb, auch Territorien außerhalb Palästinas für die jüdische Ansiedlung in Betracht zu ziehen. Nachdem der 7. Zionistische Kongress 1905 das Angebot der britischen Regierung, in Uganda einen Zufluchtsort für Juden zu etablieren, ablehnte, gründete Zangwill 1905 die Jüdisch-Territorialistische Organisation (ITO).

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Dokument 10

gen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00171« bis »00174«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/49 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {18.VI.[19]14}

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Berlin Sehr geehrte Herren, vorgestern fand ein Bankett der Bnei Brith Loge102 anlässlich der Grosslogensitzung statt, an dem auch Herr Morgenthau teilnahm. Er hielt in deutscher Sprache eine Rede, über die ich Ihnen berichte, weil sie für den Mann charakteristisch ist. Er sprach in enthusiastischer Weise von seinen jüdischen Empfindungen und seinem Wunsch, für die Juden der Türkei etwas zu tun. Dann enthüllte er naiv und offen so ziemlich alles, was er vorhat: Er sprach von seinen Unterhaltungen mit dem russischen u. deutschen Botschafter sowie mit der Regierung, erklärte, die Juden sollten sich nicht auf Pal. beschränken, sondern |2| auch nach anderen Gegenden gehen, und fügte hinzu, er unterhandele darüber. Das alles vor 150 Juden von hier, vom Balkan, und aus Kleinasien u. Palästina. Gott sei Dank verstanden die wenigsten deutsch. Sie sehen daraus, wie schwierig es ist, selbst mit einem so günstig gestimmten Botschafter zu arbeiten, wenn der Mann nicht genügend eingeweiht ist und nicht über die nötigen zionistischen u. politischen Erfahrungen verfügt. Übrigens hat er auch dem zufällig hier weilenden Rabbiner Grunwald103 aus Wien alles erzählt, wie mir dieser mit wichtiger Miene anvertraut hat. Trotz allem ist ### Morgenthau natürlich für uns sehr wertvoll u. wir müssen ihn ausnutzen. Ich habe aber die Empfindung, |3| dass dies rasch geschehen muss, 102 B’nai B’rith (Söhne des Bundes) ist eine jüdische Hilfsorganisation, die 1843 in New York als geheime Loge zur Stärkung des Judentums durch Erziehung, Bildung und soziale Fürsorge sowie für den Kampf gegen Antisemitismus gegründet wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts entstanden weltweit Tochterlogen. Andreas Reinke, Art. B’nai B’rith, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 1, 365–369. Vom 13. bis zum 16. Juni 1914 tagte in Konstantinopel der Kongress der orientalischen B’nai B’rith ­Logen. Anonymus, Kongreß der Bnei-Brith-Logen im Orient, in: Jüdische Rundschau, 3. Juli 1914, 293 f. 103 Max Grunwald (1871–1953) war ein Rabbiner, Historiker und Volkskundler. Ab 1895 wirkte er als Rabbiner in Hamburg und ab 1903 in Wien.

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denn wenn wir nicht bald mit ihm und durch ihn etwas erreichen, so wird er müde werden, angesichts der Schwierigkeiten sein Interesse verlieren und vielleicht auch durch sein vieles Reden und Unterhandeln schaden. Es ist überaus schade, dass Herr Dr. Tschlenow104 u. Herr Dr. Jacobson jetzt nicht hergekommen sind. Wir hätten dann mit Morgenthau, dem Wali v. Beirut (der noch eine Woche hierbleibt) und eventuell direkt mit Talaat verhandeln können. Bei der augenblicklichen guten Disposition aller Beteiligten hätten wir vielleicht ein Abkommen für irgendein Nachbargebiet Palästinas vorbereiten können und jedenfalls die gute Stimmung verstärkt, eventuell |4| Erleichterungen für Bodenkauf oder unseren Verein durchgesetzt. Es ist eine verpasste Gelegenheit. Dass die Zweckrevision105 im Nov Juli herkommt, ist ganz verfehlt. Im Juli ist kein Parlament, die Stadt ist tot, alles verreist, auch die Araber (mit denen man gleichfalls die geplanten Konferenzen in Cairo u. Beirut hätte vorbereiten können) wieder fort. Ihr Telegramm, dass der Besuch in Petersburg aufgeschoben ist, habe ich erhalten, nachdem Herr Sokolow106 gerade über Konstanza abgereist war {Das Telegram war statt an mich an die Bank adressiert}. Er trifft Sonntagabend in Berlin ein, was ich Ihnen gleichzeitig drahte. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

104 Yehiel Tschlenow (1864–1918) war ein russischer Arzt und Zionist. Von 1913 bis 1918 war er Mitglied des EAC. 105 Die Zweckrevision war eine Delegation der Zionistischen Exekutive. 106 Nahum Sokolow (1859–1936) war ein zionistischer Politiker, Schriftsteller und Journalist. 1911 wurde er auf dem 10. Zionistenkongress ins EAC gewählt und war wesentlich an den Gesprächen beteiligt, die zur Balfour-Deklaration führten. Von 1920 bis 1931 wirkte er als Vorsitzender der Zionistischen Exekutive und von 1931 bis 1935 als Präsident der Zionistischen Organisation. Außerdem war er von 1931 bis 1933 Präsident der Jewish Agency for Palestine. Von April bis Juli 1914 unternahm Sokolow eine Reise durch das Osmanische Reich, wo er in Jaffa, Beirut, Damaskus und Konstantinopel mit Vertretern der arabischen Nationalbewegung zusammentraf, um die Möglichkeiten einer arabisch-zionistischen Konferenz auszuloten. Trotz verschiedener Pläne und Gesprächsangebote kam ein arabisch-zionistisches Treffen schließlich nicht zustande. Mandel, The Arabs and Zionism Before World War  I, 195–197.

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Dokument 11 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 29. Juni 1914 Handschriftlicher Brief, 18 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur unten mittig auf Seite 1 CZA, Z3/11 [Lichtheim berichtet von Unterredungen mit von Mutius und von Wangenheim. Dabei beschreibt er seine Bemühungen, Sympathiebekundungen für die zionistische Bewegung zu erreichen. Abschließend skizziert er die jüngsten Entwicklungen der Zusammenarbeit mit Morgenthau.] Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {29.VI.[19]14}

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Berlin Sehr geehrte Herren! {Deutsche Botschaft:} Kürzlich hatte ich wiederum eine längere Unterhaltung mit dem Ersten Botschaftsrat der deutschen Botschaft v. Mutius, die in vieler Hinsicht interessant war.107 Ich glaube, es ist mir durch meine wiederholten Besprechungen gelungen, v. M. sehr freundlich zu stimmen, während er vor einigen Monaten nach dem Schulkampf ziemlich ungnädig war. Bei der letzten Unterhaltung sagte er mir nun, das Interesse, welches die deutsche Regierung für uns haben könne, sei durch zwei Gesichtspunkte begrenzt: durch das I die Rücksichtnahme auf die Türkei (d. h. deren Wünsche u. Interessen) und durch die Rücksicht auf die massgebenden deutschen Juden.108 107 Laut Lichtheims Erinnerungen fand das Gespräch am 19. Juni 1914 statt. Lichtheim, Rückkehr, 242. 108 Die Zionisten stellten unter den deutschen Juden nur eine Minderheit dar. Die Mitgliederzahl der 1897 gegründeten Zionistischen Vereinigung für Deutschland lag 1914 bei ungefähr 9000. Die Mehrheit des akkulturierten jüdischen Bürgertums organisierte sich dagegen im 1893 gegründeten Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dessen Mitglieder sich als Angehörige der deutschen Nation mit eigener Religion betrachteten und nicht zionistisch eingestellt waren. 1916 zählte der Central-Verein neben 70 000 direkten Mitgliedern 200 000 weitere, über andere

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|2|  Wir besprachen dann ausführlich diese beiden Argumente. Ich sagte ihm, die Türkei scheine uns jetzt freundlicher zu sein, worüber er seine Befriedigung aussprach. Die Gegnerschaft jüdischer Kreise in Deutschland suchte ich als belanglos hinzustellen, da es sich hierbei um einen Geisterkampf verschiedener Richtungen handele, während das politische Interesse Deutschlands durch etwas ganz Konkretes (die Kolonisation Palästinas) bestimmt werde; ausserdem dieses Konkrete stosse auch bei den deutschen Juden kaum noch auf Widerstand. Er blieb aber dabei. Die Regierung müsse sich sehr vorsehen, sich in den Kampf der Parteien einzumischen, sie könne weder für noch gegen uns Partei ergreifen. (Ich glaube übrigens, |3| dass alles, was v. M. sagte, seine Privatmeinung ist und nicht etwa auf offiziellen Weisungen beruht). Durch dieses Thema kamen wir auf den Charakter der zionistischen Bewegung im Allgemeinen und auf das innerpolitische Gebiet. Die Grösse der Idee und das nationale Bewusstsein gefielen ihm. Ich suchte ihm nun klarzumachen, dass die Regierung eine falsche Politik treibe, wenn sie {ausschliesslich} auf die dünne Oberschicht der ganz Assimilierten Rück­ sicht nehme. Wir sprachen von der Familie Mendelssohn,109 die er als eine Art Vorbild hinstellte, von Walter Rathenau110 (mit dem er in Korrespondenz steht) usw. Ich setzte ihm nun auseinander, dass diese dünne Oberschicht |4| kein Vorbild sei, weil sich die Masse der deutschen Juden nicht so assimilieren könne und wolle; dass aber die Gedankenrichtung auf die von der Regierung geförderte Assimilation gerade jenen jüdischen Typus erzeuge, der der Regierung so unangenehm sei: den Radikalismus der Sozialisten u. Demokraten (Berliner Tageblatt).111 Dieser Gedanke interessierte ihn sehr. Er liess sich das Verbände angeschlossene, Mitglieder und repräsentierte damit fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Poppel, Zionism in Germany, 176 f.; Avraham Barkai, »Wehr dich!« Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002. 109 Die Familie Mendelssohn ist eine deutsch-jüdische Gelehrten-, Bankiers- und Künstlerfamilie, zu deren bekanntesten Mitgliedern der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) und der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) zählen. Die meisten Mitglieder der Familie strebten nach Akkulturation und traten zum Christentum über. 110 Walter Rathenau (1867–1922) war ein deutsch-jüdischer Industrieller, Schriftsteller und Politiker der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Er war ein vehementer Verfechter der Akkulturation. Er wurde im Juni 1922 Reichsaußenminister und im Juli desselben Jahres von Rechtsradikalen ermordet. Shulamit Volkov, Walter Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland, München 2012. 111 Das von dem deutsch-jüdischen Verleger Rudolf Mosse (1843–1920) gegründete Berliner Tageblatt war eine liberale deutsche Tageszeitung, die von 1872 bis 1939

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genau auseinandersetzen und stimmte mir zum Schluss völlig darin bei, dass ein positiv jüdisches Erziehungsprogramm im Staatsinteresse besser sei. Er begriff, dass die völlige Assimilation nicht {deutscher} Idealismus, sondern nur Opportunismus sei ist und die Charaktere |5| verderbe: „Die Assimilation darf nicht die Hauptsache werden,“ sagte er. Das Innerpolitische schien ihm weit wichtiger und einleuchtender als die äusseren politischen Argumente und das ist vielleicht ein Hinweis, wie wir uns in Deutschland bei der Regierung eine gute Stellung schaffen und vielleicht auf diesem Wege auch die äussere Politik zu unseren Gum Gunsten beeinflussen können. Ich kam dann wieder auf die Möglichkeit einer gewissen moralischen Unterstützung in der Türkei zurück. Er blieb ziemlich zurückhaltend, meinte, die Türken hätten zu Deutschland auch nicht viel mehr Vertrauen als zu einer anderen Macht und würden eine Fürsprache Deutschlands auch |6| mit Misstrauen aufnehmen. Ich erwiderte ihm, das sei ganz unsere Ansicht, wir seien uns ganz klar über die Grenzen, in denen Deutschland uns helfen könne und solle; was wir erstrebten, sei keine diplomatische Einmischung zu unseren Gunsten, sondern nur ein gewisses Wohlwollen, das sich vielleicht gelegentlich gegenüber den Türken äussern könne. Dann bat ich ihn um eine Einführung beim Botschafter, die er versprach. Vor einigen Tagen erhielt ich von ihm eine Mitteilung, nach Therapia112 zu kommen, wo er mich dem Botschafter Freiherrn v. Wangenheim vorstellen werde. Ich war heute dort, hatte wieder eine sehr angenehme Plauderei mit Mutius und dieser stellte |7| mich dann dem Botschafter vor. Während Mutius mehr den Typ des mit deutscher Bildung durchsetzten Landjunkers darstellt, wie man ihn unter den preussischen Offizieren und Beamten aus adeliger Familie häufig findet, ist Wangenheim ganz Grand­ seigneur. Er zeigte sich sehr günstig disponiert, erklärte sogleich, er habe für die Tätigkeit der Zionisten immer Sympathie gehabt, erinnerte sich an Herzl, den er 1898 hier gesehen hat,113 erklärte ebenfalls, Deutschland könne sich erschien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie aufgrund ihrer Ausrichtung zunehmend als nichtoffizielle Parteizeitung der linksliberalen DDP wahrgenommen. 112 In dem Konstantinopler Stadtteil Ṭarābya (auch Therapia) am europäischen Ufer des Bosporus unterhielten viele europäische Botschaften einen Sommersitz. Die Sommerresidenz der deutschen Botschaft in Ṭarābya wurde zwischen 1885 und 1887 errichtet. 113 Die Begegnung zwischen von Wangenheim und Herzl fand wahrscheinlich vier Jahre später und weniger wohlwollend statt. Von Wangenheim war seinerzeit Legationsrat und Erster Sekretär der Deutschen Botschaft in Konstantinopel (1899–1904). In einem Tagebucheintrag Herzls vom 26. Juli 1902 heißt es: »Der Sultan sah mich im Vorüberfahren und die fremden Diplomaten sahen mich auch misstrauisch, neugie-

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natürlich nicht für uns politisch engagieren, er sei aber bereit, soweit es in seiner Macht stände, uns Sympathie zu bezeugen! Irgendwelche Aktionen zu unseren |8| Gunsten seien nur möglich, wenn er von Berlin Anweisungen erhalte, er wolle aber inoffiziell in seinem Wirkungskreis uns stets zu fördern suchen. Er werde demnächst mit dem Grossvesier darüber sprechen. Ich deutete an, der Grossvesier stehe als Araber vielleicht etwas unter arabischem Einfluss. Er fügte hinzu, der Grossvezier [sic] habe speziell {starke} muhammedanische Ideen. Ich sagte, Talaat, der ja in der inneren Verwaltung den grössten Einfluss hat, scheine uns jetzt günstiger als früher zu sein. Ich Dann erklärte {ich} nochmals, wir wollten keine Intervention, sondern nur eine Atmosphäre des Wohlwollens. Er fragte, ob irgendeine andere Macht uns |9| fördere und ob ich in der russischen Botschaft verhandelt hätte. Ich sagte ihm, dass eine direkte Förderung unserer Sache bisher von keiner Seite erfolgt sei, dass ich mit Herrn v. Gulkewitsch gesprochen habe, der persönlich uns freundlich sei, dass das russische Interesse naturgemäß in der russischen Untertanenschaft der Juden bestehe, dass wir aber in diesem Punkte Russland nicht entgegenkommen könnten, da wir die Ottomanisierung (welche von der Türkei gewünscht werde) fördern müssten. Ich dehnte diese erste Unterredung absichtlich nicht zu lange aus und hatte den Eindruck |10| eines ganz aufrichtigen Wohlwollens, das sich auf zwei Tatsachen stützt: Unsere für die Türkei wertvolle Arbeit und die Möglichkeit der Verbreitung des deutschen Spracheinflusses. Er fragte auch nach der Sprache, machte keine Einwendungen, als ich ihm sagte, weshalb wir für das Hebräische eintreten und trotzdem z. B. im Technikum das Deutsche als Hauptfremdsprache haben wollen. Als ich wieder auf die Möglichkeit einer moralischen Unterstützung zurückkam, meinte er, um etwas Bestimmtes zu tun, müsse er erst die Sache genauer untersuchen: ob der Konsul |11| Schmidt114 in Jerusalem gut informiert sei. Ich sagte, dieser und der Konsul in Jaffa115 seien gut unterrichtet. Ich halte es nun für notwendig, dass Sie Dr. Ruppin sofort (ev. telegraphisch) anweisen, sobald wie möglich, eine Gele­

rig und giftig an. Insbesondere der deutsche Chargé Wangenheim beobachtete mich giftig und verdriesslich.« Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, hg. v. Alex Bein u. a., Bd. 3: Zionistisches Tagebuch. 1899–1904, Berlin / Frankfurt a. M. 1985, 427 f. 114 Edmund Schmidt (1855–1916) war von 1901 bis zu seinem Tod Generalkonsul des Deutschen Reichs in Jerusalem. 115 Johann Wilhelm Heinrich Brode (1874–1936) stand von 1910 bis 1916 dem Konsulat in Jaffa vor. Er folgte Schmidt als Generalkonsul in Jerusalem und hielt diesen Posten bis zur Schließung des Generalkonsulats nach der britischen Eroberung Palästinas im Jahr 1917.

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genheit herbeizuführen, um dem mit beiden Konsuln (vor allem Schmidt) zu sprechen und sie günstig zu beeinflussen. Er kann ihnen z. B. das Zahlenmaterial geben, das er für Morgenthau bezüglich der Steigerung der Steuererträge zusammengestellt hat und ihnen auch sonst klar machen, wie nützlich wir sind. Vor allem |12| muss die Verstimmung wegen des Sprachenstreites beseitigt werden. Die Konsuln müssen einsehen, dass der Hebraismus berechtigt ist und dass trotzdem sprachliche und wirtschaftliche Beziehungen der Juden zu Deutschland bestehen. Falls die Botschaft (was nach meiner Unterredung sehr wahrscheinlich ist) Berichte der Konsuln einfordert, müssen diese in dem genannten Sinne bearbeitet sein. Davon kann hier sehr viel abhängen. Ob man in Berlin etwas unternehmen soll, wäre zu erwägen. Zunächst hat es keine Eile. So schwach auch die Möglichkeit erscheint, von irgendwelcher Seite starke Unterstützung |13| zu finden und so wenig dies in unserem Interesse liegt, so müssen wir doch be#m#üht bemüht bleiben, auf solche Weise Sympathien zu gewinnen. Es bildet sich dann nämlich rasch in den Botschaften eine gewisse Tradition heraus. Wangenheim deutete an, dass aus Berlin irgendwann (wahrscheinlich vor längerer Zeit) die Ordre gekommen sei, uns prinzipiell wohlwollend zu behandeln.116 Das gleiche müsste in England erreicht werden. Für England liegen die politischen Argumente ja näher, es muss unsere Kulturarbeit zwischen Egypten und Indien begrüssen. Auch England wird, wie Herr Sokolow |14| jetzt wieder festgestellt hat, sich unseretwegen nicht sehr anstrengen, aber was mit Deutschland zu erreichen war, muss auch dort möglich sein. Das gewährleistet dann, dass man uns nicht stört, nicht gegen uns intrigiert, wie der erste englische Dragoman117 116 Arthur Zimmermann (1864–1940), Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, telegrafierte Botschafter von Wangenheim bereits im August, dass eine schonende Behandlung der russischen Juden im Kriegsfalle im Interesse der türkischen Regierung liege. Im November wies er den deutschen Botschafter nochmals an, dahin zu wirken, »dass Juden ohne Rücksicht auf Nationalität unbelästigt bleiben.« Arthur Zimmermann an Conrad [sic] von Wangenheim, 30. August 1914, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism. 1914–1918, 67 f.; Arthur Zimmermann an Conrad [sic] von Wangenheim, 1. November 1914, in: ebd., 71 f. 117 Dragomane fungierten in den diplomatischen Vertretungen der westlichen Mächte im Osmanischen Reich als Dolmetscher und Übersetzer, insbesondere für die Sprachen Arabisch, Türkisch und Persisch. Als feste Bestandteile der diplomatischen Beziehungen übersetzten sie zwischen den osmanischen Autoritäten und den westlichen Vertretern. Durch ihre profunden Kenntnisse der Region und ihrer Sprachen spielten die Dragomane eine Schlüsselrolle im Wissenstransfer zwischen dem Osmanischen Reich und Europa.

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dies getan hat und uns schützt, wenn etwas Ernstes vorkommt. Wangenheim hat mir direkt gesagt, falls die Zionisten in der Türkei verfolgt würden, würde er sie zu schützen suchen. Das ist nicht viel, aber etwas. Jedenfalls bitte ich dahin zu wirken, dass Dr. Ruppin in dem genannten Sinne mit dem Konsul Schmidt spricht. |15| Es muss aber Ruppin persönlich sein, nicht etwa – ein anderer. Morgenthau: Vor einigen Tagen bat ich Morgenthau, wegen der Vorfälle in Chederah118 zu intervenieren. Er wollte mit Talaat sprechen, der aber erst gestern zurückkam. Er gab mir inzwischen eine Empfehlung an den Wali v. Beirut, der jetzt hier ist. Ich kannte ihn schon, benutzte aber doch die Empfehlung und bat ihn, die Sache zu untersuchen, was der Wali auch versprach. Er fährt diese Woche nach Beirut zurück. Der Grossrabbiner, an den sich die |16| Kolonie gewandt hatte, hat bis jetzt nichts unternommen. Heute bat ich Morgenthau wieder, auch mit Talaat zu sprechen, damit auch dieser dem Wali Auftrag gielbt giebt, die Sache zu untersuchen. Ferner versprach Morgenthau, uns bei der Erwerbung der Telefonkonzession Jaffa – Jerusalem behilflich zu sein. Ich fragte ihn dann, ob er uns nicht zu einem zionistischen Verein hier verhelfen könne. (Darüber hat auch Herr Sokolow mit ihm gesprochen). Er meinte aber, dies sei undiplomatisch, die Türken seien gar nicht so sehr günstig und hätten nach wie vor Misstrauen gegen uns. |17| Dies wunderte mich nicht. Morgenthau meint, wir müssten zeigen, dass wir auch ausserhalb Palästinas kolonisieren wollen, damit die Türkei ihr Misstrauen verliert. Er weiss {jetzt} übrigens, dass der Wali v. Beirut kein bestimmtes Terrain für uns im Auge hat, sondern nur die generelle Idee. Ich möchte darauf hinweisen, dass man sofort von Berlin an den Wali v.  Beirut das ihm von Herrn Sokolow zugesagte Exposé schicken müssen muss, in dem unsere Wünsche, Leistungen und Absichten kurz und übersichtlich dargelegt werden |18| müssen. Naturalisation: Der Grossrabbiner behauptet, der Vertreter Talaats habe vor einigen Tagen eine neue Ordre zugesagt, damit der Kaimakam in Jaffa keine weiteren Schwierigkeiten macht.119

118 Hadera (auch Chadera) wurde 1891 von Mitgliedern der Ḥ oveve Ẓiyon aus Litauen und Lettland als landwirtschaftliche Siedlung in der Nähe von Haifa gegründet. 119 Anfang Juni 1914 hatte die türkische Regierung die zuvor abgeschaffte Aufenthaltsbeschränkung für jüdische Palästinareisende wieder eingesetzt. In der Folge stellten osmanische Konsuln erneut Visen für drei Monate aus und der Ḳāymaḳām in Jaffa erhob bei Einreise eine Pfandgebühr, die die Ausreise nach Ablauf der Frist gewährleisten sollte. Mandel, The Arabs and Zionism Before World War I, 208.

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Araber: Die Araber sind offenbar bereit, mit uns in Cairo u. Beirut zusammenzukommen. Das muss jetzt hier arrangiert werden. Ich denke Dr. Jacobson wird nach seiner Rückkehr die Vorbereitungen treffen. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim P. S. Meine Differenz mit dem Makkabi ist schon beigelegt. Sie war nützlich.

Dokument 12 Richard Lichtheim an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Konstantinopel, 3. Juli 1914 Handschriftlicher Brief, 12 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (nur auf Seite  1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur oben mittig auf Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00150« bis »00161«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftlicher Vermerk am oberen linken Rand von Seite 1 (»IV«) CZA, Z3/49 [Lichtheim berichtet von den zwei wichtigsten arabischen politischen Strömungen und stellt Überlegungen an, wie deren Gunst errungen werden kann. Zudem verweist er auf die kritische Berichterstattung über die zionistische Bewegung in der arabischen Presse und macht Vorschläge, wie dieser begegnet werden könne.] Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {3. Juli [19]14}

An das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Berlin Sehr geehrte Herren! Über unsere Beziehungen zu den Arabern und über die in der nächsten Zeit erforderlichen Schritte möchte ich Ihnen im Zusammenhang folgendes mitteilen: Wie Ihnen bekannt sein dürfte, giebt es unter den politisch-interessierten Arabern (christlichen wie muhammedanischen) zwei Hauptströmungen,

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die als „reformistische“120 und „dezentralistische“121 bezeichnet werden. Die reformistische hat ihren Sitz in Beirut, die dezentralistische in Cairo. Im Grunde sind sich beide sehr ähnlich, nur ist die dezentralistische radikaler und offener arabisch-nationalistisch, weil sie ihren Sitz in Cairo, also fern von der türkischen Regierungsgewalt |2| hat. Ihr Chef ist Refik bey El Azm,122 mit dem Herr Hochberg im vorigen Jahre in Cairo gesprochen hat und der damals ziemlich günstige Erklärungen in den Zeitungen abgab.123 Die Reformisten sind in Beirut und Damaskus konzentriert. Sehr gut organisiert scheint die ganze Bewegung noch nicht, aber Anfänge einer Organisation sind da, u. zwar in Form von Klubs in den genannten Städten. Die Führer stehen auch in Korrespondenz. So hat z. B. Refik bey El Azm hierher an den Redakteur des Peyam Nedjib Chucir124 und an einen anderen Araber berichtet, dass Herr Sokolow herkommen werde und darauf hat Nedjib ihn aufgesucht. Aus Andeutungen ist zu schliessen, dass hinter den Gruppen der |3| Reformisten u. 120 Gegen Ende des Jahres 1912 entwickelte sich in Beirut eine Reformbewegung, die sich bis in den Irak ausbreitete. Getragen wurde die Bewegung hauptsächlich von der von Sálim ʻAlī Salám (1868–1938) gegründeten Beiruter Reformgesellschaft, die eine Verwaltungsreform und weitgehende Autonomie der arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs forderte. Die Reformgesellschaft bestand hauptsächlich aus Christen und Muslimen und hielt auf der Basis arabischer Selbstverwaltung an der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich fest. Sie wurde 1913 von der Zentralregierung in Konstantinopel offiziell zwangsaufgelöst. Jens Hanssen, Fin de Siècle Beirut. The Making of an Ottoman Provincial Capital, Oxford 2005, 73–83. 121 Die Ende 1912 in Kairo gegründete Osmanische Partei für administrative Dezentralisierung forderte eine Reform der osmanischen Provinzverwaltung, um für die arabischen Provinzen eine dezentrale Verwaltung und Autonomie durchzusetzen. Die Partei strebte eine überkonfessionelle Zusammenarbeit von arabischen Christen, Juden und Muslimen an. 122 Rafīq Maḥmūd Al-ʻAẓm Bey (1865–1925) war ein syrischer Historiker, Religionsphilosoph und Politiker. Nach seiner Übersiedelung nach Kairo war er an der Gründung der Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung beteiligt. 123 Ende April 1913 reiste Hochberg im Auftrag der Zionistischen Exekutive nach Kairo und Beirut, um dort mit Vertretern der Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung, darunter Al-ʻAẓm, und der Beiruter Reformgesellschaft in Kontakt zu treten. Die Vertreter der Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung standen laut Hochberg einer jüdischen Einwanderung und einer zionistisch-arabischen Entente aufgeschlossen gegenüber. Al-ʻAẓm bekundete dies auch gegenüber der arabischen Presse. Siehe Mandel, The Arabs and Zionism Before World War I, 154, 157 f. Ein auf den 17. Mai 1913 datierter Bericht Hochbergs über diese Reise ist unter dem Titel Le mouvement arabe in den CZA unter Z3/114 zu finden. 124 Najīb Shuqayr Bey.

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Dezentralisten {bereits} ein geheimes Komitee steht, das die Bewegung leiten und im geeigneten Moment hervortreten soll. Trotz des starken Gegensatzes zwischen christlichen u. muhammedanischen Arabern scheint zur Zeit der dieser Gegensatz durch die national-arabischen Wünsche überbrückt. Was die Araber eigentlich anstreben, ist freilich nicht ganz klar. Alle wollen die nationale Freuh Freiheit und möglichste Selbstständigkeit, aber die Wege der verschiedenen Gruppen differieren erheblich. Die christlichen Syrer neigen zu einer Vereinigung Syriens mit dem Libanon, unter ganzer oder teilweiser Fortlassung Palästinas, das sie eventuell später an das {den} vergrösserten |4| und stark gewordenen Libanon-Staat angliedern möchten. Die Mohammedaner und namentlich die Dezentralisten wollen natürlich nicht die Bildung eines vorwiegend christlich-arabischen Staates. Sie denken an eine Art Gesamtreich für die Araber, das alle arabischen Gegenden (bei grösserer oder geringerer Autonomie der einzelnen Teile) umfassen soll. Diesen {Arabern} wäre natürlich ein selbstständiges Reich das liebste, aber da hierzu vorläufig keine Aussicht ist, so wäre ihnen ein fremdes (englisches) Protektorat auch recht. Unter den Syrern, die früher stark zu Frankreich neigten, ist durch das ägyptische Beispiel die Vorliebe für Englands Verwaltungskunst auch stark im Wachsen. |5| Das ist ungefähr die Situation. Die Führer der verschiedenen Gruppen sind in Beziehung miteinander, alle einigt der Hass gegen die Türken und der Wunsch nach eigener nationaler Entwicklung. Sämtliche Gruppen (resp. ihre Pressorgane [sic]) haben sich in den letzten Monaten sehr lebhaft mit dem Zionismus beschäftigt. Die Zeitungsschreiber sind grossenteils blosse Schreier, die über die zionistische Gefahr zetern, um sich als Patrioten wichtig zu machen. Sie üben aber einen starken Einfluss auf die Jugend, die nach nationaler Betätigung drängt und deren junger Chauvinismus sehr leicht in dem Kampf gegen uns eine |6| solche Betätigung finden kann. Aber auch die Führer beschäftigen sich mit uns. Die einen befürchten die Zurückdrängung des arabischen Einflusses, die andern wollen uns als Spekulationsobjekt benutzen. Es giebt vielleicht vereinzelte Idealisten, die an ein „semitisches Bündnis“ denken, aber eine tatsächliche Hinneigung zu den Juden besteht in grösseren Kreisen nicht. Wenn trotzdem alle Gruppen heute bereit scheinen, mit uns zu verhandeln und ev. eine Entente zu schliessen, so liegt das an der für die arabische Zukunft kritischen Situation: Man will mit uns ein Geschäft machen, das den arabischen Hoffnungen dienlich ist und zugleich auch private |7| Interessen befriedigt. Die einen wollen uns Land verkaufen, die anderen wollen Subventionen haben (Presse!) und alle denken, materielle Vorteile für die arabische Bewegung zu erhalten. Sie hoffen, wir werden ihnen Schulen gründen, oder für andere arabische Zwecke Geld geben.

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Die Sache ist nun so weit gediehen, dass wir etwas unternehmen müssen. Wir haben {seit 1 1/2 Jahren} so viele Besprechungen hier und in Syrien resp. Cairo gehabt, dass eine Zusammenkunft mit den Führern zwecks Herstellung besserer Beziehungen unaufschiebbar geworden ist. Ich nehme an, dass Ihnen die |8| arabischen Presseberichte des Palästinaamts bekannt sind.125 Es geht daraus hervor, dass die grossen arabischen Zeitungen seit Monaten über uns schreiben, entweder offen gehässig, oder mit verstärkter Abneigung. Wirkliche Freunde haben wir (von einer Ausnahme abgesehen) überhaupt nicht. Die früheren angeblichen Freunde (Refik Bey El Azm und Ibrahim Naggiar126) schreiben dauernd gegen uns. Ich habe den Eindruck, dass man durch diese Campagne einen Druck auf uns ausüben wollte, um endlich etwas Konkretes zu bieten. Der „Mukattam“127 hat – nachdem jetzt von allen Seiten die Idee einer gemeinsamen Aussprache |9| acceptiert worden ist, die Polemik mit der Erklärung abgeschlossen, dass er bis zu dieser Aussprache nichts mehr über die Frage bringen werde. Wir müssen also eine Zusammenkunft arrangieren, und zwar bald, da sonst die Pressefehde mit verdoppelter Kraft einsetzen wird. Die grosse Frage ist nun: Was haben wir zu bieten? Über die allgemeinen Ideen unserer Kolonisation wird leicht eine Verständigung erzielt werden, wenn wir etwas Konkretes bieten. Ich bitte aber, sich in diesem Punkte keinen Täuschungen hinzugeben: Mit dem Versprechen, |10| auf die Fellachen etwas 125 1911 gründete das Palästina-Amt in Jaffa eine eigene Presseabteilung unter der Leitung von Abraham Ludvipol (1865–1921), die die Presseberichterstattung zum Zionismus verfolgte. Sein Mitarbeiter Nissim Malul beobachtete die arabische Presse und fertigte regelmäßig Berichte über Artikel, die sich mit dem Zionismus auseinandersetzten, sowie Übersetzungen relevanter arabischer Pressebeiträge an. Seine meist auf Hebräisch verfassten Berichte wurden ins Deutsche und Französische übersetzt und an die zionistischen Büros in Konstantinopel und Berlin versandt. Jonathan Marc Gribetz, Defining Neighbors. Religion, Race, and the Early Zionist-Arab Encounter, Princeton, N. J., 2014, 190 f. 126 Ibráhīm Salīm Al-Najjár (auch Naggiar, 1882–?) war ein libanesischer Journalist. Er war Korrespondent der Kairoer Tageszeitung Al-Mokattam und Mitglied der Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung. Martin Kramer, Arab Awak­ ening and Islamic Revival. The Politics of Ideas in the Middle East, New Brunswick, N. J., 1996, 90. 127 Die Al-Mokattam (auch Al-Muqattam; benannt nach einer Hügelkette im Südosten von Kairo) war eine 1889 in Kairo gegründete Tageszeitung mit pro-britischer Ausrichtung. Unter dem Einfluss von Nissim Malul, dem palästinensischen Korrespondenten der Zeitung in Jaffa, veröffentlichte die Tageszeitung eine Reihe pro­zionistischer Artikel. Zur Haltung der Al-Mokattam siehe Khalidi, Palestinian Identity, 130–133.

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mehr Rücksicht zu nehmen oder Ärzte gegen Trachom128 herumzuschicken, ist gar nichts getan. Daraus machen d sich die Leute sehr wenig. Ich schlage vor, falls sie für Schulen oder andere Zwecke Geld verlangen, ihnen eine bestimmte Summe, z. B. 100–200 000 Frs129 jährlich zu versprechen. Dieses Geld müsste von besonderer Seite aufgebracht werden (Rothschild?), es darf nicht nicht direkt in die „politische Kriegskasse“ gehen, sondern muss {für} einem{n} friedlichen Zweck bestimmt sein. Natürlich geht das nur, wenn {bei} der Zusammenkunft festgestellt wird, dass die tatsächliche Führerschaft der |11| Araber vertreten ist und dass unsere materielle Hilfe von allen Gruppen gutgeheissen wird. Ferner kann man einzelne Führer durch private Vorteile gefügig machen: da sind die Grundbesitzer, die an uns verkaufen wollen, die Konzessionsjäger, die ihre Konzessionen erwerben, um sie uns zu überlassen. Endlich das wichtigste: Die Presse. Diese hat auf die unabhängigen Elemente, die intelligente Jugend, den grössten Einfluss. Sie muss gekauft werden, was mit 20–25 000 Frs jährlich zu machen ist. Hierbei ist von grosser Wichtigkeit, dass wir die Presse vor der geplanten |12| Zusammenkunft gewinnen, damit die Verhandlungen von Seite der Presse erleichtert werden. Auch werden die Redakteure sich scheuen, direkt im Anschluss an die Verhandlungen mit uns ihre Meinung zu ändern. Man muss ihnen vorher {materielle} Zusagen machen, damit sie eine Schonzeit vor den Verhandlungen haben und so allmählich ihre Stellungnahme vorbereiten können. Natürlich sollen sie nicht sogleich offen für uns eintreten, aber sie sollen wissen, dass im Falle des Zustandekommens einer Entente auch für sie etwas herauskommt. Dies ist mein Programm und ich bitte Sie, Ihre Aufmerksamkeit auf diese Sache zu lenken. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

128 Ein Trachom ist eine schwere bakterielle Entzündung des Auges, die zur Erblindung führen kann. Die Krankheit wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verstärkt mit dem Nahen Osten in Verbindung gebracht, während jüdische Ärzte sich deren Bekämpfung widmeten. Anat Mooreville, Oculists in the Orient. A History of Trachoma, Zionism, and Global Health, 1882–1973, Dissertation, University of California, Los Angeles, 2015. 129 Francs.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Dokument 13 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 29. November 1914 Handschriftlicher Brief, 12 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur in unterer linker Ecke von Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00120« bis »00131«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/50 Richard Lichtheim Zionistisches Zentralbüro

Konstantinopel, den {29.XI.[19]14}130 Vertraulich

Sehr geehrte Herren! Wie ich Ihnen schon schrieb, hatte ich zwei Unterredungen mit Dr. Weber,131 dem I. Dragoman der deutschen Botschaft. Ich habe dabei festgestellt, dass die Unterredungen, die ich früher bei mit Herrn v. Mutius hatte sowie die Memoranden, die ich Herrn v.  Mutius und kürzlich im Auswärtigen Amt Herrn v. Rosenberg132 gegeben habe,133 in der Botschaft einen gewissen Ein130 Lichtheim war Ende August 1914 mit seiner Familie nach Deutschland gereist, da er sich als Wehrpflichtiger zum Kriegsdienst zu melden hatte. Er wurde jedoch zunächst für einige Wochen beurlaubt und kehrte Mitte November nach Konstantinopel zurück. Zu Beginn des Jahres 1915 wurde er schließlich für die Dauer des Kriegs vom Militärdienst freigestellt. Mitte 1916 wurden sämtliche dieser unbefristeten Freistellungen aufgehoben und mussten alle drei Monate bei der deutschen Botschaft neu beantragt werden. Lichtheim, Rückkehr, 260–262, 368. 131 Theodor Georg Weber (1872–1956) war ein deutscher Jurist, Übersetzer und Diplomat. Er war von 1911 bis 1917 Dragoman der Deutschen Botschaft in Konstantinopel und laut Lichtheim dort zuständig für zionistische Belange. Von 1917 bis 1918 war er deutscher Konsul in Smyrna. 132 Frederic »Hans« von Rosenberg (1874–1937) war ein deutscher Diplomat und Politiker. Von 1911 bis 1918 leitete er das Referat für die Türkei, Bulgarien und Griechenland in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts und war Mitarbeiter des Staatssekretärs Arthur Zimmermann. Von 1918 bis 1919 leitete er die Politische Abteilung im Auswärtigen Amt und fungierte von 1922 bis 1923 unter Reichskanzler Wilhelm Cuno (1876–1933) als Außenminister. 133 Im Zuge seines Aufenthalts in Deutschland traf Lichtheim am 2.  November 1914

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druck hinterlassen haben. Das geht daraus hervor, dass Dr. Weber kürzlich Herrn Hochberg den Wunsch aussprach, mich kennen zu lernen, dass er über meine Unter-|2|haltungen mit Mutius auch inhaltlich informiert war und dass er das Memorandum, welches ich Herrn v. Rosenberg gegeben habe, immer vor sich hatte, wenn ich mit ihm sprach. Nach meiner gestrigen Unterredung ist mein Eindruck verstärkt, dass der Moment gekommen ist, mit der deutschen Regierung ernste Politik zu machen. Ich habe (ähnlich wie gegenüber Herrn v. Mutius, nur noch schärfer) betont, dass wir keine deutsche, sondern eine internationale, rein jüdische Bewegung sind; |3| dass es sich bei uns nicht (wie bei Alliance134 oder Hilfsverein) um die Gründung einiger Schulen handelt, die zugleich als politisches Instrument einer Macht dienen sollen; dass es sich vielmehr um etwas grosses und zukunftsreiches handelt, das zunächst mit deutschen Interessen nichts zu tun hat, von einem höheren politischen Standpunkt aber das grösste Interesse der deutschen Regierung finden sollte. Wir wollen am Ostrande des Mittel-|4|meeres ein modernes Kultur- und Wirtschaftszentrum schaffen, das direkt u. indirekt eine Stütze des Deutschtums sein wird; ich habe alle Argumente angeführt (deutsche Sprach- u. Wirtschaftsinteressen{beziehungen} der Juden, ihre türkenfreundliche Gesin­ nung, Gegengewicht gegen die Araber, internationaler Einfluss auf Presse u. Finanzen, Dankbarkeit aller Juden, z. B. in Amerika, gegen Deutschland, wenn dieses uns stützt, politische Bedeutung eines Kulturstützpunktes für Deutschland als der künftigen Vormacht im nahen Orient). |5|  Ich schreibe Ihnen das alles, damit wir hier u. in Berlin dasselbe sagen (siehe mein Memorandum an Rosenberg). Es ist möglich, dass Herr Prof. Warburg in einiger Zeit vom Auswärtigen Amt ersucht wird, über die Frage zu berichten. Es ist absolut erforderlich, unsere Sache in dem Stil u. mit den Argumenten zu vertreten, wie ich dies hier tue. Es ist vor allem nötig, die Regierung zu überzeugen, dass es sich um eine grosse Zukunftssache Rosenberg und überreichte ihm ein Memorandum, das derselben Argumentation folgte, wie das an von Mutius gerichtete (Dokument 4). Lichtheim, Rückkehr, 261. Das Memorandum an Rosenberg sowie ein Protokoll der Unterredung zwischen Lichtheim und Rosenberg befindet sich in CZA, Z3/11. Beide Dokumente sind dort auf den 2. November 1914 datiert. Das Memorandum Lichtheims an das Auswärtige Amt ist außerdem abgedruckt in Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 73–75. Hier ist es allerdings auf den 3. November 1914 datiert. 134 Die Alliance Israélite Universelle ist eine 1860 in Frankreich gegründete jüdische, nichtzionistische Organisation, deren Ziel es war, die jüdische Emanzipation weltweit voranzutreiben. Zu diesem Zweck unterhielt sie im Osmanischen Reich ein weitreichendes Netz an jüdischen Bildungsreinrichtungen. Carsten L. Wilke, Art. Alliance Israélite Universelle, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 1, 42–50.

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handelt und dass unsere |6| {Prinzipien} im Gegensatz zur Prinzipienlosigkeit der Assimilation als Grundlage einer grossen Ansiedlung richtig u. notwendig sind. Auf diesem Wege können wir uns ernste Beachtung schaffen und den Gegeneinfluss, der unzweifelhaft früher oder später vom Hilfsverein und ähnlichen Kreisen zu unserem Schaden ausgeübt werden wird, paralysieren. Das ist möglich und der einzige Weg, der sich mit den |7| Pflichten verträgt, die die Leitung einer internationalen Bewegung hat. Bodenheimer135 u. Genossen haben diesen Weg verlassen und arbeiten mit den Methoden der deutschen Assimilation: Herandrängen an die Regierung, künstlich eine Identität der deutschen u. jüdischen Interessen konstruieren (während es sich nicht um Identität, sondern um politische Gemeinschaft der Interessen an sich verschiedenen Interessen |8| handelt), Anbietung von kleinen Diensten u. Forderung kleiner Gegendienste.136 Mit dieser Methode wird nichts Dauerndes erreicht werden, höchstens ein gewisser verächtlicher Unwille über die Zionisten, die sich von {vor} den Assimilanten, durch erhöhte Zudringlichkeit auszeichnen. Ich bin auf diese 135 Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) war ein deutscher Jurist und zionistischer Funktionär. Er nahm am ersten Zionistenkongress teil und begleitete Herzl 1898 auf seinen Reisen nach Konstantinopel und Jerusalem. Zudem war er von 1897 bis 1921 Mitglied des Großen Aktionskomitees der Zionistischen Organisation, von 1897 bis 1910 Vorsitzender der ZVfD und von 1907 bis 1914 Präsident des Jüdischen Nationalfonds (Keren Kayemeth LeIsrael), der 1901 zum Zweck des Landkaufs und der Landentwicklung in Palästina gegründet worden war. 136 Lichtheim spielt hier auf das von Bodenheimer gemeinsam mit Franz Oppenheimer (1864–1943), Adolf Friedemann (1871–1932) und anderen Zionisten kurz nach Kriegsbeginn gegründete Deutsche Komitee zur Befreiung der russischen Juden (ab Herbst 1914: Komitee für den Osten) an, das die Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in den im Laufe des Kriegs von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzten russischen Gebieten zum Ziel hatte. Von Anfang an hatte sich das Komitee stark mit den deutschen Kriegszielen identifiziert und eng mit der deutschen Regierung zusammengearbeitet. Es propagierte und förderte eine Kongruenz von deutschen imperialen Kriegszielen und den Interessen der jüdischen Bevölkerung Osteuropas. Einige der führenden Zionisten im Komitee kritisierten dessen prodeutsche Haltung, da sie eine Schwächung der zionistischen Position bei den Alliierten und den neutralen Ländern befürchteten und zudem die Sicherheit der Juden im zaristischen Russland bedroht sahen. Im Laufe des Kriegs distanzierte sich zunehmend auch die deutsche Regierung vom Komitee. Nach Kriegsende wurde es aufgelöst. Jehuda Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus. 1882–1933, Tübingen 1981, 148–151; Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 126–138.

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Frage zurückgekommen, weil ich fürchte, dass die Herren aus der Behren­ str.137 noch immer ihre falsche |9| Politik treiben. Ich kann mit Rücksicht auf das, was hier bei der Botschaft eingeleitet ist, nur immer wieder raten, die Behrenstrassenleute völlig auszuschalten, da sie von unserer Politik nichts verstehen. Ich habe auch hier wieder ganz zufällig gehört, dass ein konservativer Politiker von dem schlechten Eindruck gesprochen haben soll, den Bodenheimer im Ausw.138 Amt hinterlassen hat. Ich kann das nicht kontrollieren, da aber der Herr, der |10| mir das sagte, sich dergleichen nicht aus den Fingern saugen kann, zumal ich ihn gar nicht danach gefragt hatte, weil ich gar nicht wusste, dass er über die Sache informiert sei – so muss wohl etwas daran sein. Im übrigen hat ja Dr. Jaeckh139 etwas Ähnliches gesagt. Die wichtigste Aufgabe ist jetzt die Ausarbeitung eines Memorandums.140 Dr. Weber hat natürlich sofort darum gebeten, ich habe aber gesagt, ich wolle nichts persönliches, sondern zur gegebenen Zeit etwas |11| offizielles überreichen. Ich erwarte mit Ungeduld Dr. J. damit ich abreisen kann und damit 137 Sitz des Komitees für den Osten in Berlin. 138 Auswärtigen. 139 Ernst Jäckh (1875–1959) war ein deutscher Publizist und Hochschullehrer. Ab 1914 gab er die Zeitungen Das Größere Deutschland und (gemeinsam mit Paul Rohrbach; 1869–1956) Deutsche Politik heraus. Er propagierte ein deutsches Bündnis mit dem Osmanischen Reich als entscheidenden Faktor für einen deutschen Sieg im Ersten Weltkrieg und eine zukünftige Weltmachtstellung Deutschlands. Im Zuge dessen bemühte er sich um eine Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen und betrachtete Juden dabei als geeignetes Bindeglied zwischen »Orient« und »Okzident«. Die deutschen Zionisten unterhielten intensive Kontakte zu ihm und anderen deutschen Orient-Experten wie Paul Rohrbach, die eine Unterstützung der jüdischen Ansiedlung in Palästina befürworteten. 1915 lud ihn das zionistische Kartell Jüdischer Verbindungen ein, im Rahmen einer Vortragsreihe über »Deutsche Weltpolitik und türkische Entwicklung« zu sprechen. Anonymus, Deutsche Weltpolitik und Türkische Entwicklung, in: Jüdische Rundschau, 26. März 1915, 105. Siehe Ernst Jäckh, Die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft, Stuttgart / Berlin 1915. 140 Im Winter 1914 arbeitete Lichtheim an einem umfangreichen Memorandum, das in die zionistische Ideenwelt einführte und für die Unterstützung des Zionismus durch die deutsche Regierung warb. Am 30. Januar 1915 übergaben Lichtheim und Jacobson die »Denkschrift über die zionistische Bewegung« der Deutschen Botschaft in Konstantinopel und am 24. März 1915 sandte Botschafter von Wangenheim die Schrift an Reichskanzler Theobald von  Bethmann Hollweg (1856–1921). CZA, Z3/51, Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. Januar 1915; Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 330. Das Begleitschreiben von Wangenheims an von Bethmann ­Hollweg ist abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 129 f.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

er die Verhandlungen weiter führt.141 Ich würde raten, jetzt in Berlin sehr zurückhaltend zu sein. Gelingt es, die Botschaft prinzipiell für den Gedanken zu gewinnen, dass der Zionismus nicht nur ein „gewisses Wohlwollen“ u. „von Fall zu Fall“ (nämlich wenn direkte deutsche Interessen in Frage kommen) eine gewisse Unterstützung verdient – sondern dass |12| die ganze Bewegung unter grösseren politischen Gesichtspunkten (innerpolitischen und ausserpolitischen) für Deutschland wichtig ist, so kann von hier aus eine Aktion in Berlin vorbereitet werden. In diesem Falle würden nicht wir an das Ausw. Amt, sondern das Ausw. Amt an uns herantreten, und das wäre ein grosser Gewinn. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 14 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 18. Dezember 1914 Handschriftlicher Brief, 8 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00062« bis »00069«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/50 Richard Lichtheim Zionistisches Zentralbureau142

Konstantinopel, den {18.XII.[19]14} wichtig

141 Lichtheim war Mitte November ohne seine Familie nach Konstantinopel zurückgekehrt, da er damit rechnete, nach Ablauf seiner Beurlaubung vom Kriegsdienst in Konstantinopel von Jacobson abgelöst zu werden und nach Berlin zurückzukehren. 142 Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs bekräftigte das Große Aktionskomitee in einer Sitzung vom 3. bis 6. Dezember den Grundsatz der Neutralität der Zionistischen Organisation. Um dies zu unterstreichen beschloss das GAC eine Zweigstelle der Exekutive unter der Leitung Simon Bernsteins (1884–1962) und Martin Rosenblüths (1886–1963) in Kopenhagen zu etablieren, während das Zentralbüro unter der Leitung Warburgs, Hantkes und Jacbsons in Berlin belassen wurde. Während des

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Dokument 14

Sehr geehrte Herren! Die Depesche, die ich heute Mittag von Ruppin erhielt,143 lautet: Korpskommandant144 hat die hiesige Lokalregierung145 aufgefordert, alle russischen Juden146 sofort nach Ägypten transportieren [sic]. Schiff wird morgen erwartet. Viele tausend Juden köonnten aus Mangel an Geld bisher noch nicht Ottomanen werden, sind aber zur Naturalisation bereit stop.147 Bitte deutschen Kriegs hielt sich Sokolow die meiste Zeit in London, Tschlenow in Moskau und Levin in New York auf. Lichtheim stand weiterhin hauptsächlich mit dem Büro in Berlin in Kontakt. 143 Arthur Ruppin, Leiter des Palästina-Amts in Jaffa, informierte Lichtheim am 17. Dezember 1914 telegrafisch über den am selben Tag ergangenen Befehl Cemal Paschas an den Ḳāymaḳām von Jaffa, sämtliche russische Juden, die seit dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg aufseiten der Mittelmächte als feindliche Ausländer galten, nach Ägypten auszuweisen. Lichtheim erreichte die Depesche allerdings erst am 18. Dezember 1914. 144 Ahmet Cemal Pascha (1872–1922) war ein jungtürkischer Offizier und Politiker. Nach dem Militärputsch von 1913 stieg er in den engsten Führungszirkel der Jungtürken auf und formte gemeinsam mit Talât Pascha und Enver Pascha ein Trium­virat, das mit nahezu diktatorischen Vollmachten regierte. Im Februar 1914 wurde er zum Marineminister ernannt, allerdings kurz nach Kriegsausbruch faktisch aus der jungtürkischen Regierung gedrängt und im November 1914 als Generalgouverneur von Syrien, Palästina und Hedschas nach Damaskus entsandt, wo er gleichzeitig das Kommando über die dort stationierte 4. Armee des Osmanischen Reichs übernahm. In Syrien und Palästina suchte Cemal Pascha sowohl arabische als auch jüdische nationale Bestrebungen gewaltsam zu unterdrücken und handelte oft unabhängig und entgegen den Anweisungen aus Konstantinopel. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs flüchtete er 1918 zunächst nach Deutschland und von dort in die Schweiz. 1919 wurde er in Konstantinopel für seine Rolle im Völkermord an den Armeniern in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1922 starb er bei einem Attentat von zwei Armeniern, die damit Rache für den Genozid üben wollten. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 211 f. 145 Gemeint sind der Ḳāymaḳām von Jaffa Baháʼ Al-Dīn (auch Beha-ed-Din) und der Militärkommandant Ḥ asan Al-Basṛ ī Al-Ghábī Bey. 146 Von den rund 60 000 Juden Palästinas im Jahr 1914 waren mehr als ein Drittel ausländische Juden, wobei der überwiegende Anteil russischer Herkunft war. McCarthy, The Population of Palestine, 19–24. 147 Auf Betreiben des Oberrabbiners Chaim Nahum hatte das osmanische Innenministerium bereits Ende August 1914 zugesagt, die unverzügliche Masseneinbürgerung aller nichtosmanischen Juden zu ermöglichen. Auch die Bestimmung, dass ein mindestens fünfjähriger Aufenthalt im Osmanischen Reich der Einbürgerung voraus­gehen müsse, wurde fallengelassen. Die Kosten für die Naturalisierung lagen

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und amerikanischen Botschafter intervenieren  [sic] damit Juden Frist zur Aufbringung der Mittel für Ottomanisierung gegeben wird. Grossrabbiner benachrichtigt. Ruppin. |2|  Ich schrieb {sogleich} dem deutschen Botschafter, dass ich ihn in einer dringenden Sache sprechen möchte, ging mit dem Brief in die Botschaft u. wurde sofort empfangen. Der Botschafter war sehr zuvorkommend, liess Dr. Weber rufen u. wir besprachen die Sache. An sich ist die Nachricht etwas mysteriös. Wie kann man Tausende von Leuten nach Ägypten schicken? Werden die Engländer sie nehmen?148 Der Botschafter meinte, Djemal Pascha, der dort unten kommandiert, sei ein Fanatiker, der Dummheiten mache. Vielleicht ist es ein Schreckschuss, |3| um {die Naturalisation zu beschleunigen und so} Geld zu bekommen. Der Botschafter versprach jedenfalls, sogleich zu intervenieren und beauftragte Dr. Weber, sich mit Talaat in Verbindung zu setzen u. dem deutschen Konsul in Jaffa zu drahten. Es ist leider heute Freitag, was den Verkehr mit den Türken schwierig macht. Im Anschluss an diese Sache sprach ich dann mit dem Botschafter allgemein über unsere Sache. Er fragte, ob ich Deutscher sei und meine Antwort, dass ich ihn in Berlin geboren sei, befriedigte ihn sichtlich. Dann fragte er, wie ich mit dem |4| Grossrabbiner stände. Ich sagte: persönlich gut. Darauf erzählte er, der Grossrabbiner habe gesagt, er sei auch Zionist, er sei nur gegen die „territorialen Ziele“. Sie sehen, dass meine früher ausgesprochene Vermutung, dass der Rebbe uns etwas verleumden wird, richtig war. Ich sagte, alle politische Machtspielerei liege uns fern, wir wollten auch, dass die Juden nach anderen Teilen der Türkei auswandern. Darauf sagte der Botschafter: „Nun, dann wir sind ja vollständig Bundesgenossen.“ Ich fügte hinzu, dass natürlich die |5| Einwanderung nach Palästina völlig unbehindert sein müsse, denn eine Einwanderung nach der Türkei mit Beschränkungen für Pal. sei vom jüdischen Standpunkt unmöglich. Er stimmte dem zu. Ich werde die Sache natürlich unter so günstigen Umständen weiter betreiben, aber wie bisher: zurückhaltend und vorsichtig. Es kommt jetzt alles darauf an, den Leuten unsere Grundprinzipien klar zu machen. Sonst verbei 40 Ltq. Als nach Abschaffung der Kapitulationen, hierbei hatte es sich um Privilegien des Sultans gehandelt, die u. a. regelten, dass fremde Staatsbürger weiterhin den Gesetzen ihrer Herkunftsländer unterworfen waren, und mit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs im Oktober 1914 kaum Naturalisationsgesuche gestellt worden waren, ordnete Cemal Pascha an, dass sich sämtliche nichtosmanischen Juden unverzüglich zu naturalisieren hätten. 148 Ägypten war von 1882 bis 1922 unter britischer Kontrolle, blieb aber formal weiterhin dem Osmanischen Reich zugeordnet.

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Dokument 14

fallen sie leicht in den Hilfsvereinsstandpunkt: Einwanderung gut, aber alles |6| muss verdeutscht werden. Natürlich ist es leichter, die nationalen Forderungen zu verstecken u. nur von unseren Diensten für Deutschland zu reden. Aber eine solche Politik würde {nur} zu Augenblickserfolgen führen und sehr bald würden wir von anderen Gruppen im Judentum in den Augen {bei} der Regierung verdächtigt werden. Es muss jetzt nachdrücklich klar gemacht werden, warum nur die nationale Basis für eine allgemeine Judenpolitik in Betracht kommt und ### aus welchen innerpolitischen u. äusseren politischen Gründen die |7| nationale Basis für Deutschland erwünscht ist. Ich bitte Sie sehr dringend, dafür zu sorgen, dass in dieser wichtigen Zeit die Politik in den Händen des EAC bleibt und nicht durch sachliche u. persönliche Missgriffe übereifriger Gesinnungsgenossen geschädigt wird. Alles spricht dafür, dass mein Plan gelingt: Die Botschaft so zu erwärmen, dass von hier die entscheidende Initiative kommt. Das würde {im Auswärtigen Amt} hundertmal stärker wirken, als die in Berlin selbst bisher getanen Schritte, die zwar auch nützlich waren (ich meine die Unterredungen von Prof. Warburg mit Zimmermann,149 meine mit Rosenberg u. die Interessierung Jaeckhs durch Bodenheimer u. Dr. Jacobson) |8| aber noch nicht zu einer grundsätzlichen Förderung des Zionismus führten. Ich bitte Sie, in Berlin so zu arbeiten, dass eventuelle Vorschläge der hiesigen Botschaft einen zwar vorbereiteten, aber noch nicht durch die Bodenheimersche Beredsamkeit völlig erschöpften Boden finden. Beim Abschied war der Botschafter sehr liebenswürdig, sagte: „Ich bin stets sehr gerne zu Ihren Diensten“ etc. pp. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim Ich gehe jetzt zu Morgenthau, um u ihn zu fragen, ob er etwas weiss u. ihn ev. zu informieren. Eine Demarche soll er nicht machen, da Wangenheims Intervention genügt! 149 Arthur Zimmermann (1864–1940) war von 1913 bis 1916 Unterstaatssekretär und von 1916 bis 1917 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Seit Beginn des Kriegs suchten die deutschen Mitglieder des Berliner EAC-Büros, Otto Warbug und Arthur Hantke, wiederholt Kontakt zum Auswärtigen Amt in Berlin, um die deutsche Regierung um den Schutz des jüdischen Palästina zu ersuchen und um sie zu überzeugen, dass dies den deutschen Kriegsinteressen nützlich wäre. Bei Zimmermann stießen sie mit ihrem Anliegen auf Interesse.

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Dokument 15 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 24. Dezember 1914 Handschriftlicher Brief, 8 Seiten sowie 2 ergänzende Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00033« bis »00040« bzw. »00031« bis »00032«) oben rechts auf jeder Seite; die ersten 8 Seiten mit handschriftlicher Paginierung, die letzten zwei Seiten unpaginiert CZA, Z3/50 [Lichtheim schildert den Ablauf der Ereignisse, die der am 17. Dezember 1914 erfolgten Deportation der russischen Juden vorausgingen. Er empfiehlt Presseberichte über die Vorgänge zu lancieren. Zudem fasst Lichtheim Gespräche zusammen, die er in der amerikanischen und deutschen Botschaft geführt hat.] Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {24.XII.[19]14}

Zionistisches Zentralbureau Sehr geehrte Herren! Soeben drahtete ich Ihnen: „Briefe 15 heute erhalten. Erklärung Schwierig­ keiten Überweisung für Bank unverständlich, vergleichet Henrys150 Vorschläge. Turm151 benötigt Passvisum durch türkisches Konsulat, besser Botschaft. Befinden gut (d. h. verabredungsgemäss: habe bei deutscher Botschaft veranlasst, dass J.152 an der Grenze keine Schwierigkeiten hat) stop. Aus Jaffa 800 Freunde auf Veranlassung Korpskommando Donnerstag vor Eintreffen Arthurs Depesche153 verschickt, nachdem kurze Frist zur Naturalisation abgelaufen.“ Wie ich Ihnen schon mitteilte, erhielt ich Freitag d. 18. mittags eine De­ pesche Ruppins vom 17., |2| wonach die Ausweisung der russ. Juden aus Jaffa angeordnet sei. Die hier sofort eingeleitete Aktion führte zu einer Gegen-

150 Henry Morgenthau. 151 Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Decknamen für Victor Jacobson, der in der telegrafischen Korrespondenz zwischen dem zionistischen Büro in Konstantinopel und dem in Berlin verwendet wurde. 152 Jacobson. 153 Siehe Dokument 14.

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Dokument 15

ordre, es war aber für einen Teil der Juden schon zu spät.154 Von Ruppin habe ich seit seinem {ersten} Telegramm keine Nachricht, obwohl ich 3 mal dringend depeschiert habe. Es scheint, dass man meine oder seine Telegramme nicht durchlässt. Ich komme eben von der deutschen Botschaft und erfahre erfuhr dort laut Bericht des deutschen Konsuls155 folgendes: Den Juden war eine kurze Frist zur Naturalisation gestellt worden, die aber {selbst} nach Angabe der türkischen Lokalbehörden zu kurz war, um die nötigen Bureauarbeiten zu bewältigen. |3|  Nach Ablauf der Frist erging unvermutet von Djemal Pascha, dem Korpskommandanten (einem bornierten Fanatiker) der Befehl, die russ. Juden aus allen Hafenplätzen auszuweisen. Ruppin wandte sich {durch Vermittlung des Konsuls} an einen deutschen Offizier in Jerusalem, doch konnte er nichts erreichen. Der Kaimakam von Jaffa,156 der sich sehr schlecht benommen zu haben scheint, soll erklärt haben, Djemal habe ihm die Ausführung seines Befehles befohlen, selbst für den Fall, dass der Grossvesier einen gegenteiligen Befehl erteile. Da man gerade ein Schiff erwartete, so griff der Kaimakam noch schon am Donnerstag d. 17. (also an |4| dem Tage, an welchem Ruppin seine Depesche {an mich} absandte) eine grössere Menge von Juden auf und liess sie auf das Schiff bringen. Wie der Konsul weiter berichtet, sind weitere Verschickungen nicht zu erwarten, da inzwischen Gegenordre kam – vermutlich infolge der hier getanen Schritte. Das ist die unerfreuliche Sachlage. Schuld trägt vor allem Djemal Pascha u. der Kaimakam. Ich glaube, es kann nichts schaden, wenn Sie den ganzen Sachverhalt publizieren und möglichst verbreiten, wobei folgende Punkte aber scharf hervorzuheben sind:157 |5| 1) Das A. C. hat schon seit Wochen verschiedene diplomatische Schritte zum {Schutz der russ. Juden} unternommen. Diese Schritte waren erfolgreich: 154 Von Wangenheim intervenierte, direkt nachdem er von Lichtheim über die Ereignisse in Jaffa informiert worden war, bei Innenminister Talât Pascha, der den Deportationsbefehl durch den Großwesir aufheben ließ. 155 Johann Brode. 156 Baháʼ Al-Dīn war seit Oktober 1914 Distriktgouverneur (Ḳāymaḳām) von Jaffa. Er stand der jüdischen Einwanderung nach Palästina ablehnend gegenüber und erklärte schon bei seinem Amtsantritt seine Gegnerschaft zum Zionismus. Nach seiner Absetzung durch die osmanische Zentralregierung im Februar 1915 wurde er zum Adjutanten und politischen Berater Cemal Paschas. Friedman, Germany, Turkey and Zionism, 1897–1918, 197 f. 157 Gesamter Absatz auf linker Marginalie mit rotem Stift angestrichen.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Die türkische Zentralregierung bewies Wohlwollen, indem sie speziell für die Juden eine Naturalisation en masse ohne weiteres gestattete (ohne 5-jährige Frist etc.). {Diejenigen, welche Russen blieben, sind seitens der Regierung nirgends behelligt worden.} 2) Wenn zahlreiche Juden in Pal. sich noch nicht naturalisiert haben, so liegt dies an den Kosten (40 Frs {Ltq}158 pro Person). 3) In Bei dem erwähnten Vorfall haben die Vertreter des A. C. in Pal. u. Constantinopel alles erdenkliche getan. Die Anordnung, {welche zu den Tendenzen der Regierung im Widerspruch steht,} kam aber so überraschend und wurde so schnell ausgeführt, dass die eingeleiteten Schritte für einen Teil der |6| Bevölkerung zu spät kamen. Der Vertreter des A. C. in Constantinopel erreichte zwar mit diplomatischer Unterstützung innerhalb 24 Stunden einen Gegenbefehl, der weiteres Unheil abwendete, aber 800 Juden waren schon verschickt.159 In diesem Stil könnte die Sache publiziert werden (Amerika!): mit Angriffen auf Djemal, rühmender Erwähnung der Zentralregierung und Andeutung der deutschen Unterstützung. (In Amerika könnte die deutsche Unterstützung offener betont werden.) 2) Warum der Trust160 aus London oder Russland keine Gelder an die Standard Oil in New York überweisen kann, ist mir noch immer unklar. |7| Ich würde doch empfehlen, dass Sie von Herrn Kann161 entschieden ausführliche Aufklärung fordern. Das Benehmen der Bankleitung ist unbegreiflich. 158 Als Korrektur mit anderem Stift eingefügt, ohne das vorige »Frs« zu streichen. 159 Einige hundert russische Juden wurden aus Palästina nach Ägypten verbracht, bevor der Deportationsbefehl durch den Großwesir aufgehoben wurde. In der Forschungsliteratur schwanken die Angaben: Morris gibt 700 Deportierte an (Morris, Righteous Victims, 85). Laut McCarthy wurden 600 russischen Juden ausgewiesen (McCarthy, The Population of Palestine, 20). Zechlin übernahm die Angabe Lichtheims (Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 318). 160 Der 1899 in London gegründete Jewish Colonial Trust (Jüdische Kolonialbank) war das erste Finanzinstitut der Zionisten zum Zweck der Finanzierung der zukünftigen Kolonisation. 161 Jacobus Henricus Kann (1872–1944) war ein niederländischer Bankier und Gründer der Zionistischen Organisation in den Niederlanden. Er war 1899 maßgeblich an der Gründung des Jewish Colonial Trust beteiligt und langjähriges Mitglied des Direktoriums. Zudem war er Vorsitzender des Aufsichtsrats der Anglo-Palestine Company, die 1902 als Tochtergesellschaft des Jewish Colonial Trust gegründet worden war und aus der 1951 die Bank Le’umi le-Yisra’el (Nationalbank für Israel) hervorging. Von 1905 bis 1911 war Kann Mitglied des Engeren Aktionskomitees. Mordechai Eliav, Jacobus Kann as a Zionist Leader, in: Dutch Jewish History 1 (1984), 491–507.

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Dokument 15

3) Der Zugverkehr ist wieder mal unterbrochen. Ich befürchte, ich werde noch Schwierigkeiten haben. 4) Mit Dr. Weber hatte ich heute ein interessantes Gespräch. Er hat meine Broschüre162 gelesen (von der auf dem Posner Delegiertentag163 behauptet wurde, sie sei Verrat am politischen Zionismus). Er meinte {leider!}, die nationalen Zukunftsziele gingen doch mit kaum verhüllter Deutlichkeit daraus hervor. Ich beruhigte ihn hierüber durch den Hinweis, dass es sich um eine Agitationsschrift handle, dass Herzls Judenstaatsprogramm nur die letzte theoretische Konsequenz sei, |8| dass wir nach 200 Jahren vielleicht wirklich einen Judenstaat haben würden, dass diese Möglichkeit aber {zunächs für 50–100 Jahre} keine praktisch-politische sei und daher von uns nicht erstrebt werde. Das begriff er. Ich gab ihm dann mein Memorandum, zunächst als Privatlektüre, um seine Ansicht zu hören. Wenn es ihm gefällt, werde ich mit Dr. J. über die formelle Einreichung beraten. 4)  [sic] Der Erfolg von Straus164 beim deutschen Botschafter in Amerika165 ist erfreulich u. nützlich. Ceterum censeo Behrenstrasse esse delendam.166 Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim 162 Richard Lichtheim, Das Programm des Zionismus, Berlin 1911. 163 Der 13.  Delegiertentag der deutschen Zionisten, der vom 26. bis 28.  Mai 1912 in Posen stattfand, war geprägt von einem Richtungskampf zwischen politischen Zionisten, die sich auf Propaganda und Diplomatie fokussierten und praktischen Zionisten, die in der Aufbauarbeit in Palästina den Kern zionistischer Arbeit sahen. Letztere konnten sich auf dem Delegiertentag durchsetzen. Es wurde eine Resolution verabschiedet, die die Übersiedlung nach Palästina zur Lebensaufgabe eines jeden Zionisten erklärte. 164 Isaac Straus war ein aus München stammender deutsch-amerikanischer Zionist. Während des Ersten Weltkriegs war er im Auftrag des Komitees für den Osten in Amerika, um dort die deutschfreundliche Stimmung innerhalb der jüdischen Bevölkerung zu fördern. Gleichzeitig stand er in engem Kontakt mit der Deutschen Botschaft in Washington und beriet Botschafter Johann von Bernstorff (1862–1939) in jüdischen Angelegenheiten. Ab 1916 war er Mitherausgeber des American Jewish Chronicle. Sarah Panter, Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2014, 86 f., 155. 165 Johann Heinrich Graf von Bernstorff (1862–1939) war ein deutscher Diplomat und von 1908 bis 1917 Botschafter Deutschlands in den Vereinigten Staaten von Amerika. 166 »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Behrenstrasse zerstört werden muss.« In Anlehnung an »Ceterum censeo Carthaginem delendam esse.« (»Im Übrigen bin ich

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Feynier167 ist freigelassen, man hat nichts Belastendes bei ihm gefunden. [|9|] Zionistisches Zentralbüro In Ergänzung des beiliegenden Briefes bemerke ich noch, dass ich heute bei Morgenthau war, u ihn über die Vorfälle in Jaffa informiert und ihn gebeten habe, mit Talaat zu sprechen, um sich zu überzeugen, ob auch wirklich die Gegenbefehle erteilt worden sind, von denen die Deutsche Botschaft mir Mitteilung gemacht hatte, und so weiteres Unheil zu verhüten. Mit Dr. Weber habe ich im Verlaufe des heutigen Gesprächs unsere Sache wieder prinzipiell erörtert. Anfangs wollte er wieder darauf hinaus, dass man uns „von Fall zu Fall“ fördern wolle, „wenn deutsche Interessen vorliegen“. Er beginnt aber einzusehen, dass sich damit nichts anfangen lässt. Ich sagte ihm, unsere Sache müsse eben im Ganzen und grundsätzlich gefördert werden. Darauf machte er das interessante Zugeständnis, dass [|10|] dieses grundsätzliche Abkommen ja zwischen uns – d. h. zwischen der deutschen Regierung und den zionistischen Instanzen – getroffen werden könne; nur scheine es ihm schwierig, dies der türkischen Regierung gegenüber zu dokumentieren. Ich sagte ihm, dass wir ganz bestimmte Forderungen hätten und verwies ihn auf mein Memorandum, das er in diesen Tagen vor meiner Abreise studieren will. Montag d. 28. werde ich wieder mit ihm eine Besprechung haben. Dienstag oder Mittwoch werde ich abfahren. (Hoffentlich!!) Der Vorfall in Jaffa geht mir nicht aus dem Kopf. Ich hätte es verhindern können, wenn ich es 48 Stunden früher gewusst hätte. Mit Zionsgruss ergebenst Richard Lichtheim



der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.«), ein dem römischen Politiker und Schriftsteller Marcus Porcius Cato dem Älteren (234–149 v. d. Z.) zugeschriebener Ausspruch. 167 Feynier war laut Lichtheim zwischenzeitlich Leiter der Redaktion des Le Jeune Turc. Lichtheim, Rückkehr, 216.

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Dokument 16

Dokument 16 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 26. Dezember 1914 Handschriftlicher Brief, 5 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00023« bis »00027«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/50 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {26.XII.[19]14}

Zionistisches Zentralbureau Sehr geehrte Herren! 1) „[…]“168 2) Thon169 drahtete mir gestern folgendes: „Nach bisherigen Feststellungen am 17. mindestens 600 Personen, wahrscheinlich 800 ausgewiesen; im Tumult mitkamen viele Kinder ohne Eltern und umgekehrt; italienischer Konsul will nur christlichen Flüchtlingen Freifahrt gewähren, dagegen Tenessee [sic],170 welche gestern eingetroffen und morgen wieder Jaffa eintrifft, bereit arme Flüchtlinge Ägypten befördern; erbittet hierzu sofortige Zustimmung Henrys.“171 Ich ging noch am Abend {gegen 8} zu Henry, der gerade schlief. Seine Frau |2| war aber informiert und zeigte mir eine Depesche des amerikan. Konsuls in Jerusalem,172 welche die gleiche Bitte enthielt. Aus der Depesche ging 168 Achtzeiliger Absatz, in dem Lichtheim den Text eines Telegramms vom 24. Dezember 1914 aus Athen zitiert und nach dessen Bedeutung fragt. 169 Jacob Thon (später Tahon, 1880–1950) war ein Jurist aus Lemberg (heute: Lwiw, ­Ukraine) und ein enger Vertrauter Ruppins. Von 1904 bis 1907 war er in dem von Ruppin geleiteten Büro für Statistik der Juden in Berlin tätig. 1907 wanderte er mit Ruppin nach Palästina aus und war nach der Einrichtung des Palästina-Amts in Jaffa 1908 dessen Mitarbeiter. 1915 übernahm er die Leitung des Palästina-Amts. 170 Die USS Tennessee war ein amerikanisches Kriegsschiff. 171 Morgenthau organisierte, dass nichtosmanische Juden, die eine gewaltsame Ausweisung aus Palästina fürchteten, auf der USS Tennessee nach Ägypten ausreisen konnten. 172 Otis A. Glazebrook (1845–1931) war amerikanischer Diplomat und wirkte von 1914 bis 1917 als Konsul der Vereinigten Staaten in Jerusalem.

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weiter hervor, dass das in Pal. stationierte IV. Armeekorps (Djemal Pascha), nachdem es am 17. die überraschende Verschickung in Jaffa angeordnet hatte, am 19.XII. einen weiteren Befehl erliess, wonach die Angehörigen feindlicher Staaten am 28.XII. das Land zu verlassen haben.173 Da es mir nicht klar war, ob diese Ordre erlassen wurde, bevor die Gegenorder bezüglich der Juden von hier eingetroffen war (und sich also nicht auf die Juden bezieht) oder ob es sich um eine neue Fristbestimmung auch für die Juden handelt, so habe ich gestern Abend einen längeren Brief an den deutschen Botschafter |3| ge­ schrieben, habe ihm die Sachlage geschildert u. die Befürchtung ausgedrückt, dass trotz der am 19. hier ergangenen Gegenorder dieser neue Befehl auch auf die Juden angewendet werden könnte, oder dass sich Djemal in anderer Weise zu den humanen Tendenzen der Zentralregierung in Gegensatz setzt. (Tatsächlich handelte es sich um persönliche Gewaltpolitik von Djemal). Ich bat den Botschafter, in geeigneter Weise Schritte zu tun und machte den Vorschlag, die deutschen Offiziere, welche Djemal zugeteilt sind,174 entsprechend zu informieren. Gleichzeitig drahtete ich Ihnen folgendes: „Wenn möglich erwirkt morgen Sonnabend dringende formelle Drahtorder nicht blosse Empfehlung an Willy175 für |4| Verbleiben aller Freunde in Palästina einzutreten, da dort am 19. Dezember beschlossen, feindliche Untertanen am 28. Dezember auszuweisen und Wirkung hier zugesagter günstiger Gegen­ order zweifelhaft.“ Obgleich ein allzu starker Druck auf den Botschafter unter Umständen schaden kann, hielt ich es im vorliegenden Fall doch für nötig, alle Mittel zu versuchen, um unsere Leute in Pal. vor weiteren Dummheiten Djemals zu sichern. Ich bin neugierig, ob Sie meine Depesche rechtzeitig erhalten haben und was Sie erwirkt haben. Nur formeller Befehl aus Berlin hat Zweck, blosse Übermittlung unserer Wünsche wirkt eher störend. Als ich gestern Abend um 1/2 11 ins Hotel zurückkam, fand ich noch folgende Depesche vor, die schon am 21. in Jerusalem |5| aufgegeben war: „Nombre juifs transportés jeudi

173 Am 19. Dezember 1914 erließ Cemal Pascha einen zweiten Deportationsbefehl. Diesmal ordnete er die Ausweisung sämtlicher nichtosmanischer Juden an. Dieser Befehl wurde aufgrund der Intervention Talât Paschas nicht umgesetzt. 174 Im Zuge der im Dezember 1913 entsandten Militärmission unter General Otto Liman von Sanders dienten während des Ersten Weltkriegs etwa 800 deutsche Offiziere und 18 000–20 000 deutsche Soldaten in der osmanischen Armee. Joachim Jakob, Ostsyrische Christen und Kurden im Osmanischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Wien / Berlin / Münster 2014, 135. 175 Hier handelt es sich um den in der telegrafischen Korrespondenz verwendeten Decknamen für den deutschen Botschafter von Wangenheim.

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Dokument 17

Égypte dépasse 500 entretemps arriva ordre de ne plus expulser personne; école filles toujours fermée. Arthur.“176 Die hier erreichte Gegenordre ist also tatsächlich in Jerusalem eingetroffen, aber ich hielt es trotzdem für richtig, dem deutschen Botschafter heute früh den erwähnten Brief zu schicken, weil die Ordre Djemals vom 19. (Ausweisung am 28.) doch auf die Juden angewandt werden könnte, sowie auch mit Rücksicht auf die Zukunft. Abends um 11 wurde ich noch in die amerikan. Botschaft geholt, wo mir Morgenthau mitteilte, dass das amerikan. Kriegsschiff Tenessee (welches jetzt auch die neue Geldsendung abgeliefert hat)177 beauftragt sei, alle armen Flüchtlinge nach Egypten zu bringen. Wegen der Mädchenschule in Jaffa gehe ich jetzt {nochmals} zum Grossrabbiner. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 17 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 6. Januar 1915 Handschriftlicher Brief, 9 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00284« bis »00292«) oben rechts auf jeder Seite; handschriftliche Anmerkung (»6x«) oben mittig auf Seite 1 176 Das Telegram stammt von Arthur Ruppin, der sich zu diesem Zeitpunkt in Jerusalem befand. 177 Im August 1914 hatte Morgenthau sein philanthropisches Netzwerk genutzt, um finanzielle Hilfe aus den Vereinigten Staaten für die jüdische Ansiedlung in Palästina zu organisieren, die durch den Kriegsbeginn von bisherigen Spendengebern abgeschnitten war. Dies hatte die Gründung der amerikanischen Hilfsorganisation JDC zur Folge, die während des Ersten Weltkriegs Spenden für die Not leidende jüdische Bevölkerung Europas und vor allem Palästinas sammelte. Der Joint diente als Dachorganisation verschiedener amerikanisch-jüdischer Hilfsorganisationen wie dem American Jewish Relief Committee und dem Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs. Im Oktober 1914 traf ein erstes Schiff, die USS North Carolina, mit Spenden in Jaffa ein. Ende Dezember überbrachte die USS Tennessee weitere Spenden aus den Vereinigten Staaten. Laut Lichtheim brachten während des Kriegs insgesamt 13 amerikanische Schiffe Sendungen im Wert von 670 000 Dollar nach Palästina. Lichtheim, Rückkehr, 250.

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CZA, Z3/51 [Lichtheim berichtet über neue Naturalisationsbestimmungen, die mit der osmanischen Regierung ausgehandelt wurden. Er adressiert das Problem der drohenden Ausweisung derjenigen nichtosmanischen Juden, die sich nicht naturalisieren lassen können oder wollen. Abschließend skizziert er die Gespräche mit der deutschen Botschaft über ein mögliches gemeinsames Vorgehen.] wichtig! Dr. V. Jacobson

{Consple178 6.I.}191{5}

Zionistisches Zentralbureau Berlin Sehr geehrte Herren! Seit meinem letzten Bericht vom 30.XII.179 haben wir fortgesetzt mit der Frage der Naturalisation der Juden zu tun. Die Regierung hat hierfür alle erdenklichen Erleichterungen gewährt, nämlich: 1) Die Juden brauchen zuvor nicht 5 Jahre in der Türkei gewohnt zu haben. 2) Die Gebühren von 37 Frs sollen nicht pro Kopf sondern pro Familie erhoben werden. 3) Die Mittellosen sollen ohne Zahlung der Gebühren naturalisiert werden. 4) Die Neu-Naturalisierten sind für ein Jahr vom Militärdienst befreit.180 178 Constantinople. 179 In dem zweiseitigen Brief informiert Lichtheim das Zionistische Zentralbüro über verschiedene Depeschen, die ihn aus Jaffa erreichten. Denen zufolge wurden entgegen den Versprechen der osmanischen Regierung, die neu naturalisierten männlichen Juden für ein Jahr vom Militärdienst zu befreien, kürzlich Naturalisierte einberufen. Zudem wurde jüdischen Frauen und Kindern aus Russland, deren Ehemänner und Väter nicht in Palästina waren und die sich daher nicht naturalisieren konnten, erneut die Ausweisung angedroht. Lichtheim sprach daraufhin erneut bei der deutschen Botschaft vor, die ihm Unterstützung zusagte. Auch der italienische Botschafter Camillo Eugenio Garroni (1852–1935), der die russischen Interessen vertrat, intervenierte bei Innenminister Talât Pascha, nachdem ihn Jacobson informiert hatte. Talât Pascha habe daraufhin Gegenanweisungen nach Jaffa telegrafiert. CZA, Z3/50, Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. Dezember 1914. 180 Neben den Gebühren war der obligatorische Militärdienst für alle Männer ein wichtiger Grund dafür, dass viele Juden nicht die osmanische Staatsbürgerschaft annehmen wollten.

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Dokument 17

5) Frauen u. Kinder bleiben unbehelligt. Nachdem die Regierung alle diese Erleichterungen gewährt hat, verlangt sie aber (mit Recht), dass die Juden jetzt mit ihren ottomanischen Gefühlen Ernst machen. Leider scheint die Zahl der Juden in Palästina, die nicht Ottomanen werden wollen, sehr gross zu sein. |2|  Nach einem Telegramm des amerikanischen Konsuls vom 3.I. warten in Jaffa Tausende von Juden auf eine Gelegenheit, wegzufahren. Leider hat nun die türkische Regierung zur Beschleunigung der Naturalisation zu unangenehmen Zwangsmassregeln gegriffen. Wie schon früher mitgeteilt, haben zunächst die Lokalbehörden in Jaffa 800 Juden nach Egypten deportiert. Weitere Ausweisungen wurden durch das rasche Eingreifen der deutschen Botschaft verhindert. Dann kamen immer neue Klagen wegen Bedrohung der Frauen u. Kinder mit der Ausweisung, wegen Nichtbeachtung der Regierungs-Versprechungen bezüglich Befreiung vom Militärdienst, wegen der Gebühren für die Naturalisation etc. In allen diesen Fällen haben wir hier unaufhörlich gearbeitet und mit Hilfe fast täglicher diplomatischer Interventionen endlich alles erreicht, was nur zu erreichen war.181 (s. oben) |3|  Nun blieb die wichtige Frage: Was wird mit den Juden feindlicher Untertanenschaft, die nicht Ottomanen werden können oder wollen? Das Natürliche wäre gewesen, sie rechtlich den anderen feindlichen Untertanen gleichzustellen. Stattdessen hat die Regierung verfügt, dass diese Juden nach Ablauf der 10-tägigen Frist, welche neuerdings für die Einreichung der Naturalisationsgesuche festgesetzt wurde, ausgewiesen werden sollen. Das hat natürlich zu ungunsten der Juden gewirkt, da gegen die anderen feindlichen Ausländer bisher nichts a unternommen wurde. Es haben deshalb in den letzten Tagen wiederum zahlreiche Interventionen stattgefunden, bisher ohne Erfolg. Gestern waren Morgenthau u. der Grossrabbiner sehr pessimistisch. Nach unserer Ansicht trägt der Grossrabbiner die Schuld, welcher die Frage der Naturalisation ursprünglich angeschnitten, aber nicht mit der nötigen Klarheit und |4| Entschiedenheit bis zu Ende behandelt hat. Die Regierung ist hartnäckig und sagt: Die Juden sollen jetzt zeigen, ob sie Ottomanen werden wollen; wir haben ihnen alle erdenklichen Erleichterungen gewährt. Wollen sie nicht, so müssen sie hinaus. Auch dies ist ja eine Begünstigung, denn wer 181 Unterstützt wurde die zionistische Vertretung in Konstantinopel durch den Dragoman der deutschen Botschaft, Weber, den amerikanischen Botschafter Morgenthau, der auch die englischen und französischen Interessen mitvertrat sowie den italienischen Botschafter Garroni, der die russischen Interessen wahrnahm. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 320.

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weiss, was wir später gegen die anderen feindlichen Ausländer unternehmen werden. Diese dürfen nicht fort, sie sind unsere Geiseln. Bei dieser Sachlage ist es natürlich sehr schwer, etwas zu tun. Wir wollen nicht, dass die Regierung die Juden, welche sich nicht ottomanisieren, den anderen „Feinden“ gleichstellt, da diese vielleicht interniert oder verschickt werden. Wir wollen aber auch nicht, dass diese Juden ausgewiesen werden, bevor gegen die anderen feindlichen Untertanten etwas unternommen wird, dann denn das würde wie ein antisemitischer Akt wirken. Ich habe nun einen letzten Versuch |5| durch die Deutsche Botschaft unternommen. Ich habe folgendes verlangt: 1) Der Termin, bis zu welchem die Naturalisationsgesuche eingereicht werden müssen, soll auf einen Monat verlängert werden. 2) Innerhalb dieses Monats sollen diejenigen Juden feindlicher Untertanenschaft, welche nicht Ottomanen werden wollen, das Recht haben, abzureisen (das wäre eine gewaltige Begünstigung gegenüber den Nichtjuden). 3) Nach Ablauf dieses Monats sollen die zurückgebliebenen „feindlichen“ Juden ebenso behandelt werden, wie die anderen feindlichen Ausländer. Gestern Abend sprach ich mit Dr. Weber über die Sache und formulierte ihm alles schriftlich. Heute Morgen wurde ich vom deutschen Botschafter empfangen. Dieser versprach seine Mithilfe, war aber etwas skeptisch bezüglich der Frage, |6| ob man den Juden das Recht verschaffen könne, abzureisen, während die anderen feindlichen Untertanen hier bleiben müssen. Ich machte ihm klar, dass der Ausweisungsbeschluss der Regierung in der jetzigen Form beseitigt werden müsse. Ich sagte ihm ganz deutlich, man würde dies als antisemitische Massregel in der ganzen Presse (Amerika!) kritisieren u. den Deutschen in die Schuhe schieben. Das sah er auch ein. Dann sagte ich ihm, dass uns natürlich noch weniger damit gedient sei, wenn die Juden den anderen Nichtjuden gleichgestellt würden, falls eine Internierung oder Verschickung stattfindet. Die Türken sollten also wirkliches Entgegenkommen zeigen und den Juden freistellen, Ottomanen zu werden oder abzureisen oder wie andere Ausländer behandelt zu werden. Er versprach, das Mögliche zu versuchen. Dann sprachen wir nochmals allgemein vom Zionismus. Er sagte wieder, der „eigentliche“ |7| Zionismus, die Gründung eines „Reiches Zion“, sei gegen das türkische Interesse. Wir müssten die national-territorialen Sonderziele beiseite lassen. Das sei auch die Ansicht des Grossrabbiners (dieses Biest!!). Ich erklärte wieder, dass wir zwei Dinge wollen: Eine allgemeine Einwanderung nach der Türkei, weil wir

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ein Abflussgebiet brauchen und eine nationale Konzentration, die ganz natürlicherweise entstehen müsse, wenn man die Juden zur landwirtschaftlichen Tätigkeit zurückführen und ein bodenständiges Element aus ihnen machen wolle. Hiermit erklärte er sich einverstanden. Er wolle nur nicht, dass die Juden als ein „zersetzendes Element kommen, die nur {wieder} an allem zu mäkeln haben“, sondern a dass sie zur Erhaltung der Türkei beitragen. Mit meinem Programm sei er ganz einverstanden: „Sie sind Politiker, aber ihre jungen Leute wollen doch |8| wohl ein neues Reich Zion.“ Ich sagte ihm darauf, dieser Vorwurf sei etwa dasselbe, als wenn man dem Deutschen Reiche vorwerfe, es erstrebe die absolute Weltherrschaft. Natürlich sei auch etwas Wahres daran, aber die praktische Politik bestrebe dies nicht. Dies schien ihm sehr einzuleuchten. Ich wiederholte nochmals, dass eine gewisse Konzentration in Pal. notwendig u. natürlich sei und er sagte, dass hiergegen auch nichts einzuwenden sei. Ich führte als Beispiel an, dass die wandernden Juden überall die Tendenz hätten, sich zu konzentrieren (New York) und das [sic] ohne solche Konzentrierung keine systematische Kolonisation möglich sei. Er nickte wieder und sagte, wir seien ganz einig. Er tue alles Mögliche zur Vertretung unserer Interessen. Gestern habe er an Djemal Pascha nach Damaskus |9| depeschiert u. um schonende Behandlung der Juden gebeten. Talaat habe ihm wegen der Frauen u. Kinder feste Versprechungen gemacht. (Beides ist wahr, Weber hat es mir gestern erzählt, den Brief von Talaat habe ich gesehen.) Ich fragte ihn, ob wir in Amerika veröffentlichen sollen, dass die Deutsche Botschaft für die jüdischen u. zionistischen Interessen eintrete. Er sagte, dies sei ihm erwünscht. Wir könnten veröffentlichen, dass er „mit allen Mitteln“ für uns eintrete. Veranlassen Sie dies bitte in geeigneter Weise. Nachher sprach ich nochmals mit Weber ausführlich wegen der Naturalisationsfrage bezw. der angedrohten Ausweisung. Nous verrons. Es ist das letzte Mittel. Im Ganzen kann man sagen, dass wir seit Bestehen der Bewegung noch nie eine so starke Unterstützung hatten. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim182 182 Anmerkung auf linker Marginalie über nahezu die gesamte letzte Seite: »Dr. Jacobson ist jetzt bei Morgenthau.«

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Dokument 18 Richard Lichtheim an Theodor Weber Konstantinopel, 6. März 1915 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00313« bis »00314«) oben rechts auf jedem der beidseitig beschriebenen Blätter CZA, Z3/52 Herrn Dr. Th. Weber Sehr verehrter Herr Doktor!

Konstantinopel, den 6. März 1915

Im Anschluss an unsere heutige Unterredung erlaube ich mir, unseren Standpunkt in der Angelegenheit Dr. Ruppin folgendermassen zu präzisieren:183 1) Dr. Ruppin ist seit 7  Jahren in Palästina als Leiter des zionistischen Kolonisationswerkes ansässig. Er hat dieses Werk grossenteils geschaffen, er ist der anerkannter Vertrauensmann der intelligenten und tätigen Teile der jüdischen Bevölkerung und der weitesten jüdischen Kreise im Ausland. Er ist auch einer der Vertrauensleute der amerikanischen Juden und des Herrn Morgenthau, der ihn an die Spitze der Kommission gestellt hat, welche die von Amerika aus für Palästina unternommene Hilfsaktion leitet.184 Seine Abberufung wäre demnach sachlich nicht zu rechtfertigen. 183 Lichtheim war zuvor telefonisch von Weber unterrichtet worden, dass Cemal Pascha die unauffällige Abberufung Ruppins wünschte. Lichtheim sprach daraufhin persönlich bei Weber vor und legte ihm dar, warum das EAC eine Abberufung Ruppins nicht befürworten könne. Weber versicherte Lichtheim daraufhin, bei den osmanischen Behörden Einspruch zu erheben, sollte Cemal Pascha die Ausweisung Ruppins aus Palästina anordnen. Um weitere Repressalien zu vermeiden, gab Ruppin im Herbst 1915 dennoch die Leitung des Palästina-Amts an Thon ab und siedelte nach Jerusalem über. Im September 1916 gelang es Cemal Pascha dennoch, Ruppins Ausweisung aus Palästina durchzusetzen. Lichtheim, Rückkehr, 301 f.; Arthur Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, hg. v. Schlomo Krolik, Königstein i. Ts. 1985, 265 f. 184 Die Verteilung der Spenden des Joint für die jüdische Ansiedlung in Palästina, die durch die Vermittlung von Morgenthau auf Kriegsschiffen nach Jaffa gebracht wurden, übernahm in enger Abstimmung mit dem amerikanischen Botschafter ein eigens gegründetes Komitee, das aus Ruppin als Vorsitzendem, dem Agronomen Aaron Aaronsohn (1876–1919) und einem Vertreter des Hilfsvereins, Ephraim Cohn-Reiss (1863–1943), bestand. Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 255.

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2) Die Ausweisung Dr. Ruppins würde in jüdischen Kreisen den grössten Unwillen erregen hervorrufen. [|2|] Sie würde mehr als alles andere, was bisher geschehen ist, als Kriegserklärung gegen den Zionismus aufgefasst werden und würde die Wirkung aller unserer beruhigenden Versicherungen aufheben. 3) Die deutsche Regierung hat uns für die nächste Zeit ihre wohlwollende Unterstützung zugesagt und wir sind für alles, was von deutscher Seite für den Zionismus geschehen ist, überaus dankbar. In erster Reihe müssen wir aber an dieser Unterstützung appellieren, wenn es sich um den Schutz unseres offiziellen Vertreters in Palästina handelt. 4) Wir haben bei unseren Bemühungen, die Unterstützung Deutschlands zu erlangen, immer darauf hingewiesen, dass die deutsche Regierung durch Förderung unserer Sache die dauernden Sympathien weiter jüdischer Kreise in der ganzen Welt gewinnen würde und dass wir auch unser Kolonisationswerk in vielen Einzelheiten zum [|3|] Vorteil Deutschlands gestalten können. Dazu gehört neben der Bevorzugung der deutschen Sprache und der deutschen Industrieerzeugnisse auch die Berufung deutscher Staatsbürger an die leitenden Stellen unserer Bewegung. Die Ausweisung Dr. Ruppins, der ein Deutscher ist, würde den angedeuteten Bestrebungen naturgemäss nicht förderlich sein. Die Juden im neutralen Ausland würden daraus schliessen müssen, dass die uns von Seiten der deutschen Regierung zuteil gewordene Unterstützung nicht ausreicht, unseren besten Mann vor der Ausweisung zu schützen, selbst wenn er ein Deutscher ist. 5) Inwieweit Dr. Ruppin als deutscher Staatsbürger berechtigten Anspruch auf den Schutz der deutschen Regierung hat, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich kann aber versichern, dass er ein sehr ruhiger erfahrener, ruhiger und überlegter Mann ist, und [|4|] dass ganz bestimmt auf Seiten Djemal Paschas kein sachliches Motiv, sondern nur der Wunsch vorliegt, diesen einflussreichen Anwalt der jüdischen Interessen zu entfernen. Ich bitte Sie, sehr verehrter Herr Doktor, diese Argumente zu prüfen und gegebenenfalls auch Seiner Exzellenz vorzutragen. Mit den besten Empfehlungen Ihr ganz ergebener R. Lichtheim

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Dokument 19 Richard Lichtheim an Isaac Straus Konstantinopel, 27. März 1915 Maschinenschriftlicher Brief (Abschrift), 9 Seiten; maschinenschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00176« bis »00183«) oben rechts auf jeder Seite; maschinenschriftliche Paginierung mit Ausnahme von Seite 9 CZA, Z3/52 [Lichtheim berichtigt Falschmeldungen, die über Alexandria in die Vereinigten Staaten gelangt sind und rät von öffentlichkeitswirksamen Reaktionen ab. Er berichtet über die aktuelle Lage in Palästina, wie sie sich aus den Berichten Arthur Ruppins ergibt und hebt die von deutscher und amerikanischer Seite erfahrene Unterstützung hervor.] Abschrift!

Konstantinopel, 27.III.1915 Vertraulich! Herrn Dr. J. [sic] Straus, per Adr. Dr. J. L. Magnes, 23. Sutton Place, New York Sehr geehrter Herr Doktor! Ich habe dem Provisional Executive Comittee [sic]185 Berichte geschickt, die vom 31. Dezember, 31. Januar und 5. Februar datiert waren. Ich hoffe, sie sind dort angelangt. Diesen Brief bitte ich ebenfalls als Bericht an das Committee zu betrachten und ihm zu zeigen. Ich will Ihnen persönlich schreiben, weil ich die Kopien Ihrer Briefe (der letzte war vom 1. März) erhalten habe und manches darin beantworten will. Was zunächst die Berichterstattung aus Palästina betrifft, so glaube ich, sehr genau informiert zu sein, da mir alle Quellen offenstehen, die Sie dort haben, und weil ich vor allem bereits seit Dezember mit Dr. Ruppin in ständigem Austausch

185 Das Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs wurde 1914 auf Initiative des russischen Zionisten Shmaryahu Levin eingerichtet. Es hatte seinen Sitz in New York und trat während des Ersten Weltkriegs als beratende Instanz neben das EAC. Unter dem Vorsitz des angesehenen Juristen Louis D. Brandeis (1856–1941) beabsichtigte das Komitee, die zionistische Bewegung der Vereinigten Staaten wiederzubeleben und Gelder für die kriegsbedingt notleidende jüdische Bevölkerung Europas und Palästinas zu sammeln. Nach Kriegsende wurde es aufgelöst.

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chiffrierter Telegramme stehe.186 Dass Dr. Ruppin über Alexandrien187 an Morgenthau oder nach Amerika chiffriert depeschieren kann, bezweifle ich. Seit Kriegsausbruch hat nur die Deutsche Botschaft das Recht, innerhalb der Türkei chiffrierte Depeschen zu senden. Morgenthau kann chiffriert zwar mit Washington verkehren, nicht aber mit Palästina. Ich glaube daher auch nicht, dass die amerikanischen Konsuln von Palästina chiffriert nach Alexandrien drahten können dürfen. Was von Alexandrien nach Amerika als Ruppins Meinung gedrahtet wird, gelangt wohl durch Brief oder mündliche Bestellung von Jaffa nach Alexandrien.188 Bei dieser Sachlage glaube ich, mich auf meine direkten |2| Informationen von Ruppin mehr verlassen zu dürfen, als auf alle anderen Quellen. Es besteht auch kein Anlass, anzunehmen, dass die deutschen Konsuln gewisse Nachrichten Ruppins nicht übermitteln. Andererseits steht fest, dass die letzten Communiqués aus Alexandrien (die ich auf Umwegen erhalte) sowie die Meldung des Tenessekommandanten [sic]189 (bezüglich 15 neuer Verhaftungen Mitte Februar) nicht der Wahrheit entsprechen. Die ersten Communiqués aus Alexandrien sind ziemlich wahrheitsgetreu, das Communiqué No. 6 enthält viele falsche Angaben.190 Auf meine ausdrückliche und detaillierte Anfrage berichtet Ruppin, die angeblichen 15 neuen Verhaftungen hätten nicht stattgefunden, von Verhaftungen in Chederah sei nichts bekannt, der Brand eines Hauses in Tantura sei unaufgeklärt und unwichtig, von Synagogenentweihungen sei gleichfalls nichts bekannt. Sie ersehen daraus, mit welcher Vorsicht die Nachrichten aus Alexandrien aufzunehmen sind. Diese Nachrichten 186 Nach der Deportation russischer Juden aus Jaffa im Dezember 1914 gestattete die Deutsche Botschaft in Konstantinopel Lichtheim für seine Korrespondenz mit dem EAC in Berlin und dem Palästina-Amt in Jaffa die Benutzung ihres telegrafischen Codes und diplomatischen Kurierdienstes, wodurch die osmanische Zensur umgangen werden konnte. 187 Die im Dezember 1914 nach Ägypten ausgewiesenen russischen Juden wurden nach Alexandria deportiert. 188 Die nach Alexandria deportierten Juden hatten dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, ein Telegramm gesandt, in dem sie die Verfolgung der palästinensischen Juden schilderten. Dieses Telegramm wurde fälschlicherweise als ein Telegramm Ruppins interpretiert. Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 261. 189 Kommandant der USS Tennessee war Benton Clark Decker (1867–1933). 190 In Alexandria hatte sich unter den ausgewiesenen Juden das Alexandria Palestine Committee gebildet, das die sogenannten Alexandria Committee Reports versandte. Diese Berichte enthielten zum Teil übertriebene Schilderungen und hatten einen stark antiosmanischen Charakter. Sie wurden in der englischen und amerikanischen Presse veröffentlicht und sorgten dort für große Empörung. McCarthy, The Population of Palestine, 21.

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entstellen die Wahrheit auch dadurch, dass sie die Hilfe von deutscher Seite verschweigen oder durch Andeutungen in ihr Gegenteil verkehren. Wir haben keinen Grund, uns selber etwas vorzumachen, und ich bin von den Vorgängen in Palästina genau so berührt worden, wie Sie dort. Aber nachdem doch eine erhebliche Besserung eingetreten ist, brauchen wir nicht so schwarz zu malen, wie das Komitee in Alexandrien oder die Ausgewanderten, deren Phantasie natürlich noch zu lebhaft spielt, um ein objektives Urteil zu ermöglichen. Die Besserung zeigt sich auch in Folgendem: 1) Beha Eddin ist abberufen.191 2) Die Bank hat die Erlaubnis erhalten, aufzumachen.192 Wenn sie geschlossen |3| wurde, so tragen ihre eigenen Massnahmen jedenfalls einen Teil der Schuld. Hätte die Bankleitung rechtzeitig für Geld gesorgt, so wäre der Bank gar nichts geschehen. Ich habe monatelang darauf gedrängt, aber die Bankleitung verschanzte sich hinter angeblichen Schwierigkeiten, die jetzt wunderbarerweise behoben werden konnten. Die Bank könnte bereits geöffnet sein, denn Morgenthau hat uns kürzlich 20 000 Ltq zur Verfügung gestellt, die er in Jerusalem disponibel hatte. Kann zögert aber noch immer. Er verlangt schriftliche Garantien seitens der türkischen Regierung, dass sie der Bank auch in Zukunft nichts tun wird. Diese Garantien sind nicht zu erlangen, und so wird wohl die günstige Gelegenheit wieder vorübergehen, d. h. Morgenthau wird die 20 000 Ltq anders verwenden, und die Bank wird wegen Geldmangel geschlossen bleiben. Augenblicklich macht das EAC wieder einen Versuch, Kann umzustimmen. Hoffen wir, dass es gelingt.193 191 Am 25. Januar 1915 kündigte Baháʼ Al-Dīn in der hebräischen Tageszeitung Ha-Ḥerut (Die Freiheit) weitere Maßnahmen gegen die Zionisten an: Die blau-weiße Flagge, die Verwendung des Hebräischen im Schriftverkehr und die Marken des Jüdischen Nationalfonds – vom Jewish Colonial Trust herausgegebene Wertmarken, mit denen die Zionisten ihre Korrespondenz versahen und die der Sammlung von Spenden dienten – wurden verboten. Der Besitz der Nationalfondsmarken sollte gar mit dem Tod bestraft werden. Zudem sollten sämtliche zionistische Einrichtungen aufgelöst werden. Nach einer von Lichtheim veranlassten Intervention des deutschen Botschafters wurde Baháʼ Al-Dīn Anfang Februar von der Zentralregierung in Konstantinopel als Ḳāymaḳām von Jaffa abgesetzt. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 323. 192 Cemal Pascha befahl am 22. Januar 1915 die Schließung der Anglo-Palestine Company und forderte deren Liquidierung. Eine dauerhafte Schließung konnte durch die Vermittlung Morgenthaus verhindert werden. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, 321 f. 193 Jacobus Kann, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Bank, stand als politischer Zionist der praktischen Arbeit in Palästina eher skeptisch gegenüber. Er weigerte sich aus

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Dokument 19

3) Die wegen Zionismus Verhafteten (dies waren Aronowitsch,194 Rabbiner Fischmann,195 Mossinsohn,196 Hoss, Jaffé,197 Scheinkin,198 Lurie199) sind freigelassen worden. 4) Die nach Galiläa Verbannten (darunter Disengoff)200 sind zurückgekehrt. 5) Das Verbot der hebräischen Sprache im Briefwechsel wurde aufgehoben. ideologischen und finanzpolitischen Gründen weiteres Kapital im kriegführenden Osmanischen Reich zu investieren, das zur Rettung der in Geldnot steckenden Bank notwendig war. Nur mit der Hilfe Morgenthaus gelang es Lichtheim, Kann davon zu überzeugen, der Bank in Palästina weitere Mittel zur Verfügung zu stellen. Lichtheim, Rückkehr, 269 f. 194 Josef Aronowitsch (auch Yosef Aharonovitch; 1877–1937) war ein politischer Aktivist des Arbeiterzionismus. Er war 1906 nach Palästina übergesiedelt und hatte 1908 die Redaktion des Organs Ha-Po’el ha-Ẓa’ir (Der junge Arbeiter) der gleichnamigen Partei übernommen. Nach seiner Freilassung wurde er aus Palästina ausgewiesen, kehrte nach Kriegsende zurück und wurde 1922 Direktor der Bank ha-Po’alim (Die Bank der Arbeiter) in Tel Aviv. 195 Der Rabbiner Yehuda Leib Fishman (auch Fischman, später Maimon; 1875–1962) war eine führende Persönlichkeit des religiösen Zionismus. Er ließ sich 1913 in Palästina nieder und war an Gründung und Aufbau des Bildungswesens der religiösen, zionistischen Bewegung Misrachi beteiligt. Nach seiner Freilassung wurde er aus Palästina ausgewiesen und setzte seine Arbeit für die Misrachi-Bewegung in den Vereinigten Staaten fort. 1919 kehrte er nach Palästina zurück und war am Aufbau des Ober­rabbinats von Palästina beteiligt. 196 Benzion Mossinso(h)n (1878–1942) war der erste Direktor des 1905 in Jaffa gegründeten Hebräischen Herzlia-Gymnasiums. Er wurde 1915 aus Palästina ausgewiesen, ging in die Vereinigten Staaten und kehrte nach Kriegsende zurück. 197 Bezalel Jaffe (1868–1925) war ein russischer Zionist und führend am Aufbau der zionistischen Bewegung in Litauen beteiligt. Er ließ sich 1909 in Palästina nieder, war einer der Gründer Tel Avivs und Mitglied des Stadtrats. 198 Menahem Sheinkin (1871–1924) war ein russischer Zionist. Er gehörte zu den Gründern der Stadt Tel Aviv. Er wurde 1915 aus Palästina ausgewiesen. Nach seiner Rückkehr 1919 wurde er Direktor des Einwanderungsbüros der Zionistischen Organisation. 199 Joseph Lurie (auch Yosef Luria; 1871–1937) war ein Journalist und Pädagoge. Nach seiner Übersiedlung nach Palästina 1907 war er am Hebräischen Herzlia-Gymnasium tätig. Er war ein wichtiger Fürsprecher des Hebräischen im Sprachenstreit. Nach seiner Freilassung wurde er aus Palästina ausgewiesen, kehrte nach Kriegsende zurück und leitete ab 1919 die Bildungsabteilung der Zionistischen Organisation. 200 Meir Dizengoff (1861–1936) war ein Ingenieur und Unternehmer. Er gehörte zu den Gründern Tel Avivs und war erster Bürgermeister der Stadt. Nach seiner Rückkehr aus Galiläa wurde er nach Damaskus verbannt und kehrte erst nach der Eroberung Palästinas durch die Briten zurück.

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6) Die Todesstrafe für Besitzer von N. F.201 Marken wurde aufgehoben. Aller­ dings sind die Marken verboten worden, weil die Regierung behauptet, dergleichen Dinge, die in Europa erlaubt sind, könnten hier zu Missverständnissen führen. Auf Uebertretung dieses Verbots steht eine Geldstrafe von 1–3 Ltq. 7) Die russischen Untertanen sind zwar nicht berechtigt, im Lande zu bleiben, doch beschloss der Ministerrat, keine weiteren Ausweisungen |4| vorzunehmen. Dies ist auch nicht geschehen. 8) Djemal Pascha hat Tel-Awiw besucht,202 das Gymnasium203 besichtigt, eine freundliche Rede als Erwiderung auf eine Ansprache Bagratschoffs [sic]204 gehalten (im Lehrerzimmer des Gymnasiums) und eine Proklamation veröffentlicht, wonach diejenigen bestraft werden sollen, die feindliche Gerüchte gegen die Juden verbreiten. Alle diese Tatsachen (1–8) sind mir von Ruppin bestätigt. Die Presse in Jerusalem geniesst ziemliche Freiheit, Hacheruth205 und Hapoel Hazair206 schreiben ganz kräftig gegen die Verleumder, Achduth207 und Moria208 (!) sind allerdings unterdrückt. Als Resultat der antizionistischen Campagne ergibt sich also: Es sind seinerzeit 600 Personen gewaltsam nach Aegypten gebracht worden. Von den russischen Untertannen [sic], welche sich nicht ottomanisieren wollten, und

201 Nationalfonds. 202 Der Besuch erfolgte Anfang März. 203 Das Hebräische Herzlia-Gymnasium wurde 1905 als erstes hebräischsprachiges Gymnasium Palästinas in Jaffa gegründet. 1910 verlegte die Schule ihren Sitz nach Tel Aviv. 204 Chaim Bograshov (später Chaim Boger; 1876–1963) war ein zionistischer Politiker und Pädagoge. Er unterrichte ab 1906 am Hebräischen Herzlia-Gymnasium und war von 1919 bis 1951 dessen Direktor. 1915 wurde er aus Palästina ausgewiesen und kehrte nach Kriegsende zurück. 205 Ha-Ḥerut (Die Freiheit) war eine hebräischsprachige Zeitung, die von 1910 bis 1917 in Jerusalem erschien. 206 Ha-Po’el ha-Ẓa’ir war die offizielle Parteizeitung der gleichnamigen sozialistisch-zionistischen Partei. Sie erschien zwischen 1907 und 1970. 207 Ha-Aḥdut (Die Einheit) war eine zwischen 1910 und 1915 von David Ben-Gurion (1886–1973), Yitzhak Ben-Zvi (1884–1963) und anderen herausgegebene Wochenzeitung. Sie war das offizielle Organ der sozialistisch-zionistischen Bewegung Po’ale Ẓiyon (Arbeiter Zions). 208 Die nach dem biblischen Berg benannte Moria war eine Wochenzeitung der ultraorthodoxen Juden Palästinas, die zwischen 1910 und 1915 in Jerusalem erschien.

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die Ausweisung fürchteten, sind 7–8000 nach Aegypten gefahren.209 Ferner sind einige unserer Gesinnungsgenossen der Campagne zum Opfer gefallen. Dies sind Hankin210 und das Ehepaar Schochat,211 welche nach Siwas212 verbannt wurden, auf dem Wege hierher sind und für die man vielleicht hier etwas tun kann. Ferner wurden nicht ottomanisiert, sondern ausgewiesen, die 3 Poale Zion213 Benzwi, Bengorion [sic]214 und Lamer. Schliesslich wurde 209 Es gibt keine Aufzeichnungen, aus denen die genaue Anzahl derjenigen Juden hervorgeht, die im Nachgang der Dezemberausweisungen aus Palästina ausreisten. Ruppin vermerkte in einem Tagebucheintrag von Ende Januar 1915, dass 6000 bis 7000 Juden Palästina verlassen hätten (Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 260). Dieselbe Angabe für den selben Zeitraum findet sich bei McCarthy, der sich auf eine britische Schätzung bezieht, die allerdings nicht zwischen Juden und Nichtjuden unterscheidet (McCarthy, The Population of Palestine, 21). Morgenthau gibt in seinem Tagebuch eine sehr viel geringere Anzahl an. Am 20. Januar 1915 notiert er, dass die USS Tennessee bis dato 2700 Juden die Abreise nach Ägypten ermöglich habe (Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, 168). 210 Yehoshua Hankin (1864–1945) war im Auftrag der Zionistischen Organisation für den Landkauf in Palästina zuständig. Er wurde 1915 aus Palästina ausgewiesen und kehrte 1918 zurück. 211 Israel Shochat (1886–1961) und Mania Shochat (1880–1961) gründeten und leiteten den Wachbund Ha-Shomer. 1915 wurden sie von den osmanischen Behörden nach Bursa verbannt. Sie kehrten 1919 zurück nach Palästina. 212 Provinz in Zentralanatolien. 213 Poʼale Ẓiyon (Arbeiter Zions) war eine zionistisch-sozialistische Arbeiterbewegung, die 1901 im östlichen Europa entstand, nachdem sich der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund gegen den Zionismus ausgesprochen hatte. Schnell folgten Verbandsgründungen in anderen Teilen Europas, in Palästina sowie in Nord- und Südamerika. David Ben-Gurion und Yitzhak Ben-Zvi gehörten zu den führenden Mitgliedern von Poʼale Ẓiyon in Palästina. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs spaltete sich die Bewegung in einen linken und einen rechten Flügel. Unter der Führung von Ben-Gurion und Ben-Zvi entstand aus dem rechten Flügel die linke zionistische Partei Aḥdut ha-Avoda (Einheit der Arbeit), die sich 1930 mit Ha-Po’el ha-Ẓa’ir zur zionistischsozialistischen Arbeiterpartei Mapai (Mifleget Poʼale Ereẓ Yisraʼel, Partei der Arbeiter des Landes Israel) vereinigte. 214 Yitzhak Ben-Zvi (1884–1963) und David Ben-Gurion (1886–1973) waren sozialistische Politiker und führende Persönlichkeiten der jüdischen Arbeiterbewegung. Der aus dem Russischen Reich stammende Ben-Zvi ließ sich 1907 in Palästina nieder, wo seine langjährige Zusammenarbeit mit Ben-Gurion begann, der aus den polnischen Gebieten des Russischen Reichs 1906 nach Palästina eingewandert war. Gemeinsam beteiligten sie sich am Aufbau des Ha-Shomer. 1912 verließen sie Palästina und studierten bis 1914 Jura an der Universität in Konstantinopel. Nach ihrer Rückkehr nach Palästina wurden beide aufgrund ihrer politischen Aktivitäten von Cemal Pascha

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Mossinson [sic] ausgewiesen. Er ist nach Aegypten gegangen. Nach Ruppins Mitteilungen sind genaue Gründe für diese Ausweisungen bezw. Verbannungen nicht zu ermitteln. Die Genannten müssen sich irgendwie bei Djemal missliebig gemacht haben. Frau Schochat hat sich politisch kompromittiert. Sie soll gegen den Krieg geredet haben, was natürlich jetzt sehr gefährlich ist. |5| Die 3 Poale Zion sollen eine Versammlung veranstaltet haben und waren als „Sozialisten“ überhaupt verdächtig. Mossinson muss sich irgendwie die persönliche Ungnade Djemals zugezogen haben. Dafür spricht, dass nicht er (als Direktor des Gymnasiums), sondern Bagratschoff die Ansprache im Lehrerzimmer an ihn gehalten hat. Kürzlich wurde er ausgewiesen. Natürlich sind alle diese Gründe fadenscheinig und man kann in dem Vorgehen gegen diese Personen einfach den Rest der Campagne erblicken, einen maskierten Rückzug. Jedenfalls müssen wir zufrieden sein, dass weit Schlimmeres verhütet wurde. Dieses weit Schlimmere wurde in Palästina beim Ausbruch des Krieges befürchtet. Damals schrieb uns das Palästinaamt, wenn es gelänge, die Erlaubnis zur Naturalisation durchzusetzen, so wäre alles gewonnen, denn dann würden 80–90 % der Russen Ottomanen werden. Anderenfalls sei doch die Ausweisung der etwa 50 000215 Russen zu befürchten. Bekanntlich hat sich die Regierung in diesem Punkte sehr entgegenkommend gezeigt, wie ich am 19. 2. in der Jüdischen Rundschau216 ausführte. (Diese haben Sie doch wohl erhalten?) Ferner hätte es sehr schlimm werden können, wenn die antizionistische Campagne, die Mitte Januar ihren Höhepunkt erreichte, angedauert hätte. Durch die ergangenen Gegenbefehle (s. o.) ist dies verhindert worden. Dass dies verhindert wurde, kann als ein sichtbarer Erfolg unserer politischen Bemühungen betrachtet werden.217 Ich will nicht lang und breit erörtern, wer den Hauptanteil an dem Verdienst hat. Wir (d. h. das EAC, Dr. Jacobson, Sie und ich) haben die erforderliche politische Beeinflussung ausgeübt. Dass Sie durch den dortigen ### deutschen Botschafter aus [sic] Auswärtige Amt und an die hiesige Deutsche Botschaft |6| herangetreten sind, war im Prinzip richtig. Allerdings möchte ich Sie bitten, bei der Behandlung der Einzelfälle nicht zu übersehen, dass wir hier und in Berlin ebenfalls von Anfang an tätig waren und sind. im März 1915 aus dem Osmanischen Reich ausgewiesen. Sie kehrten 1918 mit der Jüdischen Legion Wladimir Ze’ev Jabotinskys nach Palästina zurück. Ben-Gurion war von 1948 bis 1953 und von 1955 bis 1963 Premierminister Israels. Ben-Zvi war von 1952 bis 1963 Staatspräsident Israels. 215 Siehe Dokument 14. 216 Richard Lichtheim, Die Naturalisation der Juden in der Türkei und die Lage in Palästina, in: Jüdische Rundschau, 19. Februar 1915, 61. 217 Die vorhergehenden drei Sätze wurden auf der linken Marginalie angestrichen.

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Daraus folgt vor allem, dass wegen einzelner Fälle, die Ihnen zu Ohren kommen, nur dann Ihrerseits Schritte geschehen sollten, wenn diese Fälle von mir (d. h. also indirekt von Ruppin) verbürgt sind. Es kann uns sehr schaden und unsere mühsam erworbenen Beziehungen vernichten, wenn Sie dort den ganzen Apparat in Bewegung setzen und sich nachher herausstellt, dass Ihre Voraussetzungen nicht zutrafen. Also, namentlich Vorsicht bei Benutzung alexandrinischer Quellen! Wir haben in Berlin und hier seit Monaten in der erforderlichen Weise gearbeitet, und zu Morgenthau habe ich die besten Beziehungen. Durch unsere Bemühungen (ich rechne dazu natürlich auch die Ihrigen) ist es uns gelungen, den deutschen und den amerikanischen Botschafter zu interessieren und ihre Hilfe zu erlangen. Der deutsche Botschafter hat 1) sofort nach der Ausweisung der ersten 600 interveniert, wodurch weitere gewaltsame Verschickungen nach Aegypten verhindert wurden, er hat 2) sehr viel zur Abberufung Beha Eddins beigetragen. Er hat 3) direkt Djemal depeschiert und um schonende Behandlung der Juden gebeten. Er hat 4) wegen der Affäre Mossinsohn und wegen einer anderen Sache einen Brief an den Grossvezier gerichtet. Er hat uns 5) seit Monaten den amtlichen Apparat zur Verfügung gestellt, sodass ich mit Berlin und Jaffa in chiffrierten Depeschen und geschlossenen Briefen verkehren kann.218 Wenn diese Hilfe von deutscher Seite nicht immer nicht sofort, nicht mit dem erforderlichen Nachdruck gewirkt hat, so müssen hierfür auch die hiesigen Verhältnisse in Betracht gezogen werden. |7|  Es beruht offenbar auf einer Verkennung dieser Verhältnisse, wenn Sie glauben, eine entsprechende Anweisung an die deutschen Konsuln genüge. Ich kann Ihnen mitteilen, dass Dr. Ruppin von Djemal nicht empfangen wurde, obwohl er Deutscher ist und von den deutschen Offizieren im Stabe Djemals eingeführt werden sollte. Vielleicht ist er gerade deshalb nicht empfangen worden, denn die Türken suchen ihre Unabhängigkeit möglichst zu betonen. Speziell Djemal ist durch seine rücksichtslose Strenge und Schroffheit bekannt, und der Einfluss der Deutschen ist jetzt im Kriege und nach Abschaffung der Kapitulationen219 sehr gering. Ich stimme Ihnen trotzdem darin bei, dass wir in jedem einzelnen Fall intervenieren müssen, und dies ist auch geschehen. Nur scheinen Sie dort im freien Amerika die Schwierigkeiten zu unterschätzen, die wir hier nur zu 218 Der gesamte Absatz wurde auf der linken Marginalie angestrichen. 219 Die Kapitulationen, Privilegien des Sultans gegenüber europäischen Staaten, die sich auf Handelsaktivitäten und den Umgang mit den jeweiligen Staatsbürgern bezogen hatten, wurden mit Kriegseintritt im Oktober 1914 seitens der osmanischen Behörden aufgekündigt.

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gut kennen. Fast jeder Fall erfordert einen grossen diplomatischen Aufwand, der nicht leicht zu erlangen ist, da ja auch von diplomatischer Seite unter den jetzigen Verhältnissen eine gewisse Reserve bezüglich innertürkischer Angelegen gewahrt werden muss. Dies gilt auch für die Deutsche Botschaft, und für diese ganz besonders, denn die Türken verlangen, dass man sie als gleichberechtigte Verbündete behandelt, und es muss alles vermieden werden, was in dieser Beziehung Anstoss erregen könnte. Endlich bitte ich nicht zu übersehen, dass bisher noch kein förmliches Bündnis zwischen Deutschland und dem Zionismus besteht, dass alle Schritte von deutscher Seite keinen offiziellen, sondern freundschaftlichen Charakter haben, und dass die Botschaft überbeschäftigt ist. Wenn Sie dies berücksichtigen, so werden Ihnen die hier erreichten Resultate als ganz beträchtlich erscheinen. |8|  Herr Morgenthau hat uns stets mit grösster Bereitwilligkeit unterstützt. Er hat die Bank gerettet, er hilft uns, wo er kann, und hat auch das jüdische Prestige durch seine Person und sein offenes Eintreten für jüdische Interessen sehr gehoben. In einigen Fällen hat uns auch der italienische Botschafter220 und der Grossrabbiner geholfen. Letzterer hat wesentlich für die Erlaubnis der Naturalisation gewirkt. In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Eröffnung der Bank, die Anleihe für die Pflanzer, der Orangentransport, die Einfuhr von Petroleum und Nahrungsmitteln, sowie natürlich die Sendung von Barmitteln in erster Reihe als wesentlich zu nennen. Auf meine Anfrage drahtete Ruppin am 14.III., dass die Orangenausfuhr erlaubt sei. Morgenthau erhielt das Versprechen der Regierung, die Einfuhr von Petroleum zu erlauben und es nicht zu konfiszieren. Hoffentlich kommt bald das Schiff aus Amerika mit Lebensmitteln.221 Sehr geehrter Herr Doktor! Ich glaube, dass Sie sich auf Grund dieses Berichtes in Verbindung mit meinen früheren Berichten und meinem Artikel in der Rundschau ein richtiges Bild von der Lage machen können. Dieser Bericht ist aber nur für Sie und für das Provisional Committee bestimmt. Er soll nicht veröffentlicht, und mein Name soll nicht genannt werden. Sie können aber natürlich die Einzelheiten meiner Berichte zu Veröffentlichungen oder Richtigstellungen in der Presse benutzen.

220 Camillo Garroni (1852–1935) war von 1911 bis zum Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 aufseiten der Entente italienischer Botschafter in Konstantinopel. 221 Neben Geldspenden sammelte der Joint in den Vereinigten Staaten Hilfsgüter, die von amerikanischen Kriegsschiffen nach Palästina gebracht wurden. Hier spielt Lichtheim wahrscheinlich auf die USS Vulcan an, die Lebensmittel an Bord hatte und Palästina im April 1915 erreichte.

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Dokument 20

Schreiben Sie mir auch einmal! Entweder über Ausw. Amt  – Zentral­ bureau, oder über State Office  – Morgenthau. Meine Privatadresse, an die offene, harmlose Telegramme und Briefe gerichtet werden |9| können, lautet: Konstantinopel, Nichantache, Chahbaz Han. Viele Grüsse Ihr ergebener gez. Lichtheim Den Herren vom Executive Committee vielen Dank für die ersten 1000 Doll.222 ### und die 2000 Doll., die ich zur Zeit erwarte.

Dokument 20 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 24. Juli 1915 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00024« bis »00027«) oben rechts auf jeder Seite; gedruckte Paginierung des Briefblocks (»41« bis »44«); Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer linker Ecke von Seite 1 (11. August 1915) CZA, Z3/53 {Herrn Dr. Jacobson vorlegen R.}223 Zionistisches Zentralbureau

Consple, 24.VII.[19]15

Sehr geehrte Herren! Heute sprach ich ausführlich mit Dr. Weber über die Situation. Ich sagte ihm, es sei nötig, dass Deutschland über die gelegentlichen Interventionen zu unseren Gunsten hinaus sein prinzipielles Wohlwollen zu erkennen gibt, um die von den Türken chikanierte und beunruhigte Bevölkerung in Pal. 222 Dollar. 223 Handschriftliche Notiz von anderer Hand.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

für Deutschland zu gewinnen, ebenso die Juden im Auslande. Ich führte Beschwerde darüber, dass in den Kreisen deutschen Kreisen Palästinas nicht das richtige Verständnis herrscht u. gab Beispiele an. Z. B. lassen sich die Konsuln von Ephr. Cohn224 zu sehr beeinflussen usw. Dr. Weber sagte mir, er wolle in den nächsten Tagen mit dem Fürsten Hohenlohe225 über die ganze Sache sprechen und ihn auf meinen Besuch vorbereiten. Meine Absicht ist, eine generelle Anweisung an die Konsuln zu erwirken. Deutschland will offenbar [|2|] noch nicht bei den Türken unsere Sache im Ganzen vertreten. (Man muss dies begreiflich finden, denn der türkische Chauvinismus blüht jetzt üppig u. es ist für die Botschaft nicht leicht, etwas durchzusetzen. Dies wird ausserhalb der Türkei nicht genügend berücksichtigt.) Andererseits müssen wir aber wenigstens erreichen, dass alle deutsch##{en} Instanzen angewiesen werden, uns zu fördern. Wollen sehen, was sich machen lässt. Auch sonst habe ich allerlei eingeleitet. Mit dem Chachambaschi226 bin ich sehr gut. Er ist charakterlos, aber wir brauchen ihn. Mit Morgenthau bin ich auch in den besten Beziehungen und berate jetzt mit ihm wegen des Kongresses in Amerika. Ich bin noch immer gegen den Kongress, findet er aber doch statt, so muss man versuchen, daraus Vorteil zu ziehen.227 Siehe meinen beiliegenden Brief nach Amerika,228 den ich zu besorgen bitte.

224 Ephraim Cohn-Reiss (1863–1943) war ein in Deutschland ausgebildeter Pädagoge. Unter seiner Ägide wurde um die Jahrhundertwende das hebräische Schulsystem in Palästina restrukturiert und ausgebaut. Zudem wirkte er als Direktor der Schulen des Hilfsvereins in Palästina. Cohn-Reiss galt als Antizionist. Lichtheim verdächtigte ihn, bei den deutschen Konsuln in Palästina und bei den osmanischen Behörden gegen die zionistische Bewegung und deren Institutionen zu agitieren. Lichtheim, Rückkehr, 309–315. 225 Ernst II. Fürst zu Hohenlohe-Langenburg (1863–1950) war ein deutscher Diplomat. Als Sonderbotschafter vertrat er im Sommer und Herbst 1915 von Wangenheim, der krankheitsbedingt abwesend war. 226 Ḥ akham Bashi (auch Hahambaşi oder Chachambaschi) war der Titel des von der Obrig­keit eingesetzten Oberrabbiners im Osmanischen Reich. Gemeint ist hier Chaim Nahum. 227 Ab 1915 gewann unter amerikanischen Juden eine Bewegung für einen Kongress aller jüdischen Organisationen immer mehr Zustimmung. Der Kongress sollte demokratisch gewählt sein und sich auf einer Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg für die vollständige Rechtsgleichheit aller Juden in der Welt einsetzen, vor allem aber für die Rechte der Juden im östlichen Europa und in Palästina. Zahlreiche Zionisten und die Zionistische Organisation unterstützten die Kongressbewegung, die auch

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Dokument 20

Senden Sie mir bitte eine Copie davon. [|3|]  2) Dr. Jacobsons Naturalisation soll bald durchgeführt sein. Dann werde ich mich informieren, ob sein Herkommen opportun ist. 3) Hier ist alles ruhig. Dass Carasso229 u. Mazliach230  – wie mir Dr. J. schrieb – gegen uns gearbeitet haben sollen, glaube ich nicht. Mit Carasso bin ich ganz gut. Wir sprechen uns gelegentlich in der Loge. 4) Wurden eigentlich für die Universität Ltq 1000 gezahlt? 5) Wünschen Sie, dass ich die Bemühungen zur Wiedereröffnung der Bank wieder aufnehme? Angesichts des irrsinnigen Verhaltens des Herrn Kann habe ich bisher nichts getan. Es ist aber doch schade, dass die Bank an ihrer geistvollen Leitung ganz zu Grunde gehen soll. Ich schreibe an Ruppin, was Hoofien231 eigentlich denkt und wünscht. 6) Der bisherige Oberrabbiner von Jerusalem tritt zurück. An seine Stelle kommt der Oberrabbiner von Smyrna: Danon.232 Ich habe mit ihm ge­sprochen. 228

in anderen Ländern aufkam. In Amerika führte sie 1918 zur Gründung des American Jewish Congress. David Engel, Art. American Jewish Congress, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 1, 72–77. 228 CZA, Z3/53, Richard Lichtheim an das Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs, 24. Juli 1915. 229 Emmanuel Carasso (auch Emanuel Karasu, 1862–1934) war ein jüdischer Rechtsanwalt und Politiker. Er war eines der ersten nicht-muslimischen Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt. Nach der Revolution von 1908 war er zunächst Parlamentsabgeordneter für Thessaloniki, ab 1912 für Konstantinopel. Er gehörte zu Talât Paschas engerem Kreis. Feroz Ahmad, The Young Turks and the Ottoman Nationalities. Armenians, Greeks, Albanians, Jews, and Arabs, 1908–1918, Salt Lake City, Utah, 2014, 101 f. 230 Nissim Mazliah (1877–1931) war ein jüdischer Rechtsanwalt und Journalist. Er schloss sich noch vor der jungtürkischen Revolution dem Komitee für Einheit und Fortschritt an und saß von 1908 bis 1918 für Izmir im Parlament. Ebd., 102 f. 231 Eliezer Siegfried Hoofien (1881–1957) war ein niederländischer Bankier. Er ließ sich 1912 in Palästina nieder und war während des Kriegs Direktor der Anglo-Palestine Company in Jaffa. Später war er Vorsitzender des Aufsichtsrats der Anglo-Palestine Bank, die aus der Anglo-Palestine Company hervorging und 1951 in Bank Le’umi le-Yisra’el umbenannt wurde. 232 Nissim Yehudah Danon (1874–1930) war von 1915 bis 1918 sephardischer Ober­ rabbiner Jerusalems.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

[|4|]  7) Können Sie mir nicht via Copenhagen233 den ganzen Text der letzten Proklamation des Grossfürsten Nicolaus234 an die jüdischen Soldaten (mit dem Judenstaatsplan) besorgen?235 8) Senden Sie mir noch 6  Exemplare von Blumenfelds Artikel aus den Preuss. Jahrb.236 Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim Bitten lassen Sie mir die New-Yorker Zeitungen vom 29. u. 30. Juni schicken, in denen über die Bostoner Konferenz berichtet wird.237

Dokument 21 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 30. Juli 1915 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; handschriftliche Archivsignatur in unterer linker Ecke von Seite 1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00006« bis »00009«) oben rechts auf jeder Seite; gedruckte Paginierung des Briefblocks (»12« bis »15«) oben rechts auf jeder Seite, Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer linker Ecke von Seite 1 (22. August 1915) CZA, Z3/53 233 Gemeint ist hier das Zionistische Büro in Kopenhagen. 234 Wahrscheinlich ist Großfürst Nikolai Nikolajewitsch Romanow (1856–1929) gemeint. Der Onkel des russischen Zaren wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs zum Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte ernannt und war bis zu seiner Abberufung im August 1915 gemeinsam mit seinem Generalstabschef Nikolai Nikolajewitsch Januschkewitsch (1868–1918) wesentlich für die antisemitischen Pogrome, Deportationen und Geiselnahmen der russischen Armee verantwortlich. Oleg Budnickij, Dienst in der Höhle des Löwen. Juden in der russischen Armee, in: Osteuropa 64 (2014), H.  2–4, 171–184; Simon Dubnow, Geschichte eines jüdischen Soldaten. Bekenntnis eines von vielen, hg. v. Vera Bischitzky / Stefan Schreiner, Göttingen 2013. 235 Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen. 236 Kurt Blumenfeld, Der Zionismus. Eine Frage der deutschen Orientpolitik, in: Preußische Jahrbücher  161 (1915), H.  1, 82–111. Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen. 237 Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen.

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Dokument 21

Zionistisches Zentralbureau

Consple 30.VII.[19]15

Sehr geehrte Herren! Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen: (Siehe meinen Brief vom 28. Punkt 5 Absatz c.) Ich bitte Sie im Ausw. Amt vorzusprechen und dort vorzuschlagen, dass die deutschen Konsuln darüber informiert werden, dass die Regierung uns sympathisch gegenübersteht u. dass sie grundsätzlich unsere Sache im Rahmen ihrer Amtsbefugnisse fördern sollen. Diese Anweisung kann nicht von hier gegeben werden, wenn sie nicht in Berlin sanktioniert wird, weil sie eine allgemeine politische Frage berührt. Sie werden nun dort eine solche Anweisung nicht ohne weiteres erreichen, was Sie aber durchaus erreichen sollen, ist eine Anfrage des Ausw. Amtes bei der hiesigen Botschaft, ob sie eine solche Anweisung für opportun hält. Ich glaube bestimmt versichern zu können, dass [|2|] eine solche Anfrage von hier aus günstig beantwortet werden wird! Dann aber wird das Ausw. Amt vermutlich geneigt sein, die Anweisung zu erteilen, und damit wären wir ein grosses Stück weiter: Wir hätten damit zum erstenmale eine prinzipielle Anerkennung unserer Sache und die Rückwirkungen hier und ebenso in Palästina u. Berlin können sehr bedeutend sein, wenn einmal auf diese Weise das Eis gebrochen hat ist. Ich habe hier das Meinige getan und bitte Sie, dort in diesem Sinne vorzu­ gehen. Welche Argumente dafür sprechen, dass Deutschland uns auf diese Weise sein Wohlwollen zeigt, wissen Sie ja ebenso wie ich. Die Botschaft kann jetzt aus allgemeinen Gründen weder in unserer noch in anderen Fragen auf die Türken drücken. Es ist aber notwendig, dass [|3|] in Form einer Anweisung an die Konsuln Deutschlands grundsätzliches Wohlwollen bekundet wird, damit die Juden in Palästina Vertrauen zu Deutschland gewinnen und damit unsere gesamte Bewegung im deutschen Fahrwasser jetzt u. in Zukunft geleitet werden kann. Die mächtige Bewegung in Amerika zeigt, wie grosse Menschenmassen (die schon an sich antirussisch und vielfach deutschfreundlich orientiert sind) für Deutschland gewonnen werden können. Bei dieser Sachlage lohnt es doch wohl zum Mindesten, dass das Ausw. Amt hier bei der genau informierten u. sachverständigen Botschaft anfragt, ob eine solche Anweisung erwünscht ist. Sehr gut wäre es, wenn Sie nach glücklicher Durchführung dieser Aktion in irgend welcher Form formell hiervon [|4|] verständigt würden, damit Sie (zwar nicht durch Zeitungen aber durch vertrauliche Briefe) die führenden Zionisten anderer Länder von der Haltung Deutschlands verständigen können. Das liegt innerpolitisch im Interesse des EAC und es liegt zugleich im deutschen Interesse.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Ich bitte, mir nach Empfang dieses Briefes telegraphisch mitzuteilen, ob und was Sie unternommen haben und mir eventuell zu drahten: „Verkaufsverhandlungen begonnen“ (falls Sie etwas unternehmen), dann „Geschäft ab­geschlossen“ (falls Sie die Zusage erhalten, dass eine solche Anfrage erfolgt), schliesslich „Anfrage ist erfolgt“ (falls Sie hiervon verständigt werden).238 Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 22 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 13. August 1915 Handschriftlicher Brief, 5 Seiten; handschriftliche Korrekturen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00098« bis »00102«) oben rechts auf jeder Seite; gedruckte Paginierung des Briefblocks (»1« bis »5«); handschriftliche Vermerke in oberer rechter Ecke von Seite 1 (»Abl[age]. Lichtheim; Verweise 1, Ruppin ### 1) Naturalisationen«); Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer linker Ecke von Seite 1 (23. August 1915) CZA, Z3/54

Zionistisches Zentralbureau

Consple, 13.VIII.[19]15

Sehr geehrte Herren! […]239 Ich habe wiederholt mit Herrn Dr. Weber wegen der Anweisung an die Konsuln gesprochen. Ich erwarte jetzt Ihre Mitteilung, ob die Anfrage von Berlin erfolgen wird. 238 Lichtheim bat um diese Verklausulierung, da der telegrafische Nachrichtenverkehr zwischen Lichtheim in Konstantinopel und dem EAC in Berlin seit Dezember 1914 über den diplomatischen Chiffrierdienst der deutschen Botschaft abgewickelt wurde und damit sowohl die Deutsche Botschaft in Konstantinopel als auch das Auswärtige Amt in Berlin Einblick in den Inhalt der Telegramme hatte. 239 16-zeiliger Absatz, der eine Reihe von Briefen Ruppins auflistet, die Lichtheims Brief nach Berlin beigelegt waren. Der Absatz ist von anderer Hand mit dem handschriftlichen Vermerk »fehlen« versehen.

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Dokument 22

Je #{m}ehr die Situation sich klärt, umsomehr scheint es mir nötig, |2| dass das Aktionskomitee in klarer und bestimmter Weise seine Politik allen Gruppen im Auslande, namentlich in Amerika, deutlich macht. Könnte nicht bald wieder eine Sitzung des Grossen A. C. stattfinden? Mir scheint die politische Formel, welche alle Leute in allen Ländern ­acceptieren könnten, unschwer aufgestellt## werden zu können: 1) Die Organisation ist als solche neutral, d. h. sie darf nichts unternehmen, was als Parteinahme für eine Mächtegruppe erscheint. Sie hat hierzu gar keine Machtmittel, darf es aber auch prinzipiell nicht. Daher sind Jabotinskis [sic]240 Pläne241 und ähnliche Eseleien scharf zu verurteilen. 2) Da Palästina türkische Provinz ist, muss der Standpunkt absoluter Neutra Loyalität aufrechterhalten werden. Andernfalls gefährden wir die Koloni240 Wladimir Ze’ev Jabotinsky (1880–1940) war ein zionistischer Politiker und Schriftsteller aus Russland. Zwischen 1898 und 1901 studierte er Rechtswissenschaften in Rom. Nach dem Pogrom von Kischinjow 1903 fing er an, sich aktiv in der zionistischen Bewegung zu engagieren und die Idee einer jüdischen Selbstwehr zu propagieren. Von 1921 bis 1923 war er Mitglied der Exekutive der Zionistischen Organisation. In Opposition zur Politik Chaim Weizmanns (1874–1952) gründete er 1925 die Union der Zionisten-Revisionisten, die sich 1935 von der Zionistischen Organisation abspaltete und in der neugegründeten Neuen Zionistischen Organisation aufging. Wladimir Jabotinsky, Story of My Life, hg. v. Brian Horowitz / Leonid Katsis, Detroit, Mich., 2016; Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement; Michael F. Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle. Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky, Berkeley, Calif., 2001. Für eine höchst parteiische, aber allgemein verlässliche Biografie siehe Joseph B. Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story, 2 Bde., New York 1956/1961. Eine ausgewogene Lebensdarstellung liefert Hillel Halkin, Jabotinsky. A Life, London / New Haven, Conn., 2014. 241 Jabotinsky bemühte sich während des Ersten Weltkriegs gemeinsam mit Joseph Trumpeldor (1880–1920) um die Gründung einer Jüdischen Legion, die an der Seite der britischen Armee Palästina von der osmanischen Herrschaft befreien sollte. Die britische Regierung lehnte den Einsatz jüdischer Soldaten in Palästina allerdings zunächst ab und stimmte lediglich der Gründung eines Transportbataillons zu. Das sogenannte Zion Mule Corps, das sich in der Hauptsache aus den nach Alexandria deportierten Juden rekrutierte, wurde 1915 an der Dardanellenfront eingesetzt und 1916 nach der alliierten Niederlage in Gallipoli wieder aufgelöst. Nach intensiven Verhandlungen Jabotinskys in London wurde 1917 letztlich doch ein jüdisches Regiment gebildet, das für den Kampf an der palästinensischen Front vorgesehen war. Zum Einsatz kam es im Zuge der letzten Offensive des Oberbefehlshabers der britischen Truppen in Ägypten und Palästina, Edmund Allenby (1861–1936), im Spätsommer 1918. Martin Watts, The Jewish Legion and the First World War, New York 2004; Wladimir Jabotinsky, The Story of the Jewish Legion, New York 1945.

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sation und können |3| nirgends Vertrauen finden, da wir diesen Loyalitätsstandpunkt vom Beginn der Bewegung an vertreten haben. 3) Es steht uns frei, die öffentliche Meinung aller Länder und alle Regierungen über unsere Bestrebungen aufzuklären, damit wir Wohlwollen finden. Wir halten uns aber dabei immer im Rahmen unserer türkischen Politik und fördern nichts, was der Türkei schädlich sein könnte. 4) In erster Linie bemühen wir uns um Deutschlands Wohlwollen, weil Deutschland an der Entwicklung der Türkei besonders interessiert ist und den meisten Einfluss auf die Türkei besitzt. Ich glaube, eine so gemässigte politische Formel wird von allen unseren Freunden auch in Russland, England u. Amerika acceptiert werden, insbesondere, wenn wir Beweise |4| dafür haben, dass Deutschland uns grundsätzlich fördern will. Bleibt Palästina türkisch und siegt Deutschland, so ergiebt sich das Weitere von selbst: Der Dank der Juden für Deutschlands Hilfe in dieser Zeit und für sein späteres Eintreten für uns bei den Türken wird die gesamte Bewegung deutschlandfreundlich machen, zumal ja alle Voraussetzungen hierfür {in der Stimmung der meisten Juden und} in unserer jetzigen Leitung gegeben sind. Natürlich kann dies {Endresultat} heute nicht öffentlich als unser Wunsch verkündet werden; dies wäre unklug, solange der Krieg uns eine formelle Neutralität aufnötigt. Der engere Kreis unserer Freunde begreift ja ohnehin, um was es sich handelt. Gelingt es uns, von der deutschen Regierung eine offizielle Mitteilung darüber |5| zu erhalten, dass sie ihre Konsuln in dem gewünschten Sinne angewiesen hat, so wird uns damit jedenfalls die Möglichkeit gegeben, im Ausland – vor allem in Amerika – die Stimmung in unserem Sinne zu beeinflussen und die gegnerischen Stimmen, die einen öffentlichen Druck auf die Türkei durch Proteste u. Resolutionen haben möchten, ganz zum Schweigen zu bringen. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie die unter 1–4 entwickelten Gesichtspunkte ausführlich und nachdrücklich in vertraulichen Briefen an ­Brandeis,242 Lewin243 etc. entwickeln würden. *** 242 Louis D. Brandeis (1856–1941) war ein amerikanischer Jurist. Seit 1912 engagierte er sich in der zionistischen Bewegung Amerikas. Zwischen 1914 und 1918 war er Vorsitzender des Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs. Von 1916 bis 1939 war er Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. 243 Wahrscheinlich ist Shmaryahu Levin gemeint, der während des Ersten Weltkriegs für das EAC in den Vereinigten Staaten tätig war.

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Dokument 23

Matlawski u. Syrkin sollen mitteilen unter welchem Datum u. unter welcher Nummer ihr {sein} Naturalisationsgesuch abging. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim

Dokument 23 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 26. November 1915 Handschriftlicher Brief, 8 Seiten; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer rechter Ecke von Seite 1 (11. Dezember 1915) CZA, Z3/76 Richard Lichtheim

Konstantinopel, den {26.XI.[19]15}

Zionistisches Zentralbureau Sehr geehrte Herren! Ich drahtete Ihnen heute „Anweisung wurde erteilt.“ Die Botschaft hat die gewünschte Anweisung an die Konsuln von hier aus gegeben. Die Abschrift der Anweisung ist an das Ausw. Amt gegeben und es ist diesem anheimgestellt worden, Ihnen offizielle Mitteilung zu machen. Der Text, der mir vorgelesen wurde, lautet ungefähr folgendermassen: „Es hat sich als zweckmässig herausgestellt, die Stellung der Reichsregierung zu den jüdischen Bestrebungen in der Türkei näher zu präzisieren. Soweit es sich um Bestrebungen handelt, die nach ihrem rechtlichen Charakter |2| als deutsche betrachtet werden können, bedarf es keiner weiteren Ausführungen, dass solche Bestrebungen zu fördern sind. Hinsichtlich anderer jüdischer Bestrebungen, welche der wirtschaftlichen u. kulturellen Entwicklung der Juden in der Türkei dienen, wird erklärt, dass die Reichsregierung solchen Bestrebungen sowie der Einwanderung und Ansiedlung ausländischer Juden in der Türkei wohlwollend gegenübersteht, vorausgesetzt, dass dieselben

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{Bestrebungen} nicht etwaigen ‚als berechtigt zu betrachtenden‘ türkischen Interessen oder deutschen Interessen widersprechen. Die Konsuln werden ermächtigt, sich diesen jüdischen Bestrebungen gegenüber freundlich zu verhalten und zu ihren Gunsten einzugreifen. |3| In welcher Weise dies im einzelnen geschehen soll, bleibt den Konsuln über­ lassen. Die Konsuln sollen bei ihren diesbezüglichen Schritten die Wünsche und Empfindungen der türkischen Behörden berücksichtigen und den freundliche freundschaftlichen, nichtamtlichen Charakter ihrer Schritte betonen. Sie sollen schliesslich berichten, was sie in diesen Angelegenheiten tun.“244 Dies [ist] ungefähr der Text. Wie Sie sehen, ist derselbe sehr vorsichtig verklausuliert. Wie mir hier gesagt wurde, sei diese Verklausulierung erfolgt, damit die Botschaft im Fall der Veröffentlichung der Anweisung nach allen Seiten gedeckt ist. Im Einzelnen ist folgendes zu bemerken: Der Passus bezüglich solcher Be-|4|strebungen, welche rechtlich als deutsche zu betrachten sind, bezieht sich natürlich auf den Hilfsverein. Die Bemerkung, dass die jüdischen Einwanderungs- und Ansiedlungsbestrebungen zu fördern sind, soweit dadurch keine deutschen Interessen berührt werden, ist selbstverständlich, von den türkischen Interessen wird gesagt, dass sie (vom deutschen Standpunkt) als berechtigt betrachtet werden müssen, um als einschränkendes Moment bei der Unterstützung unserer Bestrebungen berücksichtigt zu werden. Das ist eine ganz gute Formulierung, denn damit wird nicht jedes von den Türken {gegen uns} geäusserte „Interesse“ anerkannt, sondern es soll auf seine Berechtigung geprüft werden. Dass die Konsuln auf |5| die türkischen Behörden Rücksicht nehmen müssen, ist verständlich. Dass sie den nichtamtlichen, freundschaftlichen (auf „deutsch“ offiziösen) Charakter ihrer Schritte betonen sollen, nimmt der Anweisung in formeller Hinsicht einen Teil ihres Wertes. Mir wurde das damit erklärt, dass der Unterschied zwischen „amtlichen“ und „freundschaftlichen“ Massnahmen ein rein formeller sei. Wenn ein Konsul für eine Sache eintritt, so bekundet 244 Die Anweisung der Deutschen Botschaft in Konstantinopel an die Konsulate vom 22.  November 1915 ist abgedruckt in: Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 422–423. Sie enthielt ein geheimes Zusatzschreiben, das auch Lichtheim bis in die 1960er Jahre hinein unbekannt blieb. Es erklärte ausdrücklich eine »freundliche Haltung gegenüber dem Zionismus und seinen Bestrebungen.« Überdies würdigte es mit dem Hinweis, dass die Anweisung »durch Schritte veranlasst worden [ist], die die Leitung der zionistischen Bewegung im Auswärtigen Amt, sowie der hiesige Vertreter der Zionisten bei der Kaiserlichen Botschaft bereits seit geraumer Zeit wiederholt unternommen haben«, explizit die zentrale Rolle Lichtheims beim Zustandekommen der Anweisung.

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Dokument 23

er damit das Regierungsinteresse, gleichviel ob er dies amtlich oder offiziell oder offiziös tut. Man hat aber die vorsichtige Form gewählt, um im Falle der Veröffentlichung möglichst wenig Anstoss zu erregen. |6|  Da mir die Anweisung nur einmal vorgelesen wurde, so weiss ich nicht, ob meine Wiedergabe genau ist und ob ich die Einzelheiten richtig deute. Dies ist nunmehr Ihre Sache, da Sie wohl dort Näheres hören werden. Im Ganzen habe ich den Eindruck, dass wir zufrieden sein können. Der praktische Wert einer solchen Anweisung – mag sie viel oder wenig Klauseln enthalten – muss erst erprobt werden. Die Konsuln können viel für uns tun, würden sie sich auf das grundsätzliche Wohlwollen der Regierung berufen, sie können wenig oder gar nichts tun, indem sie auf die Einschränkungen |7| verweisen. Wir haben nach den wiederholten mündlichen Versicherungen, die uns hier und in Berlin gemacht gegeben wurden, keinen Grund, in der vorsichtigen Form der Anweisung etwas anderes als eine begreifliche Rücksicht auf die Türkei zu sehen. Wir können also hoffen, dass die Konsuln die Anweisung loyal und wohlwollend deuten. Wieviel dabei praktisch herauskommt, wird die Zukunft lehren. Trotz aller Einschränkungen und Verklausulierungen bleibt die bedeutungsvolle Tatsache bestehen, dass die deutsche Regierung in einer amtlichen Kundgebung ausdrückt, dass sie der Ein-|8|wanderung und Ansiedlung ausländischer Juden wohlwollend gegenübersteht, und den Konsuln grundsätzlich die Ermächtigung erteilt, zugunsten solcher Bestrebungen einzugreifen. Wenn man berücksichtigt, dass diese Anweisung den Konsuln in Palästina gegeben wurde, welche genau wissen, worum es sich handelt, so können wir diesen amtlichen Erlass wohl als einen politischen Erfolg betrachten. Mit Zionsgruss ergebenst Lichtheim Die Anweisung soll natürlich nicht veröffentlich werden. Vertrauliche Mitteilung an die Mitglieder des A. C. und PEC245 scheint mir aber erwünscht. Ich glaube aber, es ist besser, dass sie auch diesen Personen nicht den genauen Text, sondern nur den Sinn der Anweisung mitteilen, um die Veröffentlichung des Textes unmöglich zu machen und die verwirrende Kommentierung der Einzelheiten zu verh vermeiden. Die Form der Mitteilung ist jedenfalls sehr genau zu überlegen. Ich lege einen Entwurf bei.

245 Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs.

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Dokument 24 Richard Lichtheim an die Deutsche Botschaft 246 in Konstantinopel Konstantinopel, 22. Dezember 1915 Maschinenschriftlicher Brief, 7 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00066« bis »00072«) oben rechts auf jeder Seite CZA, Z3/56 [Lichtheim rekapituliert die in den vergangenen Monaten erfolgten Repressio­nen der osmanischen Behörden gegen den Jischuw. Er bedankt sich bei der deutschen Botschaft für die zugunsten der jüdischen Ansiedlung erfolgten Interventionen und bittet vor dem Hintergrund einer neuerlichen Verfolgungswelle zugleich um ein erneutes Eintreten für die zionistischen Interessen.] Konstantinopel, den 22. Dezember 1915 Zu Beginn des Krieges hat die Kaiserlich Deutsche Regierung den leitenden Personen der Zionistischen Organisation erklärt, dass sie bereit sei, im Bedarfsfalle für die jüdische Bevölkerung in Palästina und für die von der Zionistischen Organisation dort geschaffenen Institutionen nach Möglichkeit schützend einzutreten. Wir waren genötigt, von diesem freundlichen Entgegenkommen der Kaiserlichen Regierung wiederholt Gebrauch zu machen, und wir werden es immer in dankbarer Erinnerung bewahren, dass die Kaiserliche Botschaft in Konstantinopel in einer ganzen Reihe von Fällen für die bedrohten Interessen der Zionistischen Organisation und damit der jüdischen Bevölkerung Palästinas eingetreten ist. Ich erinnere daran, dass zu Beginn dieses Jahres seitens gewisser Beamter ¦in¦ Palästinas eine Juden- und Zionistenverfolgung eingeleitet wurde, die mit dem überraschenden und gewaltsamen Abtransport von 700 Juden russischer Untertanenschaft begann, welchem dann die teils freiwillige, teils unfreiwillige Abreise von etwa 12 000 Juden folgte.247 246 Nach dem Tod Botschafter von Wangenheims im Oktober 1915 übernahm im November 1915 der deutsche Diplomat Paul Graf Wolff Metternich (1853–1934) den Botschafterposten in Konstantinopel. Während seiner Amtszeit protestierte er vergeblich und zum Missfallen Berlins gegen die jungtürkische Politik gegenüber den Armeniern, die zwischen 1915 und 1917 in Massenverhaftungen, Deportationen und Massakern gipfelte. Im Oktober 1916 wurde er schließlich von seinem Posten abberufen. 247 Die Anzahl derjenigen palästinensischen Juden, die das Land bis Ende 1915 verließen, lässt sich nicht unabhängig rekonstruieren.

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Dokument 24

Es fanden damals zahlreiche Haussuchen, Verhaftungen und Verschickun­ gen statt, Kinder und Frauen wurden mit der Ausweisung oder Internierung bedroht, angesehene Personen, welche an der Spitze der wirtschaftlichen und wohltätigen jüdischen Unternehmungen standen, wurden unaufhörlich in ihrer Tätigkeit gestört. Auf den Besitz oder Vertrieb sogenannter Nationalfondmarken (eines von Deutschland aus vertriebenen Sammelmittels für einen gemeinnützigen jüdischen Fonds) wurde die Todesstrafe gesetzt, weil es sich um Briefmarken handele. Die freiwilligen Schiedsgerichte der Juden, die in keiner Weise gegen bestehende Gesetze verstiessen, da sie keine Zwangsmittel zu ihrer Verfügung hatten, sondern nach dem Vorbild zahlreicher ähnlicher Schiedsgerichte in Europa auf freiwilliger Zustimmung der Parteien |2| beruhten, wurden als Eingriff in die staatliche Gerichtsbarkeit verboten. Die jüdische Bank wurde geschlossen, wodurch einem grossen Teil der jüdischen Bevölkerung, aber auch den zahlreichen arabischen Kunden der Bank erhebliche Verluste entstanden. Wir dürfen es wesentlich den Bemühungen der Kaiserlichen Botschaft zuschreiben, wenn diese feindseligen Massnahmen, für welche nicht der geringste stichhaltige Grund vorlag, durch die Anordnung der Zentralregierung teils aufgehoben, teils gemildert wurden. Viele bedauerliche Folgen der erwähnten Missgriffe konnten zwar nachträglich nicht beseitigt werden, doch trat für einige Monate Ruhe ein, und die jüdische Bevölkerung, welche gleichzeitig infolge der Unmöglichkeit des Exports landwirtschaftlicher Produkte sowie durch die Heuschreckenplage wirtschaftlich schwer zu kämpfen hatte,248 gab sich der Hoffnung hin, dass wenigstens die Verfolgungen von Seiten der Behörden ihr Ende erreicht hätten. Es sind jedoch leider in den letzten Monaten wiederum beunruhigende Massnahmen erfolgt. 1. Der Vertreter der Zionistischen Organisation in Palästina, der deutsche Staatsangehörige Dr. Arthur Ruppin, der als Leiter wichtiger kolonisatorischer Unternehmungen das allgemeine Vertrauen weitester jüdischer Kreise

248 Die wirtschaftliche Lage Palästinas hatte sich nach Kriegsbeginn erheblich verschlechtert. Durch die kriegsbedingte Blockade wichtiger Handelswege, vor allem nach Westeuropa und Russland, war der Export von palästinensischen Waren wie Zitrusfrüchten und Wein nicht mehr möglich. Auch war zunächst der Transfer von in Europa gesammelten Spendengeldern nach Palästina nicht möglich. Zudem wurde die Region im Frühjahr und Sommer 1915 von einer Heuschreckenplage heimgesucht, die einen Großteil der Ernte vernichtete. Morris, Righteous Victims, 84 f.

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in Deutschland und ausserhalb Deutschlands geniesst, ist von dem Oberkommandierenden der 4. Armee, Djemal Pascha, schon zu Beginn dieses Jahres wiederholt mit der Ausweisung bedroht worden. Es bedurfte einer schriftlichen Mitteilung des Kaiserlichen Botschafters an den Grossvezir [sic], um das Verbleiben des Herrn Dr. Ruppin in Palästina zu ermöglichen. Neuerdings hat Djemal Pascha jedoch Herrn Dr. Ruppin durch Androhung von Repressalien gegen die jüdischen Schulen und Kolonien gezwungen, sein Amt niederzulegen. Sein Stellvertreter, Herr Dr. Thon, ein |3| österreichischer Staatsangehöriger, musste ein Naturalisationsgesuch einreichen, um die Erlaubnis zur Fortführung der Geschäfte zu erwirken. 2. Der Militärkommandant von Jaffa, Hassan Bey, der bereits wiederholt durch seine Uebergriffe gegen die jüdische und arabische Bevölkerung sowie aus anderen Gründen von sich reden gemacht hat, fährt in der Schikanierung der jüdischen Bevölkerung fort. Herr Dr. Thon wurde in der letzten Zeit zuweilen 4 bis 6 Mal am Tage, oder auch um Mitternacht, zu ihm gerufen, um sich wegen der einen oder anderen Sache zu verantworten. Seit Monaten sucht der Kommandant durch allerlei Drohungen und durch Störung des für wohltätige jüdische Zwecke vom Ausland organisierten Geldverkehrs grössere Beträge zu erlangen, die er nach seiner Angabe für gewisse ihm am Herzen liegende Projekte (Bau einer grossen Strasse in Jaffa und Unterhalt einer arabischen Schule) verwenden will.249 Die interessierten jüdischen Kreise haben ihre Bereitwilligkeit gezeigt, zur Linderung der Not nicht nur unter der jüdischen, sondern auch unter der arabischen Bevölkerung Palästinas beizutragen. So haben die amerikanischen Zionisten mit den ausschliesslich in jüdischen Kreisen gesammelten Mitteln vor einigen Monaten eine Schiffsladung Lebensmittel nach Palästina gesandt, von denen 45 % der christlichen und muhamedanischen Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden.250

249 Bereits im November 1915 hatte der Militärkommandant von Jaffa, Ḥ asan Al-Basrī ̣ Al-Ghábī Bey, verlangt, dass amerikanische Hilfsgelder, die vom Joint gesammelt und mit dem Schiff USS Des Moines nach Jaffa gebracht wurden, ihm und nicht dem amerikanischen Konsul zur Verteilung ausgehändigt würden. Nach Morgenthaus Protest wurden die Gelder jedoch wie geplant an den amerikanischen Konsul übergeben, der es dann an das von Ruppin geleitete jüdische Verteilungskomitee weitergab. Lichtheim, Rückkehr, 337. 250 Eine der wichtigsten vom Joint organisierten Lebensmittelsendungen erreichte Palästina im April 1915. Das amerikanische Schiff USS Vulcan brachte 900 Tonnen Lebensmittel, davon wurden 55 % dem Jischuw übergeben, 26 % der muslimischen und 19 % der christlichen Bevölkerung. Siehe Jacobson, From Empire to Empire, 46.

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Dokument 24

Es kann den betreffenden jüdischen Kreisen jedoch nicht zugemutet werden, die für ihre notleidenden Glaubensgenossen bestimmten Beträge zu schmälern, um die gute Laune des Kommandanten Hassan dadurch zu erkaufen. Neuerdings hat der Kommandant versucht, eine ihm gar nicht zustehende Kontrolle über diese Gelder zu erlangen. Er forderte, dass das Geld an ihn ausgezahlt und durch ihn verteilt werde und gab erst auf Befehl von Kon­ stantinopel hierin nach. Als Herr Dr. Thon und der holländische Staatsangehörige Herr Hoofien sich zum Gouverneur von Jerusalem begaben, um von diesem die Er-|4|laubnis zur Verteilung des Geldes zu erlangen, telegraphierte der Kommandant von Jaffa an den Polizeichef von Jerusalem, er solle die genannten Herren zur sofortigen Rückreise nach Jaffa zwingen, was dann freilich unterblieb. 3. Es sind in letzter Zeit mehrere Presseprozesse gegen Juden eingeleitet und jüdische Redakteure wegen harmloser Artikel zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Kürzlich wurde nicht nur gegen die Redakteure, sondern auch gegen Drucker, Setzer und gelegentliche Mitarbeiter einer jüdischen Zeitschrift in Jerusalem ein Prozess eingeleitet.251 Unter den vor das Kriegsgericht gestellten Angeklagten befindet sich auch ein Arzt, Dr. Beham,252 der die jüdische Abteilung des internationalen Gesundheitsamtes in Jerusalem253 leitet, dessen Gründung von der Kaiserlichen Regierung gefördert wurde und an dessen Spitze früher Herr Professor Muehlens254 aus Hamburg stand. Die Schuld des Herrn Beham, die er (und ebenso ein anderer angeklagter Mitarbeiter) vielleicht mit harter Gefängnisstrafe büssen muss, besteht darin, dass er für die verfolgte Zeitschrift vor längerer Zeit einen rein wissenschaftlichen Aufsatz geliefert hat.

251 Anfang Dezember 1915 ließ Cemal Pascha eine Reihe jüdischer Persönlichkeiten festnehmen. Unter den Verhafteten und vor Gericht gestellten befanden sich Mitarbeiter der beiden Zeitungen Ha-Aḥdut und Ha-Po’el ha-Ẓa’ir. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 272. 252 Arye Beham (Leo Böhm, auch Behm, 1877–1941) war ein litauischer Arzt und Zionist. 253 Das Internationale Gesundheitsamt in Jerusalem war ein gemeinsames Institut der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Malaria in Jerusalem, des Jewish Health Office und der Gesellschaft der jüdischen Ärzte und Naturwissenschaftler für sanitäre Interessen in Palästina. Es wurde im Mai 1913 gegründet. 254 Peter Mühlens (1874–1943) war ein deutscher Tropenmediziner, der zwischen 1912 und 1914 in Palästina wirkte.

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

4. Vor einigen Tagen wurde{n} Dr. Ruppin, Dr. Thon und drei andere Herren (Feldmann,255 Ulitzki256 und Blumenfeld)257 vor den Untersuchungsrichter in Jaffa geladen, weil auf einen Befehl von Jerusalem die vor 5 Monaten bereits eingestellte Untersuchung wegen des Verkaufs von Nationalfondsmarken wieder aufgenommen wurde.258 Obwohl allen erreichbaren türkischen Stellen immer wieder erklärt worden ist, dass es sich um Wohltätigkeitsmarken handelt, wie solche in allen Ländern verkauft werden, scheinen die türkischen Behörden noch immer an der Auffassung festzuhalten, dass es sich um Briefmarken handelt, ohne auf die naheliegende Frage einzugehen, wo und wie der zu den jüdischen Briefmarken erforderliche Postdienst besteht. Ich füge einige solcher Marken, die in Köln a. Rhein hergestellt und von dort vertrieben wurden, sowie entsprechende |5| Marken der deutschen Schule in Konstantinopel bei. Nach dem Verhör wurden Dr. Thon und Ulitzki für verhaftet erklärt. Es ist wahrscheinlich, dass die Angeklagten vor das Kriegsgericht in Jerusalem gestellt ### werden. Das Anklagematerial, soweit das den Angeklagten bisher mitgeteilt wurde, besteht darin, dass vor 5 Jahren einige der erwähnten Marken in den Büros der Herren Ruppin und Thon verkauft wurden. Wenn deutsche, österreichische und ottomanische Juden mit solcher Begründung vor ein türkisches Kriegsgericht gestellt werden können, so beweist dies nicht nur die völlige Recht- und Schutzlosigkeit der jüdischen Bevölkerung, sondern zugleich die Absicht der Behörden, jeden beliebigen Vorwand zur Bedrückung der Juden auszunutzen. 255 Yehoshua Radler-Feldmann (Pseudonym: Rabbi Binyamin; 1880–1957) war ein hebräischer Journalist und Publizist. Er ließ sich 1907 in Palästina nieder und war zunächst als Arbeiter in Petach Tikwa, dann als Sekretär am Hebräischen HerzliaGymnasium tätig. 1910 siedelte er nach Jerusalem über, wo er als Lehrer arbeitete. 1925 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern von Brit Shalom. 256 Abraham Ulitzur (Ulitzky; 1891–1948) ließ sich 1908 in Palästina nieder und fungierte während des Ersten Weltkriegs als Sekretär im Palästina-Amt in Jaffa. Ab 1921 leitete er die Finanzabteilung des Keren Hayesod (wörtl. Gründungsfonds), einer Organisation, die seit ihrer Gründung 1920 weltweit Spenden für die jüdische Ansiedlung in Palästina bzw. seit 1948 für Israel sammelt. 257 David Bloch-Blumenfeld (1880–1947) war Arzt und führendes Mitglied der Arbeiterbewegung in Palästina. Er war Mitbegründer von Po’ale Ẓiyon und von 1925 bis 1927 Bürgermeister von Tel Aviv. 258 Den osmanischen Behörden galten die Marken des Jüdischen Nationalfonds als Beweis separatistischer Aspirationen der Zionisten. Die Genannten wurden wegen Landesverrats vor das Kriegsgericht in Jerusalem gestellt. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 263 f.

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5. Kürzlich wurden die von Jaffa abreisenden Juden, und zwar sowohl die Untertanen feindlicher wie die neutraler Staaten, zu der schriftlichen Erklärung gezwungen, dass sie niemals nach Palästina zurückkehren werden. Obwohl eine solche Erklärung wirkungslos, weil völkerrechtlich unhaltbar ist, sei doch darauf hingewiesen, dass die Türkei damit den Versuch macht, die Juden einer Sonderbehandlung zu unterwerfen, die ebenso rechtswidrig wie verletzend ist. 6. In derselben Richtung liegt ein von der Zentralregierung erlassener Befehl, in Palästina keine Grundstücksübertragungen auf Juden oder zwischen Juden vorzunehmen. Diese Verordnung widerspricht der durch internationale Vereinbarungen getroffenen Bestimmung, wonach alle Ausländer zum Grunderwerb in der Türkei berechtigt sind, und sie verstösst ferner gegen die türkische Verfassung, da das Verbot auch für die verfassungsgemäss gleichberechtigten osmanischen Juden gilt. Die erwähnten Vorfälle zeigen, dass die Behandlung der Juden in Palästina durch die türkischen Behörden nach wie vor zu Klagen und Be|6|fürchtungen Anlass gibt. Das ist umso bedauerlicher, als die Frage der Untertanenschaft der palästinensischen Juden längst in befriedigender Weise gelöst ist. Weit über 20 000 Juden in Palästina sind seit Kriegsbeginn türkische Untertanen geworden. Die nichtnaturalisierten russischen, französischen, englischen und italienischen Juden sind abgereist. Die jüdische Bevölkerung hat eine durchaus loyale Haltung gezeigt, und weder einzelne Juden noch jüdische Gesellschaften haben sichn irgendeine ungesetzliche Handlung zu Schulden kommen lassen. Es ist nicht die Absicht der Zionistischen Organisation, im gegenwärtigen Zeitpunkt an die Kaiserliche Regierung mit der Bitte heranzutreten, eine grundsätzliche Entscheidung der türkischen Regierung über die Frage der künftigen jüdischen Einwanderung und Ansiedlung in Palästina herbeizuführen. Die Gründe, welche zur Zeit gegen eine solche Aufrollung dieser Fragen sprechen, sind uns bekannt. Dagegen ist es unser dringender Wunsch, dass die jüdische Bevölkerung und die jüdischen Institutionen in Palästina vor Belästigungen und Verfolgungen geschützt werden. Ich erlaube mir daher, die Aufmerksamkeit der Kaiserlichen Botschaft auf die augenblickliche Sachlage zu lenken, und schliesse daran die ergebene Bitte, es möge geprüft werden, ob die Möglichkeit besteht, durch geeignete Schritte bei der türkischen Regierung zu erwirken, dass die grundlosen Prozesse wegen angeblicher Pressevergehen, wegen des NationalfondsmarkenVerkaufs und dergleichen eingestellt werden, und dass die staatsbürgerlichen Rechte der Juden respektiert werden. Wenn eine Rückkehr des Herrn Dr. Ruppin auf seinen Posten ermöglicht werden könnte, so wäre dies sowohl mit Rücksicht auf seine deutsche

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Staatsangehörigkeit wie im Interesse des Fortgangs unserer Arbeiten sehr zu begrüssen. Es müsste freilich verhindert werden, dass die entsprechenden |7| Anordnungen der Zentralregierung oder sonstige für zweckmässig erachtete Massnahmen von den palästinensischen Behörden zum Anlass weiterer Verfolgung genommen werden. Ich erlaube mir die Hoffnung auszusprechen, die Kaiserliche Botschaft werde wie in zahlreichen früheren Fällen so auch diesmal den erwähnten Missständen ihre geneigte Aufmerksamkeit zuwenden und der jüdischen Bevölkerung Palästinas ihren Schutz angedeihen lassen. Mit vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst gez. Lichtheim. An die Kaiserliche Deutsche Botschaft in Konstantinopel.

Dokument 25 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 30. März 1917 Handschriftlicher Brief, 9 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00155« bis »00164«) oben rechts auf jeder Seite; Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer rechter Ecke von Seite 1 (Datum unleserlich) CZA, Z3/63 [Nach Kampfhandlungen an der palästinensischen Front fürchtet Lichtheim eine Räumung Jaffas und Jerusalems. Er weist auf die Konsequenzen einer Evakuierung für das jüdische Kolonisationswerk und für das Verhältnis zwischen dem Osmanischen Reich und den Vereinigten Staaten hin. Zudem beschreibt Lichtheim die Schwierigkeiten bei der Verteilung von Hilfsgütern vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten.] Streng vertraulich

Konstantinopel, 30.III.[19]17 Zionistisches Zentralbureau, Berlin W 15, Sächsische Str. 8

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Dokument 25

Sehr geehrte Herren! 1) In meinem gestrigen Briefe erwähnte ich bereits mit Bezugnahme auf den beigefügten Bericht Dr. Thons v. 5.III., dass die Räumung Gazas die Befürchtung nahelegt, auch Jaffa u. Jerusalem könnten im Falle weiteren Vorrückens der Engländer von der Zivilbevölkerung auf Befehl der Behörden geräumt werden.259 Der gestern gemeldete Erfolg der Türken bei Gaza rückt zwar diese Gefahr wieder etwas hinaus, aber der Gedanke an die Möglichkeit beschäftigt Dr. Ruppin und mich fortgesetzt.260 Was eine solche Räumung bedeuten würde, wissen Sie: das Kolonisationswerk wäre damit vernichtet. Wenn es sich nur um Getreidebau handelt, so kann der Bauer auf seinen Platz zurückkehren und hat nur beschädigte Häuser u. Geräte wieder herzurichten. Bei den Kolonien um Jaffa aber handelt es sich um kostbare Pflanzungen, in denen |2| viele Millionen stecken und die völliger Vernichtung preisgegeben sind, wenn die Bewohner fort müssen. Es genügt ja, dass die Pflanzungen einige Wochen nicht bewässert werden, um alles zu zerstören. Ob ernste militärische Gründe unter Umständen für eine solche Räumung sprechen, kann ich nicht beurteilen, glaube es aber kaum, da es sich ja dort nicht um einen Stellungskrieg wie im Westen handelt. Auch der Grossrabbiner erhielt vor einigen Tagen derartige Nachrichten. Sowohl er wie Herr Elkus261 sprachen daraufhin mit Talaat. Dem Grossrabbi259 In Erwartung eines Angriffs der von General Archibald Murray (1860–1945) befehligten britischen Egyptian Expeditionary Force, die ab Februar 1917 vom Sinai aus nach Palästina vorzurücken begann, hatte Cemal Pascha am 1. März die Evakuierung der fast ausschließlich muslimischen Zivilbevölkerung Gazas angeordnet. Anthony Bruce, The Last Crusade, The Palestine Campaign in the First World War, London 2002. 260 Tatsächlich hatte Cemal Pascha trotz der erfolgreichen Abwehr des englischen Angriffs auf die osmanischen Stellungen in Gaza bereits am 28. März die Evakuierung sämtlicher Ortschaften innerhalb des Bezirks Jaffa befohlen. Er ordnete an, dass sämtliche osmanische Staatsbürger Jaffa und Tel Aviv zu verlassen und sich an einen Ort im Landesinneren – ausgenommen Jerusalem, Haifa und andere Küstenstädte – zu begeben haben. Den Angehörigen neutraler oder mit dem Osmanischen Reich verbündeter Staaten, also in der Hauptsache Deutschen und Österreichern, war es gestattet, auf eigene Verantwortung in Südpalästina zu verbleiben. Lichtheim hatte von der Räumung Jaffas erst im Nachhinein erfahren, da die an ihn gerichteten Telegramme Thons von der deutschen Botschaft zurückgehalten worden waren. 261 Abram Isaac Elkus (1867–1947) war ein amerikanisch-jüdischer Jurist. 1916 folgte er Morgenthau als Botschafter der Vereinigten Staaten in Konstantinopel, nachdem dieser den Posten verlassen hatte, um Woodrow Wilson im Präsidentschaftswahlkampf zu unterstützen. Als die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Deutschland eintraten, brach das Osmanische Reich im April 1917 die diplomatischen Beziehungen ab und Elkus wurde abberufen.

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ner sagte Talaat nur, vorläufig sei keine Gefahr. Herrn Elkus sagte er zunächst dasselbe, meinte aber dann auf dessen Drängen, dass es sich um militärische Fragen handele und dass er deshalb nichts bestimmtes sagen könne. Das klingt schon weniger erfreulich. Immerhin meinte er, dass solche Entscheidungen nicht getroffen werden würden, ohne dass zuvor in Konstantinopel angefragt |3| würde. So steht die Sache augenblicklich. Ich meine nun, Sie sollten wegen dieser Angelegenheit versuchen, dort etwas zu tun. Gegen ernste militärische Argumente giebt es natürlich keine Einwendungen. Was aber durchaus verhindert werden sollte, ist eine Zerstörung aus anderen als {zwingenden} militärischen Gründen. Die Türken sind zu dergleichen Taten leider sehr leicht bereit, wenn sie nicht rechtzeitig daran gehindert werden. Spricht nach deutscher Auffassung kein militärischer Gesichtspunkt (oder kein wesentlicher militärischer Gesichtspunkt) für die Räumung, so sollten die politischen Gesichtspunkte, die gegen die Räumung sprechen, ernstlich erwogen werden. Die in Jaffa und den Pflanzungskolonien um Jaffa konzentrierte moderne jüdische Bevölkerung ist nun einmal eine Art Schosskind des Judentums geworden. In allen La Ländern der Welt kennt man jetzt das dort |4| begonnene Kolonisationswerk. Ebenso sind {geniessen} wieder die hauptsächlich in Jerusalem konzentrierten frommen Juden der älteren Generation bei den orthodoxen jüdischen Kreisen in der ganzen Welt die grösste Verehrung. Die gewaltsame Vertreibung der {etwa 50–60 000}262 Juden aus Jaffa, u. Jerusalem u. den umliegenden Kolonien {unter denen sich übrigens etwa 8000 Oesterreicher befinden}, müsste auf die Juden etwa denselben Eindruck machen, den die Katholiken überall erhalten würden, wenn der Papst und alle Kardinäle aus Rom vertrieben und der Vatikan eingeäschert würde. {Übrigens würden die Vertriebenen grösstenteils verhungern.}

262 Diese Einwohnerzahlen für Jerusalem und Jaffa gehen auf Arthur Ruppins Schrift Syrien als Wirtschaftsgebiet (1916) zurück, in der er die Anzahl jüdischer Einwohner in Jerusalem mit 45 000 und Jaffa mit 10 000 beziffert. McCarthy vermutet, dass Ruppin – in seiner Funktion als Leiter des Palästina-Amts in Jaffa verantwortlich für das zionistische Kolonisationsprogramm – aus ideologischen Gründen bewusst die Statistik schönte und vor allem für die Städte Jerusalem und Jaffa erhöhte Angaben machte. Laut McCarthy muss von einer deutlich geringeren jüdischen Bevölkerung am Vorabend des Ersten Weltkriegs ausgegangen werden (McCarthy, Population of Palestine, 1–24). Zur Bedeutung von Statistiken für zionistische Propagandazwecke siehe Etan Bloom, The »Administrative Knight« – Arthur Ruppin and the Rise of Zionist Statistics, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), 183–203.

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Herr Elkus ist über die Sache sehr beunruhigt, und er hat allen Grund dazu. Es scheint, dass man mit ihm in Amerika nicht ganz zufrieden ist, weil er verschiedene seiner Aufträge nicht durchführen könnte: z. B. die Ärzteexpedition nach Palästina263 und die Entsendung der Schiffe mit Lebensmitteln u. Medikamenten, die seit Wochen in Alexandrien |5| liegen. Wie ich höre, hat er dieserhalb ein sehr scharf gehaltenes Telegramm aus Washington bekommen. Wenn es nun auch noch passiert, dass während seiner Amtsführung die Juden aus Palästina vertrieben werden (gleichgültig aus welchen Gründen dies geschieht) so ist er fertig und hat seine Rolle in der Öffentlichkeit ausgespielt. {Die amerikan. Juden werden dies weder der Türkei noch ihm jemals verzeihen.} Dies weiss er, und er weiss auch, dass ein solcher Vorfall mit zum Anlass des Krieges zwischen der Türkei u. Amerika werden kann. Es ist ja kein Zweifel, dass in Amerika neben der Hetzkampagne gegen Deutschland auch eine Kampagne gegen die Türkei geführt wird, die sich nach {eventuellem} Ausbruch des Krieges mit Deutschland noch steigern wird. Die Armenier- u. Araberverfolgungen werden immer wieder vorgebracht werden, sie sind aber schon zu weit zurückliegend, um das öffentliche Interesse sehr zu erregen.264 Wenn aber dazu |6| im jetzigen Zeitpunkt die Vertreibung der Juden aus Jerusalem und die Zerstörung des Kolonisationswerkes kommt, so kann dies die Öffentlichkeit wieder sehr stark beschäftigen und die Stimmung zum Kriege mit der Türkei erhöhen. 263 Bereits im Juni 1916 hatte die Zionistische Organisation die amerikanischen Zionisten ersucht, medizinisches Personal und Equipment nach Palästina zu entsenden, da die Versorgung vor Ort erhebliche Mängel aufwies. Diese Aufgabe wurde schließlich von der Women’s Zionist Organization of America, Hadassah, übernommen. Das Programm musste jedoch nach dem Kriegseintritt Amerikas gestoppt werden, da es amerikanischen Staatsbürgern nicht mehr erlaubt war, nach Palästina einzureisen. Shifra Shvarts / Theodore M. Brown, Kupat Holim, Dr. Isaac Max Rubinow, and the American Zionist Medical Unit’s Experiment to Establish Health Care Services in Palestine, 1918–1923, in: Bulletin of the History of Medicine 72 (1998), H. 1, 28–46. 264 Lichtheim spielt hier auf die 1915/1916 verübten Verbrechen an den Armeniern an. Zur selben Zeit ließ Cemal Pascha 5000 Araber nach Anatolien deportieren und eine Reihe arabischer Nationalisten wegen Hochverrats vor Gericht stellen. Einige von ihnen wurden schließlich zum Tode verurteilt oder aus dem Reich verbannt. Angesichts der drohenden Evakuierung Jaffas befürchteten die palästinensischen Juden, ihnen würde ein ähnliches Schicksal bevorstehen. Auch die internationale Presse warnte vor einer Verfolgung der Juden nach armenischem Muster. Roberto Mazza, »We Will Treat You as We Did with the Armenians«. Cemal Pasha, Zionism and the Evacuation of Jaffa, April 1917, in: M. Talha Çiçek (Hg.), Syria in World War I: Politics, Economy, and Society, New York 2016, 87–106.

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Dass solche Stimmung schon besteht, ist sicher. Ein eigentlicher Kriegsgrund liegt zwar nicht vor. Die Türken wollen auch durchaus den Krieg vermeiden. Herr Elkus scheint auch friedlich gestimmt zu sein u. sieht seine Aufgabe jedenfalls nicht in einer Verschärfung der Situation. Aber die Amerikaner möchten, wenn sie in den Krieg eintreten, auch militärisch etwas zeigen, und der einzige Punkt, wo sie dies zunächst tun können, ist die Türkei. Ich weiss, dass die Amerikaner daran denken, im Kriegsfalle 30–50 000 Mann, die sie in Manila haben und |7| die bezüglich Schulung u. Ausbildung durchaus brauchbar sein sollen, den Engländern in Mesopotamien oder Syrien zu Hilfe zu schicken. Soweit er ich dies beurteilen kann, wird der Krieg zwischen Amerika und der Türkei seitens der deutschen Diplomatie eben mit Rücksicht auf solche militärischen Möglichkeiten nicht gewünscht. Ist diese meine Annahme richtig, so wäre es gut, wenn Sie im Ausw. Amt darauf hinweisen würden, welche Steigerung der Kriegsstimmung in Amerika durch Evakuierung Südpalästinas bewirkt werden kann. Es sollten dann sofort die zuständigen militärischen Stellen gebeten werden, die Entfernung der Zivilbevölkerung zu vermeiden, sofern dies irgendwie vom militärischen Standpunkt zulässig ist. {Sonst wird in einem Tage zerstört, was seit 30 Jahren unter grossen Opfern aufgebaut wurde und alle unsere Bemühungen während des Krieges wären vergeblich gewesen.} 2) Wegen der von mir hier in Ihrem Auftrag unternommenen Schritte, |8| soweit sie mit Ihrer Eingabe an das Ausw. Amt265 zusammenhängen, berichte ich Ihnen in den nächsten Tagen. Herr Graf Waldburg266 forderte mich kürzlich auf, ihn zu besuchen. Ich habe ihm am 26. III. auf seinen Wunsch ein allgemeines Bild der Situation entworfen. Ihre Eingabe lag ihm jedoch noch nicht vor und auch ich bekam sie erst am folgenden Tage. Ich habe Herrn Grafen Waldburg gesagt, dass ich in diesen Tagen wieder bei ihm vorsprechen werde. Ich werde dann sowohl

265 In dem Memorandum baten Otto Warburg und Victor Jacobson im Namen des EAC die deutschen Diplomaten im Auswärtigen Amt, bei der osmanischen Regierung auf eine grundsätzliche Sympathiebekundung gegenüber der jüdischen Siedlungstätigkeit in Palästina hinzuwirken. Um die Sympathien der jüdischen Bevölkerung für die Mittelmächte nicht zu gefährden, läge es sowohl in deutschem als auch in osmanischem Interesse, sich der Politik Cemal Paschas entschieden zu widersetzen. Memorandum von Otto Warburg und Victor Jacobson an Staatssekretär Arthur Zimmermann, 5.  März 1917, in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 247–252. 266 Heinrich Graf von Waldburg zu Wolfegg und Waldsee war ab März 1917 Erster Botschaftsrat der Deutschen Botschaft in Konstantinopel.

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Ihre Vorschläge u. Mitteilungen, wie auch die Evakuierungsfrage zur Sprache bringen. 3) Wegen der amerikan. Schiffe in Alexandrien hörte ich noch, dass die Türken nun definitiv einverstanden sind und dass die deutsche Regierung gegen Torpedierungsgefahr garantieren will, wenn die Abfahrt 4  Wochen vorher bekannt gegeben wird u. inzwischen kein Krieg zwischen |9| Deutschland u. Amerika ausbricht. Dies hat mir Herr Elkus persönlich erzählt. Ich habe es für richtig gehalten, dass Dr. Ruppin267 u. ich unsere Beziehungen zur amerikanischen Botschaft Aufrecht erhalten, trotz des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen.268 Da wir dort unaufhörlich mit den Geldsendungen für Palästina269 zu tun haben, und in diesen Dingen immer von Herrn Elkus befragt werden, so müssten wir einen grossen u. wichtigen Teil unserer Geschäfte aufgeben (der dann vom Grossrabbiner oder sonstigen ebenso wenig dafür geeigneten Ottomanen übernommen wen werden müsste) falls Sie es nicht für richtig oder zu Missdeutungen führend halten sollten, wenn Dr. R.270 u. ich auch weiterhin – insbesondere wenn der Krieg mit Amerika offiziell erklärt wird – hier mit den Amerikanern in Berührung kommen. Ich bitte um Ihre Meinungsäusserung. Ergebenst Lichtheim

267 Nach seiner Ausweisung aus Palästina im Oktober 1916 unterstützte Ruppin die Arbeit Lichtheims in Konstantinopel. Ruppin übernahm schließlich Lichtheims Posten nach dessen Abberufung im Mai 1917. 268 Zwei Tage nachdem das Deutsche Reich am 1. Februar 1917 den »uneingeschränkten U-Boot-Krieg« erklärt hatte und auch unbewaffnete Schiffe neutraler Staaten angriff, brachen die Vereinigten Staaten die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab. Am 6. April folgte der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten aufseiten der Entente. 269 Die vom Joint in Amerika gesammelten Spendengelder gelangten zum Teil über die amerikanische Botschaft in Konstantinopel, zum Teil über das amerikanische Konsulat in Jaffa nach Palästina. Ruppin und Lichtheim standen daher in engem Kontakt mit der amerikanischen Botschaft, um die Verteilung der Gelder in Abstimmung mit Morgenthau und später mit Elkus zu koordinieren. Lichtheim, Rückkehr, 335 f. 270 Ruppin.

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Dokument 26 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 2. April 1917 Handschriftlicher Brief, 11 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Streichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00142« bis »00151«) oben rechts auf jeder Seite, beginnend ab Seite 2; Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros oben mittig auf Seite 1 (11. April 1917) CZA, Z3/63 [Lichtheim berichtet von einem Versuch, die Deutsche Botschaft zu einer diplomatischen Intervention gegen eine Evakuierung der jüdischen Ansiedlung zu bewegen. In dem Gespräch lotete er zudem die Bereitschaft der deutschen Vertretung aus, sich bei der osmanischen Regierung für eine generelle Sympathiebekundung gegenüber dem Zionismus einzusetzen. Schließlich legt er Gedanken über die Machtverteilung in der Führungsriege des Osmanischen Reichs, dessen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und die daraus erwachsenden Konsequenzen für den Zionismus dar.]

Zionistisches Zentralbureau, Berlin

Konstantinopel d. 2.IV.[19]17

Sehr geehrte Herren! Die Eingabe, welche Sie am 5.III. an Exzellenz Zimmermann richteten,271 ist zusammen mit Dr. Jacobsons Brief v. 19.III. und den übrigen Anlagen (Exposé an Baron Busche,272 an Herrn Rizoff273 usw.) am 26.III. in meine Hände gelangt. Wie ich Ihnen vor einigen Tagen schrieb, hatte Herr Graf Waldburg 271 Siehe Dokument 25, Fußnote 265. 272 Hilmar von dem Bussche-Haddenhausen (1867–1939) war ein deutscher Diplomat. Von November 1916 bis Dezember 1918 war er Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt in Berlin. Warburg und Jacobson hatten ihn bereits im Februar ersucht, bei der osmanischen Regierung auf eine grundsätzliche Sympathiebekundung gegenüber der jüdischen Siedlungstätigkeit in Palästina hinzuwirken. Memorandum von Otto Warburg und Victor Jacobson an Unterstaatssekretär Freiherr von dem BuscheHaddenhausen, 4. Februar 1917, in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 206–219. 273 Dimitar Hristov Rizov (auch Rozoff; 1862–1918) war ein bulgarischer Journalist und Diplomat. Zwischen 1915 und 1918 war er der bulgarische Gesandte in Berlin. Da er enge Verbindungen zu Talât Pascha unterhielt, ersuchte Jacobson auch ihn, sich bei

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Dokument 26

mich kurz vorher zu sprechen gewünscht, offenbar wegen Ihrer Eingabe, die gemäss Ihren Mitteilungen zwecks Rückäusserung hierher gelangt sein dürfte. Durch das verspätete Eintreffen der Eingabe war mir die Möglichkeit genommen, vorbereitende Schritte zu tun, und da Herr Graf Waldburg mich nur fragte, wie es denn im allgemeinen mit unserer Sache stehe, so konnte ich ihm nur Allgemeinheiten sagen und unterliess es, bestimmte Wünsche zu formulieren. Ich behielt mir dies vor, wenn ich Kenntnis von den Schritten haben würde, die Sie dort |2| nach Ihrer telegraphischen Mitteilung dort eingeleitet hatten. Nachdem ich die oben genannten Schriftstücke erhalten hatte suchte ich wieder Herrn Grafen Waldburg auf, um ihm sowohl Ihre Vorschläge wie auch meine Befürchtungen wegen der Evakuierungsmöglichkeit vorzutragen. Herr Graf Waldburg hat mir auch bei dieser zweiten Unterredung, die vorgestern stattfand, keine Mitteilung von irgendwelchen Vorschlägen oder Anfragen an Berlin gemacht, und da er auf eine diesbezügliche Anfrage meinerseits erwiderte, er könne mir hierüber nichts sagen, so blieb mir nur übrig, den in Ihrem Exposé enthaltenen Gedankengang darzulegen. Herr Graf Waldburg bemerkte dazu wiederum, dass er mir nichts Bestimmtes mitteilen oder zusagen könne und verwies auf die Schwierigkeiten der Situation, dass Missliche jeder Einmischung in türkische Verhältnisse etc. Als da ich im Sinne Ihrer Aufträge auf die eventuellen Rückwirkungen einer fortgesetzt unfreundlichen |3| Haltung der türkischen Lokalbehörden in Palästina hin auf die Stimmung in Amerika hinwies, fragte Herr Graf Waldburg, ob es dann nicht Sache des amerikanischen Botschafters sei, die Türken entsprechend zu beeinflussen. Ich erwiderte, dass die amerikanische Botschaft stets für jüdische Interessen eingetreten sei, dass ich es aber mit Rücksicht auf die jetzige Situation nicht für richtig gehalten habe, dem amerikanischen Botschafter bestimmte Vorschläge für Interventionen bei der türkischen Regierung zu machen. Ich entwickelte dann wiederum die Gründe, die uns – d. h. die Berliner Leitung des Zionismus und die deutschen Vertreter des Zionismus in der Türkei – veranlasst hätten, gerade auf Hilfe von deutscher Seite Gewicht zu legen. Auf eine Zwischenfrage des Grafen Waldburg über die Stimmung in der amerikanischen Botschaft, teilte ich ihm mit, dass dort mit ziemlicher Sicherheit auf den Ausbruch des |4| Krieges mit Deutschland gerechnet werde. Ich ging dann zu der Evakuierungsfrage über, ub die ich in meinem Bericht vom 30. III.274 ausführlich erörtert habe. Herr Graf Waldburg meinte, dass die Schäden, welche mit einer solchen Evakuierung verbunden seien, natürder türkischen Regierung für eine grundsätzliche Sympathiebekundung gegenüber der jüdischen Siedlungstätigkeit zu verwenden. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 297. 274 Dokument 25.

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lich sehr bedauerlich seien, dass man aber andererseits mit der Tatsache des Krieges u. den militärischen Erfordernissen rechnen müsse. Er wolle jedenfalls mit dem Militärbevollmächtigten275 darüber sprechen. Ich wies auf den eigenartigen Charakter der jüdischen Bevölkerung in Jaffa u. Jerusalem hin (in Jaffa u. Kolonien Zentrum des Kolonisationswerks, in Jerusalem Zentrum der Orthodoxie) Herr Graf Waldburg meinte, durch den Erfolg bei Gaza sei ja die ganze Gefahr erheblich hinausgerückt und von einer Evakuierung Jerusalems keine Rede. Er wiederholte aber seine |5| Zusage, mit dem Militärbevollmächtigten zu sprechen. Wenn in dieser Sache etwas erreicht werden kann, so wäre dies natürlich von grösstem Wert. Es wäre doch jammerschade, wenn durch die Räumung, die vielleicht nur eine Vorsichtsmassregel ist und durchaus nicht die dauernde Aufgabe des geräumten Geländes bedeuten muss, in wenigen Tagen oder Wochen so grosse Werte zerstört werden. Was Ihre in Berlin unterbreiteten Vorschläge betrifft, so scheint hier zur Zeit keine grosse Geneigtheit zu bestehen, dergleichen durchzuführen. Über die Gründe bin ich mir ziemlich klar. Ich nehme an, dass das Wohlwollen der Reichsregierung für den Zionismus fortbesteht und dass ferner ein Bruch zwischen der Türkei und Amerika (wo die Stimmung bis zu einem gewissen Grade von der Haltung der Türkei in der Judenfrage beeinflusst werden kann) nicht gewünscht |6| wird. Wenn die Deutsche Botschaft trotzdem nach wie vor ihre Unterstützung des Zionismus auf den Einzelfall beschränkt und ein Hervortreten in dem von Ihnen neuerdings wieder angeregten Sinne vermeidet, so liegt dies wahrscheinlich an der äusserst schwierigen Situation, in der sich die deutsche Diplomatie hier befindet. Soweit ich dies als aussenstehender Betrachter beobachten kann, ist die Deutsche Botschaft bemüht, geschickt zu lavieren, keine neuen Schwierigkeiten aufkommen {zu lassen}, ihren Einfluss auf die Durchsetzung der wichtigsten Dinge zu konzentrieren und in allen anderen Fragen den Türken entgegenzukommen. Daher sucht die Deutsche Botschaft auch den Eindruck zu vermeiden, als sei der Zionismus eine amtlich von ihr unterstützte Sache oder gar eine deutsche Sache. Es soll {bei} den Türken eben so wenig wie möglich der Eindruck erweckt werden, als wolle man ihnen etwas oktroyieren. |7|  Dr. Jacobson schrieb mir in seinem Brief v. 19.III., dass die Türkei doch mehr als je ganz auf Deutschland angewiesen sei. Ähnliches habe ich selbst in weiter zurückliegenden Briefen geschrieben und auch heute sehe ich für die Türken keine Möglichkeit sich von Deutschland zu lösen und zur Entente 275 Otto von Lossow (1868–1938) war von 1916 bis 1918 Militärbevollmächtigter bei der Deutschen Botschaft in Konstantinopel.

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überzugehen. Es ist aber zu bedenken, dass die Situation der Türkei heute im Lauf der letzten Zeit nicht besser geworden ist {und das bewirkt eine Gereiztheit der Stimmung.} Bagdad hat doch starken Eindruck gemacht und auch sonst ist die Lage nicht rosig.276 Auch als die Situation hier optimistischer angesehen wurde als heute, waren die Deutschen bei den Türken nie recht beliebt, und das wusste auch jeder Deutsche hier (mit wenigen Ausnahmen). Auch damals wurde deshalb von der deutschen Diplomatie nur mit Vorsicht u. Zurückhaltung Einfluss ausgeübt. Heute scheint solche Vorsicht besonders geboten zu sein. Der Hund kann nicht los von der Leine, aber er zerrt daran und knurrt. |8|  Man könnte einwenden, dass es sich im Falle des Zionismus doch nicht um Aufdrängung einer für die Türkei schädlichen oder zweideutigen Sache, sondern um den freundschaftlichen Hinweis auf eine für die Türkei nützliche Sache handelt. In der Tat habe ich ja {deshalb} auch wiederholt eine grössere, prinzipielle Intervention der deutschen Botschaft zu unseren Gunsten vorgeschlagen. Aber was in früheren, besser geeigneten Zeitpunkten nicht geschah, wird jetzt wohl noch weniger geschehen. Die Türken sind für den Zionismus noch nicht reif. Das Gefühl der eigenen Schwäche u. Unsicherheit, das Misstrauen gegen alles Fremde und dann wiederum der überhebliche Nationalismus, der nur „türkisches“ sehen will (auch wo nichts ist) verhindern die Benutzung des Zionismus, der einer klügeren u. stärkeren Regierung hoch erwünscht sein müsste. Ich habe niemals |9| geglaubt, dass die Türken anders als auf dem Wege eines mehr oder weniger sanften Druckes von aussen dem Zionismus geneigt gemacht werden könnten. Da Deutschland zur Zeit aus den erwähnten Gründen einen solchen Druck offenbar nicht ausüben will, so müssen wir eben bessere Zeiten abwarten und uns mit dem Schutz von Fall zu Fall begnügen, den die deutsche Regierung uns zugesagt hat. Auch die Rücksichtnahme auf Amerika (mit dem die Türkei sichtlich gute Beziehungen wünscht) wird vielleicht zu gelegentlicher Rücksichtnahme Einstellung von Chikanen, nicht aber zu einer positiven Deklaration zu Gunsten des Zionismus führen. Ich schrieb Ihnen im Februar, Talaats Stellung

276 Am 11. März 1917 hatte die britisch-indische Armee Bagdad eingenommen, während sich die dezimierten osmanischen Truppen zurückziehen mussten. An der Kaukasusfront konnte das Osmanische Reich aus der Februarrevolution in Russland Vorteile ziehen, da die frei gewordenen Regimenter nach Palästina und an die Mesopotamienfront verlegt werden konnten. Ausgehend vom Hedschas breitete sich die Arabische Revolte seit 1916 nach Palästina, Syrien und Jordanien aus. Zudem litt die Bevölkerung unter extremen Preissteigerungen, sodass die Kriegswirtschaft zur Verarmung breiter Schichten beitrug.

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gegenüber Djemal sei jetzt viel grösser als früher und es sei nun mit Talaat u. Djavid277 vielleicht wieder etwas zu machen. |10| Inzwischen hat sich die Situation wieder etwas verschoben. Djemal sitzt wieder ganz fest. Er geht mit Talaat u. Djavid, offenbar aus Eifersucht u. Abneigung gegen Enver,278 der stärker {mehr} als je isoliert ist. Djavid u. Djemal, die sonst so verschieden sind, begegnen sich in der Abneigung gegen Envers {Person und seine} rein deutsch orientierte Politik. Talaat ist reiner Opportunist, neigt jetzt aber mehr zu Djavid u. Djemal und zeigt offener als früher seine Abneigung gegen Enver. Bei dieser Konstellation wird das Kabinett Talaat kaum Beschlüsse fassen, denen Djemal heftig entgegentreten würde. Djemal ist nun einmal unser ausgesprochener Gegner, während bei anderer Konstellation (z. B. wenn Djemal nicht solchen Einfluss hätte und die Unterstützung von aussen grösser wäre) mit Talaat u. Djavid vielleicht ein Arrangement |11| getroffen werden könnte, zumal gerade diese beide stark auf amerikanische Finanzhilfe nach dem Kriege hoffen. So sehe ich die Situation. Ich glaube, wir brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben, mit der bisher von uns verfolgten Politik durchzudringen. Zur Zeit müssen wir aber lavieren und uns durchzuschlagen suchen. So macht es Wichtig ist, dass die deutsche Regierung unsere Sache im Auge behält, uns jetzt schützt und in grösserem Umfange gemäss Ihren Vorschlägen für uns eintritt, wenn die Situation sich hier bessert. Ergebenst Lichtheim

277 Mehm ̣ ed Cāvit Bey (1875–1926) war ein aus Thessaloniki stammender türkisch-jüdischer Ökonom, Publizist und hochrangiges Mitglied der jungtürkischen Regierung. Er war von 1908 bis 1918 Finanzminister des Osmanischen Reichs. Nach einem Attentatsversuch auf den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk wurde Cavit Bey zum Tode verurteilt und hingerichtet. 278 Damad Ismail Enver Pascha (1881–1922) war ein jungtürkischer Politiker. Er war 1913 maßgeblich am Militärputsch der Jungtürken beteiligt und regierte in der Folge in dem informellen Triumvirat mit Talât Pascha und Cemal Pascha. Von 1914 bis 1918 war er Kriegsminister des Osmanischen Reichs. Er gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern.

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Dokument 27

Dokument 27 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 27. April 1917 Handschriftlicher Brief, 7 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivsignatur in unterer linker Ecke von Seite  1; gestempelte Paginierung des Archivs (»00067« bis »00073«) oben rechts auf jeder Seite; Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros in oberer rechter Ecker von Seite 1 (7. Mai 1917) CZA, Z3/63

Zionistisches Zentralbureau Berlin

Konstantinopel, 27.IV.[1917]

Sehr geehrte Herren! In meiner Militärangelegenheit habe ich den beil. Brief an den Deutschen Botschafter geschrieben. Nach Angabe des Konsulats kann ich bus bis zur Erledigung Ihres Gesuches hierbleiben, es sei denn, dass plötzlich ein Stellungsbefehl kommt.279 Nachdem ich 3 1/2 Jahre hier war, um Ihre Interessen zu vertreten, für die Ihnen der Schutz der Reichsregierung zugesagt wurde, sollte ich meinen, dass Sie wenigstens erreichen können, dass ich 2 Monate Aufschub erhalte, damit die Frage der Vertretung geregelt werden kann. Wie soll z. B. das Goldgeschäft mit Kopenhagen erledigt werden?280 Die Ausfuhrerlaubnis ist auf meinen 279 Ende April 1917 wurde Lichtheim von seinem Posten in Konstantinopel abberufen, da der deutsche Botschafter Richard von Kühlmann (1873–1948, seit Herbst 1914 zunächst Botschaftsrat, seit November 1916 deutscher Botschafter) sich weigerte, eine weitere Freistellung Lichtheims vom Militärdienst zu erwirken. Allerdings wurde Lichtheim auch nach seiner Rückkehr nach Berlin nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Bis Kriegsende war er als Palästina-Sachverständiger der Zionistischen Organisation tätig und stand als Berater in zionistischen Angelegenheiten auch weiterhin in engem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt, das im Gegensatz zu den Mitarbeitern der Botschaft in Konstantinopel nicht an seiner Loyalität zu zweifeln schien. Lichtheim, Rückkehr, 369 f. 280 Seit Kriegsbeginn hatten die zionistischen Büros in Jaffa, Konstantinopel und Berlin nach Wegen gesucht, um Goldsendungen aus Europa und Amerika nach Palästina gelangen zu lassen. Um Wertverluste zu vermeiden, suchte die Zionistische Organisa-

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Namen und ich habe die diesbezügl. Verhandlungen wegen der Beschaffung der Transporterlaubnis etc. geführt. |2|  Auf eine dauernde Zurückstellung lege ich selber keinen Wert. Meine Beziehungen zur deutschen Botschaft sind nicht derartige, dass ich es für wünschenswert halten könnte, dauernd als Ihr Vertreter hier zu bleiben. Ich glaube zu wissen, woher die Änderung in der Hall Haltung der Botschaft stammt. Meine Beziehungen zur amerikanischen Botschaft sind in diesem Klatschnest natürlich bekannt. Da ich früher in durchaus vertrauensvollen Beziehungen zur deutschen Botschaft stand, so kam ich nicht auf die Idee, diese Beziehungen zu verbergen oder besonders zu entschuldigen. Solange Baron Wangenheim Botschafter und Dr. Weber I. Dragoman war, wären Missdeutungen dieser Beziehungen nicht zu befürchten gewesen. Damals wusste die Botschaft, wie sehr ich mich stets bemüht habe, meine Beziehungen zu Amerika im deutschen Interesse zu verwerten. |3|  Damals habe ich durch die Botschaft Briefe u. Depeschen nach Amerika geschickt, um dort Missstimmungen gegen die Türkei zu verhindern, und habe immer wieder hervorgehoben, wie die deutsche Regierung uns beschützt. Heute werden mir dieselben Beziehungen zu Amerika zum Vorwurf gemacht. Für Leute, die mich und meine Tätigkeit nicht kannten und die kennen und die Akten nicht lesen, mag es erstaunlich sein, dass ich auch nach dem Kriegsausbruch noch in der amerikanischen Botschaft ein- und ausging. Die Deutsche Botschaft musste aber wissen, dass ich seit langem fast völlig selbstständig alle Angelegenheiten des amerikanisch-jüdischen Hilfswerks {für Palästina} bearbeite und deshalb fast täglich in dem Bureau der amerikan. Botschaft, welches eigens für d die philanthropischen Angelegenheiten eingerichtet ist, zu tun hatte. Die {Deutsche} Botschaft hat mich ihrerseits |4| niemals über {die Art} meiner Beziehungen zur amerikan. Botschaft befragt und ich war naiv getion ihre Goldgeschäfte über das neutrale Ausland abzuwickeln. In den ersten Kriegsjahren gelang es, größere Mengen an Gold mithilfe amerikanischer Kriegsschiffe nach Palästina zu bringen. Im Frühjahr 1917 erhielt die Zionistische Organisation nach längeren Verhandlungen mit dem deutschen Auswärtigen Amt und der Dänischen Nationalbank die Erlaubnis, über ihr Büro in Kopenhagen gemünztes Gold von der Dänischen Nationalbank anzukaufen und an die Deutsche Orientbank in Berlin zu senden. Durch Kuriere des Auswärtigen Amts gelangte das Gold zu Lichtheim in Konstantinopel, der es von dort mithilfe von Kurieren der deutschen Militärmission an das Palästina-Amt in Jaffa weitersandte. Nach Lichtheims Abreise übernahm Ruppin die Erledigung der Goldgeschäfte. Lichtheim, Rückkehr, 357–359; Ruppin, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, 272–276.

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Dokument 27

nug, zu glauben, dass auch nach dem umfangreichen Personenwechsel in der deutschen Botschaft dort so viel über meine Person bekannt sei, dass ich vor Missdeutungen meiner Beziehungen zur amerikan. Botschaft nicht zu fürchten brauchte. Es haben sich nun offenbar Wichtigtuer gefunden, die mir ein Bein zu stellen suchten, um ihre gute Informiertheit zu beleuchten. Seit Wochen habe ich bemerkt, dass die Botschaft mir {gegenüber} statt des früheren Entgegenkommens grosse Reserve, ja Misstrauen bekundete.281 Ich hatte aber bisher keinen deutlichen Anhaltspunkt für meine hierfür, vielmehr war alles mehr Instinkt u. Vermutung. Die schroffe Haltung aber, die die Botschaft in meiner Militärsache einnimmt, macht meine Befürchtungen zur Gewissheit. |5|  Graf Waldburg hat mir auf mein Ersuchen, für einen Urlaub einzutreten, antworten lassen, er könne es in der Sache nichts tun. Der Botschafter, den ich sprechen wollte, hat mich nicht empfangen. Unter solchen Umständen kann es mir nur erwünscht sein, möglichst bald hier abzufahren. Ich werde Ihnen alles weitere mündlich berichten und Sie können dem Auswärtigen Amt mitteilen, unter welchen Eindrücken ich hier schreibe. Was den Urlaub zur Regelung der Geschäfte betrifft, so wird es Ihre Sache sein, ihn zu verlangen. Es handelt sich doch nicht um meine Person, sondern um Ihre Interessen. Ich kann nicht annehmen, dass Ihnen die Frist verweigert die wird, die Sie für notwendig halten. 2) Die Situation in Palästina wird |6| immer düsterer. Jaffa ist völlig geräumt, aus den Kolonien werden die Flüchtlinge auch entfernt. In den Ackerbaukolonien dürfen die Besitzer mit Familie, in den Pflanzungskolonien die Besitzer u. landwirtschaftl. Arbeiter ohne Familie bleiben.282 Die Räumung Jerusalems ist angeordnet. Was aus den Zehntausenden von Flüchtlingen 281 Die guten Beziehungen Lichtheims zur deutschen Botschaft hatten sich seit dem Amtsantritt Richard von Kühlmanns, der im November 1916 auf Graf Wolff Metternich als Botschafter gefolgt war, erheblich abgekühlt. Auch der seit März 1917 als Erster Botschaftsrat amtierende Graf Waldburg war zionistischen Bestrebungen gegenüber eher feindlich gesonnen. Gegen die Räumung Jaffas hatten etwa sowohl der Konsul in Jaffa, Karl Emil Schabinger von Schowingen (1877–1967), als auch der mittlerweile zum Generalkonsul in Jerusalem berufene Johann Brode protestiert, nicht aber die Botschaft in Konstantinopel. Lichtheim, Rückkehr, 367. 282 Cemal Pascha hatte die Räumung Jaffas bis spätestens 9.  April 1917 angeordnet, ohne im Vorfeld Maßnahmen für Transport, Verpflegung und Unterbringung der Evakuierten zu ergreifen. Die meisten von ihnen suchten Zuflucht in nahegelegenen Ortschaften wie Petach Tikwa und Kfar Saba oder den jüdischen Siedlungen Galiläas. Krankheiten und Hungersnöte forderten jedoch zahlreiche Todesopfer. Erst nach Kriegsende konnten die Vertriebenen nach Jaffa zurückkehren. Verlässliche Zahlen-

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werden soll, ist unbegreiflich. Sie werden aus angeblichen militärischen Gründen283 ins Elend und in den Hungertod gejagt. Herr v. Kress284 soll gegen die Räumung gewesen sein. Aber Djemal ist ja allmächtig. 3) Überweisen Sie mir bitte umgehend Ihren Debitsaldo, (1000 M), etwa 80 Ltq.285 4) Von beil. Brief Jellins286 nehmen Sie bitte Copie u. senden Sie das Original an Ruppin zurück.287 |7|  5) In der Goldangelegenheit haben wir Ihnen depeschiert, dass wir die restlichen 19 000 $ auch aufgebracht haben. Ich rekapituliere: 44 000 $ wurden in der Weise gezahlt, dass die amerikanische Gesandtschaft in Kopenhagen den Auftrag erhielt, der dänischen Nationalbank einen Check über 44 000 $ auszuhändigen. 19 000 $ wurden in der Weise gezahlt, dass sie bei der National City Bank in New York zu Gunsten der Dänischen Nationalbank deponiert wurden. Dies alles unter der Voraussetzung, dass die diesbezügl. Telegramme noch nach Amerika gelangt sind, worüber wir bisher nichts wissen. angaben existieren allerdings nicht. Isaiah Friedman gibt die Zahl der im Frühjahr 1917 evakuierten Juden mit rund 9000 an. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 350. 283 Cemal Pascha rechtfertigte die Evakuierung mit militärstrategischen Gründen und dem Schutz der Zivilbevölkerung. Lichtheim sowie viele andere zeitgenössische Beobachter interpretierten sie jedoch als weiteren Höhepunkt in einer Reihe dezidiert antizionistischer Maßnahmen, die den Jischuw im Frühjahr 1917 an den Rand der vollständigen Zerstörung brachten. Vor allem in der israelischen Historiografie wurde diese Lesart lange Zeit übernommen. Neuere Einschätzungen kommen allerdings zu dem Schluss, dass Cemal Paschas Entscheidung nicht nur antizionistische, sondern durchaus auch militärische Gründe zugrunde lagen. Yuval Ben-Bassat / Dotan Halevy, A Tale of Two Cities and One Telegram. The Ottoman Military Regime and the Population of Greater Syria during World War I, in: British Journal of Middle Eastern Studies 43 (2016), H. 4, 1–19. 284 Friedrich Freiherr Kress von Kressenstein (1870–1948) war ein deutscher General. Als Teil der deutschen Militärmission unter Liman von Sanders trat er 1914 in den Dienst der osmanischen Armee. Unter dem Befehl Cemal Paschas leitete er 1915 und 1916 zwei erfolglose Offensiven zur Eroberung des Suezkanals. Es gilt als sein Verdienst, dass die britischen Truppen während der zweiten Schlacht um Gaza im April 1917 zunächst zurückgeschlagen werden konnte. 285 Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen. 286 Möglicherweise ist der Pädagoge, Sprachforscher und zionistische Politiker David ­Yellin (1864–1941) gemeint. 1917 wurde er aus Palästina nach Damaskus ausge­ wiesen. 287 Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen.

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Dokument 28

6) Anbei 1 Quittung über meine Zahlung an Gewürzmann (100 M) für die ich Sie belastete.288 Ergebenst Lichtheim

Dokument 28 Richard Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro Konstantinopel, 11. Mai 1917 Handschriftlicher Brief, 7 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gestempelte Paginierung des Archivs (»00021« bis »00027«) oben rechts auf jeder Seite; Eingangsstempel des Zionistischen Zentralbüros oben mittig auf Seite 1 (22. Mai 1917) CZA, Z3/63

Zionistisches Zentralbureau Berlin W.

Konstantinopel, 11.V.[19]17

Sehr geehrte Herren! 1) Ihre Briefe 287–90 und für Thon 707–18 erhalten. 2) Anbei 1 Depesche Thons vom 5.V. Sie ersehen daraus, dass Hoofien Kanns Auftrag betr. Auszahlung von 70 000  Frs Goldwert nicht ausführen kann. 3) Auf Ihr Schreiben No. 265 vom 5.IV. teile ich Ihnen mit, dass Selikowitz sich in Drama (Mazedonien) befindet u. dass es ihm gut geht. Die 50 M die sein Vater kürzlich für ihn sandte, wurden ihm geschickt. 4) Anbei erhalten sie {3 Mitteilungen Ruppins,} 1 Brief Thons v. 26.IV. mit den darin genannten Anlagen und handschriftliche Berichte Thons vom 22. u. 26.IV. Die (darin) auf Grund der Äusserungen Djemals ausgesprochene Befürchtung, dass Jerusalem geräumt werden könnte, hat sich glücklicher-

288 Mit handschriftlichem Vermerk von anderer Hand »erl.« für »erledigt« versehen.

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weise nicht bestätigt.289 Das Elend, das durch die unsinnige Räumung Jaffas und die teilweise Räumung der Kolonien angerichtet worden ist, ist freilich auch gross genug. Gerade dort handelte es sich um den wirtschaftlich wertvollsten |2| Teil der Bevölkerung. Ich berichtete Ihnen vor Wochen, dass ich beim ersten Auftauchen der Nachrichten von der beabsichtigten Räumung Jaffas und der Kolonien bei der Deutschen Botschaft Vorstellungen erhoben habe. Leider hatten diese keinen Erfolg. Herr Graf Waldburg, mit dem ich darüber sprach, bezog sich auf die von türkischer Seite in den Vordergrund gestellten „militärischen Notwendigkeiten“. Er sagte dann zwar zu, dass er mit dem Militärbevollmächtigten über die Sache sprechen wolle, doch ergab sich aus alledem kein positives Resultat. Ich wies Herrn Grafen Waldburg darauf hin, wie unklug es sei, wenn die es Türkei durch erneute Misshandlung ihrer jüdischen und arabischen Bevölkerung in der ganzen Welt Unruhe u. Unwillen hervorriefe, zumal wo es sich um Palästina handele, das allen Nationen u. Religionen heilig ist. Heute stehen wir leider vor vollendeten Tatsachen, wie sie sich aus Thons Berichten290 ergeben: Tausende von Menschen liegen ohne Obdach u. Nahrung auf dem freien Felde, Gendarmen treiben |3| die Flüchtlinge aus den Kolonien, Elend, Krankheit u. Tod sind die einzigen erkennbaren Folgen dieser Massregel, die {von Djemal} in irreführender Weise als „militärische Notwendigkeit“ ausgegeben wurde. Natürlich musste Djemal diese Ausrede haben. In Wirklichkeit war es seine Absicht durch Räumung Jaffas, Jerusalems und der Kolonien das jüdische Element und zugleich auch die Araber zu treffen. Nur die Bauern und Pflanzer, die für die Ernährung des Landes unentbehrlich sind, wagte er nicht fortzuschicken. Aber er nahm ihnen ihre Frauen u. Kinder, offenbar in der Absicht, beim Herannahen des Feindes auch die Männer zu verjagen. Wenn man Djemals Gesinnungen u. Methoden kennt, so ist die Tendenz dieser Massnahmen ohne weiteres klar. Ob die geplanten Verschickungen {angesehener Familien Jerusalems}, von denen Thon berichtet, wirklich erfolgten oder wegen der Aufschiebung der Räumung Jerusalems auch untersagt wurden, weiss ich nicht. Da die Botschaft, wie ich Ihnen schon berichtete, mir wiederholt die Briefe u. Depeschen Thons |4| nicht aushändigte, so weiss ich nicht, ob ich richtig informiert bin oder ob mir wichtige Nachrichten fehlen. Ich nehme an, dass Sie via Kopenhagen die Frage der weiteren Beschaffung der Hilfsgelder behandeln. Ich sehe zwei Wege: Entweder die Ameri-

289 Die von Cemal Pascha angeordnete Räumung Jerusalems konnte dank einer Intervention der deutschen Konsuln und Militärs verhindert werden. 290 Siehe Jacob Thon an EAC, 18. April 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 326–332.

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Dokument 28

kaner überweisen nach Kopenhagen und Sie überweisen von dort hierher, oder die schwedische Gesandtschaft, welche hier die amerikan. Interessen vertritt, erhält das Geld von Amerika. In diesem Falle müsste sie entweder Dollarchecks verkaufen, wobei der Kurs für die Empfänger hier sehr günstig wäre, was aber vermutlich nicht erlaubt sein wird, oder sie muss die Gelder von Schweden erhalten, wobei bedeutende {kein so günstiger} Kursverluste entstehen erzielt werden dürften, wahrscheinlich ähnliche {Kurse} Verluste, wie bei der Überweisung durch Sie via Kopenhagen oder Haag. Wie dem auch sei: Mittel sind dringend nötig. Es entsteht auch noch die Frage, wie die Gelder verteilt werden sollen. |5|  Bisher lagen die amerikan. Gelder hier in der Botschaft oder in den amerikan. Konsulaten. Jetzt, nach Schliessung der Konsulate, werden sich Djemal u. seine Beamten wenig genieren, solche Gelder, die vom feindlichen Ausland kommen, an sich zu nehmen und auf ihre Weise zu verteilen. Diejenigen Vertrauenspersonen, die etwa wie Thon, Hoofien etc. über grosse Geldsendungen disponieren {sollten}, werden allerlei Chikanen und Verfolgungen ausgesetzt sein. Es gäbe nur ein {folgende} Mittel, um der bedrängten Bevölkerung zu Hilfe zu kommen: Absetzung Djemals, Bildung von lokalen Wohltätigkeitskomitees, wenn nötig unter Regierungsaufsicht, aber nur dann, wann {wenn} die Aufsicht von anständigen Beamten oder Militärs ausgeübt wird (am besten wäre es, wenn Oberst v. Kress die nötigen Vollmachten erhielte) und schliesslich die Hauptsache: Erlaubnis für die durch |6| Djemal vertriebene Bevölkerung nach Jaffa und in den Bezirk von Jaffa zurückzukehren. Jeder andere Ausweg – etwa die Unterstützung der Vertriebenen durch Geld – muss zwar auch versucht werden, wenn der vorgeschlagene radikale Weg nicht gangbar ist. Aber wirksam kann die Hilfe durch Geld nicht sein, wenn Tausende von Menschen ohne Nahrung und Obdach in einem aus­ gesogenen Lande ohne Verkehrsmittel herumirren.291 Der Grossrabbiner hat an Talaat eine Eingabe gemacht, die Regierung solle den Vertriebenen zu Hilfe kommen. Aber wir wissen ja, wie solche Hilfe der Regierung aussieht: gewöhnlich besteht sie in Versprechungen, die nichts kosten, in Zeitungsartikeln über die Weisheit u. Güte der |7| Regierung, oder in dem Nachweis, dass die Betroffenen selbst an ihrem Unglück schuld sind. Solange Djemal in Palästina sein Unwesen treiben darf, scheint mir keine Aussicht auf Besserung der dortigen Zustände zu bestehen. Er wird für die 291 Im Zuge der ungeordneten Evakuierung des Bezirks Jaffa griffen schon bald Krankheiten und Hunger um sich. Es fehlte an Wohnraum, Nahrungsmitteln und Transportmöglichkeiten. Ausführlich dazu Alroey, Exiles in Their Own Land?

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Konstantinopel: Diplomatie für den Jischuw

Vertriebenen nichts tun, wird ihnen die Rückkehr nicht gestatten und wird im Falle des Eintreffens von Hilfsgeldern aus dem Ausland unseren Komitees u. Vertrauensleuten wahrscheinlich Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn Sie dort die Möglichkeit haben, etwas im Sinne dieser Ausführungen zu tun, so wird es Ihrerseits gewiss geschehen. Ergebenst Lichtheim {Bestätigen Sie diesen Brief telegraphisch. Ich schrieb Ihnen neulich, dass ich glaube, Weitz292 sei z. T. an den hier über mich verbreiteten irrigen Meinungen schuld. Ich habe mit ihm über die Affäre gesprochen u. muss nach seinen energischen Versicherungen annehmen, dass er keine Schuld daran hat.}293

292 Paul Weitz (1862–1939) war ein deutsch-jüdischer Kaufmann und Journalist. Während des Ersten Weltkriegs war er in Konstantinopel als Korrespondent der Frankfurter Zeitung und als Mitarbeiter des Osmanischen Lloyd tätig. Er stand in engem Kontakt zur Deutschen Botschaft in Konstantinopel und diente sowohl dem Büro der Zionisten als auch der deutschen Botschaft als wichtige Informationsquelle. Lichtheim machte Weitz für seine Abberufung verantwortlich. Er vermutete, dass dieser ihn 1917 bei der Botschaft für seine Verbindungen zur amerikanischen Botschaft denunziert habe. Lichtheim, Rückkehr, 368 f. 293 Zusatz auf linker Marginalie eingefügt.

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2. Berlin: In der Opposition

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Dokument 29 Richard Lichtheim an Meir Grossmann1 Berlin, 15. Januar 1927 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; maschinenschriftliche und handschriftliche Korrekturen; handschriftliche Unterstreichungen; maschinenschriftliche Kopfzeile auf Seite 3 (»Blatt 2 zum Brief an Herrn M. Grossmann, London, 15. Januar 1927«) JI, P59-2/99/8 R. Lichtheim

Berlin W. 15., den 15. Januar 1927 Konstanzerstr. 65

Herrn M. Grossmann c / o Jewish Telegraphic Agency2 244 He{H}igh Holborn London WC Lieber Herr Grossmann! Die Beschlüsse der Pariser Konferenz,3 die nach Ihrer Abreise gefasst wurden, werden Sie wahrscheinlich etwas überrascht haben, insbesondere die 1

2

3

Meir Grossmann (auch Grossman; 1888–1964) war ein jüdischer Journalist, Politiker und Publizist aus Russland. Er gilt als einer der frühesten Unterstützer Wladimir Jabotinskys, der bereits während des Ersten Weltkriegs dessen Idee einer jüdischen Legion propagierte. Er gehörte 1925 zu den Gründungsmitgliedern der von Jabotinsky ins Leben gerufenen Union der Zionisten-Revisionisten und war zwischen 1925 und 1933 ihr stellvertretender Vorsitzender. Ab 1929 leitete er das Zentralbüro der Union in London. 1933 kam es zum Bruch mit Jabotinsky, da Grossmann mit dessen Plan, aus der Zionistischen Organisation auszutreten und eine neue unabhängige Organisation zu gründen, nicht konform ging. In der Folge gründete er die Judenstaatspartei, die weiterhin als revisionistische Körperschaft innerhalb der Zionistischen Organisation agierte. Die Nachrichtenagentur Jewish Telegraphic Agency (JTA) ging aus dem von Jacob Landau 1917 gegründeten Jewish Correspondence Bureau hervor. 1919 erfolgte der Umzug von Den Haag nach London und die Namensänderung. Grossmann zählte seit 1919 zu den leitenden Mitarbeitern der Agentur. Die zweite Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten fand vom 26. Dezember 1926 bis zum 2. Januar 1927 in Paris statt.

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Berlin: In der Opposition

Verlegung der Organisation nach Berlin.4 Ich habe mich aus vielen Gründen sehr dagegen gesträubt und nur deshalb nachgegeben, weil offenbar keine Möglichkeit bestand, eine vernünftige Zentrale in Paris zu schaffen und weil besonders Jabotinsky und die Palästinenser5 darauf bestanden, dass ich die Sache übernehme. Natürlich ist die Angelegenheit für mich eine enorme Belastung, da ich noch anderes zu tun habe und vorläufig ohne Mittel die Zentrale und die geplante Zeitschrift sozusagen aus dem nichts schaffen soll. In Paris wurden von einer Reihe unserer Freunde Zeichnungen abgegeben, und ich hoffe, dass etwas Geld darauf kommen wird. Ich habe bereits nach allen Seiten geschrieben. Auch Sie müssen als Mitglied des Zentral-Komités einen persönlichen Beitrag für unsere hiesige Zentrale zeichnen und mir sogleich überweisen. Ferner aber bitte ich Sie dringend, mindestens einen Betrag von £ 100,– in allernächster Zeit in London zu sammeln und mir zu senden. ### ¦Wenn¦ unseren Freunden in den verschiedenen Ländern versagen, so kann ich selbstverständlich überhaupt nichts tun, denn vorläufig betreibe ich die ganze Arbeit und Korrespondenz von meiner Wohnung aus und auf meine Kosten. Andererseits bin ich sicher, dass wir innerhalb weniger Wochen ein gut [|2|] funktionierendes Büro hier schaffen und die Herausgabe von {der} Zeitschriften vorbereiten können, wenn die in Paris gegebenen Zusagen erfüllt werden. Es brauchen ja wirklich nur aus etwa 10 bis 15 grösseren Zentren in der Welt je 100 £ zu kommen, damit wir die Arbeit richtig aufnehmen können. In Deutschland selbst und besonders in Berlin werde ich ebenfalls mindestens einige 100 £ aufbringen können. Alles kommt aber darauf an, dass diese Finanzierungsaktion sofort geschieht, sonst ist es unmöglich, die organisatorische Arbeit und besonders die Zeitschrift so rechtzeitig zu beginnen, dass wir dadurch den Kongres{s}-Kampf 6 entscheiden{d} beeinflussesen können. Niemand von unseren Freunden darf sich darauf verlassen, dass das Geld schon irgendwo anders besorgt werden wird. Wenn diese uns allen wohlbekannte Stimmung entsteht, so ist alles verloren. Andererseits kann man tatsächlich ohne übermässige Anstrengung und in kürzester Zeit, d. h. in 4

5 6

Die Leitung des Organisationsbüros des Zentralkomitees der Union der ZionistenRevisionisten wurde auf der Zweiten Weltkonferenz der Union Lichtheim anvertraut und das Büro an dessen Wohnort Berlin verlegt. JI, G1-19, Die Resolutionen der Zweiten Weltkonferenz der Zionistisch-Revisionistischen Union, 26. Dezember 1926 bis 2. Januar 1927. Gemeint sind hier die Mitglieder der Union der Zionisten-Revisionisten in Palästina, nicht die arabische Bevölkerung der Region. In den Monaten vor den Wahlen zum 15. Zionistenkongress (30. August bis 11. September 1927 in Basel), die im August 1927 abgehalten wurden, versuchte der Landes­ verband der Zionisten-Revisionisten unter der deutschen Wählerschaft für das Programm Jabotinskys zu werben.

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Dokument 29

2 bis 3 Wochen mindestens die zunächst nötigen 1000 £ aufbringen, wenn an jedem Punkte die nötige kleine Anstrengung gemacht wird. Ich bitte Sie also dringend, sofort das Ihrige zu tun, Ihren eigenen Beitrag mindestens in Höhe von £ 5,– für die erste Zeit an mich zu überweisen und eine energische Sammelaktion einzuleiten. Ich nehme an, dass Sie ### sich mit Herrn Machower7 in Verbindung setzen werden, den ich hierdurch gleichfalls bitten möchte, einen entsprechenden Betrag an mich zu senden und der Ihnen sicherlich bei der Finanzierungs-Aktion behilflich sein wird. In den nächsten Tagen erhalten Sie dann von mir Quittungsformulare über ℳ 8 100,– Anteile für die Begründung der Zeitschrift, die ### nach endgültiger Beratung voraussichtlich „Die jüdische Welt“ heissen wird (der alte Name „Die Welt“ kann nicht benutzt werden, weil eine andere Zeitschrift hier so heisst). Ich denke, dass Sie dort mindestens einige Personen finden werden, die sich für die Herausgabe dieses Blat-[|3|]tes interessieren und durch Ueber­ nahme von einigen oder mehreren Anteilen à ℳ  100,– die Gründung ermöglichen wollen. Hier in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern wird es bestimmt gelingen, eine grosse Anzahl solcher Anteile abzusetzen. Richten Sie bitte alle Korrespondenzen und Geldsendungen zunächst an meine obige Privatadresse und schreiben Sie mir umgehend alles Wissenswerte, was Sie dort in London erfahren haben, besonders wie die Konferenz dort gewirkt hat, welche Schritte Sie dort auf propagandistischem und politischem Gebiet unternehmen usw. Ich bin bereits im Verkehr mit der{n} revisionistischen Gruppe{n} in den verschiedenen Ländern und muss über alles Wesentliche laufend informiert werden. In Erwartung Ihrer freundlichen Mitteilungen bin ich mit den besten Grüssen Ihr {Lichtheim} 7

Der Jurist Jonah (auch Yojne oder John) M. Machover (auch Machower; 1880–1971) war ein zionistischer Politiker aus Russland. 1913 vertrat er als Anwalt den Kiewer Juden Mendel Beilis (1874–1934), der eines Ritualmords bezichtigt wurde. Machover war ein früher Anhänger Jabotinskys und engagierte sich nach der Februarrevolution für eine weitreichende Autonomie der Juden in der Ukraine. 1920 siedelte er nach London über, war zeitweise Teil des Aktionskomitees und engagierte sich im Kongressgericht der Zionistischen Organisation. Als prominenter Politiker des Revisionismus trat er 1935 in die Judenstaatspartei ein und wirkte als Vorsitzender der Partei in Großbritannien. 8 Mark.

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Berlin: In der Opposition

Dokument 30 Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky Berlin, 9. Februar 1927 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Archiv­ stempel oben links auf jeder Seite JI, A1-3/18/1 R. Lichtheim

Berlin W. 15., den 9. Febr. 1927 Konstanzerstr. 65.9

Herrn V. Jabotinsky, Paris Lieber Jabotinsky! Anbei sende ich Ihnen die Einladung für die Veranstaltung am Montag.10 Wir haben über 300 Einladungen verschickt und zwar an die Revisionisten und solche Zionisten, die uns näher stehen oder bei denen wir Interesse und Verständnis voraussetzen. Es kann natürlich geschehen, dass auch einige ausgesprochene Gegner kommen. Mein Plan bei der ganzen Veranstaltung ist, die Sache auf einem solchen Niveau zu halten (sowohl durch die äussere Aufmachung, wie durch die Art der Reden), dass unsere Bewegung von jetzt an unter den deutschen Zionisten, wo sie bisher wütend bekämpft oder lächerlich gemacht wurde, als sehr ernst betrachtet wird. Zu diesem Zwecke könnte {musste} man es riskieren, einen grösseren Kreis einzuladen. Materiellen Erfolg werden wir hier nur dann haben, wenn diese Stimmung geschaffen ist, d. h. wenn 100 deutsche Zionisten, deren Namen man kennt, mindestens mit uns öffentlich sympathisieren. Dr. Lelewer11 wird auf dem Abend offizielle

9 In den ersten fünf Monaten standen Lichtheim für das Organisationsbüro keine Räumlichkeiten zur Verfügung und er führte dessen Geschäfte in seiner Privatwohnung in der Konstanzer Straße 65 in Berlin-Wilmersdorf. 10 Der deutsche Landesverband der Zionisten-Revisionisten hatte für den 14. Februar 1927 einen »politisch-geselligen Abend« in den Geschäftsräumen des Berliner Hotels Eden organisiert. Jabotinsky, Grossmann und Lichtheim hielten Reden. Anonymus, Vermischtes, in: Jüdische Rundschau, 11. Februar 1927, 86. 11 Hermann Lelewer (1891–1946) war ein deutsch-jüdischer Rechtsanwalt. 1918 war er Sekretär der ZVfD und zwischen 1919 und 1920 Präsident des Kartells Jüdischer

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Dokument 30

seinen Anschluss mitteilen. Wenn die Sache so verläuft, wie ich hoffe, so werden wir danach bei der Aufbringung des Geldes für die „Welt“ viel leichteres Spiel haben, auch wenn der Abend selbst noch nichts einbringt. Anfang März werde ich in Frankfurt sprechen. Vorher vielleicht noch in Hamburg, wo sich erfreulicherweise Herr Emil David der Sache angenommen hat und den Vorstand der Ortsgruppen zu einem Diskussionsabend einladen {veranlassen} will. Anlass hierzu war ein Vortrag Blumenfelds,12 der kürzlich sehr gehässig in Hamburg gegen uns sprach, worauf Herr David ihm öffentlich entgegentrat. Blumenfeld soll sich durch sein Auftreten [|2|] geschadet und uns genützt haben. Ähnlich wurde mir aus Frankfurt berichtet. Ich erwarte nun umgehend Ihre Mitteilung bezw. Telegramm an welchem Tage und mit welchem Zuge Sie eintreffen. Wie verabredet, wohnen Sie also bei uns, und ich würde empfehlen, dass Sie mit Grossmann nicht später als am Sonntag, den 13. hier eintreffen, damit wir noch vor der Montag-Veran­ staltung in Ruhe beraten können. Herzlichen Gruss Ihr {Lichtheim}

Verbindungen. 1921/1922 war er Mitglied der oppositionellen, antisozialistischen Gruppe Binyan ha-Areẓ (Aufbau des Landes), die eine ausschließlich pragmatische, auf den wirtschaftlichen Aufbau in Palästina gerichtete Linie verfolgte. Ab 1926 stand er dem Sportverein Bar Kochba Berlin vor und ab 1927 war er im jüdischen Weltsportverband Makkabi aktiv. 12 Kurt Blumenfeld (1884–1963) war ein deutsch-jüdischer Jurist und Politiker. Seit 1904 war er in führenden Positionen in der zionistischen Bewegung in Deutschland tätig. Von 1913 bis 1914 fungierte er als Redakteur der Zeitschrift Die Welt. 1920 zählte er zu den Mitbegründern der zionistischen Spendenorganisation Keren ­Hayesod und wirkte in der Folgezeit in deren Direktorium. Von 1924 bis zu seiner Auswanderung nach Palästina 1933 war er Vorsitzender der ZVfD. Ähnlich wie Chaim Weizmann vertrat er eine Mischung aus praktischem, politisch-diplomatischem und stark kultur­zionistisch geprägtem Zionismus. Das Programm der Revisionisten lehnte er entschieden ab.

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Berlin: In der Opposition

Dokument 31 Das Zentralbüro der Union der Zionisten-Revisionisten an die Mitglieder des Zentralkomitees der Union der Zionisten-Revisionisten Berlin, 25. Juli 1927 Maschinenschriftlicher Rundbrief mit Wahlaufruf, 5 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Archivstempel links oben auf jeder Seite; ab Seite 3 maschinenschriftliche Paginierung auf jeder Seite (»Blatt 2« bis »Blatt 4«) JI, G1-8 [Im Rundbrief werden die Herausforderungen der Union im Vorfeld der Wahlen zum 15.  Zionistenkongress beschrieben und wahltaktische Anweisungen ausgegeben. Darauf folgt das Programm des deutschen Landesverbands der Zionisten-Revisionisten für die Wahlen. Zentrale Aspekte sind die Opposition gegen die Gründung einer um Nichtzionisten erweiterten Jewish Agency sowie Forderungen nach einer veränderten Wirtschaftspolitik in Palästina, dem Aufbau eines jüdischen Staatswesens und einer neuen Leitung der Zionistischen Organisation.] Union der Zionisten-Revisionisten Berlin S13 14, den 25. Juli 1927 Zentralbüro14Stallschreiberstr. 44.15 Zirkular No. 9 An die Mitglieder des Zentralkomitees der Zionistisch-Revisionistischen Union.16 DRINGEND!

13 Süd. 14 Von Januar bis September 1927 befand sich das Organisationsbüro des Zentral­ komitees der Union der Zionisten-Revisionisten unter der Leitung Lichtheims in Berlin. 15 Im Juni 1927 bezog das von Lichtheim geführte Organisationsbüro eigene Räumlichkeiten in der Stallschreiberstraße 44 in Berlin-Mitte. 16 Das Zentralkomitee der Zionistisch-Revisionistischen Union bestand aus einem vierköpfigen Präsidium unter der Leitung Jabotinskys sowie 37 gewählten Vertretern aus den revisionistischen Landesverbänden. Es kam zweimal im Jahr zu einer Plenarsitzung zusammen. Wichtige Beschlüsse der Plenarsitzung bedurften der Bestätigung durch die Weltkonferenz.

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Dokument 31

Sehr geehrte Herren! Wir senden Ihnen anbei den Wahlaufruf 17 der deutschen Revisionisten und bitten Sie, denselben in allen Ihnen zugänglichen Presseorganen zu veröffentlichen resp. bei der Abfassung Ihres Aufrufes zu verwenden. II. Wahlen. Wir teilen Ihnen mit, dass auch in der Tschechoslowakei und in Polen, wo ein Zusammengehen mit den Radikalen18 geplant war, die gemeinsame Liste in letzter Minute nicht zustande gekommen ist. Wir werden also in allen Ländern auf unserer eignen  [sic] Liste in den Wahlkampf gehen. Wir machen Sie nochmals darauf aufmerksam, dass jede Reststimme der Weltwahlliste zugute kommt und bitten Sie daher, auch wenn Sie nur geringe Aussichten haben sollten, in Ihrem Lande ein Mandat zu erringen, doch alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um möglichst viele Reststimmen für unsere Weltwahlliste zu erringen.19 Da verschiedene führende Mitglieder der revisionistischen Union auf den Listen verschiedener Länder gleichzeitig kandidieren, wird es uns ziemliche Schwierigkeiten bereiten, nach erfolgter Wahl die Annahme resp. Ablehnung des Mandats in den verschiedenen Ländern durch diese Herren so zu verteilen, dass das günstigste Resultat erzielt wird. Zu diesem Zweck müssen uns aber nicht nur die Namen unserer in den einzelnen Ländern gewählten und die der in der Liste nächstfolgenden Kandidaten sofort nach erfolgter Wahl bekannt sein, sondern auch die Zahl der aus Ihrem Lande uns zufliessenden 17 Aufruf für die Wahlen zum 15. Zionistenkongress, der für den 30. August bis 11. September 1927 angesetzt war. 18 Als Radikale Zionisten bezeichnete sich eine Gruppe, die sich unter dem Namen Demokratische Zionisten bereits 1923 von den Allgemeinen Zionisten abgespalten hatte. Wie die Revisionisten standen sie einer Erweiterung der Jewish Agency um Nichtzionisten ablehnend gegenüber. Zu ihren prominentesten Mitgliedern zählten der polnische zionistische Politiker Yitzhak Grünbaum (1879–1970) und der spätere Präsident des World Jewish Congress Nahum Goldmann (1895–1982). 19 Die Weltwahllisten kamen erstmals bei den Wahlen zum 15. Zionistenkongress zur Anwendung und boten den verschiedenen Gruppierungen die Möglichkeit, Zusatzmandate zu erringen. Die Delegiertenwahlen für den 15. Zionistenkongress wurden in 37 Wahlgebieten abgehalten. Die Reststimmen der Landeslisten entfielen auf die Weltwahllisten. Die Revisionisten konnten schließlich zehn Delegierte auf den Kon­ gress entsenden, wobei fünf von ihnen über die Weltwahlliste nominiert wurden. Siehe Zentralbureau der Zionistischen Organisation (Hg.), Protokoll der Verhandlungen des XV.  Zionisten-Kongresses, Basel, 30.  August bis 11.  September 1927, London 1927.

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Reststimmen, und zwar sowohl die absolute Zahl der Reststimmen als auch, welchen Bruchteil eines Mandates sie ergeben. (Siehe Wahlreglement). Wir ersuchen Sie also, sofort nachdem Ihnen die Wahlergebnisse bekannt sind, uns telegraphisch oder durch Eilbrief anzugeben: 1) 2) 3) 4)

Welche unserer Kandidaten bei Ihnen gewählt wurden; Die Namen der in der Liste nächstfolgenden nichtgewählten Kandidaten; Die Zahl der revisionistischen Reststimmen; Den wievielten Teil eines Mandates diese Reststimmen ergeben.

Wir bitten Sie aber, auch im Falle eines negativen Wahlerfolges die unter 3) und 4) angeführten Daten uns telegraphisch bekanntzugeben. III. Wir wollen Ihre Aufmerksamkeit jetzt darauf lenken, dass in Basel während des Kongresses eine Konferenz des Zentralkomitees der revisionistischen Union in erweitertem Rahmen stattfinden wird. Den genauen Zeitpunkt der Konferenz sowie die Tagesordnung werden wir Ihnen noch rechtzeitig bekanntgeben. {Koestler}20 Der Sekretär [|2|]

Mit Zionsgruss Für das Präsidium der Union der Zionisten-Revisionisten21 gez. Richard Lichtheim Programm der Revisionisten

Die Parteigruppe der Revisionisten wendet sich mit folgendem Wahlaufruf an die deutschen Zionisten und appelliert an diese, durch Stimmenabgabe für die revisionistische Kongresswahlliste den im folgenden entwickelten Grundsätzen und Forderungen des Revisionismus zum Siege zu verhelfen. I. Betreffend die innerjüdische Politik des Zionismus Die Leitung der zionistischen Weltorganisation und ihre Anhängerschaft behauptet, dass die von ihr betriebene Politik der sogenannten „Erweiterung der 20 Der Schriftsteller und Journalist Arthur Koestler (1905–1983) arbeitete ab dem 1. Juni 1927 für einige Monate als Sekretär im Zentralbüro der Zionisten-Revisionisten in Berlin. Arthur Koestler, Arrow in the Blue. An Autobiography, New York 1952. 21 Das Präsidium der Union der Zionisten-Revisionisten bestand aus Jabotinsky als Vorsitzendem und den drei Vize-Präsidenten Grossmann, Lichtheim und Wladimir Tiomkin (auch Temkin, 1861–1927). Das Präsidium war das ausführende Organ des Zentralkomitees und trat einmal im Monat zusammen.

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Jewish Agency“ notwendig und nützlich gewesen sei, dass wichtige Erfolge erzielt worden seien und dass diese Politik der Zionistischen Organisation keinen Abbruch getan, sondern dieselben gekräftigt habe. Demgegenüber stellen wir fest, a) dass die sogenannte „Erweiterung der Jewish Agency“ weder im § 4 des Mandats22 vorgesehen noch von den umworbenen jüdischen Kreisen und ebensowenig von der englischen Regierung jemals verlangt worden seist; b) dass diese Politik vor vier Jahren von dem Präsidenten der Zionistischen Organisation und seiner deutschen Gefolgschaft23 damit begründet wurde, dass die sofortige Beschaffung grosser Geldmittel erforderlich sei, wobei der Anschein erweckt wurde, als ob die Durchführung dieser Politik nur vom guten Willen des zionistischen Kongresses abhinge; c) dass diese Politik bis heute völlig resultatlos geblieben ist, dass die Erweiterung der Agency nicht zustande gekommen ist und dass trotz der angeblichen Bereitschaft gewisser jüdischer Kreise keinerlei Mittel von diesen zur Verfügung gestellt wurden;

22 Artikel 4 des 1922 vom Völkerbund bestätigten Palästina-Mandats erkannte die Zionistische Organisation als angemessene jüdische Vertretung (Jewish Agency) an. Als öffentliche Körperschaft sollte sie die britische Verwaltung Palästinas in wirtschaftlichen, sozialen und anderen Angelegenheiten, die die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte und die Interessen der jüdischen Bevölkerung in Palästina betrafen, beraten und mit ihr zusammenarbeiten. Bis 1929 erfüllte die Exekutive der Zionistischen Organisation diese Funktion. Maßgeblich auf Drängen Chaim Weizmanns wurde bereits seit 1923 die Erweiterung dieses Gremiums um Nichtzionisten, von denen man sich vor allem finanzielle Unterstützung beim Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina erhoffte, diskutiert. Die Revisionisten lehnten dieses Vorhaben vehement ab, da sie einen Einflussverlust der Zionisten bei der Ausgestaltung Palästinas befürchteten. Auf dem 16. Zionistenkongress 1929 in Zürich fanden die Pläne Weizmanns schließlich breite Zustimmung. Das Gremium wurde umstrukturiert, personell um Nichtzionisten erweitert und offiziell als The Jewish Agency for Palestine gegründet. 23 Die Mehrheit der deutschen zionistischen Bewegung zeichnete sich insbesondere in den 1920er Jahren durch eine ausnehmend loyale Haltung gegenüber dem parteilosen Chaim Weizmann aus. Sie unterstützte die von ihm angestrebte Erweiterung der Jewish Agency, seine Politik gegenüber dem britischen Mandatar sowie seine kooperative Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas. Reinharz, Chaim Weizmann and German Jewry.

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d) dass die von der zionistischen Leitung – nicht von der Marshall-Gruppe –24 veranlasste Entsendung einer sogenannten Expertenkommission offenbar dazu bestimmt ist, den vollständigen Misserfolg der offiziellen Politik zu verschleiern und die Angelegenheit weiter zu verschleppen;25 e) dass diese Politik, wenn sie durchführbar wäre, schwere Gefahren in sich birgt, da sie die Zionistische Weltorganisation ihrer wichtigsten Funktion beraubt und damit den Verfall dieser Organisation, jedenfalls aber ihre politische Ohnmacht herbeiführen müsste, ohne jede Gewähr dafür, dass die an Stelle der Zionistischen Organisation tretende Jewish Agency sich an die Grundsätze nationaljüdischer Palästinapolitik gebunden erachtet; f) dass diese Politik, völlig planlos und leichtfertig begonnen, seit vier Jahren die Zionistische Organisation erschüttert, ihr Ansehen geschädigt, kein Resultat erbracht und in Amerika zu einer schweren moralischen Niederlage des Zionismus geführt hat. Wir fordern daher: a) die Liquidierung dieser undurchdachten, gefährlichen Politik, b) die Aufstellung neuer, den tatsächlichen Verhältnissen im Judentum entsprechender Pläne, welche die Mitwirkung aller jüdischen Kreise am 24 Der amerikanische Jurist und Präsident des American Jewish Committee, Louis Marshall (1856–1929), vertrat in den Verhandlungen über die Erweiterung der Jewish Agency die Gruppe der Nichtzionisten. 25 Seit Beginn der 1920er Jahre wurde innerhalb der zionistischen Bewegung über die in Palästina zu verfolgende Wirtschaftspolitik diskutiert. In enger Anlehnung an das sozioökonomische Programm der Arbeiterparteien förderte die Zionistische Organisation unter der Leitung Weizmanns hauptsächlich den kollektivistisch organisierten landwirtschaftlichen Sektor. Die amerikanischen Zionisten und Nichtzionisten forderten hingegen eine Stärkung des privaten Sektors und der Industrie. 1927 wurde auf Initiative Weizmanns und Mark Schwartz’, dem Direktor der Palästina-Abteilung der Zionistischen Organisation Amerikas, eine unabhängige angloamerikanische Expertenkommission unter der Leitung des Wirtschaftsexperten Elwood Mead (1858–1936) nach Palästina entsandt, um die Entwicklung des landwirtschaftlichen Siedlungswerks seit 1923 zu untersuchen. Die Revisionisten, die das ökonomische Programm Weizmanns ebenfalls kritisierten, befürchteten, dass die Experten­kommission zu dessen Gunsten urteilen würde. Die Kommission empfahl in ihrem 1928 veröffentlichten Bericht jedoch, die ausschließlich kollektivistische Siedlungsstrategie aufzugeben. Selwyn Ilan Troen, Imagining Zion: Dreams, Designs, and Realities in a Century of Jewish Settlement, New Haven, Conn., 2003, 31–34; Arie Krampf, The Israeli Path to Neoliberalism. The State, Continuity and Change, London / ​New York 2018, 30–32.

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Aufbau Palästinas gemäss dem wirklichen Text des § 4 des Mandats und entsprechend den Wünschen aller Zionisten [|3|] ermöglichen. Diese Mitwirkung soll sich vor allem auf das wirtschaftliche Gebiet erstrecken, wird aber nur dann zustande kommen, wenn die Zionistische Organi­ sation unter neuer Leitung sich als fähig erweist, den zionistischen Kreisen  konkrete und durchdachte Vorschläge für ihre Mitarbeit zu unterbreiten. II. Betreffend die Wirtschaftspolitik des Zionismus.26 Die Leitung behauptet, dass sie an dem mangelnden Erfolg unserer wirtschaftlichen Arbeit höchstens insoweit schuld sei, als sie während der vierten Alijah zu viele Einwanderer ins Land gelassen habe.27 Sie folgert daraus, dass die Einwanderung in den nächsten Jahren noch mehr beschränkt werden müsse und spricht von Konsolidierung der bestehenden Institutionen, ohne aber zu verraten, worin diese Konsolidierung bestehen soll. Demgegenüber stellen wir fest, dass die vierte Alijah nur in sehr beschränktem Masse für die Erklärung der jetzigen Krise verantwortlich gemacht werden kann. Die Ueberwindung der Arbeitslosigkeit der mit der vierten Alijah ins Land gekommenen Arbeitskräfte würde sich verhältnismässig leicht ermöglichen lassen, wenn die zionistische Verwaltung nicht durch eine seit vielen Jahren betriebene, einseitige und kurzsichtige Wirtschaftspolitik weit über ihre Mittel hinaus engagiert, und durch eine Defizitwirtschaft auf allen Seiten lahmgelegt wäre. Für diese verkehrte Politik – vor deren Folgen eine Reihe ernster Kritiker seit Jahren gewarnt haben [sic] – ist die jetzige Leitung voll verantwortlich. Wir fordern, dass eine neue Leitung ein völlig anderes Wirtschaftssystem durchführt und betonen dabei, a) dass es sich nicht um einen Kampf gegen die Arbeiterschaft handelt. Soweit die Siedlungen und Unternehmungen der Arbeiterschaft reformbedürftig sind, muss die Reform in der vorsichtigsten und schonendsten Weise

26 Seit Mitte der 1920er Jahre herrschte eine schwere wirtschaftliche Krise in Palästina, die von hoher Arbeitslosigkeit begleitet wurde und jüdische Abwanderung bzw. geringe Einwanderung zur Folge hatte. 27 Während der vierten Alija siedelten ab Mitte der 1920er Jahre rund 80 000 Juden, vor allem aus Polen, nach Palästina über. Viele von ihnen verließen den Jischuw aber aufgrund der Wirtschaftskrise wieder. Magdalena M. Wrobel Bloom, Social Networks and the Jewish Migration between Poland and Palestine, 1924–1928, Frankfurt a. M. /  New York 2016.

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durchgeführt werden. Der vom sogenannten „linken Zentrum“28 befürwortete Beschluss des Aktions-Comités, die Arbeitslosenunterstützung baldigst einzustellen, hat keinen praktischen Wert. Die Arbeiterschaft kann nicht plötzlich preisgegeben werden, nachdem sie durch ihre Institutionen jahrelang die Wirtschaft der Exekutive bestimmt hat; b) dass das neue Wirtschaftssystem von dem Gedanken durchdrungen sein muss, dass Palästina nicht durch Geldsammlungen, sondern nur durch tätige Mitarbeit des jüdischen Volkes aufgebaut werden kann. Der Nationalfonds und der Keren Hajessod sind für manche Seiten der Arbeit von grösster Bedeutung, der Aufbau Palästinas aber erfordert sowohl in der Industrie wie in der Landwirtschaft die Initiative von privaten und gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften und Unternehmungen, von einzelnen Personen und Gruppen, die auf ihre Verantwortung und ihr Risiko in Palästina arbeiten. Aufgabe der zionistischen Wirtschaftspolitik ist es, dieser Privatinitiative den Weg zu ebnen, und zwar durch die Schaffung von politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, von Kreditinstituten und Auskunftsstellen, Organisierung des Absatzes und Beteiligung an Land- und Erschliessungsgesellschaften, um das tätige Interesse weiter jüdischer Kreise mit Palästina zu verknüpfen. In dieser Hinsicht hat die jetzige Leitung völlig versagt. Ihre Wirtschaftspolitik bestand im Wesentlichen darin, Geld zu fordern und Geld zu verteilen. [|4|] III. Auf dem Gebiete der äusseren Politik. Die Leitung behauptet, dass die politische Lage sehr befriedigend sei, dass alles von ihrer Seite geschehe, was politisch geschehen könne, dass bei den jetzigen politischen Bedingungen die Nationale Heimstätte in Palästina errichtet werden könne, wenn das jüdische Volk genügend Geld hergäbe und dass die Opposition kein politisches Verantwortungsgefühl besitze. Demgegenüber stellen wir fest: a) Die politische Lage ist nicht befriedigend – ausser für solche Zionisten, die sich unter allen Umständen mit allem einverstanden erklären, was die Mandatarmacht tut oder unterlässt. Wir stellen fest, dass keine einzige der im Mandat vorgesehenen Massnahmen, durch welche die Mandatar­ macht die jüdische Kolonisation fördern sollte,29 bisher zur Ausführung

28 Das Linke Zentrum war ein Wahlbündnis aus Allgemeinen Zionisten und nicht­ marxistischen, sozialistischen Zionisten. Lavsky, Before Catastrophe, 126–140. 29 Im Mandat vorgesehen waren u. a. die Erleichterung der jüdischen Einwanderung nach Palästina und die Förderung der Ansiedlung von Juden.

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gelangt ist. Das ist grösstenteils die Schuld Sir Herbert Samuels,30 der ein Verwaltungssystem schuf, das aus Furcht vor der arabischen Opposition und unter dem Einfluss feindseliger Elemente jede planmässige Förderung des jüdischen Kolonisationswerkes vermissen liess, und in dem Bestreben, „neutral“ zu erscheinen, die zionistische Arbeit schwer schädigte. b) Der Abgang Samuels erleichterte die Aufgaben der zionistischen Politik, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die zionistische Leitung sich dieser Aufgaben bewusst ist. Die hartnäckig wiederholte Behauptung, dass politisch alles Wesentliche erreicht sei, beweist, dass die jetzige Leitung ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist. Diese besteht heute darin, die toten Buchstaben des Mandats zum Leben zu erwecken. Die Kolonisation Palästinas ist eine staatliche Aufgabe und kann ohne Mithilfe des Staates nicht gelöst werden. Diese Mithilfe müsste unter anderem bestehen: in rascher Vermessung des Landes, Steuererleichterungen für die jungen Siedlungen. Beseitigung gewis­ ser Pass- und Zollerschwerungen, freundlicher Behandlung der Immigranten, staatlicher Fürsorge für das jüdische Sanitäts- und Unterrichtswesen, staatliche Auskunftserteilung an jüdische Interessenten in Palästina und der Diaspora über alle Wirtschaftsfragen, Regelung des Bahn- und Strassenbaues sowie der Verwaltungs-, Militär- und Polizeiangelegenheiten unter dem Gesichtspunkt, dass in Palästina ein jüdisches Gemeinwesen entstehen soll. Diese und andere Massnahmen würden sich aus einem Kolonisationsplan ergeben, der gemeinsam von der Jewish Agency und der Landesverwaltung aufzustellen wäre. Die Mandatarmacht von der Richtigkeit und Notwendigkeit solchen Verhaltens und solcher Massnahmen zu überzeugen, ist heute Aufgabe der zionistischen Politik. Von der jetzigen Leitung ist nach ihren Taten und Erklärungen der letzten Jahre nicht zu erwarten, dass sie in dieser Richtung arbeitet, sie ist mit dem heutigen Zustand zufrieden. Wir fordern daher, dass die jetzige Leitung durch eine solche abgelöst wird, die im Sinne unseres Programms eine neue Aera politischer Arbeit einleitet. Wir behaupten, dass dies möglich ist, da [|5|] die Mandatarmacht uns grundsätzlich wohlgesinnt ist, und in manchen Fällen bereits Entgegenkommen gezeigt hat – wobei leider nicht die Exekutive, sondern andere Kreise die Initiative ergriffen. Wir verweisen auf die Aeusserung von Sir Alfred Mond,31 30 Herbert Louis Samuel (1870–1963) war von 1920 bis 1925 Hochkommissar für Palästina. 31 Alfred Mond (1868–1930) war ein britischer Industrieller und Politiker jüdischer Herkunft. Er war Präsident der British Zionist Foundation und Mitglied der 1927

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Wedgewood [sic]32 und Kenworthy,33 die in allem wesentlichen die revisionistische Kritik bestätigen. Wir protestieren gegen die verhängnisvolle Haltung der Leitung, die, um sich zu behaupten und ihre eigene Unfehlbarkeit zu beweisen, abwechselnd den Sachwalter arabischer oder angeblicher englischer Interessen spielt, weil sie nicht den Mut, die Einsicht und das Verantwortungsgefühl besass, Sachwalter der jüdischen Palästinainteressen zu sein. Wir fordern den Rücktritt dieser Leitung, die auf politischem und koloni­ satorischem Gebiet versagt hat, die in der inneren Politik einen ungangbaren Weg immer weiter zugehen versucht, die in blinder Selbstzufriedenheit jede Kritik zurückweist und, statt ihre eigenen Fehler und die Irrtümer des Systems zu erkennen, alle Schuld für den mangelnden Erfolg auf das jüdische Volk zu schieben sucht. Möge der Basler Kongress des Jahres 1927 eine neue Leitung schaffen, die die zerklüftete und entmutigte Zionistische Organisation wiederum eint und die sich als fähig und entschlossen erweist, die brennenden Fragen unserer Organisation, Wirtschaft und Politik im Geiste des wahren und unverfälschten Zionismus zu lösen!34

nach Palästina entsandten Expertenkommission. Am 10. Juni 1927 hatte er die britische Palästinaverwaltung für ihre geringe Unterstützung der jüdischen Aufbauarbeit kritisiert. Anonymus, Alfred Mond Criticizes Palestine Government for Scanty Support, in: Jewish Daily Bulletin, 12. Juni 1927, 1. 32 Josiah Clement Wedgwood (1872–1943) war ein britischer nichtjüdischer Politiker. Er unterstützte die zionistische Politik in der britischen Öffentlichkeit und kritisierte die britische Verwaltung in Palästina wiederholt für ihre mangelnde Unterstützung der zionistischen Bestrebungen. Anonymus, Wedgwood Charges Britain with Failure to Help Jews in Palestine, in: Jewish Daily Bulletin, 30. November 1926, 1; Anonymus, British Again Charged with Lack of Cooperation in Palestine, in: Jewish Daily Bulletin, 24. Dezember 1926, 1 f. 33 Joseph Montague Kenworthy (1886–1953) war ein pro-zionistischer britischer Parlamentsabgeordneter. Er kritisierte die britische Verwaltung in Palästina u. a. für den Mangel an britisch-palästinensischen Handelsbeziehungen. Er plädierte für die Unterstützung der zionistischen Bestrebungen in Palästina im Interesse der britischen imperialen Politik. Anonymus, Com. Kenworthy Indicts Palestine Government before Sailing for U.S., in: Jewish Daily Bulletin, 19. Dezember 1926, 2. 34 Den deutschen Revisionisten gelang es lediglich 4,5 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen. Ein Mandat für den Kongress konnten sie damit nicht erringen. Anony­ mus, Die Wahlen zum XV. Zionistenkongreß, in: Jüdische Rundschau, 16. August 1927, 467.

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Dokument 32 Richard Lichtheim an die 3. Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten Ohne Ort, Ohne Datum [Dezember 1928]35 Maschinenschriftlicher Brief, 5 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Zusätze, Korrekturen und Unterstreichungen JI, P140-4 [Lichtheim legt im Vorfeld der Weltkonferenz zentrale Diskussionspunkte dar und skizziert seine Positionen. Dabei geht er auf den Vorschlag ein, Palästina zu einem siebten Dominion Großbritanniens zu erklären und äußert sich zum Verhältnis der Union zur geplanten Jewish Agency sowie zur Zionistischen Organisation. Er beschreibt seine Vorstellungen von revisionistischer Jugendarbeit und fordert die Aufstellung eines neuen politischen sowie wirtschaftlichen Programms für Palästina.] {Richard Lichtheim} An die 3. Weltkonferenz der zionistischen revisionistischen Union.36 Zu den Programm-Fragen, welche die Konferenz der Union beschäftigen werden, möchte ich nachstehend Stellung nehmen: 1. Seventh Dominion. In dieser Frage teile ich im Wesentlichen die Meinung, welche Herr Jabotinsky von Paläsz{t}ina aus zum Ausdruck gebracht hat. Wir können das Projekt des Colonel Wegdwood37 sympathisch begrüssen, ohne uns formell auf dieses 35 Das Schreiben entstand unmittelbar vor der 3. Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten, die vom 26. bis 31. Dezember 1928 unter dem Vorsitz Jabotinskys und Lichtheims in Wien stattfand. 36 Die zentralen Themen der Konferenz waren die geplante Gründung der erweiterten Jewish Agency; das Verhältnis der Revisionisten zur Zionistischen Organisation; der Vorschlag, Palästina in ein britisches Dominion umzuwandeln; sowie die Wirtschaftspolitik in Palästina. Zur Verhandlung und den Beschlüssen siehe Anonymus, Welt­konferenz der Zionisten-Revisionisten, in: Jüdische Rundschau, 4. Januar 1929, 3. 37 Ab 1928 warb Wedgwood für die Idee, Palästina nach Kanada, Australien, Neuseeland, Neufundland, Südafrika und Irland zum siebten Dominion im Britischen Empire zu erklären und damit einen privilegierten Status im Kolonialreich zukommen zu lassen. 1929 gründete er zu diesem Zweck die Seventh Dominion League. Auf der dritten Weltkonferenz begrüßten die Revisionisten die Idee Wedgwoods, da der Status als Dominion weitreichende Selbstverwaltungsrechte versprach. Josiah

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Projekt zu verpflichten. Es handelt sich um Fragen der Völkerbundspolitik und um die politische Haltung Englands in der Zukunft, d. h. um politische Angelegenheiten, die nicht von uns selbst abhängig sind. Sollte England und der Völkerbund einer Lösung der Palästina-Frage im Sinne des Projektes des Colonel Wegdwoods zustimmen, so kann gesagt werden, dass wir dies mit dem zionistischen Programm a für durchaus vereinbar halten und im Interesse einer engeren Zusammenarbeit mit England ein solches Projekt durchaus erwägenswert finden. Mehr zu sagen oder zu beschliessen, liegt jetzt keine Veranlassung vor.38 2. Jewish Agency. In diesem Punkte muss der Revisionismus jetzt seine Haltung ändern, dan die Errichtung der erweiterten Jewish Agency als eine Tatsache zu betrachten ist. Wir haben bis zulez¦t¦zt und noch auf dieser A. C.-Sitzung das Projekt entschieden bekämpft und alle Gründe wiederholt, die dagegen sp{re}chen. Da aber jetzt bestimmte Schritte getan worden sind, und da das A. C. die bisher nur theoretischen Beschlüsse der Kongresse durch Zustimmung zu den Vorschlägen der amerikanischen Nichtzionisten in die Praxis umgesetzt ha{t}, so befinden wir uns in einer neuen Lage, die nur 2 Auswege gestattet:39 Wir müssten entweder aus der Zionistischen Organisation, welche jetzt ein Partner der Agency geworden ist, austreten, um eine neue unabhängige Organisation zu schaffen – ein Vorschlag, der von manchen unserer Freunde befürwortet wird, dem ich mich aber nicht anschliessen kann –; |2| oder aber wir müssen in der Organisation bleiben und damit auch bei der Arbeit der erweiterten Jewish Agency mitwirken.40 Diese Mitwirkung muss dann eine Wedgwood, The Seventh Dominion, London 1928; Joshua B. Stein, Josiah Wedgwood and the Seventh Dominion Scheme, in: Studies in Zionism 11 (1990), H. 2, 141–155. 38 Anmerkung auf linker Marginalie über nahezu den gesamten ersten Absatz: »Lichtheim an die III. Weltkonferenz der Zionisten Rev.« 39 Auf der Sitzung des Aktionskomitees der Zionistischen Organisation vom 20.  bis zum 22. Dezember 1928 in Berlin kam es nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Zionistischer Organisation und Nichtzionisten zu einer Einigung, die die Grundlage für eine Zusammenarbeit von Zionisten und Nichtzionisten in der Jewish Agency auf der Basis eines paritätischen Verhältnisses legte. Die Revisionisten waren durch Lichtheim und Grossmann im Aktionskomitee vertreten. Auf dem 16.  Zionisten­ kongress 1929 in Zürich wurde die Errichtung der Jewish Agency for Palestine offiziell beschlossen. Menahem Kaufman, An Ambiguous Partnership. Non-Zionists and Zionists in America, 1939–1948, Jerusalem / Detroit, Mich., 1991, 23–28. 40 Der radikale Flügel der Partei um Jabotinsky drängte auf mehr politische und ökonomische Eigentätigkeit der Revisionisten bis hin zum Austritt aus der Zionistischen

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offene und ehrliche sein. Eine Zwischenlösung ¦etwa¦ derart, dass wir formell in der Zionistischen Organisation und damit in der Jewish Agency bleiben, dort aber Obstruktion treiben und die Sache von inner [sic] heraus zu lösen {zerstören} suchen, wäre in keiner Weise zu rechtfertigen und jede Tendenz in dieser Richtung muss entschieden bekämpft werden. In diesem Punkt muss unsere Konferenz vollständige Klarheit schaffen. Es wäre taktisch auch nicht richtig, etwa die Entscheidung bis zum nächsten Kongress zu verschieben in der Hoffnung, dass der Agency-Plan bis dahin noch scheitern könnte. Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass alle Kongresse und alle Aktions-Comités seit 5 Jahren grundsätzlich für den AgencyPlan eintreten. Es ist daher ausgeschlossen, die Sache jetzt zum Scheitern zu bringen, nachdem der erste, wenn auch schwache, Erfolg erzielt worden ist. Die Zionistische Organisation hat sich eben durch ihre Politik festgelegt und man hat nicht einmal mehr das moralische Recht, die Mitwirkung der Gruppe Warburg-Marschall41 in diesem Stadium zurückzuweisen. 3. Verhältnis zur Zionistischen Organisation. Im engen Zusammenhang mit der Behandlung der Agency-Frage steht unser Verhältnis zur Zionistischen Organisation. Diejenigen, welche wegen der Agency-Politik und aus anderen Gründen die Zionistische Organisation verlassen und eine neue Partei gründen wollen, haben das volle Recht, für ihre Überzeugung einzutreten und sie können für ihren Standpunkt gute Gründe anführen. Ich bin aber der Ansicht, dass ein solcher Versuch vollkommen zwecklos ist und dass uns nichts übrig bleibt, als innerhalb der Zionistischen Organisation für unsere Überzeugung wie bisher einzutreten. Ich betone aber auch in diesem Zusammenhang, dass ein Mittelweg ausgeschlossen ist und dass unser Verbleiben in der Zionistischen Organisation dahin verstanden werden muss, dass wir uns den Beschlüssen der Organisation unterwerfen |3| und ihren{e} geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen unterwerfen respektieren. Daher ist jede Tendenz zu verwerfen, die die Schaffung eigener politischer Exekutiv-Organe in London oder Genf neben den Organen der Zionistischen Organisation anstrebt.

Organisation, der gemäßigte Flügel der Partei um Grossmann und Lichtheim plädierte hingegen dafür, die politische Autorität der Zionistischen Organisation anzuerkennen. Diese Frage wurde auf der Konferenz nicht abschließend geklärt. 41 Felix Warburg (1871–1937) war ein deutsch-amerikanischer Bankier aus der gleichnamigen Hamburger Bankiersfamilie und führendes Mitglied des JDC. Gemeinsam mit Louis Marshall vertrat er die amerikanischen Nichtzionisten in der Jewish Agency.

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Die von einem Teil unserer palästinensischen Mitglieder erhobene Forderung, dass der Waad Leumi42 sich besondere politische Vertretungen in Europa einrichtet,43 steht in schroffem Gegensatz zu der politischen Auffassung des Revisionismus. Gerade wir haben immer betont, dass Palästina nicht die Angelegenheit der jetzt dort wohnenden 150 000 Juden ist, sondern die Angelegenheit des ganzen jüdischen Volkes. Daraus folgt, dass die politische Vertretung der Palästina-Sache ausschliesslich in den Händen der Jewish Agency liegen muss. 4. Jugendarbeit Auf diesem Gebiet ist eine Klärung nötig, da z. Zt. 2 verschiedene Tendenzen bei uns hervortreten. Es wird dem Revisionismus häufig vorgeworfen, dass er einen äusserlichen Nationalismus und Chauvinismus in der Jugend erzeugt, der sich in militärischen Spielereien äussert.44 Derartige Tendenzen müssen in der Tat bekämpft werden, da sonst der Revisionismus Gefahr läuft, zum Sammelplatz eines moralisch minderwertigen Radau-Nationalismus zu werden. Die wahre Aufgabe der revisionistischen Jugenderziehung besteht darin, einen gesunden politischen Realismus zu pflegen, d. h. der Jugend die Errichtung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina als ein großes Ziel zu

42 Der Wa’ad Le’umi (Nationalrat) war zwischen 1920 und 1948 die regierende Körperschaft des Jischuw. 43 Jabotinsky plante in London eine »Gesellschaft zum Schutze der Rechte der palästinensischen Juden« eintragen zu lassen. Die schließlich unter dem Namen »Sechutenu« registrierte Organisation sollte in Zusammenarbeit mit dem Wa’ad Le’umi und der Zionistischen Organisation gegenüber der britischen Mandatsverwaltung für den Schutz der Rechte und die Interessen der jüdischen Bevölkerung Palästinas eintreten. Jabotinsky hoffte, dadurch den Einfluss der Revisionisten in Palästina ausweiten zu können. Anonymus, Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten; Anonymus, Revisionists Incorporate Body of Defense of Jewish Rights in Palestine, in: Jewish Daily Bulletin, 21. Februar 1929, 1, 4. 44 Die dem Revisionismus anhängige, nach Joseph Trumpeldor benannte Jugendorganisation Brit ha-No’ar ha-Ivri al Shem Yosef Trumpldor (Hebräischer Jugendbund Joseph Trumpeldor, kurz Betar) wurde 1923 von Jabotinsky in Riga gegründet und organisierte sich ab 1927 in Palästina. Sie war für militärische Übungen und die Uniformen ihrer Mitglieder bekannt und suchte in der Zwischenkriegszeit vor allem in Polen Juden vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Aufgrund ihres militärischen Habitus und ihrer nationalistischen Ideen wurde der Betar jedoch auch unter Zionisten mitunter harsch kritisiert. Zur Geschichte des Betar in Polen siehe Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children, Polish Jews and the Rise of Right-Wing Zionism, Princeton, N. J., 2017.

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zeigen, dessen ### Erreichung durch ernsthafte politische und wirtschaftliche Massnahme{n} zu erstreben ist. Die Jugend muss einerseits davor bewahr{t} werden, den Zionismus nur als Teil eines Programms sozialer Revolution zu betrachten und sich vollständig unter die Führerschaft der jetzigen Arbeiterorganisation in Palästina zu begeben. Sie muss hiervor vor allem deshalb bewahr{t} werden, weil unsere wirtschaftlichen Erkenntnisse uns dahin geführt haben, neben und anstelle |4| der Methoden dieser Arbeiterorganisation andere wirtschaftliche Methoden zu setzen. Die wahre Aufgabe unserer Jugenderziehung ist also die Erziehung eines neuen Typus von Chaluzim,45 die nicht die geis{st}igen Gefangenen der jetzigen palästinensischen Arbeiterorganisation sind, und dennoch mit dem gleichen Eifer und der gleichen Begeisterung wirkliche Pionierarbeit auf gesunder wirtschaftlicher Grundlage in Palästina leisten wollen. 5. Die positiven Programm-Punkte, auf die wir uns in Zukunft als Basis der revisionistischen Tätigkeit konzentrieren müssen, sind folgende: a) Aufstellung eines politischen Programms, das im Wesentlichen mit den Programmforderungen identisch ist, die wir bereits früher in politischer Hinsicht formuliert haben.46 Wir bekämpfen nach wie vor die unklare schwächliche Haltung der jetzigen zionistischen Leitung und fordern die Durchsetzung des politischen Programms, für welches Jabotinsky in den letzten Jahren bereits mit so grossem und sichtbarem Erfolg in der zionistischen Welt eingetreten ist. Wir werden dieses Programm immer aufs Neue prüfen und ausgestalten und in der Zionistischen Organisation für seine Durchführung kämpfen. b) Aufstellung eines wirtschaftlichen Programms, welches sich von allen Partei-Schlagworten freihält und nur dem Ziel dient, Palästina in möglichst kurzer Zeit durch eine möglichst grosse Zahl von Juden auf wirtschaftlicher Grundlage zu besiedeln. Die Umrisse unseres Wirtschaftsprogramms sind bereits auf früheren Tagungen entworfen worden. Wir müssen gerade jetzt, wo durch die Erweiterung der Agency neue und einflussreiche Kräfte an die Palästina-Arbeit herantreten, dieses Programm weiter ausbauen. Die bisherige zionistische Leitung hat sich nicht nur auf politischem, sondern noch mehr auf wirtschaftlichem Gebiet als 45 Der hebräische Begriff ḥaluẓ (Pionier) bezeichnet die Mitglieder der zionistischen Jugendorganisationen, in der Regel die der Arbeiterparteien. 46 Siehe dazu Zentralbüro der Zionisten-Revisionisten (Hg.), Grundsätze des Revisionismus.

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unfähig erwiesen. Sie besass niemals ein Programm. Sie ist immer hinter den Er###{eig}nissen hergelaufen, und hat im Grunde die Aufstellung des Wirtschaftsplanes und die |5| Benutzung der Fonds der energischen und rührigen Arbeiterschaft überlassen. Ohne die bedeutungsvolle Tätigkeit dieser Arbeiterschaft unnötig zu kritisieren oder ihre Leistungen herabzusetzen, müssen wir nach unserer Erkenntnis vor aller Welt feststellen, dass die von der Arbeiterschaft diktierten Methoden der zionistisch{en} wirtschaftlichen {Wirtschafts-} Politik in wesentlichen Punkten falsch sind und dass Palästina nicht aufgebaut werden kann, wenn nur diese Methoden weiter zur Anwendung gelangen. Die zionistischen Fonds und die zionistischen Arbeitsenergien müssen zur Vorbereitung auch anderer wirtschaftlicher Arbeiten verwandt werden.47 Es wird die Aufgabe der Konferenz sein, diese im vorstehenden kurz zusammengefassten Hauptpunkte sorgfältig zu erwägen und zur Grundlage künftiger revisionistischer Arbeit zu machen. Das Ziel ist damit gekennzeichnet: und e{E}s besteht in der Schaffung einer starken, lebendigen Partei im Zionismus, die den Versuch unternimmt, anstelle einer zerfahrenen und planlosen, müden und willensschwachen Zionistischen Organisation wieder eine starke Zionistische Organisation zu schaffen, die auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet von Tatkraft und gesundem Realismus erf{üllt} ist und die eine neue Chaluzbewegung in ihrem Geiste zu entfesseln vermag.

47 Die Revisionisten lehnten den von der zionistischen Arbeiterbewegung propagierten Klassenkampf ab und vertraten stattdessen das Konzept des »zionistischen Monismus«, d. h. sie betrachteten den Zionismus als alleiniges Ideal, der nicht mit sozialistischen oder anderen politischen Ideen vermischt werden durfte. Allein der Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens stand für sie im Vordergrund. Sie forderten daher eine breitere zionistische Wirtschaftspolitik, die sich nicht nur an den sozialistischen Konzepten der Arbeiterparteien orientieren sollte. Sie bekannten sich zur freien Marktwirtschaft und traten für eine Ergänzung der genossenschaftlichen Siedlungspolitik durch privatwirtschaftliche Kolonisationsprojekte und die Förderung der Industrie sowie der Mittelstandseinwanderung ein.

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Dokument 33 Richard Lichtheim, Was tut not? Gedruckter Zeitschriftenartikel, 3 Seiten; abgedruckt in: Hed-Bethar. Blätter der Brith Trumpeldor,48 Sondernummer, 8. September 1929, 1–3 [Angesichts der arabischen Unruhen im August 1929 gibt Lichtheim eine Einschätzung der öffentlichen Meinung in Großbritannien gegenüber dem Zionismus. Im Anschluss rekapituliert er die Ereignisse und weist Vorwürfe einer jüdischen Mitschuld an den Ausschreitungen zurück. Abschließend diskutiert er Konsequenzen für die zionistische Bewegung, fordert eine Neuausrichtung der zionistischen Politik entlang der Forderungen der Revisionisten und kritisiert die vor allem von deutschsprachigen Zionisten propagierte Verständigungspolitik.]

London, 8. September

Was tut not? (Die Vorgänge in Palästina) Von Richard Lichtheim

I. Wie vorauszusehen war, haben die Ereignisse in Palästina49 in der jüdischzionistischen Welt, aber auch in der englischen Presse und in den englischen Regierungskreisen eine erneute Diskussion über alle Grundfragen der Balfour-Deklaration entstehen lassen.50 48 Hed-Bethar war eine kurzlebige Zeitschrift des deutschen Ablegers der revisionistischen Jugendorganisation Betar. 1929 ins Leben gerufen, wurde sie nach fünf Ausgaben und zwei Sondernummern noch im selben Jahr wieder eingestellt. 49 Am 23. August 1929 war ein bereits seit mehreren Monaten schwelender Konflikt zwischen Juden und muslimischen Arabern um die Nutzung der Westmauer (auch Klagemauer) in der Altstadt Jerusalems eskaliert. Die Westmauer des ehemaligen zweiten jüdischen Tempels ist eine der heiligsten Stätten des Judentums, gleichzeitig betrachten Muslime die Mauer als Teil der Al-Aqsa-Moschee, der drittheiligsten Stätte des Islams. Ausgehend von der Westmauer in Jerusalem erfasste eine Welle der Gewalt bald andere Städte im Mandatsgebiet. Bei den arabischen Angriffen, jüdischen Gegenangriffen und britischen Polizeimaßnahmen wurden zwischen 23. und 29. August 1929 133 Juden und 116 Araber getötet, 339 Juden und 232 Araber verletzt. Im jüdischen Gedächtnis haben die Unruhen vor allem aufgrund des Massakers von Hebron einen festen Ort, bei dem am 24. August 1929 67 Juden durch ihre arabischen Nachbarn ermordet wurden. Die überlebende jüdische Bevölkerung wurde aus der Stadt evakuiert. Cohen, 1929. Year Zero of the Arab-Israeli Conflict. 50 Nach den arabischen Unruhen in Palästina im August 1929 folgte eine monatelange Auseinandersetzung um die Frage nach den Ursachen für den Gewaltausbruch. Für

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Die Haltung der englischen Presse ist leider wenig günstig. Die meisten Blätter drücken Bedauern, Entrüstung, ja auch Schamgefühl darüber aus, daß unter einer britischen Verwaltung Unruhen und Gewalttaten möglich waren. Daß dieser oder jener Sündenbock in der Verwaltung geopfert werden muß, steht ziemlich fest. Daneben wird auch das Bedauern über die jüdischen Opfer zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus erklären die meisten Blätter, daß England seine Verpflichtungen erfüllen, das Mandat behalten und das Versprechen an die Juden einlösen müsse, ohne zu erörtern, wie dies im Einzelnen geschehen solle. Die „Daily Mail“51 und andere Gegner des Zionismus bringen natürlich ihre Feindschaft offen zum Ausdruck und schreiben: „Give back the Mandate!“ Was aber ernsthaft beunruhigend wirkt, ist die Tatsache, daß mit Ausnahme des „Manchester Guardian“52 kaum eine Zeitung ernsthafte Sympathie für den Zionismus erkennen läßt. Hier sind offenbar jahrelang Versäumnisse der zionistischen Politik wieder gut zu machen. Ein großes liberales Blatt wie

die arabische Seite waren die Zionisten für die Geschehnisse verantwortlich. Die britischen Untersuchungskommissionen im Nachgang der Ereignisse beschuldigten die jüdische Bevölkerung zumindest teilweise zur Eskalation beigetragen zu haben. Für den Jischuw und die Zionistische Organisation waren in der Hauptsache die arabische Führung und die britische Mandatsregierung für die ungezügelte Gewalt ver­antwortlich. Die Revisionisten beschuldigten gleichermaßen die britische Mandatsregierung und die Zionistische Exekutive der Untätigkeit angesichts der arabischen Bedrohung. Die sozialistischen und religiösen Zionisten wiederum schrieben zumindest einen Teil der Schuld Jabotinskys Revisionisten und deren Jugendbewegung Betar zu, die die arabische Bevölkerung im Vorfeld der Unruhen provoziert hätten. 51 Die Daily Mail ist eine konservative britische Tageszeitung, die zu den meistverkauften des Landes zählt. Sie wurde seit 1896 von den Brüdern Alfred Harmsworth, 1.  Viscount Northcliffe (1865–1922) und Harold Harmsworth, 1.  Viscount Rothermere (1868–1940) herausgegeben. Insbesondere unter der Leitung von Harold Harmsworth sympathisierte das Blatt mit dem italienischen Faschismus Benito Mussolinis und dem Nationalsozialismus Adolf Hitlers. 52 The Guardian ist eine linke britische Tageszeitung, die 1821 in Manchester gegründet wurde und bis 1959 als The Manchester Guardian erschien. Insbesondere unter der Leitung von Charles P. Scott (1846–1932), der von 1872 bis 1929 Herausgeber und von 1907 bis zu seinem Tod Eigentümer der Zeitung war, unterstützte das Blatt die zionistische Bewegung. Bis 1967 war der Guardian entschieden pro-israelisch ausgerichtet. Nach dem Sechstagekrieg berichtete die Zeitung zunehmend kritisch über Israel und seine Rolle im Konflikt mit den Palästinensern. Daphna Baram, Disenchantment. The Guardian and Israel, London 2004.

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der „Daily Telegraph“53 wird am 6. September von seinem Jerusalemer Kor­ respondenten dahin informiert, daß die Araber „viele berechtigte Beschwerden hätten, die für den Ausbruch verantwortlich sind … Das schnelle Anwachsen der jüdischen Bevölkerung … ist die direkte Ursache der Unruhen, da die Araber glauben, es sei die Absicht der Regierung, sie aus dem Lande zu treiben. Unter den Juden sind 40 000 Polen, von denen nicht alle erwünschte Ansiedler sind.“ Eine solche Stimme zeigt, daß die öffentliche Meinung sich der übernommenen Verpflichtung und der Bedeutung des Zionismus überhaupt noch gar nicht bewußt geworden ist. Hier muß vom Anfang begonnen werden. – Starken Eindruck machte die Haltung des amerikanischen Präsidenten Hoover.54 Sie ist wahrscheinlich der Grund, daß das Colonial-Office so rasch mit einer erneuten Bekräftigung der Balfour-Deklaration herauskam.55 II. Die eben beendete Sitzung des A. C.56 hat auf Grund der Berichte eine ziemlich deutliche Uebersicht über die Lage erhalten. Es handelt sich um einen vermutlich vor [sic] langer Hand vorbereiteten Aufstand mit ausgesprochen antizionistischer Tendenz. Aeußerer Anlaß war der seit einem Jahre geführte Kampf um die Klagemauer. Die Araber provozierten durch Ueberfälle und Beleidigungen, die Regierung ließ sie gewähren, die Polizei verprügelte die Juden, weil sie eine transportable Wand aufstellten, aber die Araber durften 53 The Daily Telegraph ist eine 1855 gegründete britische Tageszeitung, die dem konservativen Lager nahesteht. 54 Herbert Clark Hoover (1874–1964) war von 1929 bis 1933 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. In einem Schreiben an die Zionistische Organisation Amerikas vom 29. August 1929 drückt er die Hoffnung aus, dass dem jüdischen Gemeinwesen in Zukunft mehr Schutz zukommen wird. Das Schreiben ist abgedruckt in: Anonymus, President Hoover’s Message to Jewish Protest Meeting, in: Jewish Daily Bulletin, 30. August 1929, 1. 55 Bereits am 3. September 1929 bekräftigte das Colonial Office, an dem mit der Balfour-Deklaration von 1917 gemachten Versprechen, die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu fördern, festzuhalten. Diese Erklärung ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Anonymus, Die Untersuchung der Vorfälle, in: Jüdische Rundschau, 6. September 1929, 454. 56 Am 6. September 1929 trat das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation zu einer gemeinsamen Sitzung mit dem Administrative Committee der Jewish Agency zusammen, um über die Lage in Palästina zu beraten. Siehe Robert Weltsch, Heute A.-C.-Sitzung in London, in: Jüdische Rundschau, 6.  September 1929, 453; Ano­ nymus, Die Sitzung des Aktions-Comités, in: Jüdische Rundschau, 10.  September 1929, 467.

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sich vom Platz der Omarmoschee57 einen besonderen Zugang zur Klagemauer schaffen. Die perfide und hetzerische Tätigkeit gewisser englischer Beamter wird ein besonderes Kapitel der bevorstehenden Untersuchung zu bilden haben. Der Jischuw wehrte sich – mit Recht. Ich kann die These gewisser zionistischer Kreise, wir seien „auf eine Provokation hereingefallen“ nicht anerkennen. Es gibt gewisse Provokationen – z. B. tägliche Ohrfeigen – auf die man reagieren muß, auch wenn der andere stärker ist. Das volle Recht in der ganzen Sache war jedenfalls auf Seiten der Juden, Unrecht und Provokation auf Seiten der Araber und der Verwaltung. Der ganze Jischuw mit verschwindenden Ausnahmen und das ganze Judentum der Welt hat sich daher gegen die geschaffenen Zustände empört. Die Exekutive nahm den Kampf auf, sie veranlaßte die ersten Protest­ kundgebungen der Judenheit, sie forderte und warnte. Der Jischuw, seine Presse und der letzte Kongreß forderten und warnten. Colonel Kisch58 – vom Kongreß entsandt  – erklärte der Londoner Regierung, daß sie mit Ihrer Haltung ein „Amritzar“59 – ein Blutbad – herbeiführe. Nichts erfolgte – die Provokationen dauerten fort. Die Nervosität wuchs von Tag zu Tag, kleine Zusammenstöße und Ueberfälle von Arabern auf Juden mehrten sich, zwischen dem 14. und 16. August gab es Demonstrationen von beiden Seiten, am 23. erfolgte dann der große Ausbruch, beginnend in Jerusalem, der sich wie ein Feuer im ganzen Lande verbreitete. Die Einzelheiten sind der Presse bekannt. Angesichts der Unruhen, Morde und Plünderungen bewahrte die palästinensische Regierung, nachdem die ersten Truppen eingetroffen waren, ihre zweideutig-feindliche Haltung gegenüber den Juden. Sie versuchte, den Selbstschutz, der tatsächlich das jüdische Palästina gerettet hat, zu entwaffnen. (In Hebron und Safed, wo die Juden schutz-|2|los waren, gab es richtige Massaker, in Tel-Aviv, den 57 Gemeint ist der Felsendom auf dem Tempelberg, der lange Zeit fälschlicherweise als Omar-Moschee bezeichnet wurde. Bei dem Felsendom handelt es sich nicht um eine Moschee, sondern um einen Schrein, der von der Omar-Moschee im christlichen Viertel der Altstadt Jerusalems zu unterscheiden ist. 58 Frederick Hermann Kisch (1888–1943) war ein britisch-jüdischer Offizier und zionistischer Aktivist. Ab 1923 war er Mitglied der Zionistischen Exekutive in Palästina, aus der 1929 die Jewish Agency for Palestine hervorging. Von 1929 bis 1931 war Kisch Vorsitzender der Palästinensischen Exekutive der Jewish Agency. 59 Bei dem Massaker in der nordindischen Stadt Amritsar wurden am 13. April 1919 mindestens 379 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer friedlichen Demonstration von britischen Soldaten getötet und mehr als 1200 Menschen verletzt. In der Folge schlossen sich immer mehr Menschen der indischen Unabhängigkeitsbewegung an.

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alten Kolonien und dem Emek60 waren die jüdischen Verluste gering, oder die Araber wagten gar nicht anzugreifen). Die heftigsten Proteste des Jischuw und der Exekutive blieben erfolglos. Eine Reihe von Kolonien wurde geräumt, meistens gegen ihren Willen, weil die Regierung die Selbstverteidigung der Juden nicht zulassen wollte und selbst nicht über die nötigen Kräfte verfügte. Mit dem Eintreffen von immer größeren Truppenmengen und der Rückkehr des High Commissionars [sic]61 besserte sich die Lage. Seine erste energische Proklamation62 zeigte den Arabern, daß ihre Sache verloren sei, und entfesselte bei ihnen heftigen Protest. Die Erklärung des Kolonialamts betr. Aufrechterhaltung der Mandatspolitik63 und Entsendung einer Untersuchungskommission64 wirkte günstig auf die Juden, ernüchternd auf die Araber. III. Im Zusammenhang der Ereignisse spielte es eine völlig untergeordnete Rolle, daß am 15.  August von jüdischer Seite eine Demonstration an der Klagemauer stattfand.65 Die Kreise des Brith Schalom und die ihnen verbündeten 60 Gemeint ist damit die Jesreelebene. 61 John Robert Chancellor (1870–1952) war von 1928 bis 1931 der britische Hochkommissar von Palästina. Während der Unruhen hatte er sich im Urlaub außerhalb Palästinas befunden. 62 Die Proklamation kann hier nachgelesen werden: Anonymus, British High Commissioner Issues Proclamation to Palestine Population, in: Jewish Daily Bulletin, 3. September 1929, 7. 63 Siehe Anonymus, Die Untersuchung der Vorfälle. 64 Die britische Untersuchungskommission wurde eingerichtet, um die gewalttätigen Ausschreitungen in Palästina Ende August 1929 zu untersuchen. Sie wurde von dem Juristen Walter Shaw (1863–1937) geleitet und in der Folge als Shaw-Kommission bekannt. Die Kommission sammelte zwischen 25. Oktober und 29. Dezember 1929 Beweismaterial und hörte insgesamt 140 Zeugen. Im März 1930 veröffentlichte die Kommission den Report of the Commission on the Palestine Disturbances of August 1929. Der Bericht bildete gemeinsam mit dem Bericht einer weiteren Untersuchungskommission unter Sir John Hope Simpson (1868–1961) die Grundlage für das im Oktober 1930 verabschiedete Passfield Weißbuch, das den jüdischen Landkauf strikt begrenzte und empfahl, die jüdische Einwanderung gänzlich zu stoppen, um den Lebensstandard der arabischen Bauern nicht zu gefährden. Es enthielt die Aussage, es stünde kein kultivierbares Land mehr für Neueinwanderer zur Verfügung, was sich zum Politikum entwickelte. 65 Am 15. August 1929 fand anlässlich des jüdischen Fastentags Tish’a be-Av zum Gedenken an die Zerstörung der beiden Tempel an der Westmauer eine Demonstration statt, an der auch einige Mitglieder des Betar teilnahmen. Entgegen den polizeilichen

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Elemente in Berlin und Prag haben versucht, dieses belanglose Ereignis als eine wesentliche Ursache des Ausbruchs hinzustellen und die Revisionisten dafür verantwortlich zu machen. Sie taten dies teils aus Furcht vor der stark wachsenden revisionistischen Bewegung, teils, um ihre proarabischen Thesen aufrechterhalten zu können. Aber die vielgenannte Jugenddemonstration war nicht einmal vom Revisionismus oder dem Brith-Trumpeldor organisiert, sondern von Herrn Dr. Klausners „Waad Lemaan Hakotel“66 und einem nichtrevisionistischen Jugendverein, dem hauptsächlich Sephardim angehören. Selbstverständlich hat auch revisionistische Jugend teilgenommen. Vor allem aber: die Demonstration war von der Polizei genehmigt, von Polizei begleitet und verlief vollkommen friedlich. Sie war auch an Zahl viel geringer, als die am Abend vorher erfolgte stumme Massendemonstration frommer Beter aus dem ganzen Lande, an der viele Tausende teilnahmen. Die am folgenden Tage einsetzende große arabische Demonstration, die ebenfalls genehmigt, aber polizeilich nicht genügend überwacht war, bildete durchaus nicht bloß die Antwort auf die verhältnismäßig geringfügige jüdische Jugenddemonstration, sondern war ein vorbedachter Schritt als Gegenstoß gegen die zahllosen jüdischen Proteste. Sie war lange vorbereitet, wie die Teilnahme zahlreicher Araber aus anderen Orten beweist. Diese Demonstration führte zu schweren Ausschreitungen, doch blieb es dann wieder acht Tage lang ruhig; erst dann erfolgte der große Aufruhr. Die unglaublicherweise von gewissen zionistischen Kreisen erhobene Beschuldigung, daß ein Teil der Juden – gemeint sind die Revisionisten – an den Ereignissen schuld sei, ist daher als eine infame Parteimache niedrigster Art zu bezeichnen. Sie ist politisch höchst dumm in einem Augenblick, wo eine englische Kommission die Ursachen der Unruhen feststellen soll und alle unsere arabischen und englischen Gegner nach Material gegen uns suchen. Sie ist unwahr, weil keine einzige jüdische Gruppe die Araber provoziert hat, weil es sich um einen seit einem Jahr geführten absolut legitimen Kampf der Juden um Recht und Ehre handelt, bei dem diese oder jene Presseäußerung (mag sie an sich taktisch klug oder unklug sein), dieser oder jener friedliche Protest einer Gruppe (mag er überflüssig oder notwendig scheinen) doch nur ein Glied in einer langen Kette von Ereignissen ist. Es muß ausdrücklich festgestellt werden, daß die Anweisungen wurden politische Reden gehalten, die zionistische Flagge geschwenkt und die nationaljüdische Hymne Ha-Tikwa (Die Hoffnung) gesungen. Die arabische Seite organisierte daraufhin zwei Tage später eine Gegendemonstration. Am 23. August eskalierte die Gewalt endgültig. 66 Wa’ad le-ma’an ha-Kotel (Komitee um der Mauer willen) war eine von dem Literaturwissenschaftler Joseph Klausner (1874–1958) geführte Jerusalemer Gruppe, die für den Zugang der Juden zur Westmauer kämpfte.

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Zionistische Exekutive diese idiotische Beschuldigung gegen jüdische Gruppen in Palästina niemals erhoben hat. Auch in Polen, Amerika und England ist davon keine Rede. Nur in Deutschland und in der Tschechoslowakei, wo eine bestimmte Clique zum Schaden und zur Schande des Zionismus die Geschäfte führt und vor allem die Presse beherrscht, ist – aus Haß gegen den Revisionismus und aus dem verzweifelten Willen, die Brith-Schalom-Phantasien auch jetzt noch zu rechtfertigen – der verräterische Versuch unternommen worden, die „Schuld“ einem Teil der Juden aufzuhalsen.67 Herr Dr. Hugo Bergmann,68 Direktor der jüdischen Nationalbibliothek, schreibt in einem Leitartikel (!) des „Prager Tageblatts“ (!), die Juden seien insofern mitschuldig, als sie provoziert hätten!69 Diese verlogene Denunziation erfolgt seitens eines zionistischen Beamten, der vom Keren Hassejod [sic] bezahlt wird, in einem Augenblick, da England die Ursachen des Ausbruchs untersuchen läßt und da politisch alles für uns auf dem Spiel steht. Diese Schande des Zionismus soll für immer vermerkt bleiben. Auch die Veröffentlichungen der „Jüdischen Rundschau“70 sind fast unverändert den von ihr bisher verfochtenen Theorien weiter angepaßt. Ich klage an! Ich klage die „Jüdische Rundschau“ und die Leitung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland71 an und ich werde diesen Instanzen, die den Zionismus verderben, den Prozeß machen! In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu vermerken, daß in den zahlreichen Aeußerungen der englischen und arabischen Presse, in denen die „Schuld“ der Juden erörtert wird, mit keinem Wort jene nur in Berlin und Prag so wichtig erscheinende Demonstration der Jugend irgendwie als nennenswerte Ursache der Unruhen erwähnt wird. Die englische Presse, soweit 67 So warf der Chefredakteur der Jüdischen Rundschau, Robert Weltsch (1891–1982), die Frage auf, inwiefern die Zionisten zumindest eine Mitschuld an den arabischen Unruhen in Palästina trügen. Auch wenn er die Hauptschuld zweifelsfrei bei der britischen Mandatsregierung sah, attestierte er sowohl der Zionistischen Exekutive, die wenig für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung getan habe, und der antiarabischen Rhetorik vor allem der Revisionisten, zur Eskalation der Gewalt beigetragen zu haben. Robert Weltsch, Die blutigen Kämpfe in Palästina, in: Jüdische Rundschau, 30. August 1929, 435 f. 68 Hugo Shmuel Bergmann (1883–1975) war ein aus Prag stammender Philosoph, Schriftsteller und Bibliothekar. Er war federführend beteiligt am Aufbau der jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Er setzte sich für einen binationalen Staat in Palästina ein und gehörte zu den Mitbegründern des Brit Shalom. 69 Hugo Bergmann, Die Ereignisse in Jerusalem, in: Prager Tagblatt, 28. August 1929, 1. Bergmann verfolgte dieselbe Argumentation wie Weltsch. 70 Die Jüdische Rundschau war eine Wochenzeitung, die von 1902 bis 1938 erschien. Sie war das Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. 71 Von 1924 bis 1933 hatte Kurt Blumenfeld den Vorsitz der ZVfD inne.

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sie feindlich ist, schreibt von jüdischer Anmaßung, von dem natürlichen Gegensatz der Rassen, von dem religiösen Kampf um die Klagemauer, von den zu „modernen“ Chaluzim, von der großen Einwanderung. Die arabische Presse und der Mufti erklären ganz offen, daß es sich nicht um die Klagemauer, sondern um den Zionismus handele. Die arabische Zeitung „Philistine“72 schreibt, die Konstitution der Jewish Agency in Zürich und die dort ausgegebene Parole der Schaffung einer großen Bodenreserve und ausschließlich jüdischer Arbeit habe den Arabern endgültig die Augen darüber geöffnet, von welcher Gefahr sie bedroht seien! |3|  Dieses Kapitel mußte gründlich behandelt werden, um der vergifteten Kampagne einer Gruppe entgegenzutreten, die endgültig abgewirtschaftet hat und sich nun der niedrigsten Mittel bedient, um sich weiter zu behaupten. An den Pranger! IV. Das Aktionskomitee und die Exekutive sind sich klar darüber, daß unsere Politik völliger Neuorientierung bedarf. Ueber die Mittel und Wege gehen die Ansichten auseinander. Die Revisionisten haben ihre Forderungen unterbreitet73 und sich zu Burgfrieden und Mitarbeit bereit erklärt, wenn nunmehr ihre wesentlichen Forderungen angenommen und die Leitung der Politik einem Sonderkomitee übertragen wird, in dem sie entscheidenden Einfluß haben. An dieser letzteren Forderung wird die „Einheitsfront“ vermutlich scheitern, doch sind die sachlichen Forderungen des Revisionismus wenn nicht bei der Exekutive so doch bei den meisten Zionisten beinahe Gemeingut geworden, und was das Kolonisationsregime74 betrifft, so wird es jetzt von allen Seiten verlangt. Sogar Herr Sacher,75 Mitglied der Exekutive, schreibt im „Manchester 72 Zur Falastin siehe Kapitel 1, Dokument 5. 73 Anonymus, Forderungen der Revisionisten, in: Jüdische Rundschau, 6. September 1929, 458. 74 Die Revisionisten forderten von der britischen Mandatsverwaltung die Einführung eines Kolonisationsregimes, das die zionistischen Aspirationen in Palästina aktiv unterstützen, jüdische Einwanderung und Bodenkauf fördern und den Jischuw vor Angriffen der arabischen Bevölkerung schützen sollte. 75 Harry Sacher (1881–1971) war ein britisch-jüdischer Rechtsanwalt, Journalist und zionistischer Politiker. Von 1905 bis 1909 und 1915 bis 1919 war er Redakteur des Manchester Guardian und gehörte zu einer Gruppe von Zionisten um Chaim Weizmann. 1920 ließ er sich in Palästina nieder, gründete eine Anwaltskanzlei und arbeitete unter anderem als Rechtsberater der Zionistischen Exekutive in Palästina. 1927 bis 1931 war er selbst Mitglied der Exekutive in Palästina bzw. ab 1929 der Jewish Agency.

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Guardin“ [sic], die Verwaltung Palästinas habe uns bisher nur gehindert und das Mandat in keinem Punkt ausgeführt. Was die „Legion“ betrifft, so fordert der Waad Leumi jetzt genau wie Jabotinsky organisierte jüdische Verteidigungstruppen, und die gleiche Forderung erheben Amerikaner und Polen. Die Exekutive ist zur Zeit noch schwankend, wie weit sie in dieser Richtung gehen kann, aber auch sie erklärt, daß der bisherige Zustand unhaltbar sei. Die Haltung des Kolonialamts ist bisher in allen Punkten unbefriedigend und von größter Zurückhaltung. Unsere Politik beginnt von vorne. Nach Rückkehr der Untersuchungskommission soll die ganze Mandats-Politik – im Rahmen der Mandatsbestimmungen – neu geprüft werden. Das ist eine große Gefahr angesichts gewisser Widerstände und zugleich eine große Chance, wie wir sie seit Jahren nicht hatten. Das Meer ist wieder in Bewegung, das Eis ist geborsten. Ehe es erstarrt, muß die politische Arbeit getan sein. Es wird alles darauf ankommen, daß die richtigen Männer die richtigen Methoden anwenden und daß die Zionisten endlich begreifen, was wir zu vertreten haben. V. Die Hilfsaktion hat in England und Amerika gute Resultate gebracht, erhebliche Summen werden nach Palästina überwiesen.76 Leider weigert sich die englische Regierung bisher, Schadenersatzansprüche anzuerkennen. Es darf aber nicht sein, daß die Sammelarbeit der Juden gutmachen muß, was eine teils unfähige, teils böswillige Bürokratie in Palästina zerstört hat. Auch in diesem Punkt muß mit aller Zähigkeit gekämpft werden. – Die Lage ist ernst und gespannt, aber durchaus nicht hoffnungslos, wenn die Zionisten erkennen, worum es sich jetzt handelt. Die in Deutschland propagierte Verbrüderungsaktion mit den Arabern ist nicht gerade als die Forderung des Tages zu bezeichnen. Was den Leitern des deutschen Zionismus zu fehlen scheint, ist das, was die Engländer „sense of proportion“ nennen. Die arabische Frage ist wichtig und ernst, wenngleich der Ausbruch in Palästina keineswegs als „große nationale Bewegung“ zu betrachten ist. Es handelt sich vielmehr um eine vom Mufti von Jerusalem im Interesse seiner Gruppe inszenierte, von englischen Beamten geduldete und geförderte antizionistische Aktion, bei der alle religiösen und nationalen Instinkte des unwissenden Arabers, vor allem aber auch die räuberischen Instinkte des Beduinen aufgestachelt wurden, der immer gern bereit ist, mitzumachen, wo er Beute wittert. Hier Ruhe und Ord76 Unmittelbar nach den Ausschreitungen in Palästina rief der Keren Hayesod zu einer Sammelaktion »Hilfe durch Aufbau« für die zu Schaden gekommenen Juden auf.

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nung schaffen, ist nicht schwer, wenn eine feste Hand regiert. Mit 250 [Mann] britischer Polizei (der Rest waren Araber) und heimlichem Antizionismus der Beamten, geht’s freilich nicht. Darüber hinaus sind die Tendenzen zur Verständigung zu begrüßen, wenn man sich klar macht, wann und wie die Verständigung erfolgen soll. Den Zionismus im Ganzen wird der Araber nicht anerkennen, solange der Judenstaat nicht da ist. Die Verständigung kann nur darauf beruhen, daß der Araber sich der prozionistischen Politik Englands fügt. Dies wird er tun, wenn er sieht, daß es England mit dem Zionismus Ernst meint. – Dann und nur dann – wird sich zwischen Juden und Arabern, die ja vom Zionismus zweifellos profitieren, ein freundschaftlich-nachbarliches Verhältnis entwickeln. Eine politisch basierte Verständigung mit den jetzigen Führern des Arabertums ist zur Zeit ganz unmöglich, es sei denn um den Preis der Aufgabe des Zionismus. Gewisse Brith Schalom-Kreise sind hierzu offenbar bereit. – Herr Dr. Hugo Bergmann schreibt in seinem schon erwähnten Artikel im „Prager Tagblatt“ sanft andeutend, die Zionisten müßten erhebliche Teile ihrer Ideologie opfern – die gewaltige Mehrheit der Zionisten will dies aber nicht. In dem Augenblick, wo von Arabern jüdisches Blut in Palästina vergossen wird, wo die Führer der Araber sich in wütenden Proklamationen gegen den Zionismus wenden, wo England Truppen entsendet und unsere ganze Politik auf dem Spiele steht – in diesem Augenblick ist es jedenfalls ein Beweis politischer Blindheit, wenn die „Jüdische Rundschau“, selbstgefällig und eitel auf ihre Unparteilichkeit und hohe „Moral“ [pocht], ihr hundertmal propagiertes, völlig irreales, papierenes System sogenannter „Verständigung“ lang und breit erörtert, ja als den allein wichtigen Teil unserer jetzigen politischen Arbeit hinzustellen sucht. Die jüdische Heimstätte schwankt, da ihre Basis (Kolonisationsregime und Schutz) viel zu schwach ist. Diese Basis zu verbreitern und zu befestigen – das ist die Aufgabe der Stunde! Dies wird heute beinahe überall verstanden; möchten die deutschen Zionisten es endlich auch verstehen und sich von der geistigen und politischen Führung jener Narren und Schwätzer befreien, die den Deutschen Zionismus zum Gespött der Welt machen!

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Dokument 34 Rundschreiben des Exekutivkomitees des Weltverbands der Zionisten-Revisionisten77 London, 1. Dezember 1929 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; Archivstempel oben links auf jeder Seite; maschinenschriftlicher Briefkopf auf Seite 1 JI, G2-2/2/1 [Die Exekutive der Revisionisten übt Kritik an dem von verschiedenen Zionisten aus dem Umfeld des Brit Shalom vorgebrachten Vorschlag, in direkte Verhandlungen mit arabischen Anführern einzutreten und ein gemeinsames Parlament in Palästina zu schaffen. In diesen Vorhaben sieht sie eine Gefahr für das Ziel der Schaffung eines Staats mit jüdischer Mehrheit. Sie äußert die Befürchtung, dass die Zionistische Exekutive den Vorschlag aufnimmt und fordert zum Protest dagegen auf.] WELTVERBAND DER ZIONISTEN-REVISIONISTEN EXEKUTIVKOMITEE. 6, Upper Bedford Place London W. C. 1

Fernspr. Museum 5229. Telegr. Ziotsohar

DRINGEND. „Die Balfourdeklaration78 enthaelt nichts, was den Arabern unguenstig waere. Sie muessen daher ihre Taktik radikal aendern und anstatt der naegativen  [sic] Forderung, die Balfourdeklaration aufzuheben, sich auf die positive Forderung der Schaffung eines palaestinensischen Parlaments konzen­ trieren.“ (Aus einem Artikel von Hassan Fidki Al Dejani,79 Mitglied des 77 Das Exekutivkomitee des Weltverbands der Zionisten-Revisionisten bestand zu diesem Zeitpunkt aus Wladimir Jabotinsky (Präsident), Meir Grossman, Richard Lichtheim (Vizepräsidenten), Avraham Angel, Jonah Machover, Joseph B. Schechtman (1891–1970), Michael Schwartzman, Wladimir Tiomkin und Israel Trivus (1883–1955). 78 In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 hatte der Außenminister Großbritanniens der zionistischen Bewegung offiziell die Unterstützung der britischen Regierung bei der Errichtung einer »nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« zugesichert. 79 Ḥ asan Ṣidqī Al-Dajánī (1890–1938) war ein liberaler arabischer Journalist, Jurist und Politiker aus Jerusalem. Er war führendes Mitglied der von der Nasháshībī-Familie

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Obersten Mohammedanischen Rats in Palaestina, in der Al Jamea Al Arabia,80 vom 25.11.1929.) Aus verschiedenen Zeitungsnachrichten, Artikeln und Berichten sind Sie sicherlich ueber die Versuche informiert, welche von verschiedenen zionistischen Gruppen, insbesondere von den deutschen Zionisten und der Berith Schalom,81 unternommen werden, und den Eintritt in sofortige Verhandlungen mit den gegenwaertigen Fuehrern der Araber bezwecken, wobei als Basis der sogenannten Verstaendigung die Schaffung eines Parlaments in Palaestina dienen soll. Manche Vorschlaege gehen noch weiter, es wird beantragt, das Weissbuch82 als Grundlage der zionistischen Politik zu erklaeren, auf die Schaffung einer juedischen Mehrheit zu verzichten und die Idee eines Judenstaates auf­zugeben.83 Das Flugblatt der Zionistischen Vereinigung von [sic] geführten oppositionellen Fraktion in Palästina. 1930 gehörte er zu den Mitbegründern der palästinensischen liberalen Partei Ḥ izb al-Aḥrárá (Partei der Freien). Er lehnte das zionistische Ziel eines jüdischen Staats in Palästina ab, befürwortete jedoch eine jüdisch-arabische Zusammenarbeit mit dem Ziel einer friedlichen Lösung und der Wahrung einer arabischen Mehrheit in Palästina. 1936 zählte er jedoch zu den Unterstützern des arabischen Aufstands. 1938 wurde er von Anhängern des Großmufti von Jerusalem, Amin Al-Ḥ usaynī, ermordet. Weiter unten im Dokument wird er irrtümlich als einer der »bedeutendsten Anhaenger des Mufti« bezeichnet. Hillel Cohen, Army of Shadows, Palestinian Collaboration with Zionism, 1917–1948, Berke­ley, Calif., 2008, 130 f. 80 Die Al-Jámiʻah Al-ʻArabīyah (Arabische Liga) war das seit 1927 erscheinende Presseorgan des Obersten Islamischen Rats (Supreme Muslim Council), der während der Mandatszeit obersten Behörde für religiöse Angelegenheiten der muslimischen Bevölkerung in Palästina. 81 Brit Shalom (Friedensbund) war ein 1925 in Jerusalem gegründeter Zirkel von vor allem mittel- und westeuropäischen jüdischen Intellektuellen, die für eine jüdisch-arabische Verständigung, Binationalismus und paritätische Verwaltung eintraten. Zu den Gründungsmitgliedern zählten unter anderem Gershom Sholem ­(1897–1982), Martin Buber (1878–1962), Arthur Ruppin, Hugo Bergmann, Hans Kohn ­(1891–1971), Ernst Simon (1899–1988), Robert und Felix Weltsch (1884–1964) sowie Jacob Thon. Shumsky, Zweisprachigkeit und binationale Idee; Dimitry Shumsky, Art. Brit Shalom, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 1, 422–427. 82 Das Churchill Weißbuch von 1922 bestätigte das in der Balfour-Deklaration von 1917 gemachte Versprechen auf eine nationale Heimstätte für die Juden in Palästina und stellte zugleich der arabischen Bevölkerung Selbstverwaltung in Aussicht. Es bestätigte das Recht der Juden auf Einwanderung, limitierte jedoch die jüdische Immigration gemäß der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes. 83 Diese Vorschläge kamen vor allem von der dem Brit Shalom nahestehenden Arbeitsgemeinschaft für zionistische Realpolitik, die im Nachgang der arabischen Unruhen

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Dokument 34

Deutschland,84 das Memorandum der Herren Bilesky,85 Robert Weltsch,86 u. a. an die Zionis­tische Exekutive,87 die Eroeffnungsrede von Dr. Magnes in der Hebraeischen Universitaet,88 die Vorlesungen von Dr. Hugo Bergmann, das Interview Dr. Ruppins im „Berliner Tageblatt“, die unverantwortlichen Pro-

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1929 von Robert Weltsch, Salli Hirsch (1885–1950), Moritz Bileski (1889–1946), Alfred Berger (1891–1940), Isaak Feuerring (1889–1937), Werner Senator (1869–1953) und Simon Schereschewski (1900–1987) gegründet wurde. Ziel der Arbeitsgemein­ schaft war den antiarabischen Tendenzen innerhalb der zionistischen Bewegung entgegenzutreten und auf eine jüdisch-arabische Verständigung hinzuarbeiten. Lavsky, Before Catastrophe, 193–197. In dem Flugblatt hieß es: »Wir wollen in Palästina nicht einen Judenstaat mit einer jüdischen Mehrheit und arabischer Minderheit schaffen. Wir wollen dort ein Gemeinwesen mit möglichster Autonomie bilden. Das gleiche Recht steht den Arabern zu.« Zit.  n. Staatszionistische Organisation (Hg.), Der Staatszionismus im Kampf gegen Verleumdung und Entstellung. Wie die Zionistische Vereinigung für Deutschland den Staatszionismus bekämpft, Berlin 1934, 7. Moritz Bileski war Rechtsanwalt und führendes Mitglied der ZVfD. Er gehörte zur Gründergeneration der zionistischen Studentenbewegung. Robert Weltsch (1891–1982) war ein Publizist und Journalist aus Prag. Er war Mitglied der dortigen zionistischen Studentenverbindung Bar Kochba und fungierte ab 1919 in Berlin bis zu seiner Auswanderung nach Palästina 1938 als Chefredakteur der Jüdischen Rundschau, dem Presseorgan der ZVfD. Er nutzte diese Position, um innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung für das Programm des Brit Shalom zu werben. JI, G2-4/9/4, Moritz Bileski / Kurt Blumenfeld / Alfred Berger / Fritz Naftali / Alfred Landsberg / Georg Landauer / Salli Hirsch / Isaak Feuerring / Robert Weltsch, Denkschrift. An die Zionistische Exekutive in London, 16. September 1929. Der Text ist in Auszügen abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 433–436. In seiner Rede zur Eröffnung des akademischen Jahres 1929/1930 an der Hebräischen Universität hatte sich Magnes für eine friedliche Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas ausgesprochen: »You know too that in my opinion if we cannot find ways of peace and understanding, if the only way of establishing the Jewish National Home is upon the bayonets of some empire, our whole enterprise is not worthwhile, and it is better that the eternal people that has outlived many a mighty empire should possess its soul in patience and plan and wait. It is one of the great civilizing tasks before the Jewish people to try to enter the promised land, not in the Joshua way, but bringing peace and culture, hard work and sacrifice and love, and a determination to do nothing that cannot be justified before the conscience of the world.« Judah L. Magnes, The Opening of the University Term 1929/1930, in: Judah L. Magnes., Addresses by the Chancellor of the Hebrew University, Jerusalem 1936, 95–103, hier 102.

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jekte einer kantonalen Einteilung Palaestinas,89 die unautorisierten, geheimen Verhandlungen mit dem pro-arabischen englischen Agitator Philby,90 – dies alles beweist klar, dass eine gefaehrliche defaitistische Kampagne – ein wahrer Dolchstoss in den Ruecken der zionistischen Bewegung – auf der ganzen Front gefuehrt wird. Diese Propaganda, ausser dass sie unsere Kampfposition abschwaecht und unseren Gegnern Argumente gegen den Zionismus in die Haende gibt, wirkt desorganisierend und deprimierend auf die zionistische oeffentliche Meinung. Sie stellt einen ernsten politischen Ruecktritt [sic] dar und wird den Juden darauf hinzuweisen scheinen, dass die Lage in Palaestina so gefaehrlich und verzweifelt ist, dass wir nicht imstande sind, unsere Positionen im Lande aufrechtzuerhalten. Diese Kampagne zeugt [sic] Pessimismus, Hoffnungslosigkeit, und gibt der antizionistischen Konzentration, die jetzt wieder den Kopf erhebt, eine neue Waffe. Schon allein der Versuch, jetzt, wo die Gerichte noch tagen und die Untersuchungskommission noch inmitten ihrer Arbeit steht, mit den gleichen Arabern zu verhandeln, die taegliche Angriffe und Ueberfaelle auf die juedische Bevoelkerung veranstalten, ist ein unerhoertes Vorgehen, dass den elementarsten Forderungen jeder gesunden politischen Taktik widerspricht. Doch die Konsequenzen dieser Kampagne sind noch viel ernster und gefaehrlicher: eine solche Haltung von juedischer Seite wuerde den Arabern beweisen, dass die Juden unter dem ersten Drucke zum Ruecktritt bereit sind, und dass der Weg ueber juedische Leichen der sicherste und bequemste ist. Diese Propaganda muss daher im Interesse des Zionismus und des Jischuvs sofort eingestellt werden. 89 Im Nachgang der Augustunruhen von 1929 wurden seitens der Briten verschiedene Modelle für Palästina diskutiert. Unter anderem auch eine Kantonisierung des Gebiets nach dem Vorbild der Schweiz. Bei Aufrechterhaltung des Mandats sollte das Gebiet in einen jüdischen und einen arabischen Kanton mit weitestgehend autonomer Verwaltung geteilt werden. Die Pläne wurden jedoch schließlich als nicht realisierbar verworfen. 90 Harry St. John Philby (1885–1960) war ein britischer Arabist, Schriftsteller, Spion und Antizionist. Er legte im Nachgang der Augustunruhen einen gemeinsam mit Magnes und Al-Ḥ usaynī ausgearbeiteten Plan zur Beilegung des Konflikts zwischen Juden und Arabern vor. Der Plan sah die freie jüdische und arabische Einwanderung nach Palästina sowie die Etablierung einer palästinensischen Regierung vor, in der arabische und jüdische Vertreter proportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung repräsentiert sein sollten. Angesichts der damaligen demografischen Verhältnisse hätte dies die Aufgabe einer jüdischen politischen Dominanz bedeutet. Susan Hattis Rolef, The Zionists and St. John Philby, in: Jewish Social Studies 34 (1972), H. 2, 107–121.

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|2|  Waere die Zionistische Exekutive eine entschlossene und aktive Koer­per­ schaft, mit einer zielbewussten und klaren Politik, dann wuerde die Propaganda der Defaitisten nicht von so folgenschwerer Bedeutung sein. Aber die Exekutive besteht aus Menschen, die im Laufe der letzten 10 Jahre infolge ihrer Unfaehigkeit schon so viele Positionen aufgegeben haben, dass wir nunmehr ernstlich besorgt sind, die Exekutive werde sich auch in dieser Frage von der Kampagne der Berith Schalom beeinflussen lassen und sich in Verhandlungen mit den arabischen Fuehrern einlassen. Wir vermissen jede Sicherheit dagegen, dass die Zionistische Exekutive nicht die Schaffung eines Parlaments in Palaestina sanktioniere. Was aber ein Parlament fuer den Zionismus bedeutet, ersehen Sie aus der angefuehrten Aeusserung eines der bedeutendsten An­ haenger des Mufti:91 Die Balfourdeklaration wuerde sich in einen Fetzen Papier verwandeln, wenn die Regierung unter dem taeglichen Drucke eines vorwiegend aus Arabern bestehenden quasi-demokratischen Parlaments stuende. Im besten Falle wird die Exekutive auch weiter keine bestimmte Stellung zu diesen Fragen einnehmen und, wie es schon jetzt geschieht, es den defaitistischen Gruppen ueberlassen, die grosse Oeffentlichkeit und die politische Welt ueber die wahre Lage in Palaestina und die Stimmung des Judentums zu taueschen [sic]. Da auch die Arbeiterregierung92 andererseits, angesichts dieser Unentschlossenheit, nicht abgeneigt sein mag, aller Sorgen frei zu werden und einen Frieden auf unsere Kosten zu schliessen, glauben wir die politische Situation hoechst ernst und unsicher zu sein [sic]. Es ist daher die dringendste Pflicht des Revisionismus, sich sofort mit aller Staerke und Energie der Politik des Defaitismus, des Rueckzuges und Kompromisses zu widersetzen. Wir muessen die zionistischen Massen ueber die verhaengnisvollen Konsequenzen einer derartigen „Verstaendigung“ mit den Arabern aufklaeren, eine grosse Protestbewegung ins Leben rufen, und eine heilige Unruhe in dem juedischen Volke erwecken. Durch Wort und 91 Ḥájj Muḥammad Amīn Al-Ḥusaynī (c. 1897–1974) war ein islamischer Geistlicher und arabischer Nationalist aus der Jerusalemer Notablenfamilie Al-Ḥ usaynī. Er wurde 1921 von der britischen Mandatsregierung zum Großmufti von Jerusalem und zum Vorsitzenden des Obersten Islamischen Rats ernannt. Als Anführer der palästinensischen Nationalbewegung initiierte er 1936 einen bis 1939 andauernden Aufstand der Araber gegen die britische Mandatsverwaltung und die jüdische Bevölkerung. Ab 1933 bemühte er sich um die Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland, die ab 1938 zustande kam. Von 1941 bis 1945 lebte er in Deutschland und trug von dort aus zur Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda im arabischen Raum bei. Klaus-Michael Mallmann / Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006. 92 Von 1929 bis 1931 stellte die Labour Party unter Ramsay MacDonald (1866–1937) die Regierung in Großbritannien.

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Schrift, durch Massen- und Einzelpropaganda, muessen revisionistische Landesorganisationen, Vereine und Gruppen sofort in Aktion treten. *** Mit dieser Bewegung muessen wir zwei Zwecke erreichen: Einerseits, der britischen Regierung und der Zionistischen Exekutive klarmachen, dass die ueberwaeltigende Mehrheit der zionistischen Bewegung sich niemals damit einverstanden erklaeren wird, auf die Idee eines Judenstaates und einer juedischen Mehrheit in Palaestina zu verzichten; dass das Judentum alle Abkommen, die zur Bildung eines Parlaments im gegenwaertigen Entwicklungsstadium Palaestinas fuehren koennten, als ungueltig aussehen  [sic] wird; dass es jede sofortige Verhandlung mit den Leuten, welche die noch heute fortdauernden Ueberfaelle organisiert haben, als eine Erniedrigung und Beleidigung auffasst; dass die juedische oeffentliche Meinung hinter dem Basler Programm,93 der Balfour-Deklaration und dem unverkuerzten Mandate einheitlich und geschlossen steht; dass die Zionisten den Kampf fuer das Endziel nie aufgeben werden. Andererseits muss unsere Aufklaerungs- und Protestbewegung dem Pessimismus, der bereits unter den juedischen Massen bemerkbar wird, ein Ende machen, und im Judentum eine neue Welle von Mut, Begeisterung und Entschlossenheit hervorrufen. Es muss den juedischen Massen klargemacht werden, dass, obzwar die politische Situation schwer und kompliziert ist, kein Grund fuer einen Rueckzug besteht, dass wir durch eine entschlossene und mutige Stellungnahme, aller Schwierigkeiten Herr werden koennen, wenn man bloss rechtzeitig jede Moeglichkeit eines als Kompromiss verkleideten Rueckzuges aus dem Wege schafft. Juedischer politischer Einfluss, die Rolle des Judentums im |3| Britischen Reiche, die internationalen Verpflichtungen Englands, die britischen Interessen im Osten, die grossen Sympathien, die wir trotz allem in der Welt besitzen – dies alles kann in Bewegung gebracht werden, um jede Moeglichkeit einer Aenderung der durch die Balfour-Deklaration und das Mandat geschaffenen Rechtslage unmoeglich zu machen. Aber schon jetzt, am Anfange des arabischen Widerstandes, den wir, Revisionisten, noch in den ruhigsten Zeiten vorausgesehen haben, die juedischen Positionen aufzugeben, waere einerseits eine politische Dummheit und ein Zeichen unbegreiflicher Schwaeche, andererseits ein Verbrechen gegen den Zionismus und dessen Endzweck. 93 Das auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 in Basel verabschiedete Programm formulierte als Ziel des Zionismus die »Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.«

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Wir wissen, dass die grosse Mehrheit der Zionisten der ganzen Welt dem Parlamentsprojekte entschieden entgegengesetzt ist, dass sie bereit steht, ihre Forderung, dass Palaestina im Geiste der Balfourdeklaration verwaltet [wird], und dass von gefaehrlichen und abenteuerlichen Experimenten, wie die Schaffung eines Parlaments in einem Lande, dessen arabische Bevoelkerung sich noch in feudalen Zustaenden befindet, eines ist, Abstand genommen werde. Es fehlte aber dieser grossen Mehrheit an einer organisierenden und konzentrierenden Kraft, und ihre Stimme verhallte ungehoert. Dieses Schweigen allein ermutigte die Defaitisten in den juedischen Reihen, mit ihren unverantwortlichen Vorschlaegen hervorzutreten. Es ist unsere Pflicht, alle zur Abwehr dieser Gefahr entschlossenen zionistischen Kreise zu konsolidieren und ihrem einmuetigen Entschlusse entsprechenden Ausdruck zu verleihen. In dieser ernsten und verhaengnisvollen Stunde, im vollen Bewusstsein der Schwierigkeit der Lage und unserer Verpflichtung der Bewegung gegenueber, wendet sich das Exekutivkomitee an die gesamte zionistische Oeffentlichkeit, welche der Idee des Judenstaates treu geblieben ist, mit der Aufforderung, sich hinter dem gefaehrdeten Mandate und der bedrohten Balfourdeklaration zu stellen [sic]. DAS EXEKUTIVKOMITEE

London, den 1. Dezember 1929.

Dokument 35 Beschlüsse des 1. Delegiertentags des Landesverbands der Zionisten-Revisionisten in Deutschland Ohne Ort,94 15. März 1931 Maschinenschriftliche Resolution, 2 Seiten; Archivstempel oben links und rechts auf jeder Seite; handschriftlicher Vermerk in oberer rechter Ecke (»Rosoff«) JI, G2-5/21/1 Beschluesse des 1. Delegiertentages des Landesverbandes der Zion.-Revisionisten in DEUTSCHLAND. (15. Maerz 1931) 94 Die Parteikonferenz fand in Berlin statt.

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Berlin: In der Opposition

Der Delegiertentag erklaert, dass er auf dem Boden der von der Prager Konferenz95 und vom Parteirat gefassten Beschluesse steht, wonach es die Aufgabe der Revisionistischen Union ist, den Zionistenkongress zu erobern und die zionistische Bewegung zu erneuern. Der Delegiertentag fordert die Leitung der Revisionistischen Weltunion auf, fuer strikte Duchfuehrung der von den obersten Parteiinstanzen gefassten Beschluesse zu sorgen und die Unterordnung aller Teile der revisionistischen Bewegung unter diese Beschluesse zu sichern. Der Delegiertentag spricht den Revisionisten Palaestinas seinen herz­ lichen Glueckwunsch zu ihren bedeutungsvollen Wahlerfolgen96 aus. Er wendet sich aber gegen die Taktik politische Taktik der gegenwaertigen Leitung der Revisionisten in Palaestina und lehnt die von ihr vorgeschlagenen Aktionen ab, die im Widerspruch zu den bisherigen Beschluessen der Union stehen.97 Der Delegiertentag fordert, dass alle Kraefte der Bewegung jetzt fuer das Ziel der Eroberung des XVII. Kongresses zusammengefasst werden. Die Entscheidung über die Zukunft der zionistischen Bewegung haengt wesentlich davon ab, ob es dem Revisionismus gelingen wird, durch Gewinnung einer grossen Zahl von Mandaten auf dem naechsten Kongress den Prinzipien der revisionistischen Bewegung zum Sieg zu verhelfen. Der Delegiertentag macht es allen Revisionisten zur Pflicht, sofort den Dinar98 an die Londoner Zentrale zu zahlen und gemaess den Be­ schluessen zur Finanzfrage Beitraege fuer den deutschen Landesverband der Union zu entrichten. Der Delegiertentag erklaert, dass der MacDonald-Brief voellig unbefriedigend ist und keineswegs die Basis fuer die Kooperation mit der Mandatarmacht bilden kann.99

95 Auf der vierten Weltkonferenz der Revisionisten, die vom 10. bis zum 14. August 1930 in Prag stattfand, sprach sich die Mehrheit der Delegierten gegen einen Austritt der Revisionisten aus der Zionistischen Organisation aus. 96 Bei der Wahl zum dritten Parlament (Asefat ha-Nivḥarim) in Palästina am 5. Januar 1931 errangen die Revisionisten elf Mandate und wurden damit hinter der Mapai zweitstärkste Kraft. 97 Siehe Dokument 36. 98 Um das Problem der stets fehlenden finanziellen Mittel zu lösen, führten die Revisionisten auf ihrer vierten Weltkonferenz 1930 äquivalent zum Schekel der Zionistischen Organisation den sogenannten Dinar ein, der von den Mitgliedern der Union an das Zentralbüro der Revisionisten in London zu entrichten war. 99 Auf weltweiten Druck zionistischer Organisationen richtete der britische Premiermi­ nister Ramsay MacDonald am 13. Februar 1931 einen Brief an Chaim Weizmann, in

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VII. Der Delegiertentag protestiert gegen die Fortfuehrung der Verhandlungen durch die jetzige Leitung der Zionistischen Organisation und fordert, dass keine Festlegung in politischen Fragen erfolge, bevor nicht der Kongress eine neue Leitung gewaehlt habe. Insbesondere weist der Delegiertentag auf die drohende Gefahr hin, dass ein Parlament in Palaestina geschaffen wird, das eine Bedrohung des ganzen zionistischen Werkes bedeuten wuerde. [|2|]  Resolution an den Landesvorstand100 (Nicht zur Veröffentlichung) Der Delgiertentag beauftragt den Landesvorstand, dem Revisionistischen Exekutiv-Komitee in London brieflich die Bedenken darzulegen, die im politischen Referat des Vorsitzenden und in der politischen Diskussion betr. Form und Begruendung des der Exekutive der ZO zu uebermittelnden Ulti­ matums geaeussert wurden. Diese Bedenken richten sich vor allem gegen die verfehlte Begruendung, mit welcher der Protest gegen die Fortfuehrung der politischen Verhandlungen durch die jetzige Zionistische Exekutive zur Kenntnis der nichtjuedischen Oeffentlichkeit und der englischen Regierung gebracht werden soll. Sollte die Exekutive der ZO den Forderungen der Revisionistischen Union auf Einstellung der Verhandlungen nicht entsprechen, so soll die Exekutive der Union vor Einleitung weiterer Schritte den Parteirat einberufen.101

dem er die Bestimmungen des Passfield Weißbuchs zwar nicht zurücknahm, aber klarstellte, dass in Übereinstimmung mit dem Mandat die jüdische Einwanderung nach Palästina auch in Zukunft gestattet sein werde. Der Brief kann hier nachgelesen werden: Ramsay MacDonald an Chaim Weizmann, 13. Februar 1931, (11. April 2022). 100 Der Landesvorstand bestand aus Richard Lichtheim (Vorsitzender), Hans Bloch (1891–1943), Chaim Belilowsky (1872–1963), Ernst Ettisch (1901–1964), Elias ­Fischer, Alexander Reiter, Julius Reiter und Justus Schloss. 101 Die Revisionisten forderten die Einstellung der Verhandlungen zwischen der Exekutive der Zionistischen Organisation und der englischen Regierung, da die Zusammensetzung der Zionistischen Exekutive nicht mehr dem tatsächlichen Kräfteverhältnis innerhalb der zionistischen Gesamtbewegung entsprechen würde. Sie plädierten dafür, die Verhandlungen bis nach der Wahl einer neuen Exekutive auf dem 17. Zionistenkongress 1931 auszusetzen.

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Dokument 36 Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky Berlin, 24. März 1931102 Handschriftlicher Brief, 14 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; Archivstempel oben links auf jeder Seite JI, A1-3/19 [Lichtheim erläutert seine Perspektive auf den Konflikt zwischen dem palästinensischen Landesverband der Zionisten-Revisionisten und der Exekutive über das Verhältnis zur Zionistischen Organisation. Dabei appelliert er an Jabotinsky, einer Spaltung der revisionistischen Bewegung entgegenzuwirken. Zudem schlägt er vor, die innerrevisionistische Auseinandersetzung angesichts der anstehenden Wahlen zum 17. Zionistenkongress zunächst zurückzustellen.]

Dear Jabo,

Berlin d. 24.3.[19]31

First of all: I am very sorry, dass es so gekommen ist und hoffe, dass es noch gelingen wird, die Einheit der Partei wiederherzustellen.103 Eine Spaltung in 102 Der Brief Lichtheims ist die Antwort auf einen Brief Jabotinskys aus Paris vom 20. März 1931 an Lichtheim. CZA, A56/20, Wladimir Ze’ev Jabotinsky an Richard Lichtheim, 20. März 1931. Eine Kopie befindet sich im Archiv des Jabotinsky Institute: JI, A1-2/21/1. 103 Hintergrund war ein innerrevisionistischer Konflikt zwischen dem palästinensischen Verband und der in London und Paris ansässigen Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten, die zu diesem Zeitpunkt aus Jabotinsky als Präsidenten, Grossmann und Lichtheim als Vizepräsidenten sowie Machover, Schechtman, Tiomkin, Angel und Michael Berchin (1885–1952) bestand. Der palästinensische Verband protestierte auf einer außerordentlichen Konferenz im Februar 1931 gegen verschiedene Entwicklungen in der Zionistischen Organisation – vor allem dagegen, dass Weizmann, der aus Protest gegen die Verabschiedung des Passfield Weißbuchs von seinem Amt als Präsident der Zionistischen Organisation zurückgetreten war, dennoch weiterhin die Verhandlungen mit den Briten führte sowie gegen die Verschiebung des 17.  Zionistenkongresses vom Februar in den Sommer 1931. Er forderte unter anderem die Abberufung der Revisionisten aus dem Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, Weizmann wegen Verrats vor das Kongressgericht zu stellen, die Autorität weder Weizmanns noch der Exekutive der Zionistischen Organisation anzuerkennen, den Abbruch der Verhandlungen der Exekutive mit der britischen Regierung und die selbstständige Einberufung des Zionistenkongresses durch die Revisionisten, JI, A-1/3/19, Wolfgang von Weisl an Wladimir Ze’ev Jabo-

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diesem Moment ist natürlich das Ende des Revisionismus als Partei, die die Macht im Zionismus – mit oder ohne ZO – erobern will. Darum sollten Sie u. Grossman u. alle Delegierten nichts unversucht lassen, um den Frieden wiederherzustellen. Natürlich dürfen Sie dann nicht Ihre Kongress-Kandidaturen zurückziehen.104 Dies wäre ja die öffentliche Proklamierung des Konflikts. 2) Ich bleibe bei meinem Vorschlag: Die Streitfrage bis nach den Wahlen105 vertagen. Sie hatten diesen Vorschlag akzeptiert. Aber damit unverein|2|bar: a) Weisls106 Auftreten in Palästina. b) Die moralische und jetzt sogar formelle Unterstützung, die Sie seiner Politik zuteil werden lassen. Das will ich begründen: 3) Ich kann nicht beurteilen, ob das Londoner Zentralbureau berechtigt war, ohne Sie zu befragen gewisse Beschlüsse zu fassen und nach Palästina zu übermitteln. Wenn Sie in diesem Punkt Grund haben, sich über Grossmans Eigenmächtigkeit zu beklagen, so muss man künftig dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkommt.107 Aber Sie schreiben selbst, dass in diesem Stadium tinsky, 27. Januar 1931. Die Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten nahm zu diesen Vorschlägen auf einer Sitzung vom 21. bis 23. Februar 1931 in Paris Stellung. Sie unterstützte die Forderung des palästinensischen Verbands nach Abbruch der Verhandlungen zwischen der Exekutive der Zionistischen Organisation und der britischen Regierung, lehnte jedoch alle anderen Vorschläge ab, JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutiv-Komitees der Weltunion der Zionisten-Revisionisten  v. 21./23. Februar 1931 in Paris. 104 In dem Brief an Lichtheim vom 20.  März 1931 reagierte Jabotinsky auf die am 15. März 1931 gefassten Beschlüsse des ersten Delegiertentags des deutschen Landesverbands der Zionisten-Revisionisten, der die von den Revisionisten in Palästina vorgeschlagenen Aktionen ablehnte. (Zu den Beschlüssen siehe Dokument 35.) Jabotinsky hatte sich unmissverständlich hinter die Forderungen des palästinensischen Verbands gestellt und damit gedroht, seine Kandidatur für den für Sommer 1931 angesetzten Kongress zurückzuziehen. 105 Gemeint sind die Wahlen zum 17. Zionistenkongress, der vom 30. Juni bis 17. Juli 1931 in Basel stattfand. 106 Wolfgang von Weisl (1896–1974) war ein österreichischer Arzt, Journalist und Autor, der 1922 nach Palästina auswanderte und ab Mitte der 1920er Jahre als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen (unter anderem die Vossische Zeitung) im Nahen und Mittleren Osten tätig war. Seit 1925 war er Mitglied in Jabotinskys Union der Zionisten-Revisionisten und Mitarbeiter verschiedener revisionistischer Publikationen. Er führte den 1925 gegründeten Verband der Revisionisten in Palästina an, der ab den 1930er Jahren eine aufstrebende Kraft in der Bewegung repräsentierte und den Führungsanspruch der in Europa ansässigen Exekutive der Union infrage stellte. 107 Meir Grossmann hatte im Namen der Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten in einem von Jabotinsky nicht autorisierten Zirkulationsbrief klargestellt, dass die

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diese formelle Seite des Konflikts für Sie keine grosse Bedeutung mehr hat, und das verstehe ich sehr gut. Es handelt sich um Wichtigeres. 4) Im Grossen u. Ganzen teile ich Grossmans Auffassung und habe |3| daher auch die Beschlüsse der deutschen Konferenz veranlasst,108 die Sie kritisieren, die aber in Übereinstimmung mit den Resolutionen sind, die, wie es scheint, Grossman jetzt an Weisl senden will. a) Ich kann keinen Unterschied machen zwischen Weisls „privaten“ und „offiziellen“ Verhandlungen mit der Agudah109 oder zwischen „privaten“ und „offiziellen“ Reden, die er in Cairo hält. Er ist der Führer des Revisionismus in Palästina und seine Aktionen werden mit Recht als Aktionen des palästinensischen Revisionismus gedeutet. (Und wenn Sie dazu schweigen oder diese Aktionen billigen, sogar als Aktionen des Gesamtrevisionismus.) b) Sie fragen, welche Handlungen Weisls unseren Beschlüssen und unserer Taktik widersprechen. Zunächst sind da die Beschlüsse der |4| ausserordentlichen Konferenz in Palästina: I. Wir sollen wegen der Verschiebung des Kongresses selber den Kongress einberufen. (Sie wissen, dass ich diesen Vorschlag diskutiert habe u. Sie haben mit Recht festgestellt, dass er unausführbar ist). Weisl durfte ihn nicht öffentlich als Forderung aufstellen, ohne uns zu fragen. II. Die Forderung, dass unsere Vertreter aus dem A. C. austreten. (Dito beraten, vom Parteirat abgelehnt). III. Deklaration, Weizmann110 sei ein „Verräter“ und müsse vor das Kongressgericht gestellt werden. (Das ist Rhetorik, oder Phraseologie oder irgendein Quatsch – aber kein ernst zu nehmender Beschluss. Dergleichen wirkt abstossend.) IV. Wir sollten der englischen Regierung mitteilen, meisten der von dem palästinensischen Verband vorgeschlagenen Aktionen nicht in Einklang mit der politischen Linie der Exekutive standen. JI, G2-2/2/1, Weltunion der Zionisten-Revisionisten, Exekutivkomitee, Zirkulationsbrief Nr. 8/II, 4. März 1931. 108 Der deutsche Landesverband der Zionisten-Revisionisten hatte sich auf seinem Delegiertentag am 15. März 1931 hinter die Exekutive gestellt und das Vorgehen des palästinensischen Verbands kritisiert. Siehe Dokument 35. 109 Von Weisl hatte ohne Zustimmung der Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten mit Vertetern der orthodoxen und gegen den säkularen Zionismus gerichteten Bewegung Agudat Yisra’el (Vereinigung Israels; kurz Aguda) über einen Zusammenschluss verhandelt, da er die Orthodoxie für die wichtigste zukünftige politische Macht in Palästina hielt. JI, A1-3/19, Wolfgang von Weisl an die revisionistische Exekutive, London, Kopien an Wladimir Jabotinsky, Richard Lichtheim, Selig Soskin, 10. März 1931. 110 Chaim Weizmann (1874–1952) war Chemiker und führender Politiker der zionistischen Bewegung. 1917 war er maßgeblich an der Vorbereitung der Balfour-Deklaration beteiligt. Von 1921 bis 1931 und von 1935 bis 1946 war er Präsident der Zionistischen Organisation und ab 1948 der erste Staatspräsident Israels.

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dass Weizmann und die Exekutive kein Recht zu Verhandlungen haben, und wir sollten in diesem Sinne |5| einen Aufruf an das Volk erlassen. (Ich halte das wiederum für eine jener leeren Gesten, die nichts nützen, uns nur schaden und von der Aussenwelt mit Achselzucken abgetan werden. Man kann darüber streiten – aber ich behaupte, dass es unserer bisherigen Taktik durchaus widerspricht, die formelle Zuständigkeit Weizmanns zur Führung von Verhandlungen zu bestreiten, nachdem er einmal als gewesener Präsident der Agency vom A. C. beauftragt wurde, die Verhandlungen zu führen. Ebensogut können die Kommunisten in Deutschland „bestreiten“, dass Hindenburg111 berechtigt sei, das Deutsche Reich zu vertreten. À quoi bon?) |6|  V.  Die Beziehung zur Assefath Haniwcharim.112 Weisls Erklärungen hierzu sind unklar u. widerspruchsvoll. Ich habe aus seinen Briefen keineswegs den Eindruck gehabt, dass er nur aus der letzten Sitzung herausmarschiert ist  – als Demonstration gegen bestimmte Beschlüsse.113 In seinem Brief vom 10.3.114 sucht er, es so darzustellen; andererseits schreibt er selbst, dass Dr. Weinschall115 {offiziell für die Fraktion in der A. H.116} erklärt hat: „Wir anerkennen die A. H. nicht; sie ist ungesetzlich.“ Weisl wir beabsichtigt nicht, „aus der Knesseth Israel117 auszutreten“ – aber er hat den „feindlichen 111 Paul von Hindenburg (1847–1934) war ein deutscher General und Politiker, der von 1925 bis 1934 das Amt des Reichspräsidenten innehatte. 112 Die Asefat ha-Nivḥarim (Repräsentantenversammlung) war die gewählte parlamentarische Vertretung der jüdischen Bevölkerung während der britischen Mandatsherrschaft in Palästina. Sie bestand von 1920 bis 1949 und trat einmal im Jahr zusammen, um ihr ausführendes Organ, den Wa’ad Le’umi, zu wählen. 113 In der Asefat ha-Nivḥarim stellten die Revisionisten 16 von 71 Delegierten. Auf einer Sitzung im Februar verließen sämtliche revisionistische Delegierte aus Protest die Versammlung. Sie verlangten den Abbruch der Verhandlungen zwischen der Jewish Agency und der englischen Regierung beziehungsweise lehnten sie die Beteiligung des Wa’ad Le’umi an diesen Verhandlungen ab, solange sich diese auf der Grundlage der Bestimmungen des Passfield Weißbuchs vollzogen. Anonymus, Trouble over Negotiations with Government at Palestine Jewish Assembly Meeting, in: JTA Daily Bulletin, 14. Februar 1931, 8 f. 114 JI, A1-3/19, Wolfgang von Weisl an die revisionistische Exekutive, London, Kopien an Wladimir Jabotinsky, Richard Lichtheim, Selig Soskin, 10. März 1931. 115 Jacob Weinshall (1891–1980) war Arzt, Autor und einer der Wortführer der palästinensischen Revisionisten. 116 Asefat ha-Nivḥarim. 117 Die Knesset Yisra’el war die 1920 geschaffene interne Verwaltungseinheit des Jischuw. Mit Ausnahme der Ultraorthodoxen umfasste sie sämtliche jüdischen Gruppierungen des Jischuw und bestand aus zwei Organen, der Asefat ha-Nivḥarim und dem von ihr gewählten Wa’ad Le’umi.

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Führern“ mitgeteilt, „dass wir dem Waad Leumi keine Steuern zahlen werden.“ Noch deutlicher ist sein Brief vom 19.2., wo er schreibt: „Unser Austritt sprengt tatsächlich die A. H., wir haben die Versammlung als |7| illegal erklärt und bereits angekündigt, dass wir alle ihre Steuern u. Beschlüsse für ungesetzlich erklären.“ Ferner: „Wir stellen unsere Forderungen in dem Bewusstsein, dass sie nie akzeptiert werden werden, weil ich freie Hand zur Verhandlung mit jenen Teilen des Jischuw brauche, die nicht in der A. H. sind.“ Er schildert ### dann, dass er sich bemühen will, Agudath Israel, Bauern und Jemeniten zu einer „Moazah Leumit“118 zu vereinigen, die 40 000 Mitglieder gegen die 37 000 des Waad Leumi haben könne. Dies [ist] sein Programm, falls der Waad Leumi die von ihm selbst als unerfüllbar bezeichneten Forderungen nicht annimmt. |8| Ich wäre gegen diesen Spaltungsversuch, auch wenn er ausführbar wäre und nicht nur das Hirngespinst eines überreizten Phantasten. So ist es nur wieder eine kompromittierende Dummheit. Jedenfalls ist dies alles keine einmalige Demonstration gegen einen Beschluss der A. H. und darum begreife ich Grossmans Forderung, Weisl solle öffentlich erklären, dass er nicht aus der A. H. ausgetreten sei. Diese Punkte I-V sind im Widerspruch zu unseren Beschlüssen u. unserer Taktik. Sie haben nur Sinn, wenn man – im strikten Gegensatz zu dem Kompromiss auf das wir uns geeinigt hatten – |9| schon jetzt den Austritt aus der ZO als praktisch vollzogen betrachtet und den Kongresskampf als hoffnungslos aufgiebt. 3) [sic] Nicht ich habe gegen das Kompromiss gehandelt. Ich musste mich dagegen wehren, dass Weisls Haltung als die revisionistische Haltung betrachtet wird – daher unsere Berliner Beschlüsse vom 15.3. Es tut mir leid, dass Sie jetzt so entschieden für Weisl und gegen Grossman und mich Stellung nehmen, aber ich kann nicht verstehen, wie Sie Ihre jetzige Haltung mit unserer in Prag und vom Parteirat beschlossenen und von Ihnen acceptierten Taktik in Einklang bringen wollen.119 Unsere Beschlüsse „schaden“ nicht – |10| sie retten unsere Situation im Wahlkampf,120 wenigstens in Deutschland, für dessen Revisionismus ich mich verantwortlich fühle. Mit Weisls Parolen können wir den Wahlkampf nicht führen. Darum mussten wir davon abrücken. 118 Nationalrat. 119 Auf der vierten  Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten im August 1930 und der Sitzung des Parteirats in Berlin im Dezember 1930 wurde die Teilnahme der Revisionisten am 17. Zionistenkongress beschlossen. Jabotinsky und die palästinensischen Revisionisten drohten nun damit, denselben Kongress zu boykottieren. 120 Gemeint ist der Wahlkampf im Vorfeld des 17. Zionistenkongresses.

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4) Da eine seiner Parolen – die Erklärung an die englische Regierung, dass Weizmann kein Recht zu Verhandlungen hat  – in der letzten Sitzung des Exekutivkomitees in Paris acceptiert wurde,121 haben wir auch eine interne Resolution gefasst, die verlangt, dass nach Ablehnung unseres Ultimatums durch die Exekutive der Parteirat einberufen werden soll, bevor weitere Beschlüsse gefasst werden.122 |11|  5) Wir müssen endlich eine klare Linie haben. Sie sagen selbst, dass Sie – trotz Ihres Willens zum Austritt aus der ZO – noch einmal mit aller Kraft den Kongresskampf führen wollten. Darum haben Sie Ihre Tournee in Polen gemacht. Aber dann durften Sie nicht Weisl erlauben, so zu handeln. Und wenn Sie – weil Sie innerlich mit seinen Forderungen sympathisieren  – nicht öffentlich gegen ihn auftreten wollten, so mussten Sie Grossman und mir erlauben, dies zu tun – denn wir beide können uns nicht nach Weisl richten. Ich habe nicht 8 Jahre lang Weizmann bekämpft, um kritiklos allem zuzustimmen, was Weisl – in |12| klarem Widerspruch zu unseren Beschlüssen – von uns verlangt. 6) In Weisls Denkart ist vieles, was mich grundsätzlich von ihm trennt u. ich will nicht, dass gerade dies im Revisionismus zum Durchbruch kommt. Ich habe immer Ihre Formel verteidigt, dass wir in diesem Stadium des Aufbaus keinen Klassenkampf brauchen, weil es sich um Kolonisation und das Frühstadium eines nationalen Befreiungskampfes handelt. Aber ich will nicht, dass aus dieser Formel ein theoretischer „Kampf gegen den Marxismus“ à la Hitler wird. Für mich ist trotz allem |13| Remes123 oder Ben Zwi124 ein Zionist und Rabbi Sonnenfeld125 ist trefe.126 Man kann sich mit dem Teufel verbinden, um einen kurzen Krieg zu führen, aber nicht, um einen Staat zu bauen, wo dann der Teufel den gleichen Anspruch hat wie wir selbst. 121 Auf der Sitzung der Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten vom 21. bis zum 23. Februar 1931 in Paris wurde der Vorschlag des palästinensischen Verbands, den Abbruch der Verhandlungen zwischen der Exekutive der Zionistischen Organisation und der britischen Regierung zu fordern, angenommen. JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutiv-Komitees der Weltunion der Zionisten-Revisionisten v. 21./23. Februar 1931 in Paris. 122 Siehe Dokument 35. 123 David Remez (1886–1951) war ein Politiker der zionistischen Arbeiterbewegung und führend in der Histadrut, dem 1920 gegründeten Dachverband der Gewerkschaften Israels, tätig. 1930 zählte er zu den Gründungsmitgliedern der Mapai. 124 Yitzhak Ben-Zvi. 125 Joseph Chaim Sonnenfeld (1848–1932) war ein ultraorthodoxer und antizionistischer Rabbiner in Jerusalem. 126 Der Ausdruck treife (auch trefe) stammt vom jiddischen Wort treyf und bezeichnet nach dem jüdischen Speisegesetz nicht zum Verzehr geeignete Speisen, hauptsächlich Fleisch.

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Berlin: In der Opposition

Wenn Sie jetzt mit Weisl gehen wollen, statt mit Grossman und mir, so fürchte ich sehr, dass Sie selbst sehr rasch in einen Konflikt mit diesen gefährlichen Anschauungen Weisls kommen werden, die letzten Endes seiner Taktik zu Grunde liegen. Schliesslich u. endlich: Ich glaube |14| noch immer, dass es möglich ist, die Einheit zu retten u. geschlossen zum Kongress zu marschieren. Was ist schliesslich geschehen? Weisl hat Dinge getan und geredet, die Ihnen more or less gefallen u. die mir u. Grossman nicht gefallen. Wir haben hier Beschlüsse gegen Weisl gefasst (sehr zahme Beschlüsse) die wir für taktisch notwendig halten. Sollte es unmöglich sein, die wenigen Wochen bis zum Wahlkampf ein Kompromiss zu finden? Was dann sein wird, weiss ich nicht – es wird stark davon abhängen, ob wir 30 oder 60 Delegierte haben werden. Vielleicht ist es das Klügste, gar nichts zu tun. Leben Sie wohl und grollen Sie nicht zu sehr Ihrem old friend R. L.

Dokument 37 Richard Lichtheim an Wladimir Ze’ev Jabotinsky Berlin, 14. August 1931127 Handschriftlicher Brief, 1 Seite; Archivstempel oben links JI, A1-3/19 127 Lichtheim verfasste den Brief im Nachgang des 17.  Zionistenkongresses, der vom 30. Juni bis zum 17. Juli 1931 in Basel stattgefunden hatte. Die Revisionisten waren mit zwei Anliegen zum Kongress angereist: erstens die Wahl Jabotinskys zum Präsidenten der Zionistischen Organisation und zweitens die öffentliche Deklaration des zionistischen Ziels der Schaffung eines Judenstaats in Palästina einschließlich Transjordaniens. Beides konnten sie nicht durchsetzen, was zum Austritt Jabotinskys aus der Zionistischen Organisation führte. Nach dem Kongress entbrannte innerhalb der Union erneut der Konflikt um die Frage nach dem Verhältnis der Revisionisten zur Zionistischen Organisation. Während Jabotinsky die Union aus der Zionistischen Organisation herausführen und eine alternative Körperschaft gründen wollte, plädierte die Mehrheit der Mitglieder der Exekutive der Union für einen Verbleib der Revisionisten in der Zionistischen Organisation. In den kommenden Jahren bis zur endgültigen Spaltung der Revisionisten im Sommer 1933 versuchte Lichtheim immer wieder, Jabotinsky zum Einlenken zu bewegen.

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Dokument 38

Berlin, 14.8.[19]31

Dear Jabo,

I am very sorry, aber dies ist das Ende unseres gemeinsamen politischen Kampfes der letzten 5 Jahre. Sie haben sich auf einen völlig falschen Weg verirrt, aber da Sie ihn für den richtigen halten, so müssen Sie ihn wohl bis zu Ende gehen. I can’t follow you. Leben sie wohl. Es grüsst Sie herzlichst Ihr R. Lichtheim

Dokument 38 Richard Lichtheim an Meir Grossmann Berlin, 5. September 1931 Handschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Unterstreichungen JI, P59-2/99/8

Lieber Grossman,

Berlin, 5.9.[19]31

besten Dank für Ihren ausführlichen Brief. Werde auch weiter mit Ihnen auf der gleichen Linie kämpfen.128 Immerhin frage ich mich von Zeit zu Zeit, ob unser wilder Freund V. J.129 nicht vielleicht doch Recht hat: Haben Sie den Aufruf der Exekutive130 gelesen? Kein Wort deutet in unsere Richtung. Unter Politik versteht sie: „Anspruch auf freie Immigration, Möglichkeit (!) des Bodenerwerbs, ungehin128 Grossmann und Lichtheim waren federführend bei dem Versuch, Jabotinsky und die restliche Union innerhalb der Zionistischen Organisation zu halten. 129 Wladimir Ze’ev Jabotinsky. 130 Nach dem 17. Zionistenkongress legte die neugewählte Exekutive der Zionistischen Organisation, die aus Sokolow als Präsidenten der Zionistischen Organisation, Chaim Arlosoroff (1899–1933), Selig Brodetsky (1888–1954), Joshua Heschel Farbstein (1870–1948), Berl Locker (1887–1972) und Emanuel Neumann (1893–1980) bestand, eine politische Linie fest, die im Wesentlichen die von den Revisionisten so vehement bekämpfte Politik Chaim Weizmanns fortführte. Anonymus, Manifest der Exekutive, in: Jüdische Rundschau, 4. September 1931, 421.

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Berlin: In der Opposition

derte Entfaltung“. Kein Wort von irgend etwas, das „Kolonisationsregime“ heisst, kein Wort von den Pflichten der Mandatarmacht. |2|  Von den Arabern heisst es, dass „Vorurteil u. Missverständnisse“ bestehen  – das Ziel ist, das  [sic] kein Volk das andere beherrschen soll. Von der praktischen Arbeit heisst es: „Das Ideal der „Arbeit“ war und bleibt die Triebfeder (!) unseres Werkes und der Quell „der Begeisterung für alle Juden.“ Das ist doch etwas stark. Statt Judenstaat – „Arbeit“ im Sinne der Gewerkschaftsbonzen als Triebfeder des Zionismus! Die Jewish Agency soll auch wieder gefestigt u. ausgebaut – nicht etwa reformiert werden. Und zum Schluss wird Weizmann neben Herzl gestellt – wenn auch mit der Versicherung, dass mit ihm eine Epoche ende – also eine neue beginne, |3| was man als Bosheit betrachten kann – wenn man will. Keine Spur vom Geist der Kongressbeschlüsse, kein Wort über Frieden in der Organisation, also auch kein Versuch, mit uns zu einem besseren Verhältnis zu kommen. Ich weiss alles, was Sie hierauf erwidern könnten: Dass dies nicht unsere Exekutive sei, dass ein Aufruf nichts besage, dass Farbstein131 oder Newman132 ihn nicht genau gelesen hätten etc.133 Aber die Frage ist doch sehr |4| beunruhigend: Wenn wir in der ZO bleiben, geschwächt durch Jabos Austritt – was werden wir tun, mit wem werden wir gehen? Selbstständige Aktionen sind ja nur ein Notbehelf für eine Partei, die grundsätzlich die Disziplin der ZO anerkennt. Darin hat Jabo recht. Wir 131 Joshua Heschel Farbstein (1870–1948) war ein Politiker der religiös-zionistischen Bewegung Misrachi. Er gehörte zu den Gründern von Misrachi in Polen und wirkte als ihr Präsident von 1918 bis 1931. 1931 siedelte er nach Palästina über und wurde in die Exekutive der Zionistischen Organisation gewählt. 132 Emanuel Neumann (auch Newman; 1893–1980) war ein zionistischer Funktionär und Politiker aus den Vereinigten Staaten. Er war Mitgründer des Keren Hayesod in den Vereinigten Staaten und wirkte als dessen Direktor von 1921 bis 1925. Im Anschluss war er in leitenden Positionen für den United Palestine Appeal und den Jew­ ish National Fund tätig. Von 1931 bis 1941 wirkte er als Mitglied der Jewish Agency in Jerusalem. Gemeinsam mit Farbstein wurde er auf dem 17. Zionistenkongress 1931 für die Allgemeinen Zionisten, Gruppe B, die sich der Politik Weizmanns entgegenstellten, in die Exekutive der Zionistischen Organisation gewählt. 133 Misrachi und die Gruppe B der Allgemeinen Zionisten hatten auf dem Kongress in den meisten Fragen mit den Revisionisten gestimmt. Die Revisionisten hofften daher, mit Farbstein und Neumann ihren Positionen nahe Vertreter in der Exekutive zu haben. Gerade Neumann zeigte sich nach seinem Eintritt in die Exekutive um die Einheit der Bewegung und einen Kompromiss mit den Revisionisten bemüht. Anonymus, Newman über seine Aufgaben, in: Jüdische Rundschau, 4. August 1931, 369.

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Dokument 39

müssen also Bundesgenossen suchen, neue Leute für uns gewinnen u. in die Leitung eindringen. Sonst sinken wir zur Bedeutungslosigkeit herab. Wir müssten auch Fühlung mit Sokolow haben u. ihn zu beeinflussen suchen. Vertraulich: Halpern134 ist gestern nach London gefahren, zu einer Sitzung des J. C. T.135 Mir scheint, dort stinkt etwas. Sie sind doch Bankausschuss! Viele Grüsse Ihr R. L.

Dokument 39 Beschlüsse der 2. Landeskonferenz des Verbands der Zionisten-Revisionisten in Deutschland Ohne Ort, ohne Datum136 Maschinenschriftliche Resolution, 2 Seiten; Archivstempel oben links auf jeder Seite JI, G2-5/21/1 Gz.– Beschlüsse der 2. ordentlichen Landeskonferenz der deutschen Revisionisten I. Die 2. Landeskonferenz der deutschen Revisionisten begrüsst den Beschluss von Calais,137 der die Einheit der revisionistischen Union sichert und ihr die 134 Georg Halpern (1878–1962) war ein Ökonom und führend an den wirtschaftlichen Aktivitäten und Institutionen der Zionistischen Organisation beteiligt. Von 1921 bis 1928 war er Direktor des Jewish Colonial Trust in London. 1934 gründete er gemeinsam mit Lichtheim die Migdal Insurance Company. 135 Jewish Colonial Trust. 136 Die zweite Landeskonferenz des Landesverbands der Zionisten-Revisionisten fand am 11. Oktober 1931 in Berlin statt. 137 Auf dem Plenum der Revisionistischen Weltexekutive in Calais am 28. und 29. September 1931 einigten sich beide Fraktionen in der Frage der Unabhängigkeit von der Zionistischen Organisation auf einen Kompromiss. Die Union blieb als einheitliche Körperschaft bestehen. Gleichzeitig befreite sie ihre einzelnen Mitglieder von der Pflicht, den Schekel zu zahlen, der ihre Mitgliedschaft in der Zionistischen Organisation begründete.

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Berlin: In der Opposition

politische Bewegungsfreiheit gibt. Wir erwarten, dass unsere Führung nunmehr alles tut, um unsere programmatischen Ideen in die Tat umzusetzen und die revisionistische Weltbewegung kraftvoll voran zu treiben. Die Landeskonferenz macht es allen deutschen Revisionisten zur Pflicht, in ihren Gruppen im Sinne der Beschlüsse von Calais zu wirken. II.

Die Landeskonferenz erklärt: 1. Die ZVfD und ihr Organ, die Jüdische Rundschau hat seit Jahren in grundsätzlichen politischen Fragen des Zionismus eine Haltung eingenommen, die mit den Zielen der zionistischen Bewegung unvereinbar ist und nach innen und aussen schädliche Wirkung gehabt hat. Nach dem 17.  Zionistenkongress, dessen Mehrheit sich unzweideutig in Gegensatz zu der von der ZVfD und der Jüd. Rundschau [verfolgten Richtlinie]138 gestellt hat, ist keinerlei Änderung in der politischen Haltung der Leitung des deutschen Zionismus eingetreten, vielmehr wird von dieser Seite die Bekämpfung des Revisionismus und die Propagierung der vom Kongress zurückgewiesenen Politik des früheren Präsidenten der ZO mit grösster Schärfe weiter betrieben. 2. Der deutsche Landesverband der revisionistischen Union protestiert gegen die einseitige und intolerante Haltung der Leitung des deutschen Zionismus, durch welche die ZVfD aus einer neutralen Arbeitsorganisation aller zionistischer Gruppen zu einer einseitigen Kampforganisation gegen den Revisionismus umgewandelt worden ist. Zum Zeichen des Protestes beschliesst die Konferenz: a) die revisionistischen Mitglieder des Landesvorstandes [der ZVfD]139 legen ihre Ämter nieder140 b) die deutschen Revisionisten beteiligen sich nicht am Delegiertentag der ZVfD141 138 Die Einfügung wurde vorgenommen in Übereinstimmung mit der Wiedergabe der Beschlüsse im 17. Zirkular des Exekutivkomitees der Weltunion der Zionisten-Revisionisten vom 12. November 1931, JI, G2-2/2/1. 139 Die Einfügung wurde vorgenommen in Übereinstimmung mit der Wiedergabe der Beschlüsse in der Jüdischen Rundschau. Anonymus, Beschlüsse der Revisionisten, in: Jüdische Rundschau, 13. Oktober 1931, 478. 140 Auf dem 23. Delegiertentag am 29. und 30. Dezember 1929 in Jena wurden u. a. die Revisionisten Richard Lichtheim und Paul Arnsberg in den Landesvorstand der ZVfD gewählt. Anonymus, Der neue Landesvorstand, in: Jüdische Rundschau, 10. Januar 1930, 21. 141 Der 24. Delegiertentag der ZVfD fand vom 11. und 12. September 1932 in Frankfurt a. M. statt.

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c) die Landeskonferenz stellt fest, dass die Mitglieder des Landesverbandes der Zionisten-Revisionisten nicht verpflichtet sind, der ZVfD und ihren lokalen Organisationen anzugehören. Die deutschen Revisionisten können, soweit die Umstände dies erforderlich erscheinen lassen, als Einzelpersonen oder als lokale Gruppen den Ortsgruppen der ZVfD angehören, die Konferenz empfiehlt aber den Mitgliedern des Landesverbandes den Austritt aus den Ortsgruppen bezw. aus der ZVfD und die Begründung selbstständiger revisionistischer Gruppen. [|2|] III. Der Landesvorstand wird ermächtigt, ein Statut zu entwerfen und dieses nach Befragung der 4 wichtigsten Ortsgruppen: Breslau, Berlin, Frankfurt / Main und Leipzig in Kraft treten zu lassen. Es wird gleichzeitig beauftragt, für die Ortsgruppen verbindliche Normalstatuten zu entwerfen. IV. A. Jeder deutsche Revisionist ist verpflichtet, folgende Mindestbeiträge zu leisten: 1. in Berlin als gemeinsamen Beitrag an den Landesverband und an die Ortsgruppe Berlin mindestens RM142 1,– monatlich und als Dinarzahlung RM –,90 monatlich. 2. in der Provinz: a) als Beitrag an den Landesverband pro Kopf mindestens RM –,50 und als Dinarzahlung RM –,90 monatlich. Die Einziehung dieser Beträge geschieht durch die Ortsgruppe, die diese Gelder an den Landesverband weiterleitet. b) einen Beitrag an die Ortsgruppe, der ebenfalls obligatorisch ist und der nach den örtlichen Verhältnissen festgesetzt wird. Jugendliche und Erwerbslose zahlen von allen Beiträgen die Hälfte. Die Zahlung dieser Beiträge ist die Voraussetzung für die Mitgliedschaft zur Union. Werden diese Beiträge länger als 2 Monate nicht bezahlt, so sind der Landesvorstand resp. die Vorstände der revisionistischen Ortsgruppen berechtigt und verpflichtet, das betreffende Mitglied auszuschliessen. Das Wahlrecht zu allen revisionistischen Tagungen hängt von der Zahlung dieser vorgenannten Beiträge ab. B. Diejenigen Mitglieder der Union, die nicht mehr Mitglieder der ZVfD oder der zionistischen Ortsgruppen sind, werden verpflichtet, die Beiträge, die sie 142 Reichsmark.

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bisher an diese Organisation geleistet haben, in Form der Erhöhung ihrer Zuwendungen an den Landesverband zu bezahlen. C. Für die Zusammensetzung des nächsten Delegiertentages sind massgebend die Durchschnittskopfzahlen, die sich auf Grund der von den Ortsgruppen gezahlten Landesbeiträge ab 1. November 1931 ergeben. V. Die Landeskonferenz erklärt: Die Unterstützung und tatkräftige Mitarbeit am Tel-Chaj Fonds143 ist für die Ortsgruppen und Einzelmitglieder der Union oberste Pflicht und wird zum wichtigsten Bestandteil der revisionistischen Arbeit erklärt. Die Landes­ konferenz trägt sich in das Eiserne Buch des TCh. F.144 mit einer Spende von RM 100,– ein. Diese Summe wird innerhalb von 3 Monaten aufgebracht und wie folgt unter den Ortsgruppen verteilt: Berlin RM 50,– Leipzig RM 10,– Rotholz für Ortsgr. Frankfurt RM 10,– Breslau RM 15,– Stettin RM 3,– andere deutsche Ortsgruppen RM 12,– RM 100,– Der Geschäftsführende Landesvorstand wurde einstimmig wiedergewählt. Er besteht aus den Herren: Lichtheim, Bloch,145 Belilowsky, Ettisch,146 Dr.  E. ­Fiscer [sic], A. Reiter,147 J. Reiter, Dr. Schloss.148

143 Der Tel-Chaj Fonds (hebr. Keren Tel Ḥ ai) war der 1929 gegründete Parteifonds der Zionisten-Revisionisten. 144 Tel-Chaj Fonds. 145 Hans Bloch (1891–1943) war Arzt und ein früher Anhänger der revisionistischen Strömung in Deutschland. Von September 1932 bis April 1933 war er Vorsitzender des deutschen Landesverbands der Union der Zionisten-Revisionisten. 146 Ernst Ettisch (1901–1964) war Politikwissenschaftler und Jurist. Ab 1929 leitete er das Zentralbüro der Union der Zionisten-Revisionisten in Berlin. 147 Alexander Reiter war Vorsitzender des 1928 in Berlin gegründeten deutschen Ablegers der revisionistischen Jugendorganisation Betar. 148 Justus Schloss war ein revisionistischer Funktionär, Journalist und Schriftsteller. Er war enger Mitarbeiter Lichtheims.

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Dokument 40

Dokument 40 Richard Lichtheim an Meir Grossmann Berlin, 15. November 1931 Handschriftlicher Brief, 12 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen; gedruckter Briefkopf auf jeder ersten Seite des Briefbogens (»RL«) JI, P59-2/99/8

Lieber Grossman,

Berlin, 15.11.[19]31

da Jabotinsky jetzt in London ist ### oder in den nächsten Tagen hinkommt, so möchte ich Sie bitten, die folgenden Fragen mit ihm – in Ruhe und allein – zu besprechen. Vielleicht können wir die Sache auch demnächst zu dreien in Berlin diskutieren, wenn Sie beide auf der Reise nach Polen hier durchkommen. Ich fühle, dass es so nicht weiter geht. Weder mit dem Zionismus |2| noch mit unserer Partei. Dabei bin ich nicht etwa kampfesmüde geworden: Im Gegenteil, ich habe unsere Anstrengungen hier verdoppelt. Ich habe darauf d gedrängt, dass wir aus der ZVfD austreten149 (vergleichen Sie meinen Artikel in der letzten Nummer der „Neuen Welt“),150 ich habe jetzt Rabinowitsch151 hier, der für die Arbeit sehr nützlich ist. Wir hatten eine grössere Versammlung in Berlin, ich spreche morgen Abend wieder hier, dann in Frankfurt u. Leipzig. Ich kämpfe weiter für die |3| Vergrösserung unserer Partei, wir machen jetzt wöchentlich eine deutsche Beilage in der „Neuen Welt“,152 wofür ich die Artikel schreibe – kurz, äusserlich geschieht, was geschehen kann. Aber dennoch fühle ich, dass wir uns in einer Sackgasse befinden. Es giebt 149 Aus Protest gegen die politische Linie der ZfVD und der Jüdischen Rundschau, die auch nach den Augustunruhen von 1929 an einer Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas festhielten, hatten die deutschen Revisionisten auf ihrer Landeskonferenz im Oktober 1931 entschieden, aus der ZVfD auszutreten. JI, G2-5/21/1, Bericht über die Berliner Mitgliederversammlung vom 22. Oktober 1931. 150 Richard Lichtheim, Unser Austritt aus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, in: Die Neue Welt, 13. November 1931, 7. 151 Oskar Kwasnik Rabinowicz (1902–1969) war Politiker, Bankier und Publizist. Von 1925 bis 1929 war er Vorsitzender der tschechoslowakischen Revisionisten und von 1929 bis 1931 für die Exekutive der Revisionisten in London tätig. Ab 1931 war er Generalsekretär des deutschen Landesverbands der Union der Zionisten-Revisionisten. 152 Zwischen 1927 und 1938 von Robert Stricker (1879–1944) in Wien herausgegebenes Wochenblatt.

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nur zwei Möglichkeiten, wenn wir den sterbenden Zionismus beleben wollen: Entweder Jabotinskys Weg: Eine neue Organisation – dies ist Utopie. Es fehlen alle Voraussetzungen: die Mittel, die Menschen, die politischen Bedingungen. |4| Das ist offenbar auch die Meinung von 90 % der Revisionisten, einschliesslich des Brith Trumpeldor. Der andere Weg heisst: Hinein in die ZO, Eroberung der „Macht“. Wenn wir jetzt, nach Weizmanns Sturz,153 in die Zionistische Leitung hineingehen, so kann durch uns die sehr populäre Parole der „Zusammenfassung der Kräfte“ verwirklicht werden. Das wird auch den Revisionismus sehr populär machen – der es jetzt nicht mehr ist, weil er nichts tut u. nichts tun kann. |5|  Ich kenne alle Gegenargumente, weiss alles, was Jabo dazu sagen wird. Eben deshalb sollen Sie es ruhig mit ihm besprechen u. ihm diesen Brief zu lesen geben. Der Zionismus braucht eine neue Parole. Sie muss heissen: 1) Vereinigung der Kräfte. 2) Ein neuer Plan für Finanzen u. Wirtschaft. 3) Ein neuer Start in der Politik. Ich will Einzelheiten hier nicht erörtern, obwohl ich einige Ideen dazu habe. |6| Aber jeder muss begreifen, dass in dieser schrecklichen Lage, in dieser Weltkrise, bei diesem Desinteressement u. dieser Müdigkeit der Juden die Bewegung im Ganzen einen neuen Auftrieb braucht. Dieser kann nur von einem Plan kommen, der neuen Enthusiasmus weckt, und dieser ist wiederum nur zu erwarten, wenn alle Kräfte vereinigt werden. Dabei können wir weiter kämpfen gegen alle |7| inneren Verfallserscheinungen. Der „deutsche“ Zionismus muss noch mehr isoliert werden, Weizmann muss ganz ausgeschaltet werden, die Agency muss liquidiert werden. Aber es darf kein Grund für Jabo sein, mit Sokolow nicht zu kooperieren, weil er ihn wiederholt angegriffen hat – Sokolow ist persönlich viel sachlicher u. anständiger als die meisten anderen Führer – und er muss seinen Hass gegen die „allgemeinen“ Zionisten154 überwinden. Anderseits glaube ich, dass die „anderen“, ein-|8|schliesslich der 153 Der 17. Zionistenkongress 1931 in Basel entschied sich gegen die Fortsetzung von Weizmanns Präsidentschaft. Stattdessen wurde Nahum Sokolow an die Spitze der Zionistischen Organisation gewählt. 154 Die Allgemeinen Zionisten waren eine liberale, maßgeblich von Chaim Weizmann geprägte Gruppierung innerhalb des Zionismus. Ihr gehörten diejenigen Zionisten an, die sich nicht einer religiösen, sozialistischen oder revisio­nistischen Fraktion anschlossen. 1931 konstituierten sie sich als Partei. Wenig später spalteten sich die Allgemeinen Zionisten in eine loyal zu Weizmann stehende Gruppe A und eine Gruppe B, die dessen Politik ablehnte.

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„Linken“, so müde sind, dass sie das Bündnis mit uns (vielleicht nach einigem Zögern) recht gern schliessen werden. Ich wusste schon auf dem Kongress, dass dies unsere Haltung sein müsse. Die „Eroberung“ des Zionismus hängt nur von uns ab – das heisst von Jabos Entschluss. Wenn er ihn nicht fassen will, so sehe ich nur die weitere Versumpfung. Was wir jetzt – in unserer halben Isolierung – tun, sind „Ersatz“handlungen: Ein |9| bisschen Kritik am bisherigen System (schon inaktuell), ein bisschen Kritik an der „Jüdischen Rundschau“, ein paar neue Mitglieder, hier u. da eine nützliche Aktion (Development Scheme155 oder dergleichen) – aber nichts Grosses. Ich weiss, dass Jabo hier sagen wird: „Ihr selbst seid schuld! Lasst mich |10| allein die neue ZO machen, dann werden die grossen Taten aus dem Geist der neuen ZO entstehen.“ Ebendies ist der Irrtum. Und Von den „Ersatz“handlungen, die Jabo vorgenommen hat, um dem Volke zu zeigen, dass etwas geschieht, will ich nicht weiter kritisch sprechen. Ich war gegen die „dramatischen“ Handlungen auf dem Kongress,156 ich bin gegen die von ihm |11| leider unterstützte Taktik unserer wilden Männer in Palästina (census!)157 155 Im Nachgang der Hope Simpson Untersuchung aufgestellter britischer Landentwicklungsplan zur Steigerung der Aufnahmefähigkeit Palästinas. Ziel war es, mithilfe entsprechender Investitionen und gesetzlichen Regulierungen zum Bodenverkauf, zukünftig arabische Pächter zu schützen und gleichzeitig eine weitere jüdische Besiedlung des Landes zu ermöglichen. Die Jewish Agency war während und im Nachgang der britischen Untersuchungskommissionen darum bemüht, die Palästinapolitik der Briten zu ihren Gunsten zu beeinflussen und sie davon zu überzeugen, dass genug Land sowohl für die wachsende arabische Bevölkerung als auch für die jüdische Besiedlung Palästinas zur Verfügung stand. Dabei gelang es der Jewish Agency einige Erfolge zu erzielen. Zur britischen Wirtschaftspolitik in Palästina: Martin Bunton, Colonial Land Policies in Palestine, 1917–1936, Oxford 2007; Dov Gavish, A Survey of Palestine under the British Mandate, 1920–1948, London 2005. Zu den Bemühungen der Jewish Agency: Kenneth W. Stein, The Land Question in Palestine, 1917–1939, London 1984, bes. 80–141. 156 Lichtheim spielt hier auf den dramatischen Auftritt Jabotinskys auf dem 17. Zionistenkongress an. Enttäuscht von den Ergebnissen sprang Jabotinsky auf einen Tisch, zerris seine Delegiertenkarte und rief »Das ist kein zionistischer Kongreß!« Zentralbureau der Zionistischen Organisation (Hg.), Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVII. Zionistenkongresses und der zweiten Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina, Basel, 30. Juni bis 17. Juli 1931, London 1931, 398. 157 Gemeint ist die palästinensische Fraktion der Revisionisten, geführt von Wolfgang von Weisl, die den Austritt aus der Zionistischen Organisation zu forcieren suchte.

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Was würden wir tun, wenn wir mit Jabo die neue ZO gegründet hätten? Wir müssten dann erst recht solche Ersatzhandlungen vornehmen, die uns bald genug ruinieren würden – damit überhaupt etwas geschieht. Wirklich Neues u. Grosses würden wir in der heutigen Lage nicht leisten können. El Es giebt nur den anderen Weg – der, den ich vorschlage. |12| Will man ihn gehen, so werden sich die Möglichkeiten dazu leicht arrangieren lassen. Auf Engländer u. Juden würde diese „Regierung der nationalen Einheit“ Eindruck machen. Dann wäre ein neuer Start möglich. Besprechen Sie es sehr ernst – ich empfinde es als den einzigen Ausweg. Ich werde nicht davonlaufen, {werde nicht den Revisionismus verlassen,} wenn Sie es ablehnen – aber ich glaube nicht, dass ich unter den jetzigen Bedingungen noch lange aktiv u. an leitender Stelle tätig sein kann. Beste Grüsse Ihr R. Lichtheim158

Dokument 41 Richard Lichtheim an die 5. Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten159 Berlin, 23. August 1932 Maschinenschriftlicher Brief, 8 Seiten; handschriftliche Korrekturen CZA, A56/20 [Anlässlich der bevorstehenden fünften Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten geht Lichtheim auf zentrale Diskussionspunkte innerhalb der Bewegung ein. Er rekapituliert den Beschluss von Calais als Kompromiss im Konflikt um das Verhältnis der Revisionisten zur Zionistischen Organisation. Vor dem Hintergrund von Erfolgen der revisionistischen Politik innerhalb der Zionistischen Organisation befürwortet er die Aufhebung des Beschlusses. Zudem diskutiert Lichtheim die Frage von selbstständigen politischen Aktionen der Revisionisten gegenüber der Unterordnung unter die Zionistische Organisation und geht auf das Verhältnis des Revisionismus zum britischen Mandatar ein. Abschließend kritisiert er eine neue revisionistische Gruppe in Palästina, die mit radikalen Forderungen auf sich aufmerksam macht.]

158 Zeile auf linker Marginalie. 159 Die fünfte Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten fand vom 28. August bis zum 3. September 1932 in Wien statt.

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Berlin, den 23. August 1932 An die Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten Wien Sehr geehrte Freunde und Gesinnungsgenossen, Da es mir leider nicht möglich ist, an der Weltkonferenz in Wien teilzunehmen, so erlaube ich mir, Ihnen meine Ansicht zu einigen Hauptpunkten der Tagesordnung schriftlich mitzuteilen und bitte das Präsidium der Konferenz, diese meine Aeusserungen dem Plenum zu unterbreiten. I. Der Beschluss von Calais.160 Es ist den Mitgliedern der Konferenz vermutlich bekannt, dass ich vor einiger Zeit die Aufhebung des Beschlusses von Calais angeregt habe. Ich bin der Ansicht, dass dieser Beschluss auf die Dauer doch nicht aufrechterhalten werden kann, dass er Unklarheit und Verwirrung gestiftet hat und der Werbekraft des Revisionismus nicht dienlich ist. Um den Beschluss von Calais richtig zu verstehen, muss man sich an seine Vorgeschichte erinnern. Der Beschluss entstand als Versuch eines Kompromisses zwischen zwei Tendenzen, die sich praktisch ausschliessen. Auf der einen Seite stand der Begründer des Revisionismus, Jabotinsky, der den historisch notwendig gewordenen Kampf für die Erneuerung des Zionismus und der Zionistischen Organisation eingeleitet hatte, nunmehr aber die Forderung aufstellte, dass der Revisionismus sich gänzlich von der Zionistischen Organisation loslösen und eine neue, unabhängige zionistische Organisation schaffen sollte. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die zwar die Ideen des Revisionismus genau so auffassten wie Jabotinsky, aber die bestehende Zionistische Organisation nicht aufgeben, sondern gerade für den Revisionismus erobern wollten – so wie es zu Beginn der revisionistischen Bewegung proklamiert worden war. Das Pro und Contra der Argumentation braucht hier nicht wiederholt zu werden. Die Ereignisse lehrten sehr bald a) dass die überwiegende Mehrheit der Revisionisten in der Zionistischen Organisation verbleiben wollte, b) dass die revisionistischen Bemühungen innerhalb der Zionistischen Organisation deutliche Erfolge zeitigten und {dass} damit die Meinung derjenigen gerechtfertigt war, die die Möglichkeit solcher Erfolge |2| immer behauptet hatten. In dieser Hinsicht ist zu nennen: Der Sturz Dr. Weizmanns, die Zurückdrängung der Brith Schalom-Tendenzen, die Schwenkung in der Wri{ir}rtschaftspolitik auf dem letzten Kongress; seitdem hat sich fortlaufend 160 Siehe Dokument 39.

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gezeigt – insbesondere auch auf der letzten Sitzung des Aktionskomitees – welchen Einfluss der Revisionismus als organisierte Kraft innerhalb der Zionistischen Organisation auszuüben vermag: Die Antwort auf den French-Bericht,161 die Neuordnung der Palästina-Aemter, die endliche Inangriffnahme der Reform der Jewish Agency – all dies ist ganz wesentlich durch die revisionistische Fraktion des Aktionskomitees gestaltet oder beeinflusst worden. Unter diesen Umständen musste die Tendenz zur Gründung einer „unabhängigen“ zionistischen Organisation von den Verfechtern dieser Idee aufgegeben werden. Der Verzicht auf die Errichtung der unabhängigen Organisation wurde {bereits} in Calais klar ausgesprochen und im Grunde hatte damit diejenige Richtung gesiegt, die den Revisionismus organisatorisch als Teil der Zionistischen Organisation (jetzt nach der Aktionskomitee-Sitzung als Sonderverband der Zionistischen Organisation)162 betrachtet und den Kampf für das revisionistische Programm nur innerhalb der Zionistischen Organisation führen will. Wenn es trotzdem in Calais zu einem unklaren Kompromissbeschluss kam, der durch Worte und Formeln beide Richtungen zu befriedigen suchte, und wenn – wie ich befürchten muss – der Calais-Beschluss jetzt in Wien bestätigt werden wird, so bedeutet dies nur den Ausdruck einer Verlegenheit, die mit bestimmten internen Schwierigkeiten der Bewegung zusammenhängt, nicht aber eine Lösung des zugrunde liegenden Problems selbst. Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass auch ich seinerzeit dem Calaisbeschluss zugestimmt habe. Das ist richtig, aber es bestätigt nur meine Behauptung, dass Calais ein Verlegenheitsprodukt war. Wir mussten damals der Tatsache Rechnung tragen, dass der von uns allen in gleicher Weise verehrte Führer der Bewegung nach dem 17. Zionistenkongress aus der Zionis161 Lewis French (1873–1945) war Direktor des 1931 eingerichteten Development Department der Mandatsregierung. Er fertigte 1931 und 1932 zwei Berichte zur landwirtschaftlichen Entwicklung in Palästina an, die der jüdischen Besiedlung des Landes kritisch gegenüberstanden und Regulierungsmaßnahmen empfahlen. In Verhandlungen gelang es der Jewish Agency, die Ergebnisse und Empfehlungen des Berichts teilweise zu ihren Gunsten abzumildern. Stein, The Land Question in Palestine, 142–172. 162 Auf Initiative Lichtheims und Grossmanns beantragten die schekelzahlenden Revisionisten Anfang 1932 die Konstituierung als Sonderverband innerhalb der Zionistischen Organisation. Diesem Antrag wurde im August 1932 von der Exekutive der Zionistischen Organisation stattgegeben. Fortan setzte sich die Union der ZionistenRevisionisten aus diesem Sonderverband schekelzahlender Revisionisten, die rund vier Fünftel der Unions-Mitglieder ausmachten, und nicht-schekelzahlenden Revisionisten zusammen. Anonymus, Die Beschlüsse des Aktions-Comités, in: Jüdische Rundschau, 16. August 1932, 213.

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tischen Organisation ausgetreten war.163 Wir wollten Jabotinsky weiter an der Spitze des Revisionismus sehen und wir alle wollen dies auch heute. Um dies zu ermöglichen, wurde ein wenig logisches und für die Bewegung sehr unbequemes Kompromiss gefunden und von uns allen im Interesse der Einheit des Revisionismus gutgeheissen. Aber dieser Beschluss von Calais hat, wie die Erfahrung der folgenden Monate zeigte, den Streit der Meinungen nicht gelöst, sondern nur verewigt, wobei das praktische Uebergewicht auf der Seite derjenigen ist, die in der Zionistischen Organisation verbleiben wol-|3|len. Dieser Zustand ist aber auf die Dauer nicht tragbar. Die Politik und Taktik der Bewegung wird in hundert Einzelheiten davon bestimmt, welche der beiden geschilderten Tendenzen massgebend sein soll. So muss – auch bei bestem Bemühen aller Beteiligten zur Verständigung – immer wieder neuer Konfliktstoff entstehen. Für mein Empfinden kann es auf die Dauer nur eine endgültige Lösung geben: dass unser Führer Jabotinsky und seine engeren politischen Freunde in richtiger Abschätzung der Situation und des Willens der revisionistischen Bewegung die in Calais gewählte Kompromissformel opfern, wieder in die Zionistische Organisation eintreten und damit den Weg für den wirklichen Fortschritt der revisionistischen Bewegung erst wieder freimachen. Die Calais-Formel bietet ja Jabotinsky und seinen Freunden nichts Konkretes; sie verpflichtet sie vielmehr zum Verzicht auf ihren eigentlichen Wunsch, nämlich zum Verzicht auf die Errichtung einer unabhängigen zionistischen Organisation. Auf diese Weise kommt keiner der beiden Standpunkte zur Entfaltung in der politischen Realität und das Ergebnis ist nur eine Schwächung der Stosskraft unserer Bewegung. Die Konstatiterung, ### {dass} die Revisionistische Union mith {H}ilfe der Calais-Formel von der Zionistischen Organisation unabhängig sei, hat praktisch keine Bedeutung, wenn vier Fünftel der Mitglieder der Union in der Zionistischen Organisation verbleiben und einen revisionistischen Sonderverband innerhalb der Zionistischen Organisation bilden. Keineswegs kann die Union eine andere Politik treiben als dieser Sonderverband. Das ist ein entscheidend wichtiger Punkt und es gilt hier, einen weitverbreiteten Irrtum zu beseitigen. Es ist möglich und vielleicht auch notwendig, dass der Revisionismus eine gewisse selbstständige Tätigkeit auf den verschiedensten Gebieten ausübt, doch ist es ein fundamentaler Irrtum, zu glauben, dass die quasi unabhängige Union eben wegen ihrer formalen Unabhängigkeit besseres leisten könne als der Sonderverband.

163 Nachdem die Revisionisten auf dem 17.  Zionistenkongress 1931 ihre politischen Forderungen nicht hatten durchsetzen können, trat Jabotinsky aus der Zionistischen Organisation aus.

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Auch die Berufung auf die angeblichen Wünsche der Jugend ist unangebracht. Die Jugend wird leicht entflammt, aber auch leicht enttäuscht. Sie wird eines Tages Rechenschaft verlangen, wenn man ihr die irrige Meinung beibringt, es bedürfe nur der Trennung von der Zionistischen Organisation, um auf dem Gebiet der Politik und der Wirtschaft Grösseres zu erreichen, als der Revisionismus in und mit der Zionistischen Organisation erreichen kann. Die Jugend wird umgekehrt eines Tages einsehen, dass ein im Zionismus als Teil der Zionistischen Organisation wirkender und kämpfender Revisionismus für sie selbst und für die ganze Bewegung mehr praktische Resultate zu erzielen vermag, als eine in splendid isolation vegetierende „unabhängige“ Union. Schliesslich sei noch darauf hingewiesen, dass der Calais-|4|Beschluss un#{s} viele Sympathien – also bei den Kongresswahlen viele Stimmen – solcher Zionisten kosten muss, die programmatisch mit uns übereinstimmen, jedoch kein Verständnis für die Doppelstellung der Revisionisten als „Union“ einerseits, als „Sonderverband“ andererseits besitzen. Wenn nun nach alledem die jetzt in Wien tagende Konferenz keinen dauernden Ausweg aus diesen Schwierigkeiten zu finden vermag, wenn unser Führer Jabotinsky auf dem Calais-Kompromiss beharrt und die Konferenz dieses Kompromiss bestätigt, so glaube ich, dass wir, d. h. die Gegner dieser Scheinlösung, ihren permanenten Widerstand hiergegen anmelden sollen, wie ich es hiermit tue. Ich kann nur der Hoffnung Ausdruck geben, dass möglichst bald die Voraussetzungen geschwunden sein werden, aus denen der Verlegenheitsbeschluss von Calais erwachsen ist. II. Selbstständige Aktionen und zionistische Disziplin. Ich habe vor zwei Jahren in Prag164 – also zu einer Zeit, als Jabotinsky noch Mitglied der Zionistischen Organisation war und als es keinen Calais-Beschluss gab – die These vertreten, dass eine oppositionelle Partei unter Umständen zu selbstständigen politischen Aktionen schreiten müsse, wenn die Umstände dies nötig machen. Diesen Standpunkt vertrete ich auch heute noch. Die Forderung selbstständiger Aktionen hat jedoch mit der Organisationsform des Revisionismus und insbesondere mit dem Calais-Beschluss wenig zu tun. Die Gegner unserer Bewegung versuchen, die Calais-Formel in dem Sinne gegen uns auszunutzen, dass sie das formell zweifellos unklare Verhältnis der Union zur Zionistischen Organisation für unvereinbar mit den Grundsätzen zionistischer Disziplin erklären. Wir haben bei der letzten Aktions-KomiteeTagung in London diese Auffassung zurückgewiesen. Wir sollten gegenüber irrigen Auffassungen dieser Art, die sich auch in manchen revisionistischen 164 Die vierte Weltkonferenz der Revisionisten fand vom 10. bis zum 14. August 1930 in Prag statt.

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Kreisen finden, deutlich erklären, dass jede zionistische Gruppe ein gewisses Mass von Selbstständigkeit auf allen Gebieten zionistischer Tätigkeit beanspruchen kann, dass aber die aussenpolitische Tätigkeit des Revisionismus – wenn und soweit solche von uns für nötig gehalten wird  – nicht von der Formfrage bestimmt wird, ob wir ein zionistischer Sonderverband oder eine von der Zionistischen Organisation abhängige Körperschaft sind. Als Mitglieder der Zionistischen Organisation unterliegen wir selbstverständlich der Disziplin dieser Organisation. Daher hat auch die Mehrheit unserer Fraktion im Aktionskomitee für jene grundsätzlichen Beschlüsse gestimmt, in denen das Aktionskomitee nochmals auf die Notwendigkeit der Disziplin in politischen Angelegenheiten hinwies. Niemals können Mitglieder der Zionistischen Organisation, die in einem |5| zionistischen Sonder­ verband organisiert sind, den Grundsatz aufstellen, dass für sie die Disziplin der Zionistischen Organisation keine Geltung haben solle; und höchst unwürdig, ja lächerlich wäre es, wenn sie ihre selbstständigen Aktionen un­ ter dem Deckmantel einer angeblich „unabhängigen“ Union verste##{ck}en wollten, da es doch sonnenklar ist, dass die Mitgliedschaft der Union fast genau dieselbe ist, wie die des Sonderverbandes, und da derselbe Personenkreis für die Leitung dieser beiden Körperschaften verantwortlich ist, welche genau die gleichen Ziele verfolgen. Es mag ein wenig anders liegen für diejenigen Revisionisten, die gegenwärtig nicht der Zionistischen Organisation angehören; sie können sich mit einem Schein von Recht darauf berufen, dass sie keine Verantwortung gegenüber der Zionistischen Organisation tragen. Aber auch sie müssen Rücksicht darauf nehmen, dass wir, d. h. die Mehrzahl der Revisionisten und die überwiegende Mehrheit der Mitglieder unseres Exekutivkomitees, an die Beschlüsse der Zionistischen Organisation gebunden sind, und da sie – gerade durch die Calais-Beschlüsse – mit uns zu einer politischen Einheit verschmolzen sind, so können auch sie mit Rücksicht auf diese Einheit nicht den Grundsatz der formellen politischen Unabhängigkeit proklamieren. Wiederum zeigt sich, dass Calais nur eine Vel{r}legenheit, eine Formel, nicht einmal eine Form ist. Wir, die Mehrheit der Union, die Mitglieder des Sonderverbandes, die Angehörigen der revisionistischen Fraktionen in Kongress und Aktionskomitee, müssen und werden den Grundsatz der zionistischen Disziplin anerkennen. Wo wir etwa von ihm abweichen, müssen wir die Konsequenzen auf uns nehmen. Ich habe in Prag gesagt und wiederhole es: Gegenüber der Weizmann’schen Politik, gegenüber einem System, das zehn Jahre lang nach innen und aussen schweren Schaden angerichtet hat, darf eine politische Opposition sich zur Wehr setzen und versuchen, den Schaden möglichst wieder gutzumachen, die Oeffentlichkeit zu war#{n}en oder auch durch Verhandlungen

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mit politischen Instanzen einen neuen Weg zum Ziele zu bahnen. Aber das ist immer nur dann diskutabel, wenn ein zwingender Anlass vorliegt, wenn die Leitung der Zionistischen Organisation sich gegenüber der Opposition illoyal verhält, wenn die Möglichkeit legaler Beeinflussung der zionistischen Instanzen nicht mehr besteht. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, muss von Fall zu Fall geprüft werden und die „selbstständige politische Aktion“, die unter Umständen den Disziplinbruch bedeuten kann, wird dann zur Frage des zionistischen Gewissens. Ich mache diese Ausführungen aus zwei Gründen: a) um die von unseren Gegnern aufgestellte Behauptung zu widerlegen, dass der Revisionismus – mit oder ohne Calais – den „Grundsatz“ völlig |6| unabhängiger Politik, gleichsam den ständigen Disziplinbruch gegenüber der Zionistischen Organisation proklamiert habe. Eine solche Haltung wäre mit der Tatsache unvereinbar, dass mindestens vier Fünftel der Union und ihrer Leitung der Zionistischen Organisation angehören und dort einen anerkannten Sonderverband bilden, b) um zu zeigen, dass die Frage eventueller selbstständiger Aktionen auf politischem und anderem Gebiet gar nichts mit der Calais-Formel zu tun hat. Auch ein Sonderverband, der der Disziplin der Zionistischen Organisation unterworfen ist, kann durch besondere Umstände dahin gedrängt werden, unter formeller Verletzung der Disziplin selbstständige politische Aktionen einzuleiten. Umgekehrt rechtfertigt unsere gegenwärtige unklare Organisationsform keineswegs das Prinzip völlig selbstständiger Politik oder des bewussten Disziplinbruchs. Die Erwägungenn #{w}erden, wie ich mit Sicherheit annehme, bei den Beschlüssen der Konferenz Berücksichtigung finden. III. Die Beziehung zu England. Dieses Thema ist anlässlich unserer letzten Beratungen in London eingehend erörtert worden. Ich glaube, dass dadurch manche bestehende Unklarheit beseitigt wurde. Wir haben schon im Aktionskomitee offiziell erklärt, dass keine revisionistische Instanz jemals gefordert hat, dass England das Mandat über Palästina aufgeben solle. Wir haben immer nur gesagt, dass die Haltung Englands in Palästina scharfe Kritik herausfordere und dass England bei einer Fortdauer des jetzigen Regimes das Recht verliere, das Mandat auszuüben. Damit ist schon gesagt, dass wir uns noch keineswegs am Ende des politischen Kampfes befinden. Dieser geht vielmehr weiter. Ausdrucksweise, Schärfe des Tons, Mittel des Kampfes mögen sich ändern, doch liegt der Schwerpunkt unserer politischen Bemühungen noch immer in England. Konkrete Projekte, die eine grundsätzliche Aenderung unseres politischen Systems veranlassen könnten, existieren nicht. Wir müssen mit Zähigkeit an der Linie festhalten, die wir vor Jahren als die einzig richtige erkannt haben. Zuweilen kann  – wenn ein

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Passfield oder ein anderer Haman165 uns entgegentritt – der offene, erbitterte Kampf und Widerstand notwendig werden. Aber unsere Grundauffassung von der Aufgabe, die wir in Palästina und die die Engländer im vorderen Orient zu erfüllen haben, sowie unsere Meinung von der natürlichen Verknüpfung dieser beiden Aufgabenkreise hat sich nicht grundlegend geändert. Da es zudem keine andere politische Konzeption gibt, die ernsthaft zu diskutieren wäre, so muss mit aller Entschiedenheit vor gewissen, in letzter Zeit aufgetauchten, rein negativen Gedankengängen gewarnt werden, die aus Empörung und Aerger über Englands Verhalten erklärlich, aber höchst unpolitisch sind. Ich wiederhole, dass solche |7| negativen Gedanken, wenn sie gelegentlich da oder dort in Wort oder Schrift auftauchten, niemals Ausdruck der formulierten Meinung unseres Exekutivkomitees gewesen sind. Wir haben weiter mit England als Mandatar über Palästina zu rechnen. Der Zionismus ist innerlich niemals von England abhängig gewesen, so wenig wie von irgendeiner anderen Macht. Wo die Gefahr bestand, dass zum Schaden unserer Politik diese innere Unabhängigkeit und Freiheit der Bewegung verloren ging, haben wir diese Gefahr bekämpft, wie die gesamte Geschichte unserer Bewegung zeigt. Aber die realpolitische Betrachtung der Gegenwart lehrt, dass wir in voller Freiheit der Entscheidung, jedoch unabhängig von Stimmungen des Augenblicks, unsere politische Arbeit mindestens vorläufig im Rahmen der bestehenden Mandatspolitik zu erfüllen haben. IV. Der Revisionismus in Palästina. Damit berühre ich ein Gebiet, das besonders in Palästina selbst von Bedeutung ist. {N}e#{u}erdings hat sich im dortigen Revisionismus eine Gruppe166 in den Vordergrund geschoben, 165 Anspielung auf eine Figur der biblischen Erzählung im Buch Ester. Als höchster Regierungsbeamter des Perserkönigs Achaschwerosch erwirkte Haman beim König ein Edikt, nach dem alle Juden umgebracht und ausgeplündert werden durften, da ihm der jüdische Palastdiener Mordechai die Ehrerbietung durch Niederknien verweigert hatte. Daraufhin intervenierte die jüdische Königin Ester bei ihrem Ehemann Achaschwerosch, wendete so den geplanten Mord an ihrem Volk ab und erwirkte ein weiteres Dekret, dass den Juden ihrerseits die Vernichtung ihrer Feinde gestattete. In der jüdischen Tradition wird der Name Haman oftmals als Synonym für Judenfeinde benutzt. 166 Im Nachgang der Augustunruhen von 1929 hatte sich eine radikale Gruppe paläs­ tinensischer Revisionisten um Abba Ahimeir (1897–1962), Uri Zvi Greenberg (1894– 1981) und Yehoshua Heschel Yevin (1891–1970) gebildet, die sich als Brit ha-Biryonim (Bund der Zeloten) bezeichnete. Als Maximalisten der Bewegung vertraten sie eine vehement nationalistische Haltung, übernahmen Elemente des italienischen Faschismus und verkörperten gemeinsam mit den Aktivisten um Wolfgang von Weisl eine neue, radikale Tendenz im Revisionismus, die den Führungsanspruch der liberalen,

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Berlin: In der Opposition

die offenbar ein Gemisch aus Nihilismus und romanischem Putschismus für Politik hält. Diese Gruppe gehört gar nicht in den Rahmen einer politischen Organisation, da ihre Mitglieder überhaupt nicht organisierbar und auf kein Programm zu verpflichten sind. Von diesen lebensfremden, wurzellosen, wahrscheinlich sehr unglücklichen Menschen gilt der Satz, den Ilja Ehrenburg167 über den komisch-heroischen Desperado Gorguloff 168 schrieb: „Mit dem Leben war es nichts – so blieb nur die Heldentat.“169 Aber Heldentaten, die auf solcher Seelenbasis erwachsen, sehen dann auch entsprechend aus. Es ist kein „Aktivismus“, wenn ein Kranker um sich schlägt und das Geschirr zertrümmert, und es wird auch dann keine {echte} Heldentat daraus, wenn er dafür eingesperrt wird. Jene kleine Gruppe in Palästina darf nicht länger den Revisionismus vertreten, wenn die Union weiterbestehen soll. Es freut mich, feststellen zu können, dass in diesem Punkte weitgehende Ueber­ einstimmung bei allen führenden Personen des Revision{i}simus herrscht. Die Konferenz muss hier ein deutliches Wort sprechen und dem Wort die Tat folgen lassen. Sehr geehrte Freunde, ich muss Sie um Entschuldigung für diesen langen Brief bitten, aber er erspart Ihnen das Anhören einer Rede, die vermutlich noch länger gedauert hätte. Ich wünsche Ihren Beratungen vollen Erfolg. Dieser wird sich einstellen, wenn die Konferenz unsere schwierigen Probleme klar erkennt und mutig zu lösen strebt. Einen besonders herz-

dem Parlamentarismus verpflichteten älteren Generation, die auch die Exekutive der Union dominierte, herausforderte. Während Letztere für den Verbleib in der Zionistischen Organisation und die Zusammenarbeit mit den Briten plädierte, verfolgten die palästinensischen Revisionisten einen dezidiert antibritischen Kurs und unterstützten Jabotinskys Anliegen einer unabhängigen, neuen zionistischen Organisation. Auf der fünften Weltkonferenz kam der innerrevisionistische Konflikt, in dem sich Jabotinsky zunehmend auf der Seite der palästinensischen Revisionisten positionierte, offen zum Tragen. Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement, 42–46; Anonymus, Die revisionistische Weltkonferenz, in: Jüdische Rundschau, 2. September 1932, 337 f.; Anonymus, Die Revisionistenkonferenz, in: Jüdische Rundschau, 6. September 1932, 341 f. 167 Ilja Ehrenburg (1891–1967) war ein russisch-jüdischer Journalist und Schriftsteller. 168 Pawel Gorgulow (1895–1932) war ein russischer Arzt und Schriftsteller, der an einer psychischen Krankheit litt, sich als Vorkämpfer für eine panrussische Bewegung gegen den Bolschewismus imaginierte und 1932 den französischen Staatspräsidenten Paul Doumer (1857–1932) erschoss. 169 In einem Artikel über Gorgulow schrieb Ehrenburg »Das Leben glückte nicht. Es blieb nur noch eins – die Heldentat.« Ilja Ehrenburg, Emigrant, zum Tode verurteilt, in: Das Tagebuch, 6. August 1932, 1225–1231, hier 1229.

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Dokument 42

lichen Gruss richte ich an den Präsidenten der Union, Herrn Jabotinsky, mit dem ich alle jene Fragen, die in diesem Brief behandelt wurden, kürzlich in London ausführlich erörter#{t} habe. Ich weiss, dass er in einigen Punkten meine Auffassung nicht teilen kann; aber |8| ich weiss auch, dass er meinen Standpunkt zu würdigen vermag und ich vertraue vollkommen seiner immer wieder bewährten Klugheit, Loyalität und freundschaftlichen Bereitschaft zur Verständigung. In diesem Vertrauen erwarte ich, dass die unter Jabotinskys Leitung tagende Konferenz Beschlüsse fassen wird, die für alle Richtungen im Revisionismus annehmbar sind, und dass so auch diese Konferenz dazu beitragen wird, die Einigkeit der Union zu festigen.170

Dokument 42 Die Union der Zionisten-Revisionisten an den Landesvorstand der ZionistenRevisionisten in Deutschland171 London, 25. April 1933 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite; Archivstempel oben links JI, G2-5/21/1

Union der Zionisten-Revisionisten Berlin

25. April 1933

Sehr geehrte Herren, wir bestätigen den Empfang Ihres Schreibens vom 29. Maerz und teilen Ihnen mit, dass das Exekutiv-Komitee wegen Ihres Disziplinbruchs, der in Ihrer Re-

170 Die Konferenz bestätigte letztlich die in Calais gefassten Beschlüsse und positionierte sich nicht klar gegen die Linie der Palästinenser. JI, G2-7/4/3, Fifth World Conference Vienna: Protocols and Resolutions. In der Folge verzichtete Lichtheim aus Protest auf eine Wiederwahl in die Exekutive der Union und trat auch von seinem Amt als Vorsitzender des deutschen Landesverbands zurück; er blieb jedoch Mitglied des Landesvorstands. 171 Der Landesvorstand bestand zu diesem Zeitpunkt unter anderem aus Hans Bloch als Vorsitzendem, Lichtheim, Paul Arnsberg (1899–1978), Ludwig (Elazar) Goldwasser (1896–1979) und Justus Schloss.

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Berlin: In der Opposition

solution vom 27. Maerz zum Ausdruck gekommen ist, beschlossen hat, den Landesvorstand aufzuloesen.172 Wir haben Herrn Richard Lichtheim mit der Zusammenstellung und Leitung des zeitweiligen Vorstandes des Landesverbandes der Zionisten-Revisionisten in Deutschland beauftragt. Mit vorzueglicher Hochachtung173

Dokument 43 Ernst Hamburger174 an das Exekutivkomitee der Weltunion der Zionisten-Revi­ sionisten Berlin, 12. Mai 1933 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; gedruckter Briefkopf auf Seite 1; Archivstempel oben links auf jeder Seite JI, G2-5/21/1 172 Nachdem auf der Sitzung des Parteirats der Revisionisten vom 20. bis zum 21. März 1933 in Katowice keine Einigung zwischen den Anhängern Jabotinskys, die den Austritt aus der Zionistischen Organisation anstrebten, und den Anhängern der Gruppe um Grossmann und Lichtheim, die für den Verbleib innerhalb der Zionistischen Organisation eintraten, erzielt werden konnte, kam es zur Spaltung der gesamten revisionistischen Bewegung wie auch ihrer einzelnen Landesverbände. Während Jabotinsky in dem sogenannten Łódźer Manifest vom 22. März 1933 die von der Grossmann-Gruppe dominierte Exekutive der Union für aufgelöst erklärte, reklamierte die Exekutive für sich, weiterhin die rechtmäßige Leitung der schekelzahlenden Revisionisten zu sein. Die Gruppe um Grossmann gründete in der Folge die Demokratischen Revisionisten, die sich auf dem 18. Zionistenkongress 1933 offiziell von der Union der Zionisten-Revisionisten abspalteten und als Judenstaatspartei konstituierten. Der Vorstand der deutschen Revisionisten stellte sich im Nachgang der Sitzung in Katowice in einem Votum vom 27. März 1933 hinter Jabotinsky und kündigte der Exekutive der Union die Zusammenarbeit auf. Letztere betrachtete diesen Schritt als Bruch der revisionistischen Disziplin, löste den deutschen Landesvorstand auf und setzte Lichtheim ein, einen neuen Landesvorstand zu konstituieren. JI, G25/21/1, Landesvorstand der Zionisten-Revisionisten in Deutschland an die Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten, London, 29. März 1933. 173 Unterschrift fehlt auf Archivalie. 174 Ernst Hamburger (1908–1984) war Versicherungskaufmann und Mitglied der revisionistischen Ortsgruppe Frankfurt  a. M. Ab 1933 war er Vorstandsmitglied im neugegründeten Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten.

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Dokument 43

Union der Zionisten-Revisionisten Landesverband in Deutschland Telefon: J: Bismarck 5590 Berlin-Charlottenburg 2, den ¦12. Mai [19]33¦ Joachimsthaler Str. 3 Postscheckkonto Nr. 1115439 An das Exekutiv-Komitée der Weltunion der Zionisten-Revisionisten 6 Upper Bedford Place London W. C. 1 Sehr geehrte Herren, wir bitten Sie in Ihrer sehr geschätzten Zeitung folgendes Communiqué des „Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten“ erscheinen zu lassen und in Ihrer nächsten Nummer zu veröffentlichen. Wir danken Ihnen im Voraus und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten175 {Hamburger} [|2|] Communiqué. Die Deutschen Zionisten-Revisionisten haben sich neu konstituiert. Der Vorstand des „Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten“ besteht aus den Herren Richard Lichtheim als Vorsitzendem, Dr. Justus Schloss und Ernst Hamburger. Das Büro findet sich nach wie vor Berlin-Charlottenburg 2 Jo­ achimsthalerstr. 3, II. Die Neuorganisierung erfolgte nachdem die bekannten Differenzen innerhalb der Union praktisch zu einer Trennung der beiden Richtungen geführt haben.176

175 Gestempelt. 176 Nach der Spaltung hatte sich in Deutschland neben dem Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten unter Lichtheim auch ein Verband der Staatszionisten unter der Leitung von Adolf Hirschfeldt gegründet, der die jabotinskytreuen deutschen Revisionisten vereinte und sich später in Staatszionistische Organisation umbenannte. Rundschreiben des Verbandes der Staatszionisten, 16. Mai 1933, in: Nicosia (Hg.),

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Berlin: In der Opposition

Der „Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten“ teilt mit, dass er allein berechtigt ist, namens der legal gewählten Instanzen der Revisionisten zu handeln, und insbesondere auch den anerkannten Sonderverband der Zionisten-Revisionisten (mit dem er praktisch identisch ist) zu vertreten. Die Deutschen Zionisten-Revisionisten, die als Vertreter des Verbandes im Palästinaamt und in der Schekelkommission sitzen, erhielten ihre Mandate auf Beschluss des oben genannten Vorstandes und können von diesem, wenn es erforderlich sein sollte, auch wieder abberufen werden. Alle Deutschen Zionisten-Revisionisten werden ersucht, ihre Korrespondenz ausschliesslich an den oben genannten Verband zu richten und ihre Beiträge dorthin zu zahlen. Der „Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten“ fordert alle Zionisten, welche auf dem Boden seiner [sic] Programms stehen, auf, ihren Beitritt und schriftliche Mitteilungen an das Büro des Verbandes zu richten. Der Verband ersucht mitzuteilen, dass er nach wie vor in Deutschland für die Grundsätze des Revisionismus weiter kämpfen wird und zwar im Rahmen der Zionistischen Organisation. Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten177 {Hamburger}

Dokument 44 Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten Berlin, ohne Datum [Mai 1933]178 Maschinenschriftliches Rundschreiben, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Text teilweise verblichen; Archivstempel oben links auf jeder Seite; handschriftliche Notiz auf Seite 1 oben rechts (»1933«) JI, G2-5/21/2

Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 407 f.; Verband der Staatszionisten, Ortsgruppe Leipzig an das Polizeipräsidium Leipzig, Politische Abteilung, 8. November 1933, in: ebd., 415. 177 Gestempelt. 178 Das Schreiben stammt vom Mai 1933, was aus dem Verweis auf die Gründung des Brith Hakanaim, die am 16. des Montas stattfand, auf der zweiten Seite hervorgeht.

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Dokument 44

Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten Berlin-Charlottenburg, Datum des Poststempels Joachimsthaler Str. 3 Rundschreiben I An unsere Ortsgruppen und Mitglieder und Vertrauensleute. Sehr geehrte Herren Gesinnungsgenossen, I. Wie Ihnen bekannt ist, hat die Kattowitzer Konferenz zu keiner Klärung der Zustände in der Revisionistischen Organisation geführt. Die Anträge, welche Jabotinsky dort stellte, liefen praktisch auf eine Proklamation der vollständigen Unabhängigkeit der Revisionistischen Union von der Zionistischen Organisation hinaus. Diese Anträge begeneten [sic] dem entschiedenen Widerstand sämtlicher anderen Mitglieder des Exekutiv-Kommitees der Union und der überwiegenden Mehrheit der Konferenz.179 Daher zog Jabotinsky seine Anträge zurück, und die Konferenz ging resultatlos auseinander. Wenige Tage später erliess Jabotinsky einen Aufruf, durch den er die bisherige Leitung der Union als abgesetzt erklärte und sich als Diktator der Partei proklamierte.180 Dieser Vorgang führte praktisch zu einer Spaltung der Union, da sämtliche anderen Mitglieder der Exekutive (Grossmann, Stricker,181 Soskin182 und Machower) das Verhalten ### Jabotinsky [sic] missbilligten. 179 Zu den Mitgliedern der Exekutive, die gegen Jabotinsky stimmten, zählten unter anderem Grossmann, Selig Soskin (1873–1959), Jonah Machover und Robert Stricker (1879–1944). Insgesamt stellten sich von den 70 Delegierten lediglich 13 hinter Jabotinsky und seine Austrittspläne. Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children, 123. 180 Gemeint ist das sogenannte Łódźer Manifest Jabotinskys vom 22. März 1933, in dem Jabotinsky die Exekutive der Union auflöste und sich zum alleinigen Führer der Bewegung machte: »From this day on, I take upon myself control over the World Union of Zionist-Revisionists and all matters concerning the world movement. The func­ tions of the central institutions of the world movement are being suspended hereafter. By the end of the week I shall nominate the Provisional Secretary that will fulfill, in a provisional manner, the role of the Executive Committee of the World Union and the president as its head.« Zit. n. Zouplna, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union, 55. 181 Robert Stricker (1879–1944) war ein österreichischer Ingenieur, Journalist und zionistischer Politiker. Von 1919 bis 1927 arbeitete er als Redakteur und Mitherausgeber der Wiener Morgenzeitung. Von 1927 bis 1938 gab er Die Neue Welt heraus. In den 1920er Jahren stand er den Radikalen Zionisten Österreichs vor. 1931 schloss er sich Jabotinskys Zionisten-Revisionisten an. Seit 1932 war er Mitglied des Exekutiv-

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Berlin: In der Opposition

In Deutschland versuchte der damals amtierende Landesvorstand183 das Verhalten ### Jabotinsky [sic] zu rechtfertigen und stellte sich in seiner Mehrheit hinter ihn im Gegensatz zu der Mehrheit der Anhänger in Berlin und in der Provinz. Die an diesem Beschluss beteiligten Mitglieder des Landesvorstands üben jedoch zum Teil ihre Aemter im Landesvorstand nicht mehr aus und so ergab sich schon aus diesem Grunde die Notwendigkeit, einen neuen zu konstituieren. Inzwischen erklärte Herr Grossmann namens der legalen Leung [sic]184 der Union den Deutschen Landesvorstand für aufgelöst.185 Es fanden gemeinsame Besprechungen zwischen den leitenden Personen der beiden Richtungen in Berlin statt, die zu folgendem Resultat führten: Der Landesvorstand hat sich neu konstituiert und besteht zur Zeit aus den Herren Richard Lichtheim als Vorsitzendem sowie Dr. Justus Schloss und Ernst Hamburger. Dieser Vorstand ist allein berechtigt, namens der Deutschen Revisionisten zu sprechen und zu handeln. Diejenigen Mitglieder, welche sich den Anordnungen der legalen Instanzen der Union nicht fügen, sind als ausgeschlossen zu betrachten. Wir ersuchen Sie alle, in diesem Sinne zu verfahren und die Mitglieder des „Verbandes Deutscher Zionisten-Revisionisten“ überall vor die Frage zu stellen, ob sie sich dem genannten Vorstand unterstellen und die legal gewählten Instanzen des Sonderverbandes anerkennen, oder ob sie es vorziehen, sich als ausgeschlossen zu betrachten. Wir bitten Sie unverzüglich, die Stellungnahme Ihrer Ortsgruppen bezw. der einzelnen Mitglieder hierher an unsere Adresse, Berlin-Charlottenburg 2, Joachimsthalerstr. 3, II, mitzuteilen. Die Einzelmitglieder, denen wir gleich182

komitees der Union der Zionisten-Revisionisten. Dieter J. Mühl, »Immer war Wahlkampf«. Robert Stricker (1879–1944). Ein Beitrag zur jüdischen Politik in Österreich, in: Aschkenas. Zeitschrift für die Geschichte und Kultur der Juden 11 (2001), H. 1, 121–159; Dieter J. Hecht, Robert und Paula Stricker, in: Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte 7 (2009), 169–177. 182 Selig Soskin (1873–1959) war ein Agronom und zionistischer Politiker. Er war unter den Gründungsmitgliedern der Union der Zionisten-Revisionisten und fungierte als deren Sprecher für Agrarfragen. Ab 1927 war er als Repräsentant der Union der Zionisten-Revisionisten beim Völkerbund in Genf tätig. Er war von 1928 bis 1930 und 1932/1933 Mitglied der Exekutive der Union der Zionisten-Revisionisten. 183 Der Landesvorstand bestand zu diesem Zeitpunkt unter anderem aus Hans Bloch als Vorsitzendem, Lichtheim, Paul Arnsberg, Ludwig (Elazar) Goldwasser und Justus Schloss. 184 Leitung. 185 Siehe Dokument 42.

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Dokument 44

zeitig dieses Rundschreiben zugehen lassen, bitten wir, auf beigefügtem Bogen zu bestätigen, dass sie sich als Mitglieder des „Verbandes Deutscher Zionisten-Revisionisten“ betrachten und den unterzeichneten Vorstand anerkennen. Wir bitten Sie auch dahin zu wirken, dass uns möglichst viele neue Beitrittserklärungen zugehen, die sämtliche an unsere obige Adresse zu richten sind. |2|  II. Wir weisen noch darauf hin, dass der unterzeichnete Verband allein berechtigt ist, die Vertreter in die Palästinakommission, Palästinaamt und die Schekelkommission zu schicken. III. Wie bitten Sie also, in Zukunft in allen Angelegenheiten, Fragen der Taktik, Palästinaamtssachen (Zertifikate),186 Schekel, Kongresswahl, Propaganda sich an uns zu wenden. IV. Wir bitten Sie auch, für die „Neue Welt“ in grösserem Umfange zu werben und Abonnementsbestellungen an unsere Adresse zu richten. Zahlungen sind an unsere alte Adresse zu leisten! V. Wir teilen hierdurch mit, dass der „Verband Deutscher ZionistenRevisionisten“ Ende Juni mit einem grösseren Palästinareisebüro für seine Mitglieder eine stark verbilligte Palästinareise veranstaltet. Wir bitten alle Interessenten, sich möglichst umgehend zu den Bürozeiten persönlich zu melden oder sich mit uns schriftlich in Verbindung zu setzen. VI. Die revisionistischen Organisationen haben sich in überwiegendem Umfang hinter die legal gewählte Revisionistische Exekutive gestellt, und zwar teilt uns unser Exekutivsekretariat in Warschau mit, dass unsere Wahlaussichten in Polen überaus günstig sind. In Litauen haben 1000 Betarim187 die Reihen der offiziellen Betar verlassen und sich dem neugegründeten Brith Hakanaim188 angeschlossen. Der Brit Hakanaim ist der revisionistische Jugendverband des kongresstreuen Revisionismus. In Polen werden täglich Ortsgruppen des Brith Hakanaim gegründet. Auch die revisionistischen Studentenverbindungen Jordania und Bet-Amia, Kowno, haben sich hinter die Exekutive gestellt. In Litauen wird die Union von Gesinnungsgenossen, die hinter der Exekutive stehen, geführt.

186 Die legale Einwanderung nach Palästina wurde unter dem britischen Mandat nach Einwanderungsquoten ausgerichtet, nach denen die Palästina-Ämter in verschiedenen Ländern Einwanderungszertifikate erteilten. 187 Mitglieder des Betar. 188 Brith Hakanaim (Bund der Zeloten) war die im Mai 1933 von Meir Grossmann gegründete revisionistische Jugendorganisation der kongresstreuen Revisionisten.

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Berlin: In der Opposition

In Palästina fad [sic] am 16. cr.189 in Anwesenheit von Herrn Grossmann die Gründungsversammlung des Brith Hakanaim statt.190 Prominente Mitglieder des Netzivuth191 und der Mifkadoth192 haben den Brit Trumpeldor verlassen und sich dem Brit Hakanaim angeschlossen. Die Wochenschrift Hamatarah, das Organ der demokratischen kongresstreuen Revisionisten, hat zweimal zu erscheinen begonnen.193 In Oesterreich steht die überwiegende Mehrheit der Union geschlossen hinter dem gesetzlichen Landesvorstand. Das gleiche erfahren wir aus U.S.A., Kanada, Südamerika, Südafrika und Rumänien. VII. Der „Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten“ wird in verstärktem Umfang in Deutschland für die Grundsätze des Revisionismus, die sich gerade in den letzten Wochen als die einzig richtigen erwiesen haben, weiterkämpfen. Er erwartet Ihre Unterstützung. Mit den besten Judenstaatsgrüssen Tel Chaj! Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten gez. Richard Lichtheim Dr. Justus Schloss Ernst Hamburger

Dokument 45 Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten Berlin, 13. Juli 1933 Maschinenschriftlicher Brief und Rundschreiben, 3 Seiten; Text teilweise verblichen; Archivstempel oben links auf jeder Seite; maschinenschriftlicher Briefkopf auf Seite 2; maschinenschriftliche Paginierung auf Seite 3 (»2«) JI, G2-5/21/2 189 Currentis. 190 Anonymus, New Revisionist Group Formed, Backs Grossman, in: Jewish Daily Bulletin, 17. Mai 1933, 1. 191 Ausschuss / Komitee. Gemeint ist hier der Vorstand des palästinensischen Landesverbands des Betar. 192 Hauptquartier. Gemeint sind hier die Regionalverbände des Landesverbands. 193 Bereits vor der Konferenz von Katowice hatte Grossmann angefangen, sein eigenes Journal unter dem Titel Ha-Matara (Das Ziel) herauszugeben.

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Dokument 45

Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten Aufruf! Gesinnungsgenossen, aus beiliegendem Rundschreiben ersehen Sie, dass der Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten als Bestandteil der Union der Zionisten-Revisionisten seine Arbeit hier in Deutschland in grossem Umfang weiterführen wird. Der Verband glaubt, dass es gerade in einem Moment, in dem die Weltjudenheit von schweren Schicksalschlägen betroffen ist, es nicht verantwortlich und schädlich ist, neue Spaltungen herbeizuführen. Die Ereignisse haben bewiesen, dass gerade jetzt die Forderungen Judenstaat, Massenkolonisation, Transjordanien, Kolonisationsregime, Schutz und sozialer Ausgleich richtiger den je sind. Der Jude von der Strasse beginnt zu erkenne [sic], dass nur ein wahrhaftiger Grosszionismus die materielle und geistige Judennot lösen kann. In diesem Moment darf es keine Spaltung geben! Gerade jetzt müssen sich alle wahren Staatszionisten hinter die Führung einer verantwortungsbewussten Rebisionistischen [sic] Exekutive stellen. Heute mehr denn je muss der Herzl-Zionismus auch hier in Deutschland erstarken. Jeder einzelne muss dafür Sorge tragen, dass eine [sic] starker Revisionismus die Führung der gesamtzionistischen Bewegung übernimmt. Wir, der „Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten“, haben schon immer um die ehrliche Eroberung des Zionistenkongresses gekämpft. Wir haben nicht die Absicht, nur auf den Kongress zu gehen, um ihn wieder zu verlassen. Wir wollen und werden diesen Kongress und diese Zionistische Organisation, den „Judenstaat unterwegs“, erobern und mit Herzl’schem Geist erfüllen. Tel Chaj! Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten i. A. Ernst Hamburger [|2|] Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten Postscheckkonto Berlin Nr. 115439

Berlin-Charlottenburg 2, den 13.7.{1933} Joachimsthaler Str. 3, II

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Berlin: In der Opposition

Rundschreiben II An unsere Mitglieder, Ortsgruppen und Vertrauensleute. Sehr geehrte Herren Gesinnungsgenossen! 1) Der Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten hat in den letzten Wochen aus Berlin und der Provinz eine grosse Zahl an Zustimmungs- und Beitrittserklärungen erhalten. Insbesondere haben sich die verantwortungsbewussten, seit vielen Jahren in der revisionistischen Bewegung stehenden Revisionisten uns in grosser Zahl angeschlossen. 2) Der Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten erklärt nochmals, dass er unbedingter Anhänger der Zionistischen Organisation ist und getreu hinter der von der letzten Wiener Weltkonferenz legal gewählten Exekutive (Grossmann, Soskin, Machover, Stricker) steht. Der Verband ist mehr denn je von der Wichtigkeit revisionistischer Aufgaben überzeugt und glaubt, dass gerade heute, in den schweren Tagen jüdischer Geschichte, der Judenstaatszionismus nicht nur seine Berechtigung hat, sondern die einzige Bewegung ist, die die grossen Aufgaben erfüllen kann. Die Durchsetzung des revisionistischen Ziels kann nur innerhalb der ZO erfolgen. Die ZO ist die Titelinhaberin des Mandats. Diesen Titel braucht man, um überhaupt Politik und damit Judenstaatspolitik zu machen; diesen Titel kann man nur erhalten, wenn man in der ZO die Macht erhält, und diese Macht wollen wir erobern. Wir glauben, dass sich heute auch Menschen, die bisher abseits unserer Bewegung gestanden haben, davon überzeugt haben, dass die zionistische Politik auf eine radikal andere Basis gestellt werden muss und dass nur die revisionistischen Forderungen: Transjordanien, Massenkolonisation, Judenstaat, Kolonisationsregime, die auch schon in halber und entstellter Form unsere zionistischen Gegner als richtig zu erkennen beginnen, die grossen Aufgaben lösen können. Wir, die Anhänger der legalen revisionistischen Exekutive in London treiben nicht revisionistische Politik, um ewig Opposition zu bleiben, sondern wir glauben, dass die Zeit gekommen ist, wo wir imstande sind, auf Grund des Menschenmaterials, das wir besitzen und durch die Richtigkeit unserer Forderungen, die durch die Umstände unserer Tage als richtig erkannt worden sind, die Führung der ZO zu übernehmen. Wir treiben keine Selbstzerfleischung und keine Ueberspitzung des innerzionistischen und innerrevisionistischen Kampfes in Deutschland und in der Welt, wir machen Judenstaatspolitik, d. h. praktische Arbeit. 3) Erstes Ergebnis der Wahlen zum Zionistenkongress:194 Oesterreich: Allgemeine Zionisten195 2 Mandate, Liga für das arbeitende Palästina196 1 Man194 Der 18. Zionistenkongress fand vom 21. August bis zum 4. September 1933 in Prag statt.

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Dokument 45

dat, Revisionisten (Gruppe Grossmann) 1 Mandat, Radikale197 kein Mandat, Revisionisten Gruppe Jabotinsky kein Mandat, Misrachi kein Mandat. Gewählt wurden in Oesterreich: Dr. Finkelstein198 und Dr. Grünbaum199 für die Allgemeinen, Mendel Singer200 für die Liga für das arbeitende Palästina, Oberbaurat Ing. Robert Stricker für die Revisionisten Gruppe Grossmann. [|3|]  4) Zu dem Tode Arlosoroffs201 erlässt die revisionistische Weltexekutive (Grossmann) eine Kundgebung, in der es u. a. heisst: „Wir verdammen die Tat, von welcher Seite her sie auch begangen wurde. Wir verurteilen es, dass vor Feststellung des Täters durch die zuständigen Behörden und Gerichte eine Person oder eine Gruppe der Tat oder irgend welcher Beziehungen zu dieser Tat beschuldigt werde. Das ist niedrigste, verwerflichste Form des politischen Kampfes.“ Die Exekutive verwahrt sich gegen diese Hetze, die aus diesem Anlass von antirevisionistischer Seite inszeniert wurde. 5) Eines der ältesten Mitglieder des Brith Trumpeldor, der frühere Generalsekretär der deutschen Revisionisten, Herr Dr. Oskar Kwasnik-Rabinovicz, hat sich der legalen revisionistischen Exekutive zur Verfügung gestellt. 6) Wir sind die einzige Stelle in Deutschland, die mit dem revisionistischen Informationsbüro in Tel-Aviv in Verbindung steht und leiten alle Anfragen für unsere Gesinnungsgenossen prompt weiter. 195196

195 Siehe Dokument 40. 196 Die Liga für das arbeitende Palästina wurde am 30. Dezember 1928 in Berlin gegründet. Sie förderte den »sozialistischen Aufbau der jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina« und die organisierte jüdische Arbeiterschaft. Siehe Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland (Hg.), Für das arbeitende Erez-Israel. Gründungskonferenz der Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland, Berlin 1929. 197 Siehe Dokument 31. 198 Zygmunt Foebus (Ze’ev) Finkelstein (1886–1959) war Rechtsanwalt, Journalist und Schriftsteller, der sich für eine zionistische Politik engagierte. 199 Der Rechtsanwalt Oskar Grünbaum (1889–1974) war von 1930 bis 1938 Vorsitzender des Zionistischen Landesverbands für Österreich. 200 Menachem Mendel Singer (1890–1976) war Journalist, Schriftsteller und politischer Aktivist des Arbeiterzionismus. Von 1924 bis 1934 war er Redakteur des Organs der Arbeiterzionisten in Österreich Der jüdische Arbeiter. 201 Chaim Arlosoroff (1899–1933) war Politiker der zionistischen Arbeiterpartei Mapai. Er war maßgeblich an den Verhandlungen um das sogenannte Ha’avara-Abkom­men mit dem Deutschen Reich beteiligt, wofür er heftig von den Revisionisten angegriffen wurde. Im Juni 1933 wurde er bei einem Attentat am Strand von Tel Aviv ermordet. Der oder die Attentäter sind bis heute nicht ermittelt, wurden aber lange im revisionistischen Lager vermutet.

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Berlin: In der Opposition

7) Vor ca. 8 Tagen sind die Teilnehmer an unserer Palästinagesellschaftsreise in Tel Aviv eingetroffen. Wir werden auch weiter solche Reisen veranstalten und zwar beabsichtigen wir die nächste Reise Mitte August. Preis ca. RM 350,–. 8) Ortsgruppen, die von Berliner Redner  [sic] besucht werden wollen, werden um umgehende Nachricht gebeten. 9) In den nächsten Wochen wird die neue Quote der Zertifikate verteilt werden, und wir bitten Sie, schon jetzt alle Interessenten zusammenzustellen und uns solche Zertifikatsanträge einzureichen, damit wir eine möglichst grosse Zahl unserer Menschen nach Palästina bringen können. 10) Wir haben folgende Broschüren vorliegen: Richard Lichtheim: Revision der zionistischen Politik.202 Preis RM 1,20 Robert Stricker: Was ist Zionismus-Revisionismus?203 Preis RM –,30 Bestellungen bitten wir an das Büro. 11) Zahlungen wollen Sie bitte af  [sic] unser Postscheckkonto Berlin Nr. 115439 leisten. Tel Chaj! Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten i. A. Ernst Hambuger {Erklärt auf beiliegender Karte Euren Beitritt zu unserer Organisation!}

Dokument 46 Richard Lichtheim an Meir Grossmann Jerusalem, 26. Februar 1935 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; gedruckter Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben) JI, P59/-2/99/8 Richard Lichtheim Manager Migdal Insurance Co. Ltd

Jerusalem ¦26.2.[19]35.¦ P.O.B. 913 Tel. 1711

202 Richard Lichtheim, Revision der zionistischen Politik, Berlin 1930. 203 Robert Stricker, Was ist Zionismus-Revisionismus?, Wien 1932.

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Dokument 46

Lieber Grossmann, ich erhielt Ihr Schreiben vom 22. ds. [Mts.]204 nebst Kopie Ihres Briefes an Stricker vom gleichen Datum.205 Es tut mir leid, dass ich Ihren Optimismus in keiner Hinsicht teilen kann. Ich habe mich auch nach langer Ueberlegung entschlossen, mein Amt als Mitglied des Exekutivkomitees niederzulegen und aus der Judenstaatspartei206 auszutreten. Ich bitte Sie, hiervon dem Komitee Mitteilung zu machen.207 Wie Sie wissen, war ich von Anfang an sehr skeptisch bezueglich der Aussichten der Judenstaatspartei, wollte Sie aber unmittelbar nach dem Konflikt mit Jabotinsky nicht im Stiche lassen und habe es mir daher gefallen lassen, dass Sie mich in das Executivkomitee gewaehlt haben. Es wird mir aber immer deutlicher, dass die Partei keinen klaren Weg vor sich hat und dass sie nicht in der Lage sein wird so zu wachsen, dass sie wirklich auf die Geschicke der Zionistischen Organisation Einfluss ausueben kann. Ich habe Ihnen deshalb vorgeschlagen, bei der Bildung eines Blocks der Mitte mitzuwirken.208 Ich sehe aber, dass Sie dies nicht wollen, und Sie haben ja auch ganz recht dies abzulehnen, wenn Sie an die Zukunft der Judenstaatspartei glauben. Stricker scheint Ihre Meinung zu teilen, denn Sie schreiben ja in dem Brief an ihn, er habe recht, wenn er die Schaffung eines buergerlichen Blocks fuer aussichtslos 204 Dieses Monats. 205 JI, P59-2/99/8, Meir Grossmann an Richard Lichtheim, 22. Februar 1935. 206 Auf dem 18. Zionistenkongress 1933 in Prag spaltete sich die von Grossmann geführte Gruppe offiziell von der Union der Zionisten-Revisionisten ab und konstituierte sich als Judenstaatspartei, die ihre volle Loyalität gegenüber der Zionistischen Organisation bekundete. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u. a. Selig Soskin, Robert Stricker und Jonah Machover, die gemeinsam mit Grossmann die erste Exekutive der Judenstaatspartei bildeten. Lichtheim, der nicht am Kongress in Prag teilgenommen hatte, schloss sich im November 1933 der Partei an und wurde sogleich in deren Exekutive kooptiert. JI, L6-36, Judenstaatspartei, Zirkular Nr. 1, 1933; Robert Stricker, Aus der Judenstaatspartei, in: Die Neue Welt, 10. November 1933, 5; Anonymus, Richard Lichtheim in der Leitung der Judenstaatspartei, in: Die Neue Welt, 24. November 1933, 5. 207 Lichtheim konnte von diesem Vorhaben zunächst abgebracht werden. 208 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verhärtung der rechten und linken politischen Lager im Jischuw plädierte Lichtheim ab 1934 für die Schaffung einer demokratischen Mitte. Der Judenstaatspartei sollte dabei die zentrale Rolle zukommen, die bürgerlichen und demokratischen Kräfte zu versammeln, die sich weder mit dem Programm der Arbeiterparteien noch mit dem von Jabotinskys Revisionisten identifizieren konnten. Richard Lichtheim, Furcht und Hoffnung, in: Die Neue Welt, 29. Juni 1934, 3 f.

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Berlin: In der Opposition

halte. Ich dagegen bin der Meinung, dass ein selbststaendiges Auftreten bei den kommenden Wahlen uns eine Niederlage bringen wird und dass alle Ihre optimistischen Berechnungen vollkommen falsch sind. Unter diesen Umstaenden koennen Sie nicht von mir verlangen, dass ich mich noch weiter an der Arbeit der Partei beteilige. Was die Eingabe an die Regierung und den moeglicherweise daraus folgenden Prozess betrifft, so bin ich leider ebenfalls anderer Meinung als Sie. Die Argumentation, die Sie vorbringen, ist ein bisschen zu naiv. Sie ist sowohl juristisch wie politisch unhaltbar. Sie verlangen ja nicht die Genehmigung der Regierung fuer eine religioese Sekte, die einen Glauben hat, sondern fuer eine Partei, die unter den Begriff des politischen Vereins faellt.209 Wenn diese Partei sagt, dass sie im Zionismus eine Bewegung sieht, die den Judenstaat erstrebt, so muss angenommen werden, dass die Partei fuer diese Auffassung werbend auftritt, d. h. also die Idee des Judenstaates propagiert. Daraus kann die Behoerde ohne weiteres ableiten, dass der eigentliche Zweck der Partei in der Errichtung eines Judenstaates besteht. Der Hinweis, dass die Partei sich nur gesetzlicher Mittel bedienen will, entlastet die Partei nur von dem Vorwurf, ungesetzliche Akte zu begehen. Man wird daher, wenn der Prozess die Sachlage klargestellt hat, die Partei voraussichtlich nicht deshalb verbieten, weil sie direkt versucht, „to overthrow the govern-|2|ment,“ aber man wird sie bestimmt verbieten, weil sie Plaene foerdert, die mit der bestehenden Verfassung (wie die Englaender sie auffassen) in Widerspruch sind, und vor allem deshalb, weil nach englischer Polizeiauffassung durch die Propaganda fuer die Idee des Judenstaates Unruhe im Lande erregt werden koennte. Es sollte Ihnen bekannt sein, dass mit Hilfe dieses letzten Arguments alle moeglichen Dinge in Palaestina befohlen oder verboten werden. Es ist fuer einen politisch denkenden Menschen ganz klar, dass der Prozess gegen uns entschieden werden wird, und die Folge waere dann sicherlich das Verbot der Partei. Vielleicht sind Sie der Ansicht, dass der Prozess aus agitatorischen Gruenden gut sei. Das ist genau das gleiche Argument, mit dem der Revisionismus seine Petitionsbewegung210 begruendet hat, die auch zu einer politischen Niederlage gefuehrt hat. Es war eine Dummheit, wie ich Ihnen schon lange gesagt habe, den Namen „Judenstaatspartei“ zu waehlen. Was wir denken darüber {denken}, 209 Seit 1934 bemühte sich die Judenstaatspartei um die Registrierung als Partei im britischen Mandatsgebiet Palästina. 210 Die Revisionisten hatten 1934 eine Petition initiiert, mit der von Großbritannien eine umfangreiche Einwanderung für Juden nach Palästina gefordert wurde. Nachum Orland, Israels Revisionisten. Die geistigen Väter Menachem Begins, München 1978, 122.

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Dokument 47

und wie wir die Idee des Judenstaats im innerzionistischen Kampfe gegen den Weizmannismus verteidigt haben, ist eine Sache. Eine andere Sache aber ist die offizielle Bezeichnung fuer eine politische Partei. Stricker und Sie haetten sich daran erinnern sollen, dass auch Herzl, der bekanntlich den Judenstaat geschrieben hat, spaeter die Formel des Baseler Programms anwenden musste, die dann in die Balfour-Deklaration ueberging. Ich sehe also eine sichere politische Niederlage, wahrscheinlich sogar das Verbot der Partei voraus, und kann Ihnen daher nur raten, diesen Weg nicht zu gehen. Eine Niederlage vor dem Hoechsten Englischen Gericht in Palaestina wuerde nicht nur der Partei, sondern dem Zionismus und der Idee des Judenstaats schaden. Sie zwingen die Mitglieder des{r Agency} Exekutive, die wahrscheinlich als Zeugen vernommen werden, zu einer Absage an die formelle Idee des Judenstaates, was nur Verwirrung und Schaden stiften kann.211 Nehmen Sie es mir nicht uebel, wenn ich Ihre Politik so scharf kritisiere, aber ich moechte Sie und den Zionismus vor einer sichereren Niederlage schuetzen. Ich hoffe, Sie bald einmal hier zu sehen, und bin mit herzlichen Gruessen Ihr {Lichtheim} Herrn Grossmann P.O.B. 828 Tel-Aviv

Dokument 47 Richard Lichtheim an Meir Grossmann Jerusalem, 20. April 1937 Maschinenschriftlicher Brief, 1  Seite; handschriftliche Korrekturen und Streichungen; gedruckter Briefkopf JI, P59-2/99/8

211 Im Juli 1935 informierte die Mandatsregierung die Judenstaatspartei darüber, dass sie, so lange sie eine jüdische Mehrheit in den historischen Grenzen Palästinas fordere, nicht als Partei im britischen Mandatsgebiet zugelassen werden könne. Anonymus, Registry Denied to State Party in Palestine, in: Jewish Daily Bulletin, 15. Juli 1935, 1.

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Berlin: In der Opposition

Richard Lichtheim

Lieber Grossmann,

Jerusalem, ¦20¦.¦4¦.[19]¦37¦. 12, Alfasi Str. Rehavia P.O.B. 913, Tel 1201.

ich erhalte soeben unmittelbar vor Beginn der A. C.-Sitzung Ihren Brief vom 15.4.212 Es ist sehr schade, dass Sie nicht hier sind,213 denn ich bin sicher, dass wir uns dann ziemlich leicht verstaendigen wuerden. Mir scheint, wir argumentieren aneinander vorbei. Es ist klar, dass ich im A. C. grundsaetzlich auch den Standpunkt vertreten werde, dass jede Teilung schlecht ist und dass wir unser Endziel nicht aufgeben.214 Damit ist aber die Aufgabe des A. C. nicht erledigt. Es handelt sich darum, zu den konkreten Vorschlaegen der Kommission Stellung zu nehmen, und da bin ich der Meinung, dass ein Judenstaat auch auf einem Teilgebiet Palaestinas ungeheure Vorzuege hat gegenueber der anderen Eventualitaet, nämlich der Kantonisierung. Wenn wir aber einfach alles bekaempfen und ablehnen, ohne uns ueber die Unterschiede der beiden konkreten Projekte klarzusein, so werden wir das schlechtere bekommen. Ich werde mich mit unseren hiesigen Freunden beraten und so sprechen, dass ich

212 Grossmann bat Lichtheim in dem Brief, auf der Sitzung des Aktionskomitees in Jerusalem den Standpunkt der Judenstaatspartei zu vertreten, die sich mehrheitlich gegen eine Teilung Palästinas aussprach. JI, P59-2/99/8, Meir Grossmann an Richard Lichtheim, 15. April 1937. 213 Meir Grossmann befand sich zu dem Zeitpunkt in London. 214 Angesichts der arabischen Unruhen in Palästina ab 1936 wurde im August desselben Jahres von der britischen Mandatsregierung eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von William Peel (1867–1937) eingesetzt. Bevor die Kommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 1937 die Teilung des Mandatsgebiets in einen arabischen und einen jüdischen Staat vorschlug, diskutierte sie auch Möglichkeiten der Kantonisierung des Gebiets. In einer Sitzung am 20. und 22. April 1937 beriet das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation über die verschiedenen von der Peel-Kommission diskutierten Modelle. Lichtheim und Grossmann vertraten in der Debatte unterschiedliche Auffassungen. Während Grossmann, ebenso wie Stricker und Machover, weiterhin an einem jüdischen Staat beiderseits des Jordan festhielt und eine Teilung ablehnte, plädierte Lichtheim für die Errichtung eines jüdischen Staats in einem Teilgebiet Palästinas als ersten Schritt auf dem Weg zu einem Staat beiderseits des Jordan. Zum Peel-Plan siehe Elie Podeh, Chances for Peace. Missed Opportunities in the Arab-Israeli Conflict, Austin, Tex., 2015, 27–35; Itzhak Galnoor, Partition of Palestine. The Decision Crossroads in the Zionist Movement, Albany, N. Y., 1995.

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Dokument 47

die Linie der Partei zum Ausdruck bringe. Soweit ich von Ihrem Standpunkt taktisch abweiche, werde ich es als meine private Meinung sagen. Uebrigens bestehen in dieser Frage in allen Parteien die groessten Meinungsverschiedenheiten. Hier habe ich zahlreiche Leute der verschiedensten Parteien gesprochen, die alle der Ansicht sind, dass bei der Wahl zwischen Kantonisierung und Staat letztere Loesung die weit bessere ist und uns grosse Zukunftsmoeglichkeiten gibt. Natuerlich hat es nur Zweck, von einem Staat zu reden, wenn er einigermassen guenstige Grenzen hat und die Moeglichkeit zur Ansiedlung von zwei Millionen Menschen bietet. Einen solchen Staat im Laufe von 10–15 Jahren aufrichten zu koennen, scheint mir der sicherste Weg zur Realisierung unserer groesseren Ziele, die wir heute auf dem direkten Wege durch ein entsprechendes Kolonisationsregime Englands doch nicht durchsets{z}en koennten. Ich wiederhole also, dass wir nichts aufgeben und einen neuen, vielleicht gefaehrlichen, aber kuerzeren Weg einschlagen, um zu einer Machtposition zu gelangen, die uns ganz andere Stosskraft gibt als das bisherige System, an welchem Sie im Grunde festhalten wollen. Wir brauchen uns und die Partei heute noch nicht festzulegen, aber Sie sollten das alles sehr ernsthaft bedenken und mit unseren dortigen Freunden nochmals beraten. Es schadet gar nichts, dass Sie in Ihren Interviews einen ablehnenden Standpunkt vertreten haben. Zunaechst lehnen alle Parteien alles ab, was vorgeschlagen wird, und wir stehen mit dieser Ablehnung nicht besser da als das Zentrum oder die Linken. Aber man wird sich entscheiden muessen, was man fuer das naechste Jahrzehnt konkret erreichen will, d. h. Kantonisierung bzw. Einschraenkung der Einwanderung bei scheinbarer Aufrechterhaltung der Einheit des Mandatsgebiets, oder die schnelle Schaffung eines Judenstaats mit einer grossen Bevoelkerung, deren Zahl bei dem anderen System in der gleichen Zeit wahrscheinlich nicht erreicht wird. Beste Gruesse {stets} Ihr {Lichtheim} Herrn Meir Grossman, London.

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Berlin: In der Opposition

Dokument 48 Richard Lichtheim, Rede über die Teilung Palästinas Jerusalem, 21. April 1937 Maschinenschriftliches Manuskript, 7 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Einfügungen; maschinenschriftlicher Briefkopf auf jeder Seite (hier nur auf Seite 1 wiedergegeben); handschriftliche Paginierung auf den Seiten 3 und 4, ab Seite 5 maschinenschriftliche Paginierung CZA, A56/14 [Anlässlich der Beratungen der Peel-Kommission diskutiert Lichtheim in einer Sitzung des Aktionskomitees der Zionistischen Organisation mögliche Ergebnisse der Untersuchung. Dabei wirbt er dafür, das Szenario einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat gegenüber der Einführung eines kantonalen Systems zu bevorzugen. Die Eigenstaatlichkeit betrachtet er dabei als einen Schritt auf dem Weg zu einem Staat beiderseits des Jordan.] {Rede über Teilung im A. C. 21.4.[19]37} R. Lichtheim, 3. Sitzung, 21.4.1937 nachmittags. Die Schwierigkeit, in dieser Debatte zu sprechen, wird wohl von uns allen ausnahmslos empfunden. Es ist eine beinahe unmoegliche Aufgabe, und ich muss es der Executive zum Vorwurf machen, dass sie uns so unvorbereitet in diese Debatte hineingetrieben hat, die gar nicht richtig gefuehrt werden kann. Wir haben Andeutungen und Ahnungen ueber Plaene gehoert, die kommen sollen und ueber die wir diskutieren sollen, mit denen wir uns polemisch auseinandersetzen muessen, {ohne genau zu wissen, um was es sich handelt.} Wir haben hier heute Vormittag eine kraeftige Auseinandersetzung zwischen Herrn Ussischkin215 und Ben-Gurion gehoert. Herr Ussischkin hat, wie schon so oft, den Stier bei den Hoernern gepackt und die ganze Frage aufgerollt, als stuende sie bereits zur Entscheidung. Stuende die Frage wirklich schon zur Entscheidung, dann koennte {wuerde} ich {vielleicht} sagen, dass Herr Ussischkin Recht hat. Die Frage steht aber noch gar nicht wirklich zur Entscheidung.216 Die Executive sagte uns vielmehr, dass man noch gar nichts 215 Menahem Mendel Ussishkin (1863–1941) war ein aus Russland stammender zionistischer Politiker. Er ließ sich 1919 in Palästina nieder und zählte zu den bekanntesten Politikern des Jischuw. Von 1922 bis zu seinem Tod war er Vorsitzender des Jüdischen Nationalfonds. 216 Ussishkin plädierte in der Sitzung dafür, mittels einer Resolution sämtliche Pläne, die zu einer Teilung Palästinas führten, abzulehnen. Ben-Gurion sprach sich wie die

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Dokument 48

genaues wisse. Das ist eine beinahe unmoegliche Situation. Trotzdem muessen wir nach dem wenigen, was wir hier gehoert haben, den Versuch machen, eine Bilanz zu ziehen, und so weit es moeglich ist, will ich also versuchen, mit einfachen Worten zu sagen, was ich in diesem Augenblicke ueber unsere Situation empfinde. Ich koennte nun in meiner Eigenschaft als Vertreter der Oppositionspartei, einer ### {freilich nur} kleinen Partei, scharfe Worte gebrauchen und sagen: Wir stehen vor dem Zusammenbruch des Systems unserer offiziellen Politik in den letzten 15 Jahren. Ich will jedoch nicht polemisch sein und nur sagen: Die Situation, in der wir uns heute befinden, bedeutet das Ende einer Epoche. Sie erinnern sich gewiss an unseren alten Streit um die Zielsetzung des Zionismus. Was war eigentlich der Unterschied zwischen den beiden Auffassungen? Wir haben damals gesagt: Um das zu erreichen, was wir doch alle wollen, – und ich sehe {heute} keinen Unterschied zwischen dem, was Sie wollen und was wir [|2|] wollen – muss man es sagen; denn sonst wird uns unser Partner nicht die Mittel gewaehren, um dieses Ziel zu erreichen. Sie haben die umgekehrte Politik verfolgt und gesagt: Wir verlangen von unseren Partnern die Mittel, {zur Erreichung des Ziels, d. h.} die grosse Einwanderung, Boden, etc. Wir haben {, aber es ist falsch von dem Endziel zu sprechen. Wir haben} hierzu gesagt: Auf diesem Wege werden Sie nicht weiterkommen; es muss der Moment eintreten, wo der Partner fragt, ob die Zielsetzung den Einsatz {von ihm geforderten Einsatz an Kraft und Hilfe} lohnt. Ich fuerchte nun heute, dass wir Recht behalten haben. Nicht als ob ich Ihnen beweisen wollte und beweisen koennte, dass, wenn wir Sie unseren Weg gegangen waeren, wir bessere Erfolge gehabt haetten. Es hat sich jedoch, wie wir vorausgesehen haben, gezeigt, dass man das grosse Ziel nur erreichen kann, wenn man {die Anwendung} entsprechende{r} Mittel anwendet {durchsetzt}. Die entsprechenden Mittel werden {konnten} uns {aber} nur gegeben {werden}, wenn man auch unser Ziel anerkannte. Heute will man das grosse Ziel nicht und sagt: Ihr habt doch bereits das National Home. Das, was wir Euch gegeben haben, war der Sinn der Balfour-Deklaration. Dass unsere Auffassung die richtige war, wird heute auch dadurch bewiesen, dass sogar Leonard Stein217

meisten Anwesenden ebenfalls gegen eine Verkleinerung des jüdischen Siedlungsgebiets aus, lehnte eine Resolution diesbezüglich jedoch ab, so lange die diskutierten Pläne keinen offiziellen Charakter hatten. Anonymus, A.-C.-Sitzung eröffnet, in: Jüdische Rundschau, 23. April 1937, 2; Anonymus, A.-C.-Sitzung in Jerusalem, in: Jüdische Rundschau, 27. April 1937, 1. 217 Leonard Stein (1887–1973) war ein britisch-jüdischer Rechtsanwalt, Autor und Politiker der Liberal Party. Von 1920 bis 1929 fungierte er als politischer Sekretär der

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Berlin: In der Opposition

geneigt war, vor der Royal Commission218 vom Judenstaat zu sprechen, der Royal Commission zu sagen, dass man uns {das Recht, Majorität zu werden, nicht verweigern kann, da man uns} doch den Judenstaat seinerzeit versprochen hat. Die Royal Commission hat darauf ihre Antwort gegeben {geantwortet, dass in der Tat Majorität den Staat bedeutet} und jetzt siztzt sie in London und „klaert“ und behauptet, dass wenn man den Juden haette die Moeglichkeit geben wollen, in Palaestina die Majoritaet zu werden, dann haette man in der Balfour-Deklaration und im Mandat vom Judenstaat sprechen koennen und nicht nur vom National Home in Palaestina. Das nenne ich das Ende eines politischen Systems. Wenn wir dem Be­ richte unserer Executive glauben sollen, dann stehen wir heute vor der Tatsache, dass die Mandatarmacht das Mandat nicht ausfuehren will, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir es verstanden haben. Ich mache nun Bilanz und sage: Die Mandatarmacht will heute das Mandat {|3|} in dem Sinne, wie es gemeint war, nicht mehr ausfuehren. Dies ist der Grund, weshalb man heute das Mandat in sein Gegenteil verkehrt. Aber nicht nur das: Wie Ben-Gurion gesagt hat, drohen uns noch ganz andere Gefahren, als die eine, von der Ussischkin gesprochen hat, die Teilung des Landes. Es droht die Gefahr, dass wenn sogar das Mandat aufrechterhalten bleibt, Einschraenkungen auf dem Gebiete der Einwanderung, des Bodenkaufs usw. kommen, dass man uns die grosse Einwanderung nach Palaestina abschneidet. Was sollen wir tun? Das Ziel des Zionismus steht unveraendert da und es kann nicht geaendert werden. Ich brauche mich gar nicht, wie Herr Dr. Schwarzbart,219 auf Kongressbeschluesse zu berufen, es gibt andere{, ältere} Dokumente, von denen schon Ben-Gurion gesprochen hat. Zionismus heisst, das historische Palaestina, das heisst Judenstaat auf beiden Seiten des Jordan mit Jerusalem als Hauptstadt. Daher brauchen wir das Ziel nicht neu zu proklamieren. Die Proklamation ist zu alt, als dass wir sie zu repetieren brauchen. Wir muessen jedoch erkennen, dass es einen Unterschied gibt zwischen unserem Programm, dem Ziel, das wir im Herzen tragen, das wir nie aufgeben koennen, und den Erfordernissen der britischen {zionistischen} Politik des Tages. Zionistischen Organisation. Von 1929 bis 1939 war er ehrenamtlicher Rechtsberater der Jewish Agency und von 1939 bis 1949 Präsident der Anglo-Jewish Association. 218 Die Peel-Kommission befragte im Rahmen ihrer Untersuchung 113 arabische und jüdische Zeugen, bevor sie eine Teilung Palästinas vorschlug. 219 Möglicherweise ist der polnische zionistische Politiker Ignacy Schwarzbart (­ 1888–1961) gemeint. Schwarzbart war 1931 federführend an der Gründung der Allgemeinen Zionisten beteiligt und schloss sich nach deren Spaltung der Gruppe B an, die sich gegen Weizmanns Politik wandte.

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Dokument 48

Wenn ich gesagt habe, dass wir vor dem Ende einer Epoche stehen, dann wende ich mich zu Ussischkin und sage ihm: wir muessen zurueck denken an die Tuerkenzeit, uns vorstellen, als lebten wir wieder unter der Herrschaft der Tuerken. Unsere Situation ist allerdings heute viel besser als zur Zeit der Tuerken, wenn wir auch das Kolonisationssystem, das wir immer gefordert haben, nicht erlangt haben. Natuerlich stuetzen wir uns auch in Zukunft auf das Mandat. Diese Politik muessen wir auch in Zukunft fortsetzen. Wir muessen jedoch damit rechnen, dass wir #{d}amit nicht durchdringen, und ich verstehe unsere Executive dahin, dass ihre Sorge in der gleichen Richtung geht. {|4|}  Ich moechte in dieser Situation ein Wort sagen, das Sie vielleicht von mir nicht erwarten werden. Wir muessen in der heutigen Situation der Executive das Leben leicht und nicht schwer machen. Das bedeutet, dass wir den Sachverhalt mit aeusserster Praezision pruefen muessen und uns durch keinerlei Gefuehl und Empfinden von der Erkenntnis abbringen lassen duerfen, was heute zu tun ist. Wir koennten es uns als Oppositionspartei leicht machen und sagen: Soll doch die Executive sehen, wie sie fertig wird. Ich wuerde hierin eine grosse Gefahr sehen. So droht naemlich die Gefahr, dass wir zwischen gewissen Loesungen, die vielleicht vorgeschlagen werden, die falsche waehlen, weil wir nicht den Mut zur Verantwortung haben, die richtige Loesung zu waehlen. Es kann sein, dass uns etwas vorgeschlagen wird, das im Widerspruche zu unserem Programm steht und trotzdem hundert Mal besser ist als eine andere Loesung, zu der man uns vielleicht zwingen wird, wenn wir nicht auf die fuer uns bessere Loesung eingehen. Daher ist es die Pflicht jedes Mitgliedes des A. C., auf gewisse Fragen klipp und klar zu antworten. Ich wiederhole jedoch, dass wir in einer {beinahe} verzweifelten {schwierigen} Situation sind, wenn es richtig ist, dass wir gar nicht wissen, was vorgeschlagen werden wird. Fuer alle Faelle aber muss man sagen, was man fuer das bessere und was man fuer das schlechtere haelt. Ich moechte nun erklaeren, und zwar ganz deutlich, dass man mit dem Kantonalsystem wesentlich schlechter faehrt als mit einer Teilung des Landes. Das Kantonalsystem bedeutet m. E. den Legislative Council220 in territorialer Beziehung {Gestalt}, bedeutet wenig Geld, weil beim Kantonalsystem die Zentralverwaltung Palaestinas auch

220 Seit 1922 versuchte die britische Regierung erfolglos einen Legislative Council (Gesetzgebenden Rat) für Palästina einzusetzen; ab 1935 wurden diese Pläne unter dem britischen Hochkommissar Arthur Wauchope (1874–1947) erneut diskutiert. Die jüdische, arabische und christliche Bevölkerung sollte jeweils entsprechend ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung im Rat vertreten sein, was mehr arabische als jüdische Mitglieder bedeutet hätte. Die Umsetzung des Plans scheiterte jedoch am Widerstand sowohl der jüdischen als auch der arabischen Seite.

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weiterhin ueber die Finanzen des Landes weiterverfuegen und ihre Schaukelpolitik weiterfuehren wuerde. Dagegen gibt es bei dem anderen System, bei einer Teilung des Landes und der Errichtung eines |5| juedischen Dominions {Staates} gewisse Vorteile. So z. B. wird die Grenzziehung bei einer Teilung des Landes gegenueber dem Kantonalsystem sicherlich bess{er} sein. Ein weiterer wirklicher Vorteil waere bei einer Teilung des Landes die eigene Finanzverwaltung. Der Judenstaat, der dann entstehen wuerde, wuerde eine Staatsanleihe auflegen koennen, und die Moeglichkeit erhalten, in einem ganz anderen Massstabe zu arbeiten als bisher. Ich komme dann {damit} zu dem staerksten Argument der Anhaenger des Planes einer Teilung des Landes. Es gibt in diesem Falle groessere kolonisatorische Moeglichkeiten als je denkbar sind bei einer Aufrechterhaltung der bisherigen Verhaeltnisse. Es ist ferner in diesem Zusammenhang zu fragen: Wo haben wir ueberhaupt Aussichten, in den naechsten Jahrzehnten zu kolonisieren? Sie werden sich sicherlich nicht einbilden, dass wir in Nablus, in Jenin und in Transjordanien in absehbarer Zeit kolonisieren koennen. {Weizmann erklaerte vor der Royal Commission, dass man am Statut Transjordaniens nichts ändern wolle.} Natuerlich gibt es auch Nachteile und Schwierigkeiten. Auf eine dieser Schwierigkeiten hat bereits Herr Ussischkin hingewiesen: Auch in einem juedischen Dominion werden etwa 300 000 Araber leben. Hierauf ist zu antworten, dass diese Schwierigkeit doch auch vorhanden bleibt, wenn wir den grossen Judenstaat fuer das ganze Land erhalten. Schliesslich noch eins: Die Bedeutung der Staatsidee als solcher, die fuer den Schoepfer des politischen Zionismus immer die treibende Kraft war, war immer von groesster moralischer Bedeutung, weil Staat Selbstverwaltung, Freiheit, etc. heisst. Sich selbst regieren und sich selbst regieren zu duerfen, ist auch ein Stueck der juedischen Selbstbefreiung, die in einem gewissen Ausmasse auch in einem kleinen Judenstaate erfuellt werden koennte. Zuletzt noch ein Argument: Ich habe das Gefuehl, dass das Angebot der Teilung des Landes und der Errichtung eines juedischen Dominions {Staates} das Maximum dessen ist, was sogar unsere Freunde uns anzubieten |6| bereit sind. Hier aber liegt der Gefahrenpunkt. Wenn wir nicht erkennen, was unsere Freunde uns anzubieten bereit sind, dann koennen wir moeglicherweise die bessere Moeglichkeit gegen die schlechtere eintauschen. Diese Verantwortung moechte ich nicht auf mich nehmen. Es bleibt noch die grosse Frage fuer uns: Jerusalem. Ich glaube, dass es niemanden gibt, der jemals Jerusalem vergessen wird. Eine andere Frage jedoch ist, was man in einem bestimmten Zeitpunkte akzeptieren kann. Wir haben uns in der Tuerkenzeit, auch ohne dass wir Jerusalem hatten, gewisse kleine Stuetzpunkte schaffen koennen. Vielleicht sind wir heute wieder zu einer Art von Tuerkenherrschaft zurueckgeworfen

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und muessen erklaeren: wir nehmen an, was wir bekommen koennen. Das hat nichts zu tun mit unserem grossen Kampfe, der auch Jerusalem zum Inhalte hat. Mir ist nichts zweifelhaft, was in der heutigen Situation fuer uns besser ist: die Fortsetzung des bisherigen Systems oder die Schaffung eines kleinen Kraftzentrums. Von dort aus ist vielleicht der Weg nach Zion, nach dem Zion, wie wir es verstehen, naeher als von einer Verewigung des heutigen Zustandes. Wir sollten in solchen Fragen politisch denken. Wir sollten auch nicht vergessen, dass auch im Altertum Palaestina nicht auf einmal erobert worden ist. Schliesslich ist ja auch das neue Italien nicht von Rom aus errichtet worden, sondern von dem kleinen Piemont her. Ich komme zum Schluss: Wir haben unser unveraendertes Programm, welches bedeutet: Der Judenstaat zu beiden Seiten des Jordan mit Jerusalem als Hauptstadt. Das ist unser grosser Rahmen. Wir werden mit England bis zum aeussersten fuer die Erfuellung des Mandates kaempfen, aber wenn wir zu einer Entscheidung gezwungen werden, dann wollen |7| wir fuer uns {fuer} das Provisorium der Teilung des Landes und der Schaffung eines juedischen Dominion {Staates} entscheiden, dann ist Staat besser als Kantonisierung. und {Das} soll unsere politische Richtlinie sein. Wenn wir auf der gebahnten Strasse zeitweise nicht weiterkommen, dass [sic] muessen wir eben andere Wege suchen, die uns vielleicht doch einmal zum Gipfel fuehren. So sehe ich die politische Linie, und diejenigen, die meine Meinung nicht teilen, frage ich: Welches sind Ihre Alternativen? Ich, der ich seit zehn Jahren zu der Partei derjenigen gehoert habe, die das Kolonisationsregime gefordert haben, ich stehe auch heute zu dieser Forderung. Wir duerfen jedoch in der heutigen Situation nicht politisch blind sein. Wir muessen uns politisch orientieren. Wenn es zu einer Entscheidung kommt, so moechte ich, dass die Exekutive den Mut hat, die richtigen Beschluesse zu fassen, und sie muss getragen sein von der Zustimmung derjenigen, die ihre Meinung teilen, aber auch von der Zustimmung {Hilfe} derer, die ihre Meinung nicht teilen. Ich glaube aber, dass heute noch keine Zeit ist, Beschluesse zu fassen, sondern nur Zeit, die Situation zu pruefen und mutig den Weg zu gehen, den in einer bestimmten Situation unser politischer Verstand uns weist. (!‫– כבוד לאחריות ציונית זו‬ )‫ (קריאה מן המקום‬221‫)רמז‬ ‪222.‫ בערב‬20:00 ‫הישיבה ננעלה בשעה‬ 221 David Remez (1886–1951) war ein zionistischer Politiker und Mitgründer der Arbeiterpartei Mapai. 222 »Remez (Ruf von seinem Platz aus) – Respekt vor dieser zionistischen Verantwortung. Die Sitzung wurde um 20 Uhr am Abend geschlossen.«

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Dokument 49 Richard Lichtheim, Jabotinsky Ohne Ort, ohne Datum [1960]223 Maschinenschriftlicher Artikelentwurf, 20  Seiten; maschinenschriftliche und handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen CZA, A56/12 [In dem persönlichen und politischen Rückblick würdigt Lichtheim Jabotinskys Einsatz für die zionistische Bewegung. Er beschreibt ausführlich Jabotinskys Bemühungen um die Gründung der Jüdischen Legion im Ersten Weltkrieg und zieht Verbindungen zwischen dem ihr zugrunde liegenden Gedanken des jüdischen Selbstschutzes und der israelischen Gegenwart. Anschließend rekapituliert Lichtheim die gemeinsame politische Arbeit mit Jabotinsky in der Exekutive der Zionistischen Organisation zu Beginn der 1920er Jahre. Daraufhin wendet er sich Jabotinsky als politische Führungspersönlichkeit zu und thematisiert den Einfluss nationalistischer und faschistischer Bewegungen auf ihn und seine Anhänger. Schließlich umreißt Lichtheim Jabotinskys Rolle für den Revisionismus und beschreibt den Bruch zwischen Jabotinsky und der Zionistischen Organisation. Dabei hebt er hervor, dass die Gründung der Neuen Zionistischen Organisation zur Isolation Jabotinskys innerhalb des Zionismus führte.] JABOTINSKY.

Von Richard Lichtheim.

Im Dezember 1914, im 5. Monat nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, landete Wladimir Jabotinsky, von Italien kommend, im Hafen von Alexandrien. Seit 4 Monaten war er bereits als Kriegskorrespondent der russischen Zeitung „Russk{i}ja Wjedomosti“224 unterwegs, um seinem Blatte über die Stimmung in Schweden, England und Frankreich und über die Lage an den verschiedenen Kriegsfronten zu berichten. Jetzt sollte er die Situation in ­Aegypten und anderen Ländern Nordafrikas studieren. Kaum in Alexandrien angekommen, erfuhr er, daß sich dort seit kurzem einige tausend jüdische Flüchtlinge aus Palästina befanden. Einige Hunderte von diesen waren auf Befehl des KaimaK{k}ams (Stat{d}tgouverneurs) von 223 Der Artikel erschien ungekürzt in hebräischer Übersetzung als Richard Lichtheim, Ze’ev Jabotinsky, in: Haaretz, 21. September 1960, 51. 224 Veraltet für Russkie vedomosti (Russische Nachrichten), eine russischsprachige liberale Tageszeitung, die von 1863 bis 1918 in Moskau erschien. 1914/1915 arbeitete Jabotinsky als Kriegskorrespondent für das Blatt.

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Jaffa in den Straßen aufgegriffen und gewaltsam auf zwei italieniw¦s¦chen Schiffen nach Aegypten deportiert worden. Die anderen hatten aus Furcht vor ähnlichen Maßnahmen freiwillig Palästina verlassen und in dem von England besetzten Aegypten Zuflucht gesucht.225 Die britischen Behörden hatten diese Flüchtlinge in Baracken untergebracht und versorgten sie mit Geld und Lebensmitteln, die jüdische Gemeinde Alexandriens tat ebenfalls ihr Bestes, um den Vertriebenen zu helfen. Unter ihnen befand sich Josef Trumpeldor,226 doch lebte dieser nicht in den Baracken, sondern hatte ein eigenes Zimmer. Er war nicht auf Unterstützung angewiesen, da der russische Konsul ihm bald nach seiner Ankunft |2| mitteilen ließ, daß er als ehemaliger russischer Offizier Anspruch auf seine Offizierspension habe, die ihm im Konsulat zur Verfügung stehe. (Bekanntlich hatte Trumpeldor, bevor er mit der Zweiten Alijah227 nach Palästina ging, den Russisch-Japanischen Krieg mitgemacht, dabei einen Arm verloren, und war für seine Tapferkeit zum Offizier befördert worden.) Jabotinsky besuchte die Flüchtlingsbaracken, nahm Fühlung mit den Leitern der Jüdischen Gemeinde und suchte dann Trumpeldor auf, den er für seinen Plan zu gewinnen hoffte. Das gelang ihm rasch in wenigen Gesprä­ chen, und mit ihm zusammen begann er nun seine Ai¦g¦itation unter den Flüchtlingen. Seine Argumente waren, daß eines Tages die Engländer von Aegypten aus gegen Palästina marsche¦i¦eren würden, daß die Türkei als Feind des Zionismus geschlagen werden müsse, und daß die Juden mit einer Kampftruppe dabei sein müßten, wenn Palästina erobert und die Türkei aufgeteilt werden würde. Das war der Kern der Legions-Idee. Sie war schon vor seiner Ankunft in Alexandrien in Jabotinskys lebhaftem Geist entstanden, als er in Bordeaux, wohin die französische Regierung geflüchtet war,228 vom Eintritt der Türkei in den Krieg erfuhr. Jabotinsky wußte, daß die Zionistische Organisation beschlossen hatte, in dem Krieg der Großmächte Neutralität zu bewahren, um ihre Anhänger 225 Siehe Kapitel 1. 226 Joseph Trumpeldor (1880–1920) war ein russischer Zionist und Militär. Gemeinsam mit Jabotinsky verfocht er während des Ersten Weltkriegs die Idee einer jüdischen Legion. Er gehörte zu den Begründern der sozialistisch orientierten zionistischen Jugendorganisation He-Ḥ aluẓ (Der Pionier), die die Einwanderung nach Palästina organisierte und vorbereitete. Er wurde 1920 während eines Feuergefechts mit Arabern in Tel Chai getötet und avancierte in der Folge zum zionistischen Nationalhelden. 227 Alija (Aufstieg) bezeichnet die Einwanderung nach Palästina. Die zweite Alija oder Einwanderungswelle fand zwischen 1904 und 1914 statt. 228 Am 3. September 1914 zog sich die französische Regierung vor den heranrückenden deutschen Truppen von Paris nach Bordeaux zurück.

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in den verschiedenen Ländern und ihre politischen Zukunftsmöglichkeiten nicht durch vorzeitige Stellungnahme für oder gegen die eine oder {die} andere Mächtegruppe zu gefährden. Auch war zu bedenken, |3| daß Palästina ein Teil der Türkei und daß diese mit Deutschland verbündet war, daߦs¦ seit Beginn des Krieges seine schützende Hand über dem Jischuv{w} hielt. Aber wichtiger als alle diese Erwägungen erschien Jabotinsky die Möglichkeit, durch aktive Teilnahme der Juden an dem Kriege gegen die Türkei dem Zionismus die Tore Palästinas zu öffnen. In Madrid trug er seinen Plan dem alten Max Nordau vor, den di die Franzosen als Deutschen ausgewiesen hatten. Nordau war skeptisch, er bezweifelte die Möglichkeit, jüdische Freiwillige für eine solche Legion zu finden, da ja die kriegstüchtigen Juden in den Armeen ihrer Heimatländer dienen mußten. Aber der Plan reifte in Jabotinsky weiter und nun, nach der Ankunft in Alexandrien, sah er plötzlich die Möglichkeit ##{de}r Verwirklichung. Hier waren einige tausend jüdische Flüchtlinge, alle voll von Haß und Erbitterung gegen die Türken, die sie aus Palästina verjagt hatten. Und hier war der russische Konsul Petrow, der von den englischen Behörden verlangte, daß sie die jungen Männer unter den Flüchtlingen, die ja meist russische Untertanen waren, nach Rußland zur Erfüllung ihrer Militärpflicht schickten. Formell war Rußland berechtigt, diese Forderung zu stellen, aber unter dem Einfluss der {die} Führer der Jüdischen Gemeinde Alex­ andriens versprachen die Engländer, daß sie diese {erhoben hier­gegen Einspruch mit dem Erfolg, dass die englischen Behörden versprachen, die} Flüchtlinge nicht gegen ihren Willen an Rußland ausliefern würden. {auszuliefern.} Das war die Situation, die Jabotinsky guter Argumente für seine Reden unter den Flüchtlingen lieferte. War es nicht besser, gemeinsam mit England gegen die Türken zu kämpfen, statt müßig in den Baracken herumzusitzen, unter |4| der ständigen Drohung des russischen Konsuls, der ihr{e} Auslieferung verlangte? Und war hier nicht eine einzigartige Gelegenheit, die zionistische Sache vorwärtszubringen, die jüdische Nation als Teilnehmer im Völkerkampfe auftreten zu lassen und so den zionistischen Traum aus den Wolken auf die Erde der Wirklichke{it} herunterzuholen? Unterstützt von Trumpeldor gelangte {es} es Jabotinsky, einige ältere Führer des Jischuv{w} und einige Hundert der jüngeren Flüchtlinge für seinen Plan zu gewinnen. Nun begannen die Verhandlungen mit den britischen Behörden, die Interesse und Sympathie bekundeten, den Legionsgedanken aber für {als} unvereinbar mit den damaligen Traditionen der britischen Armee betrachteten. Statt einer bewaffneten Kampftruppe wollten sie nur die Aufstellung einer unbewaffneten Train-Abteilung229 gestatten. Auch wollten sie nicht Jabotinskys Bedingung 229 Bezeichnung für militärisches Transportwesen.

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akzeptieren, daß die jüdische Formation ausschließlich an der Palästinafront verwendet werden dürfe. Von der Aufstellung einer Armee zur Eroberung Palästinas war damals im britischen Hauptquartier in Cairo noch nicht die Rede, dagegen wußten die obersten militärischen Stellen vermutlich schon von dem geplanten Angriff auf die Dardanellen.230 Hier trennten sich die Wege Jabotinskys und Trumpeldors. Jabotinsky blieb hartnäckig bei seinem Plan: Aufstellung einer bewaffneten jüdischen Truppe für den Kampf an der künftigen Palästina-Front. Trumpeldor dagegen war mit dem britischen Kompromiß-Vorschlag einverstanden. So wurde Trumpeldor der |5| eigentliche Führer und Organisator jenes „Maulesel-Corps“ ###, das im Frühjahr 1915 aufgestellt wurde, monatelang mit der britischen Armee an der Gal{l}ipoli-Front tätig war und nach dem Scheitern dieser Campagne im Frühjahr 1916 aufgelöst wurde. Das „Maulesel-Corps“, das den Nachschub an Munition und Proviant in die britischen Schützengräben trug, stand unter dem Befehl des zionistenfreundlichen irischen Oberst Henry Pad{tt}erson,231 und Trumpeldor war dessen Stellvertreter. Nach der Auflösung des Corps ging Trumpeldor nach England, wo inzwischen Jaobotinsky seine Legionsidee mit dem ganzen Ungestüm seines Wesens und der unbeugsamen Hartnäckigkeit seines Willens gegen Widerstände von allen Seiten durchzusetzen versuchte. Was damals in London im einzelnen geschah, kann man in Jabotinskys Buch „Die jüdische Legion“ nachlesen. Das „Maultier-Corps“ spielte dabei insofern eine Rolle, als auf diese erste jüdische Truppe als einen Präzedenz-Fall verwiesen werden konnte, und ferner, weil 120 Mann dieses Corps nach seiner Auflösung von Aegypten zur weiteren militärischen Ausbildung nach England geschickt worden waren. Unter dem {Durch den} Einfluß legionsfreundlicher Englände{r}  – insbesondere des späteren Ministers Amery232 – wurden diese 120 Mann in einer 230 Am 18. März 1915 begannen die Mächte der Entente einen Angriff auf die Meerenge der Dardanellen, um der russischen Schwarzmeer-Flotte die Ausfahrt ins Mittelmeer und alliierte Transporte nach Russland zu ermöglichen. Nachdem ein Durchbruchs­ versuch zu Wasser gescheitert war, landeten Infanteriedivisionen der Entente auf der Halbinsel Gallipoli. Die Eroberung der Meerenge scheiterte am Widerstand der osmanischen Armee und die alliierten Truppen mussten sich im Dezember 1915 zu­ rückziehen. 231 John Henry Patterson (1867–1947) war ein britischer Soldat, Ingenieur und Schriftsteller. Obwohl er Protestant war, führte er das Zion Mule Corps an. Nach der Beendigung seiner Militärkarriere tat er sich als Fürsprecher für den Zionismus hervor. 232 Leopold Stennet Amery (1873–1955) war ein britischer Journalist und Politiker der Conservative Party. Der Sohn eines britischen Vaters und einer Mutter ungarischjüdischer Herkunft war während des Ersten Weltkriegs zunächst als Geheimdienst-

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Kompanie vereinigt. Diese erste, rein jüdische Kompanie wurde zur Keimzelle der eigentlichen Legion. Aber es dauerte noch längere Zeit bis Jabotinsky, der inzwischen als gemeiner Soldat in der Nähe Londons in einer englischen Militär-Baracke lebte, mit Hilfe einflußreicher englischer |6| Journalisten und Politiker das Kriegsministerium für seinen Plan gewonnen hatte. Es war wohl ein einzigartiger Fall in der Geschichte der englischen Armee als der Kriegsminister Lord Derby233 einen gemeinen Soldaten empfing, um mit ihm über die Aufstellung einer Truppe der englischen Armee zu beraten. Endlich, am 2.  Februar 1918, marschierte das erste jüdische Bataillon durch die Straßen Londons und Whitechapels. Der offizielle Name des Bataillons und seine Abzeichen ließen zunächst nicht erkennen, daß es sich um eine jüdische Truppe handelte. Das hatten im letzten Moment einflußreiche Juden Englands verhindert {durchgesetzt erreicht}. Unter dem Namen „Royal Fuseliers“ [sic] wurde dieses erste jüdische Bataillon der englischen Armee eingegliedert – aber dennoch, es war ein jüdisches Bataillon, die Regierung, die Presse, das jüdische Publikum wußten, daß da eine jüdische Truppe marschierte, und mit ihr der Mann, der den Legionsgedanken verfochten und schließlich durchgesetzt hatte: der jetzt zum Lieutnant [sic] beförderte Jabotinsky. Einige Wochen später traf das Bataillon in Palästina ein. Im Laufe der folgenden Monate wurde es durch zwei weitere Bataillone verstärkt, die hauptsächlich aus den jüdischen Freiwilligen gebildet wa¦u¦rden, die sich inzwischen in Amerika und Palästina selbst gemeldet hatten. Unter den „Amerikanern“ befanden sich auch Ben-Zwi und Ben-Gurion, die einige Jahre vorher von dem türkischen General {Dj}Jemal Pascha aus Palästina ausgewiesen worden waren. Die „Amerikaner“ |7| und die „Palästinenser“ w mußten aber erst in Aegypten ausgebildet werden und gelangten daher erst im Jahre 1919 nach Palästina, als der Krieg schon beendet war. *** Der Historiker, der diese Episode der zionistischen Geschichte nicht nur beschreiben, sondern auch bewerten will, steht vor einer schwierigen Aufgabe: Hatte Jabotinsky Recht oder Unrecht, als er die Legionsidee verfocht? offizier auf dem Balkan eingesetzt, trat 1916 als Kabinettssekretär in die Regierung ein, wo er für Kolonialfragen zuständig war. Er war an der Formulierung der BalfourDeklaration beteiligt und unterstützte Jabotinskys Bemühungen um eine jüdische Legion. Von 1922 bis 1924 war er Marineminister, von 1924 bis 1929 Kolonialminister und von 1940 bis 1945 Minister für Indien und Burma. 233 Edward Stanley (1865–1945) war von 1916 bis 1918 der Kriegsminister Großbri­ tanniens.

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Die Hoffnungen, die Jabotinsky selbst auf die Gründung der Legion setzte, haben sich nicht erfüllt. Ihre Aufstellung kam erst so spät zustande, daß ihre militärische Mitwirkung bei der Eroberung Palästinas nicht die propagandistische und politische Wirkung haben konnte, die Jabotinsky erhofft hatte. Nur das erste Bataillon, das hauptsächlich aus den Veteranen des „Maultier-Corps“ und den jungen Leuten aus Whitechapel bestand, kam noch während des Krieges an die Front. Es erfüllte tapfer und erfolgreich die ihm zugewiesene Aufgabe beim Uebergang englischer Truppen über den Jordan, aber damals war der Süden des Landes schon erobert, General Al­ lenby234 saß schon in Jerusalem, und die Türken waren überall im Rückzug. Die beiden anderen Bataillone kamen, wie erwähnt, erst nach Kriegsende nach Palästina. Dennoch hätten diese drei Bataillone mit ihren 5000 Mann eine höchst wichtige Rolle für die Zukunft der zionistischen Sache spielen können, wenn sie längere Zeit als Besatzungstruppe im Lande geblieben wären. Jabotinsky sah das |8| voraus und kämpfte dafür, aber vergeblich. Die antizionistische englische Militärverwaltung sah es nicht gerne, daß eine so starke jüdische Truppe im Lande verblieb. Daß aber die Demobilisierung so bald und so rasch erfolg{t}e, war nicht allein die Schuld der Engländer, sondern auch die Schuld der jüdischen Soldaten selbst, die nach Beendigung des Krieges nach Hause wollten und als „Freiwillige“ diesen Anspruch geltend machen konnten. Vergeblich warnte Jabotinsky vor der kommenden Gefahr. Vergeblich beschwor er seine Kameraden, noch länger auszuharren. Wie er in seinem Buch „Die jüdische Legion“ selber erzählt: „Das Ende war, daß viele von denen, die als Letzte gekommen waren, als Erste abgingen … Ostern 1919 hatten wir 5000 Soldaten, Ostern 1920 bloß 300 bis 400, und dann kam die Katastrophe in Jerusalem.“235 Das war der Pogrom, dem der Leutnant Jabotinsky mit einer jüdischen Selbstwehr entgegenzutreten suchte, wofür ihn ein englisches Kriegsgericht zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilte.236 Zu diesen Enttäuschungen kam noch, dass die Aufstellung der Legion von Anfang an zu einem Streit zwischen Jabotinsky und der Zionistischen 234 Edmund Allenby (1861–1935) war ein britischer Militär. 1917/1918 hatte er den Oberbefehl über die britischen Truppen in Ägypten und Palästina inne. 235 Wladimir Jabotinsky, Die jüdische Legion im Weltkrieg, Berlin 1930, 230 f. 236 Am 4. und 5. April 1920 kam es in Jerusalem zu schweren Zusammenstößen zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung, die Tote und zahlreiche Verletzte forderten. Jabotinsky beteiligte sich im Zuge dessen an der Formierung einer jüdischen Selbstverteidigungstruppe. Er wurde daraufhin von den Briten festgenommen und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach dreimonatiger Haft wurde er von Hochkommissar Herbert Samuel begnadigt.

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Organisation geführte hatte, deren leitenden Instanzen sein Projekt ablehnen mußten. Und dennoch: Mit allen diesen Einschränkungen erscheint heute die jüdische Legion als Jabotinskys größte Leistung. Richtig war seine Einschätzung der Türkei, deren Auflösung er voraussah. Richtig war auch seine Erkenntnis, daß der Zionismus, der damals in der |9| politischen Welt noch kaum beachtet wurde, durch die Legionsidee dem Verständnis der Staatsmänner nähergebracht worden war. Doch waren es nicht nur solche politischen Erwägungen, die Jabotinsky dazu trieben, die Legion zu schaffen. Sein Temperament, sein Stolz und seine Kenntnis der menschlichen Natur verbanden sich zu der Forderung, daß das unterdrückte, seit Jahrhunderten verachtete Ghettovolk lernen müsse, sich zu verteidigen, wenn es angegriffen wurde, und anzugreifen, wenn es sich in dieser Welt seine nationale Freiheit erkämpfen wollte. Er wußte, daß kein Volk frei sein kann, wenn es nicht zu kämpfen versteht. und wenn nötig zu kämpfen bereit ist. Wo immer die Möglichkeit sich bot, sollten daher die Juden, wenn ### sie angegriffen wurden, sich mit der Waffe in der Hand {gegen Angriffe} wehren. Das hatte Jabotinsky schon in seiner Heimatstadt Odessa gelernt, wo es oft genug Pogrome gegeben hatte.237 Dieses Prinzip der Selbstverteidigung veranlaß{te} ihn nach der russischen Revolution zu jenem Abkommen mit Petljura, das seine Gegner ihm jahrelang vorwarfen, obwohl es nur von dem Wunsche diktiert war, den Juden die Möglichkeit zur Selbstverteidigung zu geben.238 Der Zionismus aber 237 Im 19. Jahrhundert war die Hafenstadt am Schwarzen Meer ein Zentrum des modernen jüdischen Lebens. In den Jahren 1821, 1859, 1871, 1881 und 1905 kam es dort zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Jabotinsky hatte bereits seit 1903 – vor dem Hintergrund eines in Odessa drohenden Pogroms – die Aufstellung einer jüdischen Schutztruppe propagiert. 238 1921 hatte Jabotinsky dem Repräsentanten der ukrainischen Exilregierung Symon Petliuras (1879–1926), Maksym Slavynskyi (1868–1945), die Unterstützung jüdischer Regimenter bei der Rückeroberung der von der Roten Armee besetzten Ukraine zugesichert. Jabotinsky hatte gehofft, mit einem solchen Bündnis die jüdische Bevölkerung in einer zukünftigen Ukraine unter Petliura vor antisemitischen Übergriffen schützen zu können. Für die meisten Zionisten war eine Zusammenarbeit mit Petliura dagegen undenkbar. Während des Bürgerkriegs in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg war Petliura zunächst Kriegsminister und ab 1919 Regierungschef der Ukraine. In dieser Zeit war es zu einer Pogromwelle an der jüdischen Bevölkerung gekommen, denen wahrscheinlich mehr als hunderttausend Menschen zum Opfer fielen. Ein großer Teil dieser Pogrome wurde von Soldaten unter Petliuras Befehl verübt. Petliura wurde für die antijüdische Gewalt verantwortlich erachtet und 1926 von dem jüdischen Anarchisten Sholem Schwarzbard (1886–1938) in Paris erschossen. Shindler, The Triumph of Military Zionism, 42–48. Zur Ermordung Petliuras und

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konnte nach seiner Ueberzeugung nur dann verwirklicht werden, wenn ein solcher Selbstschutz, d. h. die Aufstellung einer bewaffneten Truppe als Teil des Jischuv{w}, durchgesetzt wurde. Nur ein bewaffneter Zionismus konnte sich auf die Dauer in Palästina behaupten, und nur die Möglichkeit, Waffen zu führen, konn{te} auch die Anerkennung der Juden als Nation durch die anderen Völker herbeiführen. |10|  Diese Erkenntnisse erscheinen der heutigen Jugend Israels wahrscheinlich als Banalitäten, aber im damaligen Stadium des Zionismus galten sie als revolutionär. In der Tat haben sie sich nur langsam durchgesetzt und erst später ihre Früchte getragen. Daß Jabotinsky sie in sich trug und als erster durch die Legion zu verwirklichen suchte, ist sein geschichtliches Verdienst. So ist mit Recht dieses nur halb geglückte, militärisch wie politisch wenig erfolgreiche Unternehmen, das seinerzeit notwendigerweise Kritik hervorrief, im Laufe der Jahre zum Symbol der Judenstaats-Politik geworden. Jabotinsky war von der Richtigkeit seiner Legionsidee so durchdr¦u¦ngen, daß er mit souveräner Nichtachtung alle Bedenken zurückwies. Er fühlte, er wußte, daß er Recht hatte, auch wenn die ganze Welt gegen ihn stand. Diese Tiefe seiner Ueberzeugung gab ihm die Kraft, gegen alle Widerstände die Legionsidee durchzusetzen und in Gestalt der drei Bataillone der „Royal Fueseliers“ der Welt zu präsentieren. Aber wenn er später mit einem Gefühl des Triumphs auf den jahrelangen heroischen Kampf zurückblickte, den er von der Konzeption der Idee bis zu ihrer Verwirklichung zu führen hatte, so ahnte er nicht, daß in diesem Triumphgefühl eine Gefahr für ihn selbst, für seine politische Zukunft, ja für sein Leben war {lag}. Hybris nannten es die Griechen. |11|  Etwa zwei Jahre nach Beendigung des Krieges traf ich Jabotinsky in Berlin. Damals, im Winter 1920/21, befand sich die neue zionistische Leitung in einer schweren Krise.239 Der letzte Zionistenkongreß hatte im September dem Schwarzbard-Prozess: David Engel (Hg.), The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard 1926–1927. A Selection of Documents, Göttingen 2016. 239 Zu Beginn der 1920er Jahre kam es innerhalb der zionistischen Bewegung zu einem Macht- und Richtungskrampf zwischen amerikanischen und europäischen Zionisten. Während die amerikanischen Zionisten unter der Führung von Louis D. Brandeis und in der Exekutive vertreten durch Julius Simon (1875–1969) und Nehemia De Lieme (1882–1940) eine »praktische« Politik verfolgten, die sich ausschließlich auf die Kolonisation und den wirtschaftlichen Aufbau Palästinas konzentrierte, hielten die europäischen Zionisten um Weizmann an dem Konzept der Gegenwartsarbeit fest, das parallel zum Aufbau in Palästina auf die Sicherung einer nationaljüdischen Existenz vor allem im östlichen Europa zielte.

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1913 in Wien stattgefunden. Nach einer Unterbrechung von 7 Jahren war im Sommer 1920 die erste größere zionistische Konferenz nach London240 einberufen worden, dass jetzt, nach der Balfour-Deklaration, zum Zentrum der zionistischen Politik geworden war. Die Konferenz hatte eine provisorische Leitung gewählt, die aus Weitzmann, Sokolov{w}, Nehemia De Lieme241 und Julius Simon242 bestand. Die beiden letzteren galten als Anhänger des amerikanischen Zionistenführers Brandeis, und ihre Wahl in die neue Leitung sollte dazu dienen, zwischen Weitzmann und Brandeis, der die Konferenz verärgert verlassen hatte, eine Brücke zu schlagen. Aber nach wenigen Monaten entstanden Konflikte, die zum Rücktritt Simons und De Liemes führten, sodaß Weitzmann nunmehr allein mit Sokolov{w} zurückblieb.243 In dieser Situation sah Weitzmann sich nach neuen Männern um, die er in die Leitung aufnehmen konnte, und Jabotinsky war der erste, den er heranzog. Weitzmann hatte stets mit Jabotinskys Legionsidee sympathisiert, wenngleich er als Mitglied des Großen Aktionskomitees abgelehnt hatte, öffentlich dafür einzutreten. Aber er wußte, daß der Gründer der Legion in weiten Kreisen populär war, und zugleich repräsentierte Jabotinsky das russische Judentum und den {russischen} Zionismus. So wurde Jabotinsky neben Weitzmann die wichtigste Figur in der neuen Leitung in London und beeinflußte Weitzmann bei der Auswahl der anderen Mitglieder. Josef

240 Im Juli 1920 fand in London die erste zionistische Jahreskonferenz nach dem Krieg statt, die vor 1914 jährlich zwischen den Kongressen stattgefunden hatte. Hier wurde u. a. Weizmann zum Vorsitzenden der Zionistischen Organisation gewählt und beschlossen, den Sitz der Organisation von Berlin nach London zu verlegen. Otto ­Warburg, Arthur Hantke und Victor Jacobson, die während des Kriegs das EAC-Büro in Berlin geleitet hatten, schieden aus der Exekutive aus. 241 Nehemia De Lieme (1882–1940) war ein niederländischer Bankier und zionistischer Politiker. Von 1912 bis 1918 war er Vorsitzender des Nederlandsche Zionistenbond und seit 1919 Direktor des Jüdischen Nationalfonds. 1920 wurde er in die Zionistische Exekutive gewählt. Ähnlich wie Brandeis vertrat er den Standpunkt, dass der Zionismus nach der Balfour-Deklaration sein politisches Ziel verwirklicht habe und nun die ökonomische Entwicklung Palästinas im Zentrum stehen müsse. 242 Julius Simon (1875–1969) war ein deutsch-amerikanischer Bankier und zionistischer Politiker. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er im Zionistischen Zentralbüro in London an Plänen für ein ökonomisches Aufbauprogramm für Palästina, identifizierte sich mit den Zielen der amerikanischen Zionisten um Brandeis und wurde 1920 in die Zionistische Exekutive gewählt. 243 Aus Protest gegen die Linie Weizmann traten Simon und De Lieme 1921 aus der Exekutive aus.

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Cowen,244 ein alter Zionist aus der Zeit Herzl{s} |12| war ebenfalls ein Freund der Legion gewesen, und dieser Umstand spielte sicherlich eine Rolle, als er in die neue Leitung berufen wurde. Im Februar 1921 erhielt ich ein Telegramm Weitzmanns, das mich einlud nach London zu kommen, wo auch mir der Eintritt in die neue „provisorische Exekutive“ vorgeschlagen wurde. Ich nahm an und übernahm die Direktion des Büros und die Leitung des Organisations-Departments. Daß Jabotinsky sich für meine Zuwahl in die neue Leitung eingesetzt hatte, war das Ergebnis jener Besprechungen, die ich mit ihm einige Monate vorher in Berlin gehabt hatte. Währe{nd} des Krieges hatten wir uns in gegnerischen Lagern befunden: er als Verfechter der Legionsidee auf der Seite Englands und seiner Verbündeten; ich als Gegener des Legionsprojekt{s} in Konstantinopel, ständig bemüht, den Jischuv{w} in Palästina zu schützen, und zu diesem Zweck in dauernder Fühlung mit der deutschen Botschaft. Aber sobald wir uns nach dem Kriege in Berlin getroffen und ausge­ sprochen hatten, war zwischen uns ein Freundschafts- und Vertrauensverhältnis entstanden, das sich zehn Jahre lang trotz mancher Meinungsverschiedenheiten bewährte, ja, von Jahr zu Jahr mehr festigte. In den großen Linien der zionistischen Politik waren wir fast immer der gleichen Meinung. Wir waren beide „politische“ Zionisten in dem Sinne, daß wir einen jüdischen Staat in Palästina wollten, und uns gegen Tendenzen im Zionismus widersetzten, die den Judenstaats-Zionismus abzuschwächen suchten. Wir wollten ein klares zionistisches Programm und eine starke zionistische Organisation, weshalb wir auch Gegner der von Weitzman{n} gewünschten „Erweiterung der Jewish Agency“ waren. |13| Darüber hinaus verbanden uns persönliche Sympa{t}hien, die unsere kameradschaftliche Zusammenarbeit erleichterten. Es war für mich stets eine Freude, in jenen Jahren mit Jabotinsky zusammenzusein – erst in London, später, als wir beide die Exekutive verlassen hatten,245 in meinem Hause in Berlin, oder auf zionistischen Tagungen. Damals war Jabotinsky heiter und gesprächig, im Privatverkehr völlig gelöst und unbefangen und ein amüsanter Gesellschafter. Gegenüber Frauen war er stets von einer geradezu altmodischen Höflichkeit und Rücksichtnahme  – vor allem auch gegenüber seiner eigenen 244 Joseph Cowen (1868–1932) war ein britischer Zionist. 1899 begründete er die British Zionist Federation. Von 1921 bis 1927 war er Mitglied der Exekutive der Zionistischen Organisation. 245 Aus Protest gegen die von Weizmann verfolgten Pläne einer Erweiterung der Jewish Agency war Jabotinsky bereits im Januar 1923 aus der Exekutive ausgetreten. Lichtheim stellte sich auf dem 13. Zionistenkongress im August 1923 in Karlsbad aus denselben Gründen nicht zur Wiederwahl.

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Frau. In meinem Besitz sind noch Briefe an meine Frau in französischer Sprache, in denen er ihr die liebenswürdigsten Dinge über sie selbst und ihren Mann sagte. Ein Kavalier, ein Ritter der alten Schule, auch das war etwas, was Jabotinsky zu einer so anziehenden Figur machte. Manche haben an ihm kritisiert, daß er in seinem öffentlichen Auftreten etwas Theatralisches hatte. Daran ist etwas Richtiges. Er liebte die dramatischen Effekte und überlegte sorgfältig die Pointen seiner Reden. Er suchte durch bestimmte Posen und Bewegungen, Eindruck zu machen, und auch die Modulation seiner Stimme wie die Pausen in seinen Reden waren auf diese schauspielerische Wirkung abgestellt. Aber das alles geschah nicht aus Eitelkeit, nicht um persönlich zu gefallen. Jabotinsky wollte wirken, er wollte die Menge von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugen. Aber er verachtete die Demagogie, er benutzte nie den Trick schlechter Volkstribunen, durch den Appell an |14| Leidenschaften oder gar an die niedrigen Instinkte des Pöbels seine Hörer mitzureißen. Seine Reden, die er in 6 oder 7 Sprachen zu halten wußte, waren stets Musterbeispiele eines klar aufgebauten Gedankenganges, sachlicher und streng logischer Argumentation. Deshalb vermochte er auch, kritische Hörer stundenlang zu fesseln. Aber zugleich wußte er, daß gute Argumente allein nicht ausreichen, um die schwankende, in ihrem Urteil stets unsichere Menge zu gewinnen. Er wußte, daß eine große Wirkung nur von denen ausgeht, die den Stempel der Persönlichkeit tragen, die die Aura des Führers um sich haben. Damals gab es noch keinen Hitler, und das „Führerprinzip“ war noch nicht so anrüchig, wie es durch Hitler geworden ist. Aber es gab damals schon Pilsudski und Mussolini, und es mag wohl sein, daß deren Auftreten und Wirkung in den zwanziger Jahren einen Einfluß auf Jabotinsky gehabt hat [sic]. Manche schlechten Seiten {Eigenschaften} dieses Führertums der beiden ersten Faschisten haben später auf Jabotinsky und vor allem auf seine Gefolgschaft abgefärbt. Aber die Gefahren, die in jedem Führertum liegen – vor allem die Versuchung des Führers, zum Diktator zu werden  – dürfen uns nicht gegen die E#{r}kenntnis verschließen, daß es echte Führernaturen im Laufe der Geschichte immer gegeben hat, und daß die Völker solche Exponenten ihrer Ziele brauchen. Jabotinsky gehörte von Natur zu jenen faszinierenden Persönlichkeiten, die zur Führerrolle bestimmt sind. Das hatte er schon bewiesen, als er die Legionsidee verwirklichte, und wie jeder andere Führer hatte er im Laufe der Jahre gelernt, die Wirkung seiner Persönlichkeit auf |15| andere Menschen zu steigern. Wie ein expressionistischer Künstler formte er {aus} seinen eigenen Zügen ein charakteristisches Bild, mit dem er der Menge gegenübertrat. Das ist

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das Bild, nach dem die Menge dann schliesslich selbst verlangt, um sich von ihm führen zu lassen. So wird der Führer zum Idol, und die Menge unterwirft sich seinem Willen. So geschah es auch mit Jabotinsky. Da er führen wollte, hatte er ständig dieses Spiegelbild seiner eigenen Persönlichkeit vor Augen, mit dem er Menschen zu fesseln und Massen fortzureißen verstand. Hierin liegt [sic] Usprung und Erklärung dessen, was man an Jabotinsky als schauspielerisch oder theatralisch empfand. Jeder Führer schauspielert, aber der echte Führer ist der Schauspiele{r} seiner selbst. *** In dem Jahrzehnt von 1920 bis 1930 wurde Jabotinsky zur zentralen Figur des Zionismus, und zwar als Gründer einer Oppositionspartei gegen die Politik Weitzmanns. Es ist nicht möglich, im Rahmen eines Zeitungsartikels die Kämpfe einer {jener} Zeit zu beschreiben, die Argumente abzuwägen, die für oder gegen Weitzmanns Politik vorgebracht wurden. Soviel nur sei gesagt, daß dieses Jahrzehnt große Enttäuschungen für alle brachte, die in der Balfour-Deklaration die Garantie für die Erfüllung der t{z}ionistischen Hoffnungen gesehen hatten. Unter den Enttäuschten war auch Weitzmann selbst, aber er verbarg diese Enttäuschung und wurde allmählich in eine Vermittlerrolle zwischen England und dem Zionismus gedrängt, |16| die Mißtrauen und Kritik hervorrief. Dem „System Weitzmann“ setzte Jabotinsky den Plan einer neuen Politik und einer neuen Leitung entgegen, die naturgemäß von ihm geführt werden sollte. So entstand die „Union der Zionisten-Revisionisten“, der ich mich im Jahre 1925 anschloß.246 Die politische Linie Jabotinskys war keineswegs anti-englisch. Was er forderte, war eine klare Definierung des zionistischen Endziels: ein jüdischer Staat zu beiden Seiten des Jordan. (Damals war Transjordanien noch ein Teil des britischen Mandats-Gebiets.) Zur Durchsetzung dieses Programms wollte er England für ein „Kolonisationsregime“ gewinnen, d. h. für unzweideutige Unterstützung des Zionismus einschließlich der Schaffung einer jüdischen Gendarmerie. Die ständigen Kompromisse, die Versuche von englischer Seite, den Sinn des Mandats zu entstellen, die Versuche von zionistischer Seite, das Ziel des Zionismus durch einen Nebel unklarer Definitionen und Verleugnungen der Judenstaatsidee zu verhüllen, sollten aufhören. Die ursprünglich kleine Oppositionspartei des Revisionismus wuchs von Jahr zu Jahr. Auf dem Kongreß von 1929 entsandte sie drei Vertreter in das Große Aktionskomitee, auf dem Kongreß von 1931 bereits zehn Vertreter. 246 Lichtheim schloss sich erst Ende Dezember 1926 offiziell der Union der ZionistenRevisionisten an. Lichtheim, Der Revisionismus und seine Kritiker, 731 f.

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Aber schon damals hatte Jabotinsky begonnen, die Trennung der Revisionisten von der Zionistischen Organisation zu erwägen, und hatte sich deshalb nicht selber in das Aktionskomitee wählen lassen. Das führte in den folgenden zwei Jahren zum Bruch zwischen Jabotinsky und seinen engsten Mitarbeitern, die aus der revisionistischen Leitung und Partei austraten. |17| Jabotinsky proklamierte die „Neue Zionistische Organisation“. Als äußerste Konzession erlaubte er seinen Anhängern noch, unter dem Namen „Revisionisten“ an den Wahlen zum nächsten Kongreß von 1933 teilzunehmen, aber dort sank die Zahl ihrer Vertreter bereits auf 12 %, während sie auf dem Kongress von 1931 schon 20 % des Kongresses gebildet hatten. Von da an nahmen sie überhaupt nicht mehr an den Kongreßwahlen teil. Es ist meine Ueberzeugung, daß die Kritik, die der Revisionismus in den Jahren zwischen 1925 und 1931 an der Politik Weitzmanns übte, im Wesentlichen richtig war, und daß die revisionistische Union sich auf dem besten Wege befand, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Noch einige Jahre des Kampfes, und Jabotinsky wäre wahrscheinlich an die Spitze der Bewegung gelangt. Aber er wollte nicht warten. Schon als er auf dem Kongreß von 1931 mit dramatischer Gebärde seine Delegiertenkarte zerriß, war sein Kampf um die Führung des Zionismus zu Ende, und damit seine eigene Zukunft entschieden. *** Es ist merkwürdig, daß ein so ungewöhnlich klarer Kopf und weitschauender Politiker wie Jabotinsky nicht einsehen wollte, daß sein Ausscheiden aus der Zionistischen Organisation ihn zu einem politischen Schattendasein verurteilte, ihm jede Wirkungsmöglichkeit raub¦t¦e. Hier kamen Elemente seines Wesens zum Vorschein, die er nicht zu zähmen und zu disziplinieren verstand. Er vertrug es nicht, in der Minorität zu sein. Er wollte nicht die üblichen Wege einer parlamentarischen Opposition gehen. Seine Ungeduld, sein Temperament verlangten, die Festung |18| sofort im Sturm zu nehmen. Aber welche Festung? Die von Herzl im Jahre 1897 gegründete, nunmehr im britischen Palästinamandat offiziell anerkannte Zionistische Organisation war durch die Traditio{n} geheiligte Repräsentanz des Zionismus. Die Proklamierung einer Konkurrenzorganisation war so aussichtslos, als wenn eine Anzahl unzufriedener Katholiken einen neuen Vatikan und einen neuen Papst proklamiert {hätten}. Es war und ist unbegreiflich, daß Jabotinsky dies nicht einsah. Von nun an war er ein einflußloser Outsider. Seine Tätigkeit erschöpfte sich in den engen Konventikeln seiner Anhänger, während die meisten seiner älteren Freunde und Kampfgefährten ihn verlassen hatten. Bei Jabotinsky blieb der zahlenmäßig größere, aber an Persönlichkeiten ärmere Teil der ehemaligen revisionistischen Union, und vor allem jene jungen Leute, die mit braunen Uniformen bekleidet, Jabotinsky mehr und mehr in die Rolle

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eines jüdischen Pilsudski zu drängen suchten.247 Aber es war ein Pilsudski ohne Land, ohne Armee und des einzigen Podiums beraubt, von dem aus im damaligen Stadium zionistische Politik gemacht werden konnte: der Tribüne des Zionistenkongresses. *** War das Jahrzehnt von 1920 bis 1930 die Zeit seines politischen Aufstiegs gewesen, so wurde das folgende Jahrzehnt die Zeit seines Niedergangs. Die Proklamierung der „Neuen Zionistischen Organisation“248 bedeutete nicht die Neubelebung, sondern die Liquidierung des Revisionismus, und zugleich die Verwandlung Jabotinskys in eine tragische Gestalt. Er zerriß und verblutete sich an der unmöglichen Aufgabe, die er sich gesetzt hatte. |19| War er denn nicht der Führer? Was war dieser Kongreß, der sich ihm nicht sogleich fügen wollte? War er nicht der Mann, der im Alter von 35 Jahren gegen den Widerstand der Zionistischen Organisation die Jüdische Legion geschafften hatte? Damals hatte er Recht behalten – er, der einsame Kämpfer. Was damals gelungen war, warum sollte es nicht wieder gelingen? In der Erinnerung an seine größte Tat versuchte Jabotinsky nunmehr, das Unmögliche zu erzwingen: Die Zionistische Organisation aus den Angeln zu heben, sie durch ein Gebilde zu ersetzen, das er „Neue Zionistische Organisation“ nannte, und mit dieser als gehorsamer Gefolgschaft die Führung an sich zu reißen. Die Unmöglichkeit dieses Beginnens wurde sein Verhängnis. Sie verbrauchte, verbitterte, zermürbte ihn vorzeitig. Immer häufiger versank der ehemals so feurig-heitere Kämpfer in trübe Stimmungen und Ahnungen kommenden Unheils. Ich sah ihn zum letzten Male in London im Jahre 1939, kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges. Es war ein schwermütiger, enttäuschter Jabotinsky, mit dem ich nochmals die alten Themen früherer Diskussionen aufnahm. Bald darauf ging Jabotinsky nach Amerika, um dort weiter für seine „Neue Zionistische Organisation“ zu werben. Von seinem Dämon getrieben, raffte er sich mit eiserner Energie zu immer erneuter Anstrengung 247 Gemeint ist die revisionistische Jugendbewegung Betar, deren Mitglieder braune Hemden trugen. 248 Nachdem es Jabotinsky nicht gelungen war, seine Forderungen innerhalb der Zionistischen Organisation durchzusetzen, gründete er 1935 in Wien die Neue Zionistische Organisation. Die von der Zionistischen Organisation unabhängige Körperschaft forderte den Aufbau eines jüdischen Staats beiderseits des Jordan, eine großangelegte jüdische Einwanderung nach Palästina und die Aufstellung jüdischer Verteidigungskräfte. Auch die Neue Zionistische Organisation brachte Jabotinsky nicht den erhofften politischen Erfolg. 1946, sechs Jahre nach seinem Tod, traten die Revisionisten wieder in die Zionistische Organisation ein.

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auf – und so ereilte ihn der Tod. Er war erst ### 60 Jahre alt, als er starb, dieser einst so robuste, kräftige Mann, dem ein langes Leben vergönnt schien.249 Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Vieles ist vergessen, manches durch Legendenbildung entstellt. |20| Die Jugend Israels hat von ihm gehört, aber sie weiß wenig von ihm. Für uns aber, die ihn wirklich kannten, bleibt die Erinnerung an Jabotinsky, die Erinnerung an einen reinen und edlen Menschen, an den interessantesten und liebenswertesten Zionisten seiner Epoche, #{u}nd zugleich an den unbeirrbaren Verfechter der Idee, daß das jüdische Volks Waffen tragen müsse, um sein Leben zu verteidigen und seinen Staat zu gewinnen. Jabotinskys Saat ist aufgegangen, sein Volk hat schliesslich getan, was Jabotinsky gewollt hat. Dafür ist ihm sein Volk und der Staat Israel zu dauerndem Danke verpflichtet. {hat einen Irrweg betreten, als er die Zionistische Organisation verliess. Aber die Saat seiner Ideen ist aufgegangen, sein Volk hat getan, was Jabotinsky gewollt hat. Dafür ist Darum gilt der Schöpfer Gründer der Jüdischen im Bewusstsein des Volkes mit Recht als einer der Gründer des Staates Israel die Saat seiner Gedanken ist aufgegangen, sein Volk hat schliesslich getan, was Jabotinsky mit der ganzen Inbrunst seines Herzens ersehnte. Darum betrachtet das Volk mit Recht den Schöpfer der Jüdischen Legion als einen der Gründer des Staates Israel.}

249 Jabotinsky starb im August 1940 während eines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten an einem Herzinfarkt.

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3. Genf: Diplomatie während des Holocaust

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Dokument 50 Richard Lichtheim an Joseph Linton1 Genf, 12. Oktober 19392 Maschinenschriftlicher Brief (Abschrift), 4  Seiten; maschinenschriftliche Korrekturen; handschriftliche Paraphe oben mittig auf Seite  1 (unleserlich); veraltete handschriftliche Archivsignatur unten links auf Seite 1 (»S46/275«) CZA, S46/360 [Lichtheim berichtet von ersten Schritten bei der Organisation seines neuen Büros in Genf und der Emigration von 2900 Juden mit Einwanderungszertifikaten für Palästina aus dem deutschen Herrschaftsbereich. Zudem ist er mit der Verwaltung und dem Transfer von Geldern jüdischer Organisationen befasst. Darüber hinaus gibt er eine Einschätzung zur Lage der Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten. Er berichtet von der Inhaftierung staatenloser Juden in Konzentrationslagern und der systematischen Beraubung von Juden in Deutschland und Österreich. Außerdem erwähnt er Kriegsverbrechen gegen polnische Juden und befürchtet einen Völkermord.] COPY OF A LETTER

From: R. Lichtheim, Geneva, To: J. Linton, London, Dated: October 12th, 1939. Dear Linton, I. Information Service I have received your telegram of October 11th to which I replied as per copy attached. I was somewhat surprised to learn from your cable that you were expecting reports from me. I have not heard a single word from you or the 1 Joseph Linton (1900–1982) war ein zionistischer Funktionär und Diplomat. 1919 begann er für die Zionistische Organisation in London zu arbeiten und war bald für die Exekutive der Jewish Agency in verschiedenen Funktionen tätig. Ab 1935 war er für Finanz- und Organisationsfragen zuständig und ab 1940 wirkte er als politischer Sekretär. 2 Das Dokument wurde bereits unkommentiert als Faksimile abgedruckt in: Friedlander / Milton (Hg.), Archives of the Holocaust. Bd. 4: Central Zionist Archives, 1–4. Unvollständig transkribiert und ohne Paginierung findet es sich auch in: Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 69–74.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Jerusalem Executive with regard to my activities here. The only thing I know is that a plan exists to establish some sort of Organisation Department for the continental countries. When Goldmann3 came back from Paris and London ten days ago, he informed me that such a plan had been decided upon and that I shall take charge of this department. This was the first thing I heard about it. At the same time Goldmann was of the opinion – and I think he is absolutely right – that no steps should be taken which would involve any expenditure, before the necessary budget has been agreed upon and some appropriate amount forwarded to cover the necessary expenses. You will easily understand that I cannot inform the various Zionist Organisations that such an office is in existence in Geneva, as long as I am not in a position to rent a room, to engage a typist or to spend the smallest amount for stationary or stamps. It is for these reasons – lack of information from you and lack of funds – that I was unable to establish the office and inform the countries concerned. II. Liquidation of Congress Office.4 In spite of this, I can assure you that we have not been idle during the last three or four weeks. In my above-mentioned telegram I have asked you, if you received copy of my letter to Kaplan5 dated Sept. 27th.6 I[n] that letter I told him that I was liquidating the Congress Office (not a very pleasant heritage) but that he must send me a few hundred pounds, because there are debts left which must be settled. Meanwhile, we received some money from him, 3

4

5 6

Der zionistische Politiker Nahum Goldmann (1895–1982) vertrat von 1935 bis 1940 die Jewish Agency beim Völkerbund in Genf. 1936 rief er gemeinsam mit Stephen S. Wise (1874–1949) den World Jewish Congress ins Leben, dessen Genfer Büro er bis zu seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten im Sommer 1940 leitete. Das Kongress-Büro besorgte die Organisation und Vorbereitung des 21. Zionistenkongresses, der vom 16. bis 25. August 1939 in Genf stattfand. Der Kongress stand bereits ganz im Zeichen des sich abzeichnenden Kriegs. Er wurde schließlich aufgrund der drohenden Kriegsgefahr frühzeitig abgebrochen, um den Teilnehmenden die Heimreise ermöglichen zu können. Die Protokolle des Kongresses von 1939 sind die einzigen der vor dem Zweiten Weltkieg stattfindenden Kongresse, die nicht in publizierter Form vorliegen. In der National Library of Israel existiert ein Findbuch für die in den Central Zionist Archives aufbewahrten Kongressakten (CZA, LK10/18). Naomi Niv, List of Files of the Offices of the 21st Zionist Congress (Geneva) 1939, Jerusalem 2009. Eliezer Kaplan (1891–1952) stand von 1933 bis 1948 der Finanzabteilung der Jewish Agency in Jerusalem vor. CZA, L22/106, Richard Lichtheim an Eliezer Kaplan, 27. September 1939.

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but not enough. We still owe 3000 Francs to the Post Office for “Palcor”7 telephone service, which Palcor forgot to pay and which Mechner8 forgot to mention in his accounts before leaving Geneva. III. Transport of Immigrants9 Leaving these small matters aside, I must tell you that we have an enormous amount of work to do in connection with immigration to Palestine. It was a godsend that Barlas10 remained here and, as already stated in my letter to Kaplan, a¦i¦t will be mainly due to him, if we shall enable the immigration of the 2900 certificate holders. You know all about it, so I need not go into the details. We also had to deal with the transport of several hundred people from Switzerland and are still busy with that matter. Here Dr. Scheps11 (from the Pal. Office, Basle) and Dr. Ullmann12 are very helpful. 7 Die Palestine Correspondence Agency (Palcor) war die Nachrichtenagentur der Jew­ ish Agency. 8 Der in Palästina ansässige Mitarbeiter des Keren Kayemeth LeIsrael, Ernst Mechner (1895–1956), hatte 1939 das Kongressbüro geleitet. 9 Nach Kriegsbeginn untersagte die britische Regierung die Einreise nach Palästina für Personen aus feindlichen Staaten. Daher bemühten sich zionistische Stellen darum, zumindest den 2900 Juden aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren, die vor September 1939 in den Besitz eines Einwanderungszertifikats für Palästina gelangt waren, die Auswanderung in das Mandatsgebiert zu ermöglichen. Die an verschiedenen Stellen mit den britischen Autoritäten geführten Verhandlungen verliefen letztlich erfolgreich. 10 Chaim Barlas (1898–1982) war von Herbst 1939 bis Sommer 1940 im Auftrag der Jew­ish Agency in Genf tätig und maßgeblich an den Verhandlungen mit der britischen Regierung über die Einreise von Inhabern von Einwanderungszertifikaten nach Palästina beteiligt. Im Sommer 1940 reiste er infolge des drohenden Kriegs aus der Schweiz aus und fungierte ab August 1940 als offizieller Vertreter der Jewish Agency in Istanbul, wo er auch dem dortigen Rescue Committee vorstand. 11 Samuel Scheps (1904–1999) leitete von 1937 bis 1946 das Schweizer Palästina-Amt, das kurz nach Kriegsbeginn von Basel nach Genf verlegt wurde. 12 Fritz Ullmann (1902–1972) war Lichtheims engster Mitarbeiter in Genf. Er stammte aus der böhmischen Gemeinde Luck bei Karlovy Vary (Karlsbad) und war in Genf hauptsächlich für die Belange der tschechoslowakischen Juden zuständig. Er hielt unter anderem engen Kontakt mit Jaromír Kopecký (1899–1977), dem Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung in Genf. Sein umfangreicher Nachlass befindet sich in den CZA (A320). Siehe beispielhaft zu seinen Aktivitäten in Genf CZA, A320/544, Fritz Ullmann, Sechs Jahre Genf, Vortrag gehalten auf einer Veranstaltung der Hitachduth Olei Czechoslovakia (Vereinigung der Einwanderer aus der Tschechoslowakei) am 28. April 1946 in Jerusalem.

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Barlas left yesterday for Rome where he will meet the immigration officials of the Palestine government. We hope to be able to arrange for the first transport of some five hundred immigrants from Trieste, but at the time of writing the financial side of the question is not yet quite settled, in spite |2| of Barlas’ desperate efforts to this effect. As you know, we have to pay 30 000 $ for each boat. I hope that this matter, which is being dealt with daily by cable and phone, will have been settled when this letter reaches you, at least with regard to the first boat which is supposed to sail from Trieste on the 17th. There are also some minor questions we had to deal with during those last weeks. Some 45 people, visitors to the Congress, remained here, most of the[m] without means of subsistence or unable to return to their countries (Poland, Slovakia etc.). We had rather lengthy and sometimes unpleasant discussions with the Swiss Jewish community to get the necessary financial help for these people. Some of them have lft [sic], meanwhile, with our help or that of the Jewish community, for Palestine or other countries. But there is still a group of about twentyfive who practically rely on us. IV. Transfer of Monies. All our activities – mine, Barlas’, Ulmans [sic] and that of the Swiss Palestine Office which has been transferred here from Basle, are concentrated in the former Congress Office, 10  Rue Petitot, while all the other premises have been liquidated (which also gave me some work to do). Apart from the immigration business which is of course the most important one and apart from the minor matters mentioned above, there is also a very important problem which I am trying to solve in collaboration with Dr. Weiss13 of Tel-Aviv who has been entrusted by the Jewish National Fund to supervise from here the activities of the National Fund Committies [sic] and to deal with all financial matters, transfer etc. of the National Fund. There are big amounts belonging to the National Fund and also to the Keren Hayesod in Rumania, Yugoslavia, the former Czechoslovakia etc. We are trying to make the best use of these funds and have just asked by cable for the authorisation of the Head Offices of both funds in Jerusalem to negotiate transfer arrangements, if possible. We are

13 Joseph Weiss (auch Josef Weiss, 1901–nach 1977) war ein deutsch-jüdischer Jurist und zionistischer Funktionär. Von 1934 bis 1938 leitete er den Jüdischen Nationalfonds in Deutschland. 1938 wurde er verhaftet und kurzzeitig im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Von 1939 bis 1941 war er leitender Mitarbeiter des Jüdischen Nationalfonds für Europa in Genf. Er reise im Frühjahr 1941 über Lissabon nach Palästina.

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expecting the visit of Mr. Troper14, the Joint15 director, now in Amsterdam, and we hope that some practical result will come from this visit both in regard to our immigration schemes and to the solution of the transfer problem mentioned. You will excuse my way of writing. I feel it is rather sketchy, but I am in a hurry and you will at least gather from this letter what we are doing here. V. Information Service With regard to the definite establishment of a proper organisation department, which should be in regular contact with all our Zionist groups in European countries, I expect definite proposals and the necessary funds. VI. Jewish Position in Countries under German Domination Now, I want to give you some general information with regard to the Jewish position in various countries. There is one great advantage here of which we are making use: it is possible to telephone from here to Berlin, Vienna, Prague, Beograd, Trieste and other places. It is, of course, not possible to telephone from here to the occupied territories in Poland. The news coming from Germany and all the territories under German rule or occupation are most distressing. In Poland many Jews have been killed by the German troups [sic]. I need not give you a detailed description of the horrors connected with the invasion of Poland by the Germans and the treatment meted out especially to the Jewish population. I am afraid we shall have to face the fact that under German rule 2 000 000 Jews will be annihilated in not less a cruel way, perhaps even more cruel, than 1 000 000 Armenians have been destroyed by the Turks during the last war. We just received reports from Germany with regard to the treatment of the Polish or stateless Jews in Germany herself, that is to say, Berlin, Vienna etc. All these Polish or formerly [Polish] |3| Jews have been sent to the con14 Morris C. Troper (1892–1962) leitete von 1938 bis 1942 die europäische Vertretung der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JDC. Im Juni 1940 verlagerte er das Hauptbüro des JDC von Paris nach Lissabon. Tropers Nachfolger als europäischer Direktor wurde Joseph J. Schwartz (1899–1975), der von Lissabon aus die Hilfsaktionen koordinierte. 15 Auch während des Zweiten Weltkriegs suchte der 1914 gegründete JDC (siehe Dokument 16) die wirtschaftliche Not der Judenheiten Europas zu lindern und unterstützte jüdische Einrichtungen bei der Versorgung der Bevölkerung. Dazu wurden Geld und Nahrungsmittel nach Polen und in andere von der Wehrmacht besetzte Gebiete gesandt. Yehuda Bauer, American Jewry and the Holocaust. The American Jewish Joint Distribution Committee, Jerusalem 1981.

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centration camp of Sachsenhausen16 and are subjected to the most terrible treatment. The number of the Polish Jews concentrated there is something like 5000. In addition, there are several thousand stateless Jews. During the first ten days of their internment there were already thirty dead.17 Most disquieting is the information just received from Vienna. It stated that the Germans have decided to send to Poland a great part of the Vienna Jewish population. It is feared that our Chaluzim are also included in the groups, which are to be evacuated to Poland. There are some 800 of our young people near Vienna being trained for agricultural work. A desperate effort is being made by our friends to save at least a few hundred of them, but I do not know if we shall succeed. The first transport of 1200 people from Vienna to Poland will leave already this week. What kind of destiny will expect them in Poland is not yet known. It may be some sort of hard labour in concentration camps or something of that kind. Therefore, all efforts should be concentrated now to provide the necessary funds to make immigration possible fort at least those who can go somewhere. This is why we are so terribly anxious to get our 2900 ceritificate holders out of the German countries. They at least may 16 Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde 1936 in der Nähe der brandenburgischen Stadt Oranienburg bei Berlin auf Befehl Heinrich Himmlers (1900–1945) errichtet und zunächst für die Inhaftierung von politischen Gegnern genutzt. Schon bald wurden hier zunehmend auch Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, sogenannte Asoziale und Zeugen Jehovas interniert. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden auch Angehörige der von Deutschland besetzten Staaten Europas dorthin verschleppt. Zwischen 1936 und 1945 waren im KZ  Sachsenhausen mehr als 200 000 Menschen inhaftiert. Wolfgang Benz /Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006. Günter Morsch, Sachsenhausen. Das »Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt«. Gründung und Ausbau, Berlin 2014. 17 Am 8.  September 1939 befahl Reinhard Heydrich (1904–1942), Chef der Sicherheitspolizei und des SD, alle männlichen Juden polnischer Staatsangehörigkeit über 16 Jahren sowie alle Juden, die einmal im Besitz der polnischen Staatsangehörigkeit gewesen waren, zu registrieren. Ab Mitte September wurden daraufhin mehrere Tausend Personen verhaftet und in den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen interniert. In Sachsenhausen wurden die Internierten zunächst im sogenannten Kleinen Lager isoliert und in völlig überfüllten Baracken ohne Einrichtung untergebracht. Sie mussten auf Strohsäcken schlafen, wurden nur unzureichend mit Lebensmitteln und Wasser versorgt und durften nicht in Kontakt mit ihren Familien treten. Zusätzlich waren sie den Übergriffen der Lager-SS ausgeliefert. Kathrin Külow, Jüdische Häftlinge im KZ Sachsenhausen 1939 bis 1942, in: Günter Morsch / Susanne zur Nieden (Hg.), Jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945, Berlin 2004, 180–199, hier 180–183.

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be saved, while the position of all the others will probably deteriorate – if such situation can deteriorate. The Jews all over Germany are not allowed to leave their houses after 8 o’clock in the evening. They have no radio sets left which means that they cannot even hear news from anywhere. They are allowed to buy food or other things only during a certain hour at daytime. The position in Vienna is even more terrible than in Berlin, because in Berlin there are still a certain number of Jews with some money left, while in Vienna practically nobody has anything left. I understand that our friend Stricker18 is living together with Desider Friedman19 and their families in two rooms. But in Berlin also the little which is left to the Jews will soon be taken away from them. They have now to pay the fifth instalment of the famous contribution of one billion marks.20 New orders have been issued to register all fortunes left to the Jews, which probably means a new razzia. I am very much afraid that the position in Germany will lead to more and more destruction and persecutions of Jewish property and of Jews themselves. According to reliable reports received here, the general situation in Germany is very bad, especially with regard to food supplies. From somebody who went there a few days (a foreigner provided with the necessary means to live in the best hotels and to eat in the best restaurants) I heard that he simply went hungry during those days of his stay in the capital and some other places, because he was not in possession of rationing food cards without which there was no possibility to get anything. With those cards only smallest quantities of meat, butter, eggs, fats etc. are obtainable. VII. Jewish Refugies [sic] in Rumania and Hungary The number of Jews who fled from Poland to Roumania is estimated at something like 3000. The number of Jews who crossed the Hungarian border 18 Robert Stricker. 19 Desider Friedmann (1880–1944) war ein österreichischer Zionist und Rechtsanwalt. Er fungierte ab 1921 als Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), und ab 1933 als ihr Präsident. Zur Geschichte der IKG Wien nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland siehe Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt a. M. 2000. 20 Nach dem Attentat Herschel Grynszpans (1921– ca. 1942/1943) auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris, Ernst Eduard vom Rath (1909–1938) und den Novemberpogromen im Jahr 1938 verpflichtete Hermann Göring (1893–1946) die jüdische Bevölkerung in einer Verordnung vom 12. November 1939 zur Abgabe einer Strafsteuer in Höhe von einer Millarde Reichsmark. Zum 15. November 1939 wurde eine fünfte Rate dieser Strafsteuer fällig.

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is very small, certainly not more than a few hundred. These small figures are explained by the rapidity with which the Germans occupied Poland and by the lack of communications. One rich Jew (Szereszewsky) came to Roumania by car after paying 5000 Zlotys for 50 lt.21 of petrol. VIII. Information Service Please regg¦a¦rd this sketch of our activities and the remarks made above as some sort of “first report”. I hope to be very soon in a position to establish the regular contacts foreseen in the program of our office here and to give you regular reports about the situation. At the same time you should let me have regular |4| news about everything you hear from the Zionist organisations abroad, especially from America so that I can inform the other centres regarding questions of general policy, developments in France and America (especially in connection with Albert Cohen’s22 activities) and other more important items. You will understand that the Zionist organisations in Europe are under present circumstances not so much interested in ordinary routine work of propaganda and organisation, but in the vital matter of immigration and the more important questions mentioned above. If my future office shall form the link between Head Quar##¦te¦rs and the various countries concerned, I must be in full possession of as many details as possible in regard to the more important questions. I hope you will do your best to help me. (SGD) R. Lichtheim P.S. According to the latest news just arrived the wholesale transfer of the Jewish population of Vienna to Poland seems to be contemplated. Leading Jews from Vienna (Rothenberg23 and others) have been sent to Lublin apparently 21 Liters. 22 Albert Cohen (1895–1981) war ein Schweizer Schriftsteller und Jurist. Von 1926 bis 1932 arbeitete er in der diplomatischen Abteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. 1939 fungierte er als Rechtsberater des auf der Konferenz von Évian gegründeten Intergovernmental Committee on Refugees, bevor er ab 1940 für die Jewish Agency in London tätig wurde. Von 1947 bis 1954 war er Mitarbeiter bei den Vereinten Nationen für Geflüchtetenfragen. 23 Alois Rothenberg (1889–?) wurde nach der Annexion Österreichs durch die Nationalsozialisten von Adolf Eichmann zum Leiter des Palästina-Amts in Wien ernannt, das er bereits seit 1934 geleitet hatte. Rothenberg stand dem Palästina-Amt bis zu seiner Schließung 1941 vor. Victoria Kumar, Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945, Innsbruck 2016.

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Dokument 51

to help the authorities in carrying out this scheme.24 There are rumours that this transfer of population to Poland will also apply to the Jews of Prague.

Dokument 51 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach25 Genf, 12. November 1939 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; gedruckter Briefkopf mit handschriftlichen Korrekturen auf Seite 1; handschriftlicher Vermerke auf Seite 1 (»‫«ארכיב‬26) CZA, S5/233 JEWISH AGENCY FOR PALESTINE {Mr. Lauterbach} ORGANISATION DEPARTMENT (Temporary Office) {Confidential} GENÈVE ¦12th November [19]39 RL / LU¦27 CASE POST STAND 312 24 Nachdem Adolf Hitler im September 1939 die Konzentration der jüdischen Bevölkerung des Protektorats Böhmen und Mähren in einem Gebiet auf polnischem Territorium genehmigt hatte, begann Eichmann Anfang Oktober mit der Errichtung eines »Judenreservats« für deutsche, österreichische und tschechische Juden in der Nähe der polnischen Städte Lublin und Nisko, um eine »terroriale« Lösung der »Juden­ frage« herbeizuführen. Insgesamt wurden im Oktober über 5000 Juden aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz nach Nisko deportiert. Die Deportationen wurden schließlich gestoppt, da die Wehrmacht die Bahnlinien für den Truppentransport aus dem besetzten Polen nach Westen benötigte. Im April 1941 wurde der Lagerkomplex aufgelöst. Christopher  R. Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, Berlin 2006, 65–75; David Cesarani, »End­lösung«. Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948, Berlin 2016, 323–330; Dieter Pohl, Von der »Judenpolitik« zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des General­ gouvernements 1939–1944, Frankfurt a. M. / New York 1993. 25 Leo Lauterbach (1886–1968) war Jurist und zionistischer Funktionär. Ab 1919 arbeitete er für die Zionistische Exekutive in London. Ab 1935 war er geschäftsführender Sekretär des Organisationsdepartments der Zionistischen Exekutive. Mit dem Umzug der Exekutive nach Palästina 1936 siedelte er nach Jerusalem über. 26 Archiv. 27 Wahrscheinlich Kürzel zur Zuordnung der Korrespondenz.

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TÉL: 51210 {Private address:} ¦5, rue Gautier¦ Dr.  L. Lauterbach The Executive The Zionist Organisation P.O.B. 92 Jerusalem

{Please have copies made & sent to: 1. Ben-Gurion 8. Ussishkin 2. Shertok 9. Eisenberg 3. Grunbaum 10. Dobkin, 4. Fishman Shapiro 5. Schmorak 11. ### 6. Kaplan 11. Klinow 7. Ruppin 12. KH}28 LETTER NO. 7

Dear Dr. Lauterbach, Re: Situation of Jews in Germany and German occupied territories. In my letter of October 12th I have given you a description of the position in Germany, the Protektorat an{d} Poland. As foreseen in my previous report the situation is going from bad to worse. For about 10 days it has been impossible to telephone from here to Germany, Vienna and Prague. This is probably due to measures of precaution taken by the German authorities. It is still possible to telephone from Germany and Prague to Geneva, but every telephone-call must be specially permitted by the police, and the communication must be submitted beforehand in writing to the police. This means that we still can receive from time to time

28 Der Brief ging in Kopie an David Ben-Gurion, Vorsitzender der Exekutive der Jew­ ish Agency; Moshe Shertok (Sharett; 1894–1965), Leiter der Politischen Abteilung der Jewish Agency; Yitzhak Grünbaum (1879–1970), Leiter der Arbeitsabeilung der Jew­ish Agency; Yehuda Leib Fishman (Maimon; 1875–1962), Leiter der Abteilung für Handwerk und Handel sowie religiöse Angelegenheiten der Jewish Agency; Eliezer Kaplan; Arthur Ruppin; Menahem Ussishkin; Shlomo Eisenberg (1899–1959), Generalsekretär der Jewish Agency; Eliyahu Dobkin (1898–1976) und Haim Moshe ­Shapira (1902–1970), die beiden Leiter der Einwanderungsabteilung der Jewish Agency; Yeshayahu Klinov (1890–1963), Leiter der Presse- und Informationsabteilung der Jewish Agency; sowie an den Keren Hayesod und damit an die wichtigsten Stellen des Jischuw.

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Dokument 51

some information from our Palestine Offices, but they have to confine themselves to such information as has been submitted beforehand to the Gestapo. Fear and terror are growing. You probably know that Mr. Edelstein29 of the Palestine Office in Prague has been sent to Poland by the Gestapo in connection with the plan to concentrat{e} there the Jewish propulation of German occupied Poland and the Reich. The successor of Mr. Edelstein in the Palestine Office in Prague was Mr. Stern, a good friend of Dr. Ullmann. Some days ago, we were informed of the sudden death of Mr. Stern. It appears that he shot himself in the premises of the Palestine Office when the Gestapo appeared there to question him or perhaps to arrest him. We are expecting a more detailed report about the circumstances of his death but you can gather from such happenings what the situation in Prague is. Generally speaking, it is the policy of the German government and police to exercise the strongest pressure upon the Jews to leave the country. In the Protektorat the Gestapo insists that every day 200 Jews shall leave the country. This is practically impossible because the emigration office,30 established for this purpose, is unable to provide for their departure, more especially to provide them with the 15 or 20 different forms and papers required. At the same time the railway-authorities allott [sic] only 50 seats per day to the Jews. There you have some picture of the infamous chicanery exercised by the authorities. In some instances, when the pressure of the Gestapo became to [sic] menacing, the Jews who could not get railway-tickets had to leave the country in busses. In most cases they go first to the semi-independent country of Slovakia and then try to go somewere [sic] else. But whereto? 29 Jakob Edelstein (1903–1944) leitete ab 1933 das Palästina-Amt in Prag. Im Oktober 1939 wurde er gemeinsam mit etwa 1000 weiteren jüdischen Männern nach Nisko deportiert. Nach dem Scheitern des von Eichmann ersonnenen Nisko-Lublin-Plans konnte Edelstein im November 1939 nach Prag zurückkehren. 30 Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag wurde im Sommer 1939 von Adolf Eichmann nach dem Vorbild der Wiener Zentralstelle eingerichtet. Ihre Aufgabe bestand in der Förderung der erzwungenen Ausreise von Juden, deren syste­ matischer Beraubung sowie der Bündelung aller damit zusammenhängenden Maßnahmen. Vor der erzwungenen Ausreise musste jede Person 18 Dokumente vorlegen, bei deren Beschaffung sie von der Auswanderungsabteilung der Jüdischen Kultus­ gemeinde Prag unter der Leitung von Jakob Edelstein unterstützt wurde. Die Auswanderungsabteilung wurde gezwungen, ein Auswandererkontingent von anfangs 200 Personen täglich zu erfüllen und musste bei Nichterreichen der Quote mit Repressalien rechnen. Jaroslava Milotová, Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag. Genesis und Tätigkeit bis zum Anfang des Jahres 1940, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 4 (1997), 7–30.

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At the same time, the new policy of concentrating the Jews |2| in Poland is applied. Several thousand Jews from the Protektorat have been sent away. Women and children had to remain behind, but the men between the age of 17–70 have been sent off. The same thing has happened in Vienna, and there is much fear, that this policy will also be followed in Berlin. There is much speculation but no certainty with regard to the real intentions of the German government. Some days ago, we heard that the idea of creating a sort of Jewish district in Poland had been dropped. There was also a certain information coming from Nazi quarters in Berlin that this project did not represent the view of the Central government in Berlin, but that it was a favourite idea of Eichmann,31 the well-known Gestapo chief, who is the dictator of the Jews in Austria and the Protektorat. It was said, that Eichmann promised Hitler to get rid of all the Jews in Vienna within the next few month{s}. Considering Hitlers special hatred of the Jews of Vienna it is quite possible that the whole project started that way; but then it was extended to Prague (which is also under Eichmann) and according to the latest news already pup{b}lished in the European press the plan has not been dropped and the Gestapo is proceeding with it. Under these circumstances it is imperative that we should do all we can to get at least our certificate holders out of the country and it is to be regretted that certain bureaucratic formalities make it so difficult for us to proceed more quickly with their transport to Trieste and Palestine. With regard to the certificate holders in Prague I may add that their departure is the most{re} urgent as the clearing of several hundred thousand £ in London depends on 31 Adolf Eichmann (1906–1962) war SS-Obersturmbannführer und ab 1935 damit betraut, die erzwungene Auswanderung der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland voranzutreiben. Nach der Annexion Österreichs im Jahr 1938 wurde er mit dem Aufbau der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien beauftragt. 1939 errichtete er nach dem Vorbild der Wiener Zentralstelle die Auswanderungsbehörde in Prag. Ende 1939/Anfang 1940 wurde ihm die Leitung der Reichszentrale für jüdische Auswanderung in Berlin sowie die des Referats IV D 4 (Räumungsangelegenheiten und Reichszentrale für jüdische Auswanderung) des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) in Berlin übertragen. Im Juli 1941 wurde Eichmanns Referat in IV B 4 (Juden- und Räumungsangelegenheiten) umbenannt. Unter seiner Leitung organisierte und koordinierte das Referat die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland und den von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten Europas. Er war damit direkt mitverantwortlich für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Dafür wurde er 1961 von einem israelischen Gericht zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet. David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, Berlin 2004; Hans Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, Frankfurt a. M. 1995.

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Dokument 52

their arrival in Palestine. I am of course referring to the Czech. transfer agreement arrived at i#{n} [sic] London by Leo Herrmann.32 With regard to the possibilities of bringing help and relief to the Jews in Czechoslovakia and Poland we have discussed all aspects of this problem with Mr. Troper, the director of the Joint-Distribution Committee. He is full of sympathy and understanding, and on the strength of a memorandum submitted to him by Dr. Ullmann he has cabled to America with a view to obtain full authority to deal with the situation in the light of the newest information received. Yours sincerely, {R. Lichtheim} R. Lichtheim

Dokument 52 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 5. Dezember 1939 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; gedruckter Briefkopf auf Seite 1; Eingangsstempel der Jewish Agency for Palestine (17. Dezember 1939) oben rechts auf Seite 1; handschriftlicher Vermerk oben rechts auf Seite 1 (»18th Dec.«); gedruckte Kopfzeile auf Seite 2 (»The Zionist Organisation / The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«) CZA, S5/233

32 Das im Januar 1939 geschlossene Transferabkommen zwischen der Jewish Agency und der tschechoslowakischen Regierung ging maßgeblich auf die Initiative Leo Herrmanns (1888–1951), Generalsekretär des Keren Hayesod, zurück. Das Abkommen erlaubte die Emigration von 2500 tschechoslowakischen Juden und die Mitnahme ihrer Vermögenswerte in Höhe von £ 500 000 nach Palästina. Nach Kriegsbeginn setzte sich Herrmann gemeinsam mit dem ehemaligen tschechoslowakischen Botschafter in London, Jan Masaryk (1886–1948), erfolgreich dafür ein, dass die britischen Regierungsstellen die Gültgkeit der Einwanderungszertifikate der tschechoslowakischen Juden weiter anerkannten und deren Einreise nach Palästina gestatteten. Zwischen Oktober und Dezember 1939 reisten 1200 tschechoslowakische Juden im Rahmen dieses Transferabkommens nach Palästina aus. Zusätzlich gelangten unter dem tschechoslowakischen Transferabkommen auch 1700 Juden aus Deutschland und Österreich nach Palästina. Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics, 59 f.

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33‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬ THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Genève, ¦5th December [19]39/RL / LU¦ 52, rue des Pâquis Telegrams: Zionorg Genève (Palais Wilson) Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse) Dr.  L. Lauterbach The Executive The Zionist Organisation P.O.B. 92 Jerusalem

strictly confidential

LETTER NO. 18 Dear Dr. Lauterbach, re: Red Cross activity in Poland. From a confidential report given by the Swiss delegate of the Red Cross Mr. Junod34 who was in Poland from November 15th to November 23rd, the following items are of special interest to us. 1. All international bodies dealing with relief work for Poland ought to know and must keep in mind that the German occupied territory of Poland

33 Die Exekutive der Zionistischen Organisation und die Jewish Agency für Ereẓ Yisra’el. 34 Marcel Junod (1904–1961) war ein Schweizer Arzt. Von 1939 bis 1943 war er Delegierter des Internationalen Kommittees vom Roten Kreuz in Berlin, wo er für die Überwachung der Einhaltung der Genfer Konventionen in den Kriegsgefangenenlagern sowie die Versorgung der Not leidenden Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern verantwortlich war. Nachdem er bereits im September 1939 ein deutsches Kriegsgefangenenlager inspizierte, unternahm er im November eine Reise nach Warschau, bei der es ihm auch gelang, das Warschauer Getto zu besuchen. Meir Wagner, The Righteous of Switzerland. Heroes of the Holocaust, Hoboken, N. J., 2001, 114–118; Marcel Junod, Warrior Without Weapons, London 1951.

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has been divided into two districts, one forming now part of German{y} and the other forming the so-called “Generalgouvernement Polen.”35 The frontiers of these two territories have not yet been definitely established, but apart from the western part of Poland (former provinces of Posen and Westpreussen) the town of Lodz will also be included in the Reich. In this annexed territory the Jews are treated in the same way as in the other parts of the Reich. That is to say, they are outlaws, have no right and no possibility to make a living and are driven over the frontiers as far as the Gestapo is able to do so. In the so-called Generalgouvernement the Nuernberg laws36 do not ap‑ {p}ly officially and Mr. Junod was assured by the authorities that there is no difference between the treatment of Jews and Poles. But this assurance is untrue. We know that Jews in the Generalgouvernement are not allowed to exercise all professions, certain forms of trade are already forbidden to Jews and they cannot dispose of their money in the banks, while the Poles are allowed to do so.

35 Nach der Invasion Polens durch das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 und dem Angriff der Roten Armee gemäß der Geheimvereinbarung des Hitler-Stalin-Pakts am 17. September 1939 wurde das Territorium der Zweiten Polnischen Republik am 28. September 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt. Die dem Deutschen Reich im Friedensvertrag von Versailles 1919 aberkannten ehemaligen deutschen Ostgebiete und große Teile Mittelpolens wurden vom Deutschen Reich annektiert. Diese Gebiete wurden in Reichsgau Wartheland (Warthegau) mit Łódź als Provinzhauptstadt, Danzig-Westpreussen, Posen und Oberschlesien umbenannt. Die restlichen vom Deutschen Reich eroberten Gebiete Ost- und Südpolens wurden am 26. Oktober 1939 im sogenannten Generalgouvernement zusammengefasst und einer Zivilverwaltung unter dem NSDAP-Funktionär Hans Frank (1900–1946) unterstellt. Etwa die Hälfte des polnischen Staatsgebiets und etwa zwei Drittel der Bevölkerung (einschließlich rund 2  Millionen der etwa 3,3 Millionen polnischen Juden) fiel an das Deutsche Reich. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde das Generalgouvernement um den zuvor sowjetisch besetzten Distrikt Galizien erweitert. 36 Die Nürnberger Gesetze von 1935 waren ein zentraler Schritt zur Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Das Gesetzespaket definierte die Einstufung von Menschen als Juden sowie sogenannte Mischlinge, nahm ihnen die politischen Rechte, verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden und schloss Juden von der Verwendung der Hakenkreuzfahne aus, die zur Reichsflagge erklärt wurde.

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Nevertheless, there is a certain difference in the treatment and legal status of the Jews in the Generalgouvernement and in that part of Poland, which the German{s} regard as definitely incorporated in the Reich.37 2. Mr. Junod confirms that the number of Jews in Warsaw is about 350 000. He was allowed to visit the Jewish quarters and the Jewish hospital and he had a talk with the head of the community Mr. Czerniakow.38 |2|  The Jewish quarter is sepaarated from the rest of the town by wire, partly by barbed wire. In the hospital there were about 15 cases of typhoid. From what Czerniakow told Mr. Junod it appears that the community is not in a position to organize any relief work because the funds of the community and the money belonging to the individual members of the community in the banks have been blocked, the only exception being such sums belonging to the community as will be necessary for the Jewish hospital until the end of December. After that day money even for the hospital must be found from other sources and not from the blocked sums in the banks. From this report, it would appear that the famous “Relief Committee”39 mentioned in previous reports and acting with the help of the “Joint” is more 37 Zur Zivilverwaltung im Generalgouvernement und deren Umgang mit der jüdischen Bevölkerung siehe Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999. 38 Adam Czerniaków (1880–1942) war Ingenieur und Mitglied des polnischen Senats. Nach der Besetzung Polens wurde er von den Nationalsozialisten zum Vorsitzenden des Judenrats des im Oktober 1939 im Warschauer Stadtzentrum eingerichteten Gettos bestimmt. Am 23. Juli 1942 – einen Tag nach Beginn der schrittweisen Auflösung des Gettos – nahm sich Czerniaków das Leben. Zuvor war er von den Nationalsozialisten aufgefordert worden, Transportlisten für eine angebliche Umsiedlung nach Osten zusammenzustellen. Offenbar wusste oder zumindest ahnte er, dass die Deportation den sicheren Tod der Gettobewohner bedeutete. Die jüdische Bevölkerung des Warschauer Gettos wurde ab Juli 1942 in mehreren Deportationswellen in Vernichtungslager – vornehmlich nach Treblinka – deportiert und dort ermordet. Czerniaków erwähnte das Zusammentreffen mit Junod in einem Tagebucheintrag vom 19. November 1939. Adam Czerniaków, Das Tagebuch des Adam Czerniaków. Im Warschauer Getto 1939–1942, München 2013, 17. 39 Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Polen gründeten jüdische Fürsorgeund Wohlfahrtsorganisationen in Warschau eine Koordinierungskommission, die sich der Ausgabe von Lebensmitteln, der Einrichtung von Armenküchen sowie der Versorgung von Geflüchteten widmete. Aus der Koordinierugskommission ging später die Yidishe Sotsyale Aleynhilf (Jüdische Soziale Selbsthilfe, JSS) hervor. Bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten kamen die Mittel und das Material für die Arbeit der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe zum großen Teil vom Joint. Bauer, American

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or less non-existen#{t}. This confirms what Dr. Rosenblatt40 told us about this Jewish Relief Committee. 3. Mr. Junod is of opinion that the German authorities would allow such relief work as Jewish or non-Jewish societies would be willing to organise in the Generalgouvernement. If anything is to be done by the Red Cross, then the work must be carried out by the German Red Cross under the superw{v}ision of the International Committee of the Red Cross. For the time being nothing in the way of relief work has been done by the Red Cross and it is doubtful if they will come to any definite arrangement with the German authorities in the near future. In those territories which are regarded as part of the Reich, no foreign relief work for Jews will be possible, not even through the Red Cross, even if Jewish organisations would be willing to organise such relief work, which is of course very doubtful because it would mean sending money or clothes or medical supplies or food into Germany. With regard to the Generalgouvernement, Mr. Junod is of {o}pinion that even if Jewish Organisation [sic] would be willing to send money or supplies, this should not and could not be done, before a similar action is taken by some international body in favour of the non-Jewish propulation. This being the position, the outlook for Jews and non-Jews alike is very gloomy indeed. Yours sincerely, {R. Lichtheim} R. Lichtheim

Jewry and the Holocaust; Annalena Schmidt, (Selbst-)Hilfe in Zeiten der Hilflosigkeit? Die »Jüdische Soziale Selbsthilfe« und die »Jüdische Unterstützungsstelle« im Generalgouvernement 1939–1944/45, Dissertation, Universität Gießen 2015. 40 Rosenblatt war ein polnischer Jude aus Łódź, der den Krieg in Warschau erlebte. Während seines Versuchs, über Italien nach Palästina auszureisen, gelangte er zunächst in die Schweiz, wo er am 27. November 1939 Lichtheim über die Zustände in Warschau berichtete. Fälschlicherweise behauptete Rosenblatt, nach der deutschen Invasion hätte es keinerlei jüdische Hilfsaktivitäten in Warschau gegeben. Letter from Lichtheim to Solomon Goldman, World Zionist Organisation, New York, December 1, 1939, with a report by Dr. Rosenblatt about conditions in Warsaw, November 27, 1939, in: Matthäus, Predicting the Holocaust, 83–88.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Dokument 53 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 11. März 1940 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit maschinenschriftlichem Bericht eines unbekannten Autors aus dem besetzten Polen, 2 Seiten mit separater Paginierung; Brief mit gedrucktem Briefkopf; handschriftlichen Vermerken (»‫«ארכיב‬‪,41 »20.3.40 A. M. AL.«); Eingangsstempel der Jewish Agency (20. März 1940); unleserlicher handschriftlicher Vermerk oben rechts CZA, S5/233 ‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse) ¦RL / A/2¦

Genève, ¦11th March, 1940¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

Dr.  L. Lauterbach The Organisation Department The Zionist Organisation P.O.B. 92 Jerusalem LETTER NO. 67 Dear Dr. Lauterbach, I am sending you some photographs showing Jew’s life in Poland.42 I am also enclosing a report we just received from somebody who left Warsaw on the 2nd March.

41 Archiv. 42 Die Fotos befinden sich nicht im Archivordner.

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Dokument 53

You may have seen from previous reports about the situation in Germany and Poland, that the information we receive seems sometimes somewhat contradictory. This is not so much the fault of our informers, but inherent in the situation. The policy of the German authorities with regard to the Jews is directed from various quarters. The policy of the military authorities of Poland, of the Gestapo-chiefs in Poland and Germany and of the civil authorities is very often influenced by different motives and leading to different methods. Take for instance the case of the Jews of Stettin: they were thrown out of their houses in the night from February 12th to February 13th, all their property was confiscated and they were sent to Poland. But now it appears from various reports that they have been sent back to Stettin as a result of strong protests coming from the German authorities in Poland who did not know what to do t with them.43 The same vacillating policy can be observed with regard to the much-discussed Lublin scheme. While Eichmann and his group are trying to send Jews from the Protectorate and now also from Germany to this area, the military authorities are trying to check these [sic] influx of more Jews into Poland. There is also a tendency to use the Jews on the spot wherever they live as slaves for this or that kind of labour instead of sending them to other parts of the German occupied country. All these various tendencies in the administration itself make it extremely difficult to find out what the true policy of the German government is. The only thing which is obvious is, that all these measures have the effect of destroying Jewish property, freedom and life. Yours sincerely, {R Lichtheim} R. Lichtheim

43 Bei der Verschleppung der jüdischen Bevölkerung aus Stettin im Februar 1940 handelt es sich um die erste Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich. Die 1127 Juden wurden in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1940 nach Lublin deportiert, um angeblich Wohnraum für sogenannte Volksdeutsche aus den baltischen Ländern, Wolhynien und der Bukowina zu schaffen, die im Rahmen der nationalsozialistischen Eroberungs- und Lebensraumpolitik »heimgeführt« werden sollten. Browning, Die Entfesselung der »Endlösung«, 74–116; Exchange of notes between Lichtheim and Riegner, March 26/28 1940, on the fate of Jews deported from Stettin, in: Mätthäus, Prediciting the Holocaust, 93 f.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Die Entwicklung der Lage der Juden in Polen

A. Die Lage der Juden in Lodz Das Ghetto in Lodz ist nahezu vollkommen durchgefuehrt.44 Taeglich mussten 1300 Juden aus den vor allem von Nichtjuden bewohnten Gassen der Stadt in das Armenviertel nach Balut45 uebersiedeln. Polen und auch Deutsche, die in Balut gewohnt haben, mussten nach anderen Stadtvierteln uebersiedeln, damit in diesem Stadtviertel Platz, wenn auch zusammengepfercht, fuer die Juden wuerde. Die Polen wurden ebenfalls aus dem Stadtinneren ausgewiesen und mussten in die Vorstadt Chojny.46 Die Juden durften in den letzten Wochen nicht mehr wie frueher einen Teil ihrer Habseligkeiten und Einrichtungen sowie Waesche, sondern nur noch kleines Handgepaeck mitnehmen. Die Wohnungsnot in Balut ist zufolge [sic] des starken Zuzuges ungeheuer. Juedische Fluechtlinge, die aus Lodz Anfang Maerz ausgereist sind, bestaetigen, dass 17 von den verhafteten Mitgliedern des Lodzer juedischen Aeltestenrates in einem Lager ums Leben gekommen sein sollen. *** B. Die Lage der Juden in Warschau Die Lage in Warschau hat eine Verschaerfung in der Richtung erfahren, dass fuer Juden jetzt spezielle gelbe Brotkarten ausgegeben wurden. Juden bekommen nur schwarzes Brot, waehrend fuer die andere Bevoelkerung auch Weiss­ brot und Semmeln noch ausgegeben werden. Die Lebensmittel werden an Juden nur in juedischen Geschaeften verkauft. Diese Lebensmittel­geschaefte sind fast der einzige Ueberrest des vor dem Krieg so starken, in juedischen Haenden befindlichen Handels in Polen. 44 Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Łódź rund 223 000 Juden. Damit war die Stadt nach Warschau die mit der zweitgrößten jüdischen Bevölkerung in Europa. Nach der Zerschlagung Polens wurde Łódź als Teil des »Reichsgau Wartheland« in das Deutsche Reich eingegliedert. Am 8. Februar 1940 errichteten die Nationalsozialisten hier das Getto Łódź (ab April 1940 »Litzmannstadt«), das als Sammellager diente, von wo die jüdische Bevölkerung weiter in die Vernichtungslager deportiert wurde. Es war das am längsten existierende und nach dem Warschauer Getto das zweitgrößte nationalsozialistische Getto in Polen. Judenältester war bis zu seiner Ermodung in Auschwitz Mordechai Chaim Rumkowski (1877–1944). 45 Bałuty (jidd. Balut) war ein bereits vor dem deutschen Angriff auf Polen vornehmlich von Juden bewohntes Armenviertel von Łódź, das im Februar 1940 Teil des Gettos wurde. 46 Chojny war eine umliegende Landgemeinde, die im April 1940 formal in das Stadtgebiet von Łódź eingemeindet wurde.

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Dokument 53

In Warschau sind beunruhigende Nachrichten ueber die nahe Umsiedlung aller Warschauer Juden in die Vorstadt Prags, wo das Judenviertel geschaffen werden soll, im Umlauf. Im Generalgouvernement ist Juden die Benuetzung der Eisenbahn verboten. Juden, die ins Ausland reisen, muessen bis nach Trzebinia oder bis nach Kattowitz mit [dem] Auto fahren, und erst dort duerfen sie den Zug besteigen. Die Erteilung von Auswanderungserlaubnissen ist in der letzten Zeit sehr erschwert, da auch in Polen die Organisierung einer zentralen Auswanderungsstelle fuer Juden in Angriff genommen wurde. *** |2| C. Das Lubliner Judenreservat Ein jüdischer Kaufmann, der am 24. Februar Lublin verlassen hat, schilderte die Lage der Juden dortselbst als ueberaus ernst. Die Juden des Wartegaus, die in den letzten beiden Monaten nach Lublin gebracht worden sind und von denen viele in der Stadt Lublin selbst sich niedergelassen haben, sind vollstaendig mittellos, leiden Hunger und Not. Im Hause der Beth JakovSchule in der Lubartovska-Strasse 22 sind einige hundert Fluechtlinge untergebracht. Fuenf Familien wohnen in einem Zimmer und die hygienischen Zustaende lassen zu wuenschen uebrig. Das Riesengebaeude der religiösen Hochschule Jeschiwath Chachmei Lublin47 wurde von den Soldaten besetzt. Viele fromme Juden wurden dann in das Gebaeude der frueheren Jeschiwa gebracht und ihnen die Baerte abgeschnitten. Aus dem Reservat selbst wird bereichtet, dass seit vier Monaten 800 juedische Arbeiter, groesstenteils aus dem Protektorat, damit beschaeftigt sind, die Baracken in der Naehe von Lublin aufzubauen. Bis jetzt wurden 50 derartige Baracken fertiggestellt. Jede dieser ist 30 Meter lang und 8 Meter breit. Die Betten sind dicht nebeneinander gestellt und alles in allem macht [es] den Eindruck der bekannten Lager. Nun sollen auch Drahtverhaue um diese[s] Lager aufgestellt werden. Ob die Juden aus dem Wartegau oder aus anderen Gebieten des grossdeutschen Reiches die Baracken aufnehmen [sic] werden, steht noch nicht fest. *** 47 Die 1930 eröffnete jüdische Hochschule Jeszywas Chachmej Lublin (Jeschiwa der Weisen aus Lublin) befand sich in der Lubartowska Straße 85 und wurde nach der deutschen Besetzung Polens von den Nationalsozialisten in ein Militärkrankenhaus umgewandelt. Zur Geschichte des Hauses siehe Anonymus, Jeschiwas Chachmej Lublin – Jeschiwa der Weisen aus Lublin (Lubartowska-Str. 85), in: Polin. Virtuelles Schtetl, 17. November 2009, (11. April 2022).

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

D. Ein Bericht aus Chelm Ein Bericht aus Chelm, der in den letzten Tagen in Warschau eingelaufen ist, besagt, dass Chelm in der ersten Februarhaelfte Schauplatz einer schauerlichen Tragoedie war. 148 juedische Fluechtlinge aus Lodz und Umgebung sollen dem blutgierigen Kommandanten von Chelm zum Opfer gefallen sein. Unter der Ausrede, die juedischen Fluechtlinge wuerden die TyphusEpidemie nach Chelm verschleppen, wurden der Befehl erteilt, die eben angekommenen Juden aus der Stadt herauszujagen. Im freien Felde sollen die Ungluecklichen niedergemacht worden sein. Alle sollen ums Leben gekommen sein.48 Aus Belz kommt Nachricht, dass der beruehmte Belzer Wunderrabbi Rokach von den Russen interniert und nach Brodi [sic]49 gebracht wurde.50 ***

Dokument 54 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 15. September 1940 Maschinenschriftlicher Brief, 8 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; gedruckte Kopfzeile auf Seite 8 (»The Zionist Organisation / ​ The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«) CZA, Z4/30895 [Lichtheim gibt einen Überblick über die Lage der Juden in Europa. Er berichtet von Deportationen, der Einschränkung zionistischer Arbeit und der desolaten wirtschaftlichen Lage der Juden in den russisch besetzten Gebieten Polens und des Baltikums. Für den von Deutschland besetzten Teil Polens skizziert er den Beginn der Politik der Gettoisierung. In Deutschland, Österreich, dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie der Slowakei sieht er die Lage der Juden von deren ökonomischer Ausplünderung geprägt, während in den deutsch besetzten Gebieten in Nord- und Westeuropa die antisemitische Politik noch nicht 48 Für den hier erwähnten Vorfall gibt es keine weiteren Hinweise in der Fachliteratur. 49 Brody. 50 Aharon Rokeach (1880–1957) war der vierte Rebbe in der Tradition der Bełzer chassidischen Bewegung. Während des Holocaust wurden die Mitglieder der Bełzer Gemeinde fast vollständig ermordet. Mit der Unterstützung Bełzer Chassidim aus Palästina, England und den Vereinigten Staaten gelang es Aharon Rokeach und seinem Halbbruder Mordechai Rokeach (1902–1949) aus Polen zu fliehen. Über Ungarn, die Türkei und den Libanon gelangten sie schließlich 1944 nach Palästina.

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Dokument 54

durchgesetzt werde. Darüber hinaus befasst er sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Auswanderung aus Deutschland sowie den besetzten Ländern. Abschließend beschreibt er die Situation in der Schweiz.] ‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION /  T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse)

Genève, ¦den 15. September 1940¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

Brief Nr. 123 Lieber Dr. Lauterbach, wie ich Ihnen vor etwa zwei Wochen ankündigte, will ich Ihnen nachstehend einige Mitteilungen über die augenblickliche Lage in verschiedenen Ländern machen. Dabei gehe ich davon aus, dass es in den meisten Fällen überflüssig sein dürfte, eine breite Schilderung der allgemeinen Lage und Verhältnisse zu geben, die Ihnen ja aus meinen früheren Berichten, sowie aus Berichten von anderer Seite, im wesentlichen schon vielfach bekannt sein dürften. Ich beschränke mich daher auf solche Mitteilungen, von denen ich annehmen kann, dass sie das Bild in der einen oder anderen Hinsicht noch zu ergänzen geeignet sind. 1.) Polen Aus dem von Russland besetzten Teil Polens habe ich neuerdings keine Nachrichten erhalten, die in irgendeiner Hinsicht das Bild verändern könnten, das wir uns von den Zuständen schon entworfen haben. Die allgemeinen Tendenzen, von denen die Verwaltung dort beherrscht ist, dürften Ihnen hinreichend bekannt sein. Auch haben Sie selbst mir ja kürzlich verschiedene Berichte geschickt. Was Ihnen dort über die Deportierung und die Deportierungsmethoden berichtet wurde, ist zutreffend und ich habe Beispiele dieser Art auch hier erfahren. Dabei handelt es sich einerseits um Massnahmen gegen die aus dem deutsch-besetzten Gebiet nach dem russisch-besetzten Gebiet herübergewanderten Personen, die zu einem grossen Teil nach dem inneren Russland verschickt worden sind und zwar gewöhnlich unter äusserst

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

schlechten Bedingungen und zwecks Verwendung für schwere Arbeiten. Es sind mir aber auch Fälle bekannt – insbesondere aus Lemberg – wo von Zeit {je}her ansässige Personen in der gleichen Weise verschickt worden sind, sei es nun um die Überbevölkerung zu verhindern, sei es um bestimmte Gruppen oder Klassen von Personen zu treffen, sei es um missliebige Elemente zu entfernen. Diese Verschickungen haben offenbar zahlenmässig einen sehr grossen Umfang angenommen.51 Relativ gut geht es denjenigen Elementen, insbesondere jüngeren Elementen, die sich auf das neue Regime umgestellt haben und durch ihre Berufe als Spezialisten oder Arbeiter leichter und williger in den Arbeitsprozess und das System eingegliedert werden konnten. Dass formal kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden besteht, ist Ihnen bekannt; andererseits sind antisemitische Tendenzen, sowohl in der polnischen wie in der ukrainischen Bevölkerung wahrnehmbar. |2|  Die wirtschaftliche Lage, besonders des jüdischen städtischen Elementes, ist katastrophal, da unter dem Regime keinerlei Verdienstmöglichkeiten für alle diejenigen besteht, die unter den Begriff des bürgerlichen Elementes fallen. In den Baltischen Staaten ist das Regime prinzipiell dasselbe, aber heute noch nicht ganz mit aller Schärfe durchgeführt. Jedenfalls musste auch dort alle zionistische Tätigkeit eingestellt werden, sowohl die Organisation selbst, wie die Fonds, wie die organisierte Hachscharah Arbeit.52 Alle unsere Leute dort und insbesondere die jüngeren Elemente drängen nach möglichst rascher Abreise. Dieser Teil der Frage ist Ihnen dort sicherlich genau bekannt, da sich ja das Immigrationsdepartement mit der Reisefrage via Russland bezw. via Türkei intensiv befasst. Was nun die Lage in dem von Deutschland besetzten Teil Polens betrifft, so habe ich meinen früheren Berichten wenig hinzuzufügen und leider nichts gutes. 51 Zwischen September und November 1939 flohen 300 000 bis 350 000 polnische Juden vor der Wehrmacht in das sowjetisch besetzte Ostpolen. 1940 wurden etwa 70 000 von ihnen von der sowjetischen Regierung in Arbeitslager und Sondersiedlungen im Landesinneren der Sowjetunion deportiert. Markus Nesselrodt, Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939–1946, Berlin / Boston, Mass., 2019; Eliyana R. Adler, Survival on the Margins. Polish Jewish Refugees in the Wartime Soviet Union, Cambridge, Mass. / London 2020. 52 Als hakhshara (Vorbereitung, Tauglichmachung) wurde die systematische Ausbildung jüdischer Auswanderungswilliger für die Besiedlung und den Aufbau Palästinas durch die zionistische Bewegung bezeichnet. In eigens dafür eingerichteten landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten wurden vornehmlich Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung und junge Erwachsene auf das Leben in Palästina vorbereitet.

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Dokument 54

Die Tendenz der Verwaltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung steht im Zusammenhang mit der allgemeinen Tendenz, den polnischen Staat als endgültig liquidiert zu betrachten. Die letzten Erklärungen der obersten Verwaltung{sstell}en lassen gar keinen Zweifel darüber, dass von einer Wiederherstellung Polens auch in kleinerem Rahmen keine Rede mehr ist und dass das Gebiet im Ganzen als ein Teil des deutschen Wirtschafts- und Siedlungsraumes unter deutscher Verwaltung betrachtet wird. Hierbei ist allerdings zu unterscheiden, zwischen dem annektierten Gebiet, das schon bald nach der Eroberung als endgültig deutsches Gebiet betrachtet wurde und dem sogenannten Generalgouvernement, das die Bezirke Warschau, Radom, Lublin und Krakau umfasst. Der erstere Teil soll möglichst judenrein gemacht werden und die Juden haben dort überhaupt keine Möglichkeit der wirtschaftlichen Existenz. Im Generalgouvernement sind ihnen noch gewisse Berufe erlaubt: so z. B. dürfen die Ärzte dort weiter praktizieren, die Anwälte vor polnischen Gerichten auftreten und speziell in Warschau gibt es auch noch einen gewissen jüdischen Handel. Die jüdischen Fabriken und Geschäfte sind sämtlich unter deutsche Aufsicht gestellt und werden von deutschen Kommissaren verwaltet. Diese bedienen sich aber noch weiter der jüdischen Fabrikanten und Händler und diese dürfen in einem gewissen Rahmen ihre Berufe weiter ausüben, womit auch eine gewisse Verdienstmöglichkeit verbunden ist. Gleichzeitig aber will man die Juden anders verteilen, als sie jetzt im Lande wohnen. Im Zusammenhand [sic] mit dieser Tendenz wird daher die jüdische Bevölkerung von verschiedenen Punkten nach anderen Punkten hin konzentriert. So wird insbesondere versucht Krakau, wo sich der Sitz des Generalgouvernements befindet, judenrein zu machen. Dort leben jetzt noch ungefähr 100 000 Juden und ihre Zahl soll durch ständige Abschiebung nach anderen Plätzen in kurzer Zeit auf etwa 30 000 reduziert werden. Wohl am schlimmsten sind die Verhältnisse in Lodz (jetzt Litzmannstadt), wo in dem jüdischen Teil, der früher etwa 100 000 Einwohner zählte, etwa 250 000 Juden zusammenge{p}fercht sind. Sie |3| leben dort hinter Stacheldraht, jede Berührung mit der Aussenwelt ist wegen Seuchengefahr verboten (wodurch allen jede wirtschaftliche Tätigkeit unmöglich gemacht ist). Die Kindersterblichkeit beträgt 80 %. Sie leben von den Nahrungsmitteln, die ihnen morgens an ihre Umzäunung gebracht werden, wobei für 40 000 Kinder rund 600  Liter Milch# täglich verfügbar sind. Da keine Wasserleitung existiert und infolge der Not und Überfüllung die hygienischen ##{Zu}stände unbeschreiblich sind, so muss man mit einem raschen Aussterben dieser Bevölkerungsgruppe rechnen. In Warschau sind die Umstände nicht ganz so schlimm. Freilich ist die Wirtschaftslage auch dort entsetzlich. Es muss daran erinnert werden, dass den Juden, mit den geringen oben erwähnten Ausnahmen, keinerlei Erwerb

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gestattet ist, dass sie keine Läden besitzen dürfen und mit Ausnahme einer kleinen Schicht von tolerierten Ärzten, Anwälten, Fabrikanten oder Händlern (die wie oben erwähnt, unter deutscher Aufsicht arbeiten) und im Grunde nur noch von den geringen Überresten ihres Besitzes leben. Ein Teil der Juden, insbesondere die jüngeren und arbeitsfähigen, werden gemäss dem Arbeitszwang-Gesetz53 für schwere Arbeiten verwendet und erhalten dafür einen geringfügigen Lohn. Die Speisungen des Joint in Polen umfassen gegenwärtig #{6}00 000 Personen täglich. Die von Ihnen erwähnte Warschauer Zeitung erscheint nicht, dagegen gibt es in Krakau eine Zeitung, von der wir gelegentlich Exemplare gesehen haben. Ich werde versuchen, Ihnen diese Zeitung zugehen zu lassen; ob das regelmässig gelingen wird und ob sie ankommt, ist eine andere Sache. Die erwähnte Zeitung bringt auch Nachrichten aus Palästina und wir lassen neuerdings ausgewählte Mitteilungen im Rahmen unseres Nachrichtendienstes nach Warschau und Krakau gelangen. Die Zeitung ist ziemlich umfangreich, sie heisst Gazeta Zydowska54 und erscheint ausschliesslich in polnischer Sprache. Sie bringt die amtlichen Ankündigungen und alle die Verordnungen, die Gemeinden für ihre Mitglieder zu erlassen haben. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass es überhaupt eine Tendenz der deutschen Behörden ist  – auch in Deutschland und im Protektorat – den Erlass und die Ausführung von Verordnungen auf die jüdischen Gemeinden zu übertragen. Diese sind gegenüber der Behörde dann verantwortlich, dass die Verordnungen durchgeführt werden. Es handelt sich dabei um die Regelung der Auswanderung, des Arbeitsdienstes, der Wohltätigkeits-Institutionen, etc., etc. Diese Tendenz geht soweit, dass in manchen kleineren Orten sogar eine jüdische Polizei eingerichtet worden ist. Deutsche Zeitungen verweisen öfters mit einem gewissen Stolz darauf, dass die deutsche Verwaltung in das Leben der Juden in Polen „Ordnung“ gebracht und Gemeindeorganisationen geschaffen hat. In einem gewissen Sinne 53 Im Oktober 1939 hatten die Nationalsozialisten den Arbeitszwang für die jüdische Bevölkerung im Generalgouvernement eingeführt. Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements vom 26. Oktober 1939, in: VEJ, Bd. 4: Polen. September 1939 – Juli 1941, bearb. v. ­Klaus-Peter Friedrich, München 2011, 115. 54 Die Gazeta Żydowska (Jüdische Zeitung) war eine von zwei jüdischen Zeitungen, die mit Erlaubnis der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs erschienen. Die polnischsprachige Zeitung erschien vom 23. Juli 1940 bis zum 28. August 1942 zwei oder drei Mal pro Woche und wurde im gesamten Generalgouvernement vertrieben.

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ist dies auch richtig, da an den Hauptplätzen die Gemeinden unter behördlicher Kontrolle organisiert wurden und ihre Hilfstätigkeit soweit möglich ausüben. |4| Aber das ändert nichts an der Gesamtlage der Bevölkerung wie sie vorstehend beschrieben wurde. 2.) Deutschland (einschliesslich Oesterreich und Tschechoslowakei) In diesen Gebieten ist in den letzten Monaten insofern eine gewisse Beruhigung zu verzeichnen, als die aufregenden Projekte, die im Frühjahr behandelt wurden, in den Hintergrund getreten sind. Man hört nichts mehr von dem Lubliner Projekt und von Massenverschickungen. Anderseits sind in dem Protektorat die wirtschaftlichen Massnahmen immer mehr den{en} des Deutschen Reiches angepasst worden, sodass die Berufsausübung der Juden auch dort nur in Ausnahmefällen möglich ist. In Deutsch##{la}nd selbst und ebenso in Wien können Juden heute praktisch überhaupt keinen Beruf irgendwelcher Art mehr ausüben, mit Ausnahme der nachstehend geschilderten Sonderfälle. Von den Juden in dem Gebiet des früheren deutschen Reiches (ungefähr 160 000 an Zahl) lebt ca. ein Drittel von öffentlicher Wohltätigkeit und die anderen zwei Drittel von den Resten ihres früheren Besitzes, wobei bekanntlich scharfe Einschränkungen betreffend Abhebung ihrer Guthaben von den Banken bestehen. Durchschnittlich dürfen die Juden monatlich 100–500 M von der Bank abheben, soweit sie noch Geld besitzen. In wenigen besonderen Fällen können Abhebungen auch 1000 M und mehr im Monat betragen, doch muss dann ein wesentlicher Teil an die Reichsvereinigung55 der Juden abgeführt werden. In Wien ist der Prozentsatz der von der öffent­ lichen Wohltätigkeit lebenden Juden noch erheblich grösser als in Deutschland. 55 Die Reichsvertretung der Deutschen Juden wurde 1933 als Dachorganisation der deutschen Judenheit gegründet und 1935 in Reichsvertretung der Juden in Deutschland sowie 1939 in Reichsvereingung der Juden in Deutschland umbenannt. Am 4. Juni 1939 wurde die Reichsvereinigung durch die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz von den Nationalsozialisten übernommen und stand fortan unter der Aufsicht des Reichsministeriums des Inneren und unter direkter Kontrolle der Gestapo, des SD und ab September 1939 des RSHA. Sämtliche nach den Nürnberger Gesetzen als Juden geltenden Pesonen sowie alle noch existierenden jüdischen Organisationen, Stiftungen und mehr als 1600 jüdische Gemeinden wurden zwangsweise in die Reichsvereinigung eingegliedert. Die Reichsvereinigung wurde zu einem ausschließlich weisungsgebundenen Verwaltungsorgan umgewandelt und diente den Nationalsozialisten als Instrument zur Kontrolle der jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2011.

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An Berufsausübung kommt praktisch eigentlich nur noch die Tätigkeit bei jüdischen Institutionen selbst in Frage (Reichsvertretung, Palästinaamt, etc.). Ferner {gibt es} in ganz beschränkter Zahl jüdische Ärzte („Juden­ heiler“) und jüdische Anwälte (als Rechtsberater, die natürlich nicht vor Gericht auftreten dürfen), {u.} selbstverständlich ausschliesslich für das jüdische Publikum. Schliesslich gibt heute die Zulassung einer gewissen Zahl von Juden für gewisse Arbeiten (Fabrikarbeit und öffentliche Arbeiten) insbesondere in Berlin einer gewissen Anzahl von Juden  – Männern und Frauen  – etwa 20–30 000 – Beschäftigung und Verdienst in Höhe des Arbeitslohnes eines ungelernten Arbeiters. Abgesehen von der verzweifelten wirtschaftlichen Lage ist auch sonst das Leben der Junden in Deutschland immer düsterer geworden, da sie auch ab­gesehen vom Geldmangel gar keine Möglichkeiten zu irgendeinem gesellschaftlichen oder kulturellen Verkehr haben. Es versteht sich, dass ein Jude weder ins Theater noch in ein Kino geht und neuerdings sind ihnen auch ausser den Radioapparaten, die Telephone entzogen worden. Die Einkaufsmöglichkeiten sind besonders in Berlin sehr erschwert, da Juden dort jetzt ausschliesslich in der Zeit zwischen 5 und 6 Uhr nachmittags einkaufen dürfen. |5|  Einer der Hauptleiter der Reichsvereinigung (Epstein [sic])56 ist z. Z. angeblich verhaftet, weil er sich gewissen Tendenzen der Behörden, die mit der Auswanderung zusammenhängen, nicht gänzlich fügen wollte. Die bei Kriegsausbruch in Deutschland befindlichen polnischen Untertanen befinden sich noch immer im Konzentrationslager.57 3.) Besetzte Gebiete im Westen In Dänemark, Belgien, Holland, {Nord-Frankreich} und Norwegen ist die Lage der jüdischen Bevölkerung verhältnismässig weit günstiger als in Deutschland. Die Militärverwaltung hat sich bisher mit der Judenfrage noch nicht befasst und die Zivilgesetzgebung ist vorläufig noch die alte. Eine Ausnahme bildet Luxemburg, wo die Nürnberger Gesetze bereits eingeführt 56 Der Soziologe Paul Eppstein (1901–1944) war ab Juli 1939 in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland tätig. Am 15. August 1940 wurde er von der Gestapo verhaftet, da er sich Anordnungen des RSHA widersetzt habe und blieb vier Monate inhaftiert. Im Januar 1943 wurde er gemeinsam mit seiner Frau Hedwig Eppstein (1903–1944), Leo Baeck (1873–1956) und weiteren Funktionären der Reichsvereinigung ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort wurde er zum Nachfolger Jakob Edelsteins (1903–1944) als Judenältester. Am 27. oder 28. September 1944 wurde er in Theresienstadt erschossen. Wolfgang Benz, Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Portraits, München 2011, 65–77. 57 Siehe Dokument 50.

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sind. Das hängt naturgemäss damit zusammen, dass Luxemburg als endgültig annektiert gilt. Der Postverkehr mit den besetzten Gebieten ist jetzt wieder hergestellt, auch einschliesslich Belgien, wohin man vorläufig nicht schreiben konnte. Wir werden jetzt versuchen, von dort Nachrichten zu erhalten. Dass wir besonders mit Holland in ständiger Verbindung stehen, ist aus meinen letzten Briefen bekannt. Es ist charakteristisch für die dortige vorstehend skizzierte Situation, dass unser Freund Vissher [sic]58 sich nach wie vor im Amt befindet. Die Zahl der Verhaftungen deutsch-jüdischer Emigranten in Holland ist verhältnismässig gering, sie soll im ganzen 89 Personen betragen, wobei es sich um Leute handelt, die von den deutschen Behörden wegen bestimmter Verstösse (Devisenordnung oder wegen spezieller politischer Missliebigkeit) gesucht wurden. In Elsass-Lothringen mussten die Juden, soweit sie nicht schon vorher im Zuge der Kriegsereignisse das Gebiet verlassen hatten, auswandern. Sie durften einen kleinen Geldbetrag mitnehmen und sind grösstenteils in das unbesetzte französische Gebiet gegangen. Das hängt wiederum, ähnlich wie im Falle Luxemburg, damit zusammen, dass Elsass-Lothringen dauernd in Deutschland bleiben ### {soll. Die Rückkehr der Juden aus dem unbesetzten in das besetzte Gebiet Frankreichs ist nicht gestattet. Im unbesetzten Gebiet herrscht grosses Flüchtlingselend.} 4.) Slowakei Bis vor kurzem waren die Verhältnisse in der Slowakei wesentlich günstiger als im Protektorat. In den letzten Wochen aber ist eine sehr grosse Verschlechterung eingetreten. Die Juden werden dort ähnlich wie im Protektorat aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet und haben sehr unter den behördlichen Schikanen zu leiden. 5.) Balkan-Staaten Über die Zustände in diesen Gebieten brauche ich Ihnen keine näheren Angaben zu machen. Vorläufig hat sich dort nichts Entscheidendes geändert, mit Ausnahme von Rumänien, wo bereits als Resultat der neuen politischen Wendung, neue Massnahmen gegen die Juden im Gange sind. Aber auch in gewissen anderen Balkan-Staaten sind Anzeichen vorhanden, dass die unfreundlichen Tendenzen an Einfluss gewinnen. 58 Lodewijk Ernst Visser (1871–1942) war ein niederländisch-jüdischer Jurist und Direktor des Keren Hayesod in den Niederlanden. 1933 wurde er zum Vizepräsidenten und 1939 zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ernannt. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten im Mai 1940 blieb er zunächst im Amt und wurde erst im März 1941 entlassen.

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|6| 6.) Auswanderung Die Haltung der deutschen Behörden zur Auswanderung ist folgende: Aus den Gebieten des Altreichs, Österreichs und des Protektorates wird die Auswanderung weiter als erwünscht betrachtet und mit allen Mitteln gefördert. Dagegen ist die Auswanderung aus den besetzten oder annektierten Gebieten verboten, was sich also auf Holland, Belgien, Dänemark, Frankreich und insbesondere auch auf Polen bezieht, von wo früher eine gewisse Auswanderung möglich war, die aber jetzt ganz untersagt ist. Dabei ist die einzige Hoffnung der Juden in Zentral- und Osteuropa die Auswanderung. Die Schwierigkeiten werden jedoch immer grösser. Was die Wanderung nach Palästina betrifft, so kennen Sie ja die Schwierigkeiten, sowohl hinsichtlich der Geldbeschaffung, wie hinsichtlich der Erlangung der Durchreisevisen. Aber auch nach Amerika kommt die Wanderung mehr und mehr ins Stocken. Der einzige Weg {### ### ###} war bisher über Lissabon und es scheint nach den letzten Nachrichten, dass auch dieser Weg bald nicht mehr gangbar sein wird. Lissabon ist von Flüchtlingen so überfüllt, dass die portugiesische Regierung immer neue Schwierigkeiten für die Einreise macht, und nach der neu{e}sten Meldung, die heute in hiesigen Zeitungen steht, sollen nicht nur die Clipper-Dienste, sondern auch der normale Schiffsverkehr keine Emigranten mehr mitnehmen. Zugleich haben die Nordamerikanischen Konsulate seit Wochen verschärfte Anweisungen erhalten, die es z. B. in Deutschland den Juden, die sich schon {fast} im Besitz amerikanischer Visen befinden, kaum ermöglichen, davon Gebrauch zu machen. Jeder Einzelne wird, ### wenn {bevor} er ### ### {endgültig das} Visum hat {erhält}, von einer Kommission aus drei Personen bestehend im Konsulat verhört, und muss Fragen beantworten, die er unmöglich beantworten kann, solange er sich noch auf deutschem Boden befindet. Diese ausgesprochen schikanöse Handhabung seitens der Amerikaner entspricht der allgemeinen Tendenz in Amerika, jede Art von Immigration aus Europa aufs äusserste einzuschränken. Das hängt z. T. mit der Angst vor der fünften Kolonne, z. T. wohl auch mit der Abneigung gegen alles Europäische zusammen, da Europa dem Durchschnitts-Amerikaner als ein Hexenkessel und schon halb verlorener Posten der Zivilisation erscheint. Das ist ja auch der psychologische Grund, weshalb die Sammlungen in Amerika so schlecht gehen: Man hat keine Neigung mehr, für das Hilfswerk in einem Kontinent Geld zu geben, wo die Hilfe in einem Meer von Blut und Elend scheinbar bedeutungslos wird. Die jüdischen Organisationen müssen mit grösster Anstrengung gegen diese Tendenz ankämpfen, um noch Teile der Juden{heit} zu retten. Wie man sich in den heute in Kontinental-Europa beherrschenden Kreisen die Lösung der Judenfrage nach dem Kriege denkt, dürfte Ihnen ja bekannt sein. Manche Zeitungen haben darüber berichtet und es gibt sogar ein

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bestimmtes Amt, das sich schon mit dieser Frage in konkreter Form befasst. Die z. Z. vorherrschende Meinung ist, dass nach dem Kriege die Judenfrage in Europa radikal durch vollständige Auswanderung der noch vorhandenen Juden gelöst werden soll, wobei eine Ansiedlung auf Madagascar geplant ist. Die von jüdischen und christlichen Sachverständigen in einem früheren Zeitpunkt über Madagascar erstatteten Berichte,59 die {im} wesentlichen ungünstig laute{ten}, werden von der betreffenden amtlichen Stelle als vollkommen falsch bezeichnet und es wird behauptet, dass sich dort |7| sehr wohl eine grosse Massensiedlung durchführen liesse, wobei das Judentum selber mitwirken soll und eine gewisse Selbstverwaltung der Juden (natürlich unter einem nichtjüdischen Gouverneur) geplant ist. Palästina spielt im Rahmen dieser Gedankengänge selbstverständlich keine Rolle mehr, es soll in Zukunft einer Macht gehören, die die Judensiedlung dort entweder ganz liquidieren oder mindestens nicht weiter zulassen wird. 7.) Schweiz Ich will schließlich noch einige Worte über die Lage in der Schweiz hinzufügen, obwohl sie vollkommen anders ist als in den vorstehend beschriebenen Ländern. Die Schweizer Judenschaft selbst zählt nur 18 000 Seelen. Es gibt darunter eine gewisse Anzahl reicher oder wohlhabender Familien, während

59 Der sogenannte Madagaskar-Plan, der die Ansiedlung von Juden auf der Insel vorsah, wurde erstmals in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre von der polnischen Regierung unter Marschall Edward Rydz-Śmigły (1886–1941) vorgebracht, die darin eine Möglichkeit sah, sich eines Großteils ihrer jüdischen Bevölkerung zu entledigen. Auch jüdische Kreise, die vor dem Hintergrund der antisemitischen Politik in Deutschland und Polen sowie den Einwanderungsbegrenzungen in Palästina und den Vereinigten Staaten dringend auf der Suche nach einem Ort für jüdische Emigranten waren, befürworteten das Vorhaben zeitweilig. Die französische Regierung, die die Insel 1896 annektiert hatte, unterstützte den Plan zunächst, ließ ihn jedoch nach einer erfolg­ losen Erkundungsmission im Mai 1937 wieder fallen. Die polnische christlich-jüdische Delegation der Erkundungsmission kam zu dem Schluss, dass die Insel ungeeignet für eine Ansiedlung sei. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Sommer 1940 wurde der Plan erneut von den Nationalsozialisten diskutiert, die darin eine Möglichkeit sahen, zu einer territorialen Lösung der »Judenfrage« zu gelangen. Diesbezügliche Planungen wurden sowohl im Auswärtigen Amt als auch im Reichssicher­ heitshauptamt angestellt. Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und der einsetzenden systematischen Ermordung der europäischen Juden wurde das Projekt endgültig aufgegeben. Carla Tonini, Art.  Madagaskar-Plan, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 4, 19–23.

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die Majorität sich keineswegs in besonders günstigen materiellen Umständen befindet. Die Schweizer Judenschaft hat seit Jahren die Fürsorge für etwa 2000 unterstützungsbedürftige Emigranten zu beschaffen. (Die Gesamtzahl der Emigranten hier dürfte 7–8000 betragen.) Die Tendenz der Schweizer Behörden geht dahin, diese Emigranten sobald wie möglich loszuwerden und sie verlangen dort ständig die Kooperation der jüdischen Gemeinde. Es sind auch ganz erhebliche Zahlen von Juden in den letzten Jahren von hier weitergewandert; anderseits sind die Einreiseschwierigkeiten jetzt derart gross geworden, dass nur noch sehr wenige hier fortfahren können. Eine ### {Anzahl} von der Gemeinde {früher} unterstützten Personen – etwa 5–600 – sind in Arbeitslagern untergebracht worden, die von der Regierung eingerichtet worden sind. Behandlung und Verpflegung sind dort entsprechend dem Schweizer Niveau selbstverständlich gut, wenngleich es den Juden z. T. schwer fällt, sich an die militärische Disziplin zu gewöhnen, die besonders in einigen dieser Lager herrscht. Im Grossen und Ganzen hat sich die Schweiz im Sinne ihrer Tradition als sehr entgegenkommend und tolerant erwiesen, aber natürlich verstärkt sich jetzt die Meinung, dass mit Rücksicht auf die schwierige Wirtschaftslage der Schweiz, eine möglichst baldige Abreise der Emigranten erwünscht ist. Das führt stimmungsgemäss zu einer gewissen Verschärfung im Verhalten der Verwaltungsorgane gegenüber den einzelnen Emigranten.60 Die Beziehungen zwischen Regierung und Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund,61 dessen Leitung62 bei den Behörden grosses Ansehen geniesst, sind sehr gut; sie arbeiten Hand in Hand, wobei von jüdischer Seite freilich manchmal Konzessionen an den schweizerischen Standpunkt gemacht werden müssen. 60 Zur Schweizer Politik gegenüber jüdischen Geflüchteten siehe Picard, Die Schweiz und die Juden; Unabhängige Expertenkommission Schweiz  – Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Überarbeitete und ergänzte Fassung des Berichts von 1999, Zürich 2001. 61 Der 1904 gegründete Schweizerische Israelitische Gemeindebund vertrat die Interessen der Schweizer Juden gegenüber den Behörden. Während des Zweiten Weltkriegs nahm sich der Gemeindebund vornehmlich der Versorgung der jüdischen Geflüchteten an. 62 Saly Mayer (1882–1950) war von 1936 bis 1943 Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und übernahm gleichzeitig ab 1940 die ehrenamtliche Vertretung des JDC in der Schweiz. Yehuda Bauer, »Onkel Saly« – Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), H. 2, 188–219; Hanna Zweig-Strauss, Saly Mayer. Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust, Köln 2007.

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So stellt sich das Gesamtbild der Judenlage heute in Europa dar. Wenn Sie zu einzelnen Punkten oder speziellen Fragen noch weitere Aufklärungen und Erläuterungen wünschen, so bin ich natürlich gerne bereit, Ihnen dieselben zu liefern, soweit mir die Umstände das dann noch gestatten werden. Mit den besten Grüssen, Ihr {R. Lichtheim} |8|  P.S. Ich nehme an, dass Sie Abschriften dieses Briefes den diversen dor­ tigen Stellen zugänglich machen, insbesondere den Mitgliedern der Exekutive und auch den Leitungen der Fonds. Auch wäre es vielleicht zweckmässig, der Hogoa63 eine Abschrift zur Kenntnis und eventuell wenigstens teilweisen Verwertung in ihrem Mitteilungsblatt64 zugänglich zu machen. (In diesem Falle empfielt [sic] es sich natürlich, gewisse kleine Korrekturen anzubringen, insbesondere was etwa genannte Personen betrifft.)

Dokument 55 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 15. November 1940 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten mit Abschriften von Dokumenten aus den besetzten Niederlanden, 3 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Brief mit maschinenschriftlicher Paginierung, Anhang ohne Paginierung, außer Seite 5 (»Blatt 2«) CZA, L22/241 [Lichtheim berichtet über die Lage der Juden und die antisemitische Gesetzgebung in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Rumänien. Im Anhang übermittelt er Kopien von drei Schreiben mit Ausführungsbestimmungen zu

63 Die Hit’ahḍ ut ole Germanya we-ole Austria (Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland und Österreich) wurde 1932 in Tel Aviv unter dem Namen Hit’aḥdut ole Germanya (Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland) gegründet und befasste sich mit der Eingliederung von Einwanderern aus dem deutschsprachigen Raum. 1942 erfolgte eine Umbenennung in Irgun ole merkaz Europa (Organisation der Einwanderer aus Zentral­europa). 64 Das Mitteilungsblatt war von 1933 bis 1942 das Sprachrohr der Hit’aḥdut ole Germanya we-ole Austria, von 1942 bis 1948 der Aliya Ḥ adasha und ab 1948 der Irgun ole merkaz Europa.

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einer Verordnung, die darauf abzielt, Juden aus dem Staatsdienst und der Verwaltung der besetzten Niederlande zu entfernen. Ein weiteres angehängtes Schreiben dokumentiert den Protest verschiedener niederländischer Kirchen gegen die antijüdische Verordnung der deutschen Besatzer.] 15.11.[19]40

RL / LU / A3 Herrn Dr. Leo Lauterbach Brief Nr. 174: Die Lage in Europa Lieber Dr. Lauterbach,

in Ergaenzung meiner frueheren Berichte teile ich Ihnen folgendes mit: 1.) Holland: Waehrend in den ersten Monaten nach der Besetzung noch keinerlei sichtbare Eingriffe erfolgten, da die Militaerverwaltung sich um die Judenfrage nicht kuemmerte, ist nach Einsetzung des Reichskommissars Seyss-Inquart65 allmaehlich der Druck auf die innere Verwaltung verstaerkt worden und neuerdings ist nun auch der Versuch gemacht worden eine anti-juedische Gesetzgebung einzufuehren.66 Dies haelt sich allerdings, gemessen an dem deutschen Vorbild, noch in engen Grenzen. Im September wurde eine Ver65 Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) war ein österreichischer Rechtsanwalt und nationalsozialistischer Politiker. 1938 war er auf Druck Deutschlands zunächst österreichischer Innen- und Sicherheitsminister und kurzzeitig Kanzler. Nach der Annexion Österreichs fungierte er bis April 1939 als Reichsstatthalter des Landes. Von 1939 bis 1945 war er Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Seyß-Inquart zunächst als Stellvertreter des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete Hans Frank eingesetzt, bis ihn Hitler am 18. Mai 1940 zum Reichskommissar für die Niederlande ernannte. Er wurde 1945 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof angeklagt, 1946 zum Tod verurteilt und hingerichtet. Johannes Koll, Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945), Köln / Wien 2015. 66 Siehe dazu Isabel Gallin, Rechtsetzung ist Machtsetzung. Die deutsche Rechtsetzung in den Niederlanden 1940–1945, Frankfurt a. M. u. a. 1999.

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Dokument 55

ordnung erlassen, die bezweckt, zu verhindern, dass in Zukunft juedische Beamte neu ernannt oder im Dienste befindliche befoerdert werden. Es ist mir gelungen, den Text der diesbezueglichen Verordnung zu erhalten. Ich sende Ihnen denselben in der Anlage. Gleichzeitig sende ich Ihnen ein interressantes Dokument des Protests, naemlich eine Mitteilung der obersten hollaendischen Kirchengemeinde an die christlichen Gemeinden, worin von einer ̊ an den Reichkommissar gerichtete Adresse die Rede ist. Diese Mitteilung an die Gemeinden wurde in allen Kirchen verlesen. Natuerlich hat dieser Protest keinen Erfolg gehabt, aber er ist doch ein interessantes Symptom der oeffentlichen Meinung Hollans{ds}. Sie sollten die diesbezueglichen Beilagen dort in geeigneter Form und mit den noetigen Kommentaren veroeffentlichen. 2.) Aus Belgien ist es fast unmoeglich Nachrichten zu erhalten. Bis vor kurzem war ueberhaupt keine Postverbindung mit dem Auslande erlaubt. Neuerdings ist dieses zugelassen, jedoch infolge der Zensur fuer die Feststellung der wirklichen Lage fast wertlos. Dazu kommt, |2| dass das schon immer sehr schwache Gemeindeleben der zahlenmaessig geringen belgischen Judenheit jetzt ganz zusammengebrochen zu sein scheint. Im Gegensatz zu Holland, wo die Zahl der einheimischen Juden weit groesser war und ein stark entwickeltes Gemeindeleben bestand, war bekanntlich die eigentliche belgische Judenheit an Zahl sehr gering. Sie setzte sich im Grunde aus einigen Dutzend Familien teils deutsch-juedischer, teils hollaendisch-juedischer Abstammung zusammen. Die grosse Masse der Juden in Belgien waren aus Osteuropa Eingewanderte, wie jeder weiss, der einmal in Antwerpen war. Ein Grossteil dieser juedischen Bevoelkerung und darunter die meisten ihrer Fuehrer sind nun nach dem Einmarsch der Deutschen nach Frankreich gefluechtet. Inzwischen ist eine kleine Anzahl der belgischen Juden zurueckgekehrt, von den osteuropaeischen Juden jedoch eine verschwindend geringe Zahl, unter ihnen Rabbiner Brod.67 Auch die wenigen Fuehrer der kleinen belgisch-juedischen Gruppe sind in alle Winde zerstreut. Max Gottschalk68 soll in Amerika sein.

67 Samuel Halevi Brod war ein Rabbiner aus Antwerpen und führendes Mitglied der religiös-zionistischen Bewegung Misrachi. 68 Max Gottschalk (1889–1976) war ein belgisch-jüdischer Jurist, Sozialwissenschaftler und Gemeindefunktionär. Er war unter anderem von 1921 bis 1940 für die Internationale Arbeitsorganisation tätig und wirkte von 1935 bis 1940 als Präsident der belgischen Sozialversicherung. Zudem war er in zahlreichen Gremien der jüdischen Gemeinden Belgiens tätig und leitete von 1933 bis 1940 das Comité d’aide et

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Aus all diesen Gruenden ist ueber die Lage in Belgien zur Zeit sehr wenig zu erfahren. 3.) In Frankreich wird die Lage nach wie vor von dem Fluechtlingsproblem beherrscht. In frueheren Berichten habe ich mittgeteilt, dass sich in dem besetzten Gebiet mit Lyon als Zentrum Fuersorge-Komitées konstituiert haben, bei denen unsere Freunde massgebend beteiligt sind. Auch das franzoesische Konsortium69 hat sich wieder rekonstituiert. Die anti-juedische Gesetzgebung der Vichy-Regierung70 hat nach allen Berichten im Volk absolut keinen Anklang gefunden. Sie ist ein Resultat des Bemuehens dieser Regierung Suendenboecke zu finden und zugleich ein Ausdruck romantisch-katolisch-mittelalterlichen  [sic] Tendenzen wie sie bei dieser Regierung ueberhaupt anzutreffen sind. Pétain71 und manche seine Anhaenger moechten das „alte Frankreich“ auf baeuerlicher Grundlage herstellen, wobei die Erinnerung an die Glanzzeit unter den Koenigen die Gefuehlsgrundlage abgibt. Damit vermischt sich die moderne Tendenz des Militarismus und Faschismus und das alles zusammen findet praktischen Ausdruck in einer anti-juedischen Haltung. Wie gesagt, interessiert sich das d’assistance aux victimes de l’antisémitisme en Allemagne. 1940 flüchtete er vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten. 69 Bei dem 1808 gegründeten Consistoire central des israélites de France handelt es sich um die religiöse Dachorganisation der Juden in Frankreich. Im Zuge der Verlegung des französischen Regierungssitzes infolge der deutschen Invasion Frankreichs verließ auch das Consistoire Paris und verlegte sein Hauptbüro nach Lyon. 70 Die Stadt Vichy war von Juli 1940 bis August 1944 der Sitz der Regierung des État français unter Marschall Philippe Pétain (1856–1951), die nach dem am 22. Juni 1940 mit dem Deutschen Reich geschlossenen Waffenstillstand das nicht besetzte Südfrankreich (die sogenannte Zone libre) verwaltete. Die Regierung erließ ohne direkten Einfluss Deutschlands Gesetze, die Juden ohne französische Staatsbürgerschaft von bestimmten Berufen ausschlossen und schließlich deren Internierung ohne Angabe von Gründen ermöglichten. Diese Maßnahmen richteten sich sowohl gegen die zahlreichen nach Südfrankreich geflüchteten ausländischen Juden als auch gegen Juden aus dem östlichen Europa, die bereits seit dem späten 19. Jahrhundert vermehrt nach Frankreich eingewandert waren. Michael Mayer, Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und »Judenpolitik« in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. Ein Vergleich, München 2010. 71 Philippe Pétain (1856–1951) war ein französischer Militär und Politiker. Angesichts der militärischen Niederlagen Frankreichs im Krieg gegen Deutschland wurde er im Mai 1940 Mitglied der französischen Regierung, übernahm im Juni das Amt des Premierministers und vereinbarte einen Waffenstillstand mit Deutschland. Von 1940 bis 1944 regierte er als Staatschef mit nahezu diktatorischen Vollmachten den État français.

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franzoesische Volk wenig fuer die Angelegenheit, weil das alles mit seinen heutigen Sorgen und Noeten nichts zu tun hat. Auch bestaetigen alle Berichte, dass die gewaltige Mehrheit des Volkes nach wie vor den Sieg Englands wuenscht, dass auch de Gaulle72 sehr viel Anhaenger hat und dass der ganze Vichy-Spuk verschwinden wird, wenn England militaerisch das Uebergewicht bekommt. Zum Thema juedisches Fluechtlingsproblem ist noch zu bemerken, dass dieses neuerdings durch die Vertreibung der Juden aus Sueddeutschland weiter verschaerft worden ist. (Vergleiche meinen Brief Nr.  156).73 In der Anlage sende ich Ihnen Abschrift eines Schreibens, |3| das ich aus dem Lager von „Gurs“74 erhalten habe, sowie Kopie meiner Antwort. Solche Schreiben kommen zu Hunderten nach der Schweiz, da jeder der vertriebenen Juden aus Sued-Deutschland der hier Verwandte oder Bekannte hat, sich hilfesuchend an diese wendet.75 72 Charles de Gaulle (1890–1970) war ein französischer General und Politiker, der während des Zweiten Weltkriegs den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs anführte. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich befehligte er die 4. Panzerdivision gegen die Offensive der Wehrmacht. Am 6. Juli 1940 wurde er von Ministerpräsident Paul Reynaud (1878–1966) zum Unterstaatssekretär für Nationale Verteidigung ernannt. Als Pétain nach dem Rücktritt Reynauds die Regierungsgeschäfte übernahm, verließ de Gaulle die Regierung und das Land aus Opposition zu den Plänen Pétains, ein Waffenstillstandsabkommen mit dem Deutschen Reich zu unterzeichnen. Im Londoner Exil gründete er das Komitee Freies Frankreich und führte den Widerstand gegen Deutschland an. Von 1944 bis 1946 war er Präsident der Provisorischen Regierung Frankreichs und von 1959 bis 1969 Präsident der Fünften Französischen Republik. 73 CZA, Z4/30897, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 5.  November 1940 (Brief Nr. 156). In dem Brief informierte Lichtheim Lauterbach über die Verschleppung der jüdischen Bevölkerung Süddeutschlands in das Internierungslager Gurs. 74 Das Camp de Gurs in Südfrankreich diente bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als französisches Internierungslager für Geflüchtete und ehemalige Kämpfer des Spani­schen Bürgerkriegs. In der später sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion wurde am 22. und 23.  Oktober 1940 auf Betreiben der beiden Gauleiter Robert Wagner ­(1895–1946) und Josef Bürckel (1895–1944) fast die gesamte jüdische Bevölkerung Badens, der bayrischen Pfalz und der Saarpfalz in das von der mit den National­ sozialisten kollaborierenden Vichy-Regierung betriebene Lager verschleppt. Ab 1942 wurden die dort Internierten in Vernichtungslager deportiert und ermordet. 75 Siehe dazu auch den Briefwechsel Lichtheims mit Hermine Mirwis (1880–vermutlich 1940), einer nach Gurs Deportierten, vom 20. November 1940: Letter from Richard Lichtheim to Leo Lauterbach, Jewish Agency, Jerusalem, November  20, 1940, and further correspondence regarding the case of Hermine Mirwis, deported from Baden to Gurs, in: Matthäus, Prediciting the Holocaust, 107–110.

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4.) Rumaenien: Infolge der radikalen Schwaenkung der rumaenischen Politik, die schon unter dem vorigen Koenig einsetzte, ist die bereits bestehende Judengesetz­ gebung erheblich verschaerft worden.76 Es sind eine ganze Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen worden, die darauf abzielen, die Juden aus dem oeffentlichen Leben vollkommen zu verdraengen (Staatsdienst, Presse, Film, Advokaturen). Auch die wirtschaftliche Betaetigung wird immer mehr eingeschraenkt. Schon vor laengerer Zeit wurde den Juden die Schankkonzession entzogen und alle neueren Gesetze suchen sie auch aus den fuehrenden Stellungen von Handel und Industrie auszuschliessen. Wie weit das alles schon in der Praxis durchgefuehrt ist, laesst sich schwer ermitteln, zumal man ja hierueber nicht korrespondieren kann. Eine gestern hier abgehoerte Sendung des Londoner Radios sprach von Einfuehrung der Nuernberger Gesetze in Rumaenien.77 Unsere dortigen Freunde schreiben sehr wenig und mit grosser Zurueckhaltung. Das Erdbeben78 soll unter den Juden in Bukarest und Jassy eine Anzahl Opfer gefordert haben, doch sind mir Namen noch nicht bekannt. Beste Gruesse Ihr R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

76 Bereits in der Zwischenkriegszeit hatte der Antisemitismus in Rumänien stark zugenommen. 1937/1938 erließ die Regierung unter dem offen antisemitischen Politiker Octavian Goga (1881–1938) erste antijüdische Gesetze, die unter anderem dazu führten, dass über 250 000 Juden ihre rumänische Staatsangehörigkeit verloren. Im August 1940 folgten Gesetze über die Kategorisierung von Juden, das Verbot von Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden sowie erste Berufsbeschränkungen. Als im September König Carol II. (1893–1953) zur Abdankung gezwungen wurde, entstand unter seinem Sohn Mihai I. (1921–2007) eine faschistische Militärdiktatur, die von General Ion Antonescu (1882–1946) angeführt wurde. Unter Antonescu wurde die antijüdische Gesetzgebung maßgeblich verschärft. 77 Mitte November 1940 verfügte die Regierung Antonescu über eine Fülle antijüdischer Gesetze, die auf eine Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben zielten. Zur antijüdischen Gesetzgebung in Rumänien siehe Radu Ioanid, The Holocaust in Romania. The Destruction of Jews and Gypsies under the Antonescu Regime, 1940–1944, Chicago, Ill., 2000, 19–36. 78 Am 10. November 1940 ereignete sich ein schweres Erdbeben in Rumänien, bei dem mehr als 600 Menschen umkamen.

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[|4|]  Abschrift Holland Der Reichskommissar etc. Der Generalkommissar fuer Verwaltung und Justiz79 An die Herren Generalsekretaere etc. Betr: Ausfuehrung der IV. Verordnung80 ueber besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen. Z. L 916 Ve/40

den Haag, den 28. August 1940

Zur Ausfuehrung der IV. Verordnung Nr. 108/40 des Reichskommissars ueber besondere verwaltungsrechtliche Massnahmen weise ich Sie an, dafuer Sorge zu tragen, dass die niederl. Behoerden und Koerperschaften des oeffentl. Rechts in Zukunft keine Personen zu Beamten ernennen, ohne Belegung der Beamteneigenschaft, anstellen oder befoerdern, die ganz oder teilweise juedischen Blutes sind. Den Koerperschaften des oeffentl. Rechtes gleichzuhalten [sic],81 an denen der Staat, eine Provinz, eine Gemeinde oder eine andere Koerperschaft des oeffentl. Rechtes beteiligt ist. Wer ganz oder teilweise juedischen Blutes ist, kann ferner weder zu ehrenamtlicher Taetigkeit, gleichgueltig welcher Art, heranzgezogen werden, noch kann er Beschaeftigung im oeffentl. oder privaten Schuldienst finden, es sei denn, dass die betreffende Schule ausschliesslich von juedischen Schuelern besucht wird. Als ganz oder teilweise juedischen Blutes ist eine Person anzusehen, die auch nur von einem Großelternteil juedischen Blutes abstammt. Wer der juedischen Religionsgemeinschaft angehoert oder angehoert hat, ist in jedem Fall als Person juedischen Blutes anzusehen.

79 Friedrich Wimmer (1897–1965) war ein österreichischer Jurist und seit Mai 1940 Generalkommissar der Verwaltung und Justiz in den besetzten Niederlanden unter Seyß-Inquart. 80 In dieser Verordnung erteilte Seyß-Inquart sich selbst das Recht, die wichtigsten niederländischen Beamten und Angestellten zu ernennen, anzustellen und zu ent­lassen. Arthur Seyß-Inquart, Vierte Verordnung über verwaltungsrechtliche Maßnahmen, in: Verordnungsblatt für die besetzten niederländischen Gebiete 108 (1940), 20. August 1940, 338–340. 81 Satz in der Abschrift unvollständig.

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Beglaubigt: Sommer Regierungssekretaerin Z. 2544

gez. Wimmer

den Haag, den 11.IX.

Zur Ausfuehrung etc. weise ich Sie an, mir alsbald eine Zusammenstellung aller derjenigen Personen zukommen zu lassen, die innerhalb Ihres Zustaendigkeitsbereiches im Dienst des Staates, einer Provinz, einer Gemeinde oder einer anderen Koerperschaft des oeffentl. Rechts stehen und entweder ganz oder teilweise juedischen Blutes sind, oder mit einer Person ganz oder teilweise juedischen Blutes verheiratet sind. Diese Feststellung ist auch hinsichtlich derjenigen Personen zu treffen, die im Dienste von Koerperschaften, Einrichtungen und Stiftungen des privaten Rechtes stehen, an denen der Staat, eine Provinz, eine Gemeinde oder eine andere Koerperschaft des oeffentl. Rechtes beteiligt sind. Ferner auch hinsichtlich der Beamten und Angestellten aller oeffentlichen und speziellen Unterrichts- und Erziehungsanstalten. Als ganz oder teilweise juedischen Blutes … etc. siehe oben. In der Aufstellung ersuche ich, die Personen getrennt nach folgenden Gesichtspunkten aufzufuehren: 1.) Alle diejenigen Personen und Angestellten, die mehr als 2 Grosselternteile juedischen Blutes haben. 2.) Alle … etc., die 2 Grosselternteile … etc. 3.) Alle … etc. die 1 Grosselternteil … etc. 4.) Die Ehegatten der vorgenannten in der gleichen Aufteilung. Weiter ersuche ich, von allen Personen, die in der Zusammenstellung Aufnahme finden, die Amts- oder Dienstbezeichnung anzugeben, ihren Wohnsitz, ihren Geburtsort, sowie ihr Alter und Einkommen, das letztere getrennt nach dem Einkommen aus dienstlicher oder amtlicher Taetigkeit und aus Privatvermögen.82 gez: Wimmer [|5|]  Z. 2704 Ve/40

den Haag den 14. September 1940

Betr. Ausfuehrung … etc. (Mein Erlass vom 28.8. z.1916 Ve/40). 82 Vgl. auch Schreiben des Generalsektretärs des Justizministeriums, Jan Coenraad Tenkink (1899–1986), an alle Abteilungen des Justizministeriums und alle Organisa­ tionen, an denen das Ministerium beteilgt ist, 11. Oktober 1940, in: VEJ, Bd. 5: Westund Nordeuropa 1940 – Juni 1942, bearb. v. Katja Happe / Michael Mayer / Maja Peers, München 2012, 168–170.

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Dokument 55

In Ergänzung des oben bezeichneten Erlasses weise ich Sie weiter an, dafuer Sorge zu tragen, dass von der Ernennung, Anstellung oder Befoerderung im Sinne meines obens stehenden Erlasses auch alle diejenigen Personen ausgenommen sind, deren Ehegatten ganz oder teilweise juedischen Blutes sind, und dass diejenigen Beamten und Angestellten, die sich mit einer Person ganz oder teilweise juedischen Blutes verheiraten sollten, aus ihrem Amt, bezw. ihrem Dienst sofort ausscheiden. Beglaubigt etc.

gez. Wimmer

[|6|]  Abschrift   HOLLAND. Bekanntmachung. Auf Bitten der Allgemeinen Synode der Nederlandsche Hervormde Kerk83 wird der Gemeinde mitgeteilt, dass im Namen der folgenden protestantischen Kirchen in den Niederlanden: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

der Nederlandsche Hervormde Kerk; die Gereformeerde Kerken;84 die Christelijk Gereformeerde Kerk;85 die Gereformeerde Kerken in Nederland in Hersteld Verband;86 die Remonstrantsche Broederschap;87 die Algemeene Doopsgezinde Societeit,88

eine Adresse an den Reichskommissar für das besetzte Niederländische Gebiet89 gerichtet ist, in welcher Bittschrift diese Kirchen einmütig Ausdruck geben von den ernsten Bedenken, die sie aus Gründen der Barmherzigkeit und auf Grund der Heiligen Schrift haben gegen die vor kurzem erlassenen

83 84 85 86 87 88 89

Niederländsch-reformierte Kirche. Reformierte Kirchen. Christlich-reformierte Kirche. Reformierte Kirchen im wiederhergestellten Verband. Remonstrantische Bruderschaft. Allgemeine Taufgesinnten Gesellschaft. Schreiben (Nicht zur Veröffentlichung) von sechs protestantischen Kirchen an Reichskommissar Seyß-Inquart (Abschrift), 24. Oktober 1940, in: VEJ, Bd. 5, 177 f.

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Vorschriften, durch die die Ernennung und Beförderung von Beamten und anderen Personen jüdischen Blutes in den Niederlanden verboten werden, mit der dringenden Bitte an den Reichskommissar, mitzuarbeiten an der Zurückziehung der obengenannten Vorschriften. *** N.B. Die Synode dringt darauf, dass diese Abkündigung [sic] mit dem hier formulierten Text wörtlich übereinstimmt. Betrachtungen in der Predigt, in denen der Text besprochen oder mit einem Kommentar versehen wird, sind vollkommen unerwünscht, weil dadurch die Wirkung des unternommenen Schrittes beeinträchtigt werden könnte.

Dokument 56 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 11. Dezember 194090 Maschinenschriftlicher Brief, 6 Seiten; gedruckter Briefkopf auf Seite 1, gedruckte Kopfzeile auf Seite 2 bis 6 (»The Zionist Organisation / The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«); handschriftliche Korrekturen und Einfügungen CZA, L22/240 [Lichtheim berichtet von Pogromen in zahlreichen rumänischen Städten und der Verschärfung der antijüdischen Gesetzgebung in Rumänien. Er schildert den Umgang mit jüdischen Geflüchteten in Vichy-Frankreich, die Vertreibung von 9000 Juden aus Süddeutschland, deren Inhaftierung im Internierungslager Gurs sowie die dortigen Zustände. Zudem legt er dar, dass die deutschen Behörden in Belgien und den Niederlanden auf eine Verschärfung der antisemitischen Gesetzgebung drängen. Er beschreibt die Verunsicherung der Schweizer Juden, die sich in einem verstärkten Drang zur Auswanderung äußert. Abschließend stellt er Überlegungen zur Situation jüdischer Überlebender in Europa nach einem Ende des Kriegs an.] ‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE 90 Am selben Tag sandte Lichtheim eine Kopie des Briefs an Chaim Weizmann nach London. Weizmann Institute Archives, 16-2260, Richard Lichtheim an Chaim Weizmann, 11. Dezember 1941.

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Dokument 56

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Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse)

Genève, ¦11.12.[19]40/LU¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

{No. 218} With reference to my previous reports re: Situation in various European countries, I am giving you today some more details regarding: 1.) Rumania: The position of the Rumanian Jews, which has always been unsatisfactory, and has with the ascendance of the Fascist methods and ideas steadily deterioriated [sic] during the last years, has now – under the regime of the Iron Guard91 – become untenable. It is most difficult to obtain reliable reports, but there can be no doubt that serious pogroms have taken place during the last two or three weeks. Killings and looting are reported from Bucharest, Braila, Jassy and Ploesti. A few days ago, a new law has been promulgated which gives the Jews more or less the same status as in Greater Germany and in Poland. Military service is for them replaced by a tax and those unable to pay the tax are sent to camps for some sort of hard labour. Their treatment in these camps with Iron Guards as their masters can easily be imagined. For the rest the law follows the lines of the German anti-Jewish legislation: The Jews are completely excluded from the state services, the press, theatre, cinema and any other career of public interest. Jewish doctors are no longer allowed to treat non-Jewish patients, Jewish lawyers are no longer admitted to the courts, no financial nor industrial undertaking may be directed by Jews etc.

91 Die Eiserne Garde war eine 1927 von Corneliu Zelea Codreanu (1899–1938) gegründete antisemitische Bewegung in Rumänien. Von Juli bis September 1940 war sie erstmals an der Regierung beteiligt. Im Anschluss daran errichtete sie gemeinsam mit Ion Antonescu eine faschistische Diktatur in Rumänien. In den fünf Monaten, in denen die Eiserne Garde und Antonescu gemeinsam regierten, kam es zu zahlreichen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung, in denen Tausende Menschen ermordet wurden. Anfang 1941 verbot Antonescu die Eiserne Garde, die seine Machtstellung bedrohte. Ioanid, The Holocaust in Romania, 43–51.

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There are now in what is left of Rumania92 some three hundred fifty thousand Jews who will have to emigrate or starve if the present regime goes on for a longer period. But emigration is now impossible with the exception of that of a few hundred people who are in possession [of] or will receive certificates for Palestine. 2.) France: The anti-Jewish legislation in France is much milder than in Germany or Rumania and  – as already stated in previous reports  – of no great practical importance. The public is not interested in it – in France “ça ne prend pas.” |2| The Jewish problem of France today is the problem of the refugees and one of dire need. The famous camp of St. Cyprien,93 one of the most ugly results of French carelessness and administrative inability, has now been dissolved and most of the Jews interned there have been transferred to the Camp of Gurs. This camp has {w}one world-wide fame when the Jews in Southern Germany were sent there – a fine peace [sic]94 of French-German collaboration. You are probably aware of what happened: On the morning of October 23rd 9000 Jews of Baden and Pfalz (whose families, it may be said, have been living in these parts of Germany for many centuries) were driven from their homes without any previous warning.95 They were given one hour to pack one handbag and were allowed to take 100 Marks with them. Then they were bundled off and after a three days journey arrived in the Camp de Gurs (Basses-Pyrénées). The administration of this camp did not know beforehand that they were coming and had made no preparations to receive them. But even if they had, it would not have made any great difference, because what preparations could have been made in such an isolated place and in a country where even in the big towns you cannot buy a cake of soap or 92 1940 war Rumänien durch den Druck der Sowjetunion und des Deutschen Reichs dazu gezwungen worden, Bessarabien und die nördliche Bukowina an die Sowjetunion, das nördliche Siebenbürgen an Ungarn und die südliche Dobrutscha an Bulgarien abzutreten, wodurch es ein Drittel seines Territoriums verlor. 93 Das Camp de Concentration de Saint-Cyprien war ein von 1939 bis 1940 betriebenes Internierungslager in Südfrankreich, in dem hauptsächlich spanische Bürger­ kriegsgeflüchtete festgehalten wurden. Ab Mai 1940 wurden dort die von den belgischen Behörden nach Frankreich ausgwiesenen Personen interniert, bei denen es sich meist um Juden oder politisch verfolgte Deutsche und Österreicher handelte. Im Zuge der Schließung des Lagers Ende 1940 wurden rund 4000 Juden nach Gurs verschleppt. 94 Piece. 95 In der jüngeren Forschungsliteratur wird die Anzahl der zwischen dem 22.  und 23. Oktober aus Baden und der Saarpfalz nach Gurs deportierten Personen mit rund 6500 angegeben. Cesarani, »Endlösung«, 385.

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a woolen blanket. It must be said that the French officials and police in Gurs are behaving very well; they are showing much sympathy and understanding. A former Vicepresident of the Diet of Baden, who is among the interned Jews, represents the latter with the authorities. But what can they do? The situation is beyond description; as in all such camps men must be separated from the women and children. Thus the unfortunate families have not even the consolation of being together. The camp is divided into “Ilots” separated by barbed wire from each other, and in each Ilot there are a number of wooden barracks. These barracks have no floors and contain no beds. The people are lying on the ground, and many of them have not even blankets. There is a hospital. The difference between the other barracks and the hospital barrack consists in this that the latter has a wooden floor and some iron bedsteads. There are many doctors among the refugees, but no instruments and no medical supplies. The daily food ration is three hundred grams of bread and twice a day some soup. To this Camp de Gurs have been sent the 9000 Jews of Baden and Pfalz – all of them, including the ill and insane and the inmates of old aged asylums up to the age of 95 – and also 6 or 8000 Jews from St. Cyprien who for many month have already been living under similar conditions. How to get the interned Jews out of this inferno nobody knows. The old and ill are rapidly dying at the a rate of twenty per day. A delegate of the Red Cross has been there and has written a report.96 The Jews of Switzerland, who have many friends and relatives among the interned, are sending money and some supplies. So does the Joint from Lisbon. But the real difficulty is, that even with money not much can be done in view of the circumstances now prevailing in France. To set these Jews free is apparently not allowed to the French. To |3| keep them in Gurs under decent conditions would require an effort which is beyond the will or the possibilities of the government. The French have now their own problems, they have to look after 80 000 refugees from Lorraine,97 and the Vichy government is certainly not much interested in the fate of foreign Jews who have been dumped into the

96 Im Dezember unternahm der Mitarbeiter des Portugiesischen Roten Kreuz Fritz Sahlman eine Inspektionsreise nach Gurs. Steve Fulton, Gurs Camp Shocks Red Cross Officer, in: The New York Times, 28. Dezember 1940, 4; Anonymus, Red Cross Official Describes Ousting of 6000 German Jews to France, in: JTA Daily Bulletin, 29. Dezember 1940, 3 f. 97 Nach der Errichtung der deutschen Zivilverwaltungen im Elsass und in Lothringen im Juli 1940 schoben die Nationalsozialisten bis Ende 1940 Zehntausende unerwünschte Personen in den unbesetzten Teil Frankreichs ab. Darunter befanden sich auch einige Tausend Juden. VEJ, Bd. 5, 44.

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country by the Gestapo. What is needed in Gurs, are thousands of bedsteads and beddings of some kind, blankets, clothes, underwear, medical supplies, all sorts of household necessities, additional foodrations and sanitary equipment. The French administration is apparently unable and / or unwilling to provide for all that. I have discussed the matter with Mr. Trone, the American Jew who is selecting the people in Europe for the San Domingo Settlement.98 He is on his way to Lisbon where he will discuss it with Mr. Troper, who of course knows all about it. I have made the suggestion that the Joint – which for various reasons, one good some bad, is doing very little for the Jews of Europe (the good reason being that the American Jews do not want to send Dollars to Germany) – should at least do something substantial for the Jewish refugees and interned in unoccupied France. The Joint could thus save about 20 or 30 000 people. It must be remembered that apart from the 20 000 Jews interned in Gurs and some smaller camps, there are 20 000 other Jewish refugees in the unoccupied zone who fled there from the occupied zone and from Belgium. 3.) The situation in Germany and the German occupied territories (Poland, Denmark, Holland, Belgium) has repeatedly been described in previous reports and there is little to add. The German authorities are constantly pressing for anti-Jewish legislation and have issued instructions with a view to eliminate the Jews from public life in Belgium99 and Holland. It is said that the German authorities in Brussels wanted to introduce a Jewish badge like in Poland, a blue armlet with a yellow Magen David, but so many non-Jewish Belgians put it on that the measure was dropped. Of course, the situation in 98 Im Nachgang der Konferenz von Évian im Jahr 1938 hatte sich die von Rafael Trujillo (1891–1961) diktatorisch regierte Dominikanische Republik bereit erklärt, jüdische Verfolgte aus Europa aufzunehmen. Dafür verkaufte Trujillo der Dominican Republic Settlement Association (DORSA), eine eigenes für dieses Projekt gegründete Organisation, ein brachliegendes Gelände in der Nähe der Stadt Sosúa an der Nordküste der Insel. Salomon Trone (1872–1969), ein in Litauen geborener Ingenieur, rekrutierte im Auftrag der DORSA von Lissabon aus in verschiedenen europäischen Geflüchtetenlagern geeigneten Kandidaten für das Sosúa-Projekt. Marion Kaplan, Dominican Haven. The Jewish Refugee Settlement in Sosúa, 1940–1945, New York 2008; HansUlrich Dillmann / Susanne Heim, Fluchtpunkt Karibik. Jüdische Emigranten in der Dominikanischen Republik, Berlin 2009, 76–80; David Evans, The Man Who Sold Tomorrow. The True Story of Dr. Solomon Trone. The World’s Greatest and Most Successful and Perhaps Only Revolutionary Salesman, Walterville, Oreg., 2019. 99 Zu den ab Oktober 1940 in Belgien eingeführten antijüdischen Maßnahmen siehe VEJ, Bd. 5, 441–454.

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Belgium and Holland cannot be compared with that in Poland, where it is even worse than in Germany itself. I need {not} [to] go into details, which are known by many press reports. 4.) From Yugoslavia100 and Bulgaria101 where anti-Jewish legislation has been introduced some weeks ago there is nothing new to report. The anti-Jewish laws in Bulgaria are very severe as stated in one of my previous letters. 5.) Situation in Switzerland: It is worthwhile to give a detailed description of the Jewish position here as it results from the general situation and the policy of this country. A number of well-to-do Jews especially of Zuerich and Basle have left or are leaving for America. The main reasons are: a) Fear of German invasion. In June and again in August there was a crisis and this possibility had to be |4| faced. At the time of writing German invasion is not regarded as an actual danger but nobody knows what the future will bring. b) Uneasiness about their political and economic future in Switzerland. The Swiss Jews feel that even without a German attack and occupation, their rights and position are no longer what they were. The Jewish community in Switzerland counts only 18 000 souls or 5000 families, i.e. 0,4 per cent of the population. They have never played an important part in the life of the country. They are not prominent in the cultural life, in science or in the political field. There is a number of doctors and lawyers, of bankers and industrialists, but the bulk consists of simple businessmen. Within the field of their activities and occupation these Swiss Jews enjoyed full rights and regarded themselves as part of the Swiss people. But now they feel that in this country also their position has become uncertain. Switzerland is surrounded by the Axis powers and German-dominated France. A few days ago a member of the Swiss ­government has publicly stated that all imports and exports of Switzerland

100 Bereits 1939 verabschiedete die jugoslawische Regierung ein Gesetz, mit dem alle Juden ohne jugoslawische Staatsbürgerschaft innerhalb von sechs Monaten zur Ausreise verpflichtet wurden. Im Oktober 1940 wurden auf deutschen Druck hin zwei weitere Gesetze mit antijüdischem Inhalt erlassen. Mit ihnen wurde der jüdischen Bevölkerung der Handel mit Lebensmitteln verboten und ein Numerus clausus für Juden an Universitäten und weiterführenden Schulen eingeführt. 101 Bereits Anfang Oktober billigte der Ministerrat Bulgariens einen Entwurf des Gesetzes zum Schutz der Nation, das umfassende Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung beinhaltete. Das Gesetzt trat schließlich am 23. Januar 1941 in Kraft. Die Maßnahmen, die die jüdische Bevölkerung betrafen sind abgedruckt in: VEJ, Bd. 13, 593–600.

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are controlled by Germany and Italy.102 He added that Great Britain does not like it and will therefore not allow Switzerland to accumulate large stocks. This Axis control makes life very difficult for Jewish businessmen because in her economic dealings and arrangements with Switzerland, Germany insists that no Jewish firm should have any part in the export or the import of the country. The Swiss government has no intention to introduce legal discrimination against the Jews, but … For instance: A Jewish firm of cattle dealers in Basle when trying to obtain permits for cattle exports to France, has been advised to do business through some non-Jewish firm. The Jewish firm refused and the government did not insist, but this example shows what the situation of {the Jews of} Switzerland has become as a result of the situation of Switzerland herself. So, they look to America. Some have left already and more will follow. Of course, the rich go first, while the poor must remain. The government seems to have no objection to the Swiss Jews leaving the country, although it means the loss of a number of good tax-payers. Political considerations prevail. Then there is the problem of the refugees: There are about six thousand of whom 2600 are destitute and must be supported by the Jewish community or the government. The small Jewish community is spending monthly 180 000 France for the maintenance of some 1800 refugees while [the] government is feeding about 800 in labour camps. This is a heavy burden for Jews and the government alike, and the policy of the government is to exercise pressure on the Jews to provide the necessary means and at the same time to exercize [sic] pressure on the refugees themselves to leave the country. To show them what the government’s intentions are, a number of refugees of independent means have {also} been sent to the labor camps. Of |5| course those who can do so, are quite willing to leave but the number of visas obtainable is limited. The Swiss government is trying to help the refugees who are in possession of a visa for some overseas country to obtain necessary transit visa by intervening with the government{s} of France, Spain and Portugal. This a­ ttitude of the government is prompted not only by financial considerations but even more by their belief that the presence of several thousands of refugees in addition to the Swiss Jewish community may one day become a political liability. It may become the pretext for more pressure from without, and thus increase the dangers inherent in the situation.

102 Mit dem Kriegseintritt Italiens und der deutschen Besatzung Frankreichs wurde der Aussenhandel der Schweiz nahezu vollständig von den Achsenmächten kontrolliert. Martin Meier u. a., Schweizerische Aussenwirtschaftspolitik 1930–1948. Strukturen – Verhandlungen – Funktionen, Zürich 2002.

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These are the reasons why the Jews of Switzerland (which in comparison with other European countries is certainly a paradize [sic]) do not feel quite at ease and why so many of them (refugees or non-refugees) are trying to leave. 6.) What will become of the Jews of Europe? I feel that a word of warning to the happier Jews of England and America is necessary. It is impossible to believe that any power on earth will be able (and willing?) to restore to the Jews of continental Europe what they have lost or are loosing today. It is one of the superficial beliefs of a certain type of American and British Jews that after Great Britain’s victory – for which of course the Jews all over the world are praying – everything will be alright again with the Jews of Europe. But even if their civil rights can be restored – what about the property confiscated, the shops looted, the practice of doctors and lawyers gone, the schools destroyed, the commercial undertakings of every description closed or sold or stolen? Who will restore all that and how? Who will drive away the “Gentiles” – or shall I say the natives? – who have taken possession of all that, or have simply destroyed it? And what will be left of the Jews of Europe? I am not speaking of the hundred{s} of thousands who have lost their lives or will die from hunger and exposure before this war ends, but of those who will be found alive after the war is over: There are several hundred thousands who during these years of persecution have managed to escape and are now trying to build up a new life in Palestine, in [the] USA, in South America, Australia, San Domingo or selsewhere. Then there are the refugees in Europe who tried to escape but did not go fast and far enough. The tens of thousands in Holland and Belgium, Portugal, Switzerland and France, who are now living on the rests of their possessions or on public charity or have been herded into camps. What will become of them after the war? These refugees together with the remnants of the dispossessed and destitute Jews of Greater Germany and Rumania, of Hungary and the Balkan states (where economic persecution is steadily going on in this or that form) will present a problem which cannot be solved by the simple formula: Restore their rights. Jewry and the governments of the civilized nations will have to find new methods, a new approach to the whole problem. Some new form of organized help must be found. In Palestine this should take the form of developing the community as a whole on a much larger scale than before, thus |6| enabling the economic absorption of thousands of immigrants who will go there. In other countries assistance will be needed in a more individual form. And then there will be a mass of several hundreds thousands who are in a permanent no-mans land, who are now drifting from one frontier to the other, from concentration camps to labour camps, from there to some unknown country and destiny. For most of these people it will be impossible for economic reasons

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to return to their old homes and many of them will refuse to do so also for moral reasons. They must be helped to build up a new life somewhere else. It is certainly too early to formulate any definite policy or to make detailed plans now, but the Jews of England and America must know that the problem cannot be solved by using only the old watchwords and slogans which under the radically changed conditions of present and future life in Europe have lost much of their meaning. Sincerely yours, R. Lichtheim

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Dokument 57 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 24. Februar 1941 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten CZA, L22/50 24.II.1941

RL / LU / A3 Dr. Lauterbach

Letter No. 345

Dear Dr. Lauterbach, re: Situation in German-occupied territories: Austria: For some time there have been rumours that at the end of April ­Vienna shall be “judenrein,” as a birthday-present to Hitler. During the last few days Swiss papers have published reports that a new expulsion is intended and that a number of Jews have already been sent to the Lublin District in Poland (see cutting from “Zuericher Zeitung” of 20.II.).103 103 Nicht in der Akte.

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Dokument 57

It is difficult to obtain reliable information regarding details but it is quite possible that this long plan{n}ed forced exodus will now become a reality. It is rumoured that one half of the remaning [sic] German Jews will be sent to Poland (from Vienna and other places of eastern Germany) while the other half, from western Germany, will be sent to France, à la Gurs. 2.) Holland: As a result of demonstrations which have taken place about 2 weeks ago in Amsterdam,104 the German authorities – in accordance with their well-known technique as the BBC put it – have decided to blame the Jews and to take their revenge on them. According to press reports the old Jewish quarter of Amsterdam is to be converted into an official ghetto and all the Jews of Amsterdam will be forced to leave their homes and to move to the ghetto. It is not yet clear when and to what extent this measure will be carried out, but it is certain that the Germans – exasperated by Dutch opposition – will make a new |2| move against the Jews to show their power, intimidate opponents and create a diversion in public opinion, since there are always antisemites who – even when they dislike the Germans – have no objection to Jew-baiting. The old technique indeed. Sincerely yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

104 Nach der Eroberung der Niederlande durch die Wehrmacht suchten niederländische Nationalsozialisten mit Unterstützung der örtlichen deutschen Behörden, antijüdische Ausschreitungen in Gang zu setzen und Reaktionen zu provozieren, um harte Maßnahmen gegen Juden zu rechtfertigen. Im Zuge einer derartig provozierten Auseinandersetzung zwischen nationalsozialistischen Schlägern und Juden im überwiegend von Juden bewohnten Amsterdamer Viertel Jodenbuurt erlitt am 11. Februar 1941 der niederländische Nationalsozialist Hendrik Koot (­ 1898–1941) eine tödliche Kopferverletzung. Als Vergeltungsmaßnahme riegelten die deutschen Besatzer das Judenviertel ab und erklärten es offiziell zum Getto, verhafteten 425 jüdische Männer und deportierten sie in die Lager Buchenwald und Mauthausen, wo sie schwerste Zwangsarbeit verrichten mussten. Die meisten der deportierten Männer kamen noch im selben Jahr zu Tode.

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Dokument 58 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 28. April 1941 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; einzelne Buchstaben verwaschen; gedruckter Briefkopf auf Seite 1; gedruckte Kopfzeile auf Seite 2 (»The Zionist Organisation / The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«), Eingangsstempel auf Seite 1 oben (19. Mai 1941); unleserlicher handschriftlicher Vermerk auf Seite 1 oben CZA, Z4/30899 ‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse) ¦RL / T¦

Genève, ¦April 28th, 1941.¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

J. LINTON, Esq. The Jewish Agency for Palestine, 77, Great Russell Street, London W. C. 1 Dear Linton, I received your letters of April  8th. We are still in touch with most of the countries on which I have reported in my previous letters, but as you rightly suppose, we now get less information than in previous months and this for the following reasons: a) difficulties in the transmission of letters owing to disturbed railway communications; b) severe censorship in all German  – or German-occupied countries. This means the whole of Europe with the exception of Sweden, Switzerland, Spain and Portugal – from where there is not much to report – and the semiindependent states of Rumania and Hungary and one third of France, where there is also censorship and anti-Jewish legislation. Under the [sic] circum-

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Dokument 58

stances, our people in all these countries have become more and more reluctant to say or write what is not strictly necessary and they are certainly not inclined to indulge in lengthy descriptions of their situation by way of letters and reports. c) In spite of these facts, which make it increasingly difficult to obtain reliable and regular reports, we have our ways and means of communicating with most of the European countries. Whenever I hear anything of greater importance I shall certainly continue to send you all information I can get. d) At present, the situation may be summarised as follows: Germany (including Austria and Czechoslowakia  [sic]): No changes. I wrote you already that the Palestine Office in Berlin has been reduced to a few officials.105 Mass-expulsion of Jews in Vienna was again planned, some thousands were sent to Poland, but then the plan was dropped. Poland: Life of the Jewish masses is as miserable as it can be imagined. You know all about the Ghetti, etc. Members of our youth-organisations are still trying to uphold something, which may be called Hachscharah, but you can easily imagine what it looks like. In some places  – as for instance Oberschlesien  – the German authorities allow and even encourage the establishment of such Hachscharah-institutions, where a limited number of young people are trying to learn some craft, but they lack in everything: food, clothes, material, instruments. We are cooperating with the Joint and other relief-organisations to obtain some funds for this purpose, but in fact is [sic] is only a drop of water in the desert. France: Nothing new to report since my last letters re: Anti-Jewish legislation. Two days ago, I have sent you some press-cuttings, one of them containing a report on anti-Jewish activities of the Doriot-Deat-Group in Paris.106 We are in constant touch with our people in Lyon (Jarblum,107 Fisher,108 etc.) mostly about relief-work. 105 Das Palästina-Amt wurde im April 1941 aufgelöst und in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. 106 Jacques Doriot (1898–1945) und Marcel Déat (1894–1955) waren französische Anhänger der Nationalsozialisten. Sie befürworteten die deutsche Besatzung Nordfrankreichs. Im besetzten Paris betrieben sie prodeutsche und antikommunistische Propaganda. Gemeinsam mit anderen faschistischen Kollaborateuren gründeten sie die Légion des volontaires français contre le bolchévisme, um französische Freiwillige für den Kampf gegen die Sowjetunion zu werben. Im Sommer 1944 wurden die Reste dieser Legion in die Waffen-SS integriert. 107 Marc Jarblum (1887–1972) war ein polnischer Zionist und Sozialist. 1907 kam er für ein Jurastudium nach Paris, wo er in der Zwischenkriegszeit zu einer der prominentesten Figuren des öffentlichen jüdischen Lebens wurde. Er war Vorsitzender der 1913 gegründeten Fédération des sociétés juives de France, dem Dachverband der

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|2|  Holland: I wrote you that the president of the Zionist Organisation, Mr.  L. M. Kan,109 has been arrested. This and other arrests among Jews and non-Jews are apparently the result of the widespread unrest among the population and are intended to terrorise the people. Our offices, Amstel  93, are still functioning. I just had a letter from Dr. Abele¦s¦110 and the work of the organisation and the funds111 (in a new form) continues. Belgium: Very little news and nothing new to report. Denmark: Here the situation is comparatively better than in any other German-occupied country. The Jews seem to have no difficulty in following their usual occupations. 108

jüdischen Einwanderer aus Ost- und Mitteleuropa, der französische Repräsentant der Jewish Agency und Mitglied des Exekutivkomitees des World Jewish Congress. Nach der deutschen Besetzung Nordfrankreichs war Jarblum zunächst in Paris tätig, wo er im Juni 1940 das Comité de la rue Amelot mitbegründete, das die Wohlfahrtsleistungen für die jüdische Bevölkerung koordinierte. Wenig später wurde er in der jüdischen Widerstandsbewegung in Vichy-Frankreich aktiv, wo er mithilfe von Geldern des Joint Rettungsaktionen organisierte. Im März 1943 floh Jarblum in die Schweiz und setzte von dort seine Aktivitäten zur Rettung der französischen Juden fort. Haim Avni, The Zionist Underground in Holland and France and the Escape to Spain, in: Israel Gutman / Efraim Zuroff (Hg.), Rescue Attempts During the Holocaust. Proceedings of the Second Yad Vashem International Historical Conference, Jerusalem, April 8–11, 1974, Jerusalem 1977, 555–590, hier 574 f. 108 Joseph Fisher (Ariel; 1893–1964) leitete von 1925 bis 1950 das französische Büro des Jüdischen Nationalfonds. Ab 1943 war er Mitglied des Consistoire central des israélites des France und der Generaldirektion der Union générale des israélites de France in Marseille. Im selben Jahr siedelte er in die italienische Zone über. 1950 emigrierte er nach Israel. 109 Marinus Leonard Kan (1891–1945) war ein niederländischer Jurist. Er war Vorsitzender des Niederländischen Zionistenbunds und Mitglied des im Februar 1941 von den Nationalsozialisten eingerichteten Jüdischen Rats Amsterdam (Joodsche Raad voor Amsterdam). Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Rat für die Verfolgung und Unterdrückung der niederländischen Juden sowie ausländischen jüdischen Geflüchteten und zwangen ihn, seine Arbeit ab November 1941 auf die gesamten Niederlande auszuweiten. 110 Otto Abeles (1879–1945) war ein in Österreich-Ungarn geborener Jurist und Publizist, der ab 1933 das niederländische Büro des Keren Hayesod in Amsterdam leitete. Er wurde im Mai 1944 von den Nationalsozialisten verhaftet und in Westerbork interniert, von wo er nach Bergen-Belsen deportiert wurde. Geschwächt von den Folgen der Haft starb er kurz nach der Befreiung durch die Alliierten im Mai 1945. 111 Jüdischer Nationalfonds und Keren Hayesod.

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Dokument 58

Rumania: There was a lull in the constant rebellions of the Iron Guard and the Jews – after the terrible pogroms during which some twothousand were killed – have been profiting by this period of quiet.112 A few thousand have been able to leave the country – many of them going to Palestine. Our offices, Anton Pan 7, Bucarest [sic], are open, the Zionist Organisation and the funds are allowed to continue their work. (I am in touch with Bucarest and Timi­ soara regarding various questions of Zionist work and our funds (Transfer). Antonescu113 wants “law and order” and for the time being he is backed by the Germans. But there are already signs that a new rebellion is threatening, the Iron Guard is preparing another coup d’état and it is quite possible that the Germans will try to make peace between them and Antonescu – which may lead to new pogroms. Bulgaria: No news. Warzone. Complete suppression of all Jewish organi­ sations.114 Jugoslavia: No news from our friends after the German inva#{s}ion. Mrs.  Spitzer115 on her way to Palestine. But what has become of Spitzer116 and the others? The country is surrounded by enemy countries, therefore no escape, no refugees to neutral countries. Prior to the German invasion, there 112 Im Zuge eines Putschversuchs der Eisernen Garde gegen Antonescu kam es vom 21. bis zum 23. Januar 1941 zu Pogromen in den jüdischen Vierteln Bukarests. Ioanid, The Holocaust in Romania, 52–61. 113 Ion Antonescu (1882–1946) war ein rumänischer General und Politiker. Von September 1940 bis August 1944 war er nominell Ministerpräsident und Marschall Rumäniens, faktisch aber mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Während seiner faschistischen Militärdiktatur wurden etwa 350 000 Juden deportiert und ermordet. Nach dem sowjetischen Vordringen auf rumänisches Staatsgebiet im August 1944 wurde Antonescu von der politischen Opposition und dem rumänischen König gestürzt. 1946 verurteilte ihn ein rumänisches Gericht als Kriegsverbrecher zum Tode. 114 Nachdem sich die autoritäre Regierung Bulgariens unter Zar Boris III. (1894–1943) und Ministerpräsident Bogdan Filow (1883–1945) im Zweiten Weltkrieg zunächst für neutral erklärt hatte, näherte sie sich ab 1940 den Achsenmächten an und erließ judenfeindliche Gesetze. Ende Februar rückten deutsche Truppen in Bulgarien ein und das Land trat am 1. März 1941 offiziell den Achsenmächten bei. Am 6. April 1941 griff Deutschland Jugoslawien und Griechenland an, wobei es unter anderem von bulgarischen Truppen unterstützt wurde. 115 Yehudit Spitzer, die Ehefrau Šime Spitzers. 116 Šime (Shimon) Spitzer (1892–1941) war seit 1937 Generalsekretär des Verbands der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens (Savez jevrejskih opština Jugoslavije). Zudem fungierte er als Repräsentant des Joint und leitete das Komitee für Flüchtlingshilfe in Belgrad, das mithilfe des Joint Tausende Geflüchtete aus Deutschland und Österreich unterstützte, die in den 1930er Jahren nach Jugoslawien kamen. Im Oktober 1941 wurde er im KZ Banjica in der Nähe von Belgrad ermordet.

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was [sic] already unrest and antisemitic excesses in Zagreb. The Croate [sic] extremists were threatening the Jews. No less than 11 000 Jews are said to have left Zagreb and to have fled to the interior, i.e. to the Serbian parts of the country. What has become of the Jewish refugees from other countries who were mostly concentrated in some camps (the biggest near Cladowa [sic]),117 nobody knows. Just before the outbreak of the war, an number of refugee-children who had received certificates through the Youth-Alijah left Cladowa for Turkey: Altogether 153 young people who are probably now on their way to Palestine.118 Hungary: No changes. Our funds and the ZO in Budapest are trying to start collections for Palestine under the slogan: “Prepare Hungarian Jews to settle in Palestine.” After the successfull [sic] conclusion of our transfer-­ arrangement with the government, they now hope to obtain new permission of a similar kind after the campaign for the funds – which is now in swing – will have been completed. Acting for the KKL-Headoffice, I have nominated Dr. Desider Weisz to conduct the campaign. In the “new Hungarian territories” (formerly Transsylvania), work is also starting. I hope this survey will be of some use to you. If I hear anything of greater importance regarding the Jewish position in continental Europe, I shall certainly let you know. With kind regards, Sincerely yours, {R. Lichtheim} R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

P.S. Dr. Josef Weiss is now in Lisbon. He will leave for Palestine shortly. 117 Kladovo. Im November 1939 verließen rund 1100 österreichische, deutsche und tschechoslowakische Juden Wien in der Hoffnung, über die Donau und das Mittelmeer Palästina zu erreichen. Das frühe Zufrieren der Donau verhinderte jedoch ihre Weiterfahrt und sie mussten im Hafen der Stadt Kladovo an der jugoslawisch-rumänischen Grenze überwintern. Als im April 1940 die Weiterfahrt möglich gewesen wäre, stand kein Hochseeschiff für die Geflüchtetengruppe zur Verfügung und sie wurden nach Šabac gebracht. Im März 1941 konten rund 200 Kinder und Jugendliche Šabac verlassen und nach Palästina weiterreisen. Nach dem Einfall der National­ sozialisten in Jugoslawien im April 1941 wurden die Männer der Gruppe im Oktober von der Wehrmacht erschossen, die Frauen und Kinder wurden im Januar 1942 in das KZ Sajmište in der Nähe von Belgrad überstellt und dort ermordet. 118 Noch im April 1941 erreichten 90 dieser Jugendlichen Palästina. Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 132, Fußnote 124.

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Dokument 59

Dokument 59 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 20. Oktober 1941 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; veraltete handschriftliche Archivsignatur auf dem unteren Blattrand (»L22/138«) CZA, L22/234 October 20th, 1941.

RL / T – A/3-Dr.  L. LAUTERBACH, The Jewish Agency for Palestine P.O.B. 92 – Jerusalem Letter Nr. 506 (via Istanbul)119 Dear Dr. Lauterbach,

United Press reports dated Berlin 18.X.1941 state that during the last days the the police has made a new movement against the Jews in Germany.120 Flats or rooms in Berlin, where Jews are living, have been searched for money, tobacco and foodstuffs (you are aware that Jews are not allowed to buy tobacco and certain foodstuffs and that they must not have larger amounts of money). A number of people have been arrested. The searches are also in connection with a recent order according to which a great number of Jews had to leave 119 Ab August 1941 sendete das Genfer Büro den Großteil seiner Korrespondenz nach Palästina über das Büro der Jewish Agency in Istanbul. Siehe CZA, L22/44, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 8. August 1941. 120 Am 15. Oktober 1941 begann die systematische Deportation der Juden des Deutschen Reichs, des annektierten Österreich und des Protektorats Böhmen und Mähren in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager im östlichen Europa. In einer ersten bis 3.  November 1941 andauernden Phase wurden rund 20 000 Juden aus Wien, Prag, Frankfurt a. M., Berlin, Düsseldorf und Hamburg nach Łódź deportiert. In einer zweiten Phase, die bis Mitte Januar 1942 andauerte, wurden etwa 22 000 Juden nach Riga, Kowno und Minsk deportiert. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Gesamtausgabe, München 2008, 648. Zur Deportation der deutschen Juden insgesamt: Birthe Kundrus / Beate Meyer (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland, Göttingen 2004.

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their flats in Berlin and other German towns, to make room for German families. Jews who have received such orders have no right to rent other rooms and flats in other houses. They have to report to the Jewish community to receive instruction where to go. A great number of Jews from the Rhineland have lately arrived in Berlin. They are to be deported to Poland or other East-European countries together with a large number of Jews from Berlin. Up till now the number of German Jews thus expulsed from their homes with a view to be deported is about 20 000. As in the case of the Jews from Baden they were given between 10 minutes and 3 hours to leave their flats with a handbag and not more than 100 Marks. The latest news say, that 1500 Berlin Jews have thus been sent to Litz­mannstadt (Lodz) from where they may be brought to the “General Gouvernement.” At the same time we have received news that similar expulsion orders have been given in Vienna and Prag. It seems that in spite of the fact that nearly all Jews, men and women, who are able to work are forced to do so in German war-industries, now a new movement is on foot to reduce their numbers still more by wholesale expulsions. All Polish Jews from the Protectorate are to be sent to Poland. But the Czechs Jews also, as well as the Jews in Vienna, will now be deported in large numbers to other Eastern countries or they will be sent to special camps for hard work. There is for instance news that the Jews of Breslau will be sent to some place in the mountains of Silesia. It seems to be a combined policy of using the Jews for hard labour by simultaneously expulsing them from their previous homes and deporting them to places in more Eastern Germany or Poland. To make these orders more effective and to make {it} easier for the police to control the movements of every Jew, the Jews in Czechoslovakia are given numbers which they must wear on the yellow badge. If the time of deportation comes, then the police simply instruct the community that Jews number so and so have to leave for this or that place. The badge and the numbers and the deportation apply of course to all Jews, men, women and children. With all these degradations added to actual starvation and brutal treatment, the remnants of the Jewish communities of Germany, Austria and Czechoslovakia will probably be destroyed before the war ends and not too many will survive. Very truly yours,121 121 Unterschrift fehlt auf Archivalie.

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Dokument 60

Dokument 60 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 4. November 1941 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten, mit Abschrift eines Briefs aus Kroatien an Lichtheim vom 27. Oktober 1941, 1 Seite; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen CZA, L22/151 [Anlässlich eines Briefs eines ehemaligen Sekretärs des Keren Hayesod in Belgrad beschreibt Lichtheim die Lage der Juden in Kroatien. Dabei erwähnt er die Schwierigkeiten, die Ausreise Einzelner zu unterstützen sowie die Grenzen diplomatischer Intervention sowie humanitärer Hilfe. Dem angehängten Brief lassen sich codierte Nachrichten über die Konfiszierung jüdischen Eigentums, über Verschleppungen von Juden in Arbeitslager und über Massenerschießungen entnehmen.] 4. November [19]41.

RL / LU / A3 {A2} Herrn Dr.  L. Lauterbach Organisation Department P.O.B. 92 Jerusalem Brief Nr. 526 (via Istanbul) Lieber Dr. Lauterbach,

ich erhielt ein Schreiben des Herrn Friedmann, ehemals Sekretaer des KH122 in Belgrad. Ich sende Ihnen anbei eine woertliche Abschrift dieses Briefes, der aus Nova Gradiska in Kroatien abgestempelt ist und auf dem Kuvert als Absender eine offenbar fingierte Adresse traegt. Die Erklaerung hierzu ist, dass Herr Friedmann ueberhaupt keinen festen Aufenthaltsort hat, sondern sich (wie ich schon aus einem frueheren Brief von ihm erfuhr) aus Zagreb, wo er sich leider waehrend der deutschen Invasion aufhielt, ins Ungewisse geflüchtet hat. 122 Keren Hayesod.

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Wie Ihnen bekannt ist, sind die Juden in dem neuen kroatischen Staat123 beinah noch schlimmer daran [sic], als in Deutschland oder in Polen. Fast die gesamte juedische Einwohnerschaft von etwa 30 000 Seelen ist aus Zagreb, Agram124 etc. vertrieben und in Arbeitslager gebracht worden. Unterbringung, Verpflegung und Behandlung in diesen Lagern ist aber so, dass die Mehrzahl dieser ungluecklichen Maenner, Frauen und Kinder wahrscheinlich nicht den Aufenthalt dort ueberleben werden. In den Lagern auf den beruechtigten Salzinseln125 wurden diese Zwangsarbeiter ohne jede Unterkunft belassen und mussten unter freiem Himmel kampieren. Es gibt auch einige Lager in der Naehe von Zagreb, wo die Zustaende wahrscheinlich aehnlich sind. Es ist nicht moeglich mit den dorthin vertriebenen Juden in Verbindung zu treten, da die Behoerden dies nicht gestatten und keinerlei Hilfssendungen erlauben. In einem dieser Lager bei Zagreb befindet sich der Bruder unseres Dr. Silberschein.126 Dieser hat seit Wochen verzweifelte Versuche gemacht, um seinen Bruder zu retten. Er hat ihm ein Visum nach Cuba besorgt und daraufhin auch die Zusage der Schweizer Behoerden erhalten, dass sein Bruder hier 123 Der Unabhängige Staat Kroatien wurde am 10. April 1941 mit deutscher und italie­ nischer Hilfe von Ante Pavelić  (1889–1959) und dessen faschistischer Ustaša-Be­ wegung ausgerufen. Binnen weniger Wochen führte die neue Regierung eine an den Nürnberger Gesetzen angelehnte Gesetzgebung ein, errichtete eigene Konzentrations- und Vernichtungslager und beging Massenmorde an Serben, Juden und Roma. Mit dem KZ  Jasenovac betrieb die Ustaša eines der größten Konzentrations- und Vernichtungslager in ganz Europa. Alexander Korb, Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941–1945, Hamburg 2013. 124 Agram ist der veraltete deutsche Name von Zagreb. 125 Wahrscheinlich ist die Insel Pag im Adriatischen Meer gemeint, die aufgrund der dortigen Salzgewinnung auch als Salzinsel bezeichnet wird. Auf Pag existierten mit dem KZ Slana und dem KZ Metajna zwei Konzentrationslager. Das KZ Slana war für die außerordentliche Brutalität der Aufseher bekannt. 126 Abraham Silberschein (1882–1951) war einer der führenden Figuren der zionistischen Arbeiterbewegung in Polen und von 1922 bis 1927 Abgeordneter im Sejm. 1939 nahm er am Zionistenkongress in der Schweiz teil und wurde dort vom Kriegsbeginn überrascht. Er blieb in Genf und gründete das Relief Committee for the War Stricken Jewish Population (Relico), das hauptsächlich vom World Jewish Congress, teilweise auch von Lichtheims Büro finanziert wurde. Silberschein bemühte sich monatelang, seinem Bruder Alexander (1895–1942) und dessen Frau Filomene (1890–?) die Ausreise aus Jugoslawien zu ermöglichen. Seine Bemühungen blieben jedoch letztlich erfolglos. Laut Lichtheim erhielt Silberschein im Sommer 1942 die Nachricht, dass sein Bruder im KZ Jasenovac ums Leben gekommen war. CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 3. August 1942 (Brief Nr. 787).

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Dokument 60

einreisen darf, sobald |2| das spanische Durchreisevisum vorliegt. In dieser Beziehung bestehen allerdings noch Schwierigkeiten, die wahrscheinlich nicht ueberwindbar sind. Aber abgesehen hiervon besteht die wesentliche Schwierigkeit darin, dass es Dr. Silberschein trotz groesster Bemuehungen und Unterstuetzung von Schweizer Seite nicht moeglich ist, mit seinem Bruder in Verbindung zu treten und die Freilassung aus dem Lager zu erwirken. Die Schweizer Behoerden haben in Zagreb zwar kein eigentliches Konsulat, aber einen konsularischen Handelsvertreter. Die Behoerden haben diesem geschrieben er moege sich des Falles Silberschein annehmen, worauf der Konsularagent antwortete, dass ihm dies angesichts des Verhaltens der kroatischen Behoerden unmoeglich sei. Das ist der Hintergrund, den Sie kennen muessen, um den beigefuegten Brief des eben erwaehnten Herrn Friedmann zu verstehen. Aus Furcht vor der Verschickung in eines der Zwangsarbeiterlager hat dieser sich vor{n} Zagreb gefluechtet und haust dort offenbar in der Umgebung irgendwo in Waeldern versteckt. Das ist die Erklaerung des Ausdrucks „Freiluftbad”, den Sie in seinem Brief finden. Er fuerchtet dies nicht laenger aushalten zu koennen und gezwungen zu sein sich den Behoerden zu stellen, was er mit „Operationsmesser“ bezeichnet. Er moechte, dass ich ihm ein Visum nach der Schweiz verschaffe, was leider vollkommen unmoeglich ist, da er weder ein Ueberseevisum hat, noch hier die Mittel aufzubringen waeren, falls die Behoerden gegen ein hohes Depot seine Einreise gestatten wuerden. Sein Brief bedeutet weiter, dass aller juedische Besitz konfisziert ist („unsere wirtschaftlichen Sorgen wurden planmaessig aufgehoben“). Ferner koennen Sie aus dem Brief entnehmen, dass Spitzer in Belgrad und die anderen Funktionaere der Gemeinde nach wie vor verhaftet sind und dass in Altserbien ebenfalls Verschickungen in Arbeitslager stattgefunden haben. Schliesslich ist der Hinweis auf das „zentrale Viertel Beth Chajim“ und die taeglichen Todesopfer offenbar im Zusammenhang mit den Massenerschiessungen zu verstehen, die in Altserbien stattfinden. Wie das Londoner Radio gestern berichtete und wie die heutigen Schweizer Zeitungen melden, sind gestern in Belgrad wiederum hundert Geisseln erschossen worden, als Vergeltung fuer die Toetung eines deutschen Soldaten.127 Nach den Schweizer Meldungen sind die Erschossenen wie ueblich „Kommunisten und Juden“. 127 Nachdem im Sommer 1941 Partisanenverbände in Serbien Anschläge auf die deutschen Besatzer verübt hatten, etablierte die Wehrmacht die Praxis der »Sühneerschießungen«, der von Beginn an auch männliche Juden zum Opfer fielen. Um für diese Vergeltungsaktionen stets über eine ausreichende Anzahl an »Sühneopfern« zu verfügen, wurden ab August 1941 sämtliche männlichen Juden und Roma in Konzen­

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Dieser Brief und der beiliegende Brief des Herrn Friedmann geben Ihnen ein Bild von der vollkommen verzweifelten Lage der europaeischen Judenheit die voellig hilflos den teuflischen Verfolgungen preisgegeben ist. Das Unglueck ist, dass ¦es¦ auf der Welt keine Macht und keine Kraft mehr gibt, die irgendetwas |3| Wirksames gegen alle diese Greuel unternehmen kann oder auch nur unternehmen will. Das beantwortet auch Ihre Bemerkungen in Ihrem Brief Nr. 545. Das Rote Kreuz kann nur dort etwas tun, wo die Behoerden seiner Taetigkeit entgegen kommen, das ist aber gerade in Kroatien nicht moeglich, wo jede Einmischung von aussen und jede Hilfeleistung von den Behoerden sabotiert wird. Leider geschieht auch in den Laendern nichts, wo vielleicht noch etwas geschehen koennte, wie z. B. im Falle Frankreich, wo nach meiner Ansicht Amerika durch scharfe Pressionen noch etwas haette tun koennen. Mit vielen Gruessen Ihr R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

P.S. Bitte informieren Sie auch den Keren Hayesod von diesem Schreiben. [|1|]  Abschrift Sehr geehrter Freund,

27.10.[19]41.

Erstens wuensche ich, dass Sie diese Zeilen in guter Gesundheit erreichen. trationslagern interniert. Bereits im September ordnete der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (1882–1946), an, die kommunistische Aufstandsbewegung durch Massenerschießungen zu bekämpfen. In einem Befehl zur »Niederwerfung kommunistischer Aufstandsbewegungen« vom Oktober 1941 legte der bevollmächtigte Kommandierende General in Serbien einen »Sühneschlüssel« von 100  Geiseln für einen getöteten und 50  Geiseln für einen verwundeten Wehrmachtssoldaten oder Volksdeutschen fest und deklarierte sämtliche Juden als mögliche Geiseln. Bis Herbst 1941 erschoss die Wehrmacht auf der Grundlage dieses Befehls und ähnlicher Anweisugen fast die gesamte männliche jüdische Bevölkerung Serbiens. Der Befehl ist abgedruckt in: VEJ, Bd. 14: Besetztes Südosteuropa und Italien, bearb. v. Sara Berger u. a., Berlin 2017, 381 f. Siehe dazu auch Walter M ­ anoschek, »Serbien ist judenfrei«. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993.

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Leider kann ich dasselbe von mir nicht sagen. Das ganze Leiden verschlechterte sich hier dermassen, dass mich die hiesigen Aerzte zu einem Freiluftbade bestimmten. Doch ist dieses wegen der grimmigen Kaelte, die bei uns wieder einsetzte, verspaetet und sehr gefaehrlich. Ich sehe wirklich keinen Ausweg als mich unter [das] Operationsmesser zu stellen. Deshalb moechte ich unbedingt mic{h} einer gruendlichen Untersuchung des dortigen Spezialisten Dr. Ezrat128 unterziehen. Sie werden begreifen, dass meine ganze Hoffnung, auf seine versprochenen Nachrichten (Befund) und Berufung zwecks Behandlung dort, gesetzt war. Es kam aber leider bisher noch nichts. Ich moechte Sie sehr darum bitten, seine Entscheidung zwecks Berufung zu beeinflussen und mir ehestens einen guenstigen Bescheid zukommen [zu] lassen ({c / o} Dr. SchweizerZagreb-Kons).129 Unsere wirtschaftlichen Sorgen werden planmaessig aufgehoben. Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass die Leiter der Firma „Beo-Vaad“130 Herr Simek131 samt allen Sekretaeren zur Messe verreist sind (Adresse „Hotel Mistara“132). Mittlerweile sind auch einige Sonderzuege von 500  Zakenim  – Wirtschaftlern133 und ueber 3000 Jugend und anderer zwecks Studiums & Schulung ins Arbeitsdienste abgegangen. Auch unser Werbestand im zentralen Viertel Bet-Hajim134 errichtet, erfreute sich besonders in diesem Monate direkt eines Andranges unserer. Es vergeht jetzt kein Tag, dass sich weniger als 100–200 im Besucherbuch einschreiben und verewigen. Man hatte wirklich nicht soviel Interessenten zu dieser ernsten Zeit gehofft. Unter den Besuchern sind wirklich unsere fuehrendesten zu verzeichnen. Hoeren Sie etwas von der Hannarezschen Firma – Achim-Erez.135 Hoffentlich erfreuen die sich trotz der Kriegsumstaende eines guten Geschaeftsganges. Vielleicht koennen Sie uns do##{rt} als Einkaeufer schicken?136 128 Der hebräische Begriff ezra bedeutet »Hilfe«. 129 Hier handelt es sich um die von Lichtheim in seinem Anschreiben erwähnte Bitte Friedmanns um Visa für die Schweiz. 130 Jüdische Gemeinde Belgrads. 131 Šime Spitzer. 132 Der hebräische Begriff mishtara bedeutet »Polizei«. 133 Der hebräische Begriff zaken (Pl. zekenim) bezeichnet einen älteren Menschen. 134 Der hebräische Fornel bet ha-ḥayim bedeutet »Haus des Lebens« und ist eine aus der Bibel abgeleitete Bezeichung für Friedhof (Job 30, 23). In diesem Zusammenhang ist sie ein Hinweis auf die Massenerschießungen in Serbien. 135 Die Bezeichung »Achim-Erez« ist in diesem Zusammenhang ein Codewort für den Jischuw. 136 Hier handelt es sich wahrscheinlich um eine Bitte um Einreisezertifikate für Palästina.

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Ich nehme an, dass Sie fuer Ing. Michael in Offenburg etwas tun werden. Er ist mir sehr nahestehend und ich werde Ihnen immer dankbar sein. Uebrreichen Sie bitte nochmals ehestens meine besten Gruesse und ­Wuensche an Dr. Ezrat – von dem ich bald guenstige Nachrichten erwarte. Nehmen Sie vorlaeufig fuer alle Ihre Schritte und Aufmerksamkeiten meinen innigsten Dank, Schalom Ihr Keren Hajesod

Dokument 61 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 10. November 1941 Maschinenschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Einfügungen; gedruckter Briefkopf auf Seite 1; gedruckte Kopfzeile auf Seite 2 (»The Zionist Organisation / The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«) CZA, L22/151 [Lichtheim berichtet über Deportationen von Juden aus Deutschland, der vormaligen Tschechoslowakei und Österreich. Dabei schildert er den Ablauf der Vertreibungen und wirft die Frage auf, was mit den deportierten Juden im östlichen Europa geschehen wird. Angesichts der Verschärfung der Verfolgungen in zahlreichen europäischen Staaten fordert er von Vertretern westlicher Demokratien klare Positionierungen gegen Antisemitismus und erörtert mögliche Ursachen für deren ausbleiben.] ‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse) ¦RL / LU / A2¦

Genève, ¦10th November [19]41¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

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J. Linton, Esq. The Jewish Agency for Palestine 77 Great Russell Street London W. C. 1 Dear Linton, I am enclosing copy of the cable, which I have sent on 8.11. to Dr. Weizmann.137 I wish to add some remarks, which kindly convey to Dr. Weizmann and the members of the Executive. 1.) The ultimate fate of the Jews now expelled or to be expelled from Germany, Austria and the “Protectorate” (their total number is about 250 000)138 cannot yet be foreseen because we don’t know yet where and how they will be housed: if in the Ghetti of Poland or in special camps or barracks. It may be that in the end their position will be the same as that of the majority of the Polish Jews under German domination: starvation by cold, hunger, filth, ill-treatment and epidemics, with a minority of the younger and stronger surviving. They will probably become incorporated in the system of slave-labour specially elaborated for the Jews in Eastern Europe. But during the transition-period the now expelled German Jews will probably be even worse off than the Jews already living in Poland because they are “newcomers” to the starved and overcrowded Ghetti, they don’t know the country and the language and must try to find some place where they can squeeze in. I also got some special information saying that at least part of them will not be distributed among the Jewish communities in the Polish Ghetti but will be sent farther off to the east, probably to the town of Minsk (which of course lies in ruins).139 You may easily imagine what that means for towns­people 137 CZA, L22/151, Richard Lichtheim an Chaim Weizmann, 8. November 1941. Licht­ heim informierte Weizmann in dem Telegramm über die Massendeportationen aus dem Deutschen Reich und den annektierten Gebieten sowie über die Judenverfolgung in Jugoslawien und Kroatien. Zudem bat er Weizmann, den Informationen zu weltweiter Öffentlichkeit zu verhelfen. 138 Mitte Oktober 1941 begann die systematische Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich ins östliche Europa. Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 250 000 Juden im Großdeutschen Reich und 88 000 im Protektorat Böhmen und Mähren. Cesarani, »Endlösung«, 518. 139 Ab 5. November 1941 wurde die jüdische Bevölkerung des Deutschen Reichs und des annerktierten Österreichs auch nach Minsk, Kowno und Riga deportiert. Zu Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion war Minsk in einer Kesselschlacht weitestgehend zerstört worden.

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with their women and children, {arriving} there without money, without food-reserves, without beddings – and this while the Russian winter sets in. It is murder combined with torture. Therefore it can be said that the fate of these people – or at least of part of them – is even more dreadful than that of the Polish Jews who after the German invasion have been shut off in the Ghetti in Warsaw and other towns. How the expulsion is done has been described by “United Press” |2| and I suppose you have seen the reports: First the Jews of Berlin, Breslau, Vienna and other places receive a warning that they must give up their houses and flats. Then, one day, they Gestapo arrives and gives them between 15 minutes and a few hours to pack up and present themselves with their handbags at the next police-station. In Berlin they are then taken to the synagogue in Levetzow Strasse140 where they have to stay over night. There are straw-mattresses on the floor, the community is distributing some food, the children are taken up to the womens-gallery – and so the night passes. Next morning they are sent in police-cars to the station and packed off in old 3rd class carriages to their place of destination. In Frankfurt a. M. the heads of the men were shaved while razors were taken away from them with the remark: “Where you go, you may wear beards.” 2.) These reports of “United Press” have been published in most of the Swiss Newspapers and have stirred public opinion. As stated in my cable, Christian circles (Protestants) have sent a letter to the International Red Cross asking for immediate action. I don’t know what the reply of the Red Cross will be but it is obvious that they can do very little. They are ready to help where the government puts no difficulties in their way – as for instance in Lubiana where the Red Cross is doing excellent work for the refugees from Yugoslavia.141 But what can they do against the will of the Gestapo? Anyhow, everything possible must be tried. The Geneva Office of the Jewish World Congress has cabled to New York to mobilise the American Red Cross, the Quakers  etc. Most important is the question, if the Gestapo will allow the departure of those who are already in possession of a foreign visa or may get

140 Im Oktober 1941 richtete die Berliner Gestapo in der Synagoge Levetzowstraße ein Sammellager ein, das bis Herbst 1942 zur Vorbereitung der Deportation von rund 20 000 Juden diente. Philipp Dinkelaker, Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42, Berlin 2017. 141 Nach dem Überfall auf Jugoslawien wurde Ljubljana von Italien besetzt und im Mai 1941 unter dem Namen Lubiana zur Hauptstadt der annektierten italienischen Provinz desselben Namens erklärt.

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a visa in the near future. We are trying to find out about that and to procure as many visas as possible. At present nobody is allowed to leave.142 3.) I have also mentioned {in my cable} the terrible situation in Croatia and Old-Serbia where things are even worse than in Germany and Poland. I could have mentioned also Slovakia143 where after a certain lull the expropriation and persecution is again in full swings. Roumania where many thousands have been tortured and murdered first by the Iron Guards and now by the {occupying troops in the} reconquered territories while most of the Jewish property has been confiscated.144 There are also forebodings of new persecutions in France. After all the “legal” measures against the Jews in unoccupied France and the usual vexations, arrests and imprisonments in concentration camps of many thousands of Jews in occupied France, there seems to be something “bigger” in preparation. You are aware that the shooting of the second half of the French hostages has been avoided145 – but the Jews will have to pay for that.

142 Ab dem 23. Oktober 1941 war allen Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich durch einen Erlass Heinrich Himmlers untersagt. 143 In der Slowakei begann nach vereinzelten Deportationen und antijüdischen Gesetzen der Jahre 1938 und 1939 ab Herbst 1940 eine systematische Beraubung und Entrechtung der Juden. Livia Rothkirchen, The Destruction of Slovak Jewry, Jerusalem 1961. 144 Im Januar 1941 scheiterte ein Putschversuch der Eisernen Garde gegen Antonescu, der die Bewegung anschließend verbot. Die antisemitische Politik wurde unter Antonescu jedoch fortgesetzt. Im November 1940 trat Rumänien aufseiten der Achsenmächte in den Zweiten Weltkrieg ein. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion folgten blutige Pogrome in Rumänien wie auch in von der rumänischen Armee eroberten Gebieten in Transnistrien, der Bukowina und der Ukraine. 145 Als Reaktion auf Anschläge auf die Okkupationsverwaltung in verschiedenen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern erließ Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel auf Weisung Hitlers am 16.  September 1941 den sogenannten Sühnebefehl, der anordnete, dass für jeden aus dem Hinterhalt getöteten deutschen Soldaten 50 bis 100 Zivilpersonen hinzurichten seien. Nachdem in Frankreich am 20. und 21. Oktober 1941 zwei Attentate auf deutsche Wehrmachtsangehörige verübt worden waren, ordnete der Militärbefehlshaber in Frankreich, Otto von Stülpnagel (1878–1948), die unverzügliche Hinrichtung von jeweils 50 Zivilpersonen an, woraufhin am 23. und 24. Oktober 1941 eine erste Gruppe von ca. 50 Personen hingerichtet wurde. Nach Protesten Pétains und Stülpnagels, der bei weiteren Exekutionen schwerwiegende Folgen für die innere Lage Frankreichs fürchtete, stimmte Hitler am 28. Oktober 1941 einem Aufschub der Exekution einer weiteren Gruppe von 50 Personen zu. Regina M. Delacor, Attentate und Repressionen. Ausgewählte Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS-Terrors im besetzten Frankreich 1941/42, Stuttgart 2000, 5–60.

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|3|  4.) Now I wish to draw your attention to the proposal contained in my cable to Dr. Weizmann that the great democracies should make their voice heard in connection with the latest brutalities committed against the Jews – as was the case when the French hostages were shot.146 I know very well that that is a different story: The Germans have spared one hundred Frenchman to make it easier for Darlan.147 They are much less interested to spare 100 or 100 000 Jews because there is no Jewish Darlan. Nevertheless, I feel that the responsible state{s}men of the democracies should not – as they have done hitherto – avoid the issue, whatever their motives may be. It is a curious thing that President Roosevelt148 never mentioned the Jews whenever he spoke of the oppressed nations. The governments of the democracies may have been led to believe that there would be still more terrible persecutions if they mentioned the Jews in their speeches. I think this to be a mistake. Events have shown that the Jews could not have suffered more than they have suffered if the state{s}men of the democracies would have said the word. There may be another motive: To avoid the impression that this war has anything to do with the Jews. This also is a mistake. In spite of these hushhush tactics President Roosevelt is constantly accused by Lindbergh149 and his followers of waging war in the interest of the Jews, and by the Germans of beeing himself a Jew etc. (I enclose some cuttings from German newspapers which will show you how it is done.)150 – I venture to say that the studied silence of the democracies – far from making it easier for the Jews – had made 146 Gegen die Geiselerschießungen am 23.  und 24.  Oktober 1941 protestierten auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) und der englische Premierminister Winston Churchill (1874–1965). VEJ, Bd. 5, 741 f. 147 François Darlan (1881–1942) war ein französischer Admiral und Politiker. Unter Pétain wurde er zunächst Marineminister, ab Dezember 1940 stellvertretender Ministerpräsident und damit faktisch Kabinettschef von Vichy-Frankreich. Zudem galt er als designierter Nachfolger Pétains. Im Februar 1942 übernahm er zusätzlich das Innen- und das Außenministerium des Vichy-Regimes. 148 Franklin D. Roosevelt (1882–1945) war der 32.  Präsident der Vereinigten Staaten. Zu Roosevelts Reaktionen auf die nationalsozialistische Judenverfolgung in Europa: Richard Breitman / Allan J. Lichtman, FDR and the Jews, Cambridge, Mass. / London 2013. 149 Charles August Lindbergh (1902–1974) war ein US-amerikanischer Pilot, dem 1927 der erste Nonstop-Flug von New York nach Paris gelang. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde er der bekannteste Sprecher des America First Committee, das die Teilnahme der Vereinigten Staaten am Zweiten Weltkrieg zu verhindern suchte. 150 Die Zeitungsausschnitte befinden sich nicht im Archivordner.

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Dokument 61

it easier for the appeasers and the antisemites everywhere and especially for the Germans to pretend that this is a “Jewish war” and to take their revenge on the Jews. Great Britain and America should say: “We know all about it and we and our people are not to be taken in by such clumsy propaganda. Jews are Jews – they are Hitler’s victims and therefore perfectly justified in standing up against him. We are neither Jews nor do we wage war for the Jews – we are battling for mankind against the enemy of mankind.” Such language would silence thousands of antisemites within the democracies, in the neutral countries, in France (where even now much evil could be averted by strong pressure from America) – and would perhaps even make it more difficult for the Germans. But the great silence in official quarters on everything Jewish has encouraged antisemites everywhere to spread the belief that “there is something in it”. “The Jews are behind the scenes pulling the wires.” There have been of late some utterances of exiled governments, which are certainly to the good and de Gaulles cable151 to Stephen Wise has also been useful. The BBC has lately taken up the theme, has given the relevant news and has broadcast a good and rigorous speech by “the man in the street.” But this is not enough. The “man in the street” is |4| alright – but what about the gentlemen on the top? We would like to hear some other voices, promising restoration of rights, rejecting recognition of robbing and plundering by state-decrees, condemning the atrocities and warning the perpetrators of such deed that they will be held responsible. In some cases (Roumania, Hungary, Slovakia, Croatia, Vichy), such a warning might have had and may still have a deterrent effect: It is of course much more difficult in the case of Germany but even there some persons or circles might be influenced by such warnings. Apart from the practical effect of such a warning, we have also to consider that the Jews are entitled to and are waiting for such a word of sympathy and consolation. We are witnessing the most terrible persecution of the Jews, which has ever happened in Europe, overshadowing by its cruelty and extent even the massacres of the Armenians during the last war, which at that 151 Am 4.  Oktober 1941 sandte Charles de Gaulle anlässlich des 150.  Jahrestags der Emanzipation der französischen Juden (27.  September 1791) ein Telegramm an ­Stephen S. Wise, den Präsidenten des World Jewish Congress, in dem er die antijüdische Gesetzgebung des Vichy-Regimes verurteilte. Charles de Gaulle an Stephen S. Wise, 4. Oktober 1941, abgedruckt in: Renée Poznanski, The French Resistance: An Alternative Society for the Jews?, in: David Bankier / Israel Gutman (Hg.), Nazi Europe and the Final Solution, Jerusalem 2009, 411–434, hier 412.

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time provoked a storm of protest in England and America. Jews in the few remaining neutral countries and also the sufferers themselves in Germany and in the occupied countries would get at least some moral satisfaction, and certain smaller states and many millions of people would thus be reminded that moral values still exist and that they include and make imperative the condemning of this persecution of the Jews. Yours sincerely, {R. Lichtheim} R. Lichtheim

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Dokument 62 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 4. März 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite CZA, L22/151 March 4th, 1942.

RL / T/ – A/3–5/12 Dr.  L. LAUTERBACH The Jewish Agency for Palestine Organisation-Department, P.O.B. 92 – Jerusalem Letter No. 633 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach,

The latest reports from Prag say that the Acting Protector Heydrich152 has issued an order to the effect that all Jews still remaining in the Protectorate, 152 Reinhard Heydrich (1904–1942) war SS-Obergruppenführer und General der Polizei. Er war Leiter des Reichssicherheitshauptamts und ab 27. September 1941 »Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren«. 1941 beauftragte ihn Hermann

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whose number is estimated at about 70 000, are to be concentrated in the town of Theresienstadt.153 This place having at present only 7000 inhabitants it is clear that the Jews will have no houses or rooms to live in, which means that they will live under conditions similar to those in the Polish ghettos or in huts and barracks. Being deprived of all their proper means and having no possibility to earn anything apart from wg{a}ges for forced labour paid to those who are recruted [sic] for that service, they will be slowly starved as in the ghettos of Warsaw and Lodz. This scheme is probably part of the Nazi plan to destroy the Jews in Greater Germany before the war is finished. Very truly yours, R. Lichtheim

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Göring (1893–1946) mit der »Endlösung der Judenfrage«. Heydrich wurde am 27. Mai 1942 bei einem Attentat tschechischer Widerstandskämpfer tödlich verletzt. 153 Bereits am 17. Oktober 1941 fasste Heydrich gemeinsam mit seinem engsten Stab den Beschluss, ein Durchgangs- und Sammellager für die jüdische Bevölkerung des Protektorats Böhmen und Mähren in der ehemaligen Garnisonsstadt Theresienstadt einzurichten. Vor Kriegsbeginn lebten hier rund 3500  Soldaten und eine ebenso große Zivilbevölkerung. Zur Errichtung eines Konzentrationslagers wurde ab Ende November 1941 eine Gruppe von rund 350 jüdischen Männern herangezogen, die Vorbereitungen für die Ankunft der ersten Deportatonszüge traf. Ab 30. November 1941 erreichten regelmäßig Transporte mit jüdischen Gefangenen Theresienstadt. Die Gesamtzahl der hier Internierten betrug bis Kriegsende etwa 141 000. Das Konzentrationslager wurde von den Nationalsozialisten oftmals als Getto oder »jüdischer Wohnbezirk« bezeichnet, um den Zweck des Lagers zu verschleiern. Ab Januar 1942 wurden von hier aus 87 000 Menschen in 63 Transporten in Vernichtungslager deportiert. H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Göttingen 2005 [1. Aufl. 1955]; Wolfgang Benz, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München, 2013; Anna Hájková, The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt, Oxford 2020.

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Dokument 63 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 16. März 1942 Maschinenschriftliches Telegramm (Abschrift), 1 Seite; handschriftliche Einfügungen; zahlreiche Buchstaben verwaschen CZA, L22/151 RLT LINTON JEWISH AGENCY 77 GREAT RUSSELL STREET LONDON NEW WAVE OF PERSECUTION SWEEPING EUROPE STOP MALE JEWS RUMANIA HUNGARY CONSCRIBED FORCED LABOUR154 STOP RUMANIA ONE THOUSAND JEWISH HOSTAGES TAKEN155 STOP JEWS PROTECTORATE NUMBERING 70 000 TO BE CONCENTRATED GHETTO THERE­ SIENSTADT MANY THOUSANDS ALREADY SENT THERE STOP NEW DECREE FOLLOWED {by} ANTI-JEWISH RIOTS VARIOUS PLACES ISSUED SEVENTH MARCH ORDERING TOTAL JEWISH POPULATION SLOVAKIA NUMBERING 90 000 TO GHETTOS NEAR POLISH BORDER156 WITHIN PERIOD ENDING MARCH TWENTYTHIRD STOP EACH JEW ALLOWED 154 Ungarn führte bereits 1939 für männliche Juden den waffenlosen Arbeitsdienst beim Militär ein. Im Zuge der ungarischen Beteiligung am Überfall auf die Sowjetunion wurde im August 1941 verordnet, alle noch dienstfähigen Juden nur noch als Handlanger in Arbeitskompanien einzusetzen. In Rumänien erlaubte das bereits am 15. Mai 1941 erlassene Gesetz über die Arbeit zum Gemeinwohl die Verpflichtung von Juden zur Zwangsarbeit. Insgesamt wurden 12 683 Juden zur Zwangsarbeit herangezogen und zumeist im Straßenbau eingesetzt. VEJ, Bd. 13, 62. 155 Nach dem Überfall auf die Sowjetunion ordnete Antonescu am 30. Juni 1941 die Verhaftung jüdischer Geiseln in frontnahen Bezirken an, denen mit der sofortigen Erschießung im Falle von Unruhen und Sabotageakten durch die jüdische Bevölkerung gedroht wurde. VEJ, Bd. 13, 56 f. 156 Am 3. März 1942 setzte der slowakische Vizeministerpräsident und Außenminister Vojtech Tuka (1880–1946) die Regierungsmitglieder über die geplanten Deportationen offiziell in Kenntnis. Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Februar. Zwischen März und Oktober 1942 wurden rund 60 000 Juden aus der Slowakei deportiert. Die Ziele der Deportationen waren allerdings nicht Gettos nahe der polnischen Grenze, wie Lichtheim hier übermittelte, sondern neben Lublin auch die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor. Ivan Kamenec, On the Trail of Tragedy. The Holocaust in Slovakia, Bratislava 2007.

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Dokument 64

ONE SUIT ONE SHIRT ONE PAIR BOOTS WHILE OTHER BELONGINGS PROPERTY CONFISCATED BY HLINKA GUARDS157 STOP BESIDES HELPING CERTIFICATE HOLDERS ESCAPE PLEASE TAKE ACTION ACCORDING MY LETTER TENTH NOVEMBER158 STOP PUBLIC DENUNCIATION STERN WARNING MAY STILL HAVE DETERRENT EFFECT ### SOME COUNTRIES STOP TRY APPROACH CATHOLICS VIEW APPEAL VATICAN TO INFLUENCE TISO159 ABSTAIN EXPULSIONS SLOVAKIA WHERE CATHOLIC INFLUENCE VERY STRONG STOP JOINT INFORMED ABOUT FINANCIAL NECESSITIES FOR EMIGRATION AND LOCAL RELIEF LICHTHEIM

R. Lichtheim, Agence Juive pour la Palestine, Palais Wilson, Genève 16.3.1942.

Dokument 64 Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie,160 Henry Montor,161 Leo Lauterbach, Gerhart M. Riegner162 157 Die Hlinka-Garde diente von 1938 bis 1945 als paramilitärischer Arm der katholischen Slowakischen Volkspartei, die seit 1925 nach ihrem damaligen Vorsitzenden, Priester Andrej Hlinka (1864–1938), benannt war. Die Hlinka-Garde beteiligte sich aktiv an antisemitischen Ausschreitungen sowie der Umsetzung der antijüdischen Politik in der Slowakischen Republik, die eine der engsten Verbündeten des Deutschen Reichs war. 158 Dokument 61. 159 Jozef Tiso (1887–1947) war ein römisch-katholischer Priester, von 1939 bis 1945 Vorsitzender von Hlinkas Slowakischer Volkspartei sowie diktatorisch regierender Staatschef der Slowakischen Republik. James Mace Ward, Priest, Politician, Collaborator. Jozef Tiso and the Making of Fascist Slovakia, Ithaca, N. Y., 2013. 160 Arthur Lourie (1903–1978) war ein jüdischer Jurist und Diplomat aus Südafrika. Von 1933 bis 1940 war er als politischer Sekretär der Jewish Agency in London tätig. 1940 siedelte er in die Vereinigten Staaten über, wo er den American Zionist Emergency Council leitete, der die Interessen der zionistischen Führung in Palästina und London in Amerika vertrat, für eine unbeschränkte Einwanderung nach Palästina warb und die amerikanische Öffentlichkeit für die jüdische Ansiedlung in Palästina zu gewinnen suchte. 161 Henry Montor (1905–1982) war ein zionistischer Funktionär. Ab 1930 war er für den United Palestine Appeal tätig, von 1939 bis 1950 als geschäftsführender Vizepräsident der Organisation. 162 Gerhart M. Riegner (1911–2001) war ein deutsch-jüdischer Jurist und Funktionär. Ab 1936 fungierte er als Sekretär für die von Nahum Goldmann geleitete Vertretung

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Genf, 19. März 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten, mit Abschrift eines Briefs und Memorandums163 von Lichtheim und Riegner an Filippo Bernardini,164 4 Seiten (Anschreiben 1 Seite, Memorandum 3 Seiten); einzelne Buchstaben verwaschen CZA, L22/150 [Lichtheim berichtet von einem Treffen mit dem apostolischen Nuntius in der Schweiz, Filippo Bernardini, an dem er gemeinsam mit Gerhart M. Riegner und Saly Mayer teilgenommen hat. Darin suchten die Vertreter jüdischer Organisationen auf einen öffentlichen Protest des Vatikans gegen die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas hinzuwirken. In beigelegten Kopien eines Briefs und eines Memorandums an den Vatikan schildern sie die Lage der Juden in verschiedenen Ländern und geben der Hoffnung Ausdruck, dass eine Intervention des Vatikan vor allem in katholischen Ländern Wirkung zeigen könnte.]

RL / LU/

19th March, 1942

TO: Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (649), Dr. Riegner 1.) I am referring to the cables and letters (or copies of such) which I have sent you last week in connection with the Jewish position in Europe, the new wave of persecutions in Hungary, Roumania and Slovakia and the steps taken or to be taken to enable the departure of certificate holders or children from the above mentioned countries. 2.) I hope that meanwhile some progress has been made regarding the Turkish transit visa for the categories of people admitted by the Palestine government (i.e. of certificate holders under previous schedules in possession of visas and of children under the new schedule) and also regarding the extendes World Jewish Congress in Genf; ab 1940 übernahm er deren Leitung. Ähnlich wie Lichtheim versuchte er humanitäre Hilfe für die Juden im nationalsozialistischen Machtbereich zu organisieren sowie Informationen über die antijüdische Politik und den Holocaust einzuholen und weiterzuleiten. 163 Das französischsprachige Memorandum ist in englischer Übersetzung abgedruckt in Matthäus, Predicting the Holocaust, 169–172. Eine deutsche Version findet sich bei Saul Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation, München 2011, 101–105. 164 Filippo Bernardini (1884–1954) war ein katholischer Kurienerzbischof und Diplomat im Dienst des Vatikans. Von 1935 bis 1953 war er Apostolischer Nuntius in der Schweiz.

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Dokument 64

sion of admission to Palestine to other categories, i.e. to certificate holders not yet in possession of visas, to people in possession of travellers-visa and finally to new groups of people who might be saved from persecution and death if the Colonial Office and the Palestine government would be willing to grant a new schedule as an emergency measure. 3.) A few days ago all Jewish Organisations in Roumania and also our funds there have been dissolved. It is to be hoped that our Palestine Office will be allowed to continue its work. 4.) In my written and cabled reports I have repeatedly drawn your attention to the necessity of giving public expression (over the radio and by speeches of the statesmen of the democracies) to formal protests and warnings against the ruthless persecution of the Jews in continental Europe. I have also suggested that you should approach representatives of the ­Catholic Church, which has great influence in some of the countries concerned. |2|  5.) In this connection I have to inform you that I have undertaken certain steps in Berne, in conjunction with the Jewish World Congress [sic] and with the Jewish community of Switzerland. On 17th March, Mr. Saly Mayer, the President of “Schweizerischer Israelitische Gemeindebund,” Dr. G. Riegner of the Jewish World Congress, and myself as representative of the Jewish Agency have been received by the Papal Nuncio in Berne, Monsignore Filippo Bernardini. In this audience, which lasted 3/4 of an hour, we have explained the position, especially in the Catholic countries. The Nuncio stated that he was aware of the unfortunate situation of the Jews and that he had already reported on previous occasions to Rome. But after hearing what we had told him he was prepared to report again to the Vatican and to recommend certain steps in favour of the persecuted Jews. The Nuncio, whose attitude was most friendly and sympathetic, then asked for a short memorandum, which he promised to forward to Rome.165 It was agreed between the members of the Jewish delegation that the memorandum should be submitted by the Jewish Agency and the Jewish World Congress, while the Schweizerische Israelitische Gemeindebund, as a local and non-political body, will be kept informed but will not take part in submitting the memorandum. 6.) I am enclosing for your information the letter and the memorandum which has been sent to the Papal Nuncio in Berne.

165 Bernardini leitete das Memorandum an den Vatikan weiter. Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, 105.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

It is obvious that these documents as well as our visit to the Nuncio are to be treated as “confidential” and that they are not intended for publication. Kindly confirm receipt of this letter and of the documents attached. Very truly yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

[|1|] Excellence,

Le 18 mars 1942.

Faisant suite à l’audience que Votre Excellence a bien voulu nous accorder hier, nous nous permettons de vous remettre sous ce pli, comme vous avez bien voulu nous le demander, un bref mémoire (en double exemplaire) sur la situation des Juifs dans les pays de l’Europe centrale et orientale. Nous prenons la liberté d’attirer tout spécialement l’attention sur le cas de la Slovaquie, de la Croatie, de la Hongrie et de la France non-occupée, où les mesures prises ou en cours peuvent peut-être encore être rapportées, ou tout au moins adoucies par une intervention du Saint-Siège, que nous nous sommes permis de suggérer à Votre Excellence. Nous saisissons cette occasion pour vous exprimer nos sentiments de profonde gratitude pour l’accueil bienveillant et compréhensif que vous avez bien voulu réserver à la délégation des organisations juives qui a eu le privilège de vous approcher hier. Nous prions Votre Excellence de bien vouloir agréer l’assurance de nos respectueux hommages. R. Lichtheim Agence Juive pour la Palestine

Dr. G. Riegner Congrès Juif Mondial

A Son Excellence Mgr. Philippe Bernardini, Nonce Apostolique, Berne [|1|]  Aide-Mémoire 1. Les multiples mesures dictées par un antisémitisme violent qui ont été prises contre les Juifs habitant l’Allemagne et les territoires annexés à l’Alle-

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magne dans les dernières années, sont plus ou moins connues de l’opinion publique. Elles consistent dans l’exclusion absolue des Juifs de toutes les professions, de tous les métiers et de toute activité économique en général, si ce n’est l’incorporation dans le système des travaux forcés adopté pour les besoins de guerre. Elles consistent aussi dans la confiscation de presque tous leurs biens et, dans des cas innombrables, en persécutions telles qu’arrestation, internement dans des camps de concentration ou expulsion en masse des Juifs, dépouillés au préalable de tout ce qu’ils possèdent, soit en Pologne, soit dans des camps de concentration en France. Par l’émigration forcée qui s’est poursuivie jusqu’au début de la guerre et du fait des privations et persécutions endurées par eux, le nombre des Juifs allemands et autrichiens a passé d’environ 800 000 à environ 200 000. Ce qui reste de la population juive de l’ancienne Tchécoslovaquie, habitant le « Protectorat de Bohême-Moravie », dont le nombre s’élève à 70 000 environ, est victime, depuis l’occupation de ce pays, de mesures semblables et est sur le point, en ce moment, d’être concentrée en bloc dans un ghetto établi à Theresienstadt. 2. Des mesures analogues, dans certains cas moins rigoureuses mais dans d’autres plus rigoureuses encore, ont frappé les Juifs dans tous les pays occupés pendant la guerre par l’armée allemande, comme en Belgique, en Hollande, dans la zone occupée de la France, en Yougoslavie, en Grèce dans les pays baltes et notamment en Pologne, où la concentration des masses juives dans des ghettos entourés de murailles infranchissables a créé une misère indicible et provoqué des épidémies qui, en ce moment, déciment littéralement ces populations. 3. Suivant l’exemple donné par l’Allemagne, ses alliés se sont engagés dans la même voie et ont introduit une législation antisémite ou déclenché des persécutions violentes visant à la dépossession totale ou même à l’extermination physique des Juifs. C’est notamment le cas de la Roumanie, des Etats nouvellement créés de Croatie et de Slovaquie et, dans une certaine mesure aussi de la Hongrie, où on s’apprête actuellement à incorporer tous les Juifs âgés de 18 à 50 ans dans des formations de travail forcé.166 4. Parmi les exemples les plus saillants illustrant ces persécutions, nous citerons les suivants :

166 1942 waren in Ungarn von den dort lebenden 825 000 Juden bereits 100 000 zu Zwangsarbeit in Ungarn und im Deutschen Reich verpflichtet worden. Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart / ​ München 2001, 84 f.

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a) L’établissement en France occupée de camps de représailles à Drancy167 et à Compiègne, près de Paris, où approximativement 6000 ou 7000 Juifs ayant été arrêtés dans les rues ou à leur domicile en août dernier, meurent littéralement de faim et servent d’otages aux autorités militaires. b) L’établissement de camps de concentration en France non-occupée, par exemple à Gurs, à Récébédou,168 à Noé,169 au Vernet,170 à Rivesaltes,171 etc …, où plusieurs dizaines de milliers de Juifs de toutes nationalités qui habitaient en son temps la France ou se sont réfugiés en France par suite de l’avance des armées allemandes en Belgique, ont été parqués, les femmes et les enfants séparés de leurs maris et pères, dans des baraques sordides entourées de fil de fer barbelé, où ils végètent depuis plus de deux ans dans une misère inimaginable. C’est dans ces camps que l’Allemagne a envoyé aussi 9000 Juifs allemands établis depuis des siècles dans le Pays de Bade et le Palatinat. |2|  Outre ces camps, il y a aussi des « compagnies de travailleurs étrangers » et des « centres de reclassement social » qui, sous diverses étiquettes, servent à

167 In der Stadt Drancy bei Paris wurde im Oktober 1939 ein Internierungslager errichtet, in dem ab Ende August 1941 auch Juden inhaftiert wurden. Im Sommer 1942 bestanden neben Drancy in der Besatzungszone drei weitere Internierungslager: Compiègne, Pithiviers und Beaune-la-Rolande, die bis auf Compiègne alle unter französicher Verwaltung standen. 168 1939 als Arbeitersiedlung südlich von Toulouse errichtet, diente es ab Sommer 1940 als Unterkunft für spanische Republikanhänger, die infolge des Spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflohen waren und für aus Deutschland vertriebene Juden. Ab Februar 1941 wurden hier vor allem alte und kranke ausländische Geflüchtete interniert. Im August 1942 wurden jüdische Internierte über Drancy nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert. Im September desselben Jahres wurde das Lager aufgelöst. 169 Das Camp de Noé war ein im Februar 1941 südlich von Toulouse errichtetes Internierungslager für spanische Republikaner und Juden. Es bestand bis August 1944. 170 Le Vernet war ein im Februar 1939 für spanische Geflüchtete eingerichtetes Internierungslager in den französischen Pyrenäen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden hier als feindlich eingestufte Ausländer und Franzosen interniert. Nach der deutschen Besetzung des bis dahin freien Südteils Frankreichs im November 1942 wurden in Le Vernet zunehmmend Juden interniert und von hier nach Dachau deportiert. Im Sommer 1944 wurde das Lager aufgelöst. 171 Das Lager Rivesaltes war ein 1939 für Geflüchtete des Spanischen Bürgerkriegs angelegtes Internierungslager in Südfrankreich. Ab Januar 1941 wurden hier auch ausländische Juden interniert. Ab August 1942 diente Rivesaltes als Hauptsammellager für Juden, die von hier über Drancy nach Auschwitz deportiert wurden, bis das Lager im November desselben Jahres aufgelöst wurde.

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l’emploi aux travaux forcés de Juifs dont une grande partie ont [sic] servi sous le drapeau français au cours de la guerre. c) Parmi les cruautés commises dans les pays occupés par l’Allemagne, nous citerons l’exemple de plusieurs centaines de jeunes Juifs hollandais qui, sans aucune charge contre eux, ont été envoyés dans les camps de concentration de Buchenwald172 en Allemagne et de Mauthausen173 en Autriche, où presque tous ont péri en quelques semaines. d) Outre l’extermination lente et constante du fait du système de ghetto dans toute la Pologne, des milliers de Juifs en Pologne et dans les parties de la Russie occupées pas l’Allemagne, ont été exécutés par les troupes allemandes. e) 18 000 Juifs qui se trouvaient en Hongrie (parmi lesquels un certain nombre de Juifs hongrois, les autres de différentes nationalités) ont été expulsés sur l’ordre du Gouvernement et transportés dans des conditions révoltantes en Galicie orientale, où ils furent remis entre les mains des autorités allemandes qui les fusillèrent tous, à quelques exceptions près.174 f) Au début de l’année dernière, lors de l’insurrection de la Garde de fer en Roumanie, plusieurs milliers de Juifs ont été massacrés dans les rues des localités roumaines. À Bucarest seulement, presque 2000 personnes, des intellectuels, des fonctionnaires des institutions juives, des commerçants et des industriels estimés, furent tués. Des scènes révoltantes se sont déroulées, notamment à l’abattoir de Bucarest, où la Garde de fer traîna les Juifs pour les y abattre comme du bétail. g) La plupart des Juifs de la Bucovine, dont le nombre s’élevait à 170 000, furent contraints de quitter leurs résidences et furent transportés, au début de l’hiver, dans des wagons ouverts jusqu’en Russie. En arrivant à la frontière russe, un quart d’entre eux étaient déjà morts. Les survivants furent forcés à

172 Das KZ Buchenwald war ein von 1937 bis 1945 in der Nähe von Weimar bestehendes Konzentrationslager. Es war eines der größten im Deutschen Reich liegenden Lager, in dem insgesamt etwa 266 000 Menschen inhaftiert waren. 173 Das KZ Mauthausen war ein von 1938 bis 1945 bestehendes Konzentrationslager südlich von Linz. Es war der größte von den Nationalsozialisten auf österreichischem Gebiet errichtete Lagerkomplex, in dem insgesamt etwa 200 000 Menschen gefangen gehalten wurden. Über die Hälfte von ihnen überlebte die Lagerhaft nicht. 174 Bereits im Sommer 1941 wurden rund 18 000 von der ungarischen Regierung als »staatenlos« deklarierte Juden in die Westukraine abgeschoben und dort der SS übergeben. Es handelte sich überwiegend um jüdische Geflüchtete aus der Tschechoslowakei und Polen. Sie wurden gemeinsam mit einigen Tausend ukrainischen Juden zwischen dem 27. und 30. August 1941 bei Kamenez-Podolski von SS Einheiten erschossen. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 615.

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marcher pendant six jours dans la direction de Mohilew. Ceux qui n’étaient pas en état de marcher furent fusillés. h) Lors de la réoccupation de la Bessarabie par les troupes allemandes et roumaines, 92 000 Juifs furent passés par les armes.175 Un rapport digne de foi dit à ce sujet : Dans chaque ville ou village, les Juifs furent rassemblés sur une place, hommes, femmes, enfants, vieillards, malades, même des malades hospitalisés dans les hôpitaux, et après avoir été torturés et affamés pendant plusieurs jours, ils furent fusillés. Parmi les victimes se trouve le Grand-­ Rabbin de Kishinew.176 i) En Croatie où se trouvent, après le démembrement de la Yougoslavie, 30 000 Juifs, plusieurs milliers de familles furent soit déportées sur des îles désertes de la côte dalmate, soit incarcérées dans des camps de concentration. Après quelque temps, tous les Juifs mâles de la Croatie (à l’instar de ce qui s’est passé en Serbie occupée par l’Allemagne) furent envoyés dans des camps de travail où ils sont affectés à des travaux de drainage et d’assainissement et où ils périssent en grand nombre en raison du traitement inhumain et du manque de vivres et de vêtements. Le Gouvernement croate n’a même pas permis de leur envoyer des secours et il est presque impossible de nouer un contact avec les internés. En même temps, leurs femmes et leurs enfants furent envoyés dans un autre camp où ils endurent aussi les pires privations.

175 Bereits wenige Tage nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion und dem damit verbundenen Kriegseintritt Rumäniens aufseiten des Deutschen Reichs ermordeten deutsche Wehrmachtsoldaten gemeinsam mit rumänischen Militär- und Polizeieinheiten sowie Angehörigen der Zivilbevölkerung beim Pogrom in Iași nahe der Grenze zu Bessarabien mehr als 14 000 Juden. Noch während der Rückeroberung der ein Jahr zuvor an die Sowjetunion verlorenen Gebiete Nordbukowina und Bessarabien begannen rumänische Militär- und Polizeieinheiten zudem mit der Ermordung und Vertreibung von mehreren zehntausend dort ansässigen Juden und Roma. Ab Juli 1941 wurden fast alle Juden Bessarabiens und der Nordbukowina, wenig später auch die der südlichen Bukowina, in Lagern in Bessarabien interniert und ab September weiter nach Transnistrien deportiert, wo die meisten von ihnen von rumänischen Sondereinheiten und der deutschen Einsatzgruppe D ermordet wurden. Bis zum Sommer 1942 wurden unter Antonescus Regierung etwa 350 000 Juden in den Gebieten Großrumäniens getötet. Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt 2003, 79. 176 Jehuda Leib Tsirelson (1859–1941) war Oberrabbiner von Chișinău und Bessarabien. Nachdem rumänische und deutsche Soldaten Chișinău am 17. Juli 1941 besetzt hatten, begannen Angehörige der Einsatzgruppe D mit Massenerschießungen der Juden der Stadt, denen auch Tsirelson zum Opfer fiel.

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|3|  j) En Slovaquie, une législation antisémite réglant tous les détails de la vie juive, à l’instar de la législation allemande, a été promulguée au cours de l’année dernière. Au début de ce mois, de graves troubles antisémites ont éclaté. En même temps, le Gouvernement a promulgué de nouveaux décrets visant à la « concentration » de toute la population juive de Slovaquie, comptant 90 000 âmes. D’après des rapports reçus ces derniers jours, cette concentration doit s’effectuer dans les conditions suivantes : chaque Juif est autorisé à emporter un habit, une chemise et une paire de souliers, alors que tous ses autres biens seront confisqués par la Garde Hlinka. Les préparatifs sont faits pour envoyer, d’ici au 23 mars, la population juive dans des camps ou des ghettos près de la frontière polonaise. Il est à craindre que de là on ne les envoie en Pologne même, où ile ̊ subiront le même sort que les masses juives expulsées de la Roumanie. 5. Il y a lieu de noter que parmi les Juifs de Hongrie, de Roumanie et de Slovaquie se trouvent plusieurs centaines de familles qui sont en possession de visas d’immigration pour la Palestine ou pour des pays américains. En dehors des démarches qui pourraient être entreprises pour alléger en général le sort des populations juives persécutées et menacées, il est de toute urgence aussi de tenter des démarches auprès des autorités compétentes et notamment (pour le cas de l’émigration en Amérique) auprès du Gouvernement italien, en vue d’obtenir les visas de transit ou éventuellement le passage dans des convois spécialement organisés, afin que les émigrants puissent atteindre leur port d’embarquement. Genève, le 18 mars 1942.

Dokument 65 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 13. Mai 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; gedruckter Briefkopf auf Seite 1; handschriftliche Korrekturen und Einfügungen CZA, L22/150177

177 Eine deutsche Übersetzung des Briefs, die sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts befindet, ist abgedruckt in: VEJ, Bd. 13, 232–233.

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‫הנהלת ההסתדרות הציונית והסוכנות היהודית לארץ ישראל‬

THE EXECUTIVE OF THE ZIONIST ORGANISATION / T HE JEWISH AGENCY FOR PALESTINE GENEVA OFFICE

Telephone: 2.91.74 Telegrams: Zionorg Genève Letters: Zionist Organisation 52, rue des Pâquis, Genève (Suisse) ¦RL / LU / A3¦

Genève, ¦13th May, 1942¦ 52, rue des Pâquis (Palais Wilson)

Dr. L. Lauterbach Organisation Department P.O.B. 92 Jerusalem Letter No. 710 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach, re: Situation in Slovakia: I had a visit from a gentleman from Budapest who is on his way to South America. He has been asked by members of the community in Budapest to communicate to me the following details regarding the situation in Slovakia: Of the 90 000 Jews in Slovakia about 20 000 have already been sent to Poland. Contrary to the declaration made by the Minister of the Interior Mr. Mach178 the Jews are not sent to labour camps in Slovakia (cf. my letter No. 666 with letter to the Nuncio in Berne of 8th April with enclosure179) but 178 Alexander Mach (1902–1980) war Oberbefehlshaber der paramilitärischen HlinkaGarde sowie von 1940 bis 1945 Ministerpräsident und Innenminister der Slowakei. In einer gut besuchten Pressekonferenz erklärte Mach am 27. März 1942, Ziel der Deportationen seien slowakische Arbeitslager, in denen den deportierten Juden eine humane Behandlung zuteilwerde. 179 CZA, L22/150, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach (Brief Nr. 666), Henry Linton, Arthur Lourie, Henry Montor und Gerhart M. Riegner, 8. April 1942. Im Anhang befindet sich ein Brief Lichtheims und Riegners an Bernardini vom 8. April 1942, in dem sie ihn nochmals um Intervention baten. Am 26. März 1942, einen Tag vor der Presseerklärung Machs, hatte Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione (1877–1944) den

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are sent to Poland. In many cases the men are separated from the women and children. What is happening in Poland, when the transports are arriving there, is not yet known. It is stated on good authority that a large number of girls between the age of 16 and 36 have been sent to the military brothels erected at the Polish frontier.180 Many hundreds of Jews (men, women and children) have fled to Hungary and the number of such refugees is steadily increasing. The Jews in Budapest are afraid that the Hungarian authorities will not allow these refugees to remain there and will turn them back. Gruelsome incidents have already occurred at the frontier: for instance, a group of 52 Jews, including women and children, had managed to arrive at the frontier in autocars against payment of enormous sums. They had been promised to be |2| allowed to cross the frontier, but at the last moment somebody gave the alarm and they were turned back and handed over to the Slovakian frontierguards who murdered the 52 persons on the spot. In spite of such happenings, more and more Jews are trying to get {out} of Slovakia into Hungary. The Jewish representatives in Budapest don’t know what to do with them and are very much afraid of the consequences. My visitor here made all sorts of proposals, which unfortunately are of little practical value. He spoke of intervention of the Vatikan – this, as you know, has been done but the representations made by the Vatikan have been

slowakischen Gesandten im Vatikan, Karol Sidor (1901–1953), einbestellt und ihn aufgefordert, seine Regierung um Aufhebung der antijüdischen Maßnahmen zu ersuchen. Lichtheim und Riegner führten beide Ereignisse auf ihre Intervention zurück und suchten, nachdem Bernardini Lichtheim in einem Schreiben vom 2. April 1942 (CZA, L22/150) seine Unterstützung zugesichert hatte, den Druck auf den Vatikan aufrechtzuerhalten. Die tatsächliche Wirkung der diplomatischen Initiative Lichtheims und Riegners auf die Politik des Vatikans gegenüber der Slowakei bleibt allerdings zweifelhaft. Zumindest hinsichtlich der antijüdischen Politik der Slowakei hatte der Vatikan mit seinem Abgesandten in Bratislava, Guiseppe Burzio (1901–1966), eine zuverlässige Informationsquelle. Zudem war Machs Rede vielmehr das Ergebnis von Interventionen Magliones mit Sidor, die bereits am 12. November 1941 und am 14. März 1942 erfolgten. Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 355 f. Zur Intervention Magliones vom 12. November 1941: VEJ, Bd. 13, 195–197. 180 Diese Informtation ist nicht verifizierbar. Sie wurde offenbar vom vatikanischen Geschäftsträger in der Slowakei, Burzio, in einem Brief an Maglione vom 24. März 1942 kolportiert. Hesemann, Der Papst und der Holocaust, 291. Zu sexueller Gewalt gegen jüdische Frauen während des Holocaust im Allgemeinen: Sonja M. Hedgepeth / Rochelle G. Saidel (Hg.), Sexual Violence Against Jewish Women During the Holocaust, Waltham, Mass., 2010.

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of no avail.181 It is said that as a result of this intervention the head of the Slovakian state, father Tiso, has refused to sign the expulsion decrees and has been absent from his office during ten days: meanwhile the Minister of the Interior Mach has given the orders for the expulsion and the transports to Poland continue. I have mentioned in previous reports that these terrible persecutions should be given publicity in the British and American press and over the radio, but so far very little has been done in this respect. I am still of the opinion that some of the satellites of Germany could have been influenced by public warnings that they will be held responsible for their deeds, and even now the Jewish organisations should see to it that cases like the persecutions and murders going on in Slovakia, Croatia, Romania etc. should be mentioned more frequently and more vigorously in the press and by the speakers of the democracies. Very truly yours R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

Dokument 66 Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach Genf, 29. Mai 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/150

181 Bereits am 9. März 1942 hatte Burzio Maglione darüber unterrichtet, dass die slowakische Regierung plane, 80 000 Juden nach Polen zu deportieren. Vier Tage später sandte der päpstliche Nuntius in Budapest, Angelo Rotta (1872–1965), ein Hilfe­ gesuch der slowakischen Juden, das ihn aus Bratislava erreicht hatte, an Maglione weiter. Maglione hatte daraufhin am 14. März und nochmals am 26. März 1942 den slowakischen Gesandten im Vatikan, Karol Sidor, einbestellt. Burzio versuchte bei einem Treffen mit Ministerpräsident Tuka am 7.  April ebenfalls zu intervenieren. Tuka wies in diesem Gespräch den Protest des Vatikans zurück. Ein öffentlicher Protest des Vatikans blieb letztlich aus. Hesemann, Der Papst und der Holocaust, 288–292.

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Dokument 66

RL / LU / A3, A4c, A4d, A2

29th May, 1942

TO: Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (726) I am enclosing a cutting from the Swiss paper “Tribune de Genève”182 of 28.5.[19]42 concerning the confiscation of Jewish property in Holland.183 The information contained therein is correct. So, the Jews of Holland are sharing now the fate of the Jews in Germany and German-occupied countries with that distinction that until now at least the majority of the Dutch Jews are still living in their former homes. In Germany the expulsion to Poland under most cruel conditions continues and there is a constantly growing number of suicides.184 The majority of the Jews in the Protectorate and in Vienna has also been evacuated, partly to Theresienstadt and partly to Poland. Of the 90 000 Jews of Slovakia about 30 000 have now been driven from their homes and deported to Poland while the destruction of Yougoslavian [sic] Jewry (Old Serbia and Croatia) is fully known to you from previous reports. Adding to this the situation of the Jews in the Polish Ghettos, the persecutions in Roumania and the continuing pressure on the remaining Jewish communities in Hungary, France and Italy it is certainly no exaggeration to predict that at the end of this war two or three million Jews in Europe will be physically destroyed while of the remaining a similar number will be destitute refugees. With kind regards, Sincerely yours, R. Lichtheim

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182 Die Tribune de Genève ist eine französischsprachige Tageszeitung, die seit 1879 in der Schweiz erscheint. 183 Der Artikel befindet sich nicht im Archivordner. 184 Zum Zusammenhang von Holocaust und Selbsttötungen siehe David Lester, Suicide and the Holocaust, New York 2005.

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Dokument 67 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 22. Juli 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; teilweise Umlautzeichen handschriftlich hinzugefügt; veraltete handschriftliche Archivsignatur unten auf Seite 1 (»L22/10«) CZA, L22/13 22. Juli 1942

RL / LU / A2-3-4c-4d Herrn Dr. L. Lauterbach Organisation Department P.O.B. 92 Jerusalem Brief Nr. ### {774} (via Istanbul) Lieber Dr. Lauterbach,

heute erhielt ich ein Schreiben von Herrn Bolle185 aus Amsterdam in dem es unter anderem folgendermassen heisst: „Inzwischen sind durch die Arbeitseinsatzpflicht Schwierigkeiten entstanden, sowohl im allgemeinen wie insbesondere auf dem Gebiet der Umschulungsarbeit.186 Persoenlich geht es uns gluecklicherweise noch gut. Die Arbeit wird aber immer schwieriger. Wir werden jedoch nicht verzagen.“

185 Meijer Henri Max Bolle (1910–1945) war ein niederländisch-jüdischer Wirtschaftsprüfer und bis 1940 Leiter des Jüdischen Nationalfonds in Amsterdam. Von 1941 bis zu seiner Deportation nach Westerbork im Oktober 1942 fungierte er als Geschäftsführer des Jüdischen Rats Amsterdam. Von Westerbork wurde er weiter nach Auschwitz deportiert. Im Mai 1945 erlag er im DP-Lager Feldafing bei Dachau einer Typhuserkrankung. 186 Im Rahmen der sogenannten Umschulungsarbeit bildeten vor allem zionistische Jugendorganisationen jüdische Jugendliche in der Land- und Forstwirtschaft aus, die die Absicht hegten, nach Palästina auszuwandern.

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Dokument 67

Diese Bemerkungen sind ein Hinweis auf die immer groessere Gefahr, die besonders der juedischen Jugend in Holland droht. Es wird Ihnen bekannt sein, dass die Deutschen Behoerden in ganz Europa in immer steigendem Masse die Bevoelkerung aller unterjochten Laender fuer Zwangsarbeiten aller Art benutzen.187 Die wohl am schlechtesten behandelte und bezahlte Kategorie sind dabei die Juden. Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Zwangsarbeit mu{ü}ssen auch die Verschickungsmassnahmen betrachtet werden, die dauernd fortgesetzt werden. Es ist eine doppelte Tendenz zu beachten: Einmal sollen Deutschland, Oesterreich, Tschechei und nach ihrem Vorbild Vasallenstaaten wie Kroatien und Slovakei „Judenrein“ gemacht werden. Das bedeutet Vertreibung, Verschickung und häufig direkte oder indirekte Toetung durch Hunger oder noch kuerzere Methoden. Gleichzeitig wird aber der Versuch gemacht den arbeitsfaehigen Teil der juedischen Bevoelkerung, insbesondere also alle juengeren Maenner, zu Zwangsarbeiten zu verwenden. Ein Beispiel bildet Theresienstadt, wohin ein grosser Teil der tschechischen Juden, neuerdings aber auch viele deutsche Juden geschickt wurden und zwar junge und alte Maenner und Frauen bis zu 80 Jahren.188 Von den dorthin Verschickten sind aber etwa 7000 Maenner zu Arbeiten herangezogen worden und zwar fuer die Regulierung der Elbe. Aehnlich liegen die Verhaeltnisse fuer die deutschen und oesterreichischen Juden, die jetzt zum grössten Teil |2| bereits nach Polen deportiert sind, wo sie teils in die Ghettos gesteckt, teils, soweit verwendbar, fuer Arbeiten herangezogen wurden. Eine immer mehr umsichgreifende Tendenz dabei ist auch die Verwendung der Kinderarbeit. Maedchen und Jungen von 12 Jahren aufwaerts werden ihren Eltern fortgenommen und in Arbeitslagern verschiedenster Sorte konzentriert. Das geschieht auch innerhalb Polens, wo die ungluecklichen Kinder, die ihren Eltern fortgenommen wurden, nicht einmal an diese schreiben duerfen. Im Zusammenhang mit diesem System der Sklavenarbeit ist nun auch in letzter Zeit eine wachsende Gefahr fuer die Juden in den westlichen Laendern, d. h. im besetzten Frankreich, sowie in Holland und Belgien entstanden. Auch aus diesen Laendern sind neuerdings Transporte von Juden nach Deutschland und Polen abgegangen. Vorlaeufig ueberwiegt noch die Tendenz, nur juengere Arbeitskraefte zu nehmen, wenngleich nach Zeitungsberichten jetzt

187 Dazu ausführlich Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. 188 Dazu ausführlich Anna Hájková, Ältere deutsche Jüdinnen und Juden im Ghetto Theresienstadt, in: Beate Meyer (Hg.), Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941–1945): Łodź, Chełmno, Minsk, Riga, Auschwitz, Theresienstadt, Berlin 2017, 201–221.

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angeblich auch der Plan besteht, die gesamte juedische Bevoelkerung aus dem besetzten Frankreich zu deportieren. In Holland sollen eine Anzahl junger hollaendischer Juden und daneben auslaendische d. h. deutsche oder polnische Juden deportiert worden sein. In Belgien scheinen sich die Massnahmen bisher nur gegen die auslaendischen Juden zu richten, von denen es dort aber auch viele gibt, da in Belgien schon immer eine groessere Anzahl polnischer Juden lebten und da Tausende von deutschen Juden in den Jahren [19]33 bis [19]39 nach Belgien ausgewandert sind. Viele versuchen zu entkommen, aber es gelingt verhaeltnismaessig wenigen. Typisch ist der Fall eines jungen Mannes von 20 Jahren, Sohn eines mir gut bekannten Arztes aus Frankfurt a. M., der seit einigen Jahren in Bruessel lebt. Der etwa 20-jaehrige Sohn ist hierher gefluechtet, da ihm die Deportierung drohte.189 Diese Faelle haeufen sich hier uebrigens immer mehr. Fast taeglich kommen Fluechtlinge aller Art illegal nach der Schweiz, teils Kriegsgefangene verschiedener Nationalitaeten aus Deutschland, teils juedische oder andere Fluechtlinge aus Deutschland, aus dem besetzten Frankreich oder aus Belgien und Holland. Diese Fluechtlinge werden hier zunaechst arretiert, bis ihr Fall untersucht ist, dann werden sie gewoehnlich in einer recht leichten Form interniert oder in die Schweizer Arbeitslager eingewiesen. Diese Darstellung wird Ihnen wiederum ein ungefaehres Bild der augenblicklichen Lage in Deutschland und Europa geben. Die Juden in fast allen Laendern dieses gequaelten Kontinents leben nur noch in der Furcht vor Deportierung zum Zwecke der langsamen oder schnelleren physischen Vernichtung oder vor der Sklavenarbeit unter unertraeglichen Bedingungen und ihre Gedanken sind nur noch auf Rettung durch Flucht gerichtet, die sich aber nur in den wenigsten Faellen verwirklichen laesst. Mit besten Gruessen Ihr R. Lichtheim

GENEVA OFFICE 189 Hier handelt es sich um den Historiker Peter Bloch (1921–2008), der gemeinsam mit seinen Eltern von Frankfurt a. M. zunächst nach London und dann nach Belgien geflohen war. Um der Deportation zu entgehen, reiste Bloch mithilfe eines gefälschten Passes im Sommer 1942 in die Schweiz, wo ihm schließlich Asyl gewährt wurde. Peter Bloch, When I was Pierre Boulanger. A Diary in Times of Terror, New York 2002.

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Dokument 68

Dokument 68 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 10. August 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit einem Bericht aus Frankreich, 2 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; einzelne Buchstaben und Worte stark verwaschen und unlesbar CZA, L22/3 [Lichtheim leitet einen Bericht über die Situation der Juden in Frankreich weiter. Dieser schildert Massenfestnahmen im besetzten Teil Frankreichs, die sich vor allem gegen Juden ohne französische Staatsbürgerschaft richteten und von der Verschärfung antijüdischer Maßnahmen sowie von Ausschreitungen begleitet wurden. Aus Furcht vor der Verhaftung begingen zahlreiche Juden Suizid, während andere versuchten sich zu verstecken oder in den nicht besetzten Teil Frankreichs zu gelangen. Die Regierung Vichy-Frankreichs wurde inzwischen von Deutschland gedrängt, 10 000 Juden auszuliefern.] 10th August 1942

RL / LU / A3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem Letter No. 792 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach,

I am enclosing a report – apparently translated into English from a report written in French – which I have received from a friend in France. I have made some corrections and you can use the report for publication. Copies of the report have been sent to England and America by the Worls [sic] Jewish Congress. (The British190 and the American Consul191 here also received a copy). Very truly yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE 190 Harry B. Livingston. 191 Paul C. Squire war von 1936 bis 1945 amerikanischer Konsul in Genf.

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[|1|]  Report on the situation of the Jews in France In the night between 15th–16th July the French police in the occupied zone proceeded to mass arrests of foreign Jews as well as of Jews recently naturalized.192 These arrests affected 28 000 persons whose names had been put on a list several months ago.193 Many persons were warned in time either by unknown persons or by the constables themselves, a certain number of which was later dismissed for this reason. About 6000 Jews could hide themselves in the XVIII. arrondissement of Paris, so that the number of the arrested persons has reached so far about 12–14 thousands. The arrests continue, though on a lower rhythm. Men and women were seized, dispossessed of their money and escorted separately either to the Vélodrome d’Hiver or to the Parc des Princes.194 Neither sick nor patients just operated upon were spared. Thus, the Rothschild Hospital’s surgery, reserved for operated patients from the camp of Drancy, was suddenly emptied and the patients brought to the camp, however recently they had undergone operation, however serious was their state of health. The children from 3 years of age upwards were taken away by force from their mothers. Merciful constables handed the children over to neighbours, others – and these were numerous – locked the appartments [sic], leaving the children on the street, where they were loaded on lorries in which hundreds of children were heaped. They were crying, weeping, calling for “mother” across deserted and dark streets. About 5000 children were parked in 3 schools. 192 In einer Großrazzia wurden am 16. und 17. Juli 1942 in Paris ca. 13 000 Menschen verhaftet. Die Razzia wurde als Rafle du Vélodrome d’Hiver bekannt. Die Radrennbahn Vélodrome d’Hiver war während der Razzia der größte Sammelpunkt, an dem die verhafteten Juden zusammengetrieben wurden. Familien mit Kindern wurden anschließend in die Durchgangslager Pithiviers und Beaune-la-Rolande überstellt. Alleinstehende Erwachsene und Familien mit Kindern über 16 Jahren wurden zunächst in das Lager Drancy und wenig später nach Auschwitz deportiert. 193 Die Razzia wurde von Theodor Dannecker (1913–1945), dem Judenreferent des Reichssicherheitsauptamts in Paris, gemeinsam mit den französischen Polizeibehörden in einer Sitzung am 7. Juli 1942 vorbereitet. Geplant war, sämtliche ausländische und staatenlose Juden zwischen 15 und 50 Jahren zu verhaften. Zu diesem Zeitpunkt waren in den Meldelisten für die jüdische Bevölkerung rund 28 000 ausländische und staatenlose Juden erfasst. Dannecker forderte die Festnahme von 22 000 von ihnen. Eine schriftliche Zusammenfassung der Sitzung ist abgedruckt in: VEJ, Bd. 12: Westund Nordeuropa. Juni 1942–1945, bearb. v. Katja Happe / Barbara Lambauer / Clemens Maier-Wolthausen, München 2015, 641–643. 194 Pariser Fussballstadion, in dem während der Razzia verhaftete Juden zusammengetrieben wurden.

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Dokument 68

Public assistance and the Union générale des israélites de France195 were entrusted with the care for a certain number of children, many of whom having either measles or scarlet spreading them further among other children. 4 children have died 12 hours after they were arrested. The deficient state of health of adults has rendered necessary multiplied medical interventions. By the authorities of occupation 10 physicians were allowed to give medical aid. The French Commissariat granted permission only to 3 physicians (Read French Commissariat for Jewish questions.)196 The men and women were directed provisionally to camps. The German authorities forbade the “Secours national” (National Aid)197 dispatched by the government, to approach them. The Quakers, Salvation Army, the U.G.I.F. (Union générale des israélites de France) try to feed this famished crowd. Their situation in the camps, deprived of all camping and hygienic installation, material for bandages, kitchen a.s.o.198 is far worse than in the Parc des Princes. A great number of little children are unable to give their names and for the moment it is not possible to restore their identity. Since the arrestations [sic] practically no news have been available from the detained. The number of suicides committed is estimated to 3–400. Women fli##{ng} their children – in one case 6 little children – out of the window in order to follow them subsequently.199 195 Die Union générale des israélites de France war eine im November 1941 auf deutschen Druck hin vom Commissariat général aux questions juives eingerichtete Organisation. Sie existierte sowohl in Vichy-Frankreich als auch im besetzten Teil Frankreichs und trat an die Stelle sämtlicher jüdischer Organisationen, die allesamt aufgelöst wurden. Sämtliche Juden Frankreichs waren verpflichtet der Union générale des israélites de France beizutreten. 196 Das im Frühjahr 1941 vom Vichy-Regime eingerichtete Commissariat général aux questions juives war die für die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung VichyFrankreichs offiziell zuständige Behörde. 197 Der Securs national war eine bereits im Ersten Weltkrieg gegründete und während des Zweiten Weltkriegs von der französischen Regierung wiederbelebte Wohlfahrtsorganisation zur Unterstützung der kriegsbedingt Not leidenden Bevölkerung. Unter Pétain entwickelte sie sich zur größten französischen Wohlfahrtsorganisation und wurde darüber hinaus zu einem bedeutenden Propagandainstrument des VichyRegimes. Siehe dazu Daniel Hadwiger, Nationale Solidarität und ihre Grenzen. Die deutsche »Nationalsozialistische Volkswohlfahrt« und der französische »Secours national« im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2021. 198 And so on. 199 Ähnliches berichtete auch der französische Unternehmer Pierre Lion (1896–1977) in seinem Tagebuch. VEJ, Bd. 12, 652–655.

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In many cases the women believed that they would not be subject to these measures. Therefore, only the men were fleeing from the arrests, leaving all their fortune to their wifes [sic], their mothers and daughters. But the possessions were seized and the women arrested. Children – both boys and girls – of 14–15 years of age and upwards were also arrested. While the majority of people arrested in Paris were taken from among the foreign Jews, in the province on the contrary French and foreign Jews, men and women were taken, this time by the German police. Surrounded by soldiers with fixed bayonets, they were loaded into lorries, men and women separately, and provisionally interned, thousands of them in the camp of Pithiviers. The children were left in the street, the appartements [sic] sealed and neighbours forbidden to take care of the |2| children. Even in the most isolated locality, where only one Jew resided, the police appeared in order to proceed with the arrest. Thanks to the active solidarity of the French non-Jewish population, a great number of persons could escape, many children were either sheltered or brought into [the] non-occupied zone, nothwithstanding [sic] the risk and danger th#s ###. Simultaneously the anti-Jewish measures were strengthened against those who are still in Paris. General prohibition for them to use the telephone – this measure is applied even to the Union générale des israélites de France. The Jews are given only one hour, the very hour of closing the shops, to buy the most indispensable provisions. Simultaneously the terror has become general in Paris as well as in the provinces and especially in the prohibited zone. The Doriotists200 have plundered the famous synagogue201 of the rue de la Victoire in Paris. Numerous are the Jews endeavouring to escape to the non-occupied zone. An uninterrupted stream of men, women, children and patients is crossing at different points the demarcation line, after having made by foot a distance of 25–75 km. A genuine ferrymen trade has developed of which the initial price of 4–500 Frs rose to 5–10 000 Frs. The administrative measures against the foreign Jews who crossed the demarcation line and are now in an unsettled situation, are characterised by a comprehensive toleration.

200 Anhänger des Faschisten Jacques Doriot. 201 Die Große Synagoge in der Rue de la Victoire wurde 1874 eingeweiht. Sie fasst rund 1800 Menschen und ist die größte Synagoge Frankreichs.

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Dokument 68

But in the non-ccupied zone also 10 000 Jews must be delivered to the German authorities. ### ### ### (Note: Pétain first refused, but got an order and had to obey.) A census of the internees was introduced in the camps of Southern France. Actually, a census is taken in all the internment centres and they are thoroughly isolated from the exterior. 3000 persons, men and women, must be deported on 6th, 8th and 10th of August. (Note: This has been done).202 The remainder of 7000 must be taken for deportation from among the foreign Jews of the towns, who are in the “fluctuating” situation, i.e. those who do not have any voucher indicating that they have applied for an identification certificate. Therefore, those foreign Jews who have fled from the occupied zone are running the risk to be taken first. Razzias were made in Lyon, Marseille, Toulouse and other towns, on 4th, 5th, 6th August; and it still continues. Jews of different nationalities, particularly Polish, Czech, ex-Austrian, German, Rumanian, Hungarian, Greek, Turkish, Russian and Palestinian Jews were arrested. The C.T.E. (Compagnies des travailleurs étrangers)203 have not been affected by these measures. *** This report was brought to Switzerland on August 6th, 1942.

202 Nach der Wannseekonferenz im Januar 1942 begannen die Nationalsozialisten in den folgenden Monaten mithilfe der französischen Behörden, die systematische Deportation der Juden aus Frankreich vorzubereiten. Ende Juni 1942 forderte Theodor Dannecker die französichen Behörden auf, die Auslieferung von 10 000 Juden aus der unbesetzten Zone in die Wege zu leiten. Vom 6. bis 12. August 1942 begann schließlich die Auslieferung der staatenlosen Juden aus den Internierungslagern VichyFrankreichs. Eine zweite Verhaftungs- und Deportationswelle setzte ab Mitte August 1942 ein, bei der auch die von ihren Eltern zurückgelassenen Kinder unter 16 Jahren an die deutschen Behörden übergeben wurden. Letztere wurden nach Auschwitz gebracht und dort meist unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Eine weitere Großrazzia fand am 26. August 1942 statt, im Zuge derer weitere 6584 Juden verhaftet und anschließend deportiert wurden. VEJ, Bd. 12, 64–66; siehe auch Dokument 72. 203 1939 von der Regierung Édouard Daladiers (1884–1970) etablierte Kompanien ausländischer Arbeiter, die als unbewaffnete Einheiten in der französischen Armee dienten. Jüdische Angehörige der Kompanien wurden während der zweiten Verhaftungswelle in Vichy-Frankreich ab Mitte August 1942 den deutschen Behörden übergeben.

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Dokument 69 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 27. August 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Buchstaben auf Seite 2 teilweise verblichen CZA, L22/149

RL / LU / A2-3-4c-4d

27th August, 1942

J. Linton, Esq. The Jewish Agency for Palestine 77 Great Russel Street London W. C. 1 Dear Linton, Thank you very much for sending me part of Hansard of August 6th with the debate on a Jewish Fighting Force.204 Please continue doing so whenever the occasion arises. 2.) [sic] I was interested not only in the result of the debate but also in the arguments used by some members. Mr. Lipsons205 “moving speech” confirms my opinion that most people never learn and prefer to remain as stupid as they are. 3.) I was more interested in the remarks of some non-Jewish members about the number of the European Jews and the post-war problem of resettlement. Sir Derrick Gunston206 has been told (by whom?) that after the war there will be “7 million dispossessed Jews in Eastern Europe.” 204 Hansard bezeichnet die protokollarischen Aufzeichnungen der Sitzungen des britischen Parlaments. Sie sind online einsehbar unter: https://api.parliament.uk/historichansard/sittings/index.html (11.  April 2022). Lichtheim bezog sich auf folgende Debatte: Hansard, HC Deb., Jews (Fighting Services), 6.  August 1942, (11. April 2022). 205 Daniel Lipson (1886–1963) war ein jüdisches Parlamentsmitglied, das sich in der Debatte gegen die Bildung einer jüdischen Armee aussprach. Ebd., 1255–1258. 206 Derrick Gunston (1891–1985) war ein Parlamentsmitglied der Conservative Party und sprach sich in der Debatte ebenfalls gegen die Bildung einer jüdischen Armee aus. Ebd., 1261 f.

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Dokument 69

Wing-Commander James,207 basing himself on a speech allegedly made by Professor Brodetsky208, even spoke of 9 1/2 million Jews who would need homes. These figures are not only exaggerated in comparison with the actual numbers of Jews in pre-war Europe but they also show that people in Eng­ land do not know what is now going on in Europe. Even the Jewish leaders seem to believe that after the war there will be five or six million homeless Jews in Central- and Eastern Europe – apart, of course, from Russia where there is no question of “resettling dispossessed Jews”. In fact, there will be not more than 1 1/2 or two million Jews. Three or four million, perhaps even more, will have been exterminated by Hitler. The 1 1/2 or two million left over will be those in Hungary (about 800 000), Italy, unoccupied France (150 000), provided these three countries will not come completely under the Gestapo. Then there are the small communities of Switzerland (18 000 plus 6 000 refugees), Sweden and |2| Portugal and finally some hundredthousand in Roumania (in the so-called Regat209) and in the Balkans (Greece, Slovakia, Croatia, Bulgaria)  – altogether not more than half a million  – who might escape complete annihilation, as well as about 300 000 in Belgium, Holland and occupied France, whose fate is still in the balance while tens of thousands in these three countries have already been deported. We now know that deportation means death – sooner or later. Thus, of the former Polish, German, Austrian, Czechoslovakian, Jougoslavian [sic] Jews – altogether 3 1/2 million – and of the others who have been or will be deported, very few will survive. They have been or are being starved to death, in ghettos or labour camps, robbed, ill-treated in a thousand ways and murdered. This process of annihilation is going on relentlessly and there is no hope left to save any considerable number. Part of the Polish Jews – also some Roumanian Jews – have fled to Russia, but in their place others have been murdered in the occupied zones of Russia. 207 Der konservative Politiker Archibald James (1893–1980) warf der zionistischen Bewegung vor, Antisemitismus zu befeuern. Er sprach sich ebenso wie Gunston gegen die Bildung einer jüdischen Armee aus, da sie jüdische Ansprüche auf Palästina festigen würde. Ebd., 1265–1267. 208 Selig Brodetsky (1888–1954) war ein britisch-jüdischer Mathematikprofessor. Seit 1928 war er Mitglied der Zionistischen Exekutive und von 1939 bis 1949 Präsident des Board of Deputies of British Jews. 209 Regat (Altreich) ist eine Bezeichnung für diejenigen Gebiete, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen Gebietsgewinnen zu Rumänien gehörten, namentlich die Regionen Moldau, Walachei und Dobrudscha.

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Therefore, it is no exaggeration to say that Hitler has killed or is killing 4 million Jews in continental Europe and that not more than 2 million have a chance of surviving. With every month that passes this chance becomes smaller and one year hence even these figures might appear too optimistic. 4.) I know that you cannot do anything about it, but it is my melancholy [sic] duty to keep you informed and to correct the figures on which many people in England – Jews and G̊en̊ tiles – are basing their well-me{a}nt but futile post-war policy of “resettlement of dispossessed Jews.” With kindest regards, Sincerely Yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

Dokument 70 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor Genf, 30. August 1942210 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit Bericht über Polen, 15. August 1942, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; teilweise Umlautzeichen handschriftlich hinzugefügt; Buchstaben teilweise verwaschen CZA, L22/149 [Lichtheim übermittelt einen Bericht über Massenerschießungen von Juden in Polen. Daraus geht außerdem hervor, dass die Nationalsozialisten die Ermordung aller aus Zentral- und Westeuropa deportierten Juden planen. Vor diesem Hintergrund werden in dem Bericht Überlegungen angestellt, wie diese Nachrichten öffentlich gemacht werden können.]

RL / LU / A2-3-4c-4d

30th August, 1942

Dr. Lauterbach Nr. 802 Linton, Lourie, Montor 210 Der Brief ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: VEJ, Bd. 6, 456–459.

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Dokument 70

Re: Situation in Poland: I am enclosing a confidential report (written in German) based on a report received by a certain legation211 from a man (non-Jew) who came here from Poland and who is regarded as reliable. The report is so terrible that I had some doubts if I should forward it to you or not. But certain facts mentioned in the report are confirmed by other sources, for instance the fact that during the last weeks many Jews have been sent from the Warsaw Ghetto to other places and that there is a constant shifting of Jews from Theresienstadt and from the occupied countries to unknown places in the East. It is also a fact that the Jews who have been lately sent to Poland or Theresienstadt from Germany, Austria etc. are not allowed to write letters and to give their address. Why? All this gives a most sinister meaning to the other information contained in this report – incredible as it may seem to readers in England and America. In fact, I believe the report to be true and quite in line with Hitler’s announcement that at the end of this war there will be no Jews in continental Europe.212 The suggestions made under a. / b./c. at the end of the report should be considered by the Jewish organisations especially in USA. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE 211 Der ursprüngliche Bericht stammte wahrscheinlich von der Gesandtschaft der polnischen Exilregierung in Bern, die von Aleksander Ładoś (1891–1963) geführt wurde. Zu den Mitarbeitern der Gesandtschaft gehörte auch der aus Polen stammende orthodoxe Jude Julius Kühl (1913–1985), der wiederholt Informationen an Abraham Silberschein und das orthodoxe Ehepaar Sternbuch in Montreux weiterleitete, die maßgeblich an der Organisation von Rettungsaktionen beteiligt waren. Kühl fertigte wahrscheinlich auch diesen Bericht an. Cohen, A Test of Jewish Solidarity, Bd.  1, 218; Bd. 2, 535, Fußnote 48. Eine von Lichtheim angefertigte Zusammenfassung des Berichts gelangte auch zum amerikanischen Abgesandten im Vatikan, Myron C. Taylor (1874–1959). In der Hoffnung, der Bericht würde den Vatikan zu »praktischen Maßnahmen« veranlassen, unterrichtete Taylor den Kardinalsekretär Maglione, ohne dass dies die gewünschte Reaktion nach sich gezogen hätte. Myron C. Taylor an Luigi Maglione, 26. September 1942, in: Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, 114 f. 212 Lichtheim spielt hier auf die Rede Hitlers vor dem Reichstag vom 30. Januar 1939 an, in der er die Vernichtung des europäischen Judentums »prophezeite«. Adolf Hitler, Rede vor dem Reichstag am 30.  Januar 1939, in: Verhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode 1939, Bd. 460: Stenographische Berichte 1939–1942, Anlagen zu den Stenographischen Berichten 1.–8. Sitzung, Berlin 1939, 1–21.

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[|1|]15.8.1942 Vor kurzer Zeit kam ein Herr direkt aus Polen und berichtete ueber Progrome [sic] in Lemberg und ueber die Verhetzung der polnischen Bevoelkerung, bezw. ueber deren unfreundliches Benehmen gegenueber der dort ansaessigen Judenheit. Gestern, Freitag, den 14.8.1942, kam wieder eine Person direkt aus Polen (Arier), eine sehr vertrauenswuerdige und bekannte Persoenlichkeit, und berichtete folgendes: Das Warschauer Ghetto ist in Liquidation begriffen.213 Es werden Juden ohne Unterschied von Alter und Geschlecht aus dem Ghetto gruppenweise weggenommen, erschossen und deren Leichen zur Fettherstellung bezw. deren Knochen als Duengemittel verwendet.214 Es sollen zu diesem Zweck auch Leichen wieder ausgegraben werden. Die Massenhinrichtungen finden natuerlich nicht in Warschau selbst statt, sondern in besonders hierfuer hergerichteten Lagern. Ein solches Lager soll sich in Belzek215 befinden. In Lem213 Im Rahmen der »Aktion Reinhardt« wurde das Warschauer Getto ab 22. Juli 1942 schrittweise aufgelöst. In der bis 21. September 1942 durchgeführten »Großen Aktion« wurden im Zuge der Deportationen ca. 10 300 Juden im Getto getötet; rund 265 000 wurden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort in Gaskammern ermordet. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 812 f. 214 Die industrielle Produktion von Seife und Dünger aus Leichen jüdischer Menschen ist nicht belegt. Nach dem Krieg wurde das Gerücht vor allem von Überlebenden kolportiert und tauchte immer wieder in der Diskussion um die Gräueltaten der Nationalsozialisten auf. Die Historikerin Deborah Lipstadt und der Historiker Yehuda Bauer haben die Gerüchte bereits in den 1980er und 1990er Jahren eingeordnet. Deborah Lipstadt, Letter to the Editor, in: Los Angeles Times, 16. Mai 1981, 42; Yehuda Bauer, To the Editor of the Jerusalem Post, in: Jerusalem Post, 29. Mai 1990, 4. Ausführlich dazu Andrej Angrick, »Aktion 1005«. Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945. Eine »geheime Reichssache« im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, 2 Bde., Göttingen 2018, hier Bd. 2, 1077–1082. Hingegen ist die Verwendung von Menschenasche als Düngemittel in einzelnen Fällen belegt. 215 Das südöstlich von Lublin gelegene Vernichtungslager Belzec wurde im Winter 1941/1942 errichtet. Es war das erste von drei Lagern der »Aktion Reinhardt«, die allein zur systematischen Tötung von Menschen bestimmt waren. Ab März 1942 wurde hier die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements in Gaskammern ermordet. Innerhalb der ersten vier Wochen fielen rund 80 000 Juden aus Lublin, Lemberg und anderen Gettos im Distrikt Lublin und Ostgalizien sowie dem Reich den Mordaktionen in Belzec zum Opfer. Bis zur Auflösung des Lagers im Dezember 1942 wurden dort insgesamt etwa 450 000 Juden getötet. Nicht rekonstruierbar ist hingegegen die Anzahl der in Belzec ermordeten Sinti und Roma. Florian Ross / Steffen Hänschen, ­Belzec –

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berg selbst soll man in den letzten vier Wochen rund 50 000 Juden an Ort und Stelle hingeschlachtet haben,216 in Warschau nach einem Bericht 100 000. Im ganzen oestlich von Polen gelegenen Gebiet, inkl. des besetzten Russlands, soll sich bereits kein einziger Jude mehr befinden. Bei dieser Gelegenheit wurde noch berichtet, dass beispielsweise die ganze nichtjuedische [sic] Bevoelkerung von Seb̊astopol [sic] hingemordet wurde.217 Die Hinschlachtung der juedischen Bevoelkerung in Polen soll nicht auf einmal vorgenommen werden, um im Ausland kein Aufsehen zu erregen. Waehrend deportierte arische Hollaender und Franzosen wirklich zu Arbeitsleistungen im Osten herangezogen werden, sollen die juedischen Deportierten aus Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich und der Slovakei zur Hinschlachtung bereitgestellt werden. Da im Westen diese Hinschlachtungen groesseres Aufsehen erregen wuerden, muss vorerst die Deportation vorgenommen werden und zwar nach dem Osten, wo das Ausland geringere Moeglichkeiten hat, es zu erfahren. Ein Grossteil der juedischen Bevoelkerung, die nach Litauen und Lublin deportiert wurden [sic], ist in den letzten Wochen bereits hingerichtet worden. Daher mag auch die Tatsache ruehren, dass den Deportierten das Korrespondieren verboten ist. Ein Grossteil von deutschen Deportierten soll sich in Theresienstadt befinden. Dieses Lager ist jedoch nur eine Zwischenstation und die Insassen dieses Lagers haben das gleiche Schicksal zu gegenwaertigen. Immer wenn durch solche Hinrichtungen wieder neuer Platz geschaffen ist, werden weitere Deportationen vorgenommen. Man trifft haeu­ fig ganze Zuege solcher Deportierter, die in Viehwagen verschickt werden. In jeden Viehwagen werden cca. [sic] 40 Personen placiert. Besonders inte­ ressant ist die Tatsache, dass zur Abholung solcher Todeskandidaten aus dem Ghetto in Warschau, litauische Nichtjuden berufen werden.218 erste Mordstätte der »Aktion Reinhard«, in: Bildungswerk Stanisław Hantz e. V. /  Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hg.), Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020, 103–122; Robert Kuwałek, Das Vernichtungslager Bełżec, Berlin 2013; Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust: Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017; Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013. 216 In einer vierwöchigen »großen Aktion« im August 1942 wurden 50 000 Juden aus Lemberg nach Belzec deportiert und dort ermordet. 217 Hier handelt es sich entweder um einen Schreibfehler oder um eine Fehlinformation. Nach der deutschen Eroberung Sewastopols Anfang Juli 1942 wurde die jüdische Bevölkerung ermordet. 218 Die Trawniki genannten nichtdeutschen Helfer der SS stammten meist aus der Ukraine, aber auch aus Lettland, Estland, Litauen, Polen und Russland. Sie wurden in der Nähe von Lublin im SS-Ausbildungs- und Arbeitslager Trawniki als Hilfskräfte aus-

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Tragisch ist die Tatsache, dass die polnische Bevoelkerung von den Deutschen gegen die Juden sehr verhetzt wird und das Verhaeltnis zwischen der polnischen Bevoelkerung und den Juden sich sehr zugespitzt hat. Dies trifft besonders in Lemberg zu. Auf die Frage, welches Verhaeltnis in Warschau unter der Bevoelkerung herrsche, war die Antwort, dass es dort gar kein Verhaeltnis geben kann, denn in Warschau bekommt kein Pole einen Juden zu sehen. Die juedische Bevoelkerung, besonders die in Lemberg und im Ghetto von Warschau, lebt in der einzigen Hoffnung, dass entweder [|2|] eine zweite Front entsteht, oder aber, dass der Krieg wie durch ein Wunder noch vor diesem Winter zu Ende geht. Die Juden in Polen stellen folgende Frage: Ueber 4  Millionen Deutsche leben in Amerika, davon bekennen sich 2  Millionen zum Nationalsozialismus. Warum ergreift Amerika keine Repressalien? Deswegen ist die juedische Bevoelkerung Polens ueber Amerika seht enttaeuscht und erbittert. Man versteht, dass England aus Angst um seine Kriegsgefangenen nichts unternimmt. Amerika aber haette doch nichts zu befuerchten. Die juedische Bevölkerung in Polen ist jetzt so weit, dass sie weiss, sie hat nichts mehr zu verlieren. Endlich wurde noch darauf hingewiesen, dass das unbesetzte Frankreich versprochen haette, noch 10 000 Juden aus{n} Deutschland auszuliefern. ­Wuesste man, selbst in den antijuedisch eingestellten Regierungskreisen Frankreichs, welches Schicksal diesen zur Deportation Bestimmten beschieden ist, so koennte man doch eventuell diesem Vorhaben Einhalt gebieten. Es hätten wirklich die oben besprochenen Repressalien Amerikas allein einen einschneidenden Wert. Soweit der Bericht dieses „Informators“. Jetzt waere zu überlegen: a.) Wie koennte man das den franzoesischen Regierungskreisen plausibel machen, um wenigstens die Juden Frankreichs vor der Auslieferunge zu retten? b.) Auf welchem Wege koennte man der amerikanischen Judenheit – aber ohne Quellenangabe – diesen Bericht zur Kenntnis bringen? Wohl sind diesbezuegliche Telegramme chiffriert nach London abgegangen, doch gelangen solche Berichte erst nach einer gewissen Zeit zur Publikation, sowohl durch Radiouebertragung, als durch Veroeffentlichung von Schwarzbuechern. Solange kann man aber doch nicht die Juden Amerikas in Unkenntnis ueber den wahren Sachverhalt lassen.

gebildet und kamen vor allem bei der Bewachung der Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« (Belzec, Sobibor und Treblinka) sowie bei den Räumungen der Gettos im Generalgouvernement zum Einsatz, so auch im Warschauer Getto.

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c.) Nachdem einige male mit Sicherheit festgestellt wurde, dass die nichtjuedische Bevoelkerung Polens die Radiouebertragungen aus London in polnischer Sprache abhoert, waere dringendstes Gebot, bei der polnischen Regierung in London dahin vorstellig zu werden, dass ein solchen Radioansprachen die polnische Bevoelkerung davon abgebracht wird, bei dieser grauenerregenden Aktion mitzuwirken. Als Letztes sei noch gesagt: Aus einer Aeusserung des Sekretaers der hiesigen Nuntiatur, Msg̊ r. Martillotti,219 geht hervor, dass soeben Bericht vom Vatikan eingetroffen sei, im Zusammenhang mit der erfolgten Intervention zugunsten der slovakischen Juden. Der Vatikan hat den von der Slovaksischen Regierung dort akkreditierten Vertreter nach der Slovakei geschickt, um der Regierung im Namen des Vatikans das Missfallen ueber die Deportation slovakischer Juden zum Ausdruck zu bringen. Die slovakische Regierung antwortete, dass sie selbst keine Deportationen vornehmen wolle, der deutsche Druck aber in dieser Richtung unbeschreiblich sei.

Dokument 71 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 31. August 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; Buchstaben teilweise verwaschen CZA, L22/149 August 31st, 1942.

RL / DT-A/3 Letter No. 807 (via Istanbul) Dr. L. LAUTERBACH220 Organisation Department, Zionist Executive, P.O.B. 92 – Jerusalem

219 Armando Martillotti war von 1940 bis 1943 Sekretär der päpstlichen Gesandtschaft in Bern. 220 Lichtheim sandte den Brief in Kopie auch an Linton, Lourie und Montor.

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Dear Dr. Lauterbach, 1.) I had a letter dated August 11th, from Mr. J. Holzmann of Bucharest, confirming the news already received that the Zionist Organisation of Roumania has been definitely dissolved. You know already that the KH and KKL are no longer functioning. I also got information from one of the former leaders of the Hechaluz Movement in Roumania to the effect that the still existing youth-groups (Plugoth)221 will cease to exist as from September 1st. All this is apparently the result of the measures taken by the government regarding the affairs of the Jewish community. They have established a central body, something like a “Judenrat” or community-council, just as this was done in Germany, Austria, Czechoslovakia, Holland, etc. to the exclusion of all other Jewish groups or institutions.222 2.) Apart from this re-organisation on German lines it is to be noted that the German press has lately shown great interest in the Jewish affairs in Roumania. German newspaper-reports which appeared in the German press and also in various papers in the Balkans give the following figures for the Jews still in Roumania: 280 000 in the Regad{t} and in Transylvania (95 000 of them in Bucarest [sic], 11 000 in Timisoara); 16 000 for Bukovina, most of them in Czernowitz, and practically now Jews in Bessarabia, 120 000 of them having been transferred to what they now call “Transnistrien.”223

221 Der hebräische Begriff pluga (Pl. plugot) bezeichnet eine Truppe bzw. Formation. 222 Am 30.  Januar 1942 war die sogenannte Judenzentrale (rum. Centrala Evreiască) eingerichtet worden. Deren Tätigkeit wurde von Radu Lecca (1890–1980), einem ehemaligen Mitarbeiter des Völkischen Beobachters kontrolliert. Die Judenzentrale diente der Durchsetzung der antisemitischen Verfolgungs- und Ausbeutungspolitik. 223 Das rumänische Besatzungsgebiet Transnistrien umfasste die südukrainische Region zwischen Südlichem Bug und Dnjestr. Das Gebiet wurde im Sommer 1941 von deutschen und rumänischen Truppen erobert und Rumänien von Hitler als Belohnung für die Unterstützung im Krieg gegen die Sowjetunion überlassen. Die Region wurde als Gouvernement Transnistrien (rum. Guvernământul Transnistriei) an Rumänien angeschlossen. Ab September 1941 wurde die jüdische Bevölkerung Bessarabiens, der Bukowina und der nördlichen Moldauregion auf direkte Anweisung Ion Antonescus in Transnistien zusammengezogen. Auch wurden jüdische wie nichtjüdische politische Gefangene und Juden aus dem Regat, die sich der Zwangsarbeit entzogen hatten, nach Transnistrien deportiert. Die Deportationen dauerten bis Herbst 1942 an; ihnen fielen rund 150 000 Personen zum Opfer. In Transnistrien wurden die deportierten Juden gemeinsam mit den ortsansässigen ukrainischen Juden in Gettos und Lagern interniert und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Zwischen 1941 und 1944 ermordeten

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These German-press reports are more or less in accordance with the figures we received from other sources. Of the total Jewish population of Roumania which in 1939 was estimated as being about 800 000, a considerable number is now in Hungary owing to the cession of the larger part of Transylvania to that country. But the main center Timisoara (Temeswar) remained with Roumania and from our correspondence we know that there are still quite a number of Jews in this town. The figure of 11 000 may be correct. Of the Jews of Bukovina, the majority fled or was taken away by the ­Russians or driven away when the Germans and ### {Roumanians} returned. Many of them were killed. Afterwards a certain number, who was in hiding, returned to Czernowitz and therefore it is quite possible that the number is now 16 000. In Bessarabia there were about 220 000 Jews and they were all driven away or fled to Russia. We know from reliable sources that large numbers have been killed in the Ukraine by the Germans and Russians [sic].224 I have mentioned in previous reports that the number of the killed is estimated as being 90 000. Therefore, it is quite possible that about 100 000 survivors are now concentrated in “Transnistrien.” In the Regad{t} the number of the Jews was about 300 000. Several thousands have been killed during the various pogroms and Iron Guard revolts, but the majority – about a quarter of a million – is still there.225 [|2|]  How long they will remain there, nobody can tell. The interest lately shown by the German press is a bad sign. The German-controlled papers say that in 1943 the whole country will be as “judenrein” as Germany. As a matter of fact, I have just seen reports stating that expulsions to Poland from the Regad{t} and also from Czernowitz and Timisoara have already started and that the newly created central body of the Jewish community in Bucharest is trying to come to an arrangement with the government about the date and the extent of the deportations which are to follow! 3.) It is all in line with what we have seen during the last years, months and weeks in Germany and German-controlled Europe: It starts with anti-Jewish legislation and all sorts of vexations, with the taking of hostages and concentration camps. Then comes the arrest and deportation to Poland of certain groups – foreign or stateless Jews first – and finally of the whole Jewish population. Therefore, it is to be feared that the remaining 300 000 Jews deutsche und rumänische Täter zwischen 150 000 und 250 000 rumänische und ukrainische Juden in Transnistrien oder verursachten ihren Tod. 224 Offensichtlicher Schreibfehler. Gemeint ist »Romanians«. 225 Laut einer Volkszählung vom Mai 1942, die auch Konvertiten und ihre Nachkommen als jüdisch einstufte, lebten 292 000 Juden im Regat.

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in the Regad{t}, Bukovina and Transylvania will sooner or later be transferred to Transnistria or Poland and will have to share the fate of the other Jewish communities of “Greater Germany.”226 4.) Bulgaria has also issued new laws against the Jews. A special “commissariat” has been created, the Bulgarian Jews must now also wear the yellow star, the Jews of Sofia must leave that town and go to the provinces, the Jews are excluded from all sorts of callings and professions and all this means of course the beginning of deportation just as it was the case in Germany and the other countries.227 5.) It remains to be seen what Hungary and Italy will do with their Jews. The pressure coming through the Gestapo from the Führer’s headquarters becomes stronger everywhere and it is quite clear now that anti-Jewish legislation and slave-labour are only the first stage while the end will be deportation to Poland and again from the ghettos of Poland to places further East where the Jews are already disappearing in large numbers. 6.) You are aware what the miserable Vichy government has done: after the arrest and deportation of tens of thousands of Jews in occupied France, the Vichy government has handed over several thousand refugees from the camps of Gurs, etc … to the Gestapo and now many more thousands who were not in the camps have been arrested by the Vichy police all over unoccupied France, also to be sent to Poland and occupied Russia. It is said that the United States government has protested but more protests are of no avail at the present stage. The only effective measure would have been to break off diplomatic relations and to stop sending food to France and her colonies. There have been strong protests also from the Pope, from the christian churches and the 226 Im Juli 1942 gab Mihai Antonescu (1904–1946), Stellvertreter Ion Antonescus, dem NS-Regime sein schriftliches Einverständnis, auch die Juden Rumäniens der Vernichtung auszuliefern. Dies wurde jedoch nicht umgesetzt; die geplante Deportation der rumänischen Juden unterblieb weitgehend. Gründe dafür waren wahrscheinlich die Intervention neutraler Drittstaaten und des Vatikans, die Anstrengungen der rumänischen jüdischen Gemeinde und die Befürchtung Antonescus, bei einem alliierten Sieg zur Rechenschaft gezogen zu werden. 227 Bereits im Oktober 1940 hatte die Regierung Bulgariens das Gesetz zum Schutz der Nation erlassen, dass die politischen und bürgerlichen Rechte der Juden einschränkte. Das Gesetz wurde trotz Protesten aus der Zivilbevölkerung im Januar 1941 vom Parlament verabschiedet und vom König ratifiziert. Im März 1941 schloss sich Bulgarien den Achsenmächten an. Im August 1942 wurde ein Kommissariat für jüdische Angelegenhieten im Innenministerium eingerichtet, das die antijüdische Gesetzgebung durchsetzen sollte, und die jüdischen Gemeindevorstände wurden dem Kommissariat unterstellt. Frederick B. Chary, The Bulgarian Jews and the Final Solution, 1940–1944, Pittsburgh, Penn., 1972.

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Quakers, but all this was in vain.228 Laval229 is said to have declared that he had to sacrifice the Jews in view to avoid other difficulties. It is feared that after the foreign Jews, it will be the turn of the French Jews. ̊ riot̊ government to replace Laval and that would There is now talk of a Dow probably mean the end also for the Jews of foreign {French} nationality. All these happenings in Roumania, Bulgaria and France confirm the impression conveyed in my previous reports that there is a general plan behind these measures to deport and destroy the Jews all over Europe. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

P.S. I am enclosing a copy of this letter, which please hand over to the headoffice of the Keren Hayessod.

Dokument 72 Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauterbach Genf, 3. September 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit Bericht aus Vichy-Frankreich, 2 Seiten; Bericht mit separater Paginierung; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; Buchstaben teilweise ausgewaschen und verschmiert CZA, L22/149 228 Zum Protest der christlichen Kirchen siehe Wolfgang Seibel, Macht und Moral. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich, 1940–1944, München 2010, 173–205. 229 Pierre Laval (1883–1945) war ab Juli 1940 stellvertretender Ministerpräsident und später Außenminister des Vichy-Regimes. Am 13.  Dezember 1940 wurde er von Pétain entlassen und verhaftet, da die von Laval geforderte Zusammenarbeit mit dem NS-Regime dem Staatschef zu weit ging. In der Hoffnung, die Beziehungen zum Deutschen Reich dadurch verbessern zu können, holte Pétain Laval am 18. April 1942 in die Regierung zurück und ernannte ihn zum Ministerpräsidenten. In dieser Position forcierte er die Kollaboration mit den deutschen Besatzungsbehörden und verdrängte Pétain zunehmend aus dessen Machtposition. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Laval wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und durch ein Erschießungskommando hingerichtet.

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[Lichtheim leitet einen Bericht von Mitgliedern christlicher Hilfsorganisationen über die Anfang August 1942 beginnenden Deportationen von Juden aus VichyFrankreich weiter. Darin wird die Praxis der Auswahl der zu deportierenden Personen beschrieben, der Zeitplan der Transporte und die Anzahl der Personen angegeben.]

RL / DT-A/2-3-4c-d.

September 3rd, 1942.

To: LINTON, LOURIE, MONTOR & Dr. LAUTERBACH (No. 813). Dear230 I am sending you copy of a confidential report which the Geneva Office of the World Jewish Congress has received from very reliable sources, regarding the deportation of Jews from unoccupied France. This report comes from members of the Christian relief organisations, which are dealing with this matter in France. I understand that the World Jewish Congress is sending this report to its offices in London and New York but I thought right [sic] to let you also have a copy for your information. The president of the Coordinating Committee mentioned in the first line of the report is an American.231 He and others have done what they could but it has all been in vain. In addition to the enclosed report I have received other reports describing the horrors connected with these brutal deportations, especially the ones which took place when the parents had to leave while the children had to remain, that is to say children between 5 and 16 years of age [sic]232 or, as stated at the end of the attached report, now even between 2 and 16 years of age. 230 Bei dem Dokument handelt es sich scheinbar um den Durchschlag des Briefs, in den die Namen der jeweiligen Adressaten handschriftlich eingefügt wurden. 231 Das Nîmes Coordinating Committee (Comité de Nîmes) wurde 1940 in Toulouse als Dachorganisation von 25 Hilfsorganisationen zur Koordinierung der humanitären Hilfe in südfranzösischen Konzentrationslagern gegründet. Zum Komitee gehörten unter anderem die Young Men’s Christian Association (YMCA), das American Friends Service Committee (eine Organisation der Quäker), die Unitarier und das Amerikanische Rote Kreuz. Präsident des Komittees war YMCA-Vorsitzender Donald A. Lowrie (1889–1974). 232 Hier ist wahrscheinlich 18 Jahre gemeint. Siehe dazu den angehangenen Bericht zu den Deportationen der ausländischen Juden aus Frankreich.

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The attached report also confirms the impression I gathered from my reports that the intention cannot be to get labour supply but simply to kill off the deportees. There are also reliable reports about the latest developments in Holland, where the deportations continue. Christian people connected with the Protestant Church in Holland are in possession of material showing that in some cases the Germans did not even take the trouble to deport the arrested Jews (foreign and Dutch Jews) to Germany or Poland, but that they murdered them on the spot by sending them through certain streets closed to the public where they were machine-gunned. All the relief organisations in Europe, Jewish and non-Jewish, constantly dealing with those horrors are in a state of despair because no force on earth can stop them. Announcements lately made that the perpetrators would be punished after the war have of course no effect.233 Also, there is no adequate punishment for these crimes. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

[|1|]  THE DEPORTATION OF FOREIGN JEWS FROM UNOCCUPIED FRANCE About the beginning of August, the first news of the intended deportation of foreign Jews from unoccupied France became known to members of the various philanthropic organisations working in that part of France. Immediately, the president of the Coordinating Committee for work in the camps went to Vichy on order to protest against these measures. After some difficulty he succeeded in seeing the Marshal Pétain, who at the time was unaware of what was about to take place. The interview took place in the presence of

233 Am 13. Januar 1942 kündigten die Exilregierungen von Belgien, der Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Polen und Jugoslawien in einer gemeinsamen Erklärung (Erklärung von St. James) an, Kriegsverbrechen nach Kriegsende strafrechtlich zu verfolgen. Interalliierte Erklärung der Londoner Exilregierungen über die Bestrafung wegen Kriegsverbrechen, in: Kurt Heinze / Karl Schilling (Hg.), Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale. Sammlung der Rechtsthesen der Urteile und gesonderten Urteilsbegründungen der dreizehn Nürnberger Prozesse, Bonn 1952, 309.

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M. Jardelle ̊ [sic],234 General-Secretary to the Marshal. Father Arnou, one of the Vice-Presidents of the Coordinating Committee and personal delegate of Cardinal Gerlier235 to the Committee, also attended the meeting. This was on August 6th. The Marshal stated that the whole affair was regrettable, but unavoidable. He promised to talk with M. Laval about it that afternoon and see if certain categories of Jews could not be excepted. In the meantime, the American Quakers were seeing M. Laval, after they had been informed that the Marshal could not do anything. M. Laval at first held a long tirade against the Jews in general and complained of the harm they had done to France. He stated that at his suggestion the Germans had agreed to accept 10 000 foreign Jews instead of French. The Quakers asked for exemption for about 1000 persons who were in a position to emigrate. M. Laval agreed to consider this category, but he left for Paris the following day without giving any answer. Thi{u}s, is{t} became quite evident that any intervention in Vichy was useless. It is difficult to say whether the initiative in this affair was with the Germans or the Vichy government. All official sources claim that the Germans had asked for 10 000 French Jews but agreed to accept 10 000 foreign Jews instead. It is equally hard to find an adequate explanation for this deportation. It can hardly be true that they ### are to be used as workers as three fourth of those who have already left are totally incapable of doing a day’s work. In the first transport there were many old people: sick, bedridden, and all had been weakened by two years in internment camps. Their destination is uniformly reported as the Jewish reservation in Poland, although no confirmation of this has been obtained. The first group to leave the unoccupied zone is reported ## to be in a camp near Paris where a first selection and separation is being made. Up to the present, transports have left all of the main camps in unoccupied France. Lists have been prepared in the various prefectures during the past weeks, although no one knew the reason for these lists. The procedure was then about the same in each department and each camp. A first group of people were [sic] separated from the rest of the camp according to these prepared

234 Jean Jardel (1897–1981) war vom 15. Juni 1942 bis zum 18. Januar 1943 der Stabschef Pétains. 235 Pierre-Marie Gerlier (1880–1965) war ein französischer Kardinal der katholischen Kirche. Ab 1937 leitete er das Erzbistum Lyon und war zugleich der höchste Vertreter der katholischen Kirche in Vichy-Frankreich. Gerlier hatte Pétain lange unterstützt, doch ab Ende August 1942 protestierte er offen gegen die antijüdische Politik.

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lists. The local prefecture and camp direction was [sic] left with a good deal of responsibility – if they choose to take it. They could interpret the excluded categories, and in some cases were extremely broad-minded. In others they refused to make any attempt to remove people from the lists. It was where the private organisations were the most active that the most satisfactory results were obtained. The excluded categories include the following, although as stated above these were not always observed. a) Men who were volunteers in French armed forces or allied armies; b) Their families, in some instances, brothers and parents, as well; c) Families with one member French, or with children who are French citizens; d) Pregnant women, and parents of children under five years; e) Children between 5 and 18 may remain in France or depart with their parents; f) Husbands and wives of Aryans; g) Persons over 65. (However, those over 65 could and did, in some cases, go as volunteers); h) Christian Jews: Protestants, Orthodox, or Catholic; i) Those with visas for emigration; j) Jews of Roumanian, Hungarian and Bulgarian nationality. When the final selection was made in each camp, the “condemned” were put into boxcars in alphabetical order. The number in each car varied from 25–45. Food was given for five or six days. Some straw was placed on the floor. One or two sanitary bowls |2| were placed in each car. In some cars the private organisations were allowed to give supplementary food packages. In others representatives of these organisations were refused to approach the station plateform [sic]. Usually the people were put into the freight cars in the afternoon or evening and the actual departure took place in the middle of the night or the early hours of the morning. The voyage in the unoccupied zone took place rapidly and efficiently. In general, no one was allowed ##{t}o accompany the transports. Nurses and doctors of the French Red Cross had to leave the transports at the last station before the demarcation line. The order of departure up to the present time is as follows: August „ „ „

5th 7th 8th 8th

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Gurs „ Noé Récébédou

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1000 600 162 162

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60 100 400 600 150

Recent developments in France indicate that even severer [sic] measures are to be taken. Indeed, of the original 10 000 asked for, there are now 15 000 wanted. This number does not include those who have already left. Several of the categories of exemption are now being changed. Nothing is now said about “emigrables”. The age of children whose parents will be left has been reduced from five to two. Young people will be taken from the age of 16 instead of 18. Various official sources have indicated that the deportation of the 15 000 will be finished during the month of September and that no new measures will be undertaken. It is still too early to predict whether this is true or not, but life for foreign, and even French Jews in unoccupied France will certainly become more and more uncertain and difficult. Many have asked to come to Switzerland, others are thinking of attempting to cross the border clandestinely. The present events are extremely painful for most of those French people who are aware of what is happening. They are doing everything possible in order to “save” Jews from deportation. One has the impression that even some of the police, who are executing the orders from Vichy, do so only reluctantly. ***

236 In dem nahe Marseille gelegenen Lager von Les Milles wurde all jene Geflüchteten gesammelt, die bereits über französische Ausreisevisa verfügten und auf ihre Emi­ gration nach Übersee warteten. Auch sie wurden schließlich deportiert. Doris Obschernitzki, Letzte Hoffnung – Ausreise. Die Ziegelei von Les Milles 1939–1942. Vom Lager für unerwünschte Ausländer zum Deportationszentrum, Teetz 1999.

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Dokument 73 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 15. September 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrektur; Buchstaben teilweise ausgewaschen CZA, L22/149 September 15th, 1942.

RL / BT-A/2 J. LINTON, Esq.237 The Jewish Agency for Palestine, 77, Great Russell Street, London W. C. 1 Dear Linton,

We here in Switzerland are aware of that the BBC has, during the last days and weeks, repeatedly mentioned the many protests which have been voiced against the persecutions of the Jews in France. The fact that Mr. Churchill238 has condemned these atrocities with his usual vigour in his last great speech in the House of Commons239 has been noted with special satisfaction not only by the Jews but also by the liberal-minded Christian people and the press here and elsewhere. Many months ago, I have stated in my letters and reports to you and to others that far too little has been said and done to warn the Nazis and their associates against the consequences of these crimes. I am still under the impression that the Jewish organisations in England and USA should have done much more on previous occasions to inform the public, the press and the leading statesmen of what is happening to the Jews of Europe. Events in France become of course better and quicker known in England and America than events in Germany and Eastern Europe. There are more possibilities of communicating with the outside world, also the Gaullists are specially interested in spreading news which are {is} clear evidence that Laval 237 Lichtheim sandte Abschriften des Briefs auch an Lauterbach, Montor und Lourie. 238 Winston Churchill (1874–1965) war von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 Premierminister Großbritanniens. 239 Hansard, HC Deb., War Situation, 8.  September 1942, (11. April 2022).

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is – by his own free will – just a Gauleiter. Furthermore, the protests coming from the Vatican, the bishops and priests in France and from the Protestant churches240 have more effect on the minds of the British and American people than the complaints coming from Jewish bodies. All this may explain the fact that it needed the latest persecutions in France to draw the full attention of the highest quarters to these atrocities. In fact, the same things have been done all over Europe for a long time. The shocking aspect of Jewish men and women first arrested and then transported over long distances to some “unknown destination” – about forty men and women, boys and girls crowded together like cattle in one truck, with some strew on the floor, very little food, often without water and a pail in a corner for the needs of the forty – this shocking aspect has become a very common thing in half a dozen countries. Not tens of thousands of Jews as in France, but several hundred thousand Jews have been transported in such or a similar way from their former homes in Germany, Australia, Czechoslovakia, Jugoslavia and lately also from Belgium and Holland to so-called labour camps in Germany or Poland, which means to their death sooner or later. In some cases, the children were allowed to go with them, in other cases they were taken away from them. Sometimes men and women went together, sometimes women and children were separated from the men. Then there are the other horrors in the Ghetti of Poland and the labour camps there, and again in many cases the separation of the children from their parents. |2|  You know all that – it is known to all Jewish organisations from hundred reports. Now, I want to warn you again that all this might also be done to the last still existing Jewish communities in Europe, i.e. to the 800 000 Jews in Hungary and the 300 000 (of the former 800 000) Jews in Roumania. In these countries and also in Italy there is still a chance left that the Jews might be spared if the governments of these three countries are warned in time that they will be held responsible, if they allow the Gestapo to do what it has done 240 Im Zuge der Deportationen aus der unbesetzten Zone Frankreichs im Sommer 1942 kam es zu zahlreichen Protesten französischer Geistlicher. So ließ der Erzbischof von Toulouse, Monseigneur Jules-Gérard Saliège (1870–1956), am 23. August 1942 in den Kirchen seiner Diözese einen viel beachteten Brief verlesen, in dem er die Deportationen öffentlich verurteilte. Ähnliche Initiativen folgten am 26. August durch den Bischof von Montauban, Pierre-Marie Théas (1894–1977), und am 22.  September durch den Kirchenführer des Protestantischen Verbands, Marc Boegner (1881–1970). Ausführlich dazu Michael R. Marrus, Die Französischen Kirchen und die Verfolgung der Juden in Frankreich 1940–1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), H. 3, 483–505.

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Dokument 73

in the other countries of Europe. You may say that Mr. Churchill and President Roosevelt and the allied governments have already issued such warnings.241 That is quite true but what I mean is this: If Mussolini, Antonescu and Horthy242 are aware that their specific attitude in this specific matter is closely watched, if they receive some special warning directed not to the public in general but to them – then they may abstain from these extreme measures against the rest of the Jews for which Hitler will certainly ask in due course. This could be done – perhaps – in an appropriate form through the good offices of the Vatican or some neutral power. In the case of Italy and Hungary it could be said that their comparatively human attitude has been noted with satisfaction and that it was hoped that no such revolting persecutions of the Jews would be tolerated by them. In the case of Roumania, it is different. Antonescu is already guilty of the slaughter of tens of thousands of Jews. But even here a timely warning coming to him from some influential quarters might save the rest of the community which is already under the threat of deportation! (In fact, deportations have already started in the Regat and Transsylvania [sic]). I do not know what action the Jewish organisations in England and America have taken so far to save the remnants of European Jewry. But I feel that the present moment is a favorable one. The tide is turning. The prospects of the allied nations to win the war are better than they have ever been before and this is felt all over Europe. In Italy, Hungary and Roumania, there are many influential people who are dissatisfied with the pro-Nazi policy of their governments. It is certainly the right moment to warn these governments against a renewal of the persecution of the Jews – especially so because public opinion has now been roused as never before by the latest events in France and the many protests coming from all sides. Even Messrs.  Harriot243 and Jeanneney,244 both of them very cautious gentlemen, dare to speak after two 241 Siehe Dokument 72. 242 Miklós Horthy (1868–1957) war ein ungarischer Admiral und Politiker. Von 1920 bis 1944 war er als Reichsverweser das faktische Staatsoberhaupt Ungarns und setzte eine konservativ-autoritäre Politik durch. Unter seinem Regime näherte sich Ungarn in den späten 1930er Jahren an das nationalsozialistische Deutschland an, trat 1940 dem Dreimächtepakt bei und erließ antijüdische Gesetze. 243 Éduard Herriot (1872–1957) war ein Politiker der Radikalen Partei und 1924/1925, 1926 sowie 1932 Premierminister Frankreichs. Er protestierte gegen die Kollaboration mit dem NS-Regime und stellte sich gegen die Regierung Pétains. 244 Jules Jeanneney (1864–1957) war Mitglied der Radikalen Partei und von 1932 bis zum Ende der Dritten Republik 1940 Präsident des französischen Senats. 1941 sprach sich Jeanneney gegen einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich aus und wurde in der Folge zum Gegner der Vichy-Regierung. 1942 beauftrage de Gaulle ihn mit der Wiederherstellung des Rechtsstaats nach dem Krieg.

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years of silence. So, this is the moment. Please let me know the opinion of the Executive. Maybe I am mistaken and everything possible has already been done. I hope you will enlighten me. With kindest regards Sincerely yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

Dokument 74 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 29. September 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; einzelne Buchstaben verwaschen CZA, L22/3 29th September, 1942

RL / LU-A2-3-4c-4d Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem Letter No. 837 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach,

The total destruction of the Jewish communities in Belgium and Holland is nearly completed. In Belgium so far Jews of Belgian nationality have not yet been deported but their number is small, about 4000, most of them in Brussels. Of the great community in Antwerp only some two thousand have still been there a fortnight ago. With the exception of those hiding in the country or those who have fled – a few hundred have arrived in Switzerland – nearly all Jews of foreign nationality have been deported.

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Dokument 74

In Holland no distinction has been made between Dutch and foreign Jews. The once flourishing community of 180 000 souls is being destroyed. The majority has been deported already and the transports continue. (I understand that Dr. Klee,245 Hans Goslar,246 Professor Cohen247 and Mrs. van Tijn248 are still there; but for how long? The leaders of the community seem to have given up all hope. Some are now trying to escape.) A comparatively small number of male Jews in Belgium and Holland – altogether perhaps 4 or 5000 – are being used by the German military authorities for labour-service in the coastal zones. Once the work is finished, they will probably be deported like the rest. The arrests and deportations are made with the usual brutality. Everything the Jews possess is taken away from them, 40 or 50 persons are herded together in one carriage otherwise used for cattle and then they are sent to their “unknown destination.” 245 Alfred Klee (1875–1943) war Rechtsanwalt und ein prominenter Funktionär der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Ab 1933 gehörte er der Reichsvertretung der Deutschen Juden an. 1938 flüchtete er mit seiner Familie in die Niederlande. Im Juni 1943 wurde Klee mit seiner Familie nach Westerbork deportiert, wo er am 10.  November 1943 an Herzversagen starb. Klees Frau Theresa (1877–1945), sein Schwiegersohn Hans Goslar und seine beiden Enkelinnen Hannah und Gabriele wurden am 15. Februar 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen verhungerten Theresa Klee und Hans Goslar. Benjamin Ravid, Alfred Klee and Hans Goslar: From Amsterdam to Westerbork to Bergen Belsen, in: Yosef Kaplan (Hg.), The Dutch Intersection. The Jews and the Netherlands in Modern History, Leiden / Boston, Mass., 2008, 347–368. 246 Hans Goslar (1889–1945) war ein deutscher Zionist und Journalist und mit Alfred Klees Tochter Ruth Judith (1901–1942) verheiratet. Seine Tochter Hannah (später Pick-Goslar; *1928) war eine Freundin Anne Franks in Amsterdam. 247 Der Althistoriker David Cohen (1882–1967) war Professor an den Universitäten in Leiden und Amsterdam. Ab April 1941 leitete er gemeinsam mit dem Kaufmann und Diamantenhändler Abraham Asscher (1880–1950) den Jüdischen Rat von Amsterdam. Er wurde im September 1943 zunächst nach Westerbork und von dort nach Theresienstadt deportiert. Dort gehörte er dem sogenannten Ältestenrat an, bis er im Mai 1945 befreit wurde. Nach dem Krieg wurde ihm vorgeworfen, in seiner Position als Vorsitzender des Judenrats mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet zu haben. Ein Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Ein jüdisches Ehrengericht sprach ihn jedoch 1947 der Kollaboration schuldig und untersagte ihm fortan die Betätigung in jüdischen Organisationen. 1950 wurde dieses Urteil aufgehoben. 248 Gertrude van Tijn (1891–1974) war die Leiterin der Auswanderungsabteilung des Jüdischen Rats von Amsterdam. Bernard Wasserstein, The Ambiguity of Virtue. Gertrude van Tijn and the Fate of the Dutch Jews, Cambridge, Mass. / London 2014.

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There is more and more evidence that many of the deportees are dying already on their way in these cattle-trucks and that others – especially older men and women – are shot after reaching the German frontier. |2|  Similar reports have come in about the transports going from V ­ ichy-​ France to occupied France. The younger and able-bodied men who arrive alive in Germany or Poland will probably be used for slave-labour in the East – at least for a certain time. But this is only a minority of the deportees. What is happening to the girls, nobody knows, but it is said that a number of Jewish girls from Holland and Belgium have been sent to the military brothels in the East. This would be “Rassenschande” – but the Germans can be relied upon that there will be no offspring. Poland: From my cable of 26/9/42 to the London office249 you will have seen that I am in possession of reports stating that the Ghetti of Warsaw and Lodz are nearly empty, only a number of artisans working for the army are still there, while the majority has been again deported to some “unknown destinations”. That there have been pogroms and shootings in connection {with these deportations} is confirmed by various sources. Where the rest of the deported people are and if they are alive, I cannot tell. There are most gruesome reports, some of which I have mentioned in previous letters. Some young people have fled to Czenstachau [sic]250 where the situation seems to be less desperate for the time being. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

249 In dem Telegramm informierte Lichtheim das Londoner Büro darüber, dass er im Besitz von Informationen sei, die bestätigten, dass Juden nach der Deportation aus verschiedenen Ländern nach Deutschland und Polen bzw. den Deportationen innerhalb Polens ermordet werden. CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Joseph Linton mit Kopien an Henry Montor, Arthur Lourie und Leo Lauterbach, 26. Septermber 1942. 250 Die Stadt Częstochowa (dt. Tschenstochau / Czenstochau) im Südenwesten Polens wurde nach der Besetzung Polens in das Generalgouvernement eingegliedert. Zwischen 22. September und 8. Oktober 1942 wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung Czenstochaus, rund 39 000 Personen, nach Treblinka deportiert.

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Dokument 75

Dokument 75 Richard Lichtheim an Joseph Linton, Arthur Lourie, Henry Montor, Leo Lauter­ bach Genf, 5. Oktober 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit Bericht über Lettland, 7 Seiten; Bericht mit separater Paginierung; handschriftliche Korrekturen; handschriftliche Archivsignatur unten auf Seite 1 des Anschreibens CZA, L22/3 [Lichtheim übermittelt einen Bericht über die Situation der Juden in Lettland nach dem deutschen Einmarsch. Darin werden zunächst spontane Übergriffe, die Beraubung und Misshandlung der jüdischen Bevölkerung geschildert. Daran schließen sich Beschreibungen der Einführung des Judensterns, der Verpflichtung der Juden zur Zwangsarbeit und von Erschießungen der jüdischen Bevölkerung in der Provinz an. Überdies wird über die Einrichtung und Organisation des Gettos Riga sowie die dortigen Zustände berichtet. Anschließend werden die Massenerschießungen der Gettoinsassen geschildert, wobei auch auf die Komplizenschaft der lettischen Hilfspolizei eingegangen wird.]

RL / DT – A/2-3-4c-4d.

October 5th, 1942

To LINTON, LOURIE, MONTOR and Dr. LAUTERBACH (No. 840) Dear251 I am enclosing a most harrowing report about the situation in Lettland [sic] and the brutal assassination of a large number of Jews in Riga, which took place in December 1941. We have known for a long time from certain messages received here that the persecution of the Jews in the former states of Lettland and Lithuania has been not less terrible than that of the Jews in Poland. The small community of Estland [sic] – about 5000 souls – has had sufficient time to flee to Russia before the Germans arrived,252 while the fate 251 Bei dem Dokument handelt es sich scheinbar um den Durchschlag des Briefs, in den die Namen der jeweiligen Adressaten handschriftlich eingefügt wurden. 252 Im Juni 1941 eroberte die Wehrmacht Estland, das anschließend in das Kommissariat Ostland eingegliedert wurde. Den meisten der 4500 Juden gelang es, vor dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion zu fliehen. Die rund 1000 zurückgebliebenen Juden wurden fast vollständig von den Nationalsozialisten ermordet.

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of the community in Lithuania has apparently been the same as that of the Lettish Jews, who once numbered 100 000. To this figure must be added the number of several thousand German Jews who were deported last autumn to the Ghetto of Riga and of whom no more was heard. It was extremely difficult to obtain reliable reports or confirmation by eyewitnesses of what happened in the Baltic states. There is very little traffic and no correspondence at all between these states and neutral countries. Now, a man has come here who has had the extraordinary luck of escaping from Lettland to Switzerland.253 He is a Jew well acquainted with the affairs and leading personalities of the Jewish community in Lettland. For many months he has been living under a false name in Riga and in a rural district, where he was not regarded as a Jew by the Germans. His report is based on his own observations and on stories which Lettish police officers told him after the terrible events described in the report. We have heard from other sources of similar mass-murders in Poland where thousands of Jews have been put to death in the same way. I am sending you the report in the original German version as it was written down by Dr. Riegner of the Jewish World Congress after a three hours interview with the above-mentioned man from Riga. I must repeat what I have said in previous letters: The Jews in Hitler-­ Europe are doomed; therefore, try all you can to save at leas{t} the still existing communities in the semi-independent states of Bulgaria, Italy, Roumania and Hungary, and in Vichy-France. For Bulgaria it is probably already too late: the expulsions have started and the yellow badge has been introduced. For Roumania it is also zero hour.254 Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE 253 Hier handelt es sich um Gabriel Zivian (1923–2002), einem Medizinstudenten aus Riga. Zivian gelang am 18. Dezember 1941 die Flucht aus dem Getto Riga. Danach arbeitete er mit gefälschten, auf den Namen Gunaars Ciirulis ausgestellten Papieren in Litauen. Im Juni 1942 meldete er sich zum Reichsarbeitsdienst und wurde nach Stettin gesandt, wo er als Krankenpfleger arbeitete. Im September 1942 floh er in die Schweiz und legte dort am 1. Oktober 1942 Zeugnis über die Verbrechen in Lettland ab. Nach Kriegsende emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Riegner, Niemals Verzweifeln, 72. 254 Maschinenschriftliche Einfügung auf dem linken Seitenrand »not to Lauterbach« und Zeichen, dass sich die Anweisung auf den gesamten Absatz bezieht.

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Dokument 75

[|1|]

Bericht über Lettland255

Von einem Augenzeugen256 erhalten wir den folgenden Bericht über die Ausrottung der lettischen Juden: Als die deutschen Truppen im Juni 1941 in Lettland einmarschierten, gab es im Gebiet dieses Staates ungefähr 100 000 Juden, wovon etwa 32 000 in Riga [lebten]. Die Russen hatten, bevor sie das Land verliessen, am 16. Juni 1941, etwa 3–4000 Juden ins Innere Russland verschickt, wobei es sich um Personen handelte, die vom russischen Standpunkt aus als politisch nicht zuverlässig angesehen wurden.257 Nur ein verschwindender Teil der Juden konnte sich bei dem Einmarsch der Deutschen aus Lettland retten. Während die estnischen Juden durch die Länge der militärischen Operationen Zeit hatten, in ihrer Gesamtheit (ca. 5000) zu fliehen, ging der Vormarsch in Lettland so schnell vonstatten, dass nur wenige, die sich Autos beschaffen konnten, im Stande waren, sich zu retten, wobei auch viele von ihnen in das Feuer der Maschinengewehre gerieten und ihr Bestimmungsziel nicht erreichten. Die Situation der Juden beim Einmarsch der Deutschen war diejenige der gesamten Bevölkerung, d. h. ihre Geschäfte waren nationalisiert, jüdische Geschäftseigentümer bestanden nicht, Juden waren höchstens Geschäftsführer in den ihnen früher zu eigen gewesenen Betrieben. Der Einmarsch der Deutschen in Riga am 1. Juli versetzte die Juden in eine grosse Panikstimmung. Zunächst wurden wahllos Juden aufgegriffen und zur Zwangsarbeit verwandt. Jedwede Arbeit, insbesondere Aufräumungsarbeiten wurden ihnen zugeteilt. 1–2000 Menschen wurden gleichzeitig verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert. Später wurde bekannt, dass sie am 20. Juli in einem Walde erschossen worden sind.258

255 Der Bericht wurde mit geringfügigen Abweichungen und ohne die Veränderungen auf der Korrekturseite bereits veröffentlicht in: VEJ, Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, bearb.  v. Bert Hoppe / Hildrun Glass, München 2011, 666–673. 256 Gabriel Zivian. 257 Gemäß den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Pakts wurde Lettland zusammen mit Estland und Litauen im August 1940 annektiert und als Sowjetrepublik in die Sowjetunion eingegliedert. Am 14. Juni 1941 wurden 19 000 Letten, darunter 5 000 Juden, nach Sibirien deportiert. 258 Der östlich von Riga gelegene Wald von Biķernieki diente den Nationalsozialisten als Erschießungsstätte. Bis Mitte Juli 1941 ermordeten dort lettische Mordkommandos unter dem lettischen SS-Offizier Viktor Arājs (1910–1998) in deutschem Auftrag

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Am 3.  Juli begannen nachts wilde Aktionen der lettischen Polizei (der sog.  Hilfspolizei), die in die Wohnungen eindrang und alles mitnahm was ihr gefiel. Sie forderte gleichzeitig die Juden auf, sich am nächsten Morgen bei der Präfektur zur Arbeit zu melden, sie sollten dies freiwillig tun, sonst würde es ihnen noch schlimmer ergehen. Diese Aktion stellte in Wirklichkeit eine regelrechte Raubkampagne der lettischen Polizei dar, die ohne Auftrag und ohne Befehl eigenmächtig vorging. Am nächsten Tage meldete sich ein grosser Teil der Juden freiwillig zur Arbeit. Ein wahres Bild des Grauens bot sich, als man über 60 Jahre alte Juden dabei beschäftigt sah, Autos zu waschen und andere mühevolle Arbeit zu verrichten, wobei sie dauernd von den umstehenden Aufpassern beschimpft und misshandelt wurden. Die meisten wurden bei den Aufräumungsarbeiten beschäftigt, hatten 12 Stunden Arbeit zu leisten und bekamen dabei nichts zu essen. Diejenigen, die nicht von diesen Massnahmen unmittelbar betroffen wurden, hielten sich in ihren Häusern versteckt. An eine Aufnahme der Arbeit war nicht zu denken, eigene Geschäfte besass man nicht mehr und in die Geschäfte zu gehen, in denen man unter der russischen Okkupation angestellt war, traute man sich nicht. Gleichzeitig wurde eine Verordnung veröffentlicht, wodurch es Juden untersagt war, sich vor Läden in Reihen anzustellen; dadurch wollte man verhindern, dass die Juden |2| Lebensmittel einkaufen konnten. In der Tat war die Lebensmittelknappheit eine derartige, dass vor allen Geschäften lange Schlangen von Menschen standen, um ein wenig von den verfügbaren Waren zu erhalten. Wo man Juden sah, wurden sie von der lettischen Bevölkerung misshandelt, vielfach wurde mit Steinen nach ihnen geworfen. Im Juli 1941 waren die meisten jüdischen Männer bereits bei den Zwangsarbeiten beschäftigt, die Frauen wurden zu den Arbeiten zunächst nicht herangezogen, die Kinder wurden in Ruhe gelassen. Ende Juli mussten alle Juden sich registrieren lassen.259 Nach 2 Tagen wurde eine Verordnung veröffentlicht, wonach alle Juden den Judenstern auf der linken Brustseite zu tragen hätten. Zwei Tage später wiederum verordnete

fast täglich zuvor inhaftierte Juden. Bis Herbst 1944 wurden hier zwischen 35 000 bis 46 500 Menschen von der Sicherheitspolizei und lettischen Hilskräften umgebracht. Andrej Angrick / Peter Klein, Die »Endlösung« in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006. 259 Am 23.  Juli 1941 gab der Feldkommandant Oberst Ullersberger (1894–1978) bekannt, dass sich sämtliche Juden zur Erfassung am 25. und 26. Juli an vorgegebenen Sammelstellen einfinden mussten. BArch, R91/164, Bekanntmachung des Feldkommandanten vom 23. Juli 1941.

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eine neue Anordnung, dass der Stern nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite zu tragen sei. Da die Juden weder ein Radio besitzen noch eine Zeitung kaufen durften, hatte kein Jude von dieser Aenderung Kenntnis. Die Folge davon war, dass viele Juden, die in Unkenntnis der neuen Anordnung diese nicht beachtet hatten, auf den Strassen verhaftet wurden. Im August wurden dann auch die Frauen zu den Zwangsarbeiten herangezogen. Gleichzeitig begann eine Aktion seitens der Letten, die den Zweck hatte, alle Wohnungen zu beschlagnahmen; die Juden mussten ihre Wohnstätten räumen und wurden auf die Präfektur geführt. Ein Teil kam bei Bekannten unter, ein Teil erhielt von einem ad hoc gegründeten Wohnungsamt Wohnungen im Gebiet der Moskauer Vorstadt zugewiesen. Kurze Zeit darauf wurde eine neue Verordnung verkündet, wonach die Juden den Judenstern nicht nur vorne sondern auch hinten auf dem Rücken zu tragen hätten, damit man sie von allen Seiten leicht erkenne. Es wurde dann Juden ferner verboten, auf den Trottoirs der Strassen zu gehen, sie mussten vielmehr auf dem Fahrdamm gehen. Während der Monate Juli und August trugen sich furchtbare Szenen in der gesamten lettischen Provinz zu. In den kleinen Dörfern wurden Einzelaktionen gegen alle Juden bereits im Juli durchgeführt. Juden mussten Gräben ausheben und wurden nach einigen Tagen mit ihren Frauen und ihren Kindern erschossen. In den grösseren Dörfern wurden die gleichen Aktionen mit derselben Brutalität im Laufe des Monats August durchgeführt. So wurde innerhalb zweier Monate die gesamte lettische Provinz von Juden „gesäubert“. Gegen Ende August – Anfang September tauchte zum ersten Male das Projekt der Einrichtung eines Ghettos in Riga in der Moskauer Vorstadt von Riga auf.260 Dieses Gebiet war hauptsachlich von Russen bewohnt, die jedoch aus ihren Wohnungen nicht freiwillig herausgingen. Umso schwerer war die Durchführung dieses Projektes. Es war vorgesehen, dass 9000 m2 Wohnungsfläche für die gesamte jüdische Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird. Ein jüdisches Komitee wurde konstituiert, das mit der Einrichtung des Ghettos betraut wurde und das in der Folge die Funktionen eines Judenrates hatte.261

260 Bereits am 21. Juli 1941 hatten Vertreter der Militärverwaltung und der SS die Errichtung eines Gettos in der Moskauer Vorstadt, einem der ärmsten Stadtviertel, in dem seit der Jahrhundertwende sozial schwache Letten und Juden sowie jüdische Zuwanderer wohnten, beschlossen. Nach der Abriegelung des Gettos im Oktober 1941 lebten dort 29 602 Juden. Angrick / Klein, Die »Endlösung« in Riga, 100–127. 261 Ende Juli 1941 erfolgte auf Drängen der Militärverwaltung und der SS auch die Gründung eines Judenrats. Ebd., 101.

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Dieses Komitee bestand aus den Herren Dr. Blumenfeld,262 Advokat Minz,263 Minsker,264 Blumenau,265 Eliaschoff,266 Kaufer267 und einem deutschen Juden,268 der jedoch bald verhaftet wurde und verschwand. Das Komitee setzte zunächst fest, dass pro Person 5 m2 Wohnfläche zugeteilt werden sollte. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Wohnungen zuzuteilen und bereitzustellen. |3|  Mitte September wurde um das Ghetto ein Zaun gebaut. Gleichzeitig wurde den Russen der Moskauer Vorstadt, die im Ghettogebiet wohnten, befohlen, sofort aus dem Ghetto herauszuziehen und es wurden ihnen andere Wohnungen ausserhalb des Ghettos zugewiesen. Ende September begann man damit, systematisch Wohnungsrayon nach Wohnungsrayon in Riga judenrein zu machen und die Juden nach dem Ghetto auszusiedeln. Um dieselbe Zeit wurde eine Verordnung erlassen, die die Strassen bezeichnete, in denen Juden gehen durften und diejenigen, zu denen sie keinen Zutritt hatten. Zur Arbeitsstätte mussten sie den kürzesten Weg nehmen, auch wenn sie dabei durch sonst nicht zugängliche Strassen gehen mussten. Auf der Strasse durften sich Juden nur bis 8 Uhr abends zeigen. Die Aussiedlungsaktion der Juden aus der Stadt in das Ghetto füllte die ersten Tage des Monats Oktober 1941 aus. Man erschien in den jüdischen Wohnungen und erklärte, dass die Juden in 2 Stunden die Wohnung zu verlassen hätten. Die ausführenden Beamten erklärten willkürlich: Das dürft ihr mitnehmen, das nicht, und sie zerstörten bei diesen Besuchen viel wertvolles Mobiliar aus einfachem Mutwillen. Im Allgemeinen wurde gestattet, dass ein Stuhl pro Person, für je 2 Personen ein Bett und für jede Familie ein Tisch und ein Schrank mitgenommen wurde. Darauf wurden die Wohnungen versiegelt und in kleinen Fuhren begaben sich die Juden in das Ghetto. Ein wahrer Auszug aus Aegypten ergoss sich aus den Strassen Rigas in den Ghettobezirk. Bei diesen Möbeltransporten wurden oft die ausgewiesenen Juden auf den 262 Rudolf Blumenfeld (1892–1942) war der Sanitätsarzt von Riga. Er starb 1942 im KZ Kaiserwald bei Riga. 263 Hier handelt es sich vermutlich um den Juristen Moritz Mintz (1903–1941). 264 Grischa Minsker war ein jüdischer Rechtsanwalt. 265 M. Blumenau war Generalsekretär des lettischen jüdischen Freiheitsverbands. 266 Michail Eljaschoff (1900–1941) war Jurist und Journalist. 1930 war er an der Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuchs für Lettland beteiligt. Zudem engagierte er sich für zionistische Anliegen und war Vorsitzender des lettischen jüdischen Freiheitsverbands. Er wurde zum Vorsitzenden des Judenrats gewählt. Am 8. Dezember 1941 wurden Eljaschoff, seine Frau und sein Sohn erschossen. 267 Esra Kaufer war Direktor einer Textilfabrik. 268 Hier handelte es sich um einen ehemaligen Staatsrat aus Wien mit Nachnamen Schlitter, der sich in Riga niedergelassen hatte.

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Dokument 75

Strassen von Deutschen angehalten, die sich willkürlich von den Fuhren herunternahmen, was ihnen gerade passte. Im Ghetto angekommen war bei weitem nicht genug Platz, um alle Juden sofort unterzubringen. Die schrecklichsten Szenen spielten sich im Komitee ab. Ein grosser Teil der Ankommenden musste lange Zeit auf Höfen unter freiem Himmel kampieren. Zwischen dem 15. und 20. Oktober waren fast alle Juden ins Ghetto ausgesiedelt. Eine Verordnung, die um diese Zeit erlassen wurde, sah vor, dass die Aussiedlung bis zum 22. Oktober beendet sein müsse. Am 25. Oktober wurde das Ghetto geschlossen und von der Aussenwelt separiert. Die innere Verwaltung des Ghettos stand unter der Leitung des oben genannten Komitees. Eine jüdische Ghetto-Polizei wurde gegründet, die mit Gummiknüppeln ausgerüstet wurde. Angesichts der grossen Wohnungsnot setzte das Komitee die Wohnfläche pro Person von 5 m2 auf 3 m2 herab. Im Ghetto selbst waren Lebensmittelgeschäfte entstanden, insgesamt 17 Läden, die die Zuteilung an Juden vornahmen. Die Rationen, die die Juden damals erhielten, waren 120 g  Butter pro Woche, 300 g  Brot täglich, 175 g  Fleisch wöchentlich, usw. Die Rationen, die auf Karten abgegeben wurden, wurden jedoch bald sehr stark herabgesetzt, sodass Brot von 300 auf 150, später auf 100 g herabsank. Am Tage nach der Schliessung des Ghettos kamen morgens die Deutschen vor das Ghetto, um die Juden zur Arbeit abzuholen. Alle Juden mussten sich vor dem inneren Tor des Ghettos versammeln, während die Deutschen auf die  [sic] Aussenseite des Tores sie erwarteten. Da etwa 15 000 Juden zur Arbeit gehen mussten, war ein unbeschreibliches |4| Durcheinander. Niemand fand seine Stelle, bei der er arbeiten musste, und erst allmählich wurde eine Organisation geschaffen, wonach sie{ch} die Juden, die in verschiedenen Betrieben und für verschiedene SS- und Militärdienste arbeiteten, an bestimmten mit Schildern bezeichneten Stellen aufstellen mussten. Für jede Arbeitsstätte wurde ein sogenannter „Judenkönig“ bestimmt, der die Ordnung bei den Juden aufrecht zu erhalten hatte. Gleichzeitig wurde ein jüdisches Arbeitsamt organisiert, das alle Juden mit Arbeitszetteln zum Verlassen des Ghettos versah. Nur wenige (ca. 100) durften als Einzelgänger das Ghetto verlassen, die anderen mussten in den kollektiven Zügen morgens aus dem Ghetto hinaus- und abends zurückgehen. An Arbeit selbst wurde ungefähr alles geleistet, was nur zu leisten ist: Schwerarbeit, Leichtarbeit, mechanische und elektrotechnische Arbeiten, Aufräumungsarbeiten, Stiefel putzen, Bedienung der deutschen Truppen und SS, Reinigung von Häusern (sogenannte Wanzen-Kolonnen), kurz alles überhaupt nur als Arbeit in Frage kommende. Ein Lohn für die Arbeit wurde nicht gewährt. An und für sich hatten die deutschen Stellen einen Beitrag an die Stadtverwaltung für diese Arbeiten zu zahlen. Viele deutsche Stellen haben dies auch getan. Den Juden

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ist davon nichts zugute gekommen. Manche deutsche Stellen gaben auch den jüdischen Arbeitern ein Mittagessen, andere wiederum nicht. Wovon die Juden im Ghetto leben sollten, ist unerklärlich. Verdienen konnten sie nichts, sie mussten alles verkaufen, was sie noch gerettet hatten, um sich nur halbwegs ernähren zu können. Der Tauschhandel blühte. Viele, die am Morgen zur Arbeit aus dem Ghetto herausgeführt wurden, versuchten Uhren, Handschuhe, Strümpfe gegen Lebensmittel einzutauschen. Am Abend, beim Eintritt ins Ghetto, wurde ihnen jedoch alles abgenommen und sie wurden dafür auch noch geschlagen. Es wurde verordnet, dass die deutschen Dienststellen den jüdischen Arbeitern zwar zu essen geben dürften, dass aber nichts ins Ghetto hereingebracht werden dürfte.269 So blieb die Situation stationär bis zum 28. November 1941. An diesem Tage wurde ein Dekret erlassen, wonach ein Bezirk des Ghettos von seinen Bewohnern frei gemacht werden sollte.270 Alle Juden, die bisher in diesem Bezirk des Ghettos gewohnt hatten, wurden in den anderen Teil des Ghettos überführt. Der auf diese Weise geleerte Teil des Ghettos wurde wiederum abgezäunt und als „kleines Ghetto“ installiert. Alle Männer, die in deutschen Dienststellen ausserhalb des Ghettos arbeiteten, mussten in dieses neue Ghetto übersiedeln. Die Frauen und Familien dieser Männer blieben im alten „grossen“, aber verkleinerten Ghetto. Auf diese Weise wurden etwa 4000 Menschen in das kleine Ghetto eingesiedelt. Die Verhältnisse in diesem neu geschaffenen kleinen Ghetto waren fürchterlich. Es war noch weniger Platz als im alten Ghetto. In einem kleinen Zimmer mussten 16 Menschen wohnen, 5 Menschen schliefen zusammen in einem Bett. Am 29.  November wurde eine Verordnung erlassen, dass alle arbeits­ fähigen Männer von 18 bis 60 Jahren sich am 30. November bei dem kleinen Ghetto aufzustellen haben und dass die übrige Bevölkerung in Lager verschickt werde. Jede Person hatte das |5| Recht 20 kg Gepäck mitzunehmen. Am 30. November wurden alle Kranken und über 60 Jahre alten Menschen

269 Nachträglich eingefügtes handschriftliches Zeichen auf der linken Marginalie, dass ab dem nächsten Absatz eine Korrekturseite gilt, die am 27. Oktober 1942 nachgereicht wurde (siehe Dokument 76). 270 Um Platz für aus Deutschland nach Riga deportierte deutsche Juden zu schaffen, wurde das Getto geräumt und die lettischen Juden ermordet. Zur Unterbringung der von der Ermordung zunächst ausgenommenen arbeitsfähigen lettischen Juden wurde ein Teil des Geländes vom restlichen Getto abgetrennt und dort das sogenannte kleine Getto errichtet. Am 29. Novemeber 1941 mussten alle arbeitsfähigen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren in das neugeschaffene kleine Getto umziehen. Angrick / Klein, Die »Endlösung« in Riga, 147 f.

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nach Hause, d. h. in das „grosse“ Ghetto geschickt und auch alle Aerzte wurden zur Behandlung in den Kliniken im Ghetto entlassen. In der Nacht vom 30. November bis 1. Dezember wurden 8000 Personen, Männer, Frauen und Kinder aus dem grossen Ghetto versammelt. Jeder hatte 20 kg Gepäck bei sich. Die Menschen blieben die ganze Nacht über im Freien stehen und wurden am 1. Dezember unter grosser Bewachung der lettischen Hilfspolizei unter deutscher Leitung fortgeführt. Eine besondere Grausamkeit bestand darin, dass man die Menschen vor dem Zaun, der zum kleinen Ghetto führte, vorbeziehen liess, sodass der Transport vor den Augen der angehörigen Männer vor sich ging. Die Behandlung der Menschen war brutal, wer nicht Schritt halten konnnte  [sic] wurde kurzer Hand erschossen. Die Menschen wurden, wie man später erfuhr, in 2 Wälder in der Nähe von Riga geführt, den Bickernschen Wald und den Wald bei Zarnikau, wo sie sämtlich kurzerhand erschossen wurden.271 Nach dieser Massenexekution verblieben im grossen Ghetto noch ca. 16 000 Personen.272 Die nächste Woche war etwas ruhiger. Nur 800 Frauen wurden eines Tages fortgeführt, wovon 400 ins Gefängnis kamen, 400 andere später wieder in das Ghetto zurückkamen. Am 7. Dezember wurde angeordnet, dass alle Frauen um 7 Uhr abends zuhause sein müssen. In der Nacht vom 7.–8. Dezember wurden alle Personen, die noch im grossen Ghetto waren, d. h. ca. 16 000, auf die gleiche Weise fortgeführt wie eine Woche zuvor die 8000.273 Wie man später aus einem Bericht des lettischen Ghetto-Kommandanten erfuhr, der diese Aeusserungen in etwas angetrunkenem Zustand von sich gab, wurden die 16 000 Menschen in der Nacht vom 7.–8. Dezember in die Wälder geführt. Russische Kriegsgefangene mussten 3–4 Meter tiefe Gräben ausheben, dann wurden Männer und Frauen gesondert aufgestellt. Alle Wertgegenstände mussten auf einen Haufen geworfen werden. Alle musstenn [sic] sich ausziehen und zwar die Männer splitternackt, die Frauen durften ein Hemd anbehalten, und sämtliche Kleider mussten auf einen zweiten Haufen

271 Die Juden wurden nicht in den hier genannten Wäldern erschossen, sondern im Wald von Rumbula bei Riga. Rund 14 000 Menschen fielen dieser ersten Liquidation zum Opfer. Der Höhere SS- und Polizeiführer Ostland und Russland-Nord, Friedrich ­Jeckeln (1895–1946), führte das Kommando. Angehörige von Jeckelns Stabskompanie und lettische Hilfspolizisten unter dem Kommando von Viktor Arājs sicherten die Mordstätte. Ebd., 154–166. 272 Ein nachträglich eingefügtes handschriftliches Zeichen auf der rechten Marginalie signalisiert das Ende des von der Korrekturseite betroffenen Abschnitts. 273 Bei der zweiten Massenerschießung wurden ca. 12 500 Juden im Wald von Rumbula ermordet. Angrick / Klein, Die »Endlösung« in Riga, 171–180.

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geworfen werden. Dann wurde der Befehl erteilt, dass sie{ch} die Männer in die Gräben zu legen hätten. Hierauf wurden von 5 oder 6 deutschen Maschinengewehrschützen die in den Gräben liegenden Menschen durch Maschinengewehrfeuer erschossen. Die nächste Gruppe musste sich auf die noch warmen Leichen legen, um erschossen zu werden. Die Frauen und Kinder wurden auf dieselbe Weise ermordet. So kam die gesamte restliche Bevölkerung des grossen Ghettos von Riga in der Nacht vom 7.–8. Dezember um. Dieser von dem Ghetto-Kommandanten stammende Bericht wurde später von einer Reihe von Mitgliedern der lettischen Polizei, die dem Schauspiel zugesehen hatten, bestätigt. In Riga selbst konnte man sich insofern von der Wahrheit dieses Berichtes überzeugen, als kurz darauf die Kleider und Wäsche der ermordeten Juden öffentlich durch die Strassen Rigas getragen wurden, wobei man an den Kleidern die aufgenähten Judensterne sehen konnte. Diese Kleider wurden dann nach Deutschland geschickt. Die Aktion |6| geschah unter der Leitung der Deutschen. Es waren deutsche Schützen, die das Mordhandwerk verrichteten. Die Aktion konnte jedoch nur unter starker Beteiligung von Hunderten von lettischen Polizisten vor sich gehen, die die Bewachung und Absperrung zu besorgen hatten. Die meisten der an dieser Aktion beteiligten lettischen Hilfspolizisten wurden später an die russische Front geschickt, damit ihr Zeugnis verwischt werde. Zwei der an der Aktion beteiligten Letten sollen wahnsinnig geworden sein. Am 9. Dezember hatten im „kleinen Ghetto“ sich alle noch verbliebenen Juden zu versammeln, um zur Arbeit geführt zu werden. Die Aerzte und die Mitglieder des jüdischen Komitees wurden an anderer Stelle versammelt und in einem Autobus weggeführt. Zwei Aerzte, Dr. Kretzer274 und Dr. Guttmann,275 haben Gift genommen. Dr. Guttmann ist daran gestorben. Plötzlich wurde dann wieder die Kampagne abgeblasen und die Komiteemitglieder und Aerzte wurden wieder zurückgeführt. Dr. Kretzer konnte auf diese Weise gerettet werden. Einige Zeit darauf wurden jedoch mehrere Mitglieder des Komitees, unter anderen Blumenau und Eliaschoff, ebenfalls erschossen. Dr. Blumenfeld hatte sich vom Komitee zurückgezogen und seine ärztliche Tätigkeit in der Klinik wieder aufgenommen. So verblieben Mitte Dezember noch etwa 4000 Juden in Riga. Hinzu kamen ein paar hundert Frauen, die Anfang Dezember verhaftet und ins Gefängnis gesteckt und eines Tages wieder zurückgeführt wurden. 274 Viktor (Vitja) Kretzer (1888–1944) war ein in Moskau geborener Arzt. Er arbeitete vor 1941 in einem Krankenhaus in Riga, wurde 1943 in das KZ Kaiserwald deportiert und von dort im August 1944 in das KZ Stutthoff verlegt, wo er starb. 275 Guttmann (1891–1941) war ein Augenarzt.

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Dokument 75

Im Dezember war das alte Ghetto leer und nun trafen aus Deutschland die deportierten Juden aus Berlin, Düsseldorg{f}, Köln,  usw. ein.276 Einige Züge erreichten Riga mit Waggons, in denen sämtliche Deportierten erfroren waren. Die Menschen kamen völlig mittellos an, ohne Gepäck. Die meisten hatten einen kleinen Beutel mit ein paar Habseligkeiten in der Hand. Ihre Behandlung war noch schlechter als die der Rigaer Juden. So bekamen sie z. B. nur 50 g Brot täglich, während die Rigaer Juden 100 g erhalten hatten. Das Ghetto war jedoch für viele nur eine Zwischenstation. Teils blieben die Menschen im Ghetto, teils wurden sie in Lagern untergebracht, wo sie teils erfroren, teils verhungert sind. Die Baracken waren nicht geheizt. Ueber die Zeit von Ende Dezember 1941 bis Juni 1942 kann unser Berichterstatter nur wenig Auskünfte geben, da er sich um diese Zeit auf dem Lande versteckt gehalten hat. Im Juni 1942 war er erneut in Riga und berichtet darüber. Von den deutschen Juden war keine Spur mehr zu sehen. Sie scheinen alle umgekommen zu sein. Die für Arbeitszwecke verwendeten Rigaer Juden des „kleinen Ghettos“ schienen zu diesem Zeitpunkt noch dort zu sein. Er hat verschiedene Bekannte, die den Judenstern trugen, auf dem Wege zur Arbeit in Rigaer ­Strassen gesehen. Die Not scheint grauenhaft zu sein, die Menschen hungern, der Typhus grassiert, es fehlt an Serum, Medikamente waren in keiner Weise vorhanden, sodass die Aerzte, soweit sie noch da waren, völlig machtlos waren. |7|  Ueber die Mischehen berichtet unser Berichterstatter, dass die Personen, die in Mischehe lebten, anfangs in der Stadt Riga selbst bleiben durften. Später wurde die folgende Regelung getroffen: waren die Männer Juden und die Frauen nicht, so wurde die Ehe geschieden und die Frauen mussten eine Erklärung unterschreiben, dass sie dem Führer dankten, dass er sie von ihrem jüdischen Manne befreit habe, die Männer wurden ins Ghetto gesteckt. Waren die Frauen Juden und die Männer nicht, so wurden soweit es sich um ältere Frauen handelte, diese bei ihren Männern gelassen; handelte es sich um jüngere Frauen, so wurden sie sterilisiert. Persönlich befragt nach dem Schicksal von Prof. Dubnow, erklärt unser Berichterstatter, dass er ihn selbst im grossen Ghetto gesehen habe, im klei-

276 Der erste Deporatationszug aus Berlin mit rund 1000 Menschen erreichte Šķirotava bei Riga bereits am 30. November 1941. Sie wurden noch am selben Tag gemeinsam mit den lettischen Juden aus dem Rigaer Getto erschossen. Insgesamt wurden bis Winter 1942 rund 24 000 Juden nach Riga deportiert. Nur drei bis vier Prozent von ihnen überlebten.

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nen sei er nicht mehr gewesen. Er müsse also auch das Schicksal der anderen erlitten haben.277 Von der Situation in den übrigen baltischen Staaten konnte der Berichterstatter nicht aus eigenem Wissen berichten. Er habe jedoch gehört, dass in Litauen die Juden, deren Zahl 150 000 war, dasselbe Schicksal betroffen habe. Ein kleiner Schub von litauischen Juden sei einmal in das Rigaer Ghetto gekommen und habe das gleiche Schicksal erlitten wie die einheimischen Juden. Die 5000 estnischen Juden hatten, wie oben bereits erwähnt, Zeit gehabt sich nach Russland zu flüchten und sind dadurch dem Schicksal der Ausrottung entgangen. ***

Dokument 76 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 27. Oktober 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit Korrekturseite zum Bericht über Lettland (Dokument 75), 1 Seite; handschriftliche Anmerkungen; gedruckte Kopfzeile auf der Korrekturseite (»The Zionist Organisation / The Jewish Agency for Palestine, Geneva Office«); Buchstaben teilweise verwaschen CZA, L22/3

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27. Oktober, 1942

277 Simon Dubnow (1860–1941) war ein jüdischer Historiker, Publizist und Politiker. Geboren im weißrussischen Mstislawl, war er ab 1880 in St. Petersburg, Odessa und Wilna tätig. 1906 gründete er gemeinsam mit Israel Jefroykin (1884–1954) die Yidishe Folkspartey (Jüdische Volkspartei), die Dubnows Konzept des Diasporanationalismus vertrat. Von 1922 bis 1933 war er in Berlin tätig, wo seine Hauptwerke zur jüdischen Geschichte entstanden, u. a. seine zehnbändige Weltgeschichte des jüdischen Volkes. 1933 flüchtete er vor den Nationalsozialisten nach Riga. Dort überlebte er zunächst den ersten Teil der Räumung des Gettos Ende November, wurde aber am 8.  oder 9. Dezember im Wald von Rumbula ermordet. Nicolas Berg / Anke Hilbrenner, Der Tod Simon Dubnows in Riga 1941. Quellen, Zeugnisse, Erinnerungen, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), 457–471.

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Dokument 76

Brief Nr. 867 (via Istanbul) Lieber Dr. Lauterbach, ich beziehe mich auf meinen Brief Nr. 840 vom 5. Oktober, dem ein laengerer Bericht ueber die Judenverfolgungen in Lettland beigefuegt war. Wie ich Ihnen schrieb ist der Bericht auf Grund einer Aussage des betreffenden Zeugen von Dr. Riegner niedergeschrieben worden. Bei naeherer Pruefung des Berichts (der inzwischen auch von uns ins Englische uebersetzt, vor dem amerikanischen Konsul von dem betreffenden Zeugen beschworen und mit dem sonstigen Material nach Amerika geleitet wurde)278 ergab sich, dass die Darstellung der Ereignisse ab Seite 4 bis Seite 5, 2. Absatz, nicht vollkommen klar war. Wir haben deshalb seinerzeit vor weiterer Verwendung des Berichts den betreffenden Zeugen nochmals vernommen, wobei sich auf Grund seiner Aussagen ergab, dass der Text etwas geaendert werden musste. Die betreffende Stelle im Bericht muss so lauten wie Sie dies aus der Beilage ersehen. Beste Gruesse Ihr R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

278 Eine englische Übersetzung des Berichts war Teil einer Dokumentensammlung, die Riegner und Lichtheim am 22.  Oktober 1942 dem amerikanischen Botschafter in Bern, Leland Harrison (1883–1951), übergaben. Neben der berichtigten Version des Berichts Zivians beinhaltete die Sammlung auch eine statistische Erhebung zur Situation der Juden in den einzelnen europäischen Ländern (Dokument 79), einen Bericht über einen vermeintlichen Vernichtungsbefehl Hitlers (abgedruckt in deutscher Übersetzung in: VEJ, Bd. 6, 497–499), Instruktionen des franzö­sischen Innenministeriums, zwei Berichte aus Warschau und einen Augenzeugen­bericht eines polnischen Juden aus Brüssel. Bevor die Botschaft in Bern das Material an das amerikanische Außenministerium weiterleitete, holte sie von den Augenzeugen Bestätigungen über die Richtigkeit der Angaben ein. In einer zusätzlichen Erklärung gab Zivian am 29. Oktober 1942 gegegnüber dem amerikanischen Konsul in Genf, Paul C. Squire, Auskunft über seine Quellen. Der englische Bericht und die Erklärung Zivians liegen in den American Jewish Archives, Cincinnati, OH, World Jewish Congress Records, MS-361/ Box H 329/ File 9, Switzerland, Warnings of Extermination of Jews, Baltic States, Statement of Ziwian, Gabriel, 1942.

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|2|  {siehe Seite 4 vorletzter Abs. bis Seite 5, 2. Abs.} So blieb die Situation stationaer bis zum 28.  November 1941. An diesem Tage wurde ein Dekret erlassen, wonach ein Bezirk des Ghettos von seinen Bewohnern freigemacht werden sollte. Alle Juden, die bisher in diesem Bezirk des Ghettos gewohnt hatten, sollten in den anderen Teil ueberfuehrt werden. Der auf diese Weise freigemachte Teil des Ghettos wurde wiederum ab­gesperrt und als „kleines Ghetto“ bezeichnet. Die Absicht dieser Neuordnung war, dass alle Maenner, die fuer die deutschen Dienststellen ausserhalb des Ghettos arbeiteten, kuenftig in diesem neuerrichteten kleinen Ghetto wohnen sollten. Die Frauen und Familien dieser Maenner sollten in dem alten sogenannten grossen Ghetto bleiben, das natuerlich dadurch verkleinert war. Am 29. November wurde eine ergaenzende Verordnung erlassen, wonach alle arbeitsfaehigen Maenner im Alter von 18 bis 60 Jahren sich am 30. November in einer Strasse bei dem neuerrichteten kleinen Ghetto aufzustellen hatten, waehrend die uebrige Bevoelkerung in Lager geschickt werden sollte. Jede Person sollte die Erlaubnis haben 20 kg Gepaeck mitzunehmen. Am 30. November fand die angekuendigte Auslese unter der maennlichen Bevoelkerung statt. Alle ueber 60 und alle Kranken und Schwachen wurden nach Hause entlassen, d. h. in das grosse Ghetto entlassen und ebenso wurden alle Aerzte nach Hause gesandt. Das Ergebnis dieser Auslese war, dass vom 30.  November an etwa 4000 Maenner in dem kleinen Ghetto lebten. Die Lebensbedingungen im kleinen Ghetto waren fuerchterlich. Es war noch weniger Platz als im frueheren Ghetto. In einem kleinen Zimmer wohnten 16 Personen, 5 Menschen schliefen in einem Bett. In der Nacht des 30.  November wurden 8000 Personen, die in einem Teil des grossen Ghettos wohnten, versammelt. Sie hatten ihr Gepaeck von je 20  kg bei sich. Sie standen dort waehrend der ganzen Nacht ohne Obdacht [sic] und in den fruehen Morgenstunden des 1. Dezember wurden sie durch lettische Hilfspolizei unter deutscher Aufsicht fortgeführt. Sie mussten an dem Zaun voruebergehen, welcher das grosse Ghetto von dem kleinen Ghetto trennte, so dass die Maenner im kleinen Ghetto sehen konnten was vor sich ging. Waehrend des Marsches wurde die Gruppe von 8000 Menschen mit grosser Brutalitaet behandelt, diejenigen, die nicht Schritt halten konnten, wurden erschossen. Die Gruppe von 8000 Menschen wurde in die Waelder gefuehrt, in den sogenannten Bickernschen Wald und den Wald bei Zarnikau und dort wurden alle 8000 erschossen. Nach dieser Massen-Exekution blieben nur noch 16 000 Juden in dem alten Ghetto.

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Dokument 77

{Mit Brief 867 am 27. Oktober versandt; auch Lt.279, Lour.280, Mtr.281}

Dokument 77 Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum282 Genf, 8. Oktober 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; handschriftliche Einfügungen; handschriftliche Archivsignatur oben und unten auf Seite 1 (»L22/3«) CZA, L22/3 [Angesichts von Zweifeln in der Exekutive der Jewish Agency über Lichtheims Berichte über den Massenmord an Juden im besetzten Polen insistiert dieser auf der Glaubwürdigkeit seiner Informationen. Er erläutert, dass ihn weiterhin Nachrichten über Deportationen und Massenerschießungen durch chiffrierte Botschaften erreichen und führt weitere Belege und Indizien an.] ¦copy sent for information to LINTON, LOURIE & MONTOR¦ RL / DT – A/1-3-2-4e-4d.

October 8th, 1942

Organisation Department Zionist Executive, P.O.B. 92 – Jerusalem Letter No. 845 (via Istanbul) 279 Linton. 280 Lourie. 281 Montor. 282 Yitzhak Grünbaum (1879–1970) war ein zionistischer Politiker aus Polen, der in der Zwischenkriegszeit als Mitglied des Sejm und als Vizepräsident des Europäischen Nationalitätenkongresses gewirkt hatte. 1933 siedelte er nach Palästina über und leitete von 1935 bis 1948 die Arbeitsabteilung der Exekutive der Jewish Agency. Er gehörte während des Zweiten Weltkriegs neben Eliyahu Dobkin (1898–1976), Haim Moshe Shapira (1902–1970) und Emil Schmorak (1886–1953) zum Committee of Four for Polish Affairs, aus dem zwischen November 1942 und März 1943 unter der Leitung Grünbaums das Jewish Agency Rescue Committee (Wa’ad ha-Haẓala shel ha-Sokhnut ha-Yehudit) hervorging. Nach der Gründung Israels wurde er zum ersten Innenminister des neuen Staats ernannt.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Dear Mr. Grünbaum, I received your cable of October 6th: “shocked your latest reports regarding poland283 which despite all difficult believe stop havent yet published do everything possible verify cable” to which I replied today as follows: “yours sixth october report fifteenth august confirmed by two quite different sources stop verification extremely difficult no eyewitnesses available for obvious reasons also number unknown therefore dont publish writing.” I can easily understand that you are unwilling to believe the report in question. You may have seen that the report is dated August 15th, while my covering letter to Dr. Lauterbach is only dated August 30th. As already mentioned in that covering letter, I have had myself some doubts as to the advisability of forwarding this report. But in the end, I decided to let you know about it and this for the following reasons: 1.) In my covering letter I have clearly stated the source from which the report has come, which means that I leave it to your judgment if and to what extent you will regard the report as trustworthy. 2.) The facts described in the report have been confirmed by somebody else who has nothing to do with the first source of information mentioned in my covering letter of August 30th. I cannot disclose in writing the identity of this second informer: Suffice it to say that he is in a key-position and ought to know if these things have happened or not. This source of information can be regarded as very reliable and we have heard from this side certain details not yet mentioned in the first report. In fact, I have been told that there are somewhere in the East two establishments destined for the purpose indicated in the report. It is of course quite impossible to investigate the matter on the spot. No observer would be allowed to approach these regions. Only some SS-members and a limited number of workers (probably taken from war-prisoners or similar slaves) can have seen these things if they really have happened. The SS will never tell any outsider and the others will probably be shot before having an opportunity to tell. Therefore, the only available testimony consists in stories told by certain German officers coming from the East who have seen something of it or have been told about it by those directly responsible.

283 Bezieht sich auf Lichtheims Brief vom 30. August 1942 (Dokument 70).

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Dokument 77

And it is by such a well-informed military source that the first report has been confirmed.284 3.) The Nazis have committed so many other acts of equal brutality that this specific story sounds to me not more and not less credible than all the others. What has happened and is daily happening to the deported people and to the inhabitants of the Ghetti is confirmed by so many sources that there can be no longer any doubt as to the intentions of Hitler and the Gestapo. |2| I am referring to my reports about the brutal deportations from the Western countries and to my letter No. 840 of October 5th with the attached report about the extermination of the Jews in Lettland.285 4.) We have repeatedly heard about similar bestialities committed in Poland. There can be no longer any doubt that lately mass-executions and deportations to unknown destinations have taken place in Poland, especially from the Ghetti of Warsaw and Lodz.̊ I have seen letters written from Warsaw by a man who is living outside the Ghetto (which means that he is not regarded as a Jew) who has written in veiled terms to a well-known orthodox Jew in Switzerland286 about the latest events in Warsaw. He is speaking in such a letter of “Mea Alafim”287 who had to leave and have been invited by Herr X. (which means the Germans) to his country-house “Kever.”288 In a second letter he says: “What a pity that the nice citrus-fruits you have sent me are now rotting, but my uncle ‘Achenu’289 is dead and cannot make use of them. I feel very lonely.” In a further letter he says, using similar terms, that a certain Doctor Y. (representing the ORT-OSE Organisation in Geneva)290 should be 284 Die Identität der Quelle konnte nicht mit Sicherheit ermittelt werden. 285 Siehe Dokument 75. 286 Yitzhak Sternbuch (1895–1968) war ein Rabbiner und Geschäftsmann aus Montreux. Er war der Schweizer Vertreter der Union der orthodoxen Rabbiner der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas sowie des Wa’ad ha-Haẓala, einer Hilfsorganisation orthodoxer amerikanischer Juden. Gemeinsam mit seiner Frau Recha (1905–1971) half er jüdischen Geflüchteten in die Schweiz zu gelangen und gründete den Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland. Sternbuch war Mitglied der orthodoxen Sammlungsbewegung Agudat Yisra’el. 287 Mea alafim [hebr.] bedeutet Einhunderttausend. 288 Das hebräische Wort kever bedeutet Grab. 289 Akhenu [hebr.] bedeutet unsere Brüder. 290 Gemeint ist Boris Tschlenoff (1864–1952), ein ukrainischer Arzt, der ab 1924 dem Exekutivkomitee des Œuvre de secours aux enfants (OSE) angehörte und in dieser Funktion während des Holocaust den Versand von Medikamenten, Lebensmitteln und medizinischem Material in die Gettos und Konzentrationslager in Polen und den baltischen Staaten organisierte. Die OSE ist eine 1913 in St. Petersburg gegründete

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informed that now all this work has been in vain and he gives to understand that the large majority of the Jews in the Ghetti of Warsaw and Lodz are no longer there. May be that this man is exaggerating but we have heard the same things from other sources, especially with regard to the large number of Jews from Warsaw who have been killed after having been sent to other places. There is also the undeniable fact that for many weeks no correspondence with the Ghetti of Warsaw and Lodz has been possible. I am enclosing a photocopy of a postcard received by a gentleman living here, in reply to a letter which he has addressed to the Oberbürgermeister of Lodz. In his reply the Oberbürgermeister states that neither letters nor parcels can be delivered to the Ghetto in Lodz and that no information about the inhabitants can be given. All this is indirectly confirmed by the still existing Jewish relief-organisations in Cracow.291 You are probably aware that the Jewish community in Cracow has become very small, most Jewish inhabitants having been evacuated long ago. But Cracow is the most important center of the German civil administration and the small Jewish community there has been made by the authorities the central Jewish body for the whole Generalgouvernement.292 Now the Jewish-relief committee in Cracow has informed the Relico and other relief-committees in Switzerland that whatever aid {###} to be given to the Jews of the General-Gouvernement {###}, must be sent through the German Red Cross and will then be distributed wherever possible by the central Jewish relief-committee in Cracow while nothing should be sent directly to individuals or “Judenräte”. This means that the much larger community jüdische Kinderhilfsorganisation, die bis heute soziale und medizinische Hilfe leistet. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zur wichtigsten Organisation zur Rettung jüdischer Kinder in Frankreich. Sie ist eine Schwesterorganisation der Organisation ORT (Abkürzung für: Obshchestvo remeslennogo i zemledel’cheskogo truda sredi yevreev v Rossii, Gesellschaft [zur Förderung] der handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufe unter den Juden in Russland), einem 1880 in St. Petersburg gegründeten jüdischen Hilfswerk, das die gewerbliche und technische Berufsausbildung vor allem für jüdische Jugendliche aus verarmten Familien organisierte. Während des Zweiten Weltkriegs kümmerte sich ORT in Frankreich und in der Schweiz um die Berufsausbildung von jüdischen Geflüchteten. Alexander Ivanov, Art. ORT, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 4, 444–449. 291 Gemeint ist die Jüdische Soziale Selbsthilfe in Krakau. 292 Ein Zentraler Judenrat in Krakau wurde geplant, aber nicht gebildet. Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, New York 1972, 36–42, 57.

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Dokument 77

of Warsaw with its numerous social services has ceased to exist and that the individuals are deprived of the possibility of receiving foodparcels, etc. {directly} from friends or relatives in neutral countries. I am enclosing copies of two letters from the “Jüdische Soziale Selbsthilfe – Krakau” which will be of interest to you.293 Of course the Selbsthilfe – Krakau cannot state how many Jewish communities are still in existence and what the number of the Jews is in the various places. Putting all these pieces of evidence together, there can be little doubt that the deliberate destruction of the Jewish communities in Poland is not only contemplated but already on its way. We all know what Hitler has decided to do with the Jews and now he is doing it. If there has been any doubt then his last speech has made the position perfectly clear.294 I am also enclosing the last number of “Juna”295 (the press-service of the Swiss Jewish community), containing an extract from the “Thurgauer Zeitung”296 commenting on this speech. |3|  I have foreseen this development long ago. In my letters to London and New York I have constantly warned our friends of what was coming and I have submitted certain proposals. But I always knew that in the case of Hitler nothing we or others would do or say could stop him. Therefore, I have asked our friends in London and New York to try to save at least the Jewish communities in the semi-independent states of Roumania, Hungary, Italy and Bulgaria and I have approached some months ago the Papal Nuncio in Berne with regard to Slovakia.297 So far all our interventions have been of no avail but it may be that the restraint shown so far by Italy and Hungary is due to the influence of the Vatican. 293 Abschriften der Briefe finden sich in CZA, L22/3, Jüdische Soziale Selbsthilfe Krakau an Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population, 30. August 1942; ebd., Jüdische Soziale Selbsthilfe Krakau an Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population, 3. September 1942. 294 Hitler sprach anlässlich der Eröffnung des Winterhilfswerks am 30. September 1942 im Sportpalast in Berlin. Hier wiederholte er die bereits in einer Rede am 30. Januar 1939 geäußerte Drohung, das europäische Judentum zu vernichten. Adolf Hitler, Rede auf einer »Volkskundgebung« im Berliner Sportpalast zur Eröffnung des Kriegswinterhilfswerks, in: Max Domarus (Hg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932 bis 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 4: 1941–1945, Leonberg 41988, 1912-1924. 295 Die Jüdische Nachrichtenagentur (JUNA) wurde 1936 vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund gegründet. 296 Die Thurgauer Zeitung ist eine seit 1798 erscheinende Schweizer Tageszeitung. 297 Siehe Dokument 64.

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On September  26th, I have cabled again to London with a view to inform our people that the strongest warnings by the allied statesmen will be necessary to deter the above-mentioned states and also Vichy-France from further measures against the Jews.298 I understand that our friends in London and New York have done all in their power and you are aware that meanwhile renewed warning{s} by the allied statesmen have been issued – certainly not only in our interest but also in view of the mass-executions of Poles, Czechs, Norwegians, etc. – and it might be that these warnings will have some effect in certain cases and will help a number of Jews in Europe to survive.299 But we have to face the fact that the large majority of the Jewish communities in Hitler-dominated Europe are [sic] doomed. There is not force which could stop Hitler or his SS who are today the absolute rulers of Germany and the occupied countries. It is my painful duty to tell you what I know. There is nothing I could add. The tragedy is too great for words. With all good wishes to you and yours, I am, dear Mr. Grünbaum, with kind regards, Sincerely yours, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

298 CZA, L22/149, Richard Lichtheim an Joseph Linton, 26. September 1942. 299 Roosevelt hatte im Laufe des Jahres 1942 wiederholt die Absicht der amerikanischen und alliierten Regierungen kundgetan, Kriegsverbrechen nach dem Ende der Kämpfe zu ahnden. Am 7.  Oktober 1942 hatte er sich erneut mit einer Warnung an die Achsenmächte gewandt. Franklin  D. Roosevelt, Bestrafung der Schuldigen, in: Franklin D. Roosevelt, Amerika und Deutschland 1936–1945. Auszüge aus Reden und Dokumenten, hg. im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten, o. O. 1946, 73 f.

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Dokument 78

Dokument 78 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 20. Oktober 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten CZA, L22/3 RL / LU – A/3-2-4c-4d Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem

20th October, 1942

Letter No. 858 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach, I am referring to my cable of 26.9.[19]42 to the London Office300 and to the various reports which I have sent you in the course of the last months about the desperate situation of the Jews of Europe. The facts on which I have lately reported are sufficient evidence that the deportations from Germany, Austria and the western countries to Poland as well as the deportations within Poland have little to do with the need for more labour and that there is a plan behind these measures to exterminate immediately the largest possible number of Jews. Pogroms and mass-executions have repeatedly taken place in various places – for instance in the former Baltic states and in many towns of Poland, Russia and Bessarabia – but so far they have been of a “local” character while the large majority of the European Jews was still living in their countries of origin, subjected of course to all sorts of vexations and persecutions or slowly starved in the Ghetti or by slave-labour; under this “system” there was still a chance left that at least the younger and stronger might survive and that some of the communities, especially in Western Europe, but also in the Ghetto districts of Poland would not be completely destroyed. But it has become more and more evident in the course of the last three or four months (and you will have seen that from my reports) that even this 300 CZA, L22/149, Richard Lichtheim an Joseph Linton, 26. September 1942.

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outlook was too optimistic and the latest deportation-measures have made it quite clear what is contemplated. I am now in possession of reports stating that in June and July of this year discussions have been going on in Hitlers headquarters |2| regarding new and even more ruthless methods in order to annihilate the Jews more quickly, that is within the next three or four months. It seems that during these discussions the Governor-General Frank301 insisted that the life of the Jews in the Ghetti and elsewhere should be spared in order to use them for the work needed by the administration in Poland, while other “advisors”, in the first place Mr. Backe302 of the Ministry for Economics, were of the opinion that the food-situation of Europe and therefore of Germany would be considerably bettered by the death of three to four million Jews who otherwise would have to be fed.303 The decision lay of course with Hitler, and he decided as was to be expected. Economic arguments and counter-arguments are not of great importance to him. His decision was dictated by his hatred of the Jews. At the end of July, he signed a formal order approving the plan of total annihilation of all Jews of Europe on which the Nazis could lay hands, by deporting them to and killing them at some remote places of Poland and occupied Russia.304 This decision explains the otherwise inexplicable brutal mass-deportations from all over Europe of men, women and children, including old people quite unfit for any kind of work. (A refugee just arrived from Holland states 301 Der nationalsozialistische Politiker Hans Frank (1900–1946) war ab 1939 Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete. 302 Herbert Backe (1896–1947) war ab 1933 Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 1942 stieg er zunächst kommissarisch zum Reichsernährungsminister auf. Im April 1944 wurde er zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt und mit der Leitung des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft betraut. 303 Die Informationen über diese Diskussionen gelangten über den deutschen Industriellen Eduard Schulte (1891–1966), Generaldirektor des schlesischen Bergbaukonzerns Georg von Giesches Erben in Breslau, zu Lichtheim und Riegner nach Genf. Zu Backes Hungerpolitik siehe Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, bes. 189–196; Adam Tooze, Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, Kapitel 16: Labor, Food and Genocide, 513–551, bes. 544–548; Anselm Meyer, Herbert Backe – Hungerplaner und Ernährungsdiktator. Die deutsche Raubwirtschaft im Zweiten Weltkrieg, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 14 (2022), H. 23 (Druck in Vorbereitung). 304 Ein schriftlicher Befehl Hitlers zur Vernichtung der europäischen Juden ist bis heute nicht nachweisbar.

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Dokument 78

that all Jewish families of the town of Groningen have been deported, even old people up to the age of 75 years! On the other hand, Dr. Abeles, Kan, Buchenbacher, Bolle and other officials of the Jewish community-council (Joodsche Raad) are still in Amsterdam. It is the story of the deportations from Germany all over again.) For the large majority of the Jews of Europe there seems to be no hope left. They are in the hands of a raving madman who has become the absolute ruler of continental Europe by the will of his own guilty people and by the tragic blindness of statesmen who from 1933 to 1939 have tried to make a deal with the devil instead of driving him out while there was still time to do so. Reliable witnesses have seen the order signed by Hitler at his headquarters. It is also known to the leading personalities of the International Red Cross.305 But what is more: The facts are speaking an unmistakable language. The evidence in our possession regarding this order and a number of notes and reports concerning the mass-deportations and executions have been submitted by Dr. Riegner, the secretary-general of the World Jewish Congress in Geneva, and by myself to the appropriate quarters in Geneva and Berne. Thus, London and Washington are informed, as well as our respective offices in London and New York. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

305 Gemeint ist hier der Schweizer Historiker und Diplomat Carl Jacob Burckhardt (1891–1974). 1933 wurde er Mitglied des IKRK und inspizierte in dieser Funktion 1935 und 1936 verschiedene Konzentrationslager in Deutschland. 1941 übernahm er den Vorsitz der Commission mixte de secours de la Croix-Rouge international (Vereinig­tes Hilfswerk vom Internationalen Roten Kreuz), der für die Zivilbevölkerung zuständigen Institution innerhalb des IKRK. Von 1944 bis 1948 war er Präsident des IKRK. Burckhardt, der Kontakt zum deutschen Außenministerium sowie zum Kriegsministerium unterhielt, bestätigte gegenüber Riegner und Lichtheim zunächst, dass es auf höchster deutscher Ebene eine Entscheidung zur Vernichtung der europäischen Juden gegeben hätte. Im Oktober 1942 wurde er vom amerikanischen Konsul in Genf um die Bestätigung dieser Informationen gebeten. In dieser Unterredung zeigte er sich allerdings unverbindlich. Walter Laqueur, The Terrible Secret. Some Afterthoughts, in: ChaeRan Y. Freeze / Sylvia Fuks Fried / Eugene R. Sheppard (Hg.), The Individual in History. Essays in Honor of Jehuda Reinharz, Waltham, Mass., 2015, 403–418, hier 411.

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Dokument 79 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 26. Oktober 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit Bericht über die deutsche Vernichtungs­ politik, 22. Oktober 1942, 5 Seiten; Brief mit handschriftlicher Archivsignatur unten auf Seite 1 (»L22/3«); handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen; Buchstaben teilweise verwaschen CZA, L22/3 [Lichtheim gibt einen Überblick über die antisemitische Vertreibungs- und Vernichtungspolitik in den von Deutschland und seinen Verbündeten kontrollierten Gebieten. Dabei benennt er für jedes Land konkrete Opferzahlen. Er stellt klar, dass die Deportationen letztlich auf den Tod der verschleppten Menschen abzielen. Zudem hebt er den systematischen Charakter der Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten hervor.] RL / LU / A3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem

October 26th, 1942

Letter No. 866 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach, […]306 3.) On 22.10. I have visited together with Dr. Riegner the American Minister in Berne,307 to whom we had been introduced by the State Department on the request of our friends in America. We have submitted to him a number of reports, the contents of which are more or less known to you from my letters. We have also informed the Minister about our sources of information. Our discussion lasted for 1½ hour and the documents will be forwarded to the State Department. 306 Lichtheim bestätigt in zwei Absätzen den Erhalt von einer Reihe von Lauterbachs Briefen und listet die letzten von ihm an Lauterbach gesandten Briefe auf. 307 Leland Harrison (1883–1951) war von 1937 bis 1947 der amerikanische Botschafter in der Schweiz.

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Dokument 79

4.) Of the material mentioned sub 3. I am enclosing a note regarding the policy of annihilation and the latest available figures of the Jews in the various European countries. This a###¦nsw¦eres also your suggestion contained in § 1 of your letter No. 848. With kind regards, Sincerely yours, R. Lichtheim, 26th October 1942 GENEVA OFFICE

[|1|] NOTE regarding the German policy of deliberate annihilation of European Jewry. I. The following figures show the policy of constant and deliberate annihilation of all European Jewish communities now being carried out:308 1. Germany (Old Reich) Of the 500 000 Jews residing in Germany in 1933, about 300 000 have emigrated or have died prematurely until 1939. At the beginning of the world war there remained only 200 000. As a result of suicides and starvation, but mainly owing to mass deportations, the number of the Jews in the Old Reich was reduced to 110 000 by May 1st, 1942, of whom 52 000 resided in Berlin. Of these 110 000 Jews, about 40 000 were at that date occupied in German industry by way of forced labour, while nearly all others had to live on charity. Since May 1942 new mass deportations having taken place, the present number of Jews in the Old Reich has decreased to a number certainly not exceeding 40–50 000. 2. Austria Of the 190 000 Jews living in Austria at the moment of the Anschluss (1938), about 100 000 have emigrated until the outbreak of the war, while about 85 000 Jews remained in Vienna. The present number of the Jews in Austria is only 12–15 000; the rest of the Austrian Jews has been deported. 308 Die genaue Anzahl der im Holocaust ermordeten Juden wird in der wissenschaftlichen Forschung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert, lässt sich jedoch nicht präzise ermitteln. Schätzungen gehen von insgesamt zwischen 5,6 und 6,2 Millionen Opfern aus. Für eine Übersicht siehe Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991.

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3. Protectorate Bohemia and Moravia Of the 90 000 Jews living in the Protectorate in 1939, very few were able to emigrate during the short period between the occupation of Prag [sic] and the beginning of the war. Due to the mass deportations, there remained in the whole of the Protectorate on July 1st, 1942, 22 000 Jews and about 8000 converted non-Aryans. Of these 30 000 people 15 000 were residing in Prag. Since July 1942 the deportations have constantly continued. The above mentioned figures do not include the number of Jews recently concentrated in Theresienstadt, a big center of deportees at the Czecho-German frontier, where 40 000 Jews of old age, i.e. between 65 and 85 years of age, have been sent to from various countries in addition to 7000 younger Jews engaged in local works and thousands of others passing through this special Ghetto-town on their way to Poland or Russia. 4. Poland It is estimated that of the 3 300 000 Jews living in the Polish state at the beginning of the war, there were after the German invasion about 1 165 000 in the General-Gouvernement and 300 000 Jews in the Polish |2| territories soon annexed by Germany, while the remainder of some 1,3 million Jews lived in or fled to the Polish territories occupied by Soviet Russia. Of this latter category the large majority, about 1 million, came also under German rule after the outbreak of the war with Russia and the following occupation of these territories. Some 300 000 Polish Jews are said to have fled to the interior of Soviet Russia. Therefore some 3 million Polish Jews should be living by now in the General-Gouvernement and to this figure should be added hundreds of thousands of Jews deported to the General-Gouvernement from other countries of Western and Central Europe. But even German statistics lately published give the number of all Jews in the General-Gouvernement as being 2 092 000 – thus admitting that one million and several hundredthousand have perished. The Polish government has stated two months ago that according to their reports 700 000 Polish Jews have been killed or starved to death.309

309 Anfang Juni 1942 veröffentlichte die polnische Exilregierung in London einen Bericht, den sie Ende Mai vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund aus Warschau erhalten hatte. Dort wurde das systematische Morden der Nationalsozialisten in Polen ebenso beschrieben wie Vergasungen in Chelmno. Die Existenz eines organisierten Plans zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung wurde darin ebenfalls erwähnt. Der Bericht bezifferte die Opferzahl auf 700 000 polnische Juden. Am 2. Juni sendete die BBC Auszüge aus dem Bericht. Yehuda Bauer, ›When did they know?‹, in: ­Midstream 14 (1968), H. 4, 51–58, hier 52.

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But those figures and the above-mentioned German statistics do not yet take into consideration that meanwhile large numbers of Jews in the General-Gouvernement have perished. No exact figures are available, but the last reports received from Warsaw indicate that mass deportations and executions have again taken place in the big Ghetti of Poland. In a letter dated September 12th, it is asserted that no Jews are left in the big Jewish center of Warsaw, where only last year some 600 000 Jews were living. Another report states that of the 250 000 Jews who have been living in Litzmannstadt (Lodz), in the territory annexed by Germany, there remain at present only those working for the Wehrmacht. Similar reports have been received from Galicia. Expulsions, deportations and mass-executions are continuing thus decimating Polish Jewry to the point of complete annihilation. 5. Baltic states a) Latvia Of the 100 000 Jews living in Latvia in 1939 there are now only 4000 left. According to a reliable report, 24 000 of the 28 000 Jews of Riga were killed by machine-guns during two nights in December 1941.310 The whole of the Jewish population in the provinces has been annihilated already during July and August 1941. b) Lithuania In 1939 there were 150 000 Jews in Lithuania. No reports concerning their fate have been available. There are persisting rumours that they have shared the fate of Latvian Jewry. |3| c) Estonia A community of some 5000 Jews existed in Estonia. It is reported that they succeeded in fleeing to Russia at the outbreak of the hostilities between Russia and Germany. 6. Belgium Of the 85 000 Jews who were in Belgium in 1940, a certain number has fled to France at the moment of the German invasion; but about 75 % of the Belgian Jews remained in the country. Due to the mass deportations which took place during the last months, the present number of the Jews in Belgium has become insignificant. According to reports received from refugees recently arrived there, are at present not more than about 5000 Jews in Brussels and some 3000 Jews in Antwerp.

310 Siehe Dokument 75.

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7. Holland According to various reliable reports, one-third of the 180 000 Jews of the Netherlands have already been deported. Other reports state that the number of the deported Jews is even higher. The Dutch Nazis declared publicly that the whole of the Dutch Jewry is to be deported until June 1943. 8. Jugoslavia Of the 78 000 Jews who lived in Jugoslavia at the beginning of the war, some 30 000 were in Croatia, about 8000 in Old Serbia, and the rest in the various provinces later annexed by Hungary, Italy, a.s.o. Of the Jews living in Croatia 4000 managed to escape to Italy. Nearly all the others have either been killed or imprisoned in labour camps where they are starving. The total of the Jews in Old Serbia have disappeared. 9. Greece There were about 72 000 Jews residing in Greece. According to German press reports of July 1942, male Jews between 18 and 45 years of age are drafted for slave labour; 60 000 Jews were registered at that moment in Saloniki. No direct reports are available. 10. France It is estimated that of the 300 000 Jews in France, 50 000 have already been deported, 10 000 of whom [sic] of foreign nationality from the non-occupied zone. Reliable sources state that before long the total of French Jewry in the non-occupied zone, numbering about 150 000 will also be deported. |4| 11. Rumania Of the 900 000 Jews living in Rumania in 1939, 325 000 Jews of Bessarabia and Bucovina came under Soviet rule in consequence of the Russian occupation in 1940: 150 000 Jews were living in the territories later attached to Hungary. Afterwards the Jews of Bessarabia and Bucovina came again under Rumanian rule, when these territories were reoccupied by Rumania. According to the official figures published by the German and Rumanian press, there are by now not more than 270 000 Jews in Rumania. It is officially stated that the whole of the province of Bessarabia has been cleared of the Jews and that with the exception of 16 000 Jews who remained in Czernovitz [sic], no Jews are residing any more in the Bucovina, all of them having been deported to the territory of Transnistria (Russia) occupied by Rumania. Reliable private sources state that large numbers of Jews in Bessarabia have been killed on the spot. The Rumanian government itself admitted that since October 1941, about 185 000 Jews have been deported to Transnistria, where there are by

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now only 112 000 left; the remainder have probably perished. The government announced at the same time that during 1943 all Jews still residing in Rumania will be deported. 12. Bulgaria There are 50 000 Jews living in Bulgaria. About 8500 of them are already used for forced labour. The deportation measures have just started. 13. Slovakia Of the 90 000 Jews living in Slovakia in 1939, 70 000 have already been deported. It has been announced that 20 000 will follow soon. 14. Italy The number of the Jews in Italy is about 45 000, of whom 35 000 Italian Jews and about 10 000 Jews of various nationalities. The latter are mostly sheltered either in internment camps or live in forced residences. Compulsory forced labour has recently been introduced for Italian Jews. Although the Italian Jews have been eliminated from their social and economic positions, no deportation measures have yet been adopted against them.311 15. Hungary At the beginning of 1939 there were 450 000 Jews in Hungary. Owing to the partition of Czechoslovakia, Rumania and Jugoslavia, there are now about 750 000 Jews in Hungary. An anti-Jewish legislation has been adopted depriving the Jews of nearly all the positions they formerly held in the |5| economic and social life. About a year ago 17 000 Polish and stateless Jews were deported

311 1938 lebten etwa 45 000 Juden in Italien, davon waren mehr als 37 000 italienische Staatsbürger. Infolge der Annäherung der faschistischen Regierung Benito Mussolinis an das nationalsozialistische Deutschland wurden 1938 erste antisemitische Gesetzte in Italien eingeführt, die auf die gesellschaftliche Ausgrenzung und wirtschaftliche Ausbeutung der Juden zielten. Nach dem Kriegseintritt Italiens aufseiten der Achsenmächte im Juni 1940 wurden die Maßnahmen verschärft. Im selben Monat ordnete Mussolini die Internierung der ausländischen und als gefährlich eingestuften italienischen Juden an. Ausländische Juden wurden in Lagern interniert beziehungsweise einer freien Internierung in abgelegenen Orten oder einer strikten Residenzpflicht unterworfen. Ab Mai 1942 wurden Juden zur Zwangsarbeit herangezogen. Deportationen in die Vernichtungslager oder Morde fanden erst nach der deutschen Besetzung des Landes im Oktober 1943 statt; ihnen fielen rund 8000 Juden zum Opfer. VEJ, Bd. 14, 19–32.

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from Hungary to Poland, where they are supposed to have perished. Since that day no further deportations have taken place. Thus, Hungary contains now the largest Jewish community of Europe living under tolerable conditions. II. From reliable reports it results that the deportation measures taken against the Jews mean for the greater part of them, if not for all, complete annihilation. A great number of the deported people are starving in the trains in consequence of the undescribable [sic] inhuman conditions in which the transports are carried out. According to a report from a German source, many of the deportees from the Western countries are no longer alive when reaching the German frontier but are killed before by various methods. Younger deportees are being taken to work either in the industries of Silesia or for the construction of fortifications in the coastal zone of France or at the eastern front. Those unfit for work are killed, and those engaged in slave labour are nearly worked to death and if unfit for work they also are killed. Persisting rumours say that young Jewish girls and women after having been sterilized are brought to the military brothels.312 In the East-European countries, notably in Poland, pogroms and mass executions on a large scale are constantly taking place. Thus, the deliberate policy of extermination of European Jewry is systematically carried out quite in accordance with the announcements made in the last speeches of the head of the German government. Geneva, October 22nd, 1942.

312 Dafür lassen sich keine Belege finden. Die Zwangsprostitution jüdischer Frauen in Wehrmachtsbordellen gehörte nicht zur offiziellen Praxis der Nationalsozialisten. Begründet lag dies im Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, das Ehen und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und »Deutschblütigen« verbot. Dennoch gehörte sexuelle Gewalt gegen jüdische Frauen während des Holocaust durch SS und Wehrmacht zum Alltag. Helene Sinnreich, ›And it was something we didn’t talk about‹: Rape of Jewish Women during the Holocaust, in: Holocaust Studies. A Journal of Culture and History 14 (2008), H. 2, 1–22.

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Dokument 80 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 1. Dezember 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; handschriftliche Korrekturen, teilweise Umlautzeichen handschriftlich hinzugefügt CZA, L22/3 1. Dezember, 1942

RL / LU / A3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem Brief Nr. 907 (via Istanbul) Lieber Dr. Lauterbach,

in Ergaenzung meines gestrigen Briefes Nr. 906 betreffend die neuen Verordnungen fuer das Wohnrecht der Juden im Generalgouvernement mache ich Sie noch auf folgende Korrektur aufmerksam:313 Bei nochmaliger Durchsicht des Textes der Verordnungen und meines Briefes bemerke ich, dass Absatz 3 meines Briefes vielleicht zu einer missverständlichen Auslegung Anlass geben koennte. 313 CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 30.  November 1942 (Brief Nr. 906). Lichtheim übersandte in dem Brief zwei von dem Höheren SS- und Polizeiführer Ost für das Generalgouvernement, Friedrich-Wilhelm Krüger (1894–1945), gezeichnete Polizeiverordnungen über die Bildung von Wohndistrikten im Generalgouvernement vom 28. Oktober und 10. November 1942. Die Verordnung vom 28. Oktober 1942 regelte, welche Gettos in den Distrikten Warschau und Lublin vorerst weiterbestehen durften. Polizeiverordnung über die Bildung von Judenwohnbezirken in den Distrikten Warschau und Lublin, in: Verordnungsblatt für das Generalgouvernement 94, 1. November 1942, 665 f.; wieder abgedruckt in: VEJ, Bd. 9: Polen. Generalgourvernement August 1941–1945, bearb. v. Klaus-Peter Friedrich, München 2014, 497–499. Die Verordnung vom 10. November 1942 regelte das Wohnrecht der jüdischen Bevölkerung für die Distrikte Radom, Krakau und Galizien. Polizeiverordnung über die Bildung von Judenwohnbezirken in den Distrikten Radom, Krakau und Galizien, in: Verordnungsblatt für das Generalgouvernement 98, 14. November 1942, 683–686.

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Tatsaechlich sollen, wie in meinem gestrigen Brief bemerkt, insgesamt 55 Ghetti in den verschiedenen Distrikten geschaffen werden.314 Das soll in der Weise geschehen, dass in den groesseren Orten wie Warschau, Lemberg, Krakau, Tarnopol, sowie auch in einer Reihe anderer Orte z. B. Rava-Ruska, Czortkow, innerhalb dieser Staedte besondere Ghetti abgegrenzt werden, soweit dort solche nicht schon laengst bestehen. Dagegen sollen die verbleibenden kleineren Orte wie z. B. Piaski und Izbica im Distrikt Lublin sowie 5  Orte im Distrikt Warschau und eine Anzahl anderer kleine Orte in den Distrikten Radom, Krakau und Galizien im Ganzen in Ghetti verwandelt werden, wobei vorgesehen ist, dass saemtliche Nichtjuden die betreffenden Orte zu verlassen haben. Das Resultat ist natuerlich ziemlich das Gleiche wie in meinem gestrigen Brief dargestellt. Es werden dann 55 groessere und kleinere Ghetti bestehen, von denen die groesseren identisch mit den bisherigen Ghetti innerhalb der grossen Staedte sind, waehrend die kleineren durch Umwandlung solcher kleiner Orte in Ghetti gebildet werden, in denen jetzt schon eine Anzahl Juden leben. Die Lage der Juden in diesen letzteren Orten wird vermutlich noch schlimmer und gefaehrlicher sein, als in den grossen Ghetti, weil sie vollkommen von der Aussenwelt isoliert sind. In Warschau oder Krakau besteht immerhin noch eine gewisse Verbindung zwischen dem Ghetto und der Aussenwelt. Wenn aber kleine Ortschaften im Ganzen in Ghetti verwandelt, d. h. mit einem Zaun oder einer Mauer umgeben werden, die die Juden bei Todesstrafe nicht ueberschreiten duerfen, so ist die Isolierung eine eine absolute und niemand wird sehen oder hoeren was |2| dort vor sich geht. Das ist auch moeglicherweise die Absicht. Erwerbsmoeglichkeiten bestehen fuer diese in den Ghetti oder Ghettistaedten eingeschlossenen Juden kaum noch, zumal die beim Militaer beschaef­ tigten Juden lt.  Text der Verordnung in besonderen Lagern untergebracht sind. Damit werden diese jetzt vorgesehenen Ghetti einfach zu grossen Isolierzellen, die sich in Grabkammern verwandeln sollen. Man kann die Frage aufwerfen, wozu die Behoerden sich noch so viel Umstaende machen, statt die Juden gleich zu töten. Die Antwort darauf ist vermutlich, dass es doch nicht so einfach ist, staendig Hunderttausende von Menschen durch das Militaer oder die SS umbringen zu lassen; sogar die letztere soll sich schon hin und wieder geweigert haben, diese Henkersdienste zu verrichten. 314 Tatsächlich waren fast alle der in den Verordnungen aufgelisteten Gettos bereits eingerichtet. Die Polizeiverordnungen bestimmten vielmehr, in welchen dieser Gettos Juden der Aufenthalt noch gestattet war.

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Die vollstaendige Isolierung einer nicht erwerbstaetigen Bevoelkerung hinter Ghettomauern ist an sich schon ein ziemlich sicherer Weg um die Einwohner waehrend des jetzigen Winters umkommen zu lassen. Dazu werden dann wahrscheinlich noch gelegentlich Massenexekutionen kommen und vielleicht werden auch manche dieser Ghettistaedte, deren Mauern die Juden nicht ueberschreiten duerfen, abbrennen, wie das auch schon in letzter Zeit an verschiedenen Punkten vorgekommen ist. Das Londoner Radio hat in den letzten Tagen wiederum mehrfach u ­ eber die Massenhinrichtungen der Juden des Warschauer Ghettos berichtet. Dabei wurde gesagt, dass von 400 000 Einwohnern des Warschauer Ghetto etwa 260 000 umgekommen seien. Nach meinen Informationen waren im Warschauer Ghetto zeitweise sogar ueber 500 000 Juden, da viele von anderen Orten dorthin geschickt wurden. Wie ich schon vor 2½ Monaten berichtete, ist die weitaus groessere Zahl dieser Juden verschwunden und eine mir in den letzten Tagen zugegangene Information aus guter Quelle besagt, dass von den cca. [sic] 500 000 Juden des Warschauer Ghetto zur Zeit noch 30 000 vorhanden sein sollen. In einem gewissen Gegensatz zu den Zustaenden im Generalgouvernement steht vorlaeufig noch Theresienstadt, worüber ich Ihnen am 13. und 16. November mit meinen Briefen Nr. 879315 und 883316 schrieb, aber ich bemerkte damals schon, dass die auffallend optimistischen Berichte der Herren Stricker,317 Friedmann,318 Edelstein319 und Zucker,320 die alle ziemlich am gleichen Tag via Berlin hier eintrafen, mir etwas verdaechtig vorkamen.321 315 CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 13. November 1942 (Brief Nr. 879). 316 CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 16. November 1942 (Brief Nr. 883). 317 Robert Stricker wurde im Herbst 1942 nach Theresienstadt deportiert und Ende Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Zu Stricker siehe Dokument 44. 318 Desider Friedmann wurde im Herbst 1942 gemeinsam mit Stricker nach Theresienstadt deportiert und im Dezember 1944 in Auschwitz ermordet. Zu Friedmann siehe Dokument 50. 319 Jakob Edelstein wurde gemeinsam mit seiner Familie im Dezember 1941 nach Theresienstadt deportiert und zum Judenältesten bestimmt, der dem Judenrat vorstand. Im Dezember 1943 wurden er und seine Familie nach Auschwitz deportiert und im Juni 1944 dort ermordet. Zu Edelstein siehe Dokument 51; Ruth Bondy, »Elder of the Jews«. Jakob Edelstein of Theresienstadt, New York 1981. 320 Otto Zucker (1892–1944) war stellvertretender Vorsitzender der tschechoslowakischen Jüdischen Partei und Mitarbeiter des Palästina-Amts in Prag. Ab Dezember 1941 war er in Theresienstadt interniert, wo er zeitweise als stellvertretender Judenältester fungierte. Er wurde am 29. September 1944 in Auschwitz ermordet. 321 Edelstein hatte am 19.  Oktober 1942 einen Brief an Lichtheims Mitarbeiter Fritz ­Ullmann gesandt. Edelsteins Stellvertreter Zucker hatte am selben Tag an Lichtheim

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Es wird sich noch herausstellen, ob wir weitere Nachrichten dieser Art aus Theresienstadt erhalten. Sollte das nicht der Fall sein, so kann man daraus schliessen, dass die Briefe zu einem bestimmten Zweck und unter Druck geschrieben wurden. Es kann ja aber auch sein, dass fuer Theresienstadt vorlaeufig eine Sonderregelung gilt, die entweder rein administrative Ursache{n} hat oder in einem gewissen Umfang auch eine Absicht darstellt.322 Theresienstadt ist naemlich nicht nur Durchgangslager fuer Transporte nach Polen und Arbeitslager fuer eine Anzahl Arbeitskraefte, sondern auch eine Art Altenheim, wohin gerade die aeltesten Jahrgaenge der Deportierten aus Deutschland, Oesterreich und der Tschechoslowakei, naemlich Personen im Alter zwischen 65 und 85 Jahren gebracht wurden. Es ist denkbar, dass man sich darauf beschraenken wird, diese alten Menschen dort zwar |7| isoliert, aber eines natuerlichen Todes sterben zu lassen. Sie wissen oder muessen wissen, dass ich mir schon seit vielen Monaten keine Illusionen ueber die Lage der europaeischen Juden mehr gemacht habe. Gestern erhielt ich ein Telegramm von Bernard Josef,323 enthaltend gewisse Anregungen wegen Interventionen durch das Rote Kreuz. Ich habe Dr. Josef telegraphisch und brieflich geantwortet. Ich habe am Schluss meines Briefes auch meinem Erstaunen darueber Ausdruck gegeben, dass die Vertretung der polnischen Juden in Tel Aviv324 noch immer so tut, als wenn sie bisher ueber die Vorgaenge in Polen nichts erfahren habe. Das ist einigermassen geschrieben. In ihren Briefen berichteten die beiden von schwierigen, jedoch vergleichsweise erträglichen Zuständen in Theresienstadt. CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, 13. November 1942 (Brief Nr. 876). Eine Kopie des Briefs von Zucker an Lichtheim ist dem Brief an Lauterbach beigefügt. Der Brief Edelsteins an Ullmann ist abgedruckt: Jakob Edelstein an Fritz Ullmann, 19. Oktober 1942, in: H. G. Adler (Hg.), Die Verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente, Tübingen 1958, 286 f. Laut Lichtheim waren alle Briefe mit »einer deutschen Briefmarke, ohne den sonst üblichen Aufdruck ›Protektorat Böhmen und Mähren‹ versehen und von einem Berliner Postamt abgestempelt«. CZA, L22/3, Richard Lichtheim an Leo Lauterbach (Brief Nr. 883), 16. November 1942. 322 Die Postverbindung zwischen Theresienstadt und der Schweiz wurde als Teil der Propagandabemühungen der Nationalsozialisten, das Lager als »jüdische Mustersiedlung« zu präsentieren, aufrechterhalten. 323 Bernard Joseph (später Dov Yosef; 1899–1980) war ein Jurist und zionistischer Politiker aus Kanada, der nach dem Ersten Weltkrieg nach Palästina ausgewandert war. Ab 1936 war er für die Politische Abteilung der Jewish Agency in Jerusalem tätig. 324 Die Reprezentacja Żydowstwa Polskiego (Vertretung der polnischen Juden) in Tel Aviv war eine politische Körperschaft, die 1940 von prominenten polnisch-jüdischen Politikern, die sich bei Kriegsbeginn in Palästina befanden oder nach dem deutschen Überfall aus Polen geflohen waren, gegründet wurde. Sie wurde 1945 aufgelöst.

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Dokument 81

sonderbar, 1.) mit Ruecksicht darauf, dass ich seit Monaten darueber berichte und 2.), weil die Weltpresse und das Londoner Radio ebenfalls seit Monaten darueber schreiben bezw. Nachrichten verbreiten. Mit besten Gruessen Ihr R. Lichtheim

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Dokument 81 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 15. Januar 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite CZA, L22/4 January 15th, 1943.

RL / DT – A/3 Organisation Department, Zionist Executive, P.O.B. 92 – Jerusalem Letter N° 958 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach, Re Rumania

I have just received a report coming from a well-informed and reliable source, dealing with the situation in Rumania and especially with the deportations to the so-called Transnistria. In the autumn of 1941, about 130 000 people have been deported, namely 30 000 from Cernauti,325 40 000 from other parts of the Bucovina, 45 000 from Bessarabia and 15 000 from the district of Dorohoi. To these 130 000 are 325 Czernowitz (rum. Cernăuți).

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to be added another 6000 from other parts of Rumania, especially from the so-called Regat, who were deported to Transnistria in the summer of 1942. Of the total of 136 000 people, some 70 000 are reported to be alive while the other 60 to 65 000 have already died, many of them during the transports, which have been carried out with the usual brutality, and the others in Transnistria as a result of hunger, cold and illnesses. Before being deported the people were of course deprived of all their possessions and could take with them only a few bundles and very little money. Those still in possession of money or other possessions, reserve-clothes, etc. bought for it some additional food and this may explain that about half of the deported people are still alive. But their situation is desperate and if no relief is forthcoming then they also will die within the next weeks or months. The large community in the Regat  – about 250 000  – has collected money to help them but they also are living under constant fear of deportation and they have been deprived of most of their possessions. Their houses have been confiscated, their money has been taken and they have been ejected from most callings and professions. That is why they cannot do very much to help the deported people in Transnistria. At present, no deportations are taking place from the Regat but it is feared that in spring the deportations may start again. I do not know if you have other reliable reports from Rumania but what is stated in this letter is, as already mentioned, coming from an absolutely reliable source. The figures given are to be regarded as conservative figures while other reports say that they are even too conservative which means that the numbers of the deported people and of those who have died and who have been killed are even higher. Yours sincerely, R. Lichtheim

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Dokument 82 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 24. März 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; veraltete handschriftliche Archivsignatur unten links auf Seite 1 (»L22/3«) CZA, L22/4

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Dokument 82

{A/3} Organisation Department Zionist Executive, P.O.B. 92 – Jerusalem

March 24th, 1943.

Letter No 1026 (via Istanbul) ¦Dear¦ Dr. Lauterbach, I hope you will understand why I am not writing you as often as I did before. One reason is that I have much more work to do now in connection with the urgent problems of relief and the efforts made in various quarters to save at least some of the Jews of Europe. This work is concentrated here and also to a certain extent in Istanbul with which place I am in constant touch.326 Another reason is that the situation is more or less the same, which means going from bad to worse. I do not want to tell you in writing all the horrible stories we have heard here about the systematic slaughter going on in the occupied countries. There is no form of ferocity, bestiality and sadistic insanity not applied to kill and torture Jews. Some eye-witnesses have lately arrived here, Swiss people who happened to be in Poland on official missions or for business purposes and they confirm all these stories. In December [1942] and January [1943] many Jews have been killed in Cracow.327 They were crowded into houses on which petroleum was poured 326 Durch die neutrale Türkei führte eine der wichtigsten Fluchtrouten für Juden vor allem aus osteuropäischen Ländern nach Palästina. Aus diesem Grund unterhielt Chaim Barlas bereits ab August 1940 ein Büro der Jewish Agency in Istanbul, um hier mit den türkischen Behörden über die restriktiven Einreisebestimmungen für verfolgte Juden und die Genehmigung von Transitvisa zu verhandeln. Ende 1942 entstand in Istanbul auch ein Rettunsgskomitee, dem neben Barlas u. a. auch Teddy Kollek (1911–2007), Yitzhak Grünbaum, Venya Pomeranz und Menahem Bader (1895–1985) angehörten und das verschiedene Rettungsaktionen anstieß. Zu den Aktivitäten in Istanbul siehe Corry Guttstadt, Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Berlin 2008, bes. Kapitel 4.5: Die Türkei als Transitland Richtung Palästina, 235–257; Chaim Barlas, Haẓala bi-yeme Shoa [Rettung während der Shoah], Tel Aviv 1975; Dalia Ofer, The Activities of the Jewish Agency Delegation in Istanbul in 1943, in: Gutman / Zuroff (Hg.), Rescue Attempts During the Holocaust, 435–463. 327 In Krakau lebten 1939 ca. 60 000 Juden. Nach der Vertreibung des Großteils der jüdischen Bevölkerung befanden sich im März 1941 nur noch rund 11 000 Juden in der

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and then the houses were set on fire. When some of the Jews tried to escape by jumping through the windows, they were shot by the guards outside.328 In many of the railway-carriages loaded with Jews, the floor was covered with quicklime and when the quicklime became wet  – and it had to become wet with 50 Jews standing or lying there and not allowed to leave the carriage – the quicklime became hot and burning and the Jews were slowly burned. Many such carriages have been seen near the station in Warsaw, filled with dead or dying Jews from Belgium and Holland.329 There are other stories of this kind but what is the use of telling them now? I do not believe that there will ever be any adequate punishment and I do not see any signs that any action will be taken to stop these massacres and tortures. The only system which would work would be immediate reprisals on a large scale but I know that the Allied powers are not willing to use this weapon. All the other proposals made in London or Washington regarding the admission of refugees to other countries,330 etc. do not go to the root of the evil. It is certainly useful to discuss possibilities of transferring refugees from Spain or Portugal or Italy, or from Hungary and the Balkan countries to other places where they could live in peace and more comfortably. But this has nothing to do with the main problem how to stop the slaughter and to induce Germany to let the Jews go. That is the position as I see it. Stadt. Gemeinsam mit der jüdischen Bevölkerung einiger umliegender Gemeinden wurden diese ab März 1941 in einem Getto gefangen gehalten. Ende 1941 lebten hier rund 18 000 Menschen. Ende Mai 1942 begannen die Deportationen in die Vernichtungslager. Bis Juni 1942 wurden 6000 Juden nach Belzec deportiert; 300 wurden im Getto erschossen. Ende Oktober 1942 wurden nochmals 7000 Juden nach Belzec und Auschwitz deportiert und 600 im Getto erschossen. Mitte März 1943 erfolgte die Deportation von 2300 Juden nach Auschwitz-Birkenau. 328 Für das hier beschriebene Vorgehen lassen sich keine Belege finden. 329 Auch der Jurist und Diplomat Jan Karski (1914–2000), der als Kurier zwischen dem polnischen Widerstand und der polnischen Exilregierung in London wirkte, beschrieb einen Fall, bei dem im Sammellager Izbica Juden mit Ätzkalk umgebracht wurden. Auf den Böden von Zugwaggons verteilt, regierte es beim Kontakt mit der feuchten menschlichen Haut und verursachte tödliche Verätzungen. Jan Karski, Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund, München 2012, 486–489. 330 Im Nachgang der interalliierten Erklärung vom Dezember 1942, mit der die nationalsozialistische Judenverfolgung erstmals öffentlich verurteilt wurde, diskutierten die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zu Beginn des Jahres 1943 erneut die Aufnahme europäischer Juden. Auf der zu diesem Zweck für April 1943 einberufenen Bermuda-Konferenz wurde die Idee einer groß angelegten Rettungsaktion rasch verworfen.

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Dokument 82

|2|  I wrote you already that practically no Jews are left in Germany, that the deportations from Holland continue and what is happening to the majority of the deportees and to the large majority of the Jews in Poland you and the Executive know only too well. According to our reports there are still a number of younger Jews in labour camps or working for various industries in Poland and Upper-Silesia. But this is only a small minority. How many Jews are still alive in the various ghettoes, nobody knows. With regard to Warsaw, one report says that there are still 40 000 Jews, while another report gives the figure of 26 000. Lately, a few letters have been received from Warsaw, written by non-Jews and giving news about one or two Jewish families who apparently are still there because they belong to that category of Jews still employed by the authorities. There have been no letters from Cracow or Lemberg which is said to be completely emptied from Jews and even from Poles, and there are also no news from the 52 other ghettoes. With regard to relief: Permission has been obtained by the International Red Cross to send foodstuffs and medical supplies to Theresienstadt which is still in a somewhat privileged position.331 But a similar request of the IRC332 with regard to Poland has been rejected and from the information I received from the responsible persons of the IRC, there is no hope that the attitude of the authorities in this respect will be changed. In fact, this negative reply refers not only to Poland but also to the other occupied countries in the East, as for instance the Baltic states. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE 331 Im März 1943 gelang es dem IKRK, von den deutschen Behörden die Erlaubnis zu erlangen, Lebensmittel und Medikamente nach Theresienstadt zu senden. Daraufhin organisierten Lichtheims Büro und das Genfer Büro des World Jewish Congress die Verschickung von Kollektivsendungen mit Medikamenten und Lebensmitteln über das IKRK. Die Sendungen wurden teilweise von der tschechoslowakischen Exilregierung mitfinanziert. Parallel dazu organisierten ab Frühjahr 1943 tschechoslowakische Exilkreise den Versand von individuellen Lebensmittelpaketen, den sogenannten Liebesgaben-Päckchen, aus Portugal, Schweden, der Schweiz und in kleinerem Umfang auch aus der Türkei. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wieviele der Päckchen ihre Empfänger auch tatsächlich erreichten. Näher dazu Kirchner, Emissär der jüdischen Sache; Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics. 332 International Red Cross.

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Dokument 83 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 26. Mai 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen; veraltete handschriftliche Archivsignatur unten links auf Seite 1 (»L22/7«); handschriftlicher Vermerk oben rechts auf Seite 1 (»mit Brief 1146 Kopie gesandt«), einzelne Buchstaben verwaschen CZA, L22/10 May 26th, 1943.

RL / DT – A/3-2 Organisation Department Zionist Executive, P.O.B. 92 – Jerusalem Letter No. 1084 (via Istanbul) Dear Dr. Lauterbach,

I want to give you the following information: 1.) We have received several additional letters from Theresienstadt, showing that our old friends are still there. From one of these letters we learned that there must be also a ghetto inside Theresienstadt, because it is said in this letter that certain persons are in charge of this ghetto. The meaning is not quite clear but it may mean that Theresienstadt is divided into different districts, probably on the lines applicated in Poland, which means that the people working for certain industries, etc. are separated from those who are unable to work and are apparently confined to a special ghetto inside Theresienstadt.333 2.) You have certainly heard of the latest events in the Warsaw Ghetto, which seems no longer to exist.334 I regret to have to inform you that among 333 In der Nähe des im November 1941 eingerichteten Konzentrationslagers Theresienstadt befand sich die sogenannte Kleine Festung, die der Gestapo in Prag unterstand und in der ab 1940 nichtjüdische sowie jüdische politische Gefangene hauptsächlich aus dem Protektorat Böhmen und Mähren inhaftiert waren. Gegen Kriegsende wurden hier auch alliierte Kriegsgefangene festgehalten. 334 Am 19. April 1943 begann die endgültige Auflösung des Warschauer Gettos, woraufhin die Bewohner angeführt von der Żydowska Organizacja Bojowa (Jüdische Kampforganisation; ŻOB) mehrere Wochen lang Widerstand leisteten. Der Aufstand wurde

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the many dead there is also our old friend, Dr. Ignacy Schipper,335 and one of the best-known women-leaders of the youth-movement, called Zivia.336 3.) I have had fresh reports from Rumania where the situation of the Jews has also become most critical. You are aware that so far some 250 000 Jews were still living in Old-Rumania while those from Bessarabia and many of those in Transylvania have been deported long ago to Transnistria, where most of the deportees have perished and the rest are starving. Now by order of Marshal Antonescu, the Commissioner for Jewish Affairs, Leka [sic],337 has issued a new order imposing a special tax of 4000 Million Leis on the Jewish community. The people who are not in a position to pay the tax (one half of which is to be paid until June 12th) are to be deported to Transnistria. 300 Jews from Bucharest have already been deported there about a fortnight ago, probably in connection with the new order, i.e. to show the Jews what will happen to them if they cannot or will not pay the tax.338 von der SS unter Jürgen Stroop (1895–1952) bis zum 16. Mai 1943 niedergeschlagen. Laut Stroops Angaben wurden dabei 56 065 Juden ermordet. 335 Ignacy Schiper (auch Schipper; 1884–1943) war ein jüdischer Historiker und Zionist aus Galizien. Er war Mitglied des Warschauer Judenrats und lehnte den bewaffneten Widerstand ab. Im Zuge der Liquidierung des Gettos wurde er nach Majdanek deportiert und dort am 5. November 1943 erschossen. 336 Zivia Lubetkin (1914–1976) war eine jüdische Widerstandskämpferin im Warschauer Getto und zionistische Funktionärin. Ab 1938 war sie im Vorstand des zionistisch-sozialisitschen Jugendbunds Dror-Frayhayt tätig. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs half sie zunächst im sowjetisch besetzten Teil Polens Juden bei der Emigration. Ab 1940 war sie in Warschau tätig und gehörte zu den Mitbegründern der ŻOB. Nach Kriegsende war sie für die jüdische Untergrundorganisation Briḥa (Flucht) tätig, die die Einwanderung überlebender Juden nach Israel organisierte. 1946 siedelte sie nach Palästina über, wo sie das Museum Bet Loḥame ha-Geta’ot (Haus der Gettokämpfer) mitbegründete. Die deutsche Ausgabe ihrer Erinnerungen Die letzten Tage des Warschauer Gettos erschien 2019 in Berlin. 337 Radu D. Lecca (1890–1980) war ein Geschäftsmann, Journalist und politischer Funktionär mit engen Beziehungen nach Deutschland. Von Dezember 1941 bis August 1944 war er als Bevollmächtigter für Judenfragen, später Generalkommissar, zentral an der antijüdischen Politik in Rumänien beteiligt. 1946 wurde er in Bukarest vor Gericht gestellt; das dort verhängteTodesurteil wurde später aufgehoben und in eine Haftstrafe umgewandelt. Er blieb bis 1963 in Haft. 338 Im Mai 1943 verlangte die Regierung Antonescu vier Millarden Lei Sondersteuer von der jüdischen Bevölkerung. Im Gegenzug sollte ihnen die Möglichkeit zur Ausreise gewährt werden. Auf deutschen Druck hin verbot die Regierung die Ausreise von Juden. Mariana Hausleitner, Wohltätigkeit mit geraubtem Eigentum. Maria Antonescu und die Juden in Rumänien, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 13 (2004), 37–50.

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30 to 40 000 Rumanian Jews are already in the labour camps in Rumania but with the new aggravation of the situation, it is to be feared that they and finally most of the others will be deported and will in the end share the fate of the Jews of Germany and Poland. 4.) The latest news from Bulgaria are {is} also very bad. Two days ago, an order was issued that the 20 000 Jews of Sofia must leave the town within three days and go to the provinces.339 Also, the Bulgarian government has withdrawn the permission for Jews to pass through Bulgaria or to leave Bulgaria on their way to Palestine. You know what that means for the scheme regarding the 5000 children from the Balkan countries.340 A plan has been discussed to let the children from Hungary and Rumania sail from a Rumanian port, but it seems that these negotiations have also broken down because the authorities will not allow any boats carrying Jewish passengers to leave Rumanian ports. |2|  5.) Some days ago, I have been in Berne and have discussed our current affairs with the British Legation. I have also paid a visit to the Swedish Minister in connection with a [sic] inquiry from him regarding a plan to use a Swedish boat for the above-mentioned transports. It seems that he has been asked by his government about this project and I gave him the necessary explanations.

339 Im Frühjahr 1943 beschloss das Kommissariat für jüdische Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit dem Referat Eichmanns, die Deportation der jüdischen Bevölkerung einzuleiten. Ab März 1943 wurden 11 384 Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten Thrakiens, Makedoniens und Ostserbiens nach Treblinka deportiert. Am 22. Mai 1943 wurde ein Erlaß veröffentlicht, demzufolge 25 000 Juden aus Sofia in die Provinzen deportiert werden sollten. Trotz Protesten von jüdischen und nichtjüdischen Bulgaren wurde der Erlass umgesetzt; innerhalb von 12 Tagen wurden 19 153 Juden aus Sofia vertrieben und zur Ansiedlung in der Provinz gezwungen. 340 Auf Drängen der Jewish Agency erklärte der britische Kolonialminister Oliver Stanley (1896–1950) am 3. Februar 1943 im House of Commons, dass 4500 jüdischen Kindern und 500 erwachsenen Begleitpersonen aus Bulgarien sowie weiteren 500 Kindern aus Ungarn und Rumänien die Einreise nach Palästina gestattet würde. Von der deutschen Regierung ausgeübter Druck vereitelte diesen Plan. Dennoch gelang immer wieder kleinen Gruppen aus diesen Ländern die Ausreise nach Palästina. Bernard Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 1939–1945, London 1979, 179–182; Francis R. Nicosia, »Palästina-Austausch.« Jewish Emigration from Europe to Palestine during the Final Solution, in: Thomas Pegelow Kaplan / Jürgen Matthäus / Mark W. Hornburg (Hg.), Beyond »Ordinary Men«. Christopher R. Browning and Holocaust Historiography, Paderborn 2019, 83–95.

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6.) Yesterday we had a meeting in Berne, which was convened by the new president of the Swiss Jewish community, Mr. Saly Braunschweig,341 who has replaced Mr. Saly Mayer as head of the community. Mr. Braunschweig wanted to get in touch with the international Jewish organisations in Geneva and has invited me and the representatives of the World Jewish Congress to meet him in Berne. There was a lenghthy [sic] discussion about current affairs and the general situation. It is not necessary for me to go into the details, I only wanted to let you know that this first contact with the new head of the community has been established. This is the more important as the community has set up a special commission to study the postwar problems.342 The Zionist Federation of Switzerland is represented in this commission by Dr.  J. Zucker.343 With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim

Dokument 84 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 8. Juni 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; einzelne Buchstaben verwaschen; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/10

341 Saly Braunschweig (1891–1946) war von 1931 bis 1946 Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich und von 1943 bis 1946 Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Er war zudem Vorstandsmitglied der Jewish Agency und Mitglied der Exekutive des World Jewish Congress. 342 Ab 1943 existierte in Genf eine interkonfessionelle Geneva Study Group for Post-War Refugee Problems, die sich vor allem mit soziologischen und rechtlichen Aspekten der Geflüchtetenfrage beschäftigte. Zu den insgesamt 20 Mitgliedern der Studiengruppe zählten neben Lichtheim und Riegner vor allem Kirchenvertreter sowie Repräsentanten jüdischer wie christlicher Hilfsorganisationen. 343 Jakob Zucker (1883–1960) war von 1937 bis 1942 und von 1951 bis 1960 Präsident des Schweizerischen Zionistenverbands.

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8th June, 1943

RL / LU / A3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem Letter No. 1096 (via Istanbul) Dear Lauterbach, re: Situation in Europe.

I.) I have just received a new report (reliable and up-to-date)  – about the situation in Belgium:344 1.) Many Jews from Belgium have left the country during the first months of the war and many more have fled after the invasion and the defeat of the Belgian and French armies to Southern-France.345 A considerable number returned from France at the end of 1940 while others left for America. Later on, when the situation for the Jews became more and more difficult, some of those who had returned from France or had remained on the spot also left the country  – as long as this was still possible  i.e. until the beginning of 1941 [sic].346 You are aware that Rabbi Brod,347 N. Torczyner,348 Leon Kubowitzki349 and others are now in America. 344 Zum Holocaust in Belgien siehe Insa Meinen, Die Shoah in Belgien, Darmstadt 2009. 345 Im Zuge der deutschen Invasion flohen zwischen 10 000 und 15 000 der in Belgien lebenden jüdischen Geflüchteten nach Frankreich. 346 Den Juden Belgiens wurde am 17. Januar 1942 verboten, das Land zu verlassen. 347 Samuel Halevi Brod. 348 Jacques Torczyner (1914–2013) stammte aus Antwerpen, floh 1940 aus Belgien und gelangte in die Vereinigten Staaten. Er war der langjährige Präsident der Zionistischen Organisation Amerikas. Von 1974 bis 1977 war er Vorsitzender der amerikanischen Sektion des World Jewish Congress und von 1972 bis 1998 leitete er das Department für Außenbeziehungen der Zionistischen Organisation. 349 Aryeh Leon Kubowitzki (1896–1966) war ein in Antwerpen und Brüssel tätiger Jurist und zionistischer Funktionär. 1936 gehörte er zu den Mitbegründern des World Jew­ ish Congress. Nach der deutschen Invasion floh er zunächst nach Bordeaux und von dort weiter nach New York, wo er das Rescue Department des World Jewish Congress leitete. Ab Januar 1945 fungierte er als dessen Vertreter in Europa, von 1945 bis 1948

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2.) In the spring of 1941 there were some 50 000 Jews in Belgium.350 When the vexations started in 1941 and legal emigration was no longer possible, many fled again to France and later  – in the summer of 1942 when the deportations began  – some hundred escaped to Switzerland.351 Most Jews in Belgium were foreign Jews (Polish, German and Dutch). Only 3000 were Belgian subjects. It is said that the queen of Belgium intervened with the German authorities in favour of the Jews.352 The Germans refused to show any leniency, but in the end, they agreed to a compromise: not touch i.e. to arrest or deport the Jews of Belgian nationality. But they also have to wear the yellow badge and are excluded from many positions and professions.353 The situation of the foreign Jews became more and more desperate, especially after the murderous decisions taken in Hitlers headquarters in July 1942 with regard to [|2|] the deportation and extermination of all Jews in Europe. 3.) At present, there are only 2500 Jews in Antwerp while more than 20 000 are in Brussels and a few thousand in other towns. So far some 20 000 from Antwerp, Brussels and Charleroi have been deported. Deportations of foreign Jews continue but are impeded by various methods. There is a strong underground movement in Belgium which, among other things, tries to protect the Jews and to make it difficult for the Nazis to discover them. Therefore, the Gestapo is very busy hunting down the Jews. In Brussels, for instance, a Gestapo-car is constantly controlling the streets. In the car are two Gestapo-men and a Jewish traitor whose job it is to help them. Wherever the Gestapo-patrol sees a Jewish-looking man or woman not wearing the yellow badge, they arrest him or her and ask for the papers. In the case of the men the procedure is very simple, if he is circumcised, they war er Generalsekretär. Von 1959 bis zu seinem Tod war er Vorsitzender der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. 350 1940 lebten schätzungsweise 90 000 Juden in Belgien, von denen fünf bis zehn Prozent die belgische Staatsbürgerschaft besaßen. 351 Die Deportation der Juden Belgiens begann im Sommer 1942 zeitgleich mit jener aus den Niederlanden und Frankreich. Insgesamt wurden rund 30 000 Juden aus Belgien deportiert, wovon etwa ein Drittel die belgische Staatsbürgerschaft besaß. Die Mehrheit von ihnen starb in Auschwitz. In geringerem Umfang gingen die Deportationen auch nach Buchenwald, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Juliane Wetzel, Frankreich und Belgien, in: Benz (Hg.), Dimension des Völkermords, 105–131. 352 Königin Elisabeth von Belgien (1876–1965), die Mutter König Leopolds III., übernahm 1935 nach dem Tod ihrer Schwiegertochter Astrid de facto erneut die Position der Königin. Sie intervenierte persönlich zugunsten der belgischen Juden. 353 Ab 27. Mai 1942 wurde die Zwangskennzeichnung der jüdischen Bevölkerung in Belgien zur Pflicht.

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deport him at once. There is a camp in Malines (Mecheln [sic])354 from where the deportations start. 4.) There are Jewish “community-councils” in Antwerp, Brussels and Charleroi, under Gestapo supervision. Of the 25 000 Jews still left in Belgium, a certain number is “privil{ege}d”: a) the 3000 Jews of Belgian nationality who are not to be deported,355 b) those working for the community-councils and their institutions of social welfare which the Germans seem interested to maintain (by Jewish contributions of course), and some others. These “privileged” Jews are in possession of a “white card” which protects them against persecution and deportation. But these privileged Jews are only a minority. The majority of the 25 000 is in constant danger. How they manage to live and to escape arrest … well, there are many stories to be told.356 II.) In Holland the situation is even more terrible than in Belgium. While quite a number are in hiding, the majority has already been deported and latest reports say that the Germans – probably owing to lack of transportation – are shooting them on the spot in various camps. Nearly all the provinces are “juden­rein” and what remains is concentrated in Amsterdam or in the big camps of Westerbork357 and Amersfoort,358 where they are awaiting their fate … The letters written by our Pal-office here to the Vatikim,359 who were promised certificates and to other people in Holland registered with the

354 Bis Sommer 1944 befand sich in Mechelen in der Provinz Antwerpen ein SS-Sammellager. Mehr als 25 000 Juden wurden von dort nach Auschwitz deportiert. 355 Bis Oktober 1942 erfolgte die Deportation von rund 16 000 staatenlosen Juden. Danach wurden die Deportationen zunächst bis Januar 1943 ausgesetzt. Infolge der Intervention von Königin Elisabeth bei den deutschen Behörden waren Juden belgischer Staatsangehörigkeit zunächst von den Deportationen ausgenommen. Im September 1943 wurden auch die belgischen Juden deportiert. 356 In Belgien existierte eine aktive Widerstandsbewegung, die breite Unterstützung aus der Bevölkerung erfuhr. Insgesamt wurden in Belgien etwa 25 000 Juden versteckt und dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen. 357 Das Lager Westerbork war eines der beiden zentralen Durchgangslager, die die Nationalsozialisten in den Niederlanden für die Deportation der jüdischen Bevölkerung in die Konzentrations- und Vernichtungslager errichteten. 358 Das Durchgangslager Amersfoort wurde am 18. August 1941 von den nationalsozialistischen Besatzern eingerichtet. Von hier wurden viele der jüdischen Internierten in das österreichische KZ Mauthausen oder andere Lager in Deutschland deportiert. 359 Mit dem hebräischen Begriff vatikim wurden die Veteranen der zionsitischen Bewegung bezeichnet.

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Executive are said to have had a certain value during a certain period but I have reason to believe that this system also will not work any longer …360 III.) If in spite of persecution and constant deportations a certain number of Jews still exists in the Western Countries of Europe (and even in Poland), this is not so much due to the above-mentioned messures [sic] of protection and also not to certain other methods (much advertised in Erez361 but so{m}ewhat overrated) but to the G{g}eneral atmosp{h}ere in these [|3|] countries, the ympathy shown by the non-Jews and the general hatred of the oppressors. Many children are living somewhere with somebody and many adults have “disapp{e}ared.” The method mainly employed – and the only effective one for larger numbers – you may call “Gentilisation.” You will hear more of this once the war is over … 360 Ab Anfang 1943 bemühten sich die zionistischen Büros in Genf, Juden mithilfe von Palästina-Zertifikaten vor der Deportation in die Vernichtunglager zu schützen. Palästina-Zertifikate bestätigten die Erlaubnis zur legalen Einreise in das britische Mandatsgebiet, machten ihre Inhaber zu quasi-britischen Subjekten und qualifizierten sie damit als potentielle Kandidaten für einen möglichen Zivilgefangenenaustausch zwischen Deutschland und Großbritannien. Lichtheim und seine Mitarbeiter stellten sogenannte »Palästina-Listen« zusammen, um Zertifikatsinhaber und -anwärter offiziell bei der Jewish Agency und den Mandatsbehörden registrieren zu lassen. Gelang es den Deutschen, die aufgelisteten Personen zu lokalisieren, so wurden diese in der Regel von den Deportationen in die Vernichtungslager ausgenommen. Zeitgleich begann auch der Leiter des Genfer Palästina-Amts damit, Hunderten niederländischen Juden nichtamtliche Bescheinigungen auszustellen, die sie als Kandidaten für einen Austausch auswiesen. Die meisten der niederländischen Juden, die im Besitz entsprechender Papiere waren, wurden zunächst von den Deportationen ausgenommen; ab Herbst 1943 wurden jedoch auch sie teilweise in die Transporte in die Vernichtungslager aufgenommen. Ab Januar 1944 wurden einige dieser »Austauschkandidaten« nach Bergen-Belsen deportiert. Nach langwierigen Verhandlungen wurden 222 in Bergen-Belsen internierte Juden als Teil eines deutsch-britischen Zivilgefangenenaustauschs am 6. Juli 1944 an der syrisch-türkischen Grenze freigelassen. Im Gegenzug wurden 150 Deutsche, die sich in britischer Hand befanden, an das Deutsche Reich übergeben. Bei Kriegsende befanden sich noch 600 bis 700 Juden mit Einwanderungszertifikaten in Bergen-Belsen. Yad Vashem (Hg.), From Bergen Belsen to Freedom. The Story of the Exchange of Jewish Inmates of Bergen-Belsen with German Templars from Palestine. A Symposium in Memory of Dr. Haim Pazner, Jerusalem 1986; Kirchner, Emissär der jüdischen Sache. 361 Ereẓ Yisra’el (Land Israel) bezeichnet traditionell das biblische Siedlungsgebiet der Israeliten. Der politische Zionismus griff die Bezeichnung wieder auf und nutzte sie für das britische Mandatsgebiet Palästina.

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IV.) In Germany there are practically no Jews left. It is now the turn of the so-called privileged i.e. half-Jews or Jewish women married w{ith} “Aryans”. V.) In Vienna the total number of Jews left is 800 … VI.) As stated in previous letters, a considerable number of Jews (Polish, German, Dutch etc.) may emerge from the labour camps in Upper Silesia and the Lublin-District – provided they will survive the slaughter, but I cannot give you any definite figures. VII.) Over Poland there is complete silence. No news from the 55 Ghettoes{.} w{W}hat has happened to the remnants of the Warsaw Ghetto you will have heard from various reports or from the BBC. Barlas has cabled us asking for addresses in Lwow. Neither Abraham362 nor Nathan363 nor I have been able to give him one single address! The#e also what is left is “somewhere”364 and cannot be approached. VIII.) With regard to Roumania and Bulgaria: I have told you in previous letters what I know from various reports. From my letter 1084 of 26.5.365 you will have seen that no progress has been made with the childrens-transports. Bulgaria will not allow transit or exit. Barlas and our friends in Roumania are still trying to find a boat. We here have helped as much as possible. Some weeks ago, after some conversations I have had with the I.R.C.,366 they finally agreed to give their “protecting sign” for such a boat. But there is no port from which such a boat could sail. I and Dr. Kahany367 have been in constant 362 Abraham Silberschein. 363 Nathan Schwalb (später Dror; 1908–2004) stand der Weltzentrale des Dachverbands der zionistischen Jugendbewegungen He-Ḥaluẓ (Der Pionier) in Genf vor. In seiner Kapazität als Verantwortlicher für die Vorbereitung und Organisation der Kinderund Jugendalija wirkte Schwalb gleichzeitig als Emissär des Gewerkschaftsbunds Histadrut sowie des Einwanderungsdepartments der Jewish Agency. Hava Eshkoli (Wagman), The Founding and Activity of the Hehalutz-Histadrut Rescue Center in Geneva, 1939–1942, in: Yad Vashem Studies 20 (1990), 161–210. 364 Im Versteck. 365 Siehe Dokument 83. 366 International Red Cross. 367 Menachem (Moshe) Kahany (1898–1983) war in den 1930er Jahren Goldmanns Stellvertreter im Büro der Jewish Agency beim Völkerbund in Genf. Nach Goldmanns Emigration in die Vereinigten Staaten 1940 übernahm er die Leitung des Büros. Nachdem 1941 die Büros von Lichtheim und Kahany zusammengelegt wurden, fun-

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touch with the British Legation in this and other subjects. Dr. Kahany has also done his best, to obtain help from the Bulgarian Legation (which is quite agreable [sic]) in the matter of the children’s transports (transit and exit), and the I.R.C. has also been helpful in this respect. But all our efforts have been in vain. Yours sincerely, R. Lichtheim

GENEVA OFFICE

Dokument 85 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 24. September 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; einzelne Buchstaben verwaschen; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/9 September 24th, 1943

RL / DT – A/3-2-4d Dr. L. LAUTERBACH, Organisation Department The Jewish Agency for Palestine P.O.B. 92 – Jerusalem Letter No. 1173 (via Istanbul) Dear Lauterbach,

I want to give you a short summary of the latest events.

gierte Kahany von 1941 bis 1945 als Lichtheims Stellvertreter. Nach der Abwicklung von Lichtheims Büro 1946 blieb Kahany als Vertreter der Jewish Agency in Genf und fungierte dort ab 1948 als Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen. Von 1955 bis 1956 war er israelischer Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf.

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1.) Italy: The refugees in the southern part of the country (Dr. Licht368 and among others, also the children’s group in Ferramonti) are now probably safe under Allied protection. From the northern part of the country a number of refugees have crossed the Swiss frontier and have been interned in the refugee camps. Among them are Richard Kohn369 with wife and children, Mrs. Hilda Klaic of the Jugoslavian WIZO,370 also a sister of Richard Kohn with her husband Robert Veith,371 and others. We shall try to look after them. For the rest it is very difficult to obtain any news because all postal communication with Italy has ceased. 2.) France: After the occupation by German troops of the southern parts of France formerly occupied by the Italians, the situation for our people has become very difficult and dangerous. There is a constant influx of refugees from France to Switzerland, also many children have crossed the frontier and the relief-organisations here are very busy to assist all these refugees. In this respect I may mention that Jarblum has done very good work.372 The authorities here, although they cannot encourage openly this “illegal immigration” are in most cases friendly and are creating less difficulties than a few weeks ago. You are probably aware that the former representatives of the KH and KKL, Nahum373 and Joseph,374 have so far been in Cannes or Nice but it now seems that they have no definite address. Should they come here they will be allowed to enter the co{u}ntry and to remain. The deportations all over France continuer and the Germans seem to make no longer any difference between French or foreign Jews. It is impos368 Alexander Licht (1844–1958) war ein Anwalt aus Zagreb und langjähriger Präsident der Zionistischen Organisation Jugoslawiens. 369 Richard (Riki) Kohn war der Leiter des Palästina-Amts in Zagreb. Nach seiner Flucht über Italien in die Schweiz fungierte er als Verwaltungsleiter des Jugendalija-Heims in Bex. Klaus Voigt, Villa Emma. Jüdische Kinder auf der Flucht 1940–1945, Berlin 2002. 370 Women’s International Zionist Organisation. 371 Robert Veith (1893–? [nach 1958]) war ein deutschsprachiger Dichter und Schriftsteller aus Jugoslawien. Er war Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde Zagrebs und floh während des Zweiten Weltkriegs über Italien in die Schweiz. 1945 wanderte er nach Jerusalem aus. 372 Jarblum war seit seiner Flucht im März 1943 in der Schweiz aktiv und dort maßgeblich an der Rettung von Kindern und Jugendlichen aus Frankreich beteiligt. 373 Nahum Hermann (1899–1944) war ein russischer Journalist. Er war Leiter des Keren Hayesod in Frankreich und Repräsentant der Fédération des sociétés juives de France. Im Januar 1944 wurde er in Limoges verhaftet und ermordet. 374 Joseph Fisher.

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sible to say how many Jews are still left in France but I believe the number is considerable in view of the attitude of the population and the open resistance to Vichy. 3.) Holland: Most tragic is the fate of the Dutch Jews. The large majority has been deported and according to my reports there are not more than 20 or 30 000 Jews left of the former total of 160 000. A small number is still in a privileged position and conducting the affairs of the community in Amsterdam, among them also our old friend Otto375 of the KH and Marinus.376 Dr. Alfred and his son-in-law Hans377 are in Westerbork where some 15 000 are concentrated. May be that they will remain there because every­ thing possible has been done for them but the deportations from Westerbork continue, the people being sent partly to the labour service camps in Germany, partly to Poland and you know what that means for most of them. I do not know where old Jacobus378 is; some time ago, it was said that he was in another camp reserved for old Dutch Jews, but lately we have not heard from him. 4.) In Belgium the situation is as I have described it in previous letters. Some 25 000 Jews are still there. |2|  5.) The Jews of Germany and Austria who are not in the 20 or 30 labour camps of this country are dead or deported; a few thousand may be in hiding. A small number is still conducting the af{fai}rs of the so-called Communities. Dr. L.379 is still in Vienna. 6.) Poland: There are practically no news from the 55 ghettoes which have been established in the Generalgouvernement and Eastern-Galicia. It sometimes happens that news arrive from individuals directly or through some Polish address, but generally speaking there is no possibility of getting in

375 Otto Abeles. 376 Marinus Leonard Kan. 377 Alfred Klee und sein Schwiegersohn Hans Goslar. 378 Jacobus Kann starb 1944 in Theresienstadt. 379 Josef Löwenherz (1884–1960) war ein österreichischer Rechtsanwalt und zionistischer Funktionär. Von 1924 bis 1937 war er Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Anfang Mai 1938 ernannte ihn Eichmann zum Amtsdirektor der »Jüdischen Gemeinde Wien«, wie die Israelitische Kultusgemeinde nun bezeichnet wurde. Nach deren Auflösung am 1. Januar 1943 wurde er zum Judenältesten in Wien ernannt. In der Ausübung seiner Amtsgeschäfte war er den Weisungen von SS und Gestapo unterworfen. 1945 wurde er von sowjetischen Soldaten mit dem Vorwurf der Kollaboration verhaftet, nach drei Monaten aber entlassen; er lebte danach in New York.

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touch with the inmates of these ghettos. In some places like Cracow or Lodz, the Judenrat still exists and if messages are sent to them, we sometimes get a confirmation, but the Judenrat is not in a position to answer any questions regarding the address or fate of individuals. It is still possible to send foodstuffs or medical aid through the Red Cross (but only through the Red Cross) to the Jewish relief committee in Cracow which is entitled to distribute these things to the inmates of Jewish labour camps. Something has been done in this respect by various relief-organisations. We have constantly tried to find a way of approaching the women and children of Palestinian residents or Palestinians who are on the exchange list but without result. You know that the list of these women and children has been transmitted to the German authorities by official channels and that a general promise was made that they would be spared. But beyond this nothing was achieved and I am very much afraid that for most of these women and children this action has come too late. 7.) There are contradictory reports about the situation in the Baltic states and in White Russia. The reports I have seen show that the process of extermination has been constantly going on since the beginning of 1942 but lately there have been rumours that a considerable number of Jews is still living in Lithuania and also in White Russia (Minsk), mostly in labour camps. It is impossible to give any figures or to verify these reports. We have the names of some 30 Jewish labour camps in Poland (General Gouvernement and Galicia) but there also it is difficult to obtain figures about the number of people still alive. It cannot be assumed that on the average more than some thousand people are in such a labour camp and that would mean that the total figure of Jews in these camps in Poland, White Russia and Germany itself may be somewhere between 150 000 and 300 000. But this is {j}ust a guess and nothing more. 8.) In Rumania and Bulgaria the position is more or less unchanged. Many have been deported, especially from Bulgarian occupied parts of Greece and from Bessarabia, but the majority of the Jews in old Rumania (250 000) and in Bulgaria (50 000) is still there. 9.) In Slovakia the situation is also more or less unchanged. You know from previous reports that of the 90 000 Jews of Slovakia 70 000 have been deported to Poland and it was believed that 20 000 are still there. But it seems that this figure is exaggerated and that it includes half-Jews and converted Jews. I have seen a reliable report stating that only 5000 Jews are now in Slovakia (1200 of whom in labour camps). 10.) The Palestine Office here received a cable from Jerusalem asking about the situation in Da{e}nemark. We have no direct reports but some weeks ago the newspapers said that several hundred Jews have been arrested.

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Dokument 86

So far, I have not heard of deportations as in the other German-occupied countries.380 Yours sincerely, R. Lichtheim P.S. Please forward the attached copies of this letter to Mr. J. Linton and Mr. Henry Montor.

Dokument 86 Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum Genf, 14. März 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen CZA, L22/146 March 14th, 1944.

RL / DT – A/1 I. GRUENBAUM, Esq. The Jewish Agency for Palestine, P.O.B. 92 – Jerusalem

380 Nach der deutschen Besetzung Dänemarks am 9. April 1940 blieb die Lage der jüdischen Bevölkerung lange Zeit unverändert. In einer Vereinbarung zwischen der im Amt verbliebenen dänischen Regierung und den deutschen Besatzern verpflich­ teten sich Letztere, der jüdischen Bevölkerung keinen Schaden zuzufügen. Nach der Weigerung der dänischen Regierung Ende August 1943, neue Forderungen der Deutschen zu erfüllen, wurden rund 470 Juden verhaftet und später nach Theresienstadt deportiert. Berichte über die drohende Deportation der jüdischen Bevölkerung führten zur Flucht des Großteils der jüdischen Bevölkerung. Nachdem die schwedische Regierung öffentlich erklärt hatte, alle jüdischen Geflüchteten aus Dänemark aufzunehmen, gelang es rund 7200 Juden und etwa 700 nichtjüdischen Verwandten – mit maßgeblicher Unterstützung durch dänische Fischer und die Widerstandsbewegung – nach Schweden zu gelangen.

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Dear Mr. Gruenbaum, I received your cable of March 12th.381 The position is at present as follows: 1.) We are informed that a considerable number of certificate-holders who are on the so-called exchange-list have been transferred to special camps in Germany, mainly to the camp of Celle near Hannover,382 ### {and} some others to Theresienstadt. That means that they have not been deported to Poland and {this} can be regarded as a proof that this system of provi#ding certificates has its merits and should be continued.383 2.) At the same time, I must emphasize the fact that these special camps mentioned sub  1) are not ordinary camps for “civilian internees” like the camps for Americans, Englishmen or other foreign nationals interned owing to war-conditions. In so far it is correct to say that “special camps” have been provided for this category of internees who are candidates for Alijah384 and whose names have been put on the lists transmitted via Foreign Office and Swiss government to the German authorities. 3.) What the conditions in these especial camps are we ### {do} not know. Nobody has access to these camps, neither the Red Cross nor anybody else, (it is just like the case of Theresienstadt). Therefore, the ordinary service of the Red Cross for camps for civilian internees has not been extended to these special camps. Also the inmates are not allowed to write to us, at least not for the time being, (here again is a parallel with Theresienstadt, because people who were sent to Theresienstadt have #{n}ot been able to write for many months, some of them not even after a year while some priviledged persons could write and others were allowed to write after a few months). 381 CZA, L22/146, Yitzhak Grünbaum an Richard Lichtheim, 12.  März 1944 (Telegramm): »please cable whether you aware existance [sic] camps whose internees been included special lists of aliyah candidates who are under protection swiss government as protecting power, gruenbaum.« 382 Das Konzentratonslager Bergen-Belsen bei Celle wurde im April 1943 als »Aufenthaltslager« für Personen eingerichtet, die gegen deutsche Staatsbürger, die sich in den Ländern der Alliierten befanden, ausgetauscht werden sollten. Zum Teil auch als reguläres Konzentrationslager genutzt, wurde Bergen-Belsen in das System der nationalsozialistischen Lager eingegliedert und vom SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt verwaltet. Offiziell wurde es als »Aufenthaltslager« bezeichnet, da es als Internierungslager gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention dem IKRK zur Kontrolle zugänglich gewesen wäre. Wenck, Menschenhandel. 383 Siehe Dokument 84. 384 Hier sind die Inhaber von Palästina-Zertifikaten gemeint.

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Dokument 86

But the Joodsche Raad in Amsterdam has received news from a number of these people who have been sent to Celle. 4.) The Swiss government has also no access to these camps and the inmates are in no way under protection of the Swiss government. In previous letters to Lauterbach, I have made it clear what the real meaning of the word “protecting power” is: it simply means that certain foreign interests have been entrusted to Switzerland and that she is looking after these interests.385 But that does not mean that she can do what she likes and that she can take under her protection any foreign nationals. In our case the role of the Swiss government consisted only in transferring the lists of candidates to the German authorities in accordance with the wishes expressed by the British government.386 5.) We have given much thought to this problem and have for nearly a year tried to find a way which would enable the Red Cross or the Swiss Germany {government}, or both, to approach our people in the camps (labour camps in {P}#oland {and Germany,} |2| Theresienstadt and special camps for the Alijah-candidates). We have discussed these matters in Berne and some efforts have been made by the parties concerned in this direction but unfortunately without any practical result. The other side is unwilling to give any information or to allow anybody access to the camps or to be helpful in any other way. Therefore, it is unfortunately a mistake to believe that the mere fact that Switzerland has transmitted the above-mentioned lists gives her any standing as to real protection of the people concerned. 6.) You are aware that in the case of women and children of Palestin­ians who have also received certificates two years ago, similar efforts have failed.387 You will remember that Mr. Barlas (apparently in the belief that we here are not giving sufficient thought to these problems) has sent here last year 385 Während des Zweiten Weltkriegs fungierte die Schweiz u. a. für Großbritannien, die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich im diplomatischen Sinne als Schutzmacht und agierte damit als Verbindung zwischen den Konfliktparteien. Dominique Frey, Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«. Die Schweizer Schutzmachttätigkeit für Großbritannien und Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Bern 2004. 386 Die von der britischen Regierung bestätigten Palästina-Listen wurden über das Eidgenössische Politische Department, dem Schweizer Außenministerium, an die deutschen Stellen übermittelt. 387 Im Zuge der Vorbereitungen für einen deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch wurden im Frühjahr 1942 für Frauen und Kinder in Warschau, die familiäre Verbindungen nach Palästina hatten, entsprechende Zertifikate ausgestellt. Ein Großteil der Empfängerinnen war jedoch nicht mehr auffindbar, da sie bereits in die Vernichtungslager deportiert worden waren.

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a special delegate, a Swiss professor from Istanbul, with a view to find out about these women and children. This expedition of course was a complete failure and a very costly one. He has learned from us what the position was, has tried for himself, has submitted the same suggestions we had submitted six months earlier and then he had to return with empty hands though not with empty pockets! 7.) This is the position. I am perfectly aware that you have a very special reason to be interested and I can assure you that we here would like to do all we can to be helpful.388 Therefore, when you first asked us to take up this special case, we have again discussed in Berne all the aspects of this problem but so far only the usual result has been obtained, which means that the name has been trans##¦mitt¦ed to the authorities. I have also recommended to you in a previous cable to have the number of the certificate cabled to the Paloffice here because it often happens that the Paloffice directly or through the good offices of the Red Cross can send a provisional confirmation to the people concerned (in Westerbork or one of the other camps) which in somes cases has helped to avoid deportation even before the list was transmitted by official channels. But there is not one single case in which the release or the transfer of already deported people to some other camp has been obtained and I can only repeat that the authorities in question are unwilling even to answer any such suggestion. This being the position we must hope that in this special case no aggravation of the situation will take place. After all, there is still a considerable number of people in the various labour camps and we must hope for the best. With kind regards very truly yours, R. Lichtheim

388 Grünbaums Sohn Eliezer (1908–1948) wurde 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er als Funktionshäftling fungierte. Ende 1943 wurde er zur Zwangsarbeit nach Jawiszowice (dt. Jawischowitz) gebracht, später nach Buchenwald. Auf Veranlassung Grünbaums wurde Eliezer Ende 1943 mit in die Palästina-Listen aufgenommen. Grünbaum ging davon aus, dass sein Sohn damit automatisch unter dem Schutz der Schweizer Regierung stehen würde, CZA, L22/146, Yitzhak Grünbaum an Richard Lichtheim, 31. Dezember 1943. Er überlebte den Krieg, siedelte 1946 nach Palästina über und schrieb dort über seine Erfahrungen als Kapo in Auschwitz. Siehe dazu Galia Glasner-Heled / Dan Bar-On, Displaced: The Memoir of Eliezer Gruenbaum, Kapo at Birkenau. Translation and Commentary, in: Shofar 27 (2009), H. 2, 1–23.

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Dokument 87

Dokument 87 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 9. Mai 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/104 [Angesichts der Verschärfung der antijüdischen Politik in Ungarn und der unveränderten Lage in Rumänien, wo noch eine jüdische Bevölkerung existiert, hofft Lichtheim auf ein schnelles Vordringen der Roten Armee. Zudem berichtet er von der Situation von Juden mit Einwanderungszertifikaten für Palästina sowie mit Reisepässen südamerikanischer Staaten, die in Konzentrationslagern inhaftiert sind. Er beschreibt die Lage von geflüchteten Juden in der Schweiz, seinen Einsatz für deren Ausreise nach Palästina und rekapituliert die vergeblichen Bemühungen, in Genf eine Hilfsorganisation für die verfolgten Juden Europas zu gründen.] May 9th, 1944

RL / DT – A/3 Organisation Department The Jewish Agency for Palestine P.O.B. 92 – Jerusalem Letter Nr. 1358 Dear Lauterbach,

I want to give you some information, if only in a few lines, about the major questions with which I have been dealing in the course of the last weeks and months. On some of these questions I have had an exchange of view{s} with Mr. Grünbaum on which you may have heard. 1.) General situation in Europe: During the last month, I have not written to you in such detail as I have done in previous months and years, for the simple reason that with regard to the Jewish position in the various countries history constantly repeats itself. For instance, what is now happening in Hungary is the equivalent of the first stage of what has happened in all the other occupied countries.389 We can only hope that events will march quicker 389 Am 19. März 1944 besetzte die Wehrmacht Ungarn und setzte die Regierung unter Ministerpräsident Döme Sztójay (1883–1946) ein, die den Weisungen des deutschen

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than the measures already in progress or still in preparation so that the worst may be avoid#{e}d at least for this section of our people. Some days ago, I have sent a number of photocopies from press-reports about the situation in Hungary which will give you a general idea of the situation. In Rumania there seems to be no change but it is obvious that with the progress of the Russian armies and the defence measures taken by the Rumanians and Germans the situation of the Jewish community is also a very precarious one. For the time being it seems as if the Jewish community in Rumania, i.e. in Old Rumania, still exists and that the leaders of the community are able to continue their work. You are also aware that lately a number of people have emigrated from Rumania and have reached Palestine via Turkey. 2.) There is nothing new to report about the situation in France, Holland and Belgium. It is the same as described in my previous letters. Most of the people from Holland and some other countries who have received immigration certificates for Palestine are now concentrated in special camps of which the largest is apparently the camp of Bergen-Belsen near Celle near Hannover. News has reached us from this camp where the people are anxiously awaiting an exchange in conformity with certain negotiations which have been going on during the last weeks.390 It seems that considerable progress has been made at least for a first exchange of a few hundred of them. I have constantly pressed for this exchange

Bevollmächtigten Edmund Veesenmayer (1904–1977) folgte. Die ab April erlassenen antijüdischen Verordnungen sorgten u. a. für die Isolierung, Kennzeichnung und wirtschaftliche Ausbeutung der rund 800 000 Juden Ungarns. Am 16. April 1944 begann die Gettoisierung und Konzentration der jüdischen Bevölkerung in der Provinz. 390 Während des Zweiten Weltkriegs wurden kleine Gruppen von Juden gegen Deutsche ausgetauscht, die in Palästina oder anderen Ländern des Britischen Empires lebten. Juden im Besitz von palästinensischen Papieren, Palästina-Zertifikaten oder mit einem gültigen Anspruch darauf kamen für einen solchen Austausch infrage. Insgesamt kam es zu drei solcher Personenaustausche: Im Dezember 1941wurden ungefähr 65 deutsche Frauen und Kinder aus Palästina gegen 46 bis 49 Juden ausgetauscht. Im November 1942 wurden an der türkisch-syrischen Grenze 301 Deutsche und vier Italiener gegen 69 Palästinenser, 20 Briten und 48 Angehörige der britischen Dominions ausgetauscht, wovon 70 Personen jüdisch waren. Weitere 15 Juden wurden von deutscher Seite als Teil dieses zweiten Austauschs im Februar 1943 freigelassen. Im Juni 1944 wurden weitere 283 Juden (222 aus Bergen-Belsen, 61 aus Vittel und Laufen) gegen 150 Deutsche ausgetauscht. Danach wurden weitere Verhandlungen über einen vierten solchen Transfer aufgenommen, der jedoch nicht mehr zustande kam. Wenck, Menschenhandel, 54–73; 220–228.

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and have repeatedly informed our centers in London and New York that such an exchange is the best and the only means of avoiding deportation for this category. During the last weeks, I have been constantly dealing with this question and I have had a number of conversations on this subject with the various authorities concerned, especially in Berne. 3.) Then there has been the problem of the holders of South-American passports who have acquired such documents and are also concentrated in special camps.391 I must emphasize the fact that this office has always abstained from having anything to do with this business for reasons I do not wish to explain on detail. I can easily understand that in this desperate situation people are looking out |2| for any chance or opportunity to save their lives and that is why I have not felt in a position to oppose such measures, but on the other hand there have been good and strong reasons for the representation of the Jewish Agency not to take any active part in these proceedings. But when this ended as I have always expected that it would end or, in other words, when the crisis came, I have tried my best to be helpful and to support any measures which could possibly avert the danger by which these unfortunate people were threatened and are still threatened. At this juncture I have repeatedly been asked by the Executive in Jerusalem to intervene and during the last weeks I have done so. Certain steps lately taken may alleviate the situation and here also the idea of an eventual exchange may lead to some results. But it should be understood by our people that this group must not be mixed up with the other group mentioned above sub 2.), i.e. the holders of Palestinian certificates. On this question and how to deal with it I had an exchange of cables with Linton. 391 Im Juli 1942 kündigten die deutschen Besatzer in Warschau an, Juden mit Papieren neutraler Staaten ausreisen zu lassen. Alle Juden mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft, die sich daraufhin bei den deutschen Behörden meldeten, wurden zunächst im Warschauer Pawiak-Gefängnis festgesetzt und im Dezember 1942 und Januar 1943 nach Vittel deportiert. Im Zuge dessen entstand der Eindruck, diese Papiere könnten vor der Deportation in die Vernichtungslager schützen; in der Folge wurden vor allem aus der Schweiz gefälschte Ausweisdokumente lateinamerikanischer Staaten nach Warschau gesandt und unter den verbliebenen Juden gehandelt. Die Inhaber dieser Papiere sowie kleinere Gruppen ausländischer Juden aus Lwow, Krakau, Bochina und Radom wurden ab Mai und Juli 1943 nach Bergen-Belsen und Vittel deportiert. Nachdem die lateinamerikanischen Staaten sich geweigert hatten, diese Papiere anzuerkennen, wurden die meisten dieser rund 2500 Personen umfassenden Gruppe im Herbst 1943 und Frühjahr 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Wenck, Menschenhandel, 143 f., 147–155.

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4.) Another problem is that of the refugees in Switzerland. On this subject I have written a letter to Mr. Grünbaum explaining the situation and asking that a certain number of certificates should be reserved for the refugees in Switzerland.392 Among them there is a considerable number of old Zionists and also younger Zionists and I have started negotiations with the Swiss authorities with a view to make certain preparations to enable us to establish lists of the future emigrants to Palestine and to approach the people in the camps. As you may well imagine, we have a lot of correspondence with the Zionists in the camps and we have many visitors in our office turning to us for help and advice. There are many lessons to be learned from the personal experiences I have had with these correspondence and visitors. The mentality of many of them is not exactly what it has been in peace-times and our friends in Palestine will have to adopt themselves to this new mentality. The new immigrants will have not such use for the old theories and certainly not for the Byzantine discussions going on between the parties or within certain parties in Palestine. These people have seen so much and have gone through such terrible experiences that words have little meaning to them and only deeds count. This should be born in mind when talking about future Aliyah to Palestine. 5.) I have been repeatedly pressed by Mr. Grünbaum and Mr. Barlas to set up a relief-commission on the lines of the Committee existing in Palestine393 but unfortunately it was not possible for me to do so for a variety of reasons: First of all, it was not possible to act on the same principles which had been adopted in Jerusalem because the situation here is very different. There are here groups and organisations of a local and international character dealing with relief question[s] which we have to consider and the composition of such a relief-committee must necessarily be quite different from what it is in Jerusalem. Then there are also certain personal questions which have made it very difficult for me to pass on the advice given by the Executive or 392 Lichtheim bat Grünbaum, 3000 Zertifikate für Geflüchtete in der Schweiz zur Verfügung zu stellen, die zwischen alleinstehenden Männern und Frauen, Familien sowie Kindern und Jugendlichen aufgeteilt werden sollten. CZA, L22/145, Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 24. April 1944. 393 Auf Anweisung der Büros in Istanbul und Jerusalem sollte Lichtheim parallel zu dem in Jerusalem operierenden Jewish Agency Rescue Committee eine »Kommission für Hilfe und Rettung« in Genf etablieren, in der Vertreter der Jewish Agency, der Agudat Yisra’el, des World Jewish Congress, des Palästina-Amts, des Schweizerischen Zionistenverbands, der Histadrut sowie des He-Ḥaluẓ zusammenarbeiten sollten. Die Gründung kam aufgrund von politischen und persönlichen Differenzen der verschiedenen Akteure nicht zustande.

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Dokument 88

Mr. Barlas and his associates. Finally, I have not had the moral and material support necessary to establish such a commission in the face of the deliberate opposition coming from certain quarters who are only willing to accept solutions which are one hundred per cent in accordance with their own views and have not yet learned that in a difficult and complicated situation as we have to face here, not only compromises are necessary but also a certain measure of loyalty and discipline vis-à-vis the representative of the Agency, whatever they may think of him. It is no use to develop this theme any longer because at present the situation has changed and there is now no need for such a commission as proposed from Jerusalem. But I would like to add that I am closely cooperating with the World Jewish Congress (Dr. Riegner) and also with Marc394 who is doing useful work. |3| These few remarks will give you a general idea of present activities here. There are of course other things to do but I cannot go into too many details. With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim

Dokument 88 Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum Genf, 14. Juni 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; einzelne Buchstaben verwaschen; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/145 June 14th, 1944

RL / DT – A/1. I. Grünbaum, Esq. The Jewish Agency for Palestine, P.O.B. 92 – Jerusalem 394 Marc Jarblum.

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Dear Mr. Grünbaum, I am referring to the last paragraph of my today’s letter to you in answer to your letter of May 1st. As mentioned in that paragraph I have just received a bulletin issued by the Jewish {Agency} Committee for the Jews of occupied Europe, dated February 1944.395 This bulletin contains on its first page figures published by the American Jewish Congress’ Institute of Jewish Affairs, giving the number of missing Jews as five million (which may be more or less correct) and explaining in detail how many Jews have been killed in the various countries of Europe and by what methods they died. Frankly speaking, I think this so-called statistic is absolutely fantastic and is based not on facts or reliable reports, but on the inventiveness of its author. How can anybody know how many dead Jews have been killed by organised murder, how many died “in transit” and how many by starvation and disease? – to say nothing of the last category: {“}died in battle{”} for which there are no statistics at all. One big mistake is contained in this statistic when the number of Jews killed for Slovakia is given with 375 000. There have never been 375 000 Jews in Slovakia. I have a very definite opinion on the number of Jews killed and still alive. My figures are arrived at by the following methods: a) the constant comparing of innumerable verbal and written reports which I have received during these years about the deportations and killings; b) a rough but well-founded estimate of those who are still alive, according to the latest reports from the various countries. I cannot prove it (nobody can prove anything under present circumstances) but I am pretty sure that the following estimate is more or less correct: I believe that the total number of Jews still alive in continental Europe – outside Soviet Russia and Turkey – is somewhere between 1½ million and 1 700 000. I believe that the figure of 1 600 000 comes very near the truth. The details are as follows: [2] A. Jews still living in countries of origin, or hiding there, or deported to a few remaining Ghettoes like in the case of Riga and Kowno (which means not counting those imprisoned in labour camps or concentration camps). 800 000 Hungary Russia (mainly in Old Rumania) 270 000 France 110 000 395 Yad Vashem Archives, P32/11, Bulletins of the »Jewish Agency Relief Committee for the Jews of Occupied Europe«, 1944–1946.

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Dokument 88

Poland Bulgaria Switzerland (including over 20 000 refugees) Italy Holland Belgium Sweden (including refugees) Greece Germany Lithuania Austria (the reports saying that more Jews are left in Germany than in Austria are wrong. There are s{t}ill several thousand Jews in Vienna who are allowed to live there while only a few hundred are living “officially” in Germany, the remainder in hiding) Slovakia Latvia Spain (including refugees) Jugoslavia Protectorate Bohemia (excluding Theresienstadt) Norway and Denmark (many escaped to Sweden) Esthonia (a few remaining, most of them fled to Russia) B. Jews in labour camps or concentration camps Poland (latest figure from November 1943) Germany (mainly Upper Silesia) Theresienstadt Other countries (mainly in France, working in TodtOrganisation, war industries, etc.) Various camps like Vittel, Bergen-Bilsen [sic], Drancy (constantly changing numbers)

100 000 40 000 40 000 30 000 15 000 15 000 15 000 12 000 5 000 5 000 5 000

5 000 4 000 4 000 2 000 2 000 1 000 ?

1 480 000

30 000 50 000 40 000 15 000 5 000

This makes a total of

140 000 1 620 000

This figure is probably too optimistic with regard to the still existing labour camps in Poland, because the mortality there is very high and there are no children left. The figure of 100 000 in Poland mentioned sub A. is based on verbal reports which I have received from refugees who arrived from Poland in the course of the last months. There is no method to calculate the number of those who have been murdered or who died on their way to Poland or have been starved to death. But

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we know what has happened to the large ghettoes and to most of the deported people. I believe that the number of the dead is between 4½ and 5 million, namely 2½ million Polish Jews (of the original 3 million, 3 or 400 000 fled or were sent to Russia and between 100 000 and 150 000 may be still {be} there), over 1 million killed or deported without leaving any trace from all the other countries of continental Europe and probably 1 million killed or starved to death in German-occupied parts of Russia. [3] I do not say that these figures should be taken for granted but from the innumerable messages and reports received, I believe them to be more or less in accordance with the facts which can be established in full detail only afther the war. With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim

Dokument 89 Richard Lichtheim an Yitzhak Grünbaum Genf, 19. Juni 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; einzelne Buchstaben verwaschen CZA, L22/145 June 19th, 1944.

RL / T – A/1 I. Grünbaum, Esq. The Jewish Agency for Palestine P.O.B. 92 Jerusalem Dear Mr. Grünbaum,

I am referring to my two letters of June  14th re material concerning the Jewish position in Europe and concerning statistical data regarding the Jews of Europe.396 396 Siehe Dokument 88.

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Dokument 89

In the second letter dealing with statistics I have mentioned that my figures are based on many reports, verbal and written. In the meantime, I have received a report, which is of greatest importance.397 It confirms with many details what I knew already in a more vague and general way about the fate of the deported Jews of Europe. I cannot forward this report by ordinary mail because it contains too many details and names. The main point is this: We now know exactly what has happened and where it has happened. It appears that very large numbers of European Jews (Polish and others) have been systematically killed not only in the well-known death-camps in Poland (Treblinka398 etc.) but also in similar establishments situated near or in the labour-camp of Birkenau399 in Upper-Silesia.

397 Gemeint ist der Report der slowakischen Juden Rudolf Vrba (1924–2006) und Alfréd Wetzler (1918–1988), denen am 7. April 1944 die Flucht aus Auschwitz gelungen war. Ihr Bericht wurde in Bratislava um den 23. April herum mithilfe des slowakischen Untergrunds angefertigt, unmittelbar ins Deutsche übersetzt und vom slowakischen Zentralkomitee der Juden in Bratislava verbreitet. Zwei Vertreter des jüdischen Untergrunds, Gizi Fleischmannová (1892–1944) und Rabbiner Chaim Michael Dov Weissmandl (1903–1957), sandten den Bericht auch an Nathan Schwalb in Genf, wo er am 17. Mai 1944 eintraf. Kopien dieses Berichts und weiterer Zeugenaussagen sowie Briefe aus Bratislava erreichten am 10. Juni 1944 auch den Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung in Genf, Jaromír Kopecký (1899–1977). Dieser wiederum zog Lichtheims Mitarbeiter Fritz Ullmann ins Vertrauen. Lichtheim muss zwischen dem 14. und 19. Juni 1944 vom Inhalt des Berichts erfahren haben: CZA, L22/566, Richard Lichtheim, Aktennotiz betreffend Birkenau und Auschwitz, 23. Juli 1944. Der Vrba-Wetzler-Bericht ist der Aktennotiz angehangen. Der Bericht ist auf deutsch abgedruckt in: VEJ, Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearb. v. Andrea Rudorff, Berlin 2018, 354–386. 398 Das Vernichtungslager Treblinka, nördlich von Warschau gelegen, war das letzte der im Zuge der »Aktion Reinhardt« im Generalgouvernement errichteten Vernichtungslager. Die Gesamtzahl der in Treblinka ermordeten Personen wird auf 870 000 geschätzt. Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust; Berger, Experten der Vernichtung. 399 Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz in der Nähe der polnischen Stadt Oświęcim bestand aus dem Konzentrationslager Auschwitz I (sogenanntes Stammlager), dem Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) und dem Konzentrationslager Monowitz (Auschwitz III) sowie zusätzlich rund 50 weiteren Außenlagern. Zwischen 1,1  und 1,5 Millionen Menschen, die große Mehrheit davon Juden aus ganz Europa, wurden hier von den Nationalsozialisten ermordet. Sybille Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000; VEJ, Bd. 16.

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There is a labour camp in Birkenau just as in many other places of U ­ pperSilesia, and there are still many thousands of Jews working there and in neighbouring places (Jawischowitz400 etc.). But apart from the labour camps proper there is a forest of birch trees near Birkenau (Brezinky)401 where the first large-scale killings took place in a rather “primitive” manner, while later on they were carried out in the labour camp of B. itself with all the scientific apparatus needed for this purpose, i.e. in specially constructed buildings with gas-chambers and crematoriums. It is stated in this report that very large numbers of Polish Jews (many hundred{s} of thousands) and similar numbers of other Jews first deported to Poland or directly sent to Birkenau in the well-known cattle-trucks from Germany, France, |2| Belgium, Holland, Greece etc. have been killed in these establishments. The bodies have been burnt in specially constructed stoves and the ashes have been used as fertilizers. All those who died by starvation or illtreatment in the various labour camps nearby were also burned in these stoves. The total number of the Jews killed in or near Birkenau is estimated at over one and a half million.402 The report gives many details which are confirmed by a second report received from another source.403 Among the people killed are 4000 Jews who had been transferred to Birkenau from Theresienstadt in September 1943. We had heard of this transfer but at that time we did not know what it meant. The number of Jews in Theresienstadt seems to have remained more or less the same during the last year (about 40 000). We knew that not all Jews who were sent to 400 Das KZ Jawischowitz war ein Außenlager von Auschwitz-Birkenau. Andrea Rudorff, Jawischowitz (Jawiszowice), in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, 262–265. 401 Brzezinka (Birkenau). 402 Vrba und Wetzler geben in ihrem Bericht eine »vorsichtige Schätzung« von 1 765 000 Juden an, die zwischen April  1942 und April  1944 in Auschwitz vergast worden seien. Diese Zahl ist deutlich überhöht. Im Lagerkomplex Auschwitz wurden ca. 1,1 Millionen Menschen ermordet. 403 Lichtheim erreichte zusammen mit dem Vrba-Wetzler-Bericht ein weiterer Bericht, der lange Zeit als »Polish Major’s Report« bekannt war. Dieser stammte von dem Medizinstudenten Jerzy Tabeau (1918–2002), der unter dem Decknamen »Polnischer Major« für den polnischen Untergrund tätig war. Auch Tabeau schätzte die Anzahl der in Auschwitz ermordeten Juden auf über 1,5 Millionen. Beide Berichte wurden im November 1944 in einer Broschüre veröffentlicht und erreichten so eine breite Öffentlichkeit: War Refugee Board (Hg.), German Extermination Camps – Auschwitz and Birkenau, Washington, D. C., 1944. Eine deutsche Version ist abgeduckt in: VEJ, Bd. 16, 298–315.

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Theresienstadt remained there and that for many of them Theresienstadt only served as a transit camp. But until the autumn of 1943 we have never heard that Jews who had been for some time in Theresienstadt were to be transferred to Upper-Silesia. Therefore, we were much puzzled when we learned that several thousand Jews – men, women and children – were suddenly brought to Birkenau from Theresienstadt. But at that time, we believed that it was done to exploit more Jewish labour in the industrial centres of Upper-Silesia. What really happened is this: The 4000 people were treated in Birkenau with special consideration. Members of families were not separated; they lived in special separated quarters and were allowed to keep their luggage. The men were not forced to work and even a school was established for the children.404 The other Jews in the camps were much surprised, especially those “in the know”, because the transport was sent to Birkenau with the following order: “S.B. Transport Tschechische Juden mit sechsmonatlicher Quarantäne.” S.B. means “Sonderbehandlung” and “Sonderbehandlung” means nothing favourable but just the contrary. Exactly after 6 months, on March 7th 1944, i.e. after the “Quarantäne”, all these Jews were brought in lorries to the death-chambers and were gassed and burnt. Only eleven twin-pairs were left alive and were sent to a hospital in Auschwitz for biological experiments.405 404 Im September 1943 wurden in zwei Transporten 5000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert und entgegen der gängigen Praxis keiner Selektion unterzogen; auch durften sie ihr Gepäck und ihre Zivilkleidung behalten. Sie wurden gemeinsam im Lagerabschnitt B II b untergebracht, der bald den Beinamen Theresienstädter Familienlager erhielt. Dort gab es neben einer Schule auch einen Kindergarten. Trotz vergleichsweise priveligierter Behandlung starb ein Viertel von ihnen infolge von Zwangsarbeit und Unterernährung. Nach Ablauf einer sechsmonatigen Frist wurden die noch Lebenden in der Nacht vom 8. zum 9. März 1944 ermordet. Das Lager diente ähnlich wie Theresienstadt den Propagandazwecken des NS-Regimes. Vor ihrer Ermordung wurden die Häftlinge des Familienlagers am 6. März 1944 gezwungen, Postkarten an Verwandte und Bekannte in Theresienstadt zu schreiben und diese auf den 23. oder 24. März zu datieren. Dies stand wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Besuch der Kommission des Internationalen Kommitees vom Roten Kreuz in Theresienstadt. Den Theresien­ städter Häftlingen sollte vorgetäuscht werden, dass es ihren Verwandten in Birkenau gut ginge und sie am Leben seien. In der Forschung wurde auch vermutet, dass das Familienlager für einen ähnlichen Besuch des IKRK dienen sollte. Miroslav Kárný, Das Theresienstädter Familienlager (B II b) in Birkenau (September 1943–Juli 1944), in: Hefte von Auschwitz 20 (1997), 133–237. Allgemein zu Besuchen in Konzen­ trationslagern siehe Kerstin Schwenke, Öffentlichkeit und Inszenierung. Besuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1945, Berlin 2021. 405 Der Arzt Josef Mengele (1911–1979) war seit Mai 1943 an der Selektion und Ermor­ dung jüdischer Häftlinge in Auschwitz beteiligt. Er führte zudem eine Vielzahl medi-

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On December 20th, 1943 a second group of 3000 Jews from Theresienstadt again arrived in Birkenau under the same order: “S.B. Transport mit sechsmonatlicher Quarantäne”.406 Now we know what that means and you may have heard of it a few days ago and yesterday over the B.B.C …407 Tomorrow is the 20th of June, – the day when the “Quarantäne” expires – and we do not know what will happen. But it should be noted that the members of the first group which was killed on March 7th had to write on March 1st to their relatives abroad stating that they were in good health and these letters had to be dated March 23rd or 24th or 25th. Therefore, it will prove nothing if letters will arrive from the second group dated later than June 20th … |3|  I need not mention [sic] that we have made use in all directions of the reports received. I have already mentioned the BBC. Apart from the danger, which is now hanging over the Jews in Theresienstadt, there are large-scale deportations from Hungary. Additional reports just received say that 12 000 Jews are now deported from Hungary every day. They also are sent to Birkenau.408 It is estimated that of a total of one million 800 000 Jews or more so far sent to Upper-Silesia 90 % of the men and 95 % of the women have been killed immediately, without even being registered for work, while the remainder (especially the younger and stronger men) have been distributed among the numerous labour camps in Upper-Silesia. zinischer Experimente an Männern, Frauen und Kindern unterschiedlicher Herkunft durch. Sein besonderes Interesse galt der vergleichenden Zwillingsforschung; 800 Zwillinge fielen seinen Experimenten zum Opfer. Helena Kubica, Dr. Mengele und seine Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz, in: Hefte von Auschwitz 20 (1997), 369–455; Benoit Massin, Mengele, die Zwillingsforschung und die »Auschwitz-Dahlem-Connection«, in: Carola Sachse (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums, Göttingen 2003, 201–254. 406 Im Dezember 1943 und Mai 1944 kamen in mehreren Transporten weitere 12 500 Juden aus Theresienstadt in Birkenau an und wurden im Familienlager untergebracht. Zwischen dem 10. und 12. Juli 1944 wurde auch diese Gruppe ermordet. Von den insgesamt 17 500 Häftlingen des Familienlagers überlebten nur 1294. 407 Ausführlich zur Berichterstattung der BBC über den Holocaust Gabriel Milland, Some Faint Hope and Courage: The BBC and the Final Solution, 1942–45, Dissertation, University of Leicester 1998, hier 228 f. 408 Lichtheim bezieht sich hier auf einen Brief, der Genf gemeinsam mit dem Vrba-Wetzler-Bericht erreichte. Es handelte sich dabei um einen Hilferuf, den Weissmandl und Fleischmannová angesichts der Deportation der ungarischen Juden am 16. Mai 1944 an Schwalb sandten. Der Brief ist abgedruckt in: VEJ, Bd. 16, 391–396.

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Dokument 90

This is the essence of the latest reports and we now know in full detail how, where and when the Jews of Europe have been killed apart from the hundreds of thousands who met their death in the ghettos and death-camps of Poland. Please confirm receipt of this letter by cable. Yours sincerely, R. Lichtheim P.S. The administration of the Camp of Birkenau is subordinated to the camp of Auschwitz (Oswiecim), which is 4  km from Birkenau. All Jews arriving there are first registered in Oswiecim and than [sic] sent to Birkenau while the camp of Oswiecim is now mainly reserved for non-Jews: Political prisoners and other “undesirables.“ Many of these have also perished as a result of ill-treatment and that is why Oswiecim has for long been known as a “deathcamp,“ but the non-Jews have not been slaughtered wholesale on arrival like 90 % of the Jews arriving in Birkenau. R. L.

Dokument 90 Richard Lichtheim an Joseph Linton Genf, 30. Juni 1944 Maschinenschriftliches Telegramm (Abschrift), 1 Seite; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/595 ### linton jewish agency 77 greatrusselstr london urgent for executive and special attention shertok409 stop after receiving new most awful reports from hungary410 all offices of jewish agency and world 409 Moshe Shertok (später Sharett, 1894–1965) war zwischen 1933 und 1948 der Leiter des Politischen Departments der Jewish Agency. 410 Obwohl Ungarn bereits vor Kriegsbeginn eine antisemitische Gesetzgebung verabschiedet hatte und ab 1940 formal ein Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland eingegangen war, hatten Reichsverweser Miklós Horthy (1968–1957)

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jewish congress discussed today situation in united meeting stop unanimously decided to submit to you following proposals in addition to proposals already transmitted first to obtain declaration of allied nations including ussr stating their readiness to receive on their territories at any time any number of hungarian jews also stating that in case germans and hungarians unwilling to let go jews and continuing arrests inhuman treatment deportations and extermination allied nations will use effective countermeasures in their countries second contact representatives free yugoslavs urging aid and cooperation with joels411 people in conformity with his information third try obtain audience with pope for jewish delegation yourself participating fourth arrange public demonstrations and declarations of free hungarian movement london america addressed to hungarian people because brutality of local executive organs even wor{se} than behaviour of occupants and also because und Ministerpräsident Miklós Kállay (1887–1967) dem seit 1942 von deutscher Seite ausgeübten Druck, die jüdische Bevölkerung in die deutschen Vernichtungslager zu deportieren, widerstanden. Nach der deutschen Besetzung gelangte das von Eichmann geleitete Sondereinsatzkommando nach Budapest, um dort die Deportation der ungarischen Juden zu organisieren. Am 15. Mai 1944 begann die Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Auschwitz-Birkenau. Bis Juli wurden etwa 440 000 Juden deportiert. 411 Anfang April 1944 hatten sich die Vertreter des Wa’adat ha-Ezra weha-Haẓala beBudaphesht (Komitee für Hilfe und Rettung in Budapest), Ottó Komoly (1892–1945), Rudolf (auch Rezső oder Israel) Kasztner (1906–1957) und Joel Jenö Brand (1906– 1964), an Eichmanns Stellvertreter in Budapest, SS-Hauptsturmführer Dieter Wisliceny (1911–1948), gewandt, um mit ihm über die Freilassung ungarischer Juden zu verhandeln. Wisliceny hatte bereits in der Slowakei Verhandlungen über den Freikauf von Juden mit dem dortigen Judenrat geführt, die letzlich jedoch im Sande verlaufen waren. Nachdem die beiden Mitglieder des Judenrats in Bratislava, Fleischmannová und Weissmandl, sich in einem Brief an das Budapester Komitee für Hilfe und Rettung für die Seriosität Wislicenys verbürgt hatten, nahm das Komitee die Verhandlungen mit Wisliceny auf. Im Auftrag Heinrich Himmlers wurde den Vertretern des Komitees angeboten, gegen die Lieferung von 10 000 Armeelastkraftwagen, die an der Ostfront zum Einsatz kommen sollten, eine Million Juden freizulassen. Im Zuge dessen reiste Brand nach Istanbul, um Vertretern der Jewish Agency sowie der Westalliierten das Angebot zu unterbreiten; er scheiterte jedoch mit seinem Anliegen. Während sich die Jewish Agency aufgrund fehlender Mittel nicht in der Lage sah, das Angebot anzunehmen, wollten sich die Alliierten auch aus Rücksicht auf ihren sowjetischen Bündnispartner nicht auf den fragwürdigen Handel einlassen. Anne Lepper, Das Netzwerk jüdischer Hilfsorganisationen und die Verhandlungen über den Freikauf von Juden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 10 (2016), 204–218.

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Dokument 91

population does nothing to help or hide jews probably for fear fifth according request krausz412 take steps to obtain granting of palestinian documents of naturalisation for maximum number of certificate holders hungary413 stop try similar action with other governments re granting naturalisation documents for considerable numbers stop situation is such that only extraordinary measures can help regardless of precedents stop please confirm receipt geneva offices jewish agency world jewish congress Exp.: R. Lichtheim, 37, Quai Wilson, Genève, 30.VI.1944.

Dokument 91 Richard Lichtheim / Gerhart M. Riegner an Nahum Goldmann Genf, 16. November 1944 Maschinenschriftliches Telegramm (Abschrift), 2  Seiten; Buchstaben verwaschen; handschriftliche Korrekturen CZA, Z4/30889 To Dr. Nahum GOLDMANN, World Jewish Congress, 1834 Broadway – New York. In view forthcoming conference are transmitting following facts and figures for your guidance414 stop Since 1942 approximately five million fivehundred­ 412 Moshe Krausz (1908–1986) war der Leiter des Budapester Palästina-Amts und Mitglied des dortigen Komitees für Hilfe und Rettung. 413 Krausz drängte darauf, von den britischen Behörden für eine größtmögliche Anzahl an Zertifikatsinhabern in Ungarn palästinensische Naturalisationsbestätigungen einzufordern. Ziel war es, sie so unter die Verantwortung der Schweizer Gesandtschaft als Schutzmacht britischer Interessen stellen zu können und damit vor den Deportationen zu schützen. Zu seinen Aktivitäten siehe auch Ayala Nedivi, Between Krausz and Kasztner. The Struggle for the Rescue of the Hungarian Jews, Jerusalem 2014 [hebr.]; Kirchner, Emissär der jüdischen Sache. 414 Vom 26. bis 30. November 1944 fand in Atlantic City die erste Konferenz des World Jewish Congress während des Kriegs statt. Dort diskutierten Delegierte aus 26 Ländern Möglichkeiten zur Rettung der europäischen Juden; Stephen S. Wise und Nahum Goldmann hielten die Eröffnungsreden. Das Manuskript der Rede Goldmanns befindet sich in den CZA, Z6/2248. Zur Konferenz und den Rettungsaktionen des

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thousand Jews have died in continental Europe stop figures of those deported and killed in deathcamps or starved to death or killed on spot are in thousands: from FRANCE onehundredfifty BELGIUM twentyseven HOLLAND onehundredforty DENMARK two ITALY ten GERMANY onehundredsixty AUSTRIA eighty PROTECTORATE seventy SLOVAKIA eighty JUGOSLAVIA sixtyfive HUNGARY forhundredfifty  [sic] RUMANIA including Bukovina Bessarabia twohundred GREECE mainly Salonica fiftyfive BALTIC STATES twohundredtwenty POLAND twothousandeighthundred stop To this total of four million fivehundredninethousand is to be added number of Jews killed in Russia during German occupation of Ukraine and White Russia mounting to at least one million probably more stop Total number of Jews at present alive in continental Europe outside Russia and Turkey is about one million onehundredsixtysixthousand stop Details as follows: apart from those in concentration camps and labourcamps in Poland Germany Austria there are in thousands: in FRANCE about onehundredtwenty BELGIUM twenty HOLLAND fifteen ITALY twentyfive SWEDEN fifteen including five refugees from Denmark and Norway stop SWITZERLAND fortythree including twentysix refugees SPAIN and PORTUGAL three GERMANY and AUSTRIA ten CZECHOSLOVAKIA two HUNGARY twohundredfifty RUMANIA threehundred BULGARIA fortyfive GREECE twelve POLAND unspecified number hiding probably not more than fifty totalling ninehundredtenthousand stop In addition there are in special camps and labourservice in thousands: Theresienstadt thirtysix Bergen-Belsen and similar camps twenty various labourcamps Poland Silesia Germany Austria approximately twohundred totalling twohundredfiftysixthousand stop There are nowhere exact statistical data obtainable but these figures represent best available information based on many reports stop [2]  Future relief activities and our general policy should take into account these figures stop regarding relief immediate action is required in liberated countries to assist Jewish survivors robbed of all possessions and especially to rescue children stop these problems can only be solved by government assistance stop there are for instance in Rumania onehundredseventythousand Jews completely destitute stop similar situation in France stop Jewish property should be immediately rest##{o}red and administration of property belonging deported Jews should be handed to Jewish bodies stop

World Jewish Congress siehe Zohar Segev, The World Jewish Congress during the Holocaust: Between Activism and Restraint, Berlin / Boston, Mass., 2014, bes. Kapitel 3, 115–167.

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Dokument 92

Thousands of children whose parents died or were deported have been hidden by Gentiles in France Belgium Holland stop Onethousand orphans are in Switzerland stop Care children is one of most urgent duties of world jewry stop considerable numbers of them should be sent to Palestine stop About thirtythousand refugees are in Switzerland Italy Spain stop Stateless Jews of German Austrian origin also most Polish Jews unwilling return to countries of origin stop majority wishes return to France Belgium Holland or to emigrate overseas stop Return to Western countries of former residence so far unsettled stop Many thousands wish to emigrate to Palestine stop Number Jewish candidates from Western Europe for emigration to America is not considerable stop It amounts to some thousands certainly not tens of thousands stop Forecasts regarding future emigration from Central and Eastern Europe especially from Hungary Rumania Bulgaria are not yet possible stop such emigration will depend on political and economic developments in these countries stop Judging from present experiences considerable numbers will certainly go to Palestine if possible stop please confirm receipt Richard Lichtheim

Gerhardt Riegner

Dokument 92 Richard Lichtheim an die Exekutive der Jewish Agency Genf, 8. Dezember 1944 Maschinenschriftliches Telegramm (Abschrift), 1 Seite; handschriftliche Korrekturen; veraltete handschriftliche Archivsignatur oben links (»L22/135«) CZA, L22/144 =alt= executive jewish agency jerusalem situation hungary end november as follows stop majority of 250 000 jews budapest dispersed stop since end october about onehalf composed of men between sixteen sixty women fo{u}rteen fourty sent on foot labourservice austria415 other half mainly old sick pregnant women children evacuated to ghettos outside budapest stop apart group 1650 now here from bergen 415 Nach dem Sturz Horthys übernahm die faschistische Pfeilkreuzlerpartei unter Ferenc Szálasi (1897–1946) mithilfe der Nationalsozialisten am 15. Oktober 1944 die Regierungsgewalt in Ungarn. Danach wurden Tausende Budapester Juden, überwiegend

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belsen416 there are two specially protected groups still comparatively safe budapest exempted from deportation labourservice namely first some hundred leaders community among them krausz komoly417 working under protection redcross foreign legations second many thousand bearers foreign papers palestine certificates418 stop of this second group about 7000 holders palestine certificates 4500 swedish passports expected here switzerland having granted admission but not arrived so far419 stop there is still hope that at least part

Frauen, in einem Gewaltmarsch in Richtung österreichische Grenze getrieben, um dort Schanzen für die Verteidigung von Wien zu bauen. 416 Hier handelte es sich um den sogenannten Kasztner-Transport. Parallel zu den Bemühungen Joel Brands (siehe Dokument 90) hatte Kasztner in Budapest mit ­Eichmann und SS-Standartenführer Kurt Becher (1909–1995) verhandelt. Ihm war es gelungen, als Beweis für die Ernsthaftigkeit des deutschen Angebots die Ausreise einer gewissen Anzahl Juden durchzusetzen. Gegen die Bezahlung von Gold, Diamanten und Bargeld durften Ende Juni fast 1700 Juden Budapest verlassen. Der Transport fuhr allerdings nicht wie versprochen auf direktem Wege in die Schweiz, sondern nach Bergen-Belsen; er gelangte erst im August (318 Personen) beziehungsweise im Dezember 1944 (1350 Personen) in die Schweiz: Stanislaus Löb, Art. Kasztner-Affäre, in: Diner (Hg.), EJGK, Bd. 3, 333–338. 417 Ottó Komoly (auch bekannt als Nathan Kohn, 1892–1945) war ein ungarischer Ingenieur und zionistischer Funktionär. Komoly war Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung in Ungarn sowie des Anfang 1943 gegründeten Komitee für Hilfe und Rettung in Budapest. In dieser Funktion arbeitete er eng mit dem Roten Kreuz zusammen. Er wurde Anfang 1945 von den Pfeilkreuzlern getötet. 418 Nach der Deportation der Juden aus der ungarischen Provinz verblieben noch rund 200 000 Juden in Budapest. 100 000 von ihnen wurden Anfang Dezember 1944 gettoisiert. Die andere Hälfte tauchte unter oder stand unter dem diplomatischen Schutz der Gesandtschaften neutraler Staaten. Rund 8000 ungarische Juden befanden sich im Besitz von Palästina-Zertifikaten und nach langwierigen Verhandlungen gestatteten die deutschen Besatzungsbehörden im Sommer 1944 dem Schweizer Vizekonsul Carl Lutz (1895–1975), die Zertifikatsinhaber als quasi-britische Staatsbürger unter die Obhut der Schweizer Botschaft zu stellen. In den folgenden Monaten stattete Lutz Tausende ungarische Juden mit Schweizer Schutzpässen aus und brachte sie in der Botschaft unter. Davon angeregt, stellten auch der schwedische Gesandte Raoul Wallenberg (1912– keine gesicherten Lebensspuren nach 1947), die Vertreter Spaniens und Portugals, der päpstliche Nuntius Angelo Rotta sowie Friedrich Born (1903–1963) vom IKRK eigenmächtig sogenannte Schutzpässe aus. Auf diese Weise wurden Tausende Juden gerettet. 419 Sowohl die ungarischen als auch die deutschen Stellen signalisierten im Herbst 1944 die Bereitschaft, ca. 7–8000 Zertifikatsinhaber sowie weitere 4500 Inhaber schwedischer Papiere über die Schweiz ausreisen zu lassen. Die Schweiz wiederum hatte sich

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Dokument 93

will arrive if general situation permits stop this matter not connected with arrangement concerning arrival group via bergen belsen stop successful protection these categories and eventual release due to repeated interventions redcross protecting power papal nuncio swedish legation budapest stop our office was instrumental in obtaining protection and promise release by submitting during last months various suggestions to american british swiss authorities berne420 stop confer kahanys memoranda forwarded to linton421 stop everything done officially no expenditure involved apart ordinary relief stop swiss government granted special loan one million 400 000 francs for shelter maintenance incase arrival lichtheim Exp.: R. Lichtheim, 37, Quai Wilson, Genève, 8.12.1944.

Dokument 93 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 14. Dezember 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; einzelne Buchstaben verwaschen; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen CZA, L22/103 [Lichtheim berichtet über die Situation in Ungarn nach dem deutschen Einmarsch und informiert über Verhandlungen, um die dort verbliebenen Juden zu retten. Trotz der Ankunft des Kasztner-Transports in der Schweiz, warnt er davor, anzunehmen, dass ähnliche Verhandlungen Erfolg versprechen würden. Weiterhin thematisiert er die Lage von jüdischen Überlebenden in den befreiten Gebieten Kroatiens und Frankreichs. Zudem skizziert er Versuche, den Transport jüdischer Geflüchteter aus der Schweiz nach Palästina zu organisieren.]

nach Verhandlungen mit den Alliierten Ende Oktober / Anfang November 1944 dazu bereit erklärt, diese Personen aufzunehmen und für deren Versorgung aufzukommen. Letztlich wurde diesen beiden Personengruppen aufgrund der militärischen Entwicklungen nicht gestattet, aus Ungarn auszureisen. Siehe Dokument 94. 420 Die Genfer Emissäre der Jewish Agency haben in zahlreichen Unterredungen mit den amerikanischen und britischen Gesandten in der Schweiz auf die Rettung ungarischer Juden gedrängt. 421 CZA, Z4/30889, Menachem Kahany, Memo Nr. 104, 16. November 1944.

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{Kopien: an Locker durch Kop.,422 an Goldmann per Luftpost} December 14th, 1944. RL / DT – A/3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 – Jerusalem Letter Nr. 1421 Dear Lauterbach, After a long interval, I am trying to renew our regular correspondence. Yesterday, the postal authorities here have announced that letters to Great Britain and the English dominions and colonies can be sent via Cherbourg.423 Therefore, I hope this letter will reach you. I cannot in one letter report on all the subjects with which we have been dealing in the course of the last months. I therefore confine myself to a few remarks about the general situation and our activities here. 1.) Hungary: I have sent a number of telegrams to the Executive, explaining the situation in Hungary. This large Jewish community has also been destroyed and we cannot i¦y¦et know how many or how few of its members will be found once the war is over. After the large-scaled deportations which aroused a storm of protest,424 there remained in Hungary about 250 000 or 300 000 Jews, mainly concentrated in Budapest. During some weeks, there was justified hope that at least this part of Hungarian Jewry would be spared as a result of innumerable protests and interventions in which we have taken part as best we could. But then came the abortive attempt of Horthy to obtain an armistice, the occupation of Budapest by the Germans and the terror-regime of Szálasi.425 The result was that a quarter of a million Jews have again been driven out, one half on foot to Austria for the labour-service, the other half to barracks or 422 Wahrscheinlich handelt es sich hier um Jaromír Kopecký. 423 Hafenstadt in der Region Normandie in Nordfrankreich. 424 Nach der Zirkulation des Vrba-Wetzler-Berichts kam es zu einer Welle internationalen Protests, woraufhin Horthy die Deportation am 7. Juli 1944 zunächst stoppen ließ. 425 Ferenc Szálasi (1897–1946) war ein ungarischer, faschistischer Militär und Politiker. Von 1935 bis 1945 war er Parteiführer der faschistischen Partei der Pfeilkreuzler. Vom 16. Oktober 1944 bis zum 28. März 1945 war er Regierungschef und Staatsoberhaupt in den noch nicht von der Roten Armee besetzten Teilen Ungarns. Er kollaborierte bereitwillig mit dem NS-Regime.

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ghettoes around Budapest.426 Only a privileged group remained, i.e. the leaders of the community, holders of Palestine certificates and Swedish passports and also of some other foreign passports. You will be aware that negotiations have been going on to obtain the release at least of this group, Switzerland having granted their admission here. In these negotiations our office has taken a very active part by submitting over a number of weeks various suggestions and proposals to the British and American legations and to the Swiss authorities in Berne. Last month a definite promise was received from the German and Hungarian authorities in Budapest concerning the release of these persons, but sofar they have not arrived possibly owing to transport difficulties or perhaps for some other reason.427 You also know that meanwhile two groups of Hungarian Jews have arrived here via Bergen-Belsen, altogether some 1650 persons.428 This is a different story and there seems to be no direct connection between the arrival of this group and the above-mentioned negotiations in which we have taken part. The credit for this achievement belongs to others, as well as the methods by which the result was obtained. It is a very complicated matter and cannot yet be described in full details, the more so as we ourselves are not yet in possession of all the facts, some of them being known only to the community leaders in Budapest.429 Anyhow, this group has arrived and now at least these 1650 persons are safe in Switzerland, the government having admitted them and sheltering them with the assistance of the Joint and other bodies. |2|  Among them are many well-known personalities as for instance the old senator Dr. Theodor Fischer,430 the well-known Zionist leader Dr. Jozef Fischer,431 our friend Dr. Buk and his wife.432 Dr. Nison Kahan433 with wife, 426 Nach der Machtübernahme der faschistischen Pfeilkreuzlerpartei wurden im Winter 1944/1945 Tausende Juden aus Budapest an den Ufern der Donau ermordet und Zehntausende auf Todesmärsche in Richtung österreichische Grenze gezwungen. 427 Siehe Dokument 92. 428 Hierbei handelte es sich um Gerettete durch den sogenannten Kasztner-Transport, siehe ebd. 429 Zu den Versuchen, die ungarischen Judenheiten zu retten, siehe Friling, Arrows in the Dark, Bd. 2, 3–69. 430 Theodor (Tivadar) Fischer (1881–?) war ein ungarisch-rumänischer Politiker und zionistischer Funktionär. Er war Mitglied des Judenrats im Getto Cluj / Kolozsvár. 431 Joszef Fischer (1890–?) war Präsident der jüdischen Gemeinde Cluj / Kolozsvár. Kasztner war seit 1934 mit Fischers Tochter Elisabeth verheiratet. 432 Nicolaus Buk (1903–?) war ein ungarischer Professor für Wirtschaft und seine Frau Hermine Buk-Fried (1903–?) war Lehrerin für Sprachen. 433 Nison Kahan (1883–1949) war ein ungarisch-jüdischer Rechtsanwalt und zionisti­ scher Funktionär. Er war Mitglied des von den Nationalsozialisten eingesetzten ungarischen Judenrats. Er war zudem im Komitee für Hilfe und Rettung in Budapest aktiv.

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daughter and son-in-law, and many others. Many of the names will be known to you because numerous telegrams have certainly arrived in Palestine informing their relatives and friends.434 2.) With regard to the above-mentioned negotiations and similar efforts which are being constantly made, I would like to draw your attention to the following fact which you should impress on all our friends there and especially on those responsible for the conduct of our affairs: It is a mistake to believe that what has been possible in one case is also possible in other cases which, to the outside observer, seem to be of the same or a similar kind. Many people in Palestine believe that just as certificate holders or passport holders in the specific case of the Hungarian group of Bergen-Belsen have been released and have reached Switzerland, so also other groups in possession of similar papers could be freed and could reach this or other neutral countries. Unfortunately this is not the position. If things were as easy as that then my job here would not be as unpleasant as it is. Each case is different from the other. In the case of Hungary, a special situation had been created by the world-wide protest-movement and by the promises given by the Hungarian government under Horthy. While the Szálasi authorities and the local German authorities were no longer willing to honour these promises in full, there still remained a certain tendency to meet with at least part of the demands constantly impressed upon them by the protecting power and others. This explains the acceptance in principle of the larger scheme in which we have taken part as mentioned above, resulting if not in the actual release of the 12 000 persons, at least in their protection against deportation, and it may also explain to a certain extent the arrival of the group from Bergen-Belsen. I must, to my deep regret, emphasize the fact that all this does not create a precedent with regard to all other certificate-holders or bearers of foreign passports in Theresienstadt, or Poland or in the various labour camps. Please tell the Executive that we are doing our best and that we are constantly trying to explore every possibility. If we cannot always do what well-meaning people in Palestine are asking us to do, then it is certainly not due to a lack of understanding or energy on our part, nor to a lack of good-will on the part of the protecting power or the foreign legations here, but it is due to the unwillingness of the Germans to meet such requests und their way of simply not answering questions and demands placed before them by the neutral countries, the Red Cross, etc. 434 Eine unvollständige Namesliste der Überlebenden des Kasztner-Transports: Egon Mayer (Hg.), Kasztner Memorial, (11. April 2022).

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3.) Croatia: I have just received information that in Croatia from where there has been practically no news for many months, about 1200 Jews have been found in the now liberated parts of the country. Another 500 or 600 Jews are with the Tito-troops. Thus, altogether about 1800 Jews are still alive in Croatia and possibly some more in the not yet liberated parts of the country. In the liberated parts they are now free, but their economic situation is awful and they are asking for help and if possible, for an opportunity to leave the country and to emigrate to Palestine. 4.) With regard to other countries, I do not wish to give you more details in this first letter. On November 17th, I have written to Locker435 and have sent him copy of a long cable which I have sent on November 16th, together with Dr. Riegner of the World Jewish Congress, to Nahum Goldmann in order to inform him before the conference in America started.436 I have asked Locker to forward copy of this letter and of the annexed cable to Jerusalem and I hope that meanwhile it has reached the Executive. This cable contains a comprehensive survey of the number of Jews still alive in various countries. |3|  5.) In the liberated parts of Europe, new problems have arisen. The Jews in France (about 120 000) are now trying to reoccupy the#{i}r former positions, shops, flats, houses, etc. which is a very natural and certainly a demand with which the new French government should comply. But there are great difficulties because as in all belligerent countries there is a shortage of housing, of food, supplies, etc. and it is not easy for the Jews to reoccupy their former positions. There are also legal questions, especially with regard to the former German and Austrian Jews who have been deprived of their German nationality by the Nazis but are now again regarded as Germans and Austrians. You can easily imagine what sort of legal questions have to be settled before these people can go free and can obtain what is left of their property. A similar problem exists in Belgium where the number of former German and Austrian Jews is quite considerable. Most of them have been in hiding or have been living with false papers. About these and other problems we have had a lengthy discussion with Sir Herbert Emerson437 and Mr. Kullmann438 who came here in the second half of November. Sir Herbert Emerson told us that while in Brussels he had 435 Berl Locker (1887–1972) war ein führendes Mitglied der Jewish Agency in London und später Abgeordneter in der Knesset. 436 Siehe Dokument 91. 437 Herbert Emerson (1881–1962) war Hoher Flüchtlingskommissar beim Völkerbund. 438 Gustave G. Kullmann (1894–1961) war Stellvertreter des Hohen Flüchtlingskommissars.

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taken up this matter with the Belgian government in order to find a practical solution. 6.) A few days ago Dr. Schwartz439 has arrived from Lisbon and I have had several talks with him and Saly Mayer on conditions in Europe, relief-work and emigration from Switzerland. You are aware that we have some 26 000 Jewish refugees in Switzerland (with the Hungarian group about 28 000), several thousand of them wishing to emigrate to Palestine. On this subject I had an exchange of telegrams with the Agency Executive in London and Jerusalem. At present we are trying to organize a first transport of about 200, partly children, partly Halutzim [sic], partly bearers of old certificates dating from pre-war times. You know that 1000 certificates have been allotted to Switzerland, which is by far not sufficient. With regard to transport from Switzerland, great technical difficulties are in our way because the French and American authorities are not yet prepared to let people travel freely from or to Switzerland via France. Even the postal communications with France are not yet re-established. For instance, we cannot write to Jarblum but can only send him messages from time to time by official channels. This is all for today because I have no time to go into more details and cannot cover the whole field of our activities during the last months in one letter. I am sending you under separate cover the last numbers of “Informations de Palestine”440 and of our newsletters in German language. From this, you will see that we are continuing our information service. I am sending a copy of this letter to London and New York. With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim

439 Joseph J. Schwartz (1899–1975) war von 1940 bis 1949 der europäische Direktor des JDC. 440 Die Informations de Palestine war die Zeitschrift der von Moshe Kahany geleiteten Jewish Agency Vertretung beim Völkerbund. Sie erschien zweimal monatlich in französischer Sprache und zirkulierte hauptsächlich in der Schweiz, der unbesetzten Zone Frankreichs und den französischen Kolonien sowie in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Ägypten und Palästina.

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Dokument 94

Dokument 94 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 23. Dezember 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite, mit zwei Berichten über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Ungarn, 4 Seiten und 2 Seiten; beide Anhänge ab Seite 2 mit maschinenschriftlicher Paginierung; maschinenschriftliche und handschriftliche Korrekturen; Buchstaben stark verwaschen CZA, L22/103 [Angesichts der dramatischen Lage in Ungarn berichtet Lichtheim von Überlegungen, zusätzliche Palästinazertifikate auszustellen, um den Schutz ungarischer Juden zu erhöhen. Zudem leitet er Berichte über die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten sowie der Pfeilkreuzler-Regierung weiter. Diese schildern Deportationen, die Errichtung des Gettos in Budapest sowie die dortigen Zustände, Verschleppungen zu Zwangsarbeit, gewalttätige Übergriffe, Pogrome und Todesmärsche.] den 23. Dezember 1944.

RL / T-A/3 Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem Brief Nr. 1425 Lieber Lauterbach,

1. In der Anlage sende ich Ihnen eine Zusammenfassung verschiedener Berichte, die wir in den letzten Tagen von Krausz über die Lage in Budapest erhalten haben, nebst Auszügen aus verschiedenen Zeugenaussagen. 2. Wie furchtbar die Lage ist sehen Sie aus diesen Berichten. Der konkrete Vorschlag, den Krausz macht – nämlich den Schutz durch Palästina-Zertifikate und sonstige Dokumente auf eine grössere Zahl auszudehnen – haben wir sehr eingehend in einer Sitzung behandelt, an der ausser mir Dr. Nison Kahan, Dr. Theodor Fischer, Dr. Riegner vom Weltkongress, Dr. Scheps, Dr. Pozner441 441 Chaim Posner (auch Pozner, später Haim Pazner; 1899–1981) war ein zionistischer Funktionär aus Polen. Nach seiner Vertreibung aus Danzig leitete er in den 1940er

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vom Palästina-Amt, Dr. Kahany, Dr. Ullmann, Nathan Schwalb und noch ein oder zwei Herren teilnahmen. 3. Wir beschlossen, alle uns zugänglichen Wege zu beschreiten, um vielleicht doch noch durch die Schutzmacht eine Ausdehnung des Schutzes auf eine grössere Personenzahl zu erreichen. Leider dürfte nicht viel dabei herauskommen u. zw. aus folgenden Gründen: a) Bei den diesbezüglichen Verhandlungen zwischen der Schweizer Gesandtschaft in Budapest und den deutsch-ungarischen Behörden haben die Deutschen erklärt, dass sie nicht mehr als 7800 Personen für die Palästina-Auswanderung anerkennen wollen (diese zusammen mit den Inhabern schwedischer Pässe sollten nach [sic] die Schweiz kommen, sind aber nicht eingetroffen, wie es heisst, weil keine Wagons mehr verfügbar waren.)442 b) Die Zustände in Budapest sind bereits völlig chaotisch und es ist eigentlich keine Regierung mehr da, mit der man verhandeln kann. Pfeilkreuzler und untergeordnete Beamte tun was sie wollen. Trotzdem haben wir noch einmal versucht, der Schutzmacht nahezulegen, einen erneuten Druck auszuüben. Mit besten Grüßen Ihr R. Lichtheim [|1|]

Die Vernichtung der Budapester Judenheit

Die Vernichtungsaktion in der Provinz Aus einem uns letztens zugekommenen Budapester Bericht, der sich auf die Geschehnisse bis Anfang Dezember bezieht, entnehmen wir folgende Angaben: Am 21. März 1944 besetzten die Deutschen Ungarn und bereits im April begannen sie mit der Konzentration der Juden in Ghettos. Im Mai setzte in der ungarischen Provinz die Deportation der Juden ein und zum 15. Juli war bereits das ganze Land inbegriffen Siebenbürgen, Karpato-Russland und das serbische Südungarn „judenrein“. Ueber 600 000 Juden der ungarischen Pro-

Jahren das Palästina-Amt in Genf und arbeitete in der Finanzabteilung der Jewish Agency. 442 Siehe Dokument 92.

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vinz wurden in zwei Monaten deportiert, der grösste Teil mit der Bestimmung ins Vernichtungslager Auschwitz. In Budapest wurden  [sic] von der Deportation zunächst bloss die in Budapest und Umgebung in Konzentrationslagern verhafteten ungefähr 10 000  Juden betroffen,443 während ungefähr 250 000 Juden, wenn auch ihres Mobil- und Immobilvermögens beraubt und in sogenannten Judenhäusern444 zusammengepfercht, in Budapest belassen wurden. Auf Grund einer von der ungarischen Regierung gemachten Zusicherung,445 bestand die Hoffnung, dass zumindest dieser Rest der ungarischen Judenheit der Vernichtung entgehen würde. Szalasy [sic] an der Macht Pfleilkreuzlerterror in Budapest Nach der Machtübernahme der Pfeilkreuzler und ihres Führers Franz Szalasy am 15.  Oktober gestaltete sich jedoch die Lage auch dieser 250 000 Juden katastrophal und gleich nach der Machtergreifung veranstalteten die Pfeilkreuzler mit Unterstützung der deutschen Truppen ein Pogrom.446 Unter dem Vorwande, die Juden hätten in ihren Häusern Waffen angehäuft und aus den Häusern geschossen, fuhren deutsche Panzerwagen auf, die Judenhäuser wurden mit Geschützen beschossen, Juden wurden aus den Häusern auf die Strassen gezerrt und durch die Pfeilkreuzler aufs grausamste hingemordet. Diesem Pogrom fielen mehrere tausend Juden zum Opfer. Am 16. Oktober wurde für alle Juden ein Ausgehverbot angeordnet, das 5 Tage lang dauerte und den Juden die Versorgung mit Lebensmitteln unmöglich machte. Auch dieser barbarischen Massregel fielen schon in den ersten Tagen des Szalasy Regimes viele Juden zum Opfer.

443 Aus den Außenbezirken Budapests wurden Ende Juni rund 17 500 Juden nach ­Auschwitz deportiert. 444 Am 16. Juni 1944 hatte der Bürgermeister von Budapest ein Dekret erlassen, demzufolge die rund 200 000 Budapester Juden in Häuser umziehen mussten, die mit einem gelben Davidstern markiert waren. 2639 solcher »Judenhäuser« existierten in der ungarischen Hauptstadt. Sie dienten als Ersatz für ein Getto und der Vorbereitung der Deportationen. 445 Aufgrund internationaler Proteste hatte Horthy die Deportationen am 7. Juli 1944 stoppen lassen. 446 In Budapest wurden in den ersten Tagen nach der Einsetzung der Regierung Szálasis einige Hundert Juden ermordet.

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Ghetto in Budapest Dann begann die Konzentrierung der Juden in einem Ghetto.447 Einige Strassen in dem dicht bevölkerten Judenviertel in der Nähe der Synagoge in der Tabakgasse wurden als Judenghetto ausersehen und die Juden wurden |2| gezwungen innerhalb einiger Tage unter Hinterlassung ihrer noch übriggebliebenen geringen Habseligkeiten aus den übrigen Stadtvierteln in dieses Ghetto zu übersiedeln. Ungefähr 14 000 Juden, die mit Palästina-Zertifikaten oder Schutzbriefen der Schweizer und schwedischen Gesandtschaft versehen waren oder unter dem Schutze des Internationalen Roten Kreuzes standen, wurden einige Häuser in dem vornehmen Stadtviertel in der Nähe der Margarethenbrücke zugewiesen. Diese Juden wurden unter internationalen Schutz gestellt und sollten vereinbarungsgemäss in [sic] einem späteren Zeitpunkt ihre Reise in die Schweiz antreten.448 Leider ist die Zahl der diesen Schutz geniessenden Juden wesentlich kleiner als die, für die an sich Schutzdokumente bestimmt waren. Insbesondere ist durch einen Fehler bei den Verhandlungen die Anzahl der Palästina-Zertifikatsinhaber nach der Kopfzahl festgesetzt worden, während die Palästinazertifikate grundsätzlich für Familien gültig waren, wodurch ein vielfaches der Personen hätte geschützt werden können. Deportation zum „Arbeitseinsatz“ Eine Regierungsverordnung verpflichtete alle arbeitsfähigen Juden zum Arbeitsdienst bei Befestigungsarbeiten. Männer bis 60 Jahre und Frauen bis 40 Jahre waren dieser Dienstpflicht unterworfen und 50 000 Juden beiderlei Geschlechts sollten Deutschland zum Arbeitsdienst übergeben werden, doch erhöhte sich ihre Zahl später auf mehr als 100 000. Die übrigen arbeitsfähigen Juden sollten Schanzarbeiten in der Umgebung von Budapest verrichten. Bloss Greise, Kinder und Kranke durften im Ghetto verbleiben und auch sollten die mit Schutzpässen versehenen Juden von der Arbeitspflicht befreit bleiben, doch wurde die Zusage in vielen Fällen nicht eingehalten. Die 447 Am 13. November 1944 beschlossen die Pfeilkreuzler die Einrichtung eines Gettos im Budapester Stadtviertel Erzsébetváros (Elisabethstadt), dem Zentrum der jüdischen Gemeinde. Bis zum 2. Dezember wurden die meisten Juden der ungarischen Hauptstadt dorthin verschleppt. Das Getto wurde am 17./18. Januar 1945 von der russischen Armee befreit. Etwa 70 000 Menschen überlebten die Internierung im Getto. 448 Die Inhaber von Schutzpässen und ihre Familien standen unter diplomatischem Schutz und wurden häufig in von den Botschaften und Konsulaten angemieteten Häusern untergebracht. Der exterritoriale Status dieser Gebäude wurde jedoch nicht immer respektiert, sodass auch viele Schutzpassinhaber dem Terror der Pfeilkreuzler zum Opfer fielen. Siehe auch Dokument 92.

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Assentierung für den Arbeitsdienst wurde in der Weise durchgeführt, dass die Juden in einer Ziegelei449 auf der Budaer Stadtseite unter freiem Himmel zusammengetrieben wurden, dort mehrere Tage ohne jedwede Verköstigung, hungern und frierend bei strömendem Regen ausharren mussten, bis an sie die Reihe kam. Mit der Durchführung der behördlichen Massnahme wurden jugendliche Pfeilkreuzler betraut, die sich die grausamsten Misshandlungen zu Schulden kommen liessen, völlig eigenmächtig verfuhren, und Greise, Kranke und Kinder und sogar Besitzer von Schutzpässen in die Ziegelei verschleppten und zum Arbeitsdienst zwangen. Die Schutzpässe wurden vielfach den Betroffenen weggenommen und zerrissen. Mehrere tausend Leute wurden in der Synagoge in der Tabakgasse zusammengepfercht, dort blutig geschlagen und 5 Tage ohne jede Nahrung eingeschlossen. Sehr viele erlagen den Martern, dasselbe war auch in der Ziegelei der Fall und die Toten wurden dort in den Ziegelöfen kurzerhand verbrannt. |3| Die furchtbare Not# in Budapest Sowohl im Ghetto als auch in den internationalen Schutzhäusern herrschte unbeschreibliche Not. Es fehlte an Lebensmitteln, da dieselben nur unter grössten Schwierigkeiten herbeigeschafft werden konnten und die sanitären Verhältnisse in allen Häusern waren unbeschreiblich. In Häusern, die für 100–200 Personen gebaut waren, hausten mehrere tausend Menschen, auf Treppen, Hausfluren und in den Kellerräumen und unter den Dächern. Für ärztliche Behandlung konnte kaum gesorgt werden. Viele fielen der Ruhr und anderen epidemischen Krankheiten zum Opfer. Viele Hunderte wurden als Folge der ausgestandenen Qualen geisteskrank. Ueberfälle der Pfeilkreuzler auf die Ghettohäuser waren an der Tagesordnung. Ganze Häuser wurden von den Pfeilkreuzlern plötzlich überfallen, sämtliche Einwohner aus den Häusern auf die Strasse geschleppt und sofort abgeführt. Ihr Schicksal blieb unbekannt. Andere Häuser wurden gänzlich ausgeraubt, Schiessereien waren tagtäglich zu hören und es verging kein Tag, wo nicht Hunderte von Juden straflos ermordet wurden. Was mit den Juden, die zu Schanzarbeiten in die Umgebung von Budapest hinausgetrieben wurden, geschah, konnte bisher nicht festgestellt werden. Es fehlt jedwede Spur von ihnen. Bloss soviel wurde bekannt, dass diese Arbeits449 Der ungarische Verteidigungsminister Károly Beregfy (1888–1946) hatte am 26. Oktober 1944 die Überstellung von 70 Arbeitskompanien an das Deutsche Reich angeordnet. Daraufhin wurden über 70 000 Juden in die Ziegeleien von Óbuda konzentriert und am 8. November 1944 von dort zu einem Fußmarsch in Richung der österreichischen Grenze gezwungen. VEJ, Bd. 15: Ungarn 1944–1945, bearb. v. Regina Fritz, Berlin / Boston, Mass., 2021, 75.

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dienstler nicht der Militärbehörde, sondern den Befehlen und den Misshandlungen der Pfeilkreuzler-Banden unterstellt wurden. Der Fussmarsch der Hunderttausend zur österreichischen Grenze Ueber die an Deutschland abgetretenen Arbeitsdienstler hingegen liegen Berichte vor. Mehr als 100 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder mussten den Marsch nach der österreichischen Grenze zu Fuss antreten, nachdem sie zuvor aller ihrer Habseligkeiten und auch ihrer Personaldokumente beraubt worden waren. Der Weg von Budapest ging über Komaron450 nach Hegyeshalom451 und betrug rund 220 km. Diesen Weg mussten die Unglücklichen in endlosen Marschkolonnen in 8 Tagesmärschen zu Fuss meist bei strömendem Regen zurücklegen. Für eine Verköstigung, ärztliche Behandlung der Kranken oder sonstige Hilfe wurde nicht vorgesorgt. Die Hungernden erhielten während des ganzen Marsches höchstens jeden 2. Tag eine dünne Suppe zu trinken. Während des Marsches war jede Berührung mit der Bevölkerung unmöglich, so konnten auch keine Lebensmittel unterwegs besorgt werden, selbst ¦nicht¦ wenn es einzelnen Deportierten gelungen war, trotz der in Buda durchgeführten Leibesvisitation irgendwelche Geldmittel zu verstecken. Sehr viele erlagen schon unterwegs den fürchterlichen Strapazen. Wer nicht mitkommen konnte und hinter der Marschkolonne zurückblieb, wurde von der |4| Bewachungsmannschaft, ungarischen Gendarmen und Pfeilkreuzlern, unbarmherzig niedergeschossen. Bevor die Marschkolonne Hegyeshalom erreichte, waren bereits 1/4 der Deportierten tot. Von der Gestapo-Ueber­ nahmekommission wurden zur Weiterbeförderung nach Deutschland bloss gesunde Männer und Frauen übernommen. Kranke, Greise, schwangere Frauen wurden zurückgewiesen und da die ungarische Regierung sich weigerte diese Unglücklichen zurückzunehmen, wurden sie in Hegyeshalom in einem nahegelegenen Walde kümmerlich untergebracht, ohne dass für ihre Verpflegung und Behandlung vorgesorgt worden wäre. Der mit der Ueberwachung der Unglücklichen betraute ungarische Gendarmerie-Offizier behauptete mit den Juden überaus „human“ vorzugehen, da er den Toten, wie er sagte, ein „christliches Begräbnis“ angedeihen lasse. In Hegyeshalom wurden den deutschen Behörden auch 2000 ungarischjüdische Arbeitsdienstler übergeben, die in den serbischen Kupferbergwerken in Bor militärischen Arbeitsdienst geleistet hatten. 2000 dieser Arbeitsdienstler hatten die ungarischen Begleitmannschaften unterwegs niedergeschossen. Die in Hegyeshalom angelangten Arbeitsdienstler kamen nach mehrwöchi450 Komárom ist eine nordwestlich von Budapest gelegene Stadt. 451 Hegyeshalom liegt etwa 35 Kilometer südlich von Bratislava an der ungarisch-österreichischen Grenze.

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gem Fussmarsch buchstäblich barfuss und halb nackt in einem fürchterlichen Zustande an. Das Schicksal der Ueberlebenden In Budapest dürften Anfang Dezember nur noch zirka 75 000 Juden übrig geblieben sein. Was seitdem geschehen ist, darüber fehlen nähere Berichte. Die Regierung Szalasy hat es darauf abgesehen, alle ungarischen Juden zu vernichten und wird in diesem Vorhaben von den deutschen Besatzungsbehörden allenfalls unterstützt. Szalasy selbst soll erklärt haben, er bitte niemanden um Gnade, er werde aber auch den Juden keine Gnade gewähren. So treibt das Schicksal dieser Budapester Judenheit seinem Ende entgegen. Zu den Schrecken von Auschwitz und Majdanek gesellt sich als neues Bild unfassbaren menschlichen Grauens der Märtyrermarsch der Hunderttausend zur österreichischen Grenze. Die Ueberlebenden der auf den aufgeweichten Landstrassen Ungarns und Oesterreichs sich kümmerlich hinschleppenden Marschkolonnen, die unter dem brutalen Terror der Pfeilkreuzler im Budapester Ghetto dahinvegetierenden Greise, Kinder und Frauen – sie alle gehen ihrem sicheren Tode entgegen, wenn nicht in letzter Stunde eine helfende Hand von aussen sich ihnen entgegenstreckt und dem ruchlosen Treiben ihrer Verfolger Einhalt gebietet. [|1|]

PFEILKREUZLER-TERROR IN BUDPAEST Berichte von Augenzeugen

I. Frau X. berichtet: „In der Nacht vom 15. zum 16. November erschienen im Hause in der … Strasse in Budapest 3 Pfeilkreuzler und klingelten an jeder Wohnung. Nur in der Wohnung, in der meine Cousine, Frau Y. und deren Schwaegerin, Frau Dr. Z., mit einigen anderen Personen wohnten, wurde ihnen geöffnet. Die Pfeilkreuzler forderten die Frauen auf, sich anzukleiden und mitzukommen. Da die Damen sich weigerten, sich vor jungen Burschen anzukleiden, bedrohten die Pfeilkreuzler sie mit dem Revolver und schossen Frau Dr. Z. eine Kugel in die Brust. Die Verwundete ueberliessen sie ihrem Schicksal. Die uebrigen wurden abgeführt.“ II. „Ich wohne im Hause … in Budapest. Ende Oktober wurden alle Männer im Alter von 14–70 Jahren von den Pfeilkreuzlern mit Hilfe der Polizei aus unserem Hause herausgeholt und fortgeschleppt. Wir mussten zunächst zu Fuss nach Neupest marschieren. Nachts mussten wir im Regen im Freien schlafen. Von Neupest gingen wir nach Domony und von dort nach Gödöllő.

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Dort stiessen wir mit Frauengruppen zusammen, die auf ähnliche Weise verschleppt worden waren. Mehrere Frauen erzählten, dass in Issaszeg452 7 Männer, die sich krank gemeldet hatten, erschossen worden waren. Die Frauen mussten für sie ein Grab ausheben. Auch 2 Frauen wurden erschossen. Die Sachen der Erschossenen wurden verteilt.“ III. „Montag, den 6. November abends dra{n}gen stark bewaffnete Pfeilkreuzler in das Haus Cs.-Gasse Nr … ein. Sie plünderten die Wohnungen des ersten und zweiten Stockwerks und töteten 19 Juden. Den Einwohnern der oberen Stockwerke gelang es zu entkommen. Die am Leben Gebliebenen der unteren Stockwerke wurden verschleppt …“ IV. „Donnerstag, den 23. November um 12 Uhr mittags wurde ich zusammen mit einem meiner Freunde von einem 20-jährigen mit Maschinengewehr bewaffneten Pfeilkreuzler auf der Strasse in Budapest arretiert. Wir wurden durchsucht und unser Bargeld im Betrage von 2500 Pengő sowie unsere sämtlichen Personaldokumente wurden uns abgenommen. Wir wurden durchgeprügelt und in einen Keller geschleppt, wo sich noch 12 andere Personen, wovon 9 Juden und 3 Christen, befanden, die schon seit 3 Tagen dort nichts gegessen hatten. Später brachte man uns in einem Auto zur Donau. Dort mussten wir uns ausziehen und wurden in Reih und Glied auf der Brücke aufgestellt. Alle meine Kameraden wurden dort von einer Gruppe von 4 Pfeilkreuzlern erschossen und ihre Leichname in die Donau geworfen. Mir selbst gelang es in einem günstigen Augenblick in die Donau zu springen. Ich wartete unter Wasser, bis das Auto der Pfeilkreuzler verschwunden war und so gelang es mir, mich zu retten.“ V. „Ich befand mich am 28. November nachmittags um 2 Uhr im St. Stéfans­ park in der Nähe eines der unter internationalem Schutz stehenden Häuser, als ich plötzlich Schüsse hörte. Ich sah Juden mit erhobenen |2| Armen aus einem der Schutzhäuser heraustreten und sich auf der Strasse anstellen. Von der neben dem Haus stehenden Wache erfuhr ich, dass Pfeilkreuzler ins Haus eingedrungen waren, dort Schüsse abgefeuert und behauptet hatten, dass man aus dem Hause durchs Fenster hinausgeschossen hätte. Sämtlichen Bewohner des Hauses, ungefähr 500 Juden, wurden vor dem Haus aufgestellt und abgeführt.“ VI. Frau K. berichtet: „Ich habe Schreckliches mitgemacht. Ich wurde Mitte November in die Ziegelfabrik Buda-Ujlak geführt und nachdem festgestellt 452 Isaszeg ist eine ungarische Stadt im Kreis Gödöllő nordöstlich von Budapest.

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wurde, dass ich einen rechtmässigen Schutzpass besitze, wurde ich mit 150 anderen Personen in eines der Schutzhäuser auf der Pozsonyi-Strasse gebracht. Dort war jedoch kein Platz für mich. Ich ging ins Fürsorgeamt und wurde von dort in das Haus Abonyi-ut. 8 verwiesen, wo ich die Nacht verbrachte. Morgens erschien dort eine Gruppe von Pfeilkreuzlern und führte uns in ihr Parteigebäude in der Stefaniastrasse. Dort wurden wir ganz nackt ausgezogen und misshandelt. Unsere Kleider, Schuhe und sämtliche Dokumente wurden uns fortgenommen. Dabei wurde uns dauernd gesagt: „Da wo Ihr hingehen werdet, braucht Ihr sowieso nichts mehr!“ Nur mit wenig Wäsche am Leibe wurde ich in die Ziegelei zurückgebracht. Ich war völlig erschöpft und hatte 40 Grad Fieber. Nach einigen Tagen wurde ich mit ungefähr 900 Personen wiederum von dort weggeführt und ins Parteihaus der Pfeilkreuzler am St. Stefansring 4 gebracht. Dort wurden wir im Keller zusammengepfercht und die Pfeilkreuzler trieben ihr Spiel mit uns, sie hatten den Keller so hergerichtet, dass wir glauben sollten, dort vergast zu werden. 20 von uns wurden bei diesem grausamen Spiel wahnsinnig. Nach wenigen Tagen wurden einige von uns freigelassen.“ VII. „Trotzdem ich einen Schutzpass besass, wurde ich durch die Pfeilkreuzler in die Ziegelfabrik verschleppt. Dort waren bereits viele Tausende Juden, darunter viele kranke Frauen und Männer und auch viele kleine Kinder. Ausser mir gab es noch viele andere Leute mit Schutzpässen. Von diesen wurde später ein Teil, darunter auch ich, in die Synagoge in der Tabakgasse zurückgeführt. Auf dem Wege erschossen die Pfeilkreuzler mehrere von uns, vor allem die Kranken und diejenigen, die vor Müdigkeit zusammenfielen. Ein Teil von ihnen war bereits mehrere Male von der Ziegelei in die Synagoge und von dort in die Ziegelei zurückgebracht worden. In der Synagoge waren mehrere Tage lang mehr als 3000 Leute in schrecklichem Zustande zusammengepfercht. Alte Frauen und Männer wurden blutig geschlagen. Jeden Tag starb eine Anzahl. Oft konnte man die Identität der Toten nicht feststellen. Die Leichen lagen 4–5 Tage unbeerdigt im Hofe der Synagoge. Ein Teil der Schutzpass-Besitzer, darunter auch ich, wurden dann aus der Synagoge entlassen.“ VIII. Ein anderer Augenzeuge berichtet: „Am 13. November erschienen im Ghetto im Hause Akaofa-Gasse 20 Polizisten und Pfeilkreuzler und verschleppten sämtliche Hausbewohner ohne Rücksicht auf Alter und Schutzpässe …“ IX. „Am 9. November erschienen 6 jugendliche stark bewaffnete Pfeilkreuzler vor der Schweizer Gesandtschaft und trieben die vor dem Tore Wartenden in den Keller des sich gegenüber befindlichen Hauses. Dabei wurden 2 Salven

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abgegeben. Die Juden wurden verschleppt und die arretierten Nichtjuden freigelassen. Die auf der Strasse Diensttuenden 18 Polizisten griffen nicht ein …“ DER FUSSMARSCH DER HUNDERTTAUSEND VON BUDAPEST NACH OESTERREICH Ein Augenzeuge berichtet: „Männer und Frauen, Greise und Kinder mussten während 7–8 Tagen täglich 28–30 km, im strömenden Novemberregen marschieren. Unterwegs wurden sie von den Pfeilkreuzlern blutig misshandelt und wer nicht mitkam, wurde erschossen. Viele erlagen unterwegs den unerhörten Strapazen des Marsches. Die Lage auf der Landstrasse war verzweifelt. Die voellig durchnässten und totmüden Leute schliefen nachts in den Wassergräben und im Kot der Dorfstrassen. Zu essen bekamen sie während der ganzen Zeit nur an 3 oder 4 Tagen je einen Teller dünner Suppe, an den übrigen Tagen überhaupt nichts. Während des ganzen Marsches war es den Deportierten unmöglich, mit der Bevölkerung in Berührung zu treten oder gar Lebensmittel einzukaufen. Die Marschkolonnen wurden von ungarischen Gendarmen begleitet, die ihrerseits unter der Kontrolle der Pfeilkreuzler standen. Nach einem Fussmarsch von 220  km langten  [sic] die Ueberlebenden in Hegyeshalom an der österreischischen Grenze in völlig erschöpftem Zustande ein, von der Angst gequält, dass sie in Deutschland den Vernichtungslagern zugeführt werden. In Hegyeshalom wurden sie notdürftig in einem Schuppen untergebracht. Waschmöglichkeiten gab es für die Deportierten weder während des Marsches noch in Hegyeshalom. Die Kranken wurden auch in Hegyeshalom ohne Pflege und Pflegepersonal in verzweifeltem Zustande ihrem Schicksal überlassen. Sehr viele von ihnen litten an der Ruhr. Allein in der Nacht vom 26. und 27. November waren in Hegyeshalom 30 Todesfälle zu verzeichnen. Von Hegyeshalom wurden die Deportierten täglich morgens um 6 Uhr in Gruppen an die deutsche Grenze getrieben, wo sie von einer ungarischen Militärkommission einer deutschen Kommission übergeben wurden.“

Dokument 95 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 5. Februar 1945 Maschinenschriftlicher Brief, 4 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen CZA, A56/27

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Dokument 95

[Vor dem Hintergrund des nahenden Kriegsendes blickt Lichtheim auf die Arbeit des von ihm geleiteten Büros zurück und stellt Überlegungen zu dessen Zukunft an. Da das Büro nach Kriegsende seine Daseinsberechtigungen zu verlieren droht, regt er eine Umstrukturierung in eine Zentralstelle der Jewish Agency für jüdische Geflüchtete an. Er selbst erklärt sich bereit, die Leitung des umstrukturierten Büros zu übernehmen.] {Airmail} RL / DT – A/3

den 5. Februar 1945

PRIVAT & VERTRAULICH

Herrn Dr. Lauterbach, The Jewish Agency for Palestine P.O.B. 92 – Jerusalem Lieber Lauterbach, ich glaube, dass die Zeit gekommen ist über die Zukunft des hiesigen Büros, wenn auch noch keine endgültige Entscheidung zu treffen, so doch sich einige Gedanken zu machen. Ich schreibe zunächst nur Ihnen als altem Freund und Arbeitsgefährten im Zionismus. Wenn Sie es für zweckmäßig halten, so können Sie den Inhalt des Briefes mit denjenigen Mitgliedern der Exekutive, die dafür Interesse haben, vertraulich besprechen und mir dann schreiben, was Sie selbst und eventuell was die Exekutive darüber denkt. Die Auffassung, die sich in den letzten Monaten in meinem eigenen Kopf entwickelt hat, lässt sich etwa folgendermassen zusammenfassen: 1.) Das Genfer Büro, das ja nun schon über 20 Jahre besteht,453 hat sicherlich den Existenzgrund verloren, der seinerzeit zu seiner Begründung führte. Der Völkerbund wird in seiner alten Form nicht weiter bestehen, das Mandat wird sicherlich durch ein anderes Instrument ersetzt werden und wir brauchen daher in Zukunft in Genf kein Büro mehr, das bisher den offiziellen Titel 453 Bereits seit 1925 unterhielt die Zionistische Organisation ein Büro zur Vertretung ihrer Interessen beim Völkerbund in Genf. Erster Leiter des Büros war Victor Jacob­ son; nach dessen Tod 1934 übernahm Nahum Goldmann die Leitung des Büros. Nachdem Goldmann 1940 in die Vereinigten Staaten übergesiedelt war, leitete Menachem Kahany das Büro, bis es schließlich im Frühjahr 1941 in das Büro Lichtheims inte­griert wurde.

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führte « bureau permanent de l’Agence juive pour la Palestine auprès de la Société des Nations. » 2.) Nach der Vereinigung des Büros mit dem von Ihnen angeregten und von mir anfangs  [sic] des Krieges begründeten Organisationsbüro, haben sich im wesentlichen Kriegsaufgaben ergeben, die nach meinem Gefühl im Laufe der nächsten Monate zu Ende gehen. In grossen Zügen betrachtet hatte das Genfer Büro während der Kriegszeit die folgenden Aufgaben: a) Aufrechterhaltung der Verbindung mit den zionistischen Landesverbänden in Europa. Diese Aufgabe wurde in den Jahren 1939 und 1940 erfüllt. Im Jahre 1941 war der grösste Teil Europas schon von Deutschland besetzt und in den folgenden Jahren trat diese Aufgabe völlig in den Hintergrund, da fast nirgends mehr Organisationen bestanden. b) Wahrnehmung der finanziellen Interessen unserer beiden Fonds in Europa. Auch diese Aufgabe wurde erfolgreich gelöst solange es möglich war. Ich habe erst in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Dr. Josef Weiss die Interessen des Keren Hajesod und Keren Kajemeth in Europa vertreten und auch nach seiner Abreise bis Ende 1941 mich damit noch befasst. Das Resultat waren unsere Transferverträge mit dem Joint, wodurch insgesamt rund 50 000 £ Fondsgelder aus Europa gerettet und grösstenteils nach Palästina übermittelt wurden. Auch das ist jetzt längst zu Ende mit Ausnahme der rein lokalen KH Arbeit in der Schweiz, um die ich mich noch als Repräsentant des Keren Hajesod Direktoriums kümmere. c) Etwa von Mitte 1941 bis Ende 1944 ergaben sich eine Fülle der verschiedenartigsten Aufgaben, die ich nicht alle im einzelnen aufzuzählen brauche und die einfach aus der Tatsache erwuchsen, dass wir hier das einzige kontinental-europäische Büro der Agency waren. Ich deute nur in Schlagworten an: Laufende Berichterstattung über die Lage in Europa; Versuche wegen der Juden-Verfolgungen helfend einzugreifen; zu diesem Zweck Schaffung von Verbindungen zur britischen und amerikanischen Legation, zum War Refugee Board,454 zum Internationalen Roten Kreuz, zu den anderen hiesigen Hilfsorganisationen (Weltkongress, Flüchtlingsfürsorge,  etc.  etc.). In diesem{n} Zusammenhang gehört mit unsere Mitwirkung bei den Verhandlungen über den Austausch von jüdischen Zivilinternierten in Deutschland, die Informierung der verschiedenen amtlichen Stellen über die Lage, die Organisierung von Paketsendungen nach Theresienstadt und anderen Lagern, etc. Beschäftigung mit der Flüchtlingsfrage überhaupt, besonders unter dem 454 Das War Refugee Board wurde im Januar 1944 durch Roosevelt eingerichtet, um den Opfern der NS-Diktatur, insbesondere jüdischen Geflüchteten, helfen zu können.

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Aspekt des Zionismus und Palästinas; zu diesem Zweck Verbindung mit der Genfer Studiengruppe,455 über die ich Ihnen öfters schrieb und mit dem Inter-governmental Refugee Committee;456 Korrespondenz mit zahllosen Einzelpersonen und Komitees über eine Fülle von Fragen, die sich aus der Situation ergaben; Rat und Hilfe an zahllose Personen, die sich hier und aus allen Ländern an uns wandten; Mitwirkung bei der Vorbereitung der Alijah nach Palästina, soweit die Schweiz dabei als Auswanderungsland oder Organisationszentrum in Frage kam; Hilfsarbeit im engeren Sinne in Verbindung mit dem Jerusalemer Hilfs- und Rettungskomitee und seinen Filialen an anderen Orten. Es wäre noch viel anders [sic] zu erwähnen, aber es handelt sich ja hier nur um eine ganz sumarische [sic] Skizzierung der hauptsächlichen Aufgaben des Büros in der Kriegszeit. Nun sind von den unter c) erwähnten Aufgaben (genau so wie die unter a) und b) genannten) die meisten nicht mehr aktuell oder werden jedenfalls bald nicht mehr aktuell sein. 3.) Mit der fortschreitenden Befreiung Europas und der Besetzung der Länder durch die Alliierten Mächte hört unser Büro auf, eine europäische Zentralstelle zu sein. Ueberall treten die lokalen Kräfte wieder in den Vordergrund – man braucht nur an Rumänien, Bulgarien und Frankreich zu denken. Soweit Juden noch vorhanden sind und soweit noch zionistische Gruppen existieren, organisieren diese sich #¦l¦okal aufs Neue und suchen die Verbindung mit der Aussenwelt, d. h. mit London oder Amerika oder Palästina. Diese Entwicklung ist noch nicht völlig abgeschlossen und wir haben auch jetzt noch allerlei mit Auslandskorrespondenz zu tun, aber es ist offensichtlich, wohin die Tendenz geht und damit erledigen sich automatisch die meisten Aufgaben dieses Büros. Es ergibt sich also für mich hier und ebenso für die Exekutive dort die Frage, ob und wie lange es noch Sinn hat, ein Büro aufrecht zu erhalten, das zwar in den Kriegsjahren absolut nötig war und sich infolge unserer Transferarrangements sogar finanzielle sehr gut bezahlt gemacht hat, das aber in 455 Siehe Dokument 83. 456 Das Intergovernmental Committee on Refugees wurde im Sommer 1938 auf der Konferenz von Évian gegründet. Das Ziel war, mit der nationalsozialistischen Regierung einen Plan für die Auswanderung der Juden zu verhandeln und adäquate Einwanderungsmöglichkeiten auf der ganzen Welt zu erschließen. Die Bemühungen des Kommittees blieben weitgehend erfolglos. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es an der Versorgung von Displaced Persons beteiligt. Im Juni 1947 wurde das Komitee aufgelöst.

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Zukunft weder eine Zentralstelle für den europäischen Zionismus noch für die anderen skizzierten Aufgaben sein wird. Natürlich kann man sich immer etwas zu tun machen, wenn man etwas tun will, aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die einen leerlaufenden Apparat, der immerhin eine Masse Geld kostet, aufrechterhalten wollen, nur um einen Titel oder ein Amt beizubehalten. Kurz gesagt scheint es mir nach alledem, ¦dass¦ die Zeit reif ist, das Genfer Büro in seiner jetzigen Gestalt zu liquidieren. 4.) Es bleibt allerdings eine wichtige Aufgabe bestehen, für die unter Umständen Genf und damit auch unser Büro #{Z}entralstelle sein kann: das ist die oben unter c) unter anderen Aufgaben erwähnte Mitwirkung der Jewish Agency bei der Regelung der internationalen und speziell jüdischen Flüchtlingsfragen. Ich wusste wohl was ich tat, als ich schon vor zwei Jahren die Verbindung mit den teils jüdischen, teils christlichen Stellen suchte, die sich mit der Flüchtlingsfrage befassen (Genfer Studiengruppe, Intergovernemental Committee, etc.), deren Haltung auf unsere Gesamtpolitik grossen Einfluss haben kann. Hier liegt für uns noch eine Aufgabe, die vielleicht auch in der Zukunft, wenigstens teilweise, von Genf aus gelöst werden kann. Es ist nämlich möglich, dass Genf |3| welches im Uebrigen als Zentralpunkt der internationalen Politik ausscheiden wird (siehe Völkerbund), gerade in der Flüchtlingsfrage noch eine Rolle spielen wird; einmal ist hier das Internationale Rote Kreuz, ferner ist die Schweiz auch im Intergovernmental Refugee Committee [sic] vertreten und ihr Repräsentant wird wahrscheinlich künftig in Genf sitzen, und schliesslich befinden sich hier viele internationale Hilfsorganisationen. Es kann also sein, dass es erwünscht erscheint, einen hierfür qualifizierten Repräsentanten in Genf zu haben, der die Interessen der Jewish Agency in dieser Richtung weiter vertritt. Dafür ist jedoch der ziemlich grosse Apparat des hiesigen Büros nicht erforderlich. Es kommt darauf an, dass hier jemand ist, der auf Grund seiner Kenntnisse, Erfahrungen und Beziehungen imstande ist, die Verbindung mit den jüdischen und christlichen internationalen Stellen zu pflegen und auch in ideologischer Hinsicht (was hierbei gar nicht unwichtig ist) unsere Auffassungen mit Entschiedenheit zu vertreten. Es handelt sich dabei um das gesamte Gebiet der Regelung der jüdischen Wanderung in und aus Europa. Natürlich wird die Funktion dieses Vertreters weitgehend dadurch bestimmt werden, welche politische Lösung der Palästina-Frage durch die Grossmächte, insbesondere England, getroffen wird, und demnach auch welche Einwanderungsmöglichkeiten nach Palästina bestehen werden. Die beste ideologische Vertretung unserer Sache wird nichts helfen, wenn die Einwanderungsfrage nach Palästina nicht eine günstige Lösung findet. Ich wäre bereit, als Repräsentant der Jewish Agency diese Funktion hier

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{weiter} zu übernehmen, wenn die Exekutive dies wünscht und wenn meine Voraussage sich erfüllt, dass Genf für diese Sache der internationale, oder mindestens ein internationaler Mittelpunkt werden wird. Es ist vielleicht zweckmässig, schon jetzt die Exekutive hierauf aufmerksam zu machen. Dafür braucht man aber wiederum nicht ein Büro in unserer jetzigen Art und in seinem jetzigen Umfang, nachdem fast alle anderen Kriegsaufgaben mehr und mehr zusammenschrumpfen und bald ganz aufhören werden. Diese Tätigkeit kann durch einen Repräsentanten ausgeübt werden, der sich den grösseren Teil des Jahres hier aufhält und vielleicht ein ganz kleines Büro mit einer Schreibkraft benötigt. Das liegt im Charakter dieser Arbeit, die im grossen und ganzen keine bürokratische und keine organisatorische ist, sondern vielmehr eine politische und konsultative. Ich hoffe, dass diese Ausführungen Ihnen deutlich machen, was ich ueber diesen Punkt denke, und ich möchte wiederum, dass Sie bzw. die Exekutive, der Sache Beachtung schenken, damit wir im richtigen Moment für diese Entwic#{k}lung gerüstet sind. 5.) Gar nicht erwähnt habe ich in diesem Brief die hiesigen lokalen Aufgaben, die vom Standpunkt der zionistischen Propaganda nicht unwichtig sind, aber doch sozusagen nur ein Nebenprodukt unseres nun einmal hier bestehenden Büros darstellen. Weil wir ein Büro hier haben, so versuchen wir natürlich die lokale Arbeit zu befruchten. Da sind zunächst unsere Publikationen: Dr. Kahany gibt seine „Informations de Palestine” heraus und verschickt sie an eine grosse Zahl von Personen in der Schweiz. Dagegen ist die Versendung nach dem Ausland stark zurückgegangen und wird in der Zukunft auch kaum noch Bedeutung haben, da die  betr. französisch-sprechenden Länder auch von Palästina {u.  Paris} direkt versorgt werden können. Auch entfällt bei den „Informations de Palestine” künftig der eigentliche Zweck, für den sie geschaffen wurden, nämlich die Informierung der politischen Kreise um das politische Zentrum Genf; denn mit dem Verschwinden von Genf als internationalem Sammelpunkt (früher Völkerbund, dann Zentrale für die Aufgaben der Kriegszeit) bekommt die Sache schliesslich nur noch lokalen Charakter, ähnlich wie unsere deutschen Nachrichtenbriefe, die wir alle 2  oder drei Wochen an die hiesigen Zionisten versenden. Nach meiner Ansicht muss man mit dem Büro auch diese Publikationen aufgeben und man kann gewiss nicht ihretwegen das Büro erhalten, denn es lohnt ja nicht, einen kostspie­ ligen Apparat der Jewish Agency in einem geografisch ziemlich abgelegenen Winkel Europas auf die Dauer weiter zu führen, um die Schweizer Zionisten oder ein paar Konsulatsfunktionäre mit Palästina-Nachrichten zu versehen. |4| Ebensowenig lohnt sich die Aufrechterhaltung des Büros, damit ich oder Dr. Ullmann durch unsere Vorträge und Anregungen den Schweizer Zio­

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nismus ein bisschen verstärken. So nützlich diese Arbeit in vieler Hinsicht gewesen ist, so muss man doch das richtige Auge#{n}mass behalten und darum betrachte ich alle hiesige rein lokale Arbeit (Zionistenverband, Propaganda, Schekel, Herausgabe von Keren Hajesod Material, etc.) nur als Abfallprodukt unserer Bürofabrik. Zu den lokalen Aufgaben rechne ich auch die Alijah aus der Schweiz und hierfür ist ja schliesslich das lokale Palästina-Amt da. Im Moment berührt sich diese lokale Aufgabe noch mit grösseren Aufgaben, weil die Schweiz das bedeutendste Flüchtlingszentrum Europas ist. Aber schon beginnen zahlreiche Flüchtlinge abzuwandern, besonders nach Frankreich, und in einigen Monaten wird sich das noch mehr bemerkbar machen. Vorläufig haben wir ja auch nur wenige Zertifikate zu vergeben, sodass das Palästina-Amt nicht einmal die Funktion erfüllen kann, die es erfüllen sollte. Nehmen wir aber an, dass wir noch ein paar tausend Zertifikate erhalten, so werden diese rasch veg¦r¦geben und ausgenutzt sein und dann {wird} auch das hiesige Palästina-Amt sogar als lokale Institution nur noch höchst geringfügige Aufgaben haben. Schliesslich sind die Jugendorganisationen hier – sogar sehr stark – durch eigene Delegierten vertreten, die völlig ausreichen, um die Hechaluz Geschäfte zu besorgen. Zweckmässig wäre es, wenn die Jugendalijah einen speziellen Vertreter hier hätte. Sie suchte nach einem, doch konnte ich bisher keinen geeigneten Kandidaten empfehlen. Das ist aber ein Kapitel für sich, das mit dem Genfer Büro der Agency nichts zu tun hat. Mit diesen Bemerkungen will ich es für {heute} genug sein lassen und hoffe, Ihnen damit Stoff zum Nachdenken gegeben zu haben. Man braucht nichts {zu} übereilen und nicht von heute auf morgen alles auf den Kopf stellen, aber Sie sollen jedenfalls wissen, wie ich über diese Frage der Zukunft des hiesigen Büros denke und auch die Exekutive soll wissen, was meine Haltung dazu ist. Ich nehme an, dass mindestens Herr  Kaplan unbesehen „bravo” rufen wird! Mit freundlichen Grüssen Ihr R. Lichtheim P.S. Bitte antworten Sie mir auf diesen Brief nicht an das Büro sondern an meine Privatadresse: 5, rue des Alpes.

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Dokument 96 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach, Joseph Linton, Henry Montor Genf, 24. April 1945 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; handschriftliche Korrekturen CZA, L22/269 April 24th, 1945

RL / T – A/3 1) Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 Jerusalem

2) Mr J. Linton London

3) Mr. Henry Montor New York

Letter No. 1499 Dear Lauterbach, 1) Lately the British and American press is full of reports about concentration camps in Germany. What seems to be news to the British and American public is of course no news to me. We have known of all this for years and have constantly reported on it. But public opinion is always far behind the events. First, people do not wish to take note of such horrors and then, months and years later, they suddenly become startled and get excited over them. Since 1933, every reasonable person should have known what Nazism meant and what was going on in the concentration camps. Of course, things have become worse during the war. To the ordinary concentration camps have been added the slave labour camps and the extermination camps. But all this has been known for at least three years. All governments knew about it and many newspapers have published reports on the subject. But to pierce the shield of complacency something else was necessary, namely the military witnesses and their official reports. Now it seems that the public in general begins to learn and to understand about the Nazis and their methods. 2) My latest information about Bergen-Belsen and Theresienstadt is as follows:

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a) Bergen-Belsen: Shortly before the arrival of the British troops457 5900 people (all of them Jews) have been deported from Bergen-Belsen. They were told that they would be sent to Theresienstadt but the 3 trainloads containing these 5900 people have not arrived in Theresienstadt. It is possible that one of these trains is identical with the train containing deportees which was held up about a fortnight ago by American troops near the Elbe. May be that these people have been saved. |2|  The deported group of 5900 was mainly composed of those Jews who were destined for an eventual exchange i.e. the certificate holders from Holland and other Jewish bearers of foreign passports.458 Why Eichmann has taken the trouble to deport these people immediately before the arrival of the British troops while the others in the camp (the large majority also Jews) were left behind, nobody knows. But on the strength of this information which seems reliable many of our best old Zionist friends from Holland are among these unfortunate people who were sent to Theresienstadt at the last moment but have not arrived there. I hope that the lists of the survivors of Bergen-Belsen will soon be available. Then we shall know whether the above information is correct. b) Theresienstadt: In my latest reports it has been mentioned that the number of Jews in Theresienstadt had decreased to something like 10 000. Now I understand that at the middle of April the number has again increased to about 20 000. This is the result of the fact that Jews from various other places have been sent to Theresienstadt. My informer who has been in Theresienstadt only ten days ago459 states that the figure of 20 000 was given 457 Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen mit etwa 60 000 Überlebenden. 458 Am 6. April 1945 befahl Eichmann, alle in Bergen-Belsen verbliebenen »Austauschkandidaten« zu evakuieren. Bis zum 9.  April 1945 verließen drei Transporte mit ungefähr 7500 Juden das Lager in Richtung Theresienstadt. Der erste Transport mit ungefähr 2500 Juden verschiedener Nationalitäten wurde in der Nähe von Magdeburg von amerikanischen Truppen befreit. Der zweite Transport, der hauptsächlich aus ungarischen Juden bestand, erreichte trotz Luftangriffen als einziger am 21. April 1945 Theresienstadt. Der dritte Transport, der aus ungefähr 2400 Juden bestand und Bergen-Belsen am 9. April verließ, wurde nach zweiwöchiger Fahrt durch Deutschland in der Nähe von Tröbitz durch die Rote Armee befreit. Eberhard Kolb, Bergen-Belsen. Geschichte eines »Aufenthaltslagers« 1943–1945, Berlin 2011, 149–156; Wenck, Menschenhandel, 369. 459 Erst am 5. Mai 1945 übergab die SS dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz die Leitung von Theresienstadt; sowjetische Truppen erreichten das Lager drei Tage später.

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to him by Murmelstein460 who is now at the head of the “Judenrat”. Rabbi Bäck [sic]461 is still there, but most of the other leaders have been deported to Auschwitz which means in all probability that they have been murdered. Among the deported are the former head of the community Epstein [sic], Robert Stricker, Desider Friedmann, Franz Kahn462 and many others. Edelstein has disappeared long ago. My previous reports about Theresienstadt have been confirmed by this eye-witness to the effect that about 150 000 people have passed through Theresienstadt, that 25 % of them have died there and that the majority of the others have been deported in intervals partly to the death-camps and partly to the labour camps.463 3) It seems that there is no general policy regarding the treatment of Jewish and other internees in these last stages of the war. Local commanders are doing what they think best. Near the Swiss frontier a number of foreign ­workers have been released by the Germans and have entered Switzerland. At other places the SS have killed the detainees in the camps. The only hope left is the 460 Benjamin Murmelstein (1905–1989) war ein österreichischer Rabbiner und Gelehrter. Bis zur Auflösung der Israelitischen Kultursgemeinde Wien im März 1938 war er ein leitendes Mitglied. Danach übernahm er innhalb der von den Nationalsozialisten kontrollierten und zwangsweise in »Jüdische Gemeinde Wien« umbenannten Institution die Auswanderungsabteilung. Später war er Mitglied des Judenrats in Wien. Im Januar 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er nach Jakob Edelstein als zweiter Stellvertreter des Judenältesten Paul Eppstein fungierte. Nach der Ermordung Eppsteins fungierte Murmelstein von September 1944 bis Mai 1945 als letzter Judenältester. Nach dem Krieg wurde gegen ihn ein Prozess wegen Kollaboration angestrengt; im Dezember 1946 wurde er von diesem Vorwurf freigesprochen. 461 Der Rabbiner Leo Baeck war jahrelang die bedeutendste Führungsfigur des deutschen liberalen Judentums. Von 1897 an war er als Reformrabbiner u. a. in Oppeln und Berlin tätig. Von 1913 bis 1942 war er Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 1933 wurde er Präsident der Reichsvertretung der Deutschen Juden, die 1939 zwangsweise in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umstrukturiert wurde. 1943 wurde Baeck gemeinsam mit den meisten Vertretern der Reichsvereinigung nach Theresienstadt deportiert, wo er Mitglied des Ältestenrats wurde. Im Juni 1945 emigrierte er nach London. 462 Franz Kahn (1895–1944) war ein tschechoslowakischer Zionist und ab Ende 1938 in der jüdischen Kultusgemeinde in Prag tätig. Ende 1943 wurde Kahn zunächst nach Theresienstadt, am 4. Oktober 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort umgehend nach seiner Ankunft ermordet. 463 Schätzungen zufolge wurden zwischen dem 24. November 1941 und dem 20. April 1945 140 000 Juden nach Theresienstadt verschleppt. 33 000 davon starben in Theresienstadt, 88 000 wurden in Vernichtungslager deportiert und 19 000 waren bei der Befreiung noch am Leben.

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quick advance of the Allied Armies by which a considerable number of camps may be liberated and among them also camps containing Jewish detainees. 4) With regard to the number of Jews still alive in Germany my informer believes that certain figures lately published and speaking of 500 000 or 600 000 are highly exaggerated. He believes that at the present not more than 100 000 or 120 000 Jews are alive on German soil in the various labour camps and concentration camps, while the number of Jews who have been hiding during the last years is quite insignificant.464 5) The remnants of the Jewish community in Vienna were still there when the Russians arrived. The community existed {consisted} of Dr. Löwenherz and some 150 other Jews and of some 5000 half-Jews or Jews living in mixed marriages. It seems that Dr. Löwenherz has managed to save himself and this small rest of the community and |3| that the Gestapo for some reason or other has spared this little group. 6) I understand that 350 Danish Jews have been saved from Theresienstadt by the Swedish Red Cross. They are said to have been deported to Sweden in Swedish lorries and buses.465 It seems that Prince Bernadotte466 has obtained this as a special favour from Gestapo-headquarters, just as Mr. Musy467 has obtained the release of 464 Von den deutschen Juden überlebten rund 20 000 den Krieg in Deutschland. Die meisten davon in sogenannten Mischehen mit nichtjüdischen Partnern; ca. 3000 bis 5000 überlebten in Verstecken. 465 Etwa 470 dänische Juden wurden im Herbst 1943 nach Theresienstadt deportiert. Sie entgingen der Deportation nach Auschwitz und wurden kurz vor Kriegsende in einen Transport des Schwedischen Roten Kreuzes unter Leitung Graf Folke Bernadottes (1895–1948) aufgenommen, der sie nach Schweden brachte. 466 Folke Bernadotte war ein schwedischer Politiker. Während des Zweiten Weltkriegs verhandelte er als Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes mit Himmler über die Freilassung skandinavischer Staatsbürger. Im März und April 1945 gelang ihm die Freigabe von über 7000 Skandinaviern, darunter über 400 dänische Juden aus Theresienstadt. Weiter gelang ihm die Befreiung von 7000 Frauen, darunter 1000 Jüdinnen, aus dem Lager Ravensbrück. Ab 1946 war er Präsident des Schwedischen Roten Kreuzes. Während des ersten israelisch-arabischen Kriegs wurde er von den Vereinten Nationen zum Vermittler zwischen den Kriegsparteien eingesetzt, jedoch im September 1948 von jüdischen Nationalisten in Jerusalem ermordet. 467 Jean-Marie Musy (1876–1952) war ein Schweizer Jurist und Politiker. Von 1920 bis 1935 leitete er das Finanz- und Zolldepartment; von 1925 bis 1930 war er Bundespräsident der Schweiz. Von 1935 bis 1939 war er Mitglied des Schweizer Nationalrats.

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1200 Dutch, German and Czechoslovak Jews who arrived here some time ago.468 I am still awaiting confirmation of the arrival of the 350 Danish Jews. I hope that the whole of Germany will be occupied when this letter reaches you and we shall then be able to establish the final figures. The extent of the tragedy has been known to me for a long time, as a matter of fact since the autumn of 1942 when it became clear what the Germans intend to do. With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim

Dokument 97 Richard Lichtheim an Leo Lauterbach Genf, 10. April 1946 Maschinenschriftliches Anschreiben (a), 1 Seite, mit Bericht (b) über die Arbeit des Genfer Büros seit 1939, 10. April 1946, 15 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen und Einfügungen (a) CZA, L22/316; (b) CZA, A56/29 [In einem Rückblick berichtet Lichtheim von der Arbeit des Genfer Büros der Zionistischen Organisation. In den ersten Kriegsjahren fungierte es als Verbindungsstelle zwischen der Exekutive der Zionistischen Organisation und den zionistischen Verbänden in Europa. In zahlreichen Berichten über die Lage der Juden in den europäischen Ländern wies es zunächst auf die Notwendigkeit der Auswanderung hin. Später thematisierte das Büro den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden Europas und suchte britische und amerikanische Diplomaten, den Vatikan und das Rote Kreuz zu Interventionen zu bewegen. Weiterhin beschreibt Lichtheim die Bemühungen des Büros zur Rettung von Juden. Zudem geht er auf die Rolle des Büros als Sammelstelle für europäische Gelder des Keren Hayesod und des Jüdischen Nationalfonds ein und skizziert die institutionelle Vernetzung des Genfer Büros.]

468 Als Resultat direkter Verhandlungen zwischen Musy und Himmler durften am 5. Februar 1944 1200 Juden aus dem Konzentrationslager Theresienstadt in die Schweiz fahren. Zu den Hintergründen siehe Yehuda Bauer, Jews for Sale?, Nazi-Jewish Nego­ tiations, 1933–1945, London / New Haven, Conn., 1994, 222–238.

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April 10th, 1946

RL / MDT/ – A/3 Dr. L. Lauterbach Organisation Department Zionist Executive P.O.B. 92 – Jerusalem Letter Nr. 1587 Dear Lauterbach,

Herewith enclosed please find two copies of the report covering the activities of the Geneva Office from 1939 to 1946. You wanted a report “worthy of me and of the importance of the work done.” I do not know whether this report will meet your request. I had to do it in a hurry because we are here very busy with other things and our guests are using our office as a hunting ground. Also, I wanted the report to be as short as possible in view of the fact that apart from yourself practically nobody else will ever read it! With kind regards, Yours sincerely, R. Lichtheim [|1|] {Das Genfer Büro 1939–1946} In den letzten Tagen des Zionistenkongresses {von 1939} ersuchte die Exekutive Herrn Richard Lichtheim {zunächst} in Genf zu bleiben, um während der bevorstehenden Kriegszeit von dort aus die Verbindungen mit der Exekutive und den europäischen Zentren d des Zionismus aufrechtzuerhalten. In den folgenden Wochen wurde durch das Organisations-Departm{e}nt der Exekutive in Jerusalem ein genauerer Plan für die Gründung des Genfer Büros aufgestellt und am 1. Oktober {1939} begann dieses mit seiner Tätigkeit. Diese erstreckte sich auf die verschiedenartigsten Gebiete und änderte sich {ständig} entsprechend der Kriegslage und der Umwälzung in den Bedingungen des jüdischen Lebens, do¦i¦e schliesslich in der furchtbaren Kata­ strophe des europäischen Judentums endeten.

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Die nachfolgenden Ausführungen sind nur eine kurze Skizze der 7-jährigen Tätigkeit des Genfer Büros. Raummangel verbietet auf Einzelheiten näher einzugehen. 1) Genf als zionistische Zentralstelle 1939–1941. In den beiden ersten Kriegsjahren bestanden in Europa noch fast alle zionistischen Organisationen der Vorkriegszeit. Das Genfer Büro fungierte als eine europäische Zentralstelle, von der die Nachrichten der zionistischen Exekutivbüros in London, Jerusalem und später auch New-York in die verschiedenen Länder übermittelt wurden. Abgesehen von einer regen Korrespondenz mit den einzelnen Landesorganisationen |2| und zionistischen Verbänden, verfasste das Genfer Büro in der Zeit bis 1941 von Zeit zu Zeit zusammenfassende Uebersichten über die zionistische Lage und versandte diese in englischer und deutscher Sprache an die überseeischen und europäischen Landesverbände. Nach der Niederlage Frankreichs und der Abreise Dr. Nahum Goldmanns nach Amerika wurde das frühere Büro der Jewish Agency beim Völkerbund mit dem neuen Genfer Büro vereinigt, in das Herr Dr. M. Kahany als Generalsekretär eintrat. Die Fortführung der organisatorischen Arbeit, d. h. {vor allem} der Korres­ pondenz mit den zionistischen Landesverbänden, wurde im Laufe des Jahres 1941 infolge der Kriegsereignisse immer schwieriger, da in der Zeit von Frühjahr 1941 bis Jahresende der größte Teil des europäischen Kontinents von den deutschen Armeen überrannt und besetzt wurde. Die Aufrechterhaltung der Verbindungen mit den noch bestehenden zionistischen Gruppen nahm immer mehr einen sporadischen und unterirdischen Charakter an. Andererseits war diese Arbeit von wachsenden Bedeutung, um Nachrichten über die Vorgänge in den einzelnen Ländern zu erlangen und die zionistischen Zen­ tralstellen informiert zu halten. Soweit die zionistischen Gruppen noch erreichbar waren, wurden sie bis Kriegsende durch Nachrichtenbriefe, die zweimal monatlich erschienen, über die Vorgänge in Palästina und der Bewegung auf dem laufenden gehalten. Auch an einige Hundert Einzeladressen in der Schweiz wurden diese Nachrichtenbriefe versandt, die auf Grund der Palcor-Telegramme und andern Materials zusammengestellt wurden. |3| Die schon in Friedenszeiten vom Genfer Büro herausgegebenen „Informations de Palestine“ erschienen zweimal monatlich in französischer Sprache unter der Redaktion Dr. Kahanys. In der Schweiz und in allen französisch sprechenden Ländern erfreuten die „Informations“ sich des grössten Interesses der Leserschaft, da sie jahrelang das einzige Organ in französischer Sprache waren, das Nachrichten und Mitteilungen aus Palästina und insbesondere über die politische Lage der Bewegung vermittelten.

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2) Das Genfer Büro als Informationszentrum. Die Berichte über die Lage in den verschiedenen europäischen Ländern sind in über 1500 Briefen und Berichten sowie in Hunderten von Depeschen des Genfer Büros an das Organisations-Department in Jerusalem niedergelegt. Von den wichtigeren Briefen und Depeschen wurden regelmässig Kopien an die Büros in London und New York gesandt. Aus diesem Material ergibt sich, dass das Genfer Büro ständig die Ereignisse verfolgt und häufig die ersten Mitteilungen und Warnungen über die sich immer verschlechternde Lage der europäischen Judenheit nach Palästina und den angelsächsischen Ländern gesandt hat. Aus der Fülle der Ereignisse seien nur wenige Hauptpunkte hier hervorgehoben: Bis zum Ende des Jahres 1940 war eine Auswanderung von Juden aus Europa und sogar aus Deutschland und Oesterreich noch möglich. Trotz aller Warnungen, die besonders von Genf ausgingen, gelang es aber nicht, die Regierungen der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens zu einer liberaleren Einwanderungspraxis zu bewegen, die Zehntausende |4| von jüdischen Leben hätte retten können. Grossbritannien, das im Kriege stand und seit der französischen Niederlage allein die ganze Last des Krieges gegen Hitler zu tragen hatte, weigerte sich, im Interesse der zentraleuropäischen Juden die Bestimmungen zu mildern, die der Einwanderung von Personen aus dem feindlichen Gebiet entgegenstanden. Diese Politik führte schliesslich in Palästina zu der Katastrophe der „Patria“469 und „Struma“.470 Später wurde

469 Im Spätherbst 1940 verweigerte die britische Mandatsverwaltung 3551 jüdischen Geflüchteten aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei, die sich auf den Schiffen Milos, Pacific und Atlantic auf dem Weg nach Palästina befanden, die Einreise. Stattdessen ordnete der britische Hochkomissar für Palästina Sir Harold MacMichael (1882–1969) an, sie nach Mauritius im Indischen Ozean zu deportieren. Um dies zu verhindern, beabsichtigte die paramilitärische Untergrundorganisation Hagana (Verteidigung) eines der Schiffe, die Patria, mit einem Sprengkörper see­ untauglich zu machen. Die Hagana hatte die Kraft des Sprengstoffs allerdings falsch eingeschätzt und die Explosion brachte das Schiff, auf dem sich 1800 Gefüchtete befanden, zum Sinken. 267 Passagiere der Patria ertranken; die Überlebenden des Schiffbruchs durften in Palästina bleiben. Die Übrigen wurden nach Mauritius gebracht, wo sie bis zum Ende des Kriegs ausharren mussten. 470 Das Schiff Struma, das jüdische Geflüchtete von der rumänischen Schwarzmeerküste nach Palästina bringen sollte, erlitt im Dezember 1941 kurz vor Istanbul einen Motorschaden. Nachem wochenlange Verhandlungen der Jewish Agency mit der türkischen und der britischen Regierung zu keinem Ergebnis führten, da keine der beiden Regierung zur Aufnahme der Geflüchteten bereit war, ließen die türkischen Behörden auf britischen Druck das Schiff am 23. Februar 1942 auf das offene Meer

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diese Praxis gemildert; es konnten auch Personen aus den feindlichen oder besetzten Ländern Zertifikate erhalten, wenn es ihnen gelang, einen neutralen Hafen zu erreichen. Aber diese Erleichterungen kamen zu spät, um eine grössere Zahl von Juden zu retten. Auch die Vereinigten Staaten, die 1940 noch nicht am Kriege teilnahmen, machten durch die umständliche und häufig schikanöse Praxis ihrer Konsulate eine grössere Auswanderung von Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten unmöglich. Erst in [sic] einem späteren Zeitpunkt wurde durch den persönlichen Einfluss Präsident Roosevelts diese Praxis gemildert und einige Tausend Juden insbesondere aus Frankreich konnten sich nach Amerika retten. Das Genfer Büro hat in vielen Briefen und Berichten auf diese Tatsachen rechtzeitig hingewiesen – leider ohne entsprechenden Erfolg. Nicht nur in diesen Fällen, sondern ganz allgemein, hat das Genfer Büro die Aufgabe erfüllt, alle zionistischen Zentralstellen über die tatsächliche Lage ständig zu unterrichten und {hat} einen regen Gedankenaustausch mit vielen zionistischen Persönlichkeiten über die aktuellen Fragen zu pflegen {unterhalten}. Insbesondere sei hier auch der ständige Briefverkehr mit dem United Palestine Appeal erwähnt, dessen Direktor, Herr Montor, mit dem Leiter des |5| Genfer Büros im permanenten Briefwechsel stand. In den Jahren 1942–1944 ergab sich eine umfangreiche Korrespondenz mit dem Büro in Istanbul in zahlreichen Fragen, die die Auswanderung und das Hilfswerk in Europa betrafen. Nach der Gefangennahme von 1400 jüdischen Soldaten im griechischen Feldzug (1941) war das Genfer Büro die erste Stelle, der es gelang, durch das Internationale Rote Kreuz Nachrichten über Verbleib und Behandlung der Gefangenen zu erlangen. Diese Mitteilungen waren auch für die britischen und militärischen Stellen von Interesse. Mit einigen der später in Deutschland internierten palästinensischen Soldaten blieb das Genfer Büro in Verbindung und sandte ihnen gelegentlich Pakte.471 Für viele Hunderte von Juden in den besetzten Gebieten wurde das Genfer Büro zu einer ständigen Vermittlungsstelle von Nachrichten an ihre Verwandten in anderen Ländern.

hinausschleppen, wo es am Morgen des 24. Februar 1942 von einem Torpedo eines sowjetischen U-Boots versenkt wurde. An Bord befanden sich 782 zumeist aus der Bukowina und Bessarabien stammende jüdische Geflüchtete sowie zehn Crewmitglieder; lediglich ein Passagier konnte von türkischen Rettungskräften lebend geborgen werden. 471 Siehe Lichtheims Aktennotizen und Kommunikation mit Jerusalem im Sommer und Herbst 1941 CZA, L22/44.

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3) Die Katastrophe der europäischen Judenheit. Seit Beginn des Jahres 1941 verbot die deutsche Regierung jede weitere jüdische Auswanderung, und in Deutschland sowie in den von ihm besetzten Ländern nahm die Judenverfolgung immer wildere Formen an. Das Jahr 1942 sah den Höhepunkt dieser Verfolgung und den Beginn der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums durch die Politik der Aushungerung in den Ghettos Osteuropas und schliesslich durch die Mordkampagne, die von Mitte 1942 bis Mitte 1943 den weitaus grössten Teil der europäischen Judenheit physisch vernichtete. Das Genfer Büro, das unaufhörlich über diese Vorgänge berichtete, hat auch die ersten Mitteilungen über diese systematische Ausrottungskampagne nach Jerusalem, London und New York gelangen lassen. Das Büro erfuhr im Sommer 1942 durch seine Vertrauensmänner von den Beschlüssen, die in Hitlers Hauptquartier zur Ausrottung der Juden gefasst worden waren. Es berichtete hierüber sowie über die ersten Todesfabriken in Osteuropa, ohne zunächst für diese Angaben bei den eigenen Zentralstellen g¦G¦lauben zu finden. Erst als gegen Ende des Jahres 1942 Augenzeugen aus Polen in Jerusalem eintrafen, wurden die Berichte, die aus Genf und anderen europäischen Zentren vorlagen, für glaubwürdig gehalten.472 4) Politische Aktionen. Das Genfer Büro beschränkte sich nicht darauf, Nachrichten zu übermitteln, sondern unternahm auch gewisse politische Schritte soweit solche von Genf aus möglich waren. Im Herbst des Jahres 1942 unterbreitete das Genfer Büro gemein-|6|sam mit dem Büro des Jüdischen Weltkongresses der britischen und amerikanischen Gesandtschaft in Bern, dem päpstlichen Nunzius [sic] in Bern sowie dem Internationalen Roten Kreuz Berichte über die Lage in Europa und ersuchte alle diese Stellen das äusserste zu tun, um die Katastrophe des europäischen Judentums wenigstens teilweise abzuwenden. Die britische und amerikanische Gesandtschaft in Bern übermittelten auch eine Anzahl Telegramme des Leiters des Genfer Büros nach London und Washington. Diese Mitteilungen waren Anlass zu amtlichen Warnungen von britischer Seite, die teils durch Erklärungen im Unterhaus, teils durch Mitteilungen der BBC erfolgten. Auch von Seiten des Vatikan wurden auf Grund der vom 472 Im Zuge des zweiten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustauschs erreichten im November 1942 69 jüdische Frauen und Kinder Palästina, die nach ihrer Ankunft umfassendes Zeugnis von der Lage der jüdischen Bevölkerung in Polen und anderen Teilen Europas ablegten. Die Augenzeugenberichte dieser Neuankömmlinge trugen maßgeblich dazu bei, dass den Nachrichten über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik im Jischuw Glauben geschenkt wurde.

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Genfer Büro beim Nunzius unternommenen Schritte gewisse Versuche unternommen, um die Katastrophe aufzuhalten, so insbesondere in der Slovakei. All diese Warnungen und Interventionen hatten aber keinen nennenswerten Erfolg. Die Vernichtung der Judenheit in Deutschland, Oesterreich, der Tschechoslowakei, Polen und den meisten besetzten Ländern war nicht aufzuhalten. Nur in Rumänien und Ungarn bestanden im Jahre 1943 noch grosse jüdischen Gemeinschaften, die trotz vieler antisemitischer Verordnungen und Ausschreitungen im grossen und ganzen intakt geblieben waren. In seinen Berichten und Vorschlägen verwies das Genfer Büro wiederholt darauf, dass es vielleicht möglich sein würde, wenigstens ### diese jüdischen Gemeinschaften zu erhalten, wenn die alliierten Regierungen direkt oder indirekt einen entsprechenden Druck auf die noch nicht völlig von Deutschland abhängigen Regierungen Rumäniens und Ungarns ausübten. Das geschah bis zu einem gewissen Grade und ebenso |7| versuchte auch der Vatikan in diesen Ländern seinen Einfluss geltend zu machen. Die Judenheit Rumäniens ist auf diese Weise zum grösseren Teil verschont geblieben. Dagegen wurde das ungarische Judentum auf das schwerste betroffen, als nach dem Sturze Horthys eine ganz von Deutschland abhängige Regierung ans Ruder kam. Die Folge war die Deportation und Ermordung von annähernd einer halben Million ungarischer Juden.473 5) Rettungsaktionen. Das Genfer Büro wirkte an einer Reihe von Aktionen mit, die darauf gerichtet waren, wenigstens einen Teil der vom Untergang bedrohten europäischen Juden zu retten. Diese Aktionen zerfallen in verschiedene Kategorien. Teils handelte es sich um die Befreiung oder Rettung einzelner Gruppen mit Hilfe amtlicher Stellen, insbesondere mit Hilfe der britischen Regierung oder des Roten Kreuzes, teils um direkte Aktionen in Verbindung mit der Untergrundbewegung in Frankreich und Belgien oder ähnliche Massnahmen. Hier ist zunächst der Austausch einer kleinen Gruppe palästinensischer Frauen und Kinder zu erwähnen, die am Anfang des Krieges in Deutschland interniert worden waren. Durch das Rote Kreuz war es dem Genfer Büro gelungen, die Liste dieser Frauen und Kinder zu erlangen und ihnen mehrfach Pakete mit Lebensmitteln zugehen zu lassen. Auch konnte das Genfer Büro durch ständige Verbindung mit dem Roten Kreuz bewirken, dass einige Sonderfälle dieser Gruppe, bei denen der Austausch Schwierigkeiten machte, glücklich geregelt wurden.

473 Insgesamt wurden etwa 565 000 ungarische Juden ermordet.

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Ferner sei in diesem Zusammenhange der Austausch von 281 Personen474 aus dem Lager von Bergen-Belsen genannt, |8| die im Monat Juli des Jahres 1944 nach Palästina gelangten. Dieser Austausch wurde dadurch möglich, dass die deutschen Behörden die Inhaber von Palästina-Zertifikaten (sogenannten Rettungszertifikaten), die die britische Regierung auf Vorschlag der Jewish Agency für bedrohte Juden in den feindlichen Ländern bewilligt hatte, als Kandidaten für einen Austausch gegen deutsche Staatsbürger im britischen Weltreich betrachteten. Die Verhandlungen über diesen Austausch wurden vom Genfer Büro mit der britischen Legation in Bern geführt. Die Schwierigkeit lag darin, dass einer sehr grossen Zahl jüdischer Zertifikatsinhaber nur eine sehr kleine Zahl von Deutschen gegenüberstand, die für einen Austausch in Frage kamen. Man durfte daher die Angelegenheit einerseits nicht forcieren, damit die Deutschen nicht nach erfolgtem Austausch ihrer wenigen Landsleute die ganze Angelegenheit fallen liessen, andererseits durfte der Austausch nicht zu lange verzögert werden, da die jüdischen Austauschkandidaten dem Hungerregime in Bergen-Belsen ausgesetzt waren, und weil auch {weil} die Gefahr bestand, dass die Deutschen von dem Plan zurücktraten, wenn er nicht in einer bestimmten Frist durchgeführt wurde. Während die britischen Instanzen eine Zeitlan#¦g¦ offenbar auf den zuerst genannten Gesichtspunkt Rücksicht nahmen und die Angelegenheit einige Monate in der Schwebe hielten, drängte das Genfer Büro im Monat ¦Mai¦ des Jahres 1944 auf möglichst rasche Erledigung, damit wenigstens ein Anfang gemacht und ein Teil der Auswanderungskandidaten befreit werde. Nach wiederholten umständlichen Verhandlungen wurde der Austausch schliesslich via Konstantinopel durchgeführt und die Gruppe von 281 Personen traf ¦Anfang Juli 1944¦ in Palästina ein. |7|  Als Rettungsaktion mit Hilfe amtlicher Stellen ist auch die schon vorstehend angedeutete Zertifikatsverteilung zu betrachten, die einer sehr grossen Zahl von Personen das Leben gerettet hat. Auch hier ging die erste Anregung von Genf aus. Versuchsweise schrieb das {Genfer} Palästina-Amt an eine Reihe von Personen in Holland sowie später auch in Belgien und Frankreich Briefe, in denen bescheinigt wurde, dass die Betreffenden zur Auswanderung nach Palästina vorgemerkt seien. Diese Briefe hatten zunächst die Wirkung, dass ihre Inhaber in Holland von der Deportation zurückgestellt und im Lager Westerbork belassen wurden. Dann verlangten die deutschen Behörden

474 Im Zuge des dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenaustauschs wurden im Sommer 1944 150 Deutsche gegen 283 Juden mit britischen bzw. palästinensischen Papieren ausgetauscht; davon kamen 222 aus Bergen-Belsen, 50 aus Vittel sowie elf aus dem Internierungslager in Laufen.

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aber, dass die Zertifikatserteilung amtlich bestätigt würde. Nunmehr wurden in einer ganzen Reihe von Ländern Europas Listen von zionistischen Vatikim aufgestellt und der Palästina-Regierung eingereicht. Nach Bestätigung dieser Listen durch die Palästina-Regierung wurden sie durch das Foreign Office in London der Schweizer Regierung als Schutzmacht der britischen Interessen zugeleitet und seitens der Schweiz den deutschen Behörden übergeben. Die deutschen Behörden erkannten im allgemeinen diese Listen an, wenngleich die Wirkung in den einzelnen Ländern recht verschieden war. Wie schon erwähnt, wurden die Zertifikatsinhaber in Holland zunächst in Westerbork interniert und dann als Austauschkandidaten nach Bergen-Belsen überführt. Ueberraschend gross war der Erfolg in Belgien, wo die via Bern bestätigten Zertifikatsinhaber vollkommen frei und unbehelligt blieben. Das Genfer Büro erhielt wiederholt Dankbriefe aus Brüssel von Personen, die auf seine Veranlassung auf die Zertifikatslisten gesetzt worden und dadurch nicht nur von der Deportation gerettet, sondern in Freiheit belassen und sogar vom Tragen des Judensterns befreit worden waren. |10|  Gegen Ende des Krieges wurden seitens des Genfer Büros noch eine Rettungsaktion in Ungarn versucht, die ebenfalls auf den dorthin erteilten Zertifikaten beruhte. Die deutschen und ungarischen Behörden hatten sich bereit erklärt, 4000 Inhaber von schwedischen Schutzpapieren sowie 8000 Inhaber von Palästina-Zertifikaten als bevorzugte Kategorie anzuerkennen. Diese Personen wurden in besonderen Häusern untergebracht, die unter dem Schutz des Roten Kreuzes standen. Das Genfer Büro hatte in dieser Sache Verhandlungen mit der britischen Gesandtschaft in Bern geführt, um eine möglichst geeignete Form zu finden, in der den Zertifikatsinhabern bescheinigt werden sollte, dass sie durch ihre Ausreise nach Palästina zugleich das Anrecht auf spätere Einbürgerung in Palästina erwerben. Die vorgeschlagene Formel wurde von britischer Seite akzeptiert und den Schweizer Behörden mitgeteilt. Es folgten dann Verhandlungen {mit der amerikanischen Gesandtschaft in Bern und} mit der Schweizer Regierung, die sich bereit erklärte, die oben erwähnten 12 000 Personen (8000 Inhaber von Palästina-Zertifikaten und 4000 Inhaber schwedischer Schutzbriefe) in der Schweiz aufzunehmen. Durch Vermittlung der Schweizer Regierung und des Internationalen Roten Kreuzes wurden diese Verhandlungen mit der ungarischen Regierung bis zu dem Punkt geführt, dass [sic] die ungarische Regierung sich mit der Ausreise einverstanden erklärte. Die Durchführung der Aktion kam aber nicht zustande – aus Gründen, die bis heute nicht gänzlich aufgeklärt sind, vermutlich aber mit dem Widerstand gewisser deutscher Stellen zusammenhingen. Einige Zeit darauf traf via Bergen-Belsen ein Transport von 1600 ungarischen Juden in der Schweiz ein. Die Verhandlungen, die die Ausreise dieser Gruppe ermöglicht hatten, |11| waren von anderen Stellen und mit anderen

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Methoden geführt worden. Etwa um die gleiche Zeit kam auch in die{er} Schweiz ein Transport von 1200 Personen aus Theresienstadt an. Die Freilassung dieser Gruppe ging auf Bemühungen des früheren Schweizer Bundesrats, Herrn Musy, zurück, der diese Verhandlungen im Auftrag und Einvernehmen mit dem Orthodoxen Rabbinerverband in Amerika geführt hatte. Die furchtbare Situation in Europa veranlasste zahlreiche jüdische Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen Rettungsaktionen verschiedener Art zu versuchen. Das Genfer Büro war über alle diese Versuche informiert und beteiligte sich an manchen davon, während es in anderen Fällen vorzog, die Initiative denjenigen zu überlassen, welche glaubten, mit ihren Kräften und Mitteln etwas ausrichten zu können. Die Entscheidung darüber, welche Aktionen als zweckmässig und welche als unzweckmässig angesehen werden mussten, war häufig sehr schwer, doch haben sich in den meisten Fällen die Auffassungen, die das Genfer Büro vertrat, als richtig erwiesen. Schließlich sei unter den Rettungsaktionen noch besonders die Kinderaktion hervorgehoben, die Herr Jarblum, der aus Frankreich in die Schweiz gekommen war, in enger Zusammenarbeit mit dem Genfer Büro der Jewish Agency und des Jüdischen Weltkongresses durchführte. Die Mittel hierzu kamen von zionistischer Seite und wurden Herrn Jarblum durch das Genfer Büro der Jewish Agency zugeleitet. Es gelang mit dem stillen Einverständnis der Schweizer Behörden Hunderte von jüdischen Kindern aus Frankreich nach der Schweiz zu retten.475 Eine sehr wichtige Hilfsaktion bestand in der |12| Organisierung von Paketsendungen, insbesondere nach Theresienstadt. Herr Dr. Fritz Ullmann, der als Mitarbeiter des Genfer Büros hauptsächlich die Keren Hajessod Arbeit in der Schweiz leitete, hatte es sich zur besonderen Aufgabe gemacht, alle Angelegenheiten der tschechoslovakischen Judenheit zu bearbeiten und ihr nach Möglichkeit Hilfe zu leisten. Es wurde im Genfer Büro unter Leitung Dr. Ullmanns eine Kartothek angelegt, die Tausende von Namen enthielt und es wurden im Laufe der Jahre auf allen erdenklichen Wegen (via Portugal, Schweden, Türkei und durch das Rote Kreuz) zahlreiche Einzelpakete sowie Sammelsendungen nach Theresienstadt geleitet. In dieser Angelegenheit, wie auch in anderen Angelegenheiten von politischem Interesse bestand ein enger Kontakt zwischen dem Genfer Büro und dem Vertreter der tschechoslovaki-

475 Marc Jarblum floh 1943 in die Schweiz und organisierte von dort die Rettung. In einem Report Jarblums und Riegners vom 2. September 1944 berichteten sie, dass seit Oktober 1943 1350 Kinder und Jugendliche aus Frankreich in die Schweiz geschmuggelt wurden. Elisabeth E. Eppler, The Rescue Work of the World Jewish Congress, in: Gutman / Zuroff (Hg.), Rescue Attempts During the Holocaust, 47–70, hier 65.

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schen Interessen in der Schweiz, Dr. J. Kopecký,476 der nach Befreiung seines Heimatlandes zum Gesandten in der Schweiz ernannt wurde. 6) Tätigkeit in der Schweiz. Durch die Existenz des Genfer Büros ergaben sich eine Reihe von Verbindungen und Arbeitsmöglichkeiten in der Schweiz selbst, u. zw. sowohl durch Fühlungnahme mit Schweizer Stellen, wie auch mit den internationalen Organisationen, die von der Schweiz aus ihre Tätigkeit ausübten. Das Genfer Büro hat zunächst die Arbeit des schweizerischen Zionistenverbandes sehr belebt und verstärkt. Die Mitglieder des Büros hielten sehr häufig Vorträge in den Schweizer zionistischen Ortsgruppen und Herr Lichtheim als Vertreter der Exekutive hielt jedes Jahr auf dem schweizerischen Delegiertentag ein umfassendes Referat über die politische Lage. |13| Ferner vertrat Herr  Lichtheim das Direktorium des Keren Hajessod im leitenden Ausschuss des Schweizer Keren Hajessod und reorganisierte zu Anfang des Krieges den Schweizer Keren Hajessod mit dem Erfolg, das die Fondsarbeit trotz der im Kriege entstandenen Schwierigkeiten ungestört weiterging. Für die technische Durchführung der Schweizer Keren Hajessod Arbeit wirkte Herr Dr. Ullmann als ständiger Delegierter. Sowohl mit dem Vorstand des schweizerischen Zionistenverbandes wie mit der Leitung des Schweizer Israelitischen Gemeindebundes und anderen jüdischen Körperschaften in der Schweiz bestanden ständige und freundschaftliche Beziehungen. Enger Kontakt bestand auch mit der Vertretung des Joint, insbesondere mit den Direktoren des Joint, den Herren Troper und Dr. Schwartz, die wiederholt zu Besuchen nach der Schweiz kamen. Ferner bestanden Beziehungen zu dem Internationalen Roten Kreuz und Schweizer Amst¦ts¦stellen, besonders in Angelegenheiten der Flüchtlingsfürsorge, und ein ganz {besonders} enger Kontakt wurde mit dem Vertreter des von Präsident Roosevelt geschaffenen War Refugee Boards, Mr. R. McClelland477 aufrechterhalten. 476 Jaromír Kopecký (1899–1977) war ein tschechoslowakischer Diplomat. Vor dem Zweiten Weltkrieg vertrat er die Tschechoslowakei beim Völkerbund in Genf. Während des Zweiten Weltkriegs fungierter er dort als Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung, die sich 1940 unter Edvard Beneš (1884–1948) in London gegründet hatte. Durch Kopecký gelangten Teile des Vrba-Wetzler-Berichts nach London. 477 Roswell McClelland (1914–1995) war ein in Europa wirkender US-amerikanischer Diplomat. Während des Zweiten Weltkriegs war er gemeinsam mit seiner Frau Marjorie McClelland für die Quäker-Hilfsorganisation American Friends Service Committee (AFSC) tätig. Nach Hilfsaktionen in Lissabon, Rom und Marseille ließen sich die beiden im Spätsommer 1942 in Genf nieder, um das dortige AFSC-Büro zu leiten. Ab April 1944 war McClelland der für die Schweiz zuständige Direktor des War Refugee Boards.

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Genf: Diplomatie während des Holocaust

Die Schweiz hat etwa 20 000 jüdische Flüchtlinge beherbergt, die grössten­ teils im Jahre 1942 nach der Schweiz kamen. Wenn auch die eigentliche Hilfsarbeit und Flüchtlingsfürsorge nicht Aufgabe der Jewish Agency, sondern des Joint und der jüdischen Gemeinde war, so ergab sich doch sehr häufig die Gelegenheit und die Notwendigkeit, zu Flüchtlingsangelegenheiten Stellung zu nehmen und oft auch direkt materielle Hilfe zu leisten, besonders wenn es sich um notleidende Zionisten handelte, die sich um Rat und Hilfe ans das Büro der Jewish |14| Agency wandten. Es kann gesagt werden, dass das Büro Hunderten von Menschen in der Schweiz und häufig auch ausserhalb der Schweiz geholfen hat. Ferner bestand Fühlung mit verschiedenen christlichen Kreisen, die in der Schweiz Interesse an der Judenfrage oder den philantropischen [sic] Ak#¦t¦ionen bekundeten. Hier ist besonders die sogenannte „Genfer Studiengruppe“ zu erwähnen, ein Komitee in dem Repräsentanten zahlreicher Organisationen sassen. Von jüdischer Seite gehörten dem Komitee die Herren Prof. Dr. Guggenheim, {Herr  R.} Lichtheim und Riegner als Vertreter der Jewish Agency und {sowie Prof. P. Guggenheim und Dr. G. Riegner als Vertreter} des Jüdischen Weltkongresses an. Von christlicher Seite waren die leitenden Personen einer ganzen Reihe kirchlicher und weltlicher Organisationen vertreten. Die Studiengruppe befasste sich während etwa eines Jahres in regelmässigen Zusammenkünften mit der Flüchtlingsfrage und veröffentlichte eine Sammelschrift, für die Herr Lichtheim den Beitrag über „die Begriffsbestimmung und den Umfang des Flüchtlingsproblems in Europa“ lieferte.478 Auch die Informierung der Schweizer Presse bildete ein wichtiges Tätigkeitsfeld. Die „Informations de Palestine“ gingen regelmässig allen Schweizer Redaktionen zu und Herr Lichtheim veranstaltete ferner eine Reihe von Pressekonferenzen, insbesondere in der kritischen Zeit nach der Bevin479 Erklärung im Herbst 1945. Solche Pressekonferenzen fanden in Bern, Zürich und Basel statt. Sie waren gut besucht und die gesamte Schweizer Presse berichtete über den zionistischen Standpunkt. Auch erschien eine Reihe von

478 CZA, A56/29, Study Group for Post-War Refugee Problems. First Series of Documents, Geneva 1944. 479 Ernest Bevin (1881–1951) war ein britischer Gewerkschaftsführer und Politiker der Labour Partei. Von 1940 bis 1945 war er Arbeitsminister in der Kriegsregierung Winston Churchills und von 1945 bis 1951 Außenminister der Regierung Clement Attlees. Aus Rücksicht auf die arabischen Staaten lehne Bevin die Aufhebung der britischen Einwanderungsbestimmungen für Juden nach Palästina und die dortige Bildung eines jüdischen Staats ab.

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Artikeln in führenden Schweizer Organen über Palästina und die Judenfrage, in denen der zionistische Standpunkt dargelegt wurde.480 |15| Transfer von Fondsgeldern. Zu Beginn des Krieges übertrug das Hauptbüro des Keren Hajessod in Jerusalem Herrn Lichtheim die Aufgabe, die Interessen des Direktoriums in allen europäischen Ländern wahrzunehmen. In der gleichen Weise wurde Herr Dr. Josef Weiss vom Hauptbüro des KKL delegiert, die Interessen des Jüdischen Nationalfonds zu vertreten. In enger Zusammenarbeit kam ¦haben¦ Herr Lichtheim und Herr Dr. Weiss in den Jahren 1939 und 1940 die ihnen übertragene Aufgabe zum Nutzen der beiden Fonds durchgeführt. Es ergab sich bald, dass die Hauptaufgabe darin bestehen musste, aus den im Krieg befindlichen oder vom Krieg bedrohten Ländern die Beträge zu retten, die dort angesammelt waren, oder die noch während des Krieges dort gesammelt werden konnten. Es gelang auf diese Weise trotz der Kriegsschwierigkeiten aus einer ganzen Reihe von Ländern, insbesondere aus Frankreich, Jugoslavien, Ungarn, Rumänien und den baltischen Staaten, die dort angesammelten Fondsgelder in Dollars zu konvertieren und an die Hauptbüros in Jerusalem weiterzuleiten. Das wurde ermöglicht durch Abmachungen mit dem Joint, dem die betreffenden Gelder an Ort und Stelle für seine Hilfszwecke zur Verfügung gestellt wurden, während der Gegenwert in Dollars vom Joint an das Genfer Büro gezahlt wurde. Auf diese Weise wurden ungefähr 50 000 Pfund aus den verschiedenen europäischen Ländern herausgebracht und nach Jerusalem überwiesen. {Genf 10.4.[19]46}

480 Siehe den Fortsetzungsartikel Richard Lichtheim, Die Judenfrage und ihre Lösungsmöglichkeiten, in: Die Tat, 26. Januar 1946, 2; sowie in: Die Tat, 28. Januar 1946, 6.

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4. Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas

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Dokument 98 Richard Lichtheim an Nahum Goldmann Genf, 9. September 1942 Maschinenschriftlicher Brief, 7 Seiten; handschriftliche Korrekturen, Anstreichungen auf linker Marginalie in roter und schwarzer Farbe CZA, A56/27 [In Reaktion auf eine Rede Goldmanns auf der Biltmore-Konferenz legt Lichtheim seine Gedanken über die Zukunft des Zionismus angesichts des Massenmords an den europäischen Juden dar. Aus seiner Perspektive stellt die Zerstörung der Judenheiten des östlichen Europas den Zionismus als Massenbewegung insgesamt infrage. Von den Judenheiten in Großbritannien, Russland oder Amerika erwartet er keine Masseneinwanderung nach Palästina. Vielmehr dürften diese Gruppen die Rechtsgleichheit und die Assimilation vorziehen. Dadurch sei ein jüdischer Staat in Palästina seiner demografischen Grundlage beraubt.] September 9th, 1942.

RL / DT A/4c.1 Dr. N. GOLDMANN, ℅ Emergency Committee for Zionist Affairs,2 41 East, 42nd Street, New York City. Dear Dr. Goldmann,

I have read with the greatest interest the speech you have made at the Zionist Conference in New York on May 10th, and I wish to compliment you on the 1 Wahrscheinlich Kürzel zur Zuordnung der Korrespondenz. 2 Das Emergency Committee for Zionist Affairs (ECZA; ab 1943 American Zionist Emergency Council) war eine Dachorganisation verschiedener zionistischer Körperschaften in den Vereinigten Staaten, deren Einrichtung auf dem letzten Vorkriegskongress der Zionisten 1939 in Genf beschlossen wurde. Das ECZA repräsentierte unter anderem die Zionist Organization of America, die Frauenorganisation ­Hadassah, Poʼale Ẓiyon und Misrachi. Vorsitzender war Stephen S.  Wise; Nahum Goldmann arbeitete inoffiziell mit dem Komitee zusammen. Siehe Doreen Bierbrier, The American Zionist Emergency Council. An Analysis of a Pressure Group, in: American Jewish Historical Quarterly 60 (1970), H. 1, 82–105.

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Nach der Katastrophe: Die Zukunft Palästinas

frankness and clear-mindedness with which you have treated certain basic problems you {we} have now to face.3 Dr. Kahany has drawn my attention to the fact that Palcor and the Zionist press have said very little about your speech – to put it mildly. This is in no way surprising. The mandarins of the movement are shrinking from the unpleasant thought {truth} and do not want to be bothered with new-fangled ideas. Your speech has been an honnest attemptt to face the facts and to draw the necessary conclusions. That does not mean that I agree with everything you have said; on the contrary, I differ in many respects. But I fully agree with the analysis of the situation as given by you in the first part of your speech and I want to amplify it by some remarks: 1.) You have stated that not more than 2 or 3 million Jews of continental Europe might survive. But in the light of our experiences of the last months it is clear that even this estimate is too optimistic. In all probability not more than 1 or 2 million will survive and this only if the situation of the Jews in Hungary, Roumania and Italy will remain static – a most doubtful supposition. If in these three countries the same things will happen which are now happening in France, Belgium and Holland, then the total Jewish population of continental Europe (apart from Soviet Russia) might be something between 500 000 and one million. Therefore, the most optimistic forecast today is that 1½ million may survive. 2.) In what state, mentally and physically, these remnants of European Jewry will be, you have very ably explained in your speech. You have also drawn attention to the tendencies, which will govern the attitude of many Jews who after emerging from the holocaust4 will try to forget and to start a new 3

Vom 6. bis 11. Mai 1942 versammelten sich im New Yorker Biltmore Hotel Vertreter verschiedener zionistischer Organisationen zu einer außerordentlichen Konferenz. Das maßgeblich von David Ben-Gurion formulierte Biltmore-Programm forderte die Etablierung eines »Jewish Commonwealth« in Palästina nach Kriegsende und die Öffnung der Region für eine unbegrenzte jüdische Einwanderung. Goldmann hielt die Forderung nach einem unabhängigen jüdischen Gemeinwesen für verfrüht und warnte, dass angesichts der nationalsozialistischen Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung nach dem Krieg deutlich weniger Juden nach Palästina auswandern würden, als das Programm annahm. Zionist Archives and Library (New York), Extraordinary Zionist Conference, 9.–10. Mai 1942, New York 1942, Stenographic Protocol. Siehe dazu auch Diner, Ein anderer Krieg, 11–34. 4 Bemerkenswerterweise verwendet Lichtheim den ursprünglich religiös-kultischen Begriff Holocaust, der aus der griechischen Bibelübersetzung stammt und ursprünglich Opferriten des antiken Judentums bezeichnet. Während des Zweiten Weltkriegs

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life. Complete assimilation |2| and baptism will be the solution for many of them and, I may add, especially in those countries where in all probability the majority of the survivors will live, i.e. in Hungary (where Zionism has always been very weak) and in Roumania – provided these states will then exist and will adapt themselves to the way of life of the Western democracies. In the other case, i.e. in the case of a Moscow-governed or a Communist Roumania and Hungary, the Jews will have no need for baptism, but assimilation and complete adaption to the new governing ideas will then become the normal thing, especially for the young. Also, you have been perfectly right when mentioning that new spiritual forces might attract the Jewish youth all over the world – to the detriment of Zionism. 3.) All this means that the basis of Zionism as it was understood and preached during the last 50 years has gone. From Pinsker5 to Herzl and from Herzl to Achad Haam6 and Weizmann: political or cultural Zionism, mass emigration or slow up-building: it was mainly done for the Eastern Jews and by the Eastern Jews, with the others looking on, approving or disapproving, or helping a little. The main argument was: 4 or 5 or 6 million in Eastern Europe need and want a home in Palestine and even the conception of a cultural center was mainly adapted to the spiritual needs, religious and national, of Eastern Jewry. Those in favour of it called themselves Zionists, irrespective of their personal plans and decisions regarding emigration to Palestine. Now, whatever the number of European Jews will be after this war  – half-a-million, one million or two million – there will be no need for such mass-emigration. After the victory of the Allied Nations there can be no problem in resettling this small number of surviving Jews in that “freed” and “democratic” (or communist?) Europe of tomorrow where they will be given equality of rights. 4.) So, the question arises: Can there be a Zionist movement after this destruction of European Jewry and this radical change of their position?

war es vor allem die britische Presse, die mit dem Terminus den national­sozialistischen Genozid an den europäischen Juden beschrieb; der Begriff setzte sich im deutschen Sprachgebrauch zunächst nicht durch. Ulrich Wyrwa, »Holocaust«. Notizen zur Begriffsgeschichte, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8 (1999), 300–311. 5 Leo Pinsker (1821–1891) war Arzt und Vordenker des Zionismus. 6 Ascher Hirsch Ginsberg (1856–1927), bekannt unter seinem Pseudonym Achad Ha‘am (Einer des Volkes), war ein Schriftsteller und Ideengeber des Kulturzionismus.

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Of course, there will be some thousand or perhaps one hundred thousand or even two hundred thousand among the survivors who will be able and willing to go to Palestine, while the majority of the survivors will in all probability need clinics and asylums. There are and probably will be remnants of the Hechaluz movement7 everywhere and during the first 2 or 3 years following the war, there will be a considerable number of candidates for emigration to Palestine. And then? Will this be the end? Or can we collect new forces for the movement from other Jewish communities and start the movement afresh? 5.) And here is the first point where I differ from what you have said. You are placing much hope on Russian Jewry. But do you really believe that after the victory of the Allied Nations, which means also a victory of Russia, Zionism will become a real force in Soviet Russia? I don’t believe in such a possibility. It |3| may be that Russia will draw a little nearer to Western ideas and that the barrier which separated Russian Jewry from the rest of the Jews will be removed. But can this lead to a revival of Zionism in Russia? I doubt it. Russia will not become “democratic” over night and even in a democratic Russia the Jews – having gone through the Communist school of thought, enjoying full rights and feeling not less but perhaps even more “gleichberechtigt” than in the Western Democracies – will certainly see no reason to go to Palestine. 6.) But maybe you do not want me {them} to go to Palestine. You just want them to be Jews – and they are quite prepared to call themselves Jews just as the Bashkirs8 call themselves Bashkirs in Soviet Russia. But you want more of them. You want them to be “Zionists” by adhering to the “movement” in a spiritual way, in the same way as you apparently want American Zionists to conceive Zionism that is as you have put it in your speech “as a movement for the spiritual and moral revival of the Jewish people in all its aspects.” And here again I differ. There will be no Zionism after this war other than a “go-to-Palestine Zionism.” If we cannot create or re-create such a Zionism, then there will be no Zionism at all. The “movement” and the “moral revival” was alright for Central and Western Europe and America as long there was a Jewish people in Eastern Europe which really need{ed} Palestine and wanted to go there. And even in Eastern Europe many were opposed, like the Agudah, and most of the Zionist He-Ḥ aluẓ war eine zionistische Jugendorganisationen, die ihre Mitglieder auf die Einwanderung nach Palästina vorbereitete. 8 Baschkiren waren eine vorwiegend muslimische, turksprachige Minderheit in der Sowjetunion.

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leaders preferred to remain and to play with Galuth-politics.9 But “spiritual Zionism” as an aim in itself after this war and after the annihilation of Eastern Jewry? Yes, for a few – but not as a “movement”, not as a leading force or the leading force among the millions of Russia or the Western hemisphere. We have had this sort of thing in Germany and Austria. We have been excellent Zionists, full of “spiritual movement” and “moral revival.” But we did not sweep German Jewry off their feet with all our enthousiasm [sic] and our propaganda. How many of us have been there in Germany and Austria while German Jewry enjoyed “Gleichberechtigung,” and what have we done? We have talked and written and we have smashed the assimilationists in speeches and articles – but very few of us really went to Palestine. We always felt a little ashamed about that state of affairs, but we had an excellent excuse: we had to organize the movement, we had to collect the money all over the world, we had to conduct political negotiations, and we had to formulate the ideas – and by doing all this we really have rendered a service to the cause of the masses. Most of the great Zionist literature has been written in German: Moses Hess,10 Hirsch Kalischer,11 Herzl, Nordau. The Jewish Colonial Trust, the Palestine Land Development Company,12 the Jewish National Fund, the first Colonisation Office in Jaffa under Ruppin – it was all conceived by German-speaking |4| Zionists in Berlin and Vienna. We were only a small minority within our own more or less assimilated communities but at that time we did a real job and we were proud to be the organizers and officers of the people, the real people, the eight million Jews in Eastern Europe, in whose name we were speaking and acting. Now this people does no longer exist. 3 or 4 millions have been swallowed or will be swallowed by Soviet Russia, the other four millions are dying. 9 Das hebräische Wort galut bedeutet wörtlich Exil und bezeichnet die jüdische Diaspora, d. h. die Gesamtheit aller Juden, die außerhalb ihres angestammten Landes – bis 1948 war hiermit das biblische Land Israel gemeint, danach der moderne Staat – als Minderheit in einem anderen Land lebten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zielte nationaljüdische Diasporapolitik auf die Sicherung von politischer Teilhabe und Minderheitenrechten vornehmlich im östlichen Europa. 10 Moses Hess (1812–1875) war ein frühsozialistischer Schriftsteller und Pionier des Zionismus. 11 Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) war ein orthodoxer Rabbiner und Vordenker des religiösen Zionismus. 12 Die Palestine Land Development Company wurde 1909 von Arthur Ruppin und Otto Warburg gegründet. Ihre Aufgabe war es, Land anzukaufen, die landwirtschaftliche Ausbildung von Juden zu organisieren sowie entsprechende Siedlungen in Palästina aufzubauen.

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Now you are asking the Jews of Russia and America to create “some sort of Zionist movement,” a “spiritual revival,” something, which centers around Palestine. But why #{s}hould they create that? For whom? In whose interest? Where are the people to be officered by the{ose} noble enthousiasm{ts}? Why should they create that if not for themselves? So, I come to the crucial point: Will there be a real Zionist movement among the Russian and British and American Jews, not to save others but to save themselves? I told you why I don’t believe in such a movement for Russia. But can there be a Zionist movement for the five million Jews in America, a real one, which would mean emigration to Palestine of American Jews on a considerable scale? If not, it would be the end of Zionism as a movement. There will be a Jewish Palestine after this war which may grow from 500 000 to 600 000 or 700 000 or even 800 000 because there will always be a limited number of Jews among the remnants of European Jewry and also among the Jews in Russia, the British Empire, in America and elsewhere, who want to go to Palestine now that the foundations have been la{i}d in sixty years of labour. But we are not entitled to call that a movement if and when the majority of the Jews in these countries are drifting away from Judaism by assimilation or also to the “bigger” and very attractive ideas which you have mentioned in your speech. It is a hard thing to grasp for old Zionists but it all means that under such circumstances there will be no Zionist movement as we know it. Therefore, I put this question to you: can you make understand these 3 or 4 million Jews in Russia and the 6 million Jews of North and Latin America and the British Empire what Zionism really is and can you induce them to go to Palestine – not all of them but let us say about 50 000 or 100 000 every year? If not – don’t fool yourself by words like “spiritual revival” or by a new sort of Galuth nationalism consisting in “strengthening the bonds among Jewish communities.” Strengthening for what? For Palestine? With no Jews going there (or only some individuals who don’t need to be organised){?} o{O}r just for organising meetings and congresses for the sake of meetings and congresses? Then Zionism would become something like reform-Judaism, something to talk about in after-dinner-speeches, an empty shell and not a movement. How right you were when you said: “The youth can be attracted to Zionism on the |5| theory of European Jewish emigration as its only ideal,” and therefore you asked for a revival of Zionism as a “movement.” But as long as there was Jewish emigration from Europe to Palestine, your youth had at

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least something to look at. You showed him [sic] at least the photographs of other Jews going to Palestine and you told him of Haluzioth. But if there is no longer any considerable European Jewish emigration to Palestine – what does your revival and your movement mean, if your youth is unwilling to go himself to Palestine? And there is another problem, an internal problem of Zionism. When we were young, we regarded Zionism as a doctrine valid for every Jew, in principle at least. But then came what you yourself have so well described as a period of appeasement. Today Zionist leaders everywhere are preaching the formula: “A Jewish Palestine – and equal rights for the Jews as citizens of their country.” We have never been opposed to equal rights but we have never made of it an essential part of our Zionist program. That is where the change lies and it is a dangerous change. It is a cheap and easy formula and many honest Gentiles are saying: “Look here, you cannot have it both ways.” But I would not mind {that}. We are entitled to ask for broadmindedness – even if we do not get it {that}. We are entitled to say: give us the right to live wherever we like and to make a living there without asking too much of our soul. Allow us to be good citizens while also taking an interest and an active part in the reconstruction of a Jewish state in Palestine. Broadminded and decent people will say: OK, have it your way. But that is not where the problem lies, it lies in ourselves, in our system of education for the young. We cannot tell the youngsters that they are good Britishers or Americans, greeting the flag in school, enjoying equality of rights, complaining loudly if the smallest part of these rights is taken from them – and at the same time tell them not to make full use of these rights. That means we cannot stop them to become assimilated and to throw up Judaism in any form, which is more than a harmless religious or philantropic  [sic] tradition, quite unimportant in comparison with the “real” life they are living in America and the British Empire. You may say that that is where Jewish and Zionist education comes in, but by saying so you will be talking like a liberal Rabbi or a communal worker (not to speak of the Bundist13 fools who are still babbling along about a renaissance of Yiddish).

13 Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund war eine 1897 in Russland gegründete jüdische Arbeiterpartei, die vorrangig im östlichen Europa aktiv war. Die sozialistische Partei lehnte den Zionismus und die Wiederbelebung des Hebräischen ab. Statt­ dessen trat sie für die rechtliche Anerkennung der Juden als Nation und deren Schutz durch Minderheitenrechte sowie die Pflege des Jiddischen als jüdische Nationalsprache ein.

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Life is stronger than this sort of education and so again we come to the question: What part can Palestine play in the life of such a Jew? During one or two generations he might take part in pro-Palestinian conferences, he might contribute to some fund and then he will sign a cheque for a mixed community chest subsidising in equal parts churches, synagogues and mosquees  [sic]. But he will not go to Palestine and therefore his son will dream of becoming not a Halutz, but a |6| baseball-player, or a professor at Harvard University, or a newspaper-man, or a film-director in Hollywood or – if he is an idealist – a leader in the most progressive movement of the day. (And you want Zionists to combine forces with the progressive movements, don’t you?) So that is what the next generation will think and why not? Didnot{‘t} you tell him that he was entitled to enjoy full rights? And do not the Zionist leaders of today in Great Britain and America regard themselves as 100  percent Britishers and Americans? That is the educational problem. Can you solve it? Will it not solve itself by total and complete assimilation which means in the end inter-marriage, because the assimilated Jew of the next generation will be afraid (and quite rightly so) that antisemitism might do to him what it did to the German Jew because he was making use in all directions of his “equal rights,” while remaining by marriage within his semi-religious, racial clan? Is not that exactly what the American Jews are doing today and are they not already trembling for fear of the results of such half-hearted assimilation? How can Zionism become again a strong, a “revolutionary,” a leading movement in Jewish life while Zionist leaders themselves have made “equal rights” their slogan which, as I tried to show you, means assimilation? These leaders are of course only following the general trend of events in their countries. It is quite natural today for Russian, British and American Jews to become more and more amalgamated with their surroundings, fighting with them in this war, insisting on their rights and regarding themselves a hundred percent this or that. Looking at the great Jewish communities and at the Zionist organisations in England and America as they present themselves today to an unbias{ed} observer, I feel that Zionism as it was presented to the world during the last 20 years is finished. You have tried to find a way out, to formulate a new program, but in that I am afraid you have failed. You have been looking for a formula – but that is not good enough. The question is: can there be a new sort of Zionism emerging out of this catastrophy  [sic]? And Zionism adapted to the Western world but radical in that sense that it will lead a considerable part of the younger generation straight to Palestine?

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I don’t know. May be it will all end with the little “cultural center” we have been able to create. May be that 500 000 Hebrew-speaking Jews in Palestine are the beginning of a new epoch of Judaism, a sort of enlarged Yavneh.14 If so, we do not need anymore Ortsgruppen and Congresses and all the rest. There will always be some Jews from all over the world longing to ### join that enlarged school of Yavneh and there may also be committees to collect money for Palestinian institutions. But then let us stop talking of Palestine as the “solution of the Jewish |7| problem.” It might have been the solution for the Jews of Europe, but now it is too late. For the others, their accepted principle now is “equal rights” which is only another term for remaining where they are and become{ing} assimilated. A last word regarding the Jewish state: it always struck me while{y} the same Zionist leaders who were always opposed to the idea of a Jewish state, are now loudly shouting for it. The Histadruth15 people I understand: they feel now sufficiently strong to run a little state based on the 500 000 already in Palestine. But the others? Those in London and Washington? Do they ask for that state because they have a feeling that the movement has come to an end and because they want it to look at least like a happy end? I must confess that I am rather doubtful as to the possibility of getting that state just now. 500 000 Jews are not enough and even 800 000 will be a minority in Palestine. How can we ask for that state if we cannot show that several million Jews need it or, what is more, want it? If the American Zionists are in earnest about the Jewish state or commonwealth, then they will have to ask for it as their proper concern and they will have to go themselves and build it. Is that asking too much from them? Perhaps it is. But then we should be clear about our own future and our political possibilities. This generation will have to choose between Zionism and assimilation. Perhaps there can be a new Zionist movement in America, a real movement, a young and spirited one, a movement not to remain but to “move,” the

14 Javne ist eine Stadt südlich von Tel Aviv. Sie gilt nach Jerusalem als der bedeutendste Ort für die postbiblische jüdische Geschichte. Nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Zweiten Tempels entwickelte sich die Stadt zum neuen religiösen Zentrum des Judentums. Unter dem Einfluss des Rabbiners Jochanan ben Zakkai (ca. 30–90 d. Z.) entstand hier eine jüdische Gelehrtenschule, die die Basis des rabbinischen Judentums schuf. 15 Ha-Histadrut ha-klalit shel ha-Ovdim be-Ereẓ Yisra’el (Allgemeiner Verband der Arbeiter im Lande Israel, kurz Histadrut), ist der Dachverband der Gewerkschaften Israels. Er wurde im Dezember 1920 von David Ben-Gurion in Haifa gegründet.

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only one which can bring constant immigration to Palestine and can in the end lead to the establishment of a Jewish state or commonwealth (within or outside some larger federation). If the Americans and the other more or less assimilated Jewish communities cannot or will not create such a movement for themselves, then let them stop talking of an Zionist movement and of a Jewish commonwealth. There is no need for a Jewish commonwealth without Jews. The 500 000 or 800 000 of Palestine will, under the protection of the great powers, find some form of local self-government and cultural independence. But we cannot call that a commonwealth. Well, there is a lot more to be said but there must be an end, even to this letter. It was a good thing and an act of moral courage that you started this discussion – I hope the mandarins will forgive you. With kindest regards, yours, R. Lichtheim

Dokument 99 Richard Lichtheim an Robert Weltsch Genf, 11. November 1943 Maschinenschriftlicher Brief, 3 Seiten; handschriftliche Korrekturen CZA, A56/36 [Lichtheim bemängelt das Zukunftsdenken der zionistischen Führung und kritisiert deren Umgang mit den ersten Nachrichten über den systematischen Massenmord an den europäischen Juden. Mit Weltsch sieht er sich vor allem in seinem skeptischen Blick auf den Zionismus einig. Auch wenn er die von Weltsch vertretene binationale Lösung nicht für wünschenswert erachtet, hält er es für möglich, dass diese zukünftig aufgegriffen werden muss.]

Herrn Dr. Robert Weltsch Gaza Road Jerusalem-Rehavya

11. November 1943

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Lieber Dr. Weltsch, ich freute mich, Ihren Brief vom 17.  Oktober zu erhalten, als ein Lebenszeichen und auch als ein Zeichen dafür, dass wir uns trotz Verschiedenheit politischer Ansichten wahrscheinlich doch noch besser verstehen, als mit den meisten derjenigen mit denen wir Beide in unserer beruflichen Arbeit zu tun haben. Ich kann Ihnen schwer schildern  – und sicher nicht in einem kurzen Brief – was in diesen Jahren hier um mich und in mir vorgegangen ist. Ich will auch aus bestimmten Gruenden keine endgueltige Prognose ueber die dortige Entwicklung stellen, aber ich fuehle, dass wir Beide von aehnlichen Sorgen bewegt sind. Manches von dem, was sich jetzt herausstellt, habe ich schon vor mehr als einem Jahr erkannt und darueber an Nahum Goldmann geschrieben, der im Mai 1942 auf der zionistischen Konferenz in New York eine bemerkenswerte Rede gehalten hat, in der die Zukunftsprobleme wenigstens angeschnitten wurden. Aber auch das war schon zu viel fuer die Mandarine der Bewegung und die Rede wurde nirgends abgedruckt. Wir haben sie hier spaeter in einer Broschuere zusammen mit den Reden von Weizmann und Ben-Gurion veroeffentlicht. Ich lasse Ihnen diese Broschuere separat zugehen. In der Anlage sende ich Ihnen eine Kopie meines damaligen Briefes an Goldmann vom 9. September 1942.16 Sie werden dort vielleicht manche Bemerkungen finden, die Sie interessieren werden, als ein erster Versuch, der Problematik der neuen Situation Ausdruck zu geben. Der Mangel an Ernst mit dem die Zukunftsfragen so haeufig bei uns behandelt werden, macht sich leider auch auf dem Gebiet der praktischen Arbeit fuehlbar und ich habe dadurch auch hier zu leiden gehabt. Dieselbe ober­fla{ä}chliche Geschaeftigkeit, die sich dort und auch jenseits des Ozeans in einem nicht enden wollenden Strom von Meetings und Resolutionen auslebt, wirkt auch auf die schwere und duestere Tagesarbeit zurueck, die wir hier zu leisten haben. Darueber werden Sie vielleicht spaeter einmal von mir Naeheres erfahren. Sehr kurz gesagt handelt es sich um folgendes: Angesichts der furchtbaren Tragoedie konnte und kann verhaeltnis­ maessig nur Weniges geschehen, aber immerhin konnte und kann einiges geschehen. |2| Leider geschah manches nicht zur rechten Zeit, teils wegen der wirklich sehr grossen Schwierigkeiten, die in der Kriegssituation liegen, teils aber auch weil nicht rechtzeitig und mit dem noetigen Nachdruck klare und bestimmte Forderungen gestellt wurden. Es war vieles zu vage und unbe16 Dokument 98.

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stimmt. Man machte Vorschlaege die gar nicht die wirkliche Situation trafen und versuchte das Wenige nicht, was getan werden konnte. Dazu kam, dass man speziell drueben bei Ihnen viel zu spaet von der Katastrophe Kenntnis nahm. Meine diesbezueglichen Berichte wurden laen­ gere Zeit nicht beachtet, oder fuer Uebertreibungen gehalten. Als dann aber die Katastrophe ihren Hoehepunkt erreichte, erfolgte ein Umschlag ins Gegenteil, der sich in einem wilden Gefuehlsausbruch manifestierte. Dann wiederum (und in dieser Periode stehen wir noch) sollte à tous¦t¦ prix etwas geschehen und eine Anzahl Leute die bis dahin von der wirklichen Lage keine Notiz nehmen wollten, stuerzten sich ploetzlich mit wilden Gebaerden in die sogenannte Rettungsarbeit. Allerlei toerichte und unausfuehrbare Plaene und Projekte wurden geschmiedet und wenn ich die Dinge auf die Realitaet reduzierte, war ich natuerlich ein unheilbarer Pessimist oder kaltherziger Buerokrat. Es wurde geredet und gereist und telegrafiert und telefoniert, aber es kam bei alldem gar nichts heraus, ausser voellig unnoetige Spesen. Dafuer wei¦ie¦gen dann dieselben Leute, deren Leben vor kurzem ganz durch Festreden und Paraden ausgefuellt war, sich jetzt in der angenehmen Ueberzeugung sie seien mit der Rettung der Judenheit beschaeftigt. Das wenige aber, was wirklich noch geschehen kann, erfordert stille und eindringliche Arbeit, ein deutliches Wissen um das was ist und was man machen kann. Und hier beklage ich die Mischung von Oberflaechlichkeit, Eitelkeit und Impulsivitaet die Sie mit Recht auf einem anderen Gebiet ruegen. Auf diesem Gebiet bin ich mit Ihnen wahrscheinlich in mancher Beziehung nicht einig und wir koennen die Diskussion da aufnehmen, wor [sic] wir sie vor 14¦5¦ Jahren verlassen haben. Ich glaube noch immer nicht an die binationale Loesung, wie sie Ihnen und wohl auch Landauer17 vorschwebt. Ich habe auch kein Vertrauen zu der „maerchenhaften Wiedergeburt der demokra­tischen Staerke“ falls Sie damit nicht nur den machtpolitischen Aufschwung der 17 Georg Landauer (1895–1954) war Jurist und zionistischer Funktionär. Ab 1920 leitete er die deutsche Sektion der sozialistisch-zionistischen Partei Ha-Po’el ha-Ẓa’ir (Der junge Arbeiter). Von 1924 bis 1925 fungierte er als Leiter des neuen Palästina-Amts in Berlin. Von 1926 bis 1929 war er als Sekretär des Arbeitsdepartments der Zionistischen Organisation in Jerusalem tätig. 1929 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm bis 1933 erneut die Leitung des Palästina-Amts; er gehörte zu den Mitbegründern der Reichsvertretung der Deutschen Juden. Von Ende 1933 bis 1954 hatte er die Geschäftsführung des Jerusalemer Zentralbüros für die Ansiedlung deutscher Juden in Palästina inne. Er engagierte sich in der Hit’aḥdut ole Germanya we-ole Austria und gehörte im Okober 1942 zu den Mitbegründern der Partei Aliya Ḥ adasha. Landauer trat für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung und ein binationales Gemeinwesen in Palästina ein.

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betreffenden Staaten, sondern eine Wiedergeburt demokratischer Ideen als Grundlage der individuellen und nationalen Freiheit der Menschen meinen. Ich sehe vielmehr als Resultat des Krieges eine Aufrichtung grosser machtpolitischer imperialistischer Systeme, freilich auf einer besseren menschlichen Grundlage, als wenn die andere Seite gesiegt haette, aber schliesslich doch so etwas fuer die ganze Welt wie es der Wiener Kongress seinerzeit fuer Europa schuf. Das bedeutet vielleicht Fortschritt und Wohlstand aber es ist in seiner Basis Machtpolitik groessten Stils. Ich haette nichts dagegen, wenn in diesem Rahmen unsere Sache gedeihen koennte, sehe dies aber noch nicht und sehe auch andererseits nicht welche Hoffnungen Sie eigentlich auf die von Ihnen angenommene Wiedergeburt der |3| Demokratie setzen, sofern wir betroffen sind. Noch weniger als an den binationalen Staat, glaube ich an die Vision des Hashomer Hazair,18 der das Heil fuer uns in einer Art juedisch-arabischer Klosterbruederschaft erblickt. Ich bin in meiner Konzeption ziemlich unveraendert geblieben und glaube noch immer, dass wirklicher Zionismus das zur Voraussetzung hat, was ich vor 15 Jahren in den Auseinandersetzungen mit Ihnen als Postulat aufstellte. Aber ich bin heute mit Ihnen einig in der sehr skeptischen Beurteilung der Moeglichkeiten, und wundere mich ueber die Naivitaeten, die in dieser Beziehung dort und anderswo produziert werden. Ich halte es durchaus fuer moeglich, dass uns nichts uebrig bleibt als uns mit Ihrem alten binationalen Programm abzufinden, denn die Voraussetzungen fuer das, was ich seinerzeit wollte, sind heute weniger gegeben als je. Wir haben es versaeumt, rechtzeitig den Rahmen auszuspannen und auszufuellen. Das habe ich seinerzeit vorausgesehen und gefuerchtet. In einem Blumentopf kann man keinen Park anlegen und wir freuten uns immer {ü}ber die Blumentoepfe statt den Zaun um den kuenftigen Park anzulegen. Sie sehen, dass ich in diesem Punkt nicht anders empfinde als frueher, aber ich denke zusammen mit Ihnen und da kommen wir vermutlich, was die jetzigen Moeglichkeiten betrifft, zu sehr aehnlichen Ergebnissen. Nun, Sie verstehen mich gewiss und ich will dabei nicht laenger verweilen. Dieser Brief ist keine Darstellung der Lage, sondern nur ein freundschaftli18 Ha-Shomer ha-Ẓa’ir (Der junge Wächter) ist eine bis heute bestehende internationale sozialistisch-zionistische Jugendorganisation. Das Hauptanliegen der 1913/1914 in Galizien gegründeten Institution war die Organisation der Auswanderung jüdischer Jugendlicher nach Palästina, wo sie durch die Gründung von Kibbuzim auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft hinzuwirken suchten. Die Organisation warb für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung und ein binationales Gemeinwesen.

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cher Gruss und zugleich Ausdruck des Wunsches weiter in Kontakt mit Ihnen zu bleiben. Wir werden vielleicht nach dem Kriege noch manches gemeinsam zu tun und zu sagen haben. Herzlichst Ihr P. S. Wegen des Mitteilungsblattes irren Sie sich: Dr. Lauterbach hat mir wiederholt in dunklen Andeutungen zu verstehen gegeben, dass er es mir nicht senden koenne. Ich hoffe aber es jetzt von Ihnen regelmaessig zu erhalten. Sie muessen aber sehen, dass es via Istanbul an mich geht und deutlich an mich persoenlich adressiert ist.

Dokument 100 Richard Lichtheim an Lewis Bernstein Namier19 Genf, 29. Februar 1944 Maschinenschriftlicher Brief (Kopie), 2 Seiten; handschriftliche und maschinenschriftliche Korrekturen CZA, A56/27 COPY

29th February 1944

RL / T – A/2 Professor L. B. Namier The Jewish Agency for Palestine 77, Great Russell Street, London W. C. 1

19 Lewis Bernstein Namier (1888–1960) war ein im Russischen Reich geborener, britisch-jüdischer Historiker. Zwischen 1929 und 1931 war er für die Jewish Agency tätig, bevor er 1931 zum Professor an der Universität Manchester berufen wurde. Er verfasste früh Studien zur internationalen Politik kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus. Zudem war er als Kritiker der Appeasement-Politik und Deutschlands bekannt.

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Dokument 100

Dear Professor Namier, I have just re-read your admirable little pamphlet “The Jews,”20 reprinted from your equally admirable book “Conflicts,”21 and that gave me the idea to write you some words about our policy. Two years ago, I wrote a long letter to Nahum Goldmann22 explaining to him that it is a dangerous mistake to base our political demands on the alleged necessity of evacuating several millions of Jews from continental Europe, while the British and American Jews (Zionists included) wish to stay where they are. Without a strong Zionist movement in the Anglo-Saxon countries, a movement based on “personal Zionism” as explained in your books and pamphlets, there will be no Zionist movement after this war. It is not true – and I have known that for years – that 2 or 3 million Jews will have to emigrate or will have to be evacuated from Europe. This mistaken conception on which the Biltmore resolution was based – (“we here in Britain and America do not need it, but the Jews of continental Europe must now have a state of their own because they cannot stay where they are and, as everybody knows, they must not come to England or America”) – this mistaken conception seems still to be the basis of our official policy. I regard this as a disaster. We cannot change the facts  ### by more propaganda and a policy based on such miscalculation will end in a shuttering defeat. In an article published by Prof. Brodetsky in April 1943 in “The New Commonwealth Quarterly”23 I find the following passage: “It therefore appears that the emigration of perhaps two or three million Jews will have to be provided for.” Here again is this cheapest fro{or}m of philantropic [sic] Zionism supported by statistics which are all wrong. In the whole of continental Europe (Russia included) there are by now – and that was to be foreseen in 1942 at the latest – not more than one and a half million or perhaps one million 700 000 Jews. Of course, 800 000 are in Hungary, 270 000 in Rumania and about half a million in the rest of Europe. I do not know what will become of Hungary and Romania. In case of Russian occupation and Bolshevisation the large majority of the Jews will suffer materially but will be freed politically. In that case there may be a considerable number of would-be emigrants (capitalists with money in other countries or young people who are religious or otherwise anti-Bol20 Lewis Namier, The Jews, Jerusalem 1942. 21 Lewis Namier, Conflicts. Studies in Contemporary History, London 1942. 22 Dokument 98. 23 Selig Brodetsky, The Jewish Problem, in: The New Commonwealth Quarterly  8 (1943), H. 4, 121–130.

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shevik.) But there will be no organised, large-scale emigration, certainly no total exodus. Many Jews will choose to remain for all sorts of reasons, many of the young will become ardent Bolsheviks. Besides, the Russians, or a Bolshevik system on Russian lines, will not allow mass emigration of the Jews. In the case that Hungary and Rumania will remain independent, they will turn to the Western world and will go back on their antisemitic policy (Hungary has done so already). In that case the majority of the Jewish bourgeois element will remain, while a considerable part of the younger generation will wish to emigrate – but not all of them to Palestine. Of the five- or sixhundred thousand Jews in the other countries of Europe only a fraction is willing and able to go to Palestine (Of the 40 000 Jews in Bulgaria a large |2| percentage intends to leave at the first opportunity – but this also depends of what will become of Bulgaria after the war). The majority of the scattered half million will stay in or return to their former countries of residence. This applies to the Jews of the neutral countries, of France, Belfium [sic], Holland, Italy, Greece, Denmark … Others will emigrate, driven by a variety of reasons, especially family bonds, and among the actual “refugees” in Switzerland, Spain and Sweden there is certainly a high percentage of candidates for emigration to Palestine and other countries: German and Polish Jews will in most cases refuse to go back to Germany or Poland. But these “refugees” as well as the other Jews of continental Europe (always leaving aside Russia) who intend to emigrate after the war to Palestine or elsewhere are to be counted not in hundreds of thousands but only in tens of thousands! Putting together all refugees and other prospective candidates for emigration to Palestine you may arrive at a figure of one hundred thousand or let us say, for arguments sake, of two hundred thousand – but never at two or three million! I am very much afraid that our official policy, discarding true Zionism and basing its demand for a Jewish Palestine on a misrepresented European refugee problem, will end in confusion, bewilderment, deception {disap­ pointment} and finally in a political breakdown from which our movement will not recover, at least not in this generation. I am, dear Professor Namier, very sincerely yours, R. Lichtheim

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Dokument 101

Dokument 101 Richard Lichtheim an Robert Weltsch Genf, 10. März 1944 Maschinenschriftlicher Brief, 1 Seite CZA, A56/36

Herrn Dr. Robert Weltsch, Gaza Road Jerusalem-Rehavya.

10. März 1944

Lieber Dr. Weltsch, vielen Dank für Ihren Brief vom 9. Februar.24 Es freut mich, dass Sie meinen Brief vom 11. November 194325 erhalten haben. Um die Dinge ganz klar zu machen, sende ich Ihnen anbei auch noch einen Brief, den ich am 29. Februar an Prof. Namier26 geschickt habe. Ich bitte Sie auch diesen Brief Kreutzberger27 und seinen Freunden zur vertraulichen Kenntnisnahme mitzuteilen. Mehr oder weniger stimme ich mit Ihrer Formulierung überein, dass das beste eine Art Fortsetzung des bisherigen Regimes in Palästina wäre, wenngleich unsere Motive möglicherweise etwas differieren. Ich gehe mehr von unserer Schwäche in Europa, Sie mehr von der inneren Verfassung unserer Leute in Palästina aus. Ich sehe eigentlich nur 2 Möglichkeiten, die uns halbwegs befriedigen könnten: entweder ein „gutes“ Kolonisationsregime bei Fortdauer des jetzigen Systems, d. h. an Stelle des obsolet gewordenen Mandats im Rahmen einer englischen Kolonie oder eines Dominions, oder aber bei Aufrechterhaltung dieses Grundprinzips gleichzeitig Etablierung jüdi24 CZA, A56/36, Robert Weltsch an Richard Lichtheim, 9. Februar 1944. Weltsch plädierte in dem Brief für die Fortsetzung des britischen Mandats für Palästina und eine feste Verbindung mit dem Britischen Empire. 25 Siehe Dokument 99. 26 Siehe Dokument 100. 27 Max Kreutzberger (1900–1978) war ein deutscher Zionist und Sozialpolitiker. 1925 übernahm er die Leitung des Sozialreferats der Zentralwohlfahrtstelle der deutschen Juden und 1928 die Geschäftsführung der Organisation. Nach seiner Übersiedelung nach Palästina wurde er Generalsekretär der Hit’aḥdut ole Germanya we-ole Austria und gehörte 1942 zu den Mitbegründern der Partei Aliya Ḥadasha.

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scher Selbstverwaltung in einem Teil des Landes. Das schliesst sich nicht aus, besonders wenn es im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung verstanden wird. In diesem Zusammenhange möchte ich zum Abs. 2 Ihres Briefes vom 9. Februar sagen, dass ich nicht ganz die Skepsis teile, die Sie darin zum Ausdruck bringen.28 Ihre Charakterisierung trifft wahrscheinlich weitgehend zu, aber vielleicht kann man doch aus den Menschen, wie sie nun einmal sind, noch etwas mehr herausholen. Sonst wäre ja unser ganzes Unternehmen als gescheitert zu betrachten. Ihre Prognose bezüglich Antisemitismus in England und Amerika ist richtig und ebenso wird infolge der Uebersteigerung der antijüdischen Hetze in Kontinentaleuropa gerade hier eine rückläufige Bewegung eintreten. Aber es ist auffallend, dass gerade in den westlich orientierten Ländern auch Kontinentaleuropas viel Antisemitismus herrscht. Kürzlich wurde in einer Sitzung eines hier bestehenden Studien-Komitees29 zur Flüchtlingsfrage von Juden und Christen von einem sehr erfahrenen holländischen Christen die Feststellung getroffen, dass sowohl in der holländisch-patriotischen Bewegung, wie auch in der de Gaulle-Bewegung antisemitische Tendenzen im Wachsen seien. Die Broschüre, die ich in meinem Brief vom 11. November ankündigte, sende ich Ihnen nochmals separat. Hoffentlich kommt sie an. Herzlich grüßend Ihr R. Lichtheim

Dokument 102 Richard Lichtheim an Martin Rosenblüth30 Genf, 26. November 1945 Maschinenschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen CZA, A56/27 28 Weltsch formulierte Bedenken an der inneren Verfasstheit des stark osteuropäisch geprägten Jischuw und dessen Bereitschaft für einen unabhängigen jüdischen Staat. 29 Zur Studiengruppe siehe Dokument 84. 30 Martin Michael Rosenblüth (1886–1963) war ein zionistischer Funktionär. In den 1920er Jahren vertrat er den Keren Hayesod in Wien und leitete das dortige Palästina-Amt. Von 1929 bis 1933 arbeitete er für die ZVfD in Berlin und war dortiger Geschäftsführer des Keren Hayesod. Nach seiner Emigration vertrat er die ZVfD bei

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Dokument 102

November 26th, 1945

RL / T – A/7 Mr. Martin Rosenbluth, Director of Information United Palestine Appeal 41 East 42nd Street New York 17 Dear Rosenbluth,

Thanks for your letter of November 15th. I have noted that the amount has been remitted to Miriam.31 You want my comment on Zionist policy as represented on the one hand by Ben-Gurion, on the other hand by Dr. Weizmann and thirdly by Aliyah Chadaschah. It is impossible to answer your question in a short letter. I can only give you some hints: I have never been in favour of the Biltmore resolution because we cannot ask for the immediate establishment of a Jewish state on the basis of ⅓ Jews – ⅔ Arabs. Also, in its revised form or in its new interpretation the formula is too rigid#; we cannot expect the British government – after all what has happened during the last 20 years – to make a theoretical declaration that Palestine will later on become a Jewish state. This goes far beyond everything Jabotinsky has ever asked for. He only wanted us to declare that our goal was a Jewish state and he only wanted the British government to follow a line of policy (Kolonisationsregime) which would make [it] possible for us to become a majority and then to establish a state. Ben-Gurions theory was based on the fallacy that about 2 000 000 Jews would and could immediately immigrate to Palestine. Now there are only 1 300 000 Jews on the European continent, outside Russia, and not all of them can and will go to Palestine. Therefore, the only reasonable thing to do was to ask for the abolition of the White Paper32 and large-scale immigration to Palestine. This is a maximum program under present circumstances.

der Jewish Agency in London und leitete das Zentralbüro für die Ansiedlung deutscher Juden in Palästina. 1941 emigrierte Rosenblüth in die Vereinigten Staaten und besorgte die Öffentlichkeitsarbeit des United Palestine Appeal. 31 Miriam Lichtheim. 32 Das MacDonald Weißbuch von 1939 schränkte die jüdische Einwanderung und den jüdischen Landkauf in Palästina substantiell ein und limitierte die Immigration bis 1944

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The Biltmore Program had had two unfortunate results: 1) It has split the Jishuw in two parts which are |2| bitterly opposed to each other; and 2) it has made impossible a united Jewish front which could have been achieved if we had abstained from making the Jewish state war cry a conditio sine qua non. With regard to tactics I believe that Weizmann is right and our diehards are wrong. What is called “resistance”33 may have some propaganda value but will not change the situation. But here I admit that the fight for immigration – including the newly employed methods – is of certain moral value and might impress British opinion. The difficulty is in drawing the line between approved forms of “resistance” and more violent ##{fo}rms. In the long run, the Irgun Zwai Leumi34 will profit from the situation. Our weakest point is American Zionism. It is easy for Silver35 to shout for a Jewish state, but the world would be more impressed if 50 000 American Jews would declare their intention to go to Palestine. I do not deny that our American friends have done great work in the field of political propaganda but when it comes to brass tacks the State Department will probably combine forces with the Foreign Office … auf 75 000 Juden, danach sollte die weitere Einwanderung nur mit arabischer Zustimmung erfolgen. Diese Regularien sollten sicherstellen, dass die jüdische Bevölkerung in Palästina ein Drittel der Gesamtbevölkerung nicht überstieg. Außerdem sah das Weißbuch die Etablierung eines unabhängigen Staats Palästina innerhalb der nächsten zehn Jahre vor, in dem die jüdische Bevölkerung eine Minderheit bleiben sollte. 33 Im Oktober 1945 hatte sich unter der Ägide der Jewish Agency die Widerstandsbewegung Tnu’at ha-Meri ha-Ivri (Die hebräische Rebellionsbewegung) gebildet. An ihr waren die paramilitärischen Organisationen Hagana, Irgun Ẓva’i Le’umi (Nationale Militärorganisation) und Loḥame Ḥ erut Yisra’el (Kämpfer für die Freiheit Israels, kurz: Lechi) beteiligt. Bis August 1946 führte die Allianz zahlreiche Sabotageakte gegen den britischen Mandatar durch, um dessen Autorität zu unterminieren und die Öffnung Palästinas für die jüdische Einwanderung zu erwirken. Den blutigen Höhepunkt der Aktivitäten der Bewegung bildete der Bombenanschlag auf das britische Verwaltungshauptquartier im Jerusalemer King David Hotel am 22. Juli 1946, bei dem 91 Menschen getötet wurden. Auf Drängen Weizmanns wurde die Allianz im Nachgang des Anschlags aufgelöst. 34 Die Irgun Ẓva’i Le’umi (Nationale Militärorganisation, kurz: Irgun, auch: IZL oder ­Etzel) war eine von 1931 bis 1948 bestehende paramilitärische Untergrundorganisation im Jischuw, die der revisionistischen Bewegung Jabotinskys nahestand. Sie verübte Terroranschläge sowohl gegen den britischen Mandatar als auch gegen die arabische Bevölkerung. Nach der Staatsgründung Israels 1948 wurde die Organisation von der Regierung aufgelöst. Ihre Mitglieder wurden in die israelischen Streitkräfte integriert. 35 Abba Hillel Silver (1893–1963) war ein amerikanischer Rabbiner und eine führende Persönlichkeit des amerikanischen Zionismus.

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Dokument 103

With regard to Aliyah Chadaschah, I believe that they are right in some respects but not in all. They are right in criticizing the general attitude of our Executive: too much talk and not sufficient practical work, too many protests and a dangerous way of exciting the feelings of the younger generation in Palestine. At the same time, they are too much inclined to swallow everything which comes from the British government. There is a difference between taking a realistic view and constantly giving in. Well, these are only a few remarks from which you will see what I think. With kind regards to you and Mizzi,36 cordially yours, R. Lichtheim

Dokument 103 Richard Lichtheim an Nahum Goldmann Jerusalem, 2. September 1946 Handschriftlicher Brief, 2 Seiten; handschriftliche Korrekturen und Unterstreichungen CZA, A56/29 2. 9. [19]46 Jerusalem Pension Sachs 4. Al Harizi Str. Dear Goldmann, Since you are now the leading man in our show37 and since I know you as having more {to bee more open-minded and} sense{ible} than the other fellows I implore you to keep in mind want to impress on you this: 36 Marie Rosenblüth (geb. Zellermeyer, 1894–?), Ehefrau Rosenblüths. 37 Zu diesem Zeitpunkt warb Nahum Goldmann im Auftrag der Exekutive der Jewish Agency bei dem britischen Außenminister Ernest Bevin für die Schaffung eines jüdi­

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Do not sacrifice essential territorial claims to the idea of statehood. It is absolutely necessary that Western Galilee and the Negev should remain open to Jewish colonisation. If these parts of Palestine can be included in the Jewish state you are driving at – very good. But if in case of partition these parts remain outside areas {must} become part of the {an} Arab state or if they [|2|] remain {are to} become British without our rights ofs immigration and colonisation being safeguarded, I would very much prefer the federal plan if this would guarantee {it can be obtained that under this plan} Western Galilee and the Negev would be included in the Jewish area {province} and even if they would remain under British regime but permitting while Jewish immigration and colonisation continues. In other In short: As things are now, {and keeping in mind the future, I believe} the area open to Jewish colonisation is {to be} more important than statehood. and If a compromise must be accepted, let it be a compromise in favour of a larger Jewish {the largest possible} area {for colonisation}, whatever the form of government. {I suppose that you are also thinking of Jerusalem.*} With kind regards, Yours R. L. *If it becomes British definitely British ## ## some (limited) Jewish immigration into Jerus. must be guaranteed. Although it will become P. S. I left the Agency. Cannot serve this body as long as B. G.38 is Chairman and certain others are members.

schen Staats in einem geteilten Palästina. Bereits im August 1946 war es Goldmann während einer diplomatischen Mission in Washington gelungen, die Zustimmung Präsident Harry Trumans (1884–1972) zur Teilung Palästinas zu gewinnen. Evyatar Friesel, Toward the Partition of Palestine. The Goldmann Mission in Washington, August 1946, in: Mark A. Raider (Hg.), Nahum Goldmann. Statesman without a State, Albany, N. Y., 2009, 169–203; Nahum Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln / Berlin 1970, 283–298. 38 Ben-Gurion.

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III. Anhang

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Bibliografie

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Anhang

Wilke, Carsten L., Art.  Alliance Israélite Universelle, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. v. Dan Diner, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2011, 42–50. Wrobel Bloom, Magdalena M., Social Networks and the Jewish Migration between Poland and Palestine, 1924–1928, Frankfurt a. M. / New York 2016. Wyrwa, Ulrich, »Holocaust«. Notizen zur Begriffsgeschichte, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8 (1999), 300–311. Yad Vashem (Hg.), From Bergen Belsen to Freedom. The Story of the Exchange of Jewish Inmates of Bergen-Belsen with German Templars from Palestine. A Symposium in Memory of Dr. Haim Pazner, Jerusalem 1986. Zechlin, Egmont, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarb. von Hans Joachim Bieber, Göttingen 1969. Zeine, Zeine N., Arab-Turkish Relations and the Emergence of Arab Nationalism, Beirut 1958. Zentralbureau der Zionistischen Organisation (Hg), Protokoll der Verhandlungen des XV. Zionisten-Kongresses, Basel, 30. August bis 11. September 1927, London 1927. Zentralbureau der Zionistischen Organisation (Hg.), Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVII. Zionistenkongresses und der zweiten Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina, Basel, 30. Juni bis 17. Juli 1931, London 1931. Zentralbüro der Zionisten-Revisionisten (Hg.), Grundsätze des Revisionismus. Aus den Resolutionen der I., II. und III. Weltkonferenzen der Revisionistischen Union, Paris 1929. Zeugin, Bettina / Sandkühler, Thomas (Hg.), Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in den Niederlanden. Vermögensentziehung, Freikauf, Austausch 1940–1945, Zürich 2001. Zionist Archives and Library (New York), Extraordinary Zionist Conference, 9.–10. Mai 1942, New York 1942. Zouplna, Jan, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union: From the Boulogne Agreement to the Katowice Putsch, 1931–1933, in: Journal of Israeli History 24 (2005), H. 1, 35–63. Zweig-Strauss, Hanna, Saly Mayer. Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust, Köln 2007.

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Register

Personenregister Aaronsohn, Aaron  28, 144 Abdülhamid II.  77, 90, 94, 101 Abeles, Otto  350, 435, 463 Achad Ha’am → Ginsberg, Ascher Hirsch Al-Basṛ ī Al-Ghábī Bey, Ḥ asan  129, 168 Al-Bustánī, Sulaymán  80 Al-Dajánī, Ḥ asan Ṣidqī 223 Al-Dīn, Baháʼ  129, 133, 148 Al-Ḥ usaynī Bey, Shukrī  100 f. Al-Ḥ usaynī, Ḥ ájj Muḥammad Amīn  101, 224, 226 f. Al-Ḥ usaynī, Saʻīd 104 Al-ʻĪsá, ʻĪsá 97 Al-ʻĪsá, Yūsuf  97 Al-Khūrī, Fáris  109 Allenby, Edmund  161, 285 Al-Najjár, Ibráhīm Salīm  122 Al-Nasháshībī, Rághib  104 Antonescu, Ion Victor  334, 339, 351, 363, 368, 376, 398, 400, 409, 453 Arlosoroff, Chaim  239, 267 Arnou, Father  404 Aronowitsch, Josef  149 Atatürk, Mustaf Kemal  77, 87, 182 Auerbach, Elias  19 Auerbach, Israel  28 Backe, Herbert  434 Baeck, Leo  324, 511 Barlas, Chaim  46, 299 f., 449, 460, 467, 472 f. Batzaria, Nicolae Constantin  79 Beham, Arye  169 Belilowsky, Chaim  231, 244 Ben-Gurion, David  15, 36–38, 48, 54, 150–152, 274, 276, 284, 306, 530, 537, 539, 547, 550

Ben-Zvi, Yitzhak  150–152, 237 Berger, Adolf  225 Bergmann, Hugo  219, 222, 224 f. Bernardini, Filippo  41, 370–372, 378 f. Bernstein, Simon  128 Bevin, Ernst  524, 549 Bileski, Moritz  225 Bloch, Hans  231, 244, 257, 262 Bloch, Peter  15, 50 Bloch-Blumenfeld, David  170, 384 Blumenau, M. [Herr]  418, 422 Blumenfeld, Kurt  18, 33 f., 36, 52 f., 158, 197, 219 Blumenfeld, Rudolf  418, 422 Bodenheimer, Max Isidor  87, 90, 126 f., 131 Bograshov, Chaim  150, 152 Bolle, Meijer Henri Max  382, 435 Borger, Chaim → Bograshov, Chaim Brandeis, Louis D.  146, 162, 287 f. Braunschweig, Saly  455 Brod, Samuel Halevi  331, 456 Brode, Johann Wilhelm Heinrich  116, 133, 185 Brodetsky, Selig  239, 391, 543 Buchenbacher [Herr]  435 Buk, Nicolaus  489 Buk-Fried, Hermine  489 Burckhardt, Carl Jacob  435 Bussche-Haddenhausen, Hilmar von dem 178 Cahan, Markus  82 Carasso, Emmanuel  157 Cāvit Bey, Meḥmed 182 Chancellor, John Robert  217, 225 Churchill, Winston  364, 407, 409, 524

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Cohen, Albert  304 Cohen, David  411 Cohen, Pinchas  30 Cohn-Reiss, Ephraim  144, 156 Cowen, Joseph  289 Czerniaków, Adam  312 Dághi, Asʻad Khalīl  109 Danon, Nissim Yehudah  157 Darlan, François  364 David, Emil  197 Déat, Marcel  349 Dizengoff, Meir  149 Dobkin, Eliyahu  306, 427 Doriot, Jacques  349, 388 Dror, Nathan → Schwalb, Nathan Dubnow, Simon  423 f. Edelstein, Jakob  307, 324, 445 f., 511 Ehrenburg, Ilja  256 Eichmann, Adolf  46, 304 f., 307 f., 315, 454, 463, 482, 486, 510 Eisenberg, Shlomo  306 Eljaschoff, Michail  418, 422 Elkus, Abram Isaac  27 f., 173–177 Emerson, Herbert  491 Eppstein, Paul  324, 511 Ettisch, Ernst  231, 244 Ezrat [Herr]  360 Farbstein, Joshua Heschel  239 f. Feuerring, Isaak  225 Feynier [Herr]  136 Finkelstein, Zygmunt Foebus  267 Fischer, Elias  231, 244 Fischer, Joszef  489 Fischer, Theodor (Tivadar)  489, 493 Fisher, Joseph  349 f., 462 Fishman, Yehuda Leib  149, 306 Fleischmannová, Gizi  477, 480, 482 Frank, Hans  311, 330, 334 Frank, Henri  97 French, Lewis  250 Fresco [Herr]  110

Friedmann [Herr]  355, 357 f. Friedmann, Desider  303, 445, 511 Fuchs, Eugen  30 Garroni, Camillo  140 f., 154 Gaulle, Charles de  333, 365, 409, 546 Gerlier, Pierre-Marie  404 Ginsberg, Ascher Hirsch  531 Goldmann, Nahum  38 f., 49, 56, 199, 298, 369, 483, 488, 491, 503, 529 f., 539, 549 f. Gorgulow, Pawel  256 Goslar, Hans  411, 463 Gottschalk, Max  331 Grossmann, Meir  32, 34 f., 68, 193, 196 f., 200, 208 f., 232 f., 239, 245, 258, ­261–264, 266–269, 271 f. Grünbaum, Oskar  267 Grünbaum, Yitzhak  36, 43, 57, 199, 306, 427 f., 432, 449, 465 f., 468 f., 472–474, 476 Grunwald, Max  111 Guggenheim, P. [Herr]  524 Gulkewitsch, Konstantin N.  81 f., 116 Gunston, Derrick  390 f. Guttmann [Herr]  422 HaCohen, Mordechai Ben Hillel → Kahan, Markus Haidar Bey  97 Halpern, Georg  241 Haman (bibl.)  255 Hamburger, Ernst  258–260, 262, 264 f. Hankin, Yehoshua  151 Hantke, Arthur  75 Harrison, Leland  43, 425, 436 Hassan Bey  168 f. Hermann, Nahum  462 Herriot, Éduard  409 Herrmann, Leo  309 Herzl, Theodor  20, 85, 89 f., 101, 115 f., 126, 240, 271, 289, 292, 531, 533 Hess, Moses  533 Heydrich, Reinhard  302, 366 f.

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Register

Hindenburg, Paul von  235 Hirsch, Salli  225 Hitler, Adolf  20, 44, 237, 290, 305, 308, 330, 346, 363, 391–393, 398, 409, 429, 431 f., 434 f., 516 Hochberg, Sami  22, 76, 83, 105, 110, 120, 125 Hohenlohe-Langenburg, Ernst II., Fürst zu 156 Holzmann, J. [Herr]  398 Hoofien, Eliezer Siegfried  157, 169, 187, 189 Horthy, Miklós  409, 481, 488, 490, 495 Jabotinsky, Wladimir Ze’ev  16, 32, 34 f., 52, 54 f., 59, 68, 76, 161, 193 f., 196, 200, 207 f., 210 f., 221, 223, 232–236, 238 f., 245, 247, 249, 251 f., 256–258, 261 f., 267, 269, 280–294, 547 Jäckh, Ernst  127 Jacobson, Victor  20–23, 29, 55, 75 f., 78, 83, 85–87, 96, 100, 102 f., 105 f., 109, 112, 119, 127 f., 131 f., 140, 143, 152, 155, 176, 178, 180, 288, 503 Jaffe, Bezalel  149 Jarblum, Marc  349 f., 462, 473, 492, 522 Jardel, Jean  404 Jeanneney, Jules  409 Joseph, Bernard  446 Junod, Marcel  310–313 Kahan, Markus  82 Kahan, Nison  489 Kahany, Menachem  47 f., 460 f., 492, 494, 503, 507, 515, 530 Kahn, Franz  511 Kalischer, Zwi Hirsch  533 Kan, Marinus Leonard  350, 435, 463 Kann, Jacobus Henricus  134, 148 f., 157, 463 Kaplan, Eliezer  36, 298 f., 306, 508 Kaufer, Esra  418 Kemāl Bey, ʿAli 100 Kenworthy, Joseph Montague  206

Kisch, Frederick Hermann  216 Klaic, Hilda  462 Klausner, Joseph  218 Klee, Alfred  411, 463 Klinov, Yeshayahu  306 Koestler, Arthur  200 Komoly, Ottó (Kohn, Nathan)  482, 486 Kopecký, Jaromír  299, 477, 488, 523 Krausz, Moshe  47, 483, 486, 493 Kressenstein, Friedrich Freiherr Kress von 186 Kretschmar-Israeli, Arnold  79 Kretzer, Viktor  422 Kubowitzki, Aryeh Leon  456 Kühn, Hans  224 Kullmann, Gustave G.  491 Ḳunduh, Bekir Sāmī  104, 106, 110 Kwasnik-Rabinovicz, Oskar  245, 267 Lamer [Herr]  151 Landauer, Georg  540 Lauterbach, Leo  38, 41, 43, 56, 305 f., 309 f., 314, 318 f., 329 f., 333, 338, 346, 353, 355 f., 366, 369 f., 377 f., 380–382, 385, 392, 397 f., 401 f., 407, 410, 413 f., 424 f., 428, 433, 436, 443, 446–449, 452, 455 f., 461, 467, 469, 487 f., 493, 502 f., 509, 513 f., 542 Laval, Pierre  401, 404, 407 Lecca, Radu D.  398, 453 Lelewer, Hermann  196 Levin, Shmaryahu  75, 129, 146, 162 Licht, Alexander  462 Lichtheim, Clara  17 Lichtheim, Eva  17 Lichtheim, Georg  17 Lichtheim, George  20 Lichtheim, Irene  20 f., 30, 48, 50, 65, 69 Lichtheim, Miriam  21, 57, 547 Lieme, Nehemia de  287 f. Lindbergh, Charles August  364 Linton, Joseph  38 f., 297, 348, 360 f., 368–370, 380 f., 390, 392, 397, 401 f., 407, 413, 427, 465, 471, 481, 509

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Lipson, Daniel  390 Livingston, Harry B.  385 Lord Derby → Stanley, Edward Lourie, Arthur  38, 369 f., 378, 380 f., 392, 397, 401 f., 407, 413, 427 Löwenherz, Josef  463, 512 Lubetkin, Zivia  453 Lurie, Joseph  149 Mach, Alexander  378, 380 Machover, Jonah M.  195, 223, 232, 261, 266, 269, 272 Magnes, Judah Leon  88, 146, 225 f. Maḥmūd Al-ʻAẓm Bey, Rafīq  120, 122 Maimon, Juda Leib → Fishman, Yehuda Leib Marshall, Louis  209 Martillotti, Armando  397 Matlawski [Herr]  163 Mayer, Saly  41, 328, 370, 371, 455, 492 Mazliah, Nissim  157 McClelland, Roswell  523 Mechner, Ernst  299 Mendelssohn Bartholdy, Felix  114 Mendelssohn, Moses  114 Mond, Alfred  205 f. Montor, Henry  38, 369 f., 378, 380 f., 392, 397, 401 f., 407, 412 f., 427, 465, 509, 517 Morgenthau, Henry, sen.  27 f., 88 f., 98, 102 f., 106 f., 110–113, 117 f., 131 f., 136 f., 139, 141, 143 f., 147 f., 151, 153–157, 173, 177 Mossinsohn, Benzion  149, 152 f. Mühlens, Peter  169 Mussolini, Benito  42, 290, 409, 441 Mutius, Gerhard von  85 f., 89, 97 f., 113, 115, 124 f. Nahum, Chaim  80, 129, 156 Namier, Sir Lewis Bernstein  542–544 Nāẓım Bey, Meḥmed 87 Neufach, Isaac  76, 81 f. Neumann, Emanuel  239 f.

Niemirowski, Ludwik Bernstein → Namier, Sir Lewis Bernstein Nordau, Max  100, 282, 533 Paşa Holo Al-ʿĀbit, ʿİzzet 101 Paşa, Esed  81, 87 Pascha, Ahmet Cemal  21, 23–26, 76 f., 129 f., 138, 144, 148, 151, 169, 173, 175, 182, 185 f., 188 Pascha, Damad Ferid  100 Pascha, Djemal  130, 133, 138, 143, 150, 168, 284 Pascha, Enver  21, 76 f., 129, 182 Pascha, Mehmed Talât  21, 24, 76 f., 80, 82, 94, 102 f., 106, 110, 112, 116, 118, 129 f., 133, 136, 140, 143, 173 f., 178, 181 f., 189 Pascha, Mustaf Kemal → Atatürk, Mustaf Kemal Pascha, Salim Halim  25 Patterson, John Henry  283 Pétain, Philippe  332 f., 364, 387, 389, 401, 403 f. Petrow [Herr]  282, Philby, Harry St. John  226 Pinner, Ludwig  19 Pinsker, Leo  531 Posner, Chaim  135, 493 Rabbi Binyamin → Radler-Feldmann, Yehoshua Rabinowicz, Oskar Kwasnik  245 Radler-Feldmann, Yehoshua  170 Rathenau, Walter  114 Reiter, Alexander  231, 244 Reiter, Julius  231, 244 Remez, David  237, 279 Riegner, Gerhart M.  36, 39, 41, 43, 45, 369–372, 378 f., 414, 425, 434–436, 455, 473, 483, 485, 491, 493, 524 Rizov, Dimitar Hristov  178 Robinson, Jacob  38 Romanow, Nikolai N.  158 Roosevelt, Franklin D.  364, 409, 432, 504, 517, 523

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Register

Rosenberg, Frederic »Hans« von  124 f., 131 Rosenblatt [Herr]  313 Rosenblüth, Marie  549 Rosenblüth, Martin  128, 546, 547, 549 Rosenzweig, Franz  30 Rothenberg, Alois  304 Rothschild, Edmond, Baron de  97, 106 Rothschild, Fam.  123 Ruppin, Arthur  18, 22, 24, 28 f., 83, 86, 88, 91, 102 f., 108, 116, 118, 129 f., 132 f., 137, 139, 144–147, 150–154, 157, 160, 167 f., 170 f., 173 f., 177, 184, 186 f., 224 f., 306, 533 Sacher, Harry  220 Samuel, Herbert Louis  205, 285 Saphir, Asher  77 f. Schechter, Solomon  88 Scheps, Samuel  299, 493 Schereschewski, Simon  225 Schiper, Ignacy  453 Schloss, Justus  231, 244, 257, 259, 262, 264 Schmidt, Edmund  116–118 Schwalb, Nathan  460, 477, 480, 494 Schwartz, Joseph J.  301, 492, 523 Schwartz, Mark  202 Schwarzbart, Ignacy  276 Selikowitz [Herr]  187 Senator, Werner  225 Şevket Bey, Mecīd  79 Seyß-Inquart, Arthur  330, 335, 337 Shapira, Haim Moshe  306, 427 Sharett, Moshe  306, 481 Sheinkin, Menahem  149 Shertok, Moshe → Sharett, Moshe Shochat, Israel  151 Shochat, Mania  151 f. Shuqayr Bey, Najīb  100 f., 105, 120 Silberschein, Abraham  356 f., 393, 460 Silver, Abba Hillel  548 Silverman, Sydney  41 Simon, Ernst  224

Simon, Julius  287 f. Sokolow, Nahum  28, 34, 75, 83, 112, 117 f., 120, 129, 239, 241, 246 Sommer [Herr]  336 Sonnenfeld, Joseph Chaim  237 Soskin, Selig  234, 261 f., 266, 269 Spitzer, Šime (Shimon)  351, 357, 359 Spitzer, Yehudit  351 Squire, Paul C.  385, 425 Stanley, Edward  284 Stanley, Oliver  454 Stein, Leonard  275 Stern [Herr]  307 Sternbuch, Fam.  393 Sternbuch, Yitzhak  429 Straus, Isaac  135, 146 Straus, Nathan  88 Stricker, Robert  35, 245, 261 f., 266–269, 271 f., 303, 445, 511 Szálasi, Ferenc  485, 488, 490, 495, 499 Szereszewsky [Herr]  304 Thaon, Jacob → Thon, Jacob Theilhaber, Felix  18 Thon, Jacob  22, 83, 137, 144, 168–170, 173, 187–189, 224 Tijn, Gertrude van  411 Tiso, Jozef  42, 369, 380 Torczyner, Jacques  456 Trone, Salomon  342 Troper, Morris C.  301, 309, 342, 523 Trumpeldor, Josef  33, 161, 210, 281–283 Tschlenoff, Boris  429 Tschlenow, Yehiel  75, 112, 129 Tsirelson, Jehuda Leib  376 Ulitzur, Abraham  170 Ullmann, Charlotte  37 Ullmann, Fritz  37, 45, 299, 307, 309, 445 f., 477, 494, 507, 522 f. Ussishkin, Menahem  274, 306 Veith, Robert  462

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Anhang

Waldburg zu Wolfegg und Waldsee, Heinrich, Graf von  176, 178–180, 185, 188 Wangenheim, Hans, Freiherr von  24, 28, 85, 97, 113, 115–118, 127, 131, 133, 138, 156, 166, 184 Warburg, Felix  209 Warburg, Otto  18, 75, 86, 125, 128, 131, 176, 178, 288, 533 Weber, Theodor  124 f., 127, 130, 135 f., 141–144, 155 f., 160, 184 Wedgwood, Josiah  206 f. Weinschall, Jacob  235 Weisl, Wolfang von  34, 233–238, 247, 255 Weiss, Joseph  37, 300, 352, 504, 525 Weissmandl, Chaim  477, 480, 482 Weisz, Desider  352 Weitz, Paul  190

Weizmann, Chaim  18, 30 f., 33 f., 40, 54, 161, 197, 201 f., 220, 230, 232, 234 f., 237, 239 f., 146, 249, 253, 276, 278, 287–289, 291 f., 338, 361, 364, 531, 539, 547 f. Weltsch, Felix  244 Weltsch, Robert  33 f., 53, 219, 224 f., 538 f., 545 f. Wilhelm II.  224 Wilson, Woodrow  29, 88, 147, 173 Wimmer, Friedrich  335–337 Yellin, David  28, 186 Yosef, Dov → Joseph, Bernard Zimmermann, Arthur  117, 124, 131, 176, 178 Zivian, Gabriel  414 f., 425 Zucker, Jakob  455 Zucker, Otto  445 f.

Ortsregister Ägypten  26, 28, 117, 129 f., 134, 137, 139, 141, 147, 150–153, 161, 280 f., 283–285, 418, 492 Alexandria  25, 146–148, 161, 175, 177, 280–282 Amersfoort 458 Amritsar 216 Amsterdam  301, 347, 350, 382, 411, 435, 458, 463, 467 Antwerpen  331, 410, 439, 456–458 Auschwitz → Sachregister: Konzentra­ tions-, Internierungs-, Arbeits-, ­Sammel- und Vernichtungslager Australien  207, 345, 408 Baden   333, 340 f., 354 Bagdad 181 Balkan  111, 284, 325, 345, 391, 398, 450, 454 Baltikum  318, 414, 433, 439, 451, 464, 484 Bałuty 316

Basel  19, 34, 48, 67 f., 75, 108, 194, 200, 206, 228, 233, 238, 246, 271, 299 f., 343 f., 524 Beirut  22, 80, 83 f., 96, 104–107, 112, 118–120 Belarus  464, 484 Belgien  46, 324–326, 329, 331 f., 338, 342 f., 345, 350, 373 f., 383., 391, 395, 403, 408, 410–412, 439, 450, 456–458, 463, 470, 475, 478, 484 f., 491, 519–521, 530, 544 Belgrad  301, 351 f., 355, 357, 359 Belz 318 Belzec → Sachregister: Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Bergen-Belsen → Sachregister: Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Berlin  15–18, 21, 25 f., 29–33, 39, 55 f., 75, 78, 86 f., 90, 98 f., 102, 104, 109, 111–113, 116–119, 122, 125, 127–132,

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137 f., 140, 147, 153 f., 159 f., 165 f., 172, 178–180, 183 f., 187, 193 f., 196–198, 200, 202, 208, 218 f., 225, 229, 232, 236, 238 f., 241, 243–246, 248 f., 257 f., 259–262, 264–268, 287–289, 301–303, 308, 310, 324, 349, 353 f., 362, 423 f., 431, 437, 445 f., 453, 533, 540, 546 Bern  371 f., 378, 393, 397, 425, 431, 435 f., 454 f., 467 f., 471, 487, 489 Bessarabien  76, 340, 376, 398 f., 433, 440, 447, 453, 464, 484, 517 Böhmen  37, 39 Bordeaux  281, 456 Brăila 339 Breslau  243 f., 354, 362, 434 Brody 318 Brüssel  342, 410, 425, 439, 456–458, 491, 521 Budapest  47, 352, 378–380, 482 f., ­485–489, 493–500, 502 Bukarest  334, 339, 351, 375, 398 f., 453 Bukowina  315, 340, 363, 375 f., 398, 517 Bulgarien  42, 124, 340, 343, 351, 391, 400 f., 405, 414, 431, 441, 454, 460 f., 464, 475, 484 f., 505, 544 Büyükada 100 Calais  241, 250, 257 Carnikava  421, 426 Celle  466 f., 470 Charleroi  457 f. Chełm 318 Cherbourg 488 Chișinău 376 Chojny 316 Constanța 112 Czernowitz  398 f., 447 Częstochowa 412 Damaskus  96, 101, 109, 112, 120, 129, 143, 149, 186 Dänemark  40, 324, 326, 342, 350, 464 f., 475, 484, 544 Den Haag  193, 335 f.

Deutschland  19, 25, 27, 29 f., 33, 35, 39–42, 44, 47, 53, 84, 87, 89–91, 95, 97–99, 113–117, 124–126, 128, 131, 145, 154–156, 159, 162, 167 f., 175, 177, 179–181, 194 f., 219, 221, 225, 229, 235 f., 241, 244, 257–260, 262, 264–267, 282, 297, 299, 301–303, 306, 308 f., 311, 313, 315–320, 322–327, 329 f., 332 f., 338 f., 340, 342–345, 347, 349, 351, 353 f., 356, 360 f., 363, 365– 367, 369, 372–376, 380 f., 383–385, 393, 395 f., 398–401, 403, 407 f., 411 f., 420, 422 f., 432–439, 441, 446, 450 f., 453 f., 458–460, 463 f., 466 f., 475, 478, 481, 484, 496, 498, 502, 504, 509–513, 516–519, 533, 542, 544 f. Dominikanische Republik  342, 345 Drama 187 Düsseldorf  353, 423 Elsass-Lothringen 325 England → Großbritannien Estland  395, 413, 415, 439 Europa  10, 18, 23, 26, 28, 32, 34, 36–40, 43 f., 48–50, 56, 75, 79, 84, 86, 90, ­92–94, 107, 115, 117, 126, 139, 146, 150 f., 153, 156, 167, 183, 210, 233, 287, 301 f., 304, 316, 318, 326, 329–332, 338 f., 342, 345 f., 348–350, 352–354, 356, 358, 360 f., 365, 368, 370–372, 381, 383 f., 390–393, 399, 401, 403, ­407–409, 414, 425, 432–435, 437 f., 442, 449, 456 f., 459, 469, 474, 476 f., 481, 484 f., 491 f., 504–508, 513, ­515–518, 521 f., 524 f., 529–533, 535, 537 f., 541, 543–546 Frankfurt a. M.  30, 197, 243–245, 258, 362, 384 Frankreich   40, 76, 93, 97 f., 121, 125, 280, 304, 324–327, 329, 331–333, 340–345, 347–349, 358, 363, 365, 372–374, 381, 383–389, 391, 395 f., 400, 402–409, 412, 414, 430, 439 f., 442, 456 f., 462,

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470, 474 f., 478, 484 f., 487 f., 491 f., 505, 508, 515, 517, 519 f., 522, 525, 530, 544 Freiburg i. Br.  18 Galiläa  149, 185 Galizien  311, 394, 439, 443 f., 453, 463 f., 541 Gaza  173, 180, 186 Generalgouvernement  311–313, 317, 321 f., 394, 396, 412, 430, 443, 445, 463, 477 Genf  9 f., 16, 36 f., 39, 41–43, 45–47, 51 f., 54, 56, 69, 78, 209, 262, 297–300, 304 f., 309 f., 314, 318 f., 329, 334 f., 338 f., 346–348, 352 f., 355, 358, 360, 362, 366–370, 372, 377 f., 380–382, 384 f., 390, 392 f., 397, 401–403, 407, 410, 412–414, 424 f., 427, 429, 432 f., 435–437, 442 f., 447 f., 451 f., 455, ­459–461, 465, 469, 472 f., 476, 480 f., 483, 485, 487, 493 f., ­502–509, ­513–525, 529, 538, 542, 545 f. Griechenland  124, 351, 373, 391, 403, 440, 464, 475, 478, 484, 544 Großbritannien  9, 16, 31, 37, 45, 49, 76, 83 f., 93, 97 f., 117, 121, 162, 173, 176, 207 f., 213 f., 219, 221–223, 227 f., 248, 254 f., 270, 273, 279–285, 289, 291, 318, 333, 344–346, 365 f., 385, 391 f., 393, 396, 407, 409, 450, 459, 467, 488, 492, 506, 529, 536, 543, 546 Hadera  118, 147 Hamburg  19, 111, 169, 197, 209, 353 Hannover  466, 470 Hegyeshalom  498, 502 Hollywood 536 Iași  334, 339, 376 Indien  93, 117, 284 Isaszeg 500 Israel  15, 17, 35, 50, 54, 70, 90, 98, 151 f., 170, 214, 234 f., 237, 280, 287, 294, 308, 427, 453, 459, 461, 533, 537, 548

Istanbul   46, 299, 353, 355, 366, 378, 382, 385, 397, 410, 425, 427, 433, 436, 443, 447, 449, 452, 456, 461, 468, 472, 482, 516 f., 542 Italien  140 f., 154, 171, 214, 255, 279–281, 313, 344, 350, 356, 362, 377, 381, 391, 400, 408 f., 414, 431, 440 f., 450, 462, 470, 475, 484 f., 530, 544 Izbica 444 Jaffa  22, 24, 26, 75, 79, 82 f., 86, 91, 97, 103, 112, 116, 118, 122, 129 f., 132 f., 136–141, 144, 147–150, 153, 157, 168–175, 177, 180, 183–185, 188 f., 281, 533 Jerusalem  9, 16, 20 f., 26, 33, 36–38, 43, 46–51, 54–56, 59, 70, 79, 88, 90, 100 f., 104, 108, 116, 118, 126, 133, 137–139, 144, 148, 150, 157, 169 f., 172 f., 174 f., 180, 185, 187 f., 213, 215 f., 218 f., 221, 223 f., 227, 237, 240, 268, 271 f., 274, 276, 278 f., 285, 298, 300, 305 f., 310, 314, 353, 355, 366, 378, 382, 385, 397, 410, 424, 427, 433, 436, 443, 446 f., 449, 452, 456 f., 461 f., 464 f., 469, 471–473, 476, 485, 488, 491–493, 503, 505, 509, 512, 514–516, 518, 525, 537 f., 540, 545, 548–550 Jordan  16, 32, 34–36, 48, 108, 181, 238, 272, 274, 276, 279, 285, 291, 293 Jugoslawien  256, 300, 343, 351 f., 356, 361 f., 373, 376, 462 Kairo  22, 83 f., 96, 112, 119 f., 122, 234, 283 Kanada  207, 264, 429, 446 Kattowitz  261, 305, 317 Kladovo 352 Kleinasien  23, 111 Köln  75, 170, 423 Komárom 498 Konstantinopel  9, 16, 20–22, 24–27, 29 f., 40, 51, 53–55, 66, 75–79, 81, 83, 85–90, 96, 99 f., 102–104, 109–113, 119 f., 122,

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Register

124, 127–129, 132, 134, 137, 139–141, 144, 146 f., 151, 155, 158–160, 163, 166, 169 f., 172, 174, 176–178, 180, 183, 185, 187, 289, 520 Kopenhagen  128, 158, 183 f., 186, 188 f. Korfu 97 Krakau  321 f., 430 f., 443 f., 449, 451, 464, 471 Kroatien  62, 355 f., 358, 361, 372 f., 376, 383, 487 Kuba 356 Leipzig 243–245 Lemberg  43, 137, 320, 394–396, 451 Lettland  118, 395, 413–415, 418, 424 f., 429, 439, 475 Libanon  121, 318 Lissabon  26, 300 f., 341 f., 352, 492, 523 Litauen  43, 118, 149, 263, 342, 395, 413–415, 424, 439, 464, 475 Łódź  311, 313, 316, 318, 321, 354, 367, 412, 429 f., 439, 464 London  9, 16, 20 f., 30, 36–38, 41, 44, 51, 54, 56, 84, 88, 134, 161, 193–195, 209 f., 213, 223, 229–233, 241, 245, 252, 254, 257, 259, 266, 273, 276, 283 f., 288 f., 293, 297 f., 304 f., 308–310, 333 f., 348, 357, 361, 368 f., 384, 390, 396 f., 402 f., 407, 412, 431–433, 435, 438, 445, 447, 450, 454, 471, 481 f., 491 f., 505, 509, 511, 515 f., 518, 521, 523, 537, 542 Lothringen 341 Lublin  304 f., 312, 315, 317, 321, 323, 346, 368, 394 f., 443 f., 460 Luxemburg  324 f., 403 Lyon  332, 349, 389, 404 Madagaskar 327 Madrid 282 Mahiljou 376 Manila 176 Marseille  350, 389, 406, 523 Mazedonien 187 Mechelen 458

Mesopotamien  176, 181 Minsk  353, 361, 418, 464 Moskau  280, 417 f., 422 Nablus  104, 278 New York   9, 36–38, 41, 48, 51, 88, 111, 129, 134, 143, 146, 158, 186, 362, 364, 402, 431 f., 435, 456, 463, 471, 483, 492, 509, 515 f., 518, 529 f., 539, 547 Niederlande  30, 46, 134, 324–326, ­329–331, 335, 337 f., 342 f., 345, 347, 350, 373, 375, 381, 383 f., 391, 395, 398, 403, 408, 410–412, 434, 440, 450 f., 457 f., 463, 470, 475, 478, 484 f., 510, 520 f., 530, 544 Norwegen  40, 324, 403 Offenburg 360 Orient  83 f., 125, 127, 255, 372, 375 Osmanisches Reich  9 f., 16, 21, 23, 25, 27 f., 51, 76 f., 79, 80 f., 83 f., 87, 89 f., 93–95, 98–100, 105–107, 111, 113–118, 120, 124 f., 127, 129 f., 138, 140, 142 f., 147, 149, 152, 156, 162 f., 165, 171–173, 176, 178, 180–182, 184, 188, 281 f., 286 Österreich  39, 84, 93, 126, 170, 173 f., 233, 261, 264, 266 f., 297, 299, 301–305, 308 f., 318, 323, 326, 329 f., 335, 340, 346, 349, 351–354, 360 f., 375, 383, 389, 391, 393, 398, 433, 437, 446, 458, 463, 475, 484–486, 488 f., 491, 497–499, 502, 511, 516, 519, 533 Österreich-Ungarn  93, 126, 350 Oświęcim  477, 481 Palästina  9 f., 15 f., 18 f., 21–38, 45, 48–50, 54, 56, 66, 75 f., 79–84, 86–95, 97 f., 101–106, 108, 110–112, 114, 116, 118, 121 f., 127, 129–131, 133–135, ­137–141, 144–152, 154, 156, 159, 161 f., 165–168, 170–179, 181, ­183–186, 188 f., 194, 197 f., 201–208, 210–213, 215–217, 219–235, 238, 240, 245, 247 f., 250, 254–256, 263, ­266–268,

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Anhang

270–272, 274, 276 f., ­279–285, 287– 289, 293, 297, 299 f., 304 f., 307–309, 313, 318, 320, 322, 324, 326 f., 345, 349, 351–353, 359, 369–371, 377, 382, 427, 445 f., 449, 453 f., 459, 462, 464, 467, 469 f., 472, 483, 485–487, 490–492, ­504–507, 515 f., 518, 520 f., 524 f., 529–538, 540 f., 544–550 Paris  29 f., 76 f., 80, 83, 193 f., 196, 232 f., 237, 281, 286, 298, 301, 303, 332, 349, 364, 374, 386, 388, 404, 507 Pfalz  333, 340 f. Piaski 444 Ploiești 339 Polen  39 f., 43, 88, 91, 199, 203, 210, 215, 219, 221, 237, 240, 245, 263, 300–322, 326 f., 339, 342, 346 f., 349, 354, 356, 361, 363, 373, 375, 377–381, 383, 392–397, 399 f., 403 f., 408, ­412–414, 427–429, 431, 433 f., 438 f., 442, 446, 449, 451–454, 459 f., 463 f., 466 f., 475, 477 f., 481, 484, 490, 493, 516, 518 f., 544 Portugal  344 f., 348, 391, 450 f., 484, 486, 522 Posen  19, 135, 290, 311 Prag  35, 218 f., 225, 230, 236, 252 f., 266, 269, 301, 305–308, 317, 353 f., 366, 438, 445, 452, 511 Preußen  17, 89, 311 Prinkipo 100 Protektorat Böhmen und Mähren  41, 50, 299, 305, 318, 353, 373, 438, 446, 452 f., 361, 366 f. Radom  321, 443 f., 471 Rawa-Ruska 444 Rechavia 48 Rheinland 354 Riga  210, 353, 361, 413–415, 417 f., 420–424, 439, 474 Rom  174, 279, 300, 371 Rumänien  264, 300, 303 f., 325, 329, 334, 338–340, 345, 348, 351, 363, 365, 368,

370 f., 376, 381, 389, 391, 398–400, 405, 408 f., 414, 431, 440 f., 447 f., 453 f., 460, 464, 469 f., 474, 484 f., 505, 519, 525, 530 f., 543 f. Russland  22, 84, 93, 98, 116, 126, 134, 140, 161 f., 167, 181, 193, 195, 274, 282 f., 319 f., 375, 395, 415, 421, 424, 430, 494, 529, 535 Sankt Petersburg   112 Schlesien  311, 349, 354, 442, 451, 460, 475, 477–480, 484 Schönberg im Taunus  30 Schweden  189, 280, 348, 391, 451, 465, 475, 484, 512, 522, 544 Schweiz  10, 37–39, 46 f., 80, 129, 226, 299, 304, 310, 314, 319, 327 f., 333, 338 f., 341, 343–345, 348, 350, 356 f., 360, 370 f., 378, 381, 384, 389, 391, 406 f., 410, 414, 429 f., 435 f., 446, 451, 455, 457, 462, 467–469, 471 f., 475, 484–487, 489 f., 492, 494, 496, 501, 504–508, 511–513, 515, 521–525, 544 Serbien  352, 357–359, 363, 381, 440, 454 Sewastopol 395 Siebenbürgen  340, 352, 409, 494 Siwas 151 Šķirotava 423 Slowakei  42, 300, 307, 318, 325, 363, 365, 368 f., 370, 372 f., 377–381, 391, 431, 441, 464, 474 f., 482, 484 Spanien  344, 348, 450, 475, 484–486, 544 Sofia  400, 454 Sowjetunion  40, 311, 320, 327, 340, 349, 361, 363, 368, 376, 398, 413, 415, 438, 474, 530, 532 f. Stettin  244, 315, 414 Südafrika  207, 264, 369 Südamerika   151, 264, 345, 378, 469, 471 Syrien  23, 76, 93, 97, 104, 109, 121 f., 129, 176, 181 Ṭarābya 115

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Register

Tel Aviv  28, 54, 59, 82, 88, 149 f., 170, 173 f., 216, 267 f., 271, 300, 329, 446, 537 Ternopil 444 Theresienstadt → Sachregister: Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Timișoara  351, 398 f. Toulouse  374, 389, 402, 408 Transjordanien   32, 238, 265 f., 278, 291 Treblinka → Sachregister: Konzentra­ tions-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Triest  300 f., 308 Tripolis 104 Trzebinia 317 Tschechoslowakische Republik  199, 219, 300, 309, 323, 354, 360, 373, 375, 378 f., 383, 391, 398, 403, 408, 441, 446, 464, 484, 516, 519, 523 Tschortkiw 444 Türkei  23, 318, 320, 449, 451, 522 UdSSR → Sowjetunion Ungarn  47, 303, 318, 340, 345, 348, 352, 365, 368, 370, 372 f., 375, 377, 379, 381, 391, 399 f., 408 f., 414, 431, 440–442, 450, 454, 469 f., 474, 480 f., 483–485, 487 f., 490, 493 f., 499, 519, 521, 525, 530 f., 543 f.

Vatikan  38, 41 f., 174, 292, 370 f., 379 f., 393, 397, 400, 513, 518 f. Vereinigte Staaten von Amerika  27, 84, 88, 91, 98, 103, 107, 125, 134 f., 142–144, 146 f., 153 f., 156 f., 159, 161 f., 173, 175–177, 179–181, 183 f., 186, 189 f., 202, 209, 221, 264, 284, 288, 293, 301, 304, 309, 326, 331, 343–346, 358, 364–366, 369, 378, 385, 393, 396, 407, 425, 429, 432, 435 f., 456, 466, 482, 485, 487, 491, 504 f., 509, 515, 517, 522 f., 529, 532, 534–537, 543, 546, 548 Vichy 332 Warschau  43, 263, 310, 312–314, ­316–318, 321 f., 362, 367, 394–396, 412, 425, 429–431, 438 f., 443 f., 450 f., 453, 467, 471, 477 Washington  44, 135, 147, 175, 435, 450, 518, 537, 550 Westerbork → Sachregister: Konzen­ trations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Wien  32, 111, 207, 245, 248–250, 252, 261, 288, 293, 301–306, 308, 323, 346 f., 349, 352–354, 362, 381, 418, 437, 460, 463, 475, 486, 511 f., 533, 546 Whitechapel  284 f. Zagreb  352, 355–357, 462 Zürich  201, 208, 220, 343, 455, 524

Sachregister Agudat Yisra’el  234, 236, 429, 472, 532 Aḥdut ha-Avoda  151 Aktion Reinhardt  394–396, 477 Aktionskomitee  20 f., 75, 78 f., 85 f., 96, 99, 102, 104, 110 f., 112 f., 119, 126, 128, 131, 133 f., 144, 146–148, 152, 159–162, 165, 176, 195, 204, 208 f., 215, 220, 232, 234 f., 250, 253 f., 272, 274, 288, 291 f. Al-Ḥ izb al-ʻUthmanī li al-La-markazīyah

al-Idarīyah → Osmanische Partei für administrative Dezentralisierung Alija  203, 281, 352, 460, 462, 466 f., 472, 505, 508 Aliya Ḥ adasha  49 f., 329, 540, 545, 547, 549 Al-Jámiʻah Al-ʻArabīyah 224 Allgemeine Zionisten  199, 204, 240, 246, 266, 276

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Allgemeine Zionisten, Gruppe B  240, 246, 276 Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund  151, 535 Alliance Israélite Universelle  20, 28, 125 Al-Mokattam  96, 109, 122 American Emergency Committee for Zionist Affairs  38, 529 American Friends Service Committee ​ 402, 523 American Jewish Committee  88, 202 American Jewish Congress  156 f., 474 American Jewish Joint Distribution Committee  29, 38, 139, 144, 154, 168, 177, 209, 301, 309, 312, 322, 328, 341 f., 349–351, 369, 489, 492, 504, 523–525 Anglo-Jewish Association  276 Anglo-Palestine Company  134, 148, 157 Asefat ha-Nivḥarim  230, 235 Aufstand im Warschauer Getto  452 f. Augustunruhen 1929  33 f., 56, 213, 216 f., 226, 245, 255 Auschwitz → Konzentrations-, Internie­ rungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Auswärtiges Amt  25, 29 f., 46, 51, 86 f., 90, 99, 117, 124 f., 131, 167, 176, 178, 183–185, 327 B’nai B’rith  28, 111 Balfour-Deklaration  27, 30, 54, 112, 213, 215, 223 f., 227–229, 234, 271, 275 f., 284, 288, 291 Bar Kochba (Sportverein)  197 Bar Kochba (Studentenverbindung)  225 BBC  347, 365, 407, 438, 460, 480, 518 Beiruter Reformgesellschaft  105, 120 Belzec → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Bergen-Belsen → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager

Berliner Tageblatt  114, 225 Bermuda-Konferenz 450 Beschluss von Calais   241 f., 248–254, 257 Biltmore Konferenz  48, 529 f., 543, 547 f. Binyan ha-Areẓ 197 Briḥa 453 Brit ha-Biryonim  255 Brit ha-No’ar ha-Ivri al Shem Yosef ­Trumpldor (Betar)  210, 213 f., 217, 244, 263 f., 293 Brit Shalom  86, 88, 170, 217, 219, ­222–225, 227, 249 Brith Hakanaim  260, 263 f. Buchenwald → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens  30, 113 Comité d’aide et d’assistance aux victimes de l’antisémitisme en Allemagne  331 f. Comité union et progrès → Komitee für Einheit und Fortschritt Commissariat général aux questions juives 387 Compagnies des travailleurs étrangers 389 Consistoire central des israélites des France  332, 350 Dachau → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Daily Mail  214 Das Größere Deutschland  127 Demokratische Zionisten  199 Der jüdische Arbeiter  267 Deutsche Politik  127 Die Neue Welt 261 Die Welt  20, 197 Dominican Republic Settlement Association 342

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Register

Drancy → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Dror-Frayhayt 453 Einreisebestimmungen nach Palästina  75, 79–84; siehe auch →Weißbuch Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD  42, 376 Einwanderungszertifikat für Palästina → Palästina-Zertifikat Eiserne Garde  339 Falastin  97, 220 Frankfurter Zeitung 190 Gazeta Żydowska 322 Geneva Study Group for Post-War ­Refugee Problems  455, 505 f., 524, 546 Gestapo  307 f., 311, 315, 323 f., 342, 362, 391, 400, 408, 429, 452, 457 f., 463, 498, 512 Getto – Amsterdam 347 – Budapest  485 f., 489, 493 f., 496 f., 499, 501 – Kowno 474 – Krakau  444, 450 f., 464 – Łódź  316, 353, 367, 429 f., 464 – Riga  413 f., 417–424, 426, 474 – Warschau  310, 312, 316, 367, 393–396, 429, 444 f., 451–453., 460 Gurs → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Ha’avara-Abkommen   267 Ha-Aḥdut  150, 169 Hadassah  175, 529 Ha-Ḥ erut  148, 150 Ḥ akham Bashi   156 Ha-Matara 264 Ha-Po’el ha-Ẓa’ir (Partei)  151, 540

Ha-Po’el ha-Ẓa’ir (Zeitung)  149 f., 169 Ha-Shomer ha-Ẓa’ir 541 Ha-Shomer  80, 151 Hasmonäa 18 Hebräische Universität  21, 88, 108, 225 Hebräisches Herzlia-Gymnasium  149 f., 170 Hed-Bethar  56, 213 He-Ḥ aluẓ  38, 281, 398, 460, 472, 508, 532 Hilfsverein der deutschen Juden  28, 86 f., 92, 99, 125 f., 131, 144, 156, 164 Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland 429 Histadrut  237, 460, 472, 537 Hit’aḥdut ole Germanya we-ole Austria ​ 329, 540, 545 Hlinka-Garde  369, 378 Hope Simpson Untersuchung  217, 247 House of Commons  407, 454 Ḥ oveve Ẓiyon  82, 118 Ḥ urriyet ve İʾtilāf Fırḳası 100 Informations de Palestine  492, 507, 515, 524 Institute of Jewish Affairs  38, 474 Intergovernmental Committee on ­Refugees  304, 505  f. Internationales Komitee vom Roten Kreuz → Rotes Kreuz Irgun Ẓva’i Le’umi  548 Israelitische Kultusgemeinde Wien  303, 463 İttiḥāt ve Teraḳḳī Cemʿiyeti → Komitee für Einheit und Fortschritt Jamʻiyat Bayrūt al-Isḷ áḥīyah → Beiruter Reformgesellschaft Jewish Agency for Palestine  36, 38, 46–48, 51, 56, 112, 198–202, 205, 207–211, 215 f., 220, 235, 240, 246 f., 250, 271, 276, 289, 297–299, 304–306, 309 f., 314, 318 f., 338, 348, 350, 353, 360 f., 366, 368 f., 371, 378, 390, 407,

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Anhang

424, 427, 446, 449, 454 f., 459–461, 465, 469, 471–474, 476, 481–483, 485, 487, 491 f., 494, 503 f., 506–508, 515 f., 520, 522, 524, 542, 547–550 Jewish Agency Rescue Committee  299, 427, 449, 472 Jewish Colonial Trust  134, 148, 241, 533 Jewish Colonization Association  97 Jewish National Fund → Keren Kayemeth LeIsrael Jewish Telegraphic Agency  193 Joint Distribution Committee → American Jewish Joint Distribution Committee Judenrat – Amsterdam 411 – Bratislava 482 – Budapest 489 – Getto Cluj/Kolozsvár  489 – Getto Riga  417 f. – Getto Warschau  312, 453 – Krakau  430, 464 – Łódź 464 – Rumänien (Centrala Evreiască)  398 – Theresienstadt  411, 445, 511 – Wien 511 Judenstaatspartei  35 f., 193, 195, 258, 269–272 Jüdische Kultusgemeinde Prag  307 Jüdische Legion  79, 152, 161, 193, 221, 280–290, 293 f. Jüdische Nachrichtenagentur  431 Jüdische Rundschau  26, 219, 222, 242 Jüdische Soziale Selbsthilfe  312, 430 f. Jüdischer Nationalfonds → Keren Kayemeth LeIsrael Jüdischer Weltkongress → World Jewish Congress Jungtürken  22 f., 25, 27 f., 76 f., 79 f., 87, 108, 129, 166, 182 Jungtürkische Revolution  20, 76, 80 f., 87, 101, 157 Kartell Jüdischer Verbindungen  127

Kasztner-Transport  482, 486 f., 489 f. Ḳāymaḳām  79, 104, 118, 129, 133, 148 Keren Hayesod  170, 197, 204, 221, 240, 300, 306, 309, 325, 350, 355, 358, 360, 398, 462 f., 504, 508, 513, 522 f., 525, 546 Keren Kayemeth LeIsrael  19, 37, 126, 167, 240, 299 f., 320, 329, 352, 398, 462, 504, 525, 533 Komitee für den Osten  126 Komitee für Einheit und Fortschritt  76 f., 87, 157 Komitee für Hilfe und Rettung in ­Budapest  47, 482, 486, 489 Konferenz von Évian  304, 342, 505 Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager – Auschwitz   42, 46, 316, 368, 374, 382, 386, 389, 445, 450, 457 f., 468, 471, 477–482, 495, 499, 511 f. – Banjica 351 – Beaune-la-Rolande  374, 386 – Belzec  394–396, 450 – Bergen-Belsen  46 f., 350, 411, 457, 459, 466, 470 f., 475, 484–487, 489 f., 509 f., 520 f. – Buchenwald  302, 347, 375, 457, 468 – Compiègne 374 – Dachau  374, 382 – Drancy  374, 386, 475 – Gurs  333, 338, 340–342, 347, 374, 400, 405 – Izbica 450 – Jasenovac 356 – Jawischowitz  468, 478 – Kaiserwald  418, 422 – Le Vernet  374 – Les Milles  406 – Mauthausen  347, 375, 458 – Metajna 356 – Noé  374, 405 f. – Pithiviers  374, 386, 388 – Récébédou  374, 405 f. – Rivesaltes  374, 406 – Saint-Cyprien 340

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Sajmište 352 Slana 356 Sobibor  46, 368, 396 Stutthoff 422 Theresienstadt  41, 44 f., 324, 367 f., 373, 381, 383, 393, 395, 411, 438, 445 f., 451 f., 463, 465–467, 475, 478–480, 484, 490, 504, 509–513, 522 Treblinka  312, 394–396, 412, 454, 477 Vélodrome d’Hiver  386 Vittel  470 f., 475, 520 Westerbork  46, 350, 382, 411, 458, 463, 468, 520 f.

Landesverband der Zionisten-Revisio­ nisten  32, 52, 55 f., 194, 196, 198, 229 f., 234, 241–245, 257–259 Le Jeune Turc  76 f., 80, 109, 136 Legislative Council  277 Liga für das arbeitende Palästina  267 Litzmannstadt → Getto Łódź Łódźer Manifest  258, 261 Loḥame Ḥerut Yisra’el (Lechi)  548 Madagaskar-Plan 327 Mauthausen → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Mifleget Poʼale Ereẓ Yisraʼel (Mapai)  151, 230, 237, 267, 279 Migdal  35, 241, 268 Misrachi (Bewegung)  149, 240, 267, 331, 529 Mitteilungsblatt  50, 329, 542 Moria 150 MV Struma (Schiff)  516 Neue Zionistische Organisation  35, 161, 256, 280, 292 f. Niederländischer Zionistenbund  350 Nîmes Coordinating Committee  402–404 Nisko-Lublin-Plan  305, 307, 315, 317, 323

Nürnberger Gesetze  311, 323 f., 356 Oberster Islamischer Rat  224, 227 Œuvre de Secours aux Enfants (OSE)  429 ORT  429 f. Osmanische Partei für administrative ­Dezentralisierung  100, 120, 122 Osmanischer Lloyd 87 Palästina-Amt – Berlin  260, 263, 324, 349, 540 – Budapest  47, 483 – Genf  299, 459, 472, 494, 508, 520 – Jaffa  24, 38, 86, 122, 129, 137, 144, 147, 152, 170, 174, 184 – Prag  307, 445 – Wien  304, 546 – Zagreb 462 Palästina-Zertifikat  45–47, 263, 268, 297, 299, 308 f., 340, 352, 359, 369–371, 389, 458 f., 466–472, 483, 486, 489 f., 492 f., 496, 508, 510, 517, 520 f. Palcor (Palestine Correspondence Agency)  299, 515, 530 Palestine Land Development Company 533 Peel-Kommission  35, 272–274, 276 Peyām  100, 105, 120 Pfeilkreuzler  485 f., 488 f., 493–502 Po’ale Ẓiyon  150–152, 170 Preußische Jahrbücher 158 Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs  139, 146, 162, 165 Radikale Zionisten  199, 261, 267 Reichssicherheitshauptamt  46, 308, 323 f., 327, 366 Reichsvertretung der Deutschen Juden (später Reichsvereinigung der Juden in Deutschland)  323 f., 349, 411, 511, 540 Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population (Relico)  39, 356, 430 f.

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Anhang

Reprezentacja Żydowstwa Polskiego  446 Riegner-Telegramm  41, 43 Rotes Kreuz   38, 44, 46, 310, 313, 341, 358, 362, 402, 405, 430, 435, 446, 451, 460, 464, 466–468, 479, 486, 490, 496, 504, 506, 510, 512 f., 517–519, 521–523 Russkie vedomosti  280 Savez jevrejskih opština Jugoslavije  351 Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund  41, 328, 371, 431, 455, 523 Schweizerischer Zionistenverband  37, 455, 472, 508, 523 Securs national  387 Seventh Dominion League  207 Shaw-Kommission 217 Sobibor → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Sonderverband der Zionisten-Revisio­ nisten  250–254, 260, 262 Sosúa-Projekt 342 Sprachenstreit  86, 97, 117, 149 SS Patria (Schiff)  416 Staatszionistische Organisation  259, 265 Supreme Muslim Council → Oberster Islamischer Rat Technion  86 f., 92 f., 106, 116 Tel Chaj Fonds  244 Templergesellschaft 45 The (Manchester) Guardian  214, 220 The Daily Telegraph  215 Theresienstadt → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Tnu’at ha-Meri ha-Ivri  548 Trawniki 395 Treblinka → Konzentrations-, Inter­ nierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager Tribune de Genève  381

Union der Zionisten-Revisionisten  16, 32, 34 f., 55, 161, 193 f., 198–200, 207, 230–239, 241–245, 248, 250–259, 261–265, 269, 291 f. Union générale des israélites de France  350, 387 f. Unitarier 402 United Jewish Appeal  38 United Palestine Appeal  240, 369, 517, 547 USS Des Moines  168 USS North Carolina  139 USS Tennessee  28, 137, 139, 147, 151 USS Vulcan  29, 154, 168 Ustaša 356 Verband der Staatszionisten  259 Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten 258–268 Vichy-Regime  332 f., 338, 341, 364 f., 385, 387, 400–406, 409, 463 Völkermord an den Armeniern  10, 23, 39, 76 f., 87, 129, 166, 175, 182 Vossische Zeitung 233 Vrba-Wetzler-Bericht  477 f., 480, 488, 523 Wa’ad ha-Haẓala 429 Wa’ad Le’umi  210, 221, 235 f. Wagner-Bürckel-Aktion  333, 340 f., 354 Wannseekonferenz 389 War Refugee Board  504, 523 Weißbuch – Churchill (1922)  224 – MacDonald (1939)  547 f. – Passfield (1930)  217, 231 f., 235 Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten – 1926/1927 (2., Paris)  193 f. – 1928 (3., Wien)  207 f. – 1930 (4., Prag)  230, 236, 252 – 1932 (5., Wien)  248 f., 256, 266 Westerbork → Konzentrations-, Internierungs-, Arbeits-, Sammel- und Vernichtungslager

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Wiener Morgenzeitung  261 Women’s Zionist Organisation of America → Hadassah World Jewish Congress  36, 38 f., 41, 44 f., 199, 298, 350, 356, 365, 370, 402, 435, 451, 455 f., 472 f., 483 f., 491, 493, 504, 518, 522, 524 Young Men’s Christian Association (YMCA) ​402 Zentralstelle für jüdische Auswanderung – Prag 307 – Wien  307 f. Zion Mule Corps  161, 283, 285 Zionist Organization of America  215, 529 Zionistenkongress – 1897 (1., Basel)  75, 126, 228

– – – – – –

1909 (9., Hamburg)  19 1911 (10., Basel)  19, 112 1923 (13, Karlsbad)  289 1927 (15., Basel)  194, 198 f. 1929 (16., Zürich)  201, 208 1931 (17., Basel)  34, 231–233, 236, 238–240, 242, 246 f., 250 f. – 1933 (18., Prag)  35, 258, 266, 269 – 1939 (21., Genf)  298, 356, 514, 529 Zionistische Vereinigung für Deutschland 19, 33, 90, 113, 126, 196 f., 219, 224 f., 242 f., 245, 411, 546 Zivilgefangenenaustausch  45–47, 459, 467, 518 Zwangsarbeit  43, 80, 285, 347, 356 f., 368, 373, 383, 398, 413, 415–417, 441, 468, 479, 493 Żydowska Organizacja Bojowa  452 f.

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