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German Pages [320] Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Von Käfern, Märkten und Menschen Kolonialismus und Wissen in der Moderne
Herausgegeben von Rebekka Habermas und Alexandra Przyrembel
Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Mit 6 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30019-0 ISBN 978-3-647-30019-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Der Ethnologe Bronisław Malinowski (1884–1942) während seiner Feldforschungen auf Neu-Guinea. MALINOWSKI/3/18/5. © London School of Economics and Political Science 2005. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Inhalt Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Akteurinnen und Akteure Rebekka Habermas Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen. Akteure und Akteurinnen im Wissenstransfer. Einführung . . . . . . . 27 Ulrich van der Heyden Der Missionar Alexander Merensky als Wissenschaftler . . . . . . . . . 49 Richard Hölzl Pater August Schynse (1857–1891). Prediger, Wissensvermittler und Symbolfigur . . . . . . . . . . . . . . . 61 Christof Dejung Der Kaufmann Salomon Volkart. Globale Märkte und die Zirkulation von Wissen . . . . . . . . . . . . . 73 Bettina Brockmeyer Der Kolonialbeamte Rudolf Asmis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Räume Kerstin Rüther Räume jenseits von Kolonie und Metropole. Einführung . . . . . . . . . 97 Tony Ballantyne Indien und die Globalisierung kolonialen Wissens . . . . . . . . . . . . 115 Patrick Harries Von der Information zum Wissen. Ein Missionsarchiv zu Afrika . . . . 126 Stefanie Gänger Antiquare, Sammler, Archäologen. Vorspanische Antiquitäten in Peru, 1858–1906 . . . . . . . . . . . . . . 137 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Inhalt
Disziplinen Iris Schröder Disziplinen. Zum Wandel der Wissensordnungen im 19. Jahrhundert. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Sabine Mangold ›Orientalen‹ in der europäischen Orientalistik. Der Fall Ahmed Muhiddin: Informant, Lektor, Wissenschaftler . . . . 162 Holger Stoecker Afrikanistik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Charlotte Trümpler Die Orientforscherin Gertrude Bell (1868−1926) . . . . . . . . . . . . . 186 Medien Alexandra Przyrembel Empire, Medien und die Globalisierung von Wissen im 19. Jahrhundert. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Barbara Buchenau Erdichtetes Wissen über das präkoloniale Amerika. Junge Märkte und Ideen im Bann des Song of Hiawatha (1855) . . . . . 221 Kathrin Reinert Das Antlitz der Anderen. Fotografie und Wissen von argentinischen indígenas, 1879–1910 . . . . 233 Andrew Zimmerman Bewegliche Objekte und globales Wissen. Die Kolonialsammlungen des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Ressourcen Jakob Vogel Public-private partnership. Das koloniale Wissen und seine Ressourcen im langen 19. Jahrhundert. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Inhalt
Ernst-Christian Steinecke Die Ausgrabung von Babylon. Wissenschaftsförderung im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Maria Rhode Russische Äthiopien-Expeditionen 1889–1896 . . . . . . . . . . . . . . . 297
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Literatur. Eine Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
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Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel
Einleitung Als der Togolese Ludwig Adzaklo 1907 nach Tübingen kam, war noch nicht abzusehen, dass dieser junge Afrikaner in der kleinen württembergischen Uni versitätsstadt einen wichtigen Beitrag zur Globalisierung von Wissen leisten würde.1 Der junge Mann aus Togo, der in Westafrika nur eine Elementarschule besucht hatte, übertrug zusammen mit einem Mann, der ebenfalls jede akademische Bildung entbehrte, die Lutherbibel in eine Sprache, deren Lexik, geschweige denn Grammatik schriftlich bisher nicht fixiert worden waren. Sie erschufen damit schließlich erst die Gestalt dieser afrikanischen Sprache. Etliche Jahrzehnte vorher hatte Amalie Dietrich, die Tochter einer sächsischen Kräutersammlerin und eines Handschuhmachers, wichtige Beiträge zu Botanik, Zoologie und sogar Ethnologie geleistet. Sie hatte in Australien über 20.000 botanische Specimen gesammelt und eine erste umfassende Sammlung australischer Spinnen nach Hamburg verschifft, wofür sie von den Zeitgenossen sogar in die Naturwissenschaftliche Gesellschaft aufgenommen wurde. Trotz auf der Hand liegender Unterschiede haben diese beiden Akteure, Ludwig Adzaklo und Amalie Dietrich, vieles gemeinsam. Beide leisteten Grundlagenforschung. Sie transferierten Wissen, sei es in Form von Schrift, sei es als Artefakte, und hatten dabei Anteil an der Zirkulation von Wissen, die just zu dieser Zeit immer mehr zunahm und Orte verschiedenster Weltregionen miteinander verband. Und Ludwig Adzaklo und Amalie Dietrich waren keine singulären Figuren. Hunderte, ja Tausende von Frauen und Männern trugen im langen 19. Jahrhundert auf die eine oder andere Art, zuweilen auch eher zufällig dazu bei, dass immer mehr »goods, tools, inventions, suggestions, technical skills and ingenious solutions circulate among human groups.«2 Legt man eine neuere Definition von Globalisierung zugrunde, wie die von Peter Stearns, der unter Globalisierung »the accumulation of different types of connections«3 versteht, so waren Amalie Dietrich und Ludwig Adzaklo Ak1 Gilbert Dotsé Yigbe, Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen. Der Beitrag afrikanischer Mitarbeiter zur Entstehung einer Verschrifteten Kultur in Deutsch-Togo, in: Rebekka Habermas/Richard Hölzl (Hg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln u. a. [2013]. Die Herausgeberinnen danken Marcel Siepmann, Christine Unrau und Karolin Wetjen für die Mitarbeit an diesem Band. 2 Jürgen Renn/Malcolm D. Hyman, The Globalization of Knowledge in History: An Introduction, in: Jürgen Renn (Hg.) The Globalization of Knowledge in History, 2012, S. 15–44, S. 18. 3 Peter Stearns, Globalization in World History, London 2010, S. 6 zit. nach Helge Wendt/Jürgen Renn, Knowledge and Science in Current Discussions of Globalization, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, S. 45–72, S. 49. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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teure der Globalisierung von Wissen. Wobei hier unter Wissen nicht nur wissenschaftliches Wissen im engeren Sinne verstanden werden soll. Vielmehr sollen unter Wissen im Anschluss an Philipp Sarasin solche Formen verstanden werden, die im Unterschied zu Religions- und Glaubenssystemen »tendenziell rational begründete, empirisch überprüfbare Hypothesen und Theorien« teilen und »im Wesentlichen von den Wissenschaften erschlossene empirische Wissensfelder und Gegenstandsbereiche«4 umfassen. Wie genau ging diese Globalisierung von Wissen vor sich? Wie lässt sich der Transfer von Wissen im langen 19. Jahrhundert und damit im Zeitalter des Kolonialismus beschreiben, welche Faktoren spielen welche Rolle? Wer waren diese Frauen und Männer, welche Medien nutzten sie, welche Ressourcen wurden gebraucht und was für ein Wissen wurde hier von Togo nach Württemberg oder von Hamburg nach Australien und vice versa gebracht und erschuf dadurch welche neuen Räume?
Verflechtungen und Kolonialismus Lange Zeit wurde der Zusammenhang von Kolonialismus und Wissenschafts geschichte in der Form eines Diffusionsmodells gedacht, nach dem westliche Vorstellungen von Wissenschaft, epistemologische Grundannahmen sowie wissenschaftliche Praktiken seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die jüngere Moderne in die europäischen Kolonien transferiert worden sind. Man fragte, wie beispielweise der amerikanische Wissenschaftshistoriker George B asalla in seinem Aufsatz »The Spread of Western Science«: »How did modern science diffuse from Western Europe and find its place in the rest of the world?«5 Implizit wie explizit geht dieses teleologische Modell davon aus, dass eine Verbreitung allgemeineren, vielleicht auch populären Wissens, vor allem aber von wissenschaftlicher Expertise lediglich in eine Richtung, nämlich vom »Zentrum« – dem Westen – aus in Richtung »Peripherie« – den Kolonien – möglich, ja überhaupt denkbar ist.6 Diese Vorstellung ist mittlerweile überholt. Arbeiten aus der neueren Wissenschaftsgeschichte haben, angeregt von den postcolonial studies und der Global geschichte,7 zeigen können, dass Wissen von vielen Orten in viele Richtungen 4 Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36. 2011, S. 159–172, S. 165. 5 George Basalla, The Spread of Western Science. A Three-Stage Model Describes the Introduction of Modern Science into any Non-European Nation, in: Science 156. 1967, S. 611–622, S. 611. 6 Kritisch zu diesen einseitigen Wanderbewegungen auch: Alexandra Przyrembel, Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, Frankfurt 2011. 7 Wichtige Hinweise finden sich bei: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Einleitung
transferiert wurde. Gewiss gab es bestimmte Wissensformen zu bestimmten Zeiten, die in erster Linie in die eine und zu anderen Zeiten in die andere Richtung wanderten, doch das Diffusionsmodell erfasste diese Phänomene keineswegs adäquat. Statt in Termini von Diffusion wird der Transfer von Wissen daher mittlerweile eher in Termini der Verflechtung, in der Metapher der Netze, gedacht. Netze verbinden bekanntlich nicht nur zwei, sondern weit mehr Punkte, sodass sie der Komplexität des Wissenstransfers deutlich besser gerecht werden.8 Wie vielgestaltig solche Verflechtungen zwischen Europa und den Kolonien waren, haben Frederick Cooper und Ann Stoler bereits vor einigen Jahren in ihrem Buch »Tensions of Empire« gezeigt.9 Sie machten deutlich, dass die Produktion kolonialen Wissens weder allein innerhalb der Grenzen von Nationen, noch allein in Beziehung zu den kolonisierten Völkern zu sehen ist. Wissen zirkulierte vielmehr auch zwischen Kolonien, ebenso wie von den Kolonien in Richtung der Kolonialmächte und auch von Kolonialmächten oder Kolonien in ganz andere Regionen, die sich nicht unmittelbar in koloniale Strukturen einpassen lassen etwa nach Lateinamerika oder nach China. Zudem konnte Wissen etwa auf einer transnationalen Ebene zwischen bestimmten Kolonialmächten verflochten sein, wodurch möglicherweise ein kollektives – also die kolonisierenden Mächte vereinendes – imperiales Wissen konstituiert wurde.10 Konzepte des Rassismus, die zwischen England, Frankreich, Deutschem Kaiserreich, Belgien und vielen anderen Ländern im 19. Jahrhundert zirkulierten, sind hierfür ein gutes Beispiel.11 Die Vorstellung von unterschiedlich vernetztem und vielfältig verflochtenem Wissen wurde in den letzten Jahren in zahlreichen Forschungen konkretisiert und weiterentwickelt. Dabei zeigte sich erstens, dass diese unterschied lichen Vernetzungen von Wissen weder zufällig geknüpfte, noch neutrale Netze waren. Welche Orte mit welchen Wissenssystemen über welche Akteure und Akteurinnen verknüpft wurden, war Ergebnis kolonialer, ökonomischer, sozialer oder religiöser Interessen, die zuweilen Hand in Hand gingen, manchmal auch konkurrierten oder in offenen Konflikt gerieten. So ist wenig erstaunlich, dass je steiler die Baumwollpreise in die Höhe schnellten, desto mehr Baumwollexperten in die westafrikanischen Kolonien geschickt wurden, die Baumwolle anbauten – und desto mehr häuften sich Publikationen in Europa zum Themenfeld 8 Benedikt Stuchtey (Hg.), Science across the European Empires, 1800–1950, Oxford 2005. 9 In konzeptioneller Hinsicht nach wie vor wegweisend: Frederick Cooper/Ann Laura Stoler, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Ten sions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–58. 10 Ebd., S. 13. Vgl. die Studie von Ulrike Lindner zur transnationalen kolonialen Verflechtung zwischen Deutschem Kaiserreich und England: Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt 2011. 11 Ann Laura Stoler, Race and the Education of Desire: Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham [u. a.] 1995; vgl. Andreas Eckert/Alexandra Przyrembel (Hg.), Sichtbar/Verborgen. Diskurse über Rasse und Sexualität im 19. und 20. Jahrhundert. Themenheft Werkstatt Geschichte 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Baumwollschädlinge, Baumwollverbesserung oder auch nur zu der Frage, wie man die lokale Bevölkerung zu weiterer Leistungssteigerung im Plantagenbetrieb motivieren könne.12 Dabei konnten durchaus heterogene Interessengruppen um bestimmte Formen des »colonial knowledge«13 konkurrieren, schließlich waren auch Engländer und Amerikaner, Franzosen und Niederländer an Fragen des Baumwollanbaus interessiert. Aber auch unabhängig von kolonialen Motiven trafen in dem Prozess der Wissensproduktion und -verbreitung heterogene – politische, religiöse, wissenschaftliche oder auch humanitäre – Interessen zusammen. Dies zeigen beispielsweise die Aktivitäten des russischen Roten Kreuzes in Afrika, das als humanitäre Organisation während der russischen Abessinien-Expedition Ethnografica Ende des 19. Jahrhunderts gesammelt hatte und diese später einem gelehrten Publikum in St. Petersburg und andernorts präsentierte.14 Das Beispiel der East India Company, die bereits seit den 1770er Jahren in Indien einen spezifischen Company Orientalism herausbildete, wiederum zeigt, wie ökonomische Interessen in das wissenschaftliche Feld hinein ragten und dem Ausbau eigener Machtinteressen dienten.15 So unterschiedlich motiviert diese Netze waren, so unterschiedlich war, so ein zweiter wichtiger Aspekt, ihre Qualität: Mal waren sie fester, mal lockerer; mal existierten sie nur für kurze Dauer, dann wurden sie in feste Strukturen gegossen. So entstanden im 19. Jahrhundert zahlreiche internationale Organisationen mit klaren Zielen und festen Strukturen. Etliche von ihnen verfolgten explizit wissenschaftliche Ziele.16 Andere wiederum dienten primär wirtschaftlichen Interessen und beförderten nur eher nebenbei den Austausch von Wissen. Wieder andere waren »joint scientific ventures« – so initiierten die Geografen ein »International Committee for the Map of the World«.17 Und schließlich gab es viele Verbindungen, die nur von sehr kurzer Dauer waren, so etwa die vom Hamburger Kaufmann Godeffroy aufgebauten Kontakte zwischen Hamburger Hobby botanikern und australischen Kräutersammlern, die mit dem Untergang des Geschäftes Godeffroy endeten. Ein dritter wichtiger Aspekt des Wissenstransfers ist die gerade in jüngster Zeit betonte Einsicht, dass viele Orte und ganze Regionen gar nicht vernetzt wa12 Andrew Zimmerman, Alabama in Africa. Booker T. Washington, the German Empire, and the Globalization of the New South, Princeton 2010. 13 Bei Basalla bereits angedeutet, ist der Begriff vor allem in der britischen Forschung eingeführt, vgl. Tony Ballantyne, Colonial Knowledge, in: Sarah Stockwell (Hg.), The British Empire. Themes and Perspectives, Malden, Mass. 2008, S. 177–197. 14 M. V. Right, Russian Red Cross Expedition to Ethiopia, in: A.B Davidson/D. A. Olderogge/ V.G Solodovnikov (Hg.), Russia and Africa, Moscow 1966, S. 167–174. 15 Tony Ballantyne, Orientalism and Race. Aryanism in the British Empire, Basingstoke 2002, S. 20–32. 16 Im Annuaire de la vie internationale, veröffentlicht im Jahr 1912, werden 37 internationale Organisationen genannt, die sich mit ›reiner‹ Wissenschaft beschäftigen, 65 mit angewandter Wissenschaft: vgl. Francis Stewart Leland Lyons, Internationalism in Europe, 1815–1914, Leydon 1963, S. 223. 17 Ebd., S. 233 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Einleitung
ren, und somit keinen oder nur sehr indirekten Anteil am Wissenstransfer hatten. Denn Globalisierung von Wissen bedeutet nicht, dass Wissen gleichmäßig gefunden und erstellt wurde, geschweige denn zirkulierte. Ein beträchtliches Maß an Wissen zirkulierte nie, weil die Netze zu dünn, zu brüchig oder in einer Art und Weise interessegeleitet waren, dass just ein solcher Transfer unterbunden wurde. Dennoch ist auch das, was nicht oder nur sehr partiell transferiert wurde, für Historiker und Historikerinnen insofern hoch aufschlussreich, als auch Nichtwissen politische, wirtschaftliche, soziale oder religiöse Folgen zeitigen kann. Für dieses Phänomen haben die Wissenschaftshistoriker Robert N. Proctor und Londa Schiebinger den Begriff »Agnotology« gefunden, der dem Griechischen entlehnt die kulturelle Bedingtheit von »Ignoranz« unterstreichen soll.18 Mit diesem Begriff wird gleichsam ein ganzes Forschungsfeld umschrieben, das sich mit der Frage beschäftigt, warum bestimmtes Wissen unterdrückt, verloren oder ignoriert wurde, während anderes Wissen Bedeutung erlangte.19 Besonders wichtig ist die Einsicht, dass dieses Nicht-Wissen Macht entfalten konnte. So hat Londa Schiebinger etwa zeigen können, dass zwar der Pfauen strauch selbst von der Karibik nach Europa transferiert wurde, das Wissen über eine seiner wichtigsten Eigenschaften – er konnte Abtreibungen auslösen – allerdings nicht nach Europa kam.20 Wie komplex und – um im Bild zu bleiben – vielfach verknotet der Wissenstransfer sein konnte und wie irreführend ein »diffusion narrative of the spread of Western Science« ist, zeigt auch ein Blick in die Quellen – womit ein vierter und letzter Aspekt benannt ist. Sujit Sivasundaram21 hat jüngst in einem faszinierenden Aufsatz zum Wissenstransfer im 19. Jahrhundert im pazifischen Raum gezeigt, dass nur weil die europäischen Zeitgenossen die Quellen, die die lokale Bevölkerung etwa auf Sri Lanka hinterlassen hatten, schlicht ignorierten, nicht davon ausgegangen werden muss, dass es diese nicht gegeben hätte. Vielmehr müssen heutige Forscher und Forscherinnen – so Sivasundarams Forderung – wesentlich größere Anstrengungen unternehmen, solche Quellen zu suchen und zu berücksichtigen, die häufig nicht in Texten, niedergeschrieben auf Papier, sondern zum Beispiel in Bildern, festgehalten auf Palmblättern oder aus ganz anderen Materialien, bestehen. Erst wenn auch diese Quellen zur Kenntnis genommen würden, könnte ein umfassendes Bild davon entstehen, welche Wissensformen es wo gab und wie diese transferiert oder durch Kontakt mit ande18 Robert N. Proctor/Londa Schiebinger (Hg.), Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance. Emerged from Workshops Held at Pennsylvania State University in 2003 and at Stanford University in 2005, Stanford, Calif. 2008; siehe in dem Sammelband vor allem Robert N. Proctor, Agnotology. A Missing Term to Describe the Cultural Production of Ignorance (and Its Study), S. 1–36. 19 Londa Schiebinger, West Indian Abortifacients and the Making of Ignorance, in: dies./ Robert N. Proctor (Hg.), Agnotology, S. 149–162, hier S. 152. 20 Vgl. Schiebinger, West Indian Abortifacients. 21 Sujit Sivasundaram, Sciences and the Global. On Methods, Questions, and Theory, in: Isis 101. 2010, S. 146–158. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ren verändert wurden. Das ›koloniale Archiv‹, wie es in den Archiven der Missionsgesellschaften oder auch in den staatlichen Archiven vorzufinden ist, wird so neu gelesen.22
Akteure und Akteurinnen Will man untersuchen, wie Wissen über Netze zirkulierte und sich veränderte, muss freilich mehr als die komplexe Struktur der Netze in den Blick genommen werden. Eine wichtige Rolle im Transfer von Wissen spielen neben verschiedenen Formen von Verflechtungen auch Akteure und Akteurinnen. Mit diesen beschäftigt sich der erste Teil des Bandes. Die Wissenschaftsgeschichte kennt eine ganze Reihe von Akteuren, die für den Transfer von Wissen von Bedeutung waren. Erinnert sei an Figuren wie Alexander von Humboldt oder Robert Koch, von denen man glaubte, dass sie alleine und auf sich gestellt im Außereuropäischen wertvolle Pflanzen gesammelt, wichtige Zeichnungen erstellt und einmalige Fotos gemacht hätten, auf deren Grundlage dann ganze Wissenschaftsdisziplinen entstanden sind. Diese Wissenschaftler, meist Menschen, die über eine solide akademische Ausbildung verfügten und – so wurde gerne behauptet – in heroischer Einsamkeit, ausschließlich aus eigener Kreativität, wenn nicht Genialität schöpfend großartige Entdeckungen hervorbrachten, sind gut erforscht. Erst die jüngere Wissenschaftsgeschichte hat mit Nachdruck darauf verwiesen, dass freilich noch ganz andere Frauen und Männer an der Produktion von Wissen und auch am Wissenstransfer beteiligt waren.23 Diese weniger bekannten, aber nicht weniger wichtigen Akteure und Akteurinnen stehen im Mittelpunkt der von Rebekka Habermas verfassten Einleitung im ersten Teil des Bandes. Und sie spielen auch die Hauptrolle in den Beiträgen von Bettina Brockmeyer, Richard Hölzl, Ulrich van der Heyden und Christof Dejung, die sich jeweils beispielhaft mit einem solchen Akteur, mit einem Kolonialbeamten, mit einem katholischen und mit einem protestantischen Missionar sowie mit einem Kaufmann beschäftigen. So unterschiedlich die Motive und Möglichkeiten der hier vorgestellten Akteure waren, allesamt hatten sie auf die eine oder andere Art Anteil am Wissenstransfer. Die meisten dieser Akteure und Akteurinnen wurden allerdings »vergessen«, was zum einen an der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, zum anderen aber auch an den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen selbst lag, die manchen dieser Frauen und Männer mehr und anderen weniger Autorität zusprachen. Auch die22 Ann Laura Stoler, ›In Cold Blood‹. Hierarchies of Credibility and the Politics of Colonial Narratives, in: Ricardo Roque/Kim A. Wagner (Hg.), Engaging Colonial Knowledge. Reading European Archives in World History, Basingstoke 2012, S. 35–66, erstmals 1992 erschienen. 23 Klassisch im Überblick: Michael Hagner, Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: ders. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 2001, S. 7–42, S. 10, und Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ses Beispiel verdeutlicht, wie das Phänomen der »Agnotology« – also des bewussten oder nicht-bewussten Ausklammerns von Kenntnissen – die Wissensgeschichte in der Moderne prägte. Vergessen wurde beispielsweise der oben bereits erwähnte Ludwig Adzaklo, dem jede Fähigkeit abgesprochen wurde, an einem Prozess beteiligt zu sein, der zur Vermehrung von Wissen führe, da er – so der Konsens im 19. Jahrhundert – Vertreter einer minderwertigen Rasse ohne intellektuelle Potenz sei. Diese zeitgenössische Perspektive wurde von der Forschung lange nicht hinterfragt, sondern schlicht fortgeschrieben. Damit geriet nicht nur Adzaklo, sondern eine ganze Gruppe von Personen aus dem Blick, die so genannten intermediaries, Vertreter (seltener Vertreterinnen) der lokalen Bevölkerung, welche übersetzten, aber auch sammelten, Erzählungen lieferten, Grammatiken erstellten, Lieder verschriftlichten und als Informanten dienten. Welche Bedeutung einem als Akteur im Wissenstransfer zugeschrieben wurde oder ob man überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, hing freilich nicht nur von den rassistischen Wahrnehmungsmustern der Zeitgenossen ab. Neben Rasse, spielten Geschlecht, aber auch Kategorien wie Klasse, Bildung, Religion und akademische Rituale eine Rolle für die Frage, ob man als Forscher, Wissenschaftler oder als Amateur gewürdigt wurde und damit in der Geschichte des Wissenstransfers einen Platz erhielt oder schlicht vergessen wurde. Letztlich war es eine kleine und im Laufe des langen 19. Jahrhunderts immer kleiner werdende Gruppe, der man die Fähigkeit zusprach, Wissen zu schaffen: Mitglieder dieser Gruppe mussten eine bestimmte akademische Ausbildung absolviert und zahlreiche andere akademische Anerkennungsrituale durchlaufen haben. Frauen und Männer, die diese Voraussetzungen nicht erfüllten und doch Wissen erstellten oder auch insofern am Wissenstransfer beteiligt waren, als sie Artefakte sammelten, Pflanzen oder Tiere professionell konservierten und dann systematisch in Ordnungssysteme einfügten, Riten beobachteten und verschriftlichten oder meteorologische Messungen vornahmen und Karten anlegten, blieben außen vor. So war es nur folgerichtig, dass viele Missionare, Diakonissen, Kaufleute, Kolonialbeamte, Amateure oder auch Dolmetscher und lokale Experten, die am Sammeln, Aufbereiten, Zusammenstellen und Transfer von Wissen beteiligt waren, in Vergessenheit gerieten: Viele hatten keine akademische Ausbildung, manche hatten das falsche Geschlecht, einige waren nicht einmal Europäer, die meisten verfügten nicht über die akademische Sprache und beherrschten dadurch auch die Genres der jeweiligen Disziplinen nicht; und schließlich mangelte es den meisten an den nötigen Kontakten. Dennoch hatten diese Akteurinnen und Akteure Anteil an den Netzen des Wissenstransfers. Die Frage, wie Globalisierung von Wissen im langen 19. Jahrhundert funktionierte – so eine unserer Ausgangsüberlegungen für diesen Band – kann dementsprechend nur dann adäquat beantwortet werden, wenn diese Frauen und Männer in den Blick genommen werden.
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Räume Neben Netzen und Akteuren und Akteurinnen sind für Fragen nach der Globa lisierung von Wissen weitere Faktoren von Bedeutung: Die Räume, in denen diese Globalisierung von Wissen stattfand, und die Räume, die durch den Wissenstransfer erst neu entstanden. Räume werden hier im Anschluss an den spatial turn nicht im engen Sinne als statische, einmal in der Regel von den Kolonialmächten genau abgegrenzte Behälterräume verstanden, die dann auf Landkarten eingetragen wurden. Unter Räumen verstehen wir mehr: mental maps, symbolische Gebilde, aber auch auf materiell durchaus greifbaren Verbindungen basierende Territorien, die manchmal schnell entstehen und ebenso schnell vergehen können, zuweilen aber auch von langer Dauer sind: etwa Wissensräume, die qua Handlungen erstellt werden, zum Beispiel durch wissenschaftliche Korrespondentennetze, mittels derer auch wissenschaftliche Objekte ausgetauscht werden. Diese qua Handlungen erstellten Räume sind flexibel, das heißt sie sind eben nicht ein für alle Mal klar definiert, geschweige denn, dass ihre Grenzen nur von bestimmten Akteurinnen und Akteuren, etwa Staaten bestimmt werden.24 So haben an den Räumen, die qua Transfer von Wissen entstehen, viele auch nichtstaatliche Akteure Anteil, die diese wiederum auch ständig verändern. Diese über den Wissenstransfer geschaffenen Räume stehen im Mittelpunkt des zweiten Teiles, der von Kirsten Rüther eingeleitet wird. Die drei Beiträge betrachten beispielhaft jeweils einen solchen Raum. Tony Ballantyne zeigt, wie im frühen 19. Jahrhundert ein ganz neuer Raum entstand, der Indien und Großbritannien verband, und zwar allein dadurch, dass englische Kolonialbeamte und Kaufleute Sanskritrollen von Indien nach Oxford brachten, um dort ein neues Indienbild entstehen zu lassen. Im Mittelpunkt dieses neuen Raumes stand weder London noch Mumbay, sondern lange Zeit die East India Company, die nicht nur Waren von Indien nach England transportieren ließ, sondern eben auch Sanskritrollen edieren ließ und zahlreiche andere Forschungen initiierte und so letztlich dazu beitrug, dass englische Klassiker in indischen Schulen gelesen wurden. All diese Aktivitäten kreierten nach und nach einen neuen gemeinsamen Raum. Spätestens aber als Steine aus ägyptischen Pyramiden nach London gebracht wurden, vergrößerte sich der Raum dieses englischen Wissensempires, indem es um Regionen Nordafrikas erweitert wurde. Ähnlich und doch ganz anders beschaffen waren die neuen kolonialen Räume, die Deutschland mit Afrika verbanden, wenn Elefantenohren von Westafrika nach Berlin-Dahlem geschickt wurden, um dort den Grundstock für zoologische Forschungen, ja für die Gründung der Disziplin Zoologie zu legen. Wieder andere Räume konnten etwa, wie Stefanie Gänger für Latein 24 Zum spatial turn siehe: Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001; als Einführung sehr anregend: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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amerika zeigt, entstehen, wenn einzelne Sammler die Errungenschaften der eigenen, in dem Fall der peruanischen Kultur, zusammentrugen und dann in die ganze Welt – die damals mindestens aus Paris, London, Madrid und New York bestand – verschickten. Über diese Sammelobjekte entstand eine Forscher- und Sammlergemeinschaft, die durch ihre Vernetzung einen eigenen Raum formte. Aber auch die Archive von Missionaren erstellen über ihre Archivalien selbst einen neuen, besonderen Raum, wie Patrick Harries für ein Schweizer Missionsarchiv, das in Lausanne vielfältiges Material über Afrika sammelte, aufzeigt. Gerade an diesem Beispiel wird auch deutlich, wie die Konzeptionen dieses Raumes in die Zeit der Dekolonisation nachwirkten. Jedes Mal entstanden für eine kürzere oder längere Zeit Räume des Wissens, in denen weitere Wissenschaftler, Amateurinnen, intermediaries, aber auch Politiker oder Militärs agierten und den Räumen eigene Konturen gaben. Betrachtet man diese Räume, die manchmal nur von kurzer Lebensdauer waren, so entdeckt man, dass Wissenstransfer häufig auch jenseits der durch Kolonialmächte gezogenen Grenzen vonstatten ging, ja, dass Globalisierung von Wissen in zuweilen ganz eigenen Räumen ablief, die auf Verbindungen basierten, welche unter der Perspektive statischer Behälterräume gar nicht sichtbar werden können. Vor allem schärft der Blick auf diese Räume die Wahrnehmung dafür, wie viele sich teilweise überlappende Netze des Wissens es gab: Ein Raum verband England und Indien, ein anderer und damit vernetzter Raum, der des so genannten Black Atlantic von Paul Gilroy, schuf Verbindungen zwischen Europa, Afrika und Amerika. Ein dritter existierte zwischen Peru und den europäischen Metropolen.25
Disziplinen Will man Wissenstransfer im 19. Jahrhundert verstehen, so muss man nicht nur die komplexen Netze, die Akteure und Akteurinnen und die neuen Wissensräume, die hier entstanden, in den Blick nehmen. Nicht minder wichtig sind die Disziplinen, die durch die Globalisierung von Wissen im 19. Jahrhundert entstanden und die ihrerseits wieder den Wissenstransfer mitbestimmten. Diese sich etablierenden Disziplinen werden im dritten, von Iris Schröder eingeleiteten Teil des Bandes behandelt. Parallel zur Entstehung neuer Transfermodelle, neuer Raumkonzepte und neuer Modelle zur Erklärung der Rolle von Akteuren für die Genese von Wissen, hat sich der Wissensbegriff selbst verändert. In den letzten Jahren hat man sich zusehends von einem essentialistischen und statischen Konzept von Wissen verabschiedet und geht stattdessen davon aus, dass Wissen insofern stets neu konstruiert wird, als es nicht den einen wahren Kern etwa der Geografie oder Medizin gibt. Vielmehr unterliegen die Gegenstandsbereiche, ebenso wie 25 Vgl. Paul Gilroy, The black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London [u. a.] 20023. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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die Methoden und die Modi der Forschung wie die Kriterien, nach denen etwas als wissenschaftlich wahr gilt, permanenten Veränderungen.26 Übertragen auf den Transfer von Wissen heißt das, dass vieles überhaupt erst in dem Moment des Sammelns oder Übersetzens Gestalt annahm: Nicht wenige Wörter des Ewe, eine Sprache, auf die Missionare in Westafrika stießen, mussten für die Bibelübersetzung neu erfunden werden, um Luthers Gedanken adäquat auszudrücken. Andere Worte des Ewe wurden nie in die Wörterbücher aufgenommen, fanden nie Eingang in die Schriftlichkeit, obschon sie häufig im Alltag der Bevölkerung auftauchten, weil sie zum Beispiel religiöse Bräuche charakterisierten, die die Mission aufs Heftigste bekämpfte. Australische Spinnen hatten, bevor sie von Amalie Dietrich in Hamburg in einem eigens für sie erstellten Katalog beschrieben wurden, zweifellos nie die im botanischen Klassifikationssystem des modernen Europas vorgesehene Bedeutung gehabt. Verändert sich Wissen im Transfer, so ist die Richtung, in die diese Verän derung vonstatten geht, alles andere als zufällig. Studien von Bernard Cohn, Ronald Inden und David Chidester27 haben zeigen können, dass diese scheinbar harmlosen, da eben vermeintlich neutralen Klassifikationen und Verschriftlichungen – sei es von Sprachen und Riten oder sei es von Tieren und Pflanzen –, alles andere als harmlos waren. Hier wurde festgelegt, was ab diesem Zeitpunkt als eine Spinne gelte, die sich in spezifischen Verwandtschaftsverhältnissen befinde und diese und jene Eigenschaften habe. In der Über tragung von religiösen Texten wurde bestimmt, was als Hochreligion und was als Aberglauben gelten solle,28 was orientalischer Despotismus einerseits und die Freiheit westlicher Zivilisationen andererseits sei und wer auf einer niedrigen und wer auf einer hohen Stufe der Menschheitsentwicklung stehe. Hier nahmen Deutungen Gestalt an, die Objektivitätsstatus erheischten und damit die Vorstellungen vom ›Außereuropäischen‹ – so die globale Bezeichnung der Welt außerhalb der europäischen Grenzen – aber auch vom Europäischen nachhaltig mitbestimmten. So fügten sich viele ethnologische, zoologische und medizinische Deutungen bestens in die koloniale Agenda ein, die mit Verweis auf diese Studien manchen Ethnien mit besonderer Gewalt begegneten oder andere als Versuchsobjekte für neue Medikamente missbrauchten, um angeblich besonders drängende medi 26 Zu der Historizität wissenschaftlicher Verfahren siehe auch Lorraine Daston/Elizabeth Lunbeck (Hg.), Histories of Scientific Observation, Chicago 2011. 27 Bernard S. Cohn, Colonialism and its Forms of Knowledge. The British in India, Princeton, NJ 1996; Ronald Inden, Imagining India, London 1990; David Chidester, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996. 28 Vgl. die wichtige Studie: Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions, or, How European Universalism was Preserved on the Language of Pluralism, Chicago 2005: Masuzwa rekapituliert die Entstehung des neuen Konzepts der Weltreligionen im 19. Jahrhundert. Vgl. Zum Folgenden auch: Rebekka Habermas, Piety, Power, and Powerlessness. Religion and Religious Groups in Germany, 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 453–480. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zinische Probleme zu lösen.29 So war – wie Gabriele Richter am Beispiel ethno grafischer Studien, die in Ozeanien von Missionaren durchgeführt wurden, zeigt – ein »vielschichtiges Beziehungsgeflecht nicht nur Bedingung für den Austausch von Wissen«30, sondern konstituierte dieses. Und doch: Unabhängig davon, wie selektiv das war, was aus welchen Interessen heraus auch immer transferiert wurde, und wie stark es im Transfer neue Bedeutungen erhielt und wie eng wiederum diese mit Fragen von Macht verbunden waren – genau diesen Globalisierungen von Wissen verdankt das europäische Wissenssystem viel. Kaum eine der Disziplinen, die an den Universitäten des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde, hätte ohne diese Transfers entstehen können: Neben der Orientalistik, die Sabine Mangold am Beispiel eines Lektors rekonstruiert, ist die Afrikanistik zu nennen, mit der sich Holger Stoecker beschäftigt, und natürlich die Archäologie, der Charlotte Trümpler entlang der Biografie der Orientforscherin Gertrude Bell nachgeht. Viele andere Dis ziplinen wie die Ethnologie oder die Geografie und weniger naheliegende Disziplinen wie die Religionswissenschaft31 und die Botanik ließen sich hier ebenfalls einordnen.32
Medien Wissenstransfer im 19. Jahrhundert zu untersuchen, heißt aber mehr als Akteure, Netze, Räume und Disziplinen in den Blick zu nehmen, auch Medien spielen eine wichtige Rolle. Medien sind nämlich – darauf haben neuere Medienforschungen wie die Studien zur material culture verwiesen – mehr als neutrale Vehikel, mittels derer Informationen transportiert werden; sie haben durchaus eine eigene Kraft, eine agency.33 Je nachdem, ob beispielsweise ein Missionar im Missionsfilm abgebildet wird, der zu Werbezwecken für die Mission gedreht wurde, oder ob derselbe Missionar Teil einer Personengruppe ist, die auf einem Sammelbild etwa der Firma Liebig dargestellt wird, repräsentiert er etwas 29 Vgl. Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus, Deutschland 1884–1945, Paderborn 1997. 30 Vgl. Gabriele Richter, Flexibles Wissen in Beziehungen. Wissenstransfer zwischen Menschen in Ozeanien und kontinentalen Missionaren, in: Ulrich van der Heyden/An dreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in A frika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 329–338, 330. Vgl. Peter van der Veer, Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton 2001. Van der Veer verweist auf die innere Verbindung zwischen einem als religiös definierten Indien und einem als säkular verfassten England. 31 Chidester, Savage Systems. 32 Suman Seth, Putting Knowledge in its Place. Science, Colonialism, and the Postcolonial, in: Postcolonial Studies 12. 2009, 373–388, S. 374. 33 Anke Te Heesen/Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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anderes. Diese eigene Bedeutung der Medien und Dinge spielt in Fragen des Wissenstransfers insbesondere in zweierlei Hinsicht eine Rolle: Die Medien, mittels derer Wissen transferiert wurde, bestimmten einerseits mit, wie dieses aufgenommen wurde, andererseits entfalteten die medialen Repräsentationen von Wissen ganz eigene Bedeutungen, je nachdem wie diese medialen Repräsentationen ausfielen. Will man verstehen, wie der Transfer von Wissen im 19. Jahrhundert funktionierte, muss man folglich auch die Medien in ihren Rückwirkungen auf diesen Transfer genauer beleuchten. Genau das geschieht im vierten Teil des Bandes, der von Alexandra Przyrembel eingeleitet wird. Schon ein oberflächlicher Blick auf einen beliebigen Dampfer der Linie Woermann, die regelmäßig zwischen Westafrika und Hamburg verkehrte, gibt Einblick in die enorme Bandbreite unterschiedlicher Medien, durch die Wissen transportiert wurde: ausgestopfte Leoparden, getrocknete Gräser, ganze Herbarien, in Spiritus eingelegte Elephantenohren, Trommeln, Gesteinsproben, Zeichnungen von Felsreliefs, Teile von Häusern, die man für Völkerschauen brauchte, Stoffe, Lederarbeiten, Fotografien, später dann auch Filme und natürlich zahlreiche kleinere und größere Abhandlungen, ganze Buchmanuskripte, die von der Religion der Ewe, den Handelspraktiken der Haussa und den »Eingeborenenrechten« der sogenannten Dahomey Weiber handelten. All diese Materialien enthielten ein Wissen, und dieses war allein aufgrund seiner Materialität, je nachdem ob es die Form eines Elephantenohres hatte oder einer Abhandlung, ein anderes. Es ist nämlich alles andere als egal – darauf haben die Medienforschung wie die neueren Studien zur material culture mit Nachdruck verwiesen – von welcher Materialität Wissen war. Diese entschied zum Beispiel darüber, ob etwas ins Naturkundemuseum oder in den Zoologischen Garten kam, und allein dieser Bestimmungsort hatte wiederum Einfluss auf die Art, wie ein Objekt interpretiert wurde.34 Die Frage nach der Bedeutung von Medien und ihre Rückwirkung auf die Herausbildung globalen bzw. kolonialen Wissens stellt sich aber auch, wenn man die medialen Repräsentationen dieses Wissens, wie sie insbesondere in Europa üblich wurden, betrachtet: die Zeitungen, Fotografien, Ausstellungskästen, Werbebildchen, Skizzen, Karten, Filme, Modelle, Theaterstücke und auch Völkerschauen, um nur einige zu nennen. Dieser Aspekt ist gerade deshalb so wichtig, weil die Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgrund der Erfindung der Telegrafie immer weiter zusammenrückte und angesichts der Innovationen im Buchdruck und aufgrund der auch im Kino betriebenen neuen Formen der Popularisierung von Wissen immer breitere Bevölkerungskreise angesprochen wurden. Neben dem an wissenschaftlichen Fragestellungen orientierten Wissen oder Nicht-Wissen gewannen überdies zunehmend populärere Genres der
34 Vgl. Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001; H Glenn Penny, Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wissensvermittlung an Einfluss, wie beispielsweise die Sammelbilder, die von großen Unternehmen in Massenauflagen verbreitet wurden.35 Dabei konnten die jeweiligen Medien sehr unterschiedliche Bedeutung entfalten und überdies durch den Wissenstransfer selbst verändert werden. Genau das lässt sich beispielhaft anhand der Fotografie zeigen, die sich auf dem Umschlag dieses Buches befindet und die den Ethnologen Bronisław Malinowski (1884–1942) während seiner Feldforschungen auf Neu-Guinea zeigt. Einerseits verweist das Bild auf eine neue, auch im kolonialen Zusammenhang entstandene Bedeutung der Fotografie als wissenschaftliche Dokumentation von Wissen.36 Die dem Zyklus »Ethnographer« der Jahre 1915 bis 1918 entnommene Fotografie des Mannes in weißer Kleidung, der einen Koffer auf dem Schoß hat und im Gespräch mit einer Gruppe von Bewohnern der Trobriand-Inseln vertieft ist, verweist allerdings auch auf eine weitere Dimension: Spätestens seitdem Malinowskis Tagebücher veröffentlicht wurden, welche auch aufgrund ihrer zahlreichen Beschreibungen sexueller Fantasien im Feld aufschlussreich sind, wurde deutlich, dass diese Fotografien weit mehr als wissenschaftliche Dokumente sind.37 Zeigt das Beispiel des Ethnologen Malinowski, wie komplex und widersprüchlich der Zusammenhang ethnologischer Wissensproduktion im Feld einerseits und ihre medialen Inszenierungsformen andererseits ist, so geht Kathrin Reinert in ihrem Beitrag zu Fotografien der einheimischen Bevölkerung Argentiniens, die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammen, ganz ähnlichen Ambivalenzen nach. Die Vielschichtigkeit medialer Inszenierungsformen und ihre Verbindungen zur Verbreitung (vor-)kolonialer Wissensproduktion ist auch Gegenstand des Beitrages von Barbara Buchenau über das Heldenepos »The Song of Hiawatha« (1855) des Literaturprofessors Henry Wadsworth Longfellows, das sich vom Nationalgedicht des präkolonialen Amerika zum Markenzeichen des Produktes »Mondamin« entwickelte. Bewusste oder auch implizite Strategien der Umdeutung thematisiert ebenso der Beitrag von Andrew Zimmerman, der die vielfältigen Bedeutungsebenen der nach Berlin verschafften Ausstellungs objekte des Völkerkundemuseums untersucht. 35 Vgl. Joachim Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008. 36 Der Nachlass von Malinowski ist im Archiv der London School of Political and Economic Science einzusehen. Seine Fotografien sind digitalisiert und hier einzusehen: http://archives. lse.ac.uk/Record.aspx?src=CalmView.Catalog&id=MALINOWSKI%2f3 %2f18 %2f5. 37 1967 wurde das Tagebuch Malinowskis über seine Arbeit in Neuguinea in englischer Sprache unter dem Titel »A diary in the strict sense of the term« herausgegeben (dt. 1985). Unter Ethnologen löste es aufgrund der von Malinowski beschriebenen sexuellen Fantasien eine Kontroverse über ethnologisches Schreiben aus; siehe dazu u. a.: George W. Stocking, The Ethnographer’s Magic. Fieldwork in British Anthropology from Tylor to Malinowski, in: ders. (Hg.), Observers Observed. Essays on Ethnographic Fieldwork, Madison 1983, S. 70–120. Clifford Geertz, Augenzeuge sein. Malinowskis Kinder, in: ders. (Hg.), Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford 1988, S. 75–99; James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge 1988. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Ressourcen Globalisierung von Wissen lebt freilich nicht nur von Netzen und Akteuren, Räumen, Disziplinen und Medien – damit Wissen von Australien nach Hamburg und von Deutschland nach Togo kommen konnte, bedurfte es ganz wesentlich viel banalerer Dinge: Geld und anderer Ressourcen. Genau diese Ressourcen stehen im Mittelpunkt des letzten Teils des Bandes, der von Jakob Vogel eingeleitet wird. Es liegt auf der Hand, dass die Forschungen eines Bronisław Malinowskis oder auch von Amalie Dietrich viel Geld kosteten, und wir wissen auch, dass die Unterstützung durch staatliche Institutionen erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, vor allem aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Einfluss gewann.38 Doch es ist eine offene Frage, welche anderen Finanzierungsmodelle es gab und wie diese die Forschungen und den Transfer mitprägten. Eine weithin unterschätzte Rolle spielten zweifellos Privatpersonen, die die Forschungsexpeditionen unterstützten, aber auch Akademien oder Wirtschaftsverbände, etwa das Kolonialwirtschaftliche Komitee, und Vereine waren aktiv an der Finanzierung von Forschungsvorhaben beteiligt. Angesichts dieser wachsenden Bedeutung kolonialstaatlicher Insitutionen spricht Jakob Vogel in seinem Beitrag für diese Zeit auch von einer zweiten Sattelzeit, die im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte, während vorher vor allem private Initiativen etwa eines Godeffroy dominierten. Es war freilich nicht nur die materielle Grundausstattung, die Wissenstransfer mitbeeinflusste bzw. überhaupt erst möglich machte. Geld spielte auch während der Expedi tionen und schließlich auch nach der Rückkehr der Akteure und Akteurinnen eine entscheidende Rolle dafür, welches Wissen überhaupt transferiert wurde. Dabei war die Art und Weise, wie Ressourcen den Transfer mitbestimmten, so unterschiedlich wie die Ressourcen selbst bzw. ihre Provenienz und die damit verbundenen Interessen. Manche Finanziers von Forschungsexpeditionen versprachen sich von diesen Reisen finanzielle Vorteile, andere wiederum vor allem Renommee. Der Justus Perthes Verlag, ein bedeutender geografischer Verlag, förderte Forschungsexpeditionen unter anderem, um schließlich auf der Grundlage der Berichte über Reiserouten und geografische Informationen Karten herstellen zu können, die er dann verkaufte. Johan Cesar Godeffroy VI (1813–1885) unterstützte unter anderem die Forschungsreisen Amalie Dietrichs nach Austra lien und stellte ihre Exponate dann in einem eigens eingerichteten Museum aus.39 Die Missionsgesellschaften, die immer wieder über finanzielle Engpässe klagten, hatten lokale Hilfsvereine gegründet, um die Missionsarbeit in Über38 Die Gründung der bedeutenden außeruniversitären Forschungsinstitution der KaiserWilhelm-Gesellschaft, Vorläufer der Max-Planck-Gesellschaft, erfolgte erst 1911. Sie setzte außerdem deutliche Akzente in der Förderung der Naturwissenschaften. Vgl. Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller, Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Stuttgart 1990. 39 Helene Kranz (Hg.), Das Museum Godeffroy. 1861–1881. Naturkunde und Ethnographie der Südsee, Hamburg 2005. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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see zu unterstützen, aber auch um die Expeditionen eines Alexander Merensky in das südliche Afrika zu ermöglichen – was wiederum den Ruf der Mission in wissenschaftlichen Kreisen beförderte. Kurzum: Europäische Forschende benötigten finanzielle Ressourcen, um ihre Expeditionen nach Afrika, Australien oder auch Neu-Guinea überhaupt finanzieren zu können und die Finanziers taten das nicht aus reinem Wissensdurst. Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Reisen nicht selten wohlhabende Privatpersonen, die sich wie die Familien Perthes oder auch Godeffroy von ihrer Forschungsförderung wenn nicht einen materiellen Gewinn, so doch zumindest symbolisches Kapital versprachen. Wenn eine Rekonstruktion des Wechselverhältnisses der Wissensproduktion und der finanziellen Ressourcen, die den Forschungen – oftmals möglicherweise auch noch unter Vorbehalt – zur Verfügung gestellt wurden, bereits komplex ist, so verhält es sich mit der Rekonstruktion der Bedeutung von Geld und anderen Tauschgegenständen (wie beispielsweise Waffen) während der Expeditionen oder auch nur bei längeren Aufenthalten in Übersee nicht anders. Dabei lassen sich die Möglichkeiten, schnell zu Geld zu kommen, nur erahnen: Einzelne Reisende sammelten Ethnografica, die sie an Zwischenhändler oder direkt an Museen verkauften, andere Akteure der Wissensproduktion werden vermutlich für ihre Arbeit entlohnt worden sein. Was der Tübinger Missionar Spieß seinem Gehilfen Ludwig Adlazko für seine Übersetzung der Bibel zahlte, ist ungewiss. In jedem Fall aber war die Arbeit, die von intermediaries erbracht wurde, eine der zentralen Ressourcen der Wissensproduktion im Zeitalter des Kolonialismus. Diese oftmals nur gering entlohnte, oftmals möglicherweise auch unbezahlte Arbeit hatte einen maßgeblichen Anteil an der Wissensproduktion in der Moderne. Dass vor allem die Archäologie – insbesondere die großen Ausgrabungen – ein Feld war, das während des Deutschen Kaiserreichs mit imperialistischen Interessen sehr verwoben war und daher auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Forschungsmittel zurückgreifen konnte, zeigt Ernst-Christian Steinecke exemplarisch an der Ausgrabung der Stadt Babylon in den Jahren 1898 bis 1917. Oftmals unterstützten unterschiedliche gesellschaftliche Träger koloniale Expeditionen. Dies belegt Maria Rhode am Beispiel von russischen Expeditionen nach Abessinien (Äthiopien) im 19. Jahrhundert, die mal von der Russischen Geografischen Gesellschaft, ein anderes Mal von dem russischen Roten Kreuz getragen wurden. An diesem Beispiel wird zudem deutlich, dass auf koloniale wissenschaftliche Interessen nicht immer eine imperiale Expansion folgte.
Von Märkten, Käfern und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne Der Band ist in fünf Teile untergliedert. Jeder Teil beschäftigt sich mit einem der eben angeführten Teilaspekte, der genau beleuchtet werden muss, will man verstehen, wie Globalisierung von Wissen, verstanden im Sinne einer Verflechtungsgeschichte, im langen 19. Jahrhundert hergestellt wurde: An ihr waren © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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erstens Akteure und Akteurinnen, zweitens Räume, drittens Disziplinen, viertens Medien und fünftens Ressourcen beteiligt. Allesamt sind sie insofern mit Bedacht gewählt, als – so eine unserer Ausgangsüberlegungen – es ihr dynamisches Zusammenspiel ist, welches den Wissenstransfer im 19. Jahrhundert strukturierte. Wir gehen davon aus, dass der Wissenstransfer im 19. Jahrhundert in einem Netz von Akteuren und Akteurinnen erfolgte. Dieses Netzwerk erstellte Räume und hing zu gleicher Zeit von ihnen ab. Dadurch gestaltete es Disziplinen, die wiederum das transferierte Wissen prägten. Gleichzeitig war dieser Wissenstransfer mitbestimmt von einer Vielfalt an Medien und medialen Repräsenta tionen, zu denen im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen Zugang hatten und welche ihrerseits durch Transferprozesse verändert wurden. Ressourcen materieller und symbolischer Art, die in den vielschichtigen globalen Verflechtungen generiert wurden, werden dabei ebenfalls hinsichtlich ihrer Wirkungen berücksichtigt. Jeder der fünf Hauptabschnitte des Bandes wird durch einen einführenden Essay eingeleitet, der einen Überblick über das Forschungsfeld gibt. Im Mittelpunkt der Beiträge steht jeweils ein Fallbeispiel: eine Expedition, ein Gedicht oder ein Objekt. Diese Form der Fallgeschichte ist mit Bedacht gewählt: Wir gehen davon aus, dass das Genre Mikrogeschichte die vielschichtigen Dynamiken zwischen Akteuren und Akteurinnen, Räumen, Medien, Ressourcen und Disziplinen besser erfassen kann als andere, eher strukturgeschichtliche Zugänge.40 Der Blick aus der Nähe hilft die Eigenlogik der unterschiedlichen Faktoren und die performativen Dimensionen besser zu erkennen. Mit Hilfe dieses mikrohistorischen Blicks werden nicht nur die Verflechtungen benannt, sondern auch ihre Konsequenzen sichtbar.41 Überdies eröffnen Mikrogeschichten die Möglichkeit, Anpassungen, Bruchstellen, möglicherweise auch Widerstände aufzuzeigen, die mit der Produktion und dem Transfer von Wissen während des Kolonialismus in der Moderne verbunden waren. Mikrogeschichten erleichtern zudem insofern den Umgang mit den erwähnten Schwierigkeiten des colonial archive, als die Nahaufnahme stets mit großem Nachdruck verdeutlicht, wie stark die Präsenz lokaler Akteure, Faktoren und Kontexte war. Ein allzu eng auf die Allmacht des Empire fokussierter Blick, der schnell an seine Grenzen stößt, und auch eurozentrische Verkürzungen werden so vermieden.42 40 Natalie Zemon Davis, Decentering History. Local Stories and Cultural Crossings in a Global World, in: History and Theory 50. 2011, S. 188–202, auf Deutsch: in Historische Anthropologie 19. 2011, S. 144–156. 41 Wenn wir die Kritik an einer Geschichte der Verflechtungen ernst nehmen, wonach die Suche nach den Verflechtungen oftmals lediglich Beziehungen attestiere, ohne nach deren Konsequenzen zu fragen (Vgl. Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 100) bietet die Mikrogeschichte hier einen Ausweg. 42 Zur Mikrogeschichte des Globalen vgl. Natalie Zemon Davis, Decentering History; Rebekka Habermas, Der Kolonialskandal Atakpame – eine Mikrogeschichte des Globalen, in: Historische Anthropologie 17. 2009, S. 295–319, und jüngst: Helge Wendt, Die missionarische Gesellschaft. Mikrostrukturen einer kolonialen Globalisierung, Stuttgart 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Akteurinnen und Akteure
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Rebekka Habermas
Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen Akteure und Akteurinnen im Wissenstransfer. Einführung
Betrachtet man die Wissensgeschichte des langen 19. Jahrhunderts, so fallen einem gleich Dutzende von fast überlebensgroß erscheinenden Personen ein, die hier eine Rolle gespielt haben und die bis heute – sei es in Form von Denkmälern oder sei es bloß als Namensgeber für Verbände oder andere wissenschaftliche Institutionen – präsent sind. Zu nennen ist hier Alexander von Humboldt, der mit den Ergebnissen seiner Lateinamerikareise 1845 den Besteller »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung« vorlegte. Auch denkt man an David Livingstone, ursprünglich ein Missionar, der 1866 im Auftrag der Royal Geographical Society von Sansibar aus aufbrach, um nach den Quellen des Nils zu suchen, oder an Robert Koch, der nicht nur den Tuberkelbazillus entdeckte, sondern auch wichtige Expeditionen wie die so genannte Choleraexpedition 1883 nach Ägypten unternahm und als Nationalheld zurückkehrte. Allesamt sind dies Personen, die ihre wissenschaftlichen Entdeckungen nicht zu Hause machten, vielmehr verdanken sie ihre Erkenntnisse und ihren Ruhm den im 19. Jahrhundert immer intensiver werdenden globalen Vernetzungen: Humboldt hätte ohne seine mehrjährige Lateinamerikareise keine universellen Ansprüchen genügende Erdbeschreibung vorlegen können; Koch erforschte in Ägypten die Cholera, in Südafrika die Rinderpest und schließlich in Neu guinea die Malaria, während Livingstone seinen Ruhm seinen Reisen nach Afrika verdankt. Und doch mehren sich seit einiger Zeit die Stimmen, die behaupten, dass Wissensgeschichte im Allgemeinen und Wissenstransfer im Besonderen mit Akteuren wie Humboldt und Koch und anderen nur sehr unzulänglich erfasst werden können. Konzentriere man sich auf diese Heroen – so das Argument – werde nur unreflektiert ein zeitgenössisches Verständnis von Wissenschaftlern fortgeschrieben, dass diese »großen Männer«1 als Ausbund von Kreativität und Genialität konstruiere und dabei vergesse, dass Wissenschaftsgeschichte nicht mit einem Erinnerungsdienst zu verwechseln sei. Denn damit führe man allein das fort, was die Humboldtvereine im 19. Jahrhundert genauso getan hätten wie die zahlreichen Denkmalkomitees, die sich mit der Frage beschäftigten, wo welches Robert Koch Denkmal errichtet werden solle; man schreibe eine Geschichte 1 Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 2001, S. 10. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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fort, die Henry Morton Stanley bereits 1872 mit seinem Besteller »How I found Livingstone« begonnen habe und die ihn selbst und Livingstone zu einem Medienereignis ersten Ranges machte. Statt also der für das 19. Jahrhundert so typischen Heroisierung Vorschub zu leisten, gehe es darum, zu analysieren, welche Praktiken der Forschung unter welchen ökonomischen und sozialen Bedingungen aufgrund welcher episte mologischen Strukturen wie repräsentiert würden und welche Bedeutung erhielten. Demnach spielten Praktiken des Forschens, wie das Experiment, aber auch Instrumente, Geldgeber, Räume, Medien und institutionelle Strukturen, epistemologische Kategorien sowie ein bestimmtes Konzept von Beweis beziehungsweise von Vergleich eine weit größere Bedeutung als einzelne Heroengestalten. Und doch: So einleuchtend das Argument ist, dass eine geschichtswissenschaftliche Analyse der bereits zu Lebzeiten aufgrund kluger Publikationsstrategien2 zu beobachtenden Popularisierung bestimmter Wissensformate und -akteure nicht weiter Vorschub leisten sollte, da man damit genau dieser zeitgenössischen Heroisierung auf den Leim gehe, statt sie zu untersuchen, so irreführend ist es, alle Akteure nun in Bausch und Bogen aus der Analyse zu eliminieren. Im Gegenteil: Akteure spielen in der Analyse dessen, wie Wissen generiert und transferiert wurde und welche Bedeutung es erlangte, nach wie vor eine Rolle. Es gibt – so soll gezeigt werden – freilich nicht nur die Livingstones und Humboldts dieser Welt, sondern auch andere, die wichtig waren für die Generierung und den Transfer von Wissen. Zu nennen sind hier neben Missionaren wie Pater August Schynse oder Alexander Merensky3 auch Frauen, die im Umfeld der Mission arbeiteten und ebenfalls wissenschaftliche Expertisen erstellten; Kaufleute wie Salomon Volkhart4, die mit großer Energie vor allem solches Wissen vorantrieben, aus dem sie hofften, Kapital schlagen zu können; Kolonialbeamte wie Rudolf Asmis, der gleich in mehreren Kolonien tätig war5, und die so genannten intermediaries, ohne die keine einzige Grammatik afrikanischer Sprachen entstanden wäre; außerdem die so genannten Amateurwissenschaftler, die man häufig nur deshalb Amateure nannte, weil die Disziplin, in deren Dienst sie sich stellten, noch nicht an Universitäten gelehrt wurde. Gemein ist all diesen Frauen und Männern, dass sie – obschon sie am Transfer von Wissen an unterschiedlichen Stellen zentral beteiligt waren – von den zeit genössischen Vertretern der akademischen Wissenschaft selten als Experten an erkannt wurden. Das lag zum einen daran, dass diese Personen im wahrsten Sinne 2 Vgl. Stefanie Samida, Vom Heros zum Lügner? Wissenschaftliche »Medienstars« im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 245–272. Zu Morton Stanley, der als Journalist auch über die Techniken der Medialisierung verfügte, vgl. in demselben Sammelband: Manfred Eggert, Henry Morton Stanley (1841–1904) oder die Erschließung Zentralafrikas als Medienereignis, S. 273–296. 3 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Richard Hölzl und Ulrich van der Heyden. 4 Vgl. den Beitrag in diesem Band von Christof Dejung. 5 Vgl. den Beitrag in diesem Band von Bettina Brockmeyer. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen
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des Wortes Außenseiter waren, kam ihre Expertise doch von außerhalb Europas, verbrachten sie dort häufig einen Großteil ihrer Lebenszeit und waren ihre Beziehungsnetze folglich in viele Richtungen zwar sehr stark, aber häufig nicht so mächtig, dass sie in das Innerste der akademischen Kreise vordringen konnten. Zum anderen lag es daran, dass die meisten Wissenschaften, zu denen sie beitrugen, just zu der Zeit erst im Entstehen begriffen waren. Ihre Erkenntnisgegenstände, Methoden, Logiken und Rituale hatten noch keine feste Gestalt angenommen, weshalb es für die offiziellen Vertreter umso wichtiger war, klare Grenzen zu formulieren: Grenzen zwischen Amateuren und Wissenschaftlern, zwischen Zuarbeitern und Profis, zwischen Dilettanten und Gelehrten. Und doch – oder besser: Gerade weil sie von außen kamen und Expertise außerhalb Europas hatten, sind sie für den Wissenstransfer von zentraler Bedeutung. Erst wenn man sie und die Kochs, Humboldts und Livingstons zusammen betrachtet, werden die Netze deutlich, mittels der auf teilweise enormen Umwegen Wissen transferiert wurde. Wer waren diese Frauen und Männer, was trugen sie aufgrund welcher Fähigkeiten, Kontakte und Interessen zum Wissenstransfer bei? Inwiefern waren die Käfer, die sie in Afrika sammelten und dann nach Deutschland schickten, die Löwenköpfe, die sie nach Erlegung des Tieres auch noch präparieren mussten, und die Grammatiken, welche sie von lokalen Sprachen erstellten, für welche Formen europäischen Wissens wichtig? Und welche Bedeutung hatte dies alles für die Frauen und Männer selbst? Für die Nonne, die eigentlich den Kindern christliches Wissen beibringen sollte, aber nun zusätzlich Kinderlieder der einheimischen Bevölkerung sammelte und auf den deutschen Buchmarkt brachte? Für den Kaufmann, der aufgrund der zu erwartenden Kautschukgewinne in die Kolonien gekommen war und dann Abhandlungen über sozialpolitische Probleme in den Kolonien verfertigte? Und auch für die – um auf die lokale Bevölkerung zu sprechen zu kommen, die hier eine zentrale Rolle spielte –, dessen Kernaufgabe es eigentlich war zu übersetzen und die dann eigene Texte verfasste.
Frauen und Männer unterwegs im Außereuropäischen Frauen und Männer der Mission
Livingstone war als an Wissenschaften interessierter Missionar keine Ausnahme. Wir wissen mittlerweile von Dutzenden von forschenden Missionaren.6 Die Missionare der protestantischen Missionsgesellschaften etwa lieferten genauso wie 6 Vgl. Patrick Harries, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford u. a. 2007. Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012; Reinhard Wendt (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht, Tübingen 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Hunderte anderer Missionare und Missionsbrüder aus den katholischen Orden wichtige Beiträge vor allem zu der sich entwickelnden Sprachwissenschaft, da ja die Kenntnis der einheimischen Sprache erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Missionierung war.7 Aber auch die Botanik – wie Patrick Harries eindrücklich gezeigt hat – verdankt den Schmetterlinge sammelnden Missionaren viel, ebenso die Zoologie und die Geografie8 und sogar die Religionswissenschaft9. Weit weniger wissen wir von den Frauen aus dem Umfeld der Mission, etwa von Hedwig Rohns, der 1852 in Göttingen geborenen Bürgerstochter, die schon jung verwaist10 eine der wenigen Optionen ergriffen hatte, die sich im langen 19. Jahrhundert für jene Frauen bot, die es nach Afrika oder Indien zog: Sie war als Diakonisse der Norddeutschen Missionsgesellschaft in Afrika tätig. Neben Diakonissen waren es Missionarsfrauen11 und Ordensfrauen, die in den Missionsschulen und Missionskrankenhäusern tätig waren beziehungsweise diese Schulen, Kindergärten und Krankenstationen leiteten. Diakonissen ließen sich in Beirut, Smyrna, Togo, Jerusalem und an vielen anderen Orten nieder,12 die Steyler Schwestern, Benediktinerinnen und die Weißen Schwestern – um nur einige wenige zu nennen – waren in Deutsch-Ostafrika, in Südafrika, Algerien und in vielen Teilen Asiens tätig.13 Obschon diese Frauen hauptamtlich damit beschäftigt waren, europäische Geschlechterordnungen, Familienkonzepte und Erziehungsprogramme14 zu ver 7 Zur Bedeutung der Mission für die afrikanischen Sprachwissenschaften vgl. grund legend: Birgit Meyer, Christianity and the Ewe Nation. German Pietist Missionaries, Ewe Converts and the Politics of Culture, in: Journal of Religion in Africa 32. 2002, S. 167–199, die nachzeichnet, dass die protestantischen Missionare dem Herderschen Konzept von Sprache als Ausdruck des »Volksgeistes« folgten. 8 Der »Missionsexpedition« in den »Nordens des Nyassa« verdankt die Geografie eine vom Missionsinspektor Merensky erstellte Karte. Vgl. Rudolf Hafeneder, Deutsche Kolonialkartographie 1884–1919, Euskirchen 2008, S. 172. 9 Vgl. Harries, Butterflies and Barbarians. Im Überblick auch: ders./David Maxwell, The Spiritual in the Secular. Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids 2012. Zur Religionswissenschaft siehe: David Chidester, Savage System. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996. 10 Hedwig Rohns, Zwanzig Jahre Missions-Diakonissenarbeit im Eweland, Bremen 1912. 11 Vgl. Dagmar Konrad, Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission, Münster u. a. 2001. In der Basler Mission wurden Missionarsehefrauen 1921 erstmals eingesegnet, womit ihre Arbeit für die Mission gewürdigt wurde. 12 Vgl. Julia Hauser, An Island Washed by the Crashing Waves of the Ocean? The Kaiserswerth Deaconesses Contribution to Female Education in Late Ottoman Beirut, Diss. Göttingen 2012. 13 Katharina Stornig, »All for the greater glory of Jesus and the salvation of immortal souls«! German Missionary Nuns in colonial Togo and New Guinea, 1897–1960, Diss., Florenz, 2010. 14 Patricia Grimshaw, Colonising Motherhood. Evangelical Social Reformers and the Koorie Women in Victoria, Austrailia 1880s to the Early 1990s, in: Women’s History Review 8. 1999, S. 329–346, erläutert werden hier Missionspolitiken, die darauf abzielten, europäische Mutter- und Kindkonzepte zu vermitteln. Zur Arbeit der Schwestern und der Missionarsehefrauen und Diakonissen in Togo im schulischen Bereich: Sena Yawo © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mitteln, gab es doch nicht wenige unter ihnen, die überdies dazu beitrugen, auch Wissen aus Übersee nach Europa zu transferieren. Sie halfen bei Bibelübersetzungen mit, und legten eigene Forschungsarbeiten vor. Die Missionarsehefrau Anna Knüsli etwa ist die Autorin des ersten Deutsch-Ewe Wörterbuches.15 Helene Härtter und Edith Spieth verdanken wir Abhandlungen über westafrikanische Kinder,16 Luise Öhler verfasste ein Kompendium, das als Missionswissenschaft avant la lettre bezeichnet werden kann und sich mit Frauenmission beschäftigt,17 die Diakonisse Wilhemina Bück legte gar eine »Petite Geographie de la Syrie et de la Palestine« vor.18 Hedwig Rohns publizierte eine der sehr raren ethnografischen Beobachtungen über westafrikanische Frauen, ja, sie erstellte regelrechte Porträts von einzelnen Frauen, die sie als individuelle Persönlichkeiten zeigte. Damit wählte sie eine Darstellungsform, die man bei den Missionaren, aber auch in der zeitgenössischen Ethnologie vergeblich sucht. War es für die deutsche Ethnologie typisch, die afrikanische Bevölkerung als »Naturvölker«, ohne jede Geschichte unterschieden nur nach vermeintlichen Zivilisierungsgraden, zu begreifen, so stellte Hedwig Rohns hier schon allein aufgrund der Wahl des biografischen Genres insofern einen Gegenentwurf vor, als sie individuelle Lebensgeschichten rekonstruierte.19 Sie ging sogar noch einen Schritt weiter und verknüpfte diese Frauenbiografien mit geschichtlichen Ereignissen, indem sie etwa den Kontext der so genannten Dahomey Amazonen rekonstruierte und somit die Existenz afrikanischer Geschichtlichkeit anerkannte.20 Diakonissen lieferten im Auslandsdienst also Berichte über ansonsten gar nicht oder ganz anders interpretierte Sachverhalte, freilich ohne ihre eigene religiöse Perspektive zu verleugnen. Sie trugen dadurch zu einem Transfer von Wissen bei, das in dem Moment, als ihre Berichte von Armchair-Ethnologen in Berlin oder Oxford weiter verbreitet wurden, auch Eingang in das akademische Wissenschaftssystem erhielt – wenn auch gleichzeitig der Ursprung dieses Wissens aus dem Missionsfeld häufig getilgt wurde. Das freilich ist ein Prozess,
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Akakpo-Numando, Mädchen- und Frauenbildung in den deutschen Afrika-Kolonien (1884–1914), Diss., Bochum 2005. Vgl. zum Lebenslauf: Ilse Theil, Reise in das Land des Todesschattens. Lebensläufe von Frauen der Missionare der Norddeutschen Mission in Togo/Westafrika (von 1849 bis 1899). Eine Analyse als Beitrag zur pädagogischen Erinnerungsarbeit, Münster 2008. Vgl. ausführlicher: Christian Kodzo Ayivi, Zweisprachige Lexikographie. Zur Adaption von Wissen in ewe-deutschen und deutsch-ewe Wörterbüchern, Münster u. a. 2000. Zu Helene Härtter siehe: Theil, Reise in das Land; Edith Spieth, Unter Ewe-Leuten in Togo. Erlebtes auf dem Missionsfeld im früheren Deutsch-Togo, Stuttgart 1931. Luise Oehler, Die Frauenmission in den Heidenländern, Basel 1903. Vgl. ihre zahlreichen Übersetzungen aus dem Englischen u. a.: Basil J. Mathews, Livingstone, der Pfadfinder, Stuttgart 1922. Sie war verheiratet mit dem Missionar und Missionswissenschaftler der Baseler Mission Wilhelm Oehler. Vgl. dazu Hauser, An Island Washed by the Crashing Waves of the Ocean, S. 341–352. Hedwig Rohns, Zwanzig Jahre Missions-Diakonissenarbeit im Eweland. Bd. 4. Die Bilder aus der Arbeit der Schwestern, Bremen 1921, S. 3 ff. Rohns, Missions-Diakonissenarbeit, S. 44. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der sich für männliche Missionare genauso beobachten lässt wie für die Frauen: Die Lehrstuhlinhaber, die ihre Disziplin gerade erst institutionalisiert hatten, zogen es vor, die eigene Arbeit durch schlichte Nichtnennung der Missionsan gehörigen aufzuwerten.21 So wurde der Graben zwischen Missionaren, Diakonissen und Missionarsfrauen auf der einen Seite und akademischen Forschern auf der anderen Seite immer größer. Blieben die Missionare und noch mehr die Diakonissen und Missionarsehefrauen in der Regel ohne wissenschaftlichen Ruhm – Ausnahmen gab es einige, die wichtigsten sind die Missionare, die später selbst Lehrstuhlinhaber wurden,22 – so konnten sie dennoch von ihrer Arbeit profitieren. Insbesondere die Frauen konnten sich durch ihre Missionsarbeit mit Wissenschafts feldern beschäftigen, von denen sie insofern strukturell ausgeschlossen waren, als Deutschland erst ab 1908 seine Universitäten für Frauen öffnete. So wurde Hedwig Rohns etwa in einem Werk, welches anlässlich der Ausstellung »Die Frau in Haus und Beruf« 1912 publiziert werden sollte, als Expertin für Erziehungsarbeit in Afrika gewürdigt.23 Andere Missionarsfrauen wurden zu regelrechten moral entrepreneurs, wenn sie sich – legitimiert durch ihre außereuropäische Expertise – etwa öffentlich zur Lage der indischen Frauen äußerten.24 Aber auch Missionaren eröffneten ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten Tore, die diesen Männern in der Regel nicht offen gestanden hätten, da sie aufgrund ihrer meist kleinbürgerlichen Herkunft weder das Geld noch andere Formen der Unterstützungen gehabt hatten, um eine Universität zu besuchen.25 Kaufleute
Einige Kaufleute, wie der an den Naturwissenschaften und der biologischen wie kulturellen Evolution des Menschen hoch interessierte Hamburger G odeffroy und der Bremer Vietor, der vor allem soziale und religiöse Interessen hatte, engagierten sich direkt im Wissenstransfer. So gab Johann Cesar Godeffroy, der in 21 Patrick Harries/David Maxwell, Introduction. The Spiritual in the Secular, in: dies. (Hg.), The Spiritual in the Secular. Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids 2012, S. 15, datieren diesen Prozess erst auf 1930. Vgl. auch: Patrick Harries, Natural Science and Naturvölker. Missionary Entomology and Botany, in: ders./Maxwell, Spiritual in the Specular, S. 30–71, hier S. 69. 22 So etwa Diederich Westermann. Aber auch Missionsbrüder wie Wilhelm Schmidt, der die wichtige ethnologische Zeitschrift »Anthropos« gründete. 23 Brief A. W. Schreiber, Missionsdirektor an Pastor Mahler, Berlin 10.10.1911, in: Archiv der Norddeutschen Missionsgesellschaft, Bremen, 103/10. 24 Clare Midgley, Female Emancipation in an Imperial Frame. English Women and the Campaign against Sati (Widow-Burning) in India, 1813–30, in: Women’s History Review 9. 2000, S. 95–121. 25 Thorsten Altena, »Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils«. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918, Münster u. a. 2003, S. 207 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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den 1850er Jahren Handelsniederlassungen in Australien, Neuseeland und auf den Samoa Inseln eröffnet hatte,26 seinen Kapitänen Anweisungen, interessante Specimen und Artefakte zu sammeln. Man hoffte über diese Pflanzen und Tiere, später kamen Ethnologica dazu, Aufschluss über die Entwicklung der Menschheit erhalten zu können. Schließlich eröffnete Godeffroy ein eigenes Museum für diese Tausende von Artefakten, stellte einen Zoologen, einen Kustos und mehrere Assistenten an, die die Sammlung systematisch ordnen, die Dubletten zum Verkauf aussortieren und neues Material begutachten sollten. Mehr noch, Godeffroy schickte nach und nach insgesamt sechs Forscher und eine Forscherin in die Südsee, um dort in seinem Auftrag zu sammeln; dabei sollten sie gleichzeitig ihr »Augenmerk auf alle handelswichtigen Naturprodukte der Inseln« legen.27 Der Bremer Kaufmann Johann Karl Vietor,28 der seit den späten 1880er Jahren Handelsniederlassungen in Westafrika hatte, trug insofern zum Wissenstransfer bei, als er es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Wissen des Kaiserreichs über den »Neger« zu bereichern. Kurzum, er engagierte sich in sozial- und kolonialpolitischen Debatten. So setzte er sich vehement gegen den »Branntweinhandel« ein, propagierte eine strikte Trennung der Rassen und wollte helfen, die »Neger« zur Arbeit zu erziehen und gleichzeitig eine vermeintlich sehr alte und intakte »Eingeborenenkultur« zu erhalten.29 Nach und nach machte er sich so einen Namen als Kolonialexperte und wurde schließlich selbst zu einer litera rischen Gestalt in dem Roman »Rodenkampp Söhne«, erschienen 1924.30 Neben diesen Godeffroys und Vietors und wie sie alle heißen, die sich als Sammler, Kolonialexperten und Amateurwissenschaftler profilierten, gab es 26 Vgl. für die Schweiz jüngst auch Andreas Zangger, Koloniale Schweiz. Ein Stück Global geschichte zwischen Europa und Südostasien (1860–1930), Bielefeld 2011. Er liefert Beispiele für Schweizer Kaufleute und ihre Sammeltätigkeit bzw. geht darauf ein, wie einzelne Geografische Gesellschaften sogar Listen publizierten, welche Sammelschwerpunkte es aktuell gab. Dazu Zangger, Koloniale Schweiz, S. 376. Brief von August Unshelm 15.7.1858, zit. nach Birgit Scheps, Das verkaufte Museum. Die Südsee-Unternehmungen des Handelshauses Joh. Ces. Godeffroy & Sohn, Hamburg, und die Sammlungen »Museum Godeffroy«, Keltern-Weiler 2005, S. 21. 27 Eduard Graeffe, Notizen über die Entstehung und Entwicklung des Museums Godeffroy’s, Triest 1886, Staatliche Ethnographische Sammlung Sachsens, Museum für Volkskunde zu Leipzig, Archivbestand, Aktenstück 1885/33, S. 1. Zit. nach Scheps, Das verkaufte Museum, S. 51. 28 Vgl. zu Vietor: Amétépé Yawovi Valentin Ahadji, Rudolf Asmis et Johann Karl Vietor. Deux défenseurs des Noirs au Togo?, in: Peter Heine/Ullrich van der Heyden (Hg.), Studien zur Geschichte des deutschen Kolonialismus in Afrika, Pfaffenweiler 1995, S. 43–58. Wiebke Hoffmann, Auswandern und Zurückkehren. Kaufmannsfamilien zwischen Bremen und Übersee, Münster 2009, S. 102 ff. 29 Beiträge wie die »Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Afrikaners« erschienen in Johann Karl Vietor, Der Afrikaner. Seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, geistige Befähigung, religiöse Veranlagung. Vorträge auf dem II. Deutschen Kolonial-Missionstag in Cassel, Bremen 1912. 30 Nathanael Jünger, Rodenkampp Söhne. Deutscher Kolonialroman aus Bremens Vergangenheit und Zukunft, Wismar 1924. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Hunderte von Kaufleuten, die sich vermittelt über kaufmännische Ausbildungseinrichtungen, wie etwa die Kölner Handelshochschule31, koloniale Konzes sionsgesellschaften32 oder kaufmännische Organisationen wie das Kolonialwirtschaftliche Komitee, indirekt am Wissenstransfer beteiligten, waren es doch gerade diese Institutionen und Verbände, die Kaufleute in die Kolonien schickten, um dort Eisenbahnen oder Pflanzungen einzurichten und ganz nebenbei dann auch Tiere fingen, wie Karl Lachner, der dem Berliner Zoologischen Garten eine Togo-Löwin mitbrachte.33 Auch organisierten diese kaufmännischen Organisationen Expeditionen ins Außereuropäische. Obwohl diese finanziell sehr gut ausgestatteten und groß angelegten Expeditionen zweifellos wirtschaftliche Interessen verfolgten, hatten sie auch wissenschaftlichen Charakter.34 Fast 40 Expeditionen, die Grundlagenforschung betrieben, wurden im Kaiserreich durch das Kolonialwirtschaftliche Komitee, eine Interessensorganisation von Kaufleuten, organisiert,35 darunter Fischfluss-Expeditionen in Südwestafrika oder pflanzenpathologische Expeditionen, um das Studium der »Rindenwanze, der Kaffee-, Kakao- und Castilloabohrer« in Kamerun zu erkunden.36 Was genau war aber der Beitrag dieser Kaufleute zum Wissenstransfer? Im Fall Godeffroys waren es Tausende von konservierten Tieren und Pflanzen, »präparierte Schädel« wie Ethnologica,37 die dank seiner Unternehmungen erstmals der europäischen Wissenschaft zur Verfügung gestellt wurden. Diese 31 Vgl. Anne-Kathrin Horstmann, Wissenschaftlicher Kolonialismus zwischen Theorie und Praxis. Die Ostafrika-Expedition der Kölner Handelshochschule 1908, unter: http://www. kopfwelten.org/kp/institutionen/handelshochschule/index.html, zuletzt eingesehen am 18.4.2013. 32 Hafeneder, Kolonialkartographie, S. 171. Er nennt die Konzessionsgesellschaften in Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika und die Deutsche Diamantengesellschaften, die Ex peditionen finanzierten. 33 Aus unseren Kolonien. Togo, in: Deutsche Kolonialzeitung 40. 1907, S. 405. Da heißt es weiter: »Die neue Löwin hat als Gesellschafter noch zwei jüngere, gleichfalls frisch ein geführte Ostafrikaner erhalten und hat bei ihren kindlichen Spielen Gelegenheit, ihre Beweglichkeit und Lebhaftigkeit voll zu entfalten.« 34 Vgl. dazu: Bericht ueber die Arbeit des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees im Jahr 1907/08, Berlin 1909. 35 Imre Josef Demhardt, Deutsche Kolonialgesellschaft 1888–1918. Ein Beitrag zur Orga nisationsgeschichte der deutschen Kolonialbewegung, Wiesbaden 2002, S. 69. 36 Vgl. Verhandlungen des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees 1903. Es wurden Kommis sionen wie die Baumwollkommission und die Kautschukkommission gegründet, die in erster Linie landwirtschaftliche Forschungen zu diesen Produkten förderten. Und schließlich war es das Kolonialwirtschaftliche Komitee, das auf einer sehr basalen Ebene zum Transfer und auch gleich zur Popularisierung von Wissen beitrug, in dem es rund 600 kolonialwirtschaftliche Musterschaukästen für den preußischen Schulunterricht lieferte. Vgl. Demhardt, Deutsche Kolonialgesellschaft, S. 69. 37 Diese wurden als Bilder abgedruckt in dem Anthropologischen Album des Museums Godeffroy, Hamburg 1881, bzw. dem Journal des Museums Godeffroy, teilweise ab gedruckt in: Helene Kranz (Hg.), Das Museum Godeffroy. 1861–1881 Naturkunde und Ethnographie der Südsee, Hamburg 2005. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Artefakte waren von so großem Wert, dass führende Wissenschaftler wie Rudolf von Virchow und Adolf Bastian in ihrer Berliner Gesellschaft für Anthro pologie, Ethnografie und Urgeschichte regelmäßig Neuzugänge der Godeffroy schen Sammlung vorstellten.38 Kaufleute wie Vietor wiederum trugen zum Wissenserwerb dadurch bei, dass sie Stellung zu sozial- und kolonialpolitischen Fragen nahmen, die auch in den sich formierenden Sozialwissenschaften ihren Widerhall fanden. So wurden Vietors Ideen über eine sehr spezifische »Volks kultur« unter den »Eingeborenen« von Gustav Schmoller und seinem Verein für Socialpolitik mit Interesse verfolgt, fügten sich Vietors Ideen doch vortrefflich in ähnliche, von Max Weber und anderen Staatswissenschaftlern propagierte Vorstellungen ein.39 Auch die durch das Kolonialwirtschaftliche Komitee finanzierten Expeditionen beförderten den Wissenstransfer. Die auf den Forschungsreisen gewonnenen Ergebnisse wurden in wissenschaftlichen Organen, aber auch im hauseigenen Journal des Kolonialwirtschaftlichen Komitees, dem Tropenpflanzer, publiziert und fanden Eingang in tropenmedizinische, aber auch veterinärmedizinische, botanische und zoologische Forschungsdebatten. Die Kaufleute selbst profitierten freilich auch von ihren Unternehmungen, konnten sie hier doch wirtschaftliche mit wissenschaftlichen Interessen verbinden und garantierte ihnen ihr Engagement auf dem Feld des Wissenstransfers überdies zusätzliches soziales und kulturelles Kapital, wie sich an der Person Johann Cesar Godeffroy vielleicht am besten zeigen lässt. Dieser wurde aufgrund seiner Sammeltätigkeit Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, und kein geringerer als Rudolf von Virchow sagte über ihn, »dass sein Andenken […] in der Geschichte der deutschen Forschung unvergessen sein«40 wird. Neben diesem erheblichem Gewinn an Ansehen, gab es noch weit handfestere Profite, die Kaufleute aus dem Wissenstransfer ziehen konnten: Die vom Kolonialwirtschaftlichen Komitee finanzierten Expeditionen erschlossen neue Absatzmärkte, führten zu Gründungen von Baumwollplantagen, ja sogar zu industriellen Baumwollspinnereien, etwa in Togo und Deutsch-Ostafrika, welche dann zu recht günstigen Konditionen an Privatleute verkauft wurden.41 38 Scheps, Das verkaufte Museum, S. 57. 39 Vgl. zu Vietors Vorträgen zu dem Thema auf dem Kolonialkongress in Berlin 1902 und 1904 und zu Gustav Schmollers Reaktionen: Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001, S. 137. 40 Rudolf von Virchow, Rede zum Gedächtnis an Johan Cesar VI Godeffroy. Bericht von der Sitzung vom 21. Februar 1885, in: Zeitschrift für Ethnologie 17. 1885, S. 53, zit. nach Scheps, Das verkaufte Museum, S. 62. Wie unvergessen Godeffroy blieb, zeigt sich auch darin, dass 35 Tiere und Pflanzen nach ihm benannt wurden, vgl. Scheps, Das verkaufte Museum, S. 59. 41 Demhardt, Deutsche Kolonialgesellschaft, S. 71. Dass hier sehr konkrete wirtschaftliche Interessen verfolgt wurden, zeigt sich allein daran, dass über die Hälfte der Mitglieder des Komitees aus Geschäftsleuten bestand. Vgl. ebd., S. 72. Für Kaufleute gingen Handeln und Sammeln Hand in Hand. So verkaufte Godeffroy Dubletten seiner Sammelobjekte an den Meistbietenden. Da konnte man dann aus Verkaufskatalogen »Racen-Schädel« einzeln oder im Satz von acht Exemplaren erwerben, aber auch Algen und Flechten. Vgl. Scheps, Das verkaufte Museum, S. 55. Schließlich verkaufte er sogar die ganze Sammlung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Obschon Vietors Engagement gegen Branntweinexporte nicht allein unter der Perspektive betrachtet werden kann, dass er damit seinen Handelskonkurrenten, die mit Branntwein viel Geld machten, schaden konnte,42 so lässt sich dieser wirtschaftliche Nutzen doch nicht leugnen. Er verdankte seiner Kolonialexpertise aber auch viele einflussreiche Posten; so war er Mitglied im Kaiserlichen Kolonialrat wie im Vorstand der Deutschen Kolonialgesellschaft.43 Zudem war er seit 1902 Vorsitzender des Vereins Westafrikanischer Kaufleute.44 Kolonialbeamte
Auch Kolonialbeamte, zu denen neben Bezirksleitern oder Gouverneuren Ärzte, Forstbeamte, Apotheker, Landmesser, ja sogar »Gärtner und Gartentechniker«45 gehörten, waren am Wissenstransfer beteiligt. Manche betrieben Forschungen auf eigene Faust, andere hatten regelrechte Aufträge. Fast alle Stationsleiter waren Hobbyforscher, was auch nahelag, da sie in ihren obligatorischen Jahres berichten bereits umfänglich wissenschaftliche Daten erheben mussten, etwa zur Bevölkerungsentwicklung, zum Klima, zu forstwirtschaftlichen Verhältnissen, Viehzucht und Versuchsgärten.46 Und da sie über viel Zeit verfügten und wenig Abwechslung hatten, bot die Weiterverarbeitung der für das Gouver nement gesammelten Daten zu wissenschaftlichen Zwecken eine willkommene Unterbrechung der Alltagsroutinen. Neben diesen fast privaten, in jedem Fall ohne Auftrag unternommenen Forschungsarbeiten gab es privatwirtschaftliche und regierungsamtliche Auftragsforschung, die von Kolonialbeamten ausgeführt wurde. Manche solcher Forschungen gingen auf Preisausschreiben der Kolonialgesellschaft zurück, die etwa 1902 einen Preis aussetzte für denjenigen, der ein Mittel finde, welches 42 Ahadji, Rudolf Asmis, S. 51. Er sieht Vietors Positionen allein wirtschaftlich motiviert, etwa im Falle seines Kampfes gegen die Plantagenkultur und auch hinsichtlich seines Kampfes gegen den Branntwein. 43 Wiebke Hoffmann, Ein alter Afrikaner. Der Kaufmann Johann Karl Vietor zwischen Bremen und Afrika, Bremen 2012, S. 131. Zur westafrikanischen Handelsgesellschaft siehe: Otto Diehn, Kaufmannschaft und deutsche Eingeborenenpolitik in Togo und Kamerun von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Bremer Afrikahauses I. K. Vietor, Hamburg 1956. 44 Kurzum, die Afrikaexpertise verschaffte ihm Autorität und Legitimation auch zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil. Dass genau dies auch seinem Selbstverständnis entsprach, zeigt sich im Duktus seines Buches: Johann Karl Vietor, Geschichtliche und kulturelle Entwicklung unserer Schutzgebiete, Berlin 1913. Hier rekurriert er auf wissenschaftliche Argumente. 45 Vgl. Johannes Tesch, Die Laufbahn der deutschen Kolonialbeamten, ihre Pflichten und Rechte, Berlin 1912, S. 8. Hier werden alle diese Berufe aufgelistet. Systematische Unter suchungen zur Rolle der Kolonialbeamten im Wissenstransfer fehlen. 46 Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des »Schutzgebietes Togo«, Tübingen 1994, S. 115, Anmerkung 28. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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inder erfolgreich gegen die Tsetsefliege schütze.47 Viele der regierungsamt R lichen Forschungen wurden vom so genannten Afrikafonds finanziert, der im April 1878 auf Anraten von Reichskanzler Bismarck gegründet worden war und der wissenschaftliche Unternehmungen finanzieren sollte, welche sich insbesondere mit der Erschließung Innerafrikas beschäftigten. Eine solche durch den Afrikafonds finanzierte Forschung stellte beispielsweise die vom Bezirksamtmann Hans Gruner geleitete so genannte Togo-Hinterlandexpedition dar, die 1894/95 unternommen wurde, um »wissenschaftliche und politische Ziele« zu verfolgen – so der damalige Gouverneur.48 Im Anschluss daran veröffentlichte Gruner zahlreiche Studien, zum Beispiel 1898 einen Beitrag zur »Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien.«49 Die medizinisch-demografische Deutsch-Neuguinea-Expedition wurde wiederum direkt vom Reichskolonialamt finanziert. Der Kolonialregierungsarzt Ludwig Külz und andere Ärzte veröffentlichten nach ihrer Teilnahme an der Expedition Studien zur »Eingeborenenbevölkerungspolitik« und zu verschiedenen Krankheitstypen, die sie in der Südsee angetroffen hatten. Die mit den Forschungen verbundenen Tätigkeiten waren unterschiedlich: Sie reichten vom Erheben von Daten über das Sammeln von Pflanzen und Tieren, ihrer Konservierung50 und der Beschriftung und Beifügung »biologischer Angaben« zu den Präparaten, was unabdingbar war, wenn man einzelne Schädel oder Teile von Tieren verschickte,51 bis zum Abfassen eigener Forschungsarbeiten. Überdies – so ein Auftrag der Nigerexpedition von Hans Gruner – sollten die Flussläufe geografisch erfasst und ihre Schiffbarkeit beurteilt werden. Auf dieser Expedition wurde überdies für das Museum für Völkerkunde gesammelt. 47 Koloniales Preisausschreiben, in: Deutsche Kolonialzeitung 28.1902, S. 278. 48 Zit. nach Gesa Hollermann, Kolonialer Alltag eines Bezirksbeamten. Dargestellt anhand eines Tagebuches des Kolonialbeamten Dr. Hans Gruner in der Zeit von 01.04.1910– 31.07.1910, Magisterarbeit, Hannover 2000, S. 17. Siehe zur Expedition: Peter Sebald (Hg.), Hans Gruner. Vormarsch zum Niger. Die Memoiren des Leiters der Togo-Hinterland expedition 1894/95, Berlin 1997. 49 Daraus gingen zahlreiche Beiträge hervor u. a.: Hans Gruner, o. T. in: Franz Giesebrecht (Hg.), Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien. Ein Sammelwerk, Berlin 1898, S. 115–118. 50 »Er hat diese Tiere selbst auf den Mariannen gesammelt und gut konserviert«, heißt es über einen Kolonialbeamten, der Käfer und Skorpione dem zoologischen Museum vermachte. Vgl. dazu: Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten, in: Deutsches Kolo nialblatt 26. 1905, S. 12–13, S. 13. 51 Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten. Deutsch-Südwestafrika. Wissenschaft liche Sammlung, in: Deutsches Kolonialblatt. 26. 1905, S. 241. Hier handelte es sich um die Sammlung eines verstorbenen Leutnants, welche an das zoologische Museum übergeben wurde. Auch wurden den konservierten Tieren, wie beispielsweise 20 Fischen, die ein Beamter aus Kamerun gesammelt hatte, eine »sehr interessante biologisch physiologische Mitteilung über die Wirkung des elektrischen Schlages« beigefügt. Vgl. Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten. Kamerun. Wissenschaftliche Sammlung, in: Deutsches Kolonialblatt 26. 1905, S. 479. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Andere beschäftigten sich mit Routenaufnahmen und Ortsbestimmungen, um zur Erstellung von Karten beizutragen.52 Ob und wie diese Beiträge Eingang in die akademischen Einzeldisziplinen fanden, ist sehr unterschiedlich. Manche Wissenschaften hätten ohne die Ko lonialbeamten auf ganze Forschungsfelder verzichten müssen; hier ist etwa die Kolonialkartografie, aber auch die Tropenmedizin zu nennen. Grundsätzlich ist es so, dass die zeitgenössische Wissenschaft viele Beiträge, genauso wie Artefakte, aber auch getrocknete Käfer und Skorpione weit mehr schätzte, als es heute auf den ersten Blick ersichtlich ist. Diese hohe Wertschätzung hatte damit zu tun, dass man um 1900 einen sehr umfassenden, um nicht zu sagen positivistischen Wissensbegriff hatte.53 Jedes noch so kleine Blatt schien verheißungsvoll, eröffnete es doch vielleicht neue Türen zum Verständnis ganzer Pflanzenarten. Deshalb waren alle Sendungen an deutsche Forschungseinrichtungen höchst willkommen – sei es, dass es sich um »unbekannte Arten« handelte, sei es, dass sie »Ergänzungsstücke schon vorhandener Arten« waren.54 Und doch sind die Kolonialbeamten als Akteure im Wissenstransfer zeit genössisch kaum gewürdigt worden. Die meisten Beamten fanden nur in den Kolonialblättern Erwähnung, wenn sie etwa als Zuarbeiter tätig waren, indem sie Vorschläge zu Kartenverbesserungen an das Kolonialamt weiterleiteten oder wenn sie die bisherigen geografischen Namen »auf ihre Etymologie und Schreibweise hin« untersuchten.55 Mediziner, die im Kolonialdienst tätig waren, erfuhren wahrscheinlich noch die größte Würdigung, etwa dann, wenn sie Kommissionen vorstanden oder eigene Versuchsreihen in den Kolonien initiierten, wie etwa im Fall der Schlafkrankheitskommission in Togo. Und doch hatten Kolonialbeamte durchaus Vorteile, wenn sie sich als Sammler oder Amateurwissenschaftler betätigten. Sie wurden öffentlich erwähnt, wie etwa Leutnant Rieck, der dem Zoologischen Museum in Berlin einen »vollständigen Schädel, die Schwanzhaut und die Schwanzwirbel eines Flusspferdes sowie ein Ohr von diesem als Geschenk überwiesen« hatte.56 Insbesondere wenn man den sozialen 52 Karte des südlichen Theils von Togo, 1:200.000. Auf Grund der Aufnahmen von E. Baumann und Dr. H. Gruner und unter Benutzung unveröffentlichten Materials von Dr. Büttner, v. Doering, v. François, Goldberg, Herold, Kling, Klose, Dr. Küster, Leuschner, Wöckel, Dr. Wolf und Graf Zech, sowie alles älteren Materials. Konstruiert und gezeichnet von P. Sprigade, Karte 3, in: [Alexander] von Danckelman (Hg.), Mittheilungen von Forschungsreisen und Gelehrten aus den Deutschen Schutzgebieten, Bd. 9, Berlin 1896. Zu den Vorarbeiten von Gruner für diese Karte: Hafeneder, Kolonialkartographie, S. 47. 53 Vgl. Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten, in: Deutsches Kolonialblatt 26. 1905, S. 12–27, hier S. 13. 54 Ebd., S. 13. Diese Meldung bezieht sich auf Hauptmann Glaunig aus Kamerun. 55 Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten. Deutsch-Südwestafrika. Neue topographische Arbeiten, in: Deutsches Kolonialblatt 26. 1905, S. 483. 56 Nachrichten aus den deutschen Schutzgebieten. Togo. Wissenschaftliche Sammlung, in: Deutsches Kolonialblatt 26. 1905, S. 351. Weiterhin heißt es: »Bei der Untersuchung der vorgenannten Stücke hat sich herausgestellt, dass das Flusspferde des Monu wesentliche Unterschiede gegenüber dem Wolta-Flußpferde zeigt.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Hintergrund vieler Kolonialbeamte betrachtet, wird deutlich, dass die Reputation, die sie zumindest in ihrem näheren sozialen Umkreis, manchmal auch darüber hinaus – eben durch die Erwähnung ihrer wissenschaftlichen Aktivitäten in Kolonialblättern – gewannen, von Bedeutung war: Der Großteil der Beamten kam aus dem Bürgertum bzw. dem niedrigen Adel,57 und Wissenschaft war in beiden sozialen Schichten eine hoch geschätzte Tätigkeit, welche zum Wohl und manchmal auch zum Fortschritt der Menschheit beitrage. Gerade weil es im Kolonialdienst nur begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten gab, waren die Arbeiten im Feld des Wissens von einiger Bedeutung für die Kolonialbeamten. Kolonialbeamte wie Hans Gruner jedenfalls nutzten nicht nur Expeditionen und die alltägliche Arbeit in ihrem Bezirk dazu, um sich in den Dienst der Forschung zu stellen, selbst den Heimaturlaub verbrachten sie mit der »Erkundung der Eingeborenkulturen im britischen Goldküstengebiet«.58 Intermediaries
Die vielleicht wichtigsten Akteure im Transfer von Wissen waren die so genannten intermediaries, das heißt jene Vertreter der lokalen Bevölkerung, die meist als Dolmetscher arbeiteten, und wesentlich dafür verantwortlich waren, was Europäer von dem Land erfuhren, in dem sie sich als Fremde, meist ohne jegliche Sprachkenntnisse, für eine häufig nur kurze Zeit aufhielten. Diese intermediaries waren mehr, als man gemeinhin unter Dolmetschern versteht: Sie hatten die Macht, Dinge auf die eine oder andere Art zu interpretieren, manches zu verschweigen und anderes dazu zu erfinden. Sie hatten Autorität auch der einheimischen Bevölkerung gegenüber, waren sie doch häufig die zentralen Vermittler für die Anliegen der Europäer und vice versa: Ihnen kam damit die Rolle als cultural broker in beide Richtungen zu.59 Sie waren – und das hat jüngst Yanna Yannakakis für den kolonialen Kontext Mexikos gezeigt – diejenigen, die »the Art of Being in-Between« beherrschten und gerade deswegen zwar viel 57 Vgl. Lewis Harry Gann/Peter Duignan (Hg.), African Proconsuls. European Governors in Africa, New York 1978, S. 138 ff. Bettina Zurstrassen, »Ein Stück deutscher Erde schaffen«. Koloniale Beamte in Togo 1884–1914, Frankfurt 2008, S. 36–45. Zurstrassen zeigt für Togo, dass die Beamtenschaft sich aus Obersten, Juristen und Ärzten zusammensetzte. Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, Zürich u. a. 1970, S. 110–126, vor allem S. 120–123. 58 Jahresbericht 1902/03 des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees e. V., in: Der Tropenpflanzer. Zeitschrift für tropische Landwirtschaft. Beiheft 7. 1903, S. 11. 59 Vgl. Benjamin Nicholas Lawrance u. a. (Hg.), Introduction. African intermediaries and the ›Bargain‹ of Collaboration, in: dies., Intermediaries, Interpreters and Clerks. African Employees in the Making of Colonial Africa, Madison, WI 2006, S. 3–36. Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft, S. 132–134. Zur Macht der Dolmetscher, Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 186 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Macht hatten, aber auch kritisch beäugt wurden, und zwar ebenfalls von beiden Seiten.60 Ludwig Adzaklo61 etwa war ein Übersetzer im wörtlichen Sinne: Er half dem Missionar Jakob Spieth bei seiner Übertragung der Bibel in die Ewe Spache. Wie wichtig er für diesen umfänglichen Prozess war, in dem eine an Metaphern und Allegorien wahrlich nicht arme Luthersprache der Bibel in eine afrikanische Sprache übertragen werden musste, die einer vollkommen anderen Lebenswelt entsprungen war – was so wichtige Fragen aufwarf, wie etwa die, ob Kartoffel mit Yams übersetzt werden könne62 – liegt auf der Hand. Er allein konnte die nötigen Informationen über lokale religiöse Kontexte beibringen, ohne die jede Übersetzung schnell zu grotesken Missverständnissen geführt hätte. Ludwig Adzaklo war sogar so unabdingbar, dass Spieth ihn mit nach Tübingen nahm, um ja keine kostbare Zeit für die Übersetzung zu verlieren. Ähnliche Vermittlerfunktionen hatten so genannte Missionsgehilfen, das heißt die lokalen Mitarbeiter der Mission, die zu Missionaren ausgebildet wurden. Sie waren – wie etwa das Beispiel der Mission im Pazifik der 1930er Jahre zeigt – in der Regel die ersten, die den europäischen Missionaren von wichtigen Entwicklungen in der einheimischen Bevölkerung berichteten, etwa über neue Formen der »Hexerei«. Solche Hinweise waren nicht nur politisch von Bedeutung, sondern konnten insofern wissenschaftlich wertvoll sein, als sie neue – im Fall der Hexerei ethnologische – Forschungsfelder eröffneten.63 Damit waren diese »Gehilfen« von Anbeginn an am Transfer von Wissen beteiligt bzw. initiierten diesen häufig. Andere »Gehilfen«, wie etwa Andreas Aku, der von der Norddeutschen Mission in Württemberg ausgebildet worden war und schließlich der erste Präses einer afrikanischen Kirche in Westafrika wurde, waren zudem als Vermittler im Wissenstransfer tätig, indem sie Übersetzungen zum Beispiel ins Ewe anfertigten und damit europäisches Wissen nach Afrika brachten.64 60 Yanna Yannakakis, The Art of Being In-between. Native Intermediaries, Indian Identity, and Local Rule in Colonial Oaxaca, 1660–1810, Durham 2008. 61 Gilbert Dotsé Yigbe, Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen. Der Beitrag afri kanischer Mitarbeiter zur Entstehung einer verschrifteten Kultur in Deutsch-Togo, in: Rebekka Habermas/Richard Hölzl (Hg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln u. a. [2013]. 62 Dotsé Yigbe, Übersetzung und Wissenstransfer in den Schriften der evangelischen Missionare in Deutsch-Togo, in: Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missions geschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 441–452. 63 Gabriele Richter, Flexibles Wissen in Beziehungen. Wissenstransfer zwischen Menschen in Ozeanien und kontinentalen Missionaren, in: Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 329–338. 64 Kokou Azamede, Transkulturationen? Christen zwischen Deutschland und Westafrika 1884–1939, Diss. Bremen 2007, S. 129–141. Ein solcher »Gehilfe« war auch David Asante, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wieder andere Übersetzer waren im Kolonialdienst angestellt, so Stephan Amason, der ebenfalls durch die Mission ausgebildet worden war, aber aufgrund von Polygamievorwürfen nicht bei den Baseler Missionaren an der Goldküste bleiben konnte und dann vom Amtmann Bruno Herold, der einer so genannten wissenschaftlichen Forschungsstation vorstand, angeheuert wurde.65 Wir wissen nicht, was er dort im Dienst der Wissenschaft übersetzt hat, aber es ist davon auszugehen, dass er genauso unterstützend tätig war wie die drei bei der Nigerexpedition 1894 tätigen Dolmetscher, die vom Reichskolonialamt zu Forschungszwecken angeheuert worden waren.66 Weibliche intermediaries waren zwar seltener, was auch daran gelegen haben mag, dass der Kolonialdienst eine eindeutige Geschlechterpolitik betrieb,67 und doch gab es sie, zum Beispiel die Missionarsehefrau Zara Schmelen, die half, die Bibel in ihre Muttersprache zu übersetzen und damit zur ersten afrikanischen Übersetzerin der so genannten Hottentott Bibel wurde.68 Auch spricht die bereits oben angeführte Diakonisse Hedwig Rohns von »Gehilfinnen«, die ihr afrikanische Sprachen beibrachten.69 Worin genau bestanden die Tätigkeiten dieser Mittlerfiguren? Fast alle übersetzten; manche sammelten, etwa wenn es um botanische Forschungen ging, wie im Fall des französischen Missionars Junod, der gleich mehrere so genannte Helfer hatte, die er mit Botanisiertrommeln und anderem Werkzeug losschickte, um nach Pflanzen und Insekten zu suchen. Da diese Helfer im Unterschied zu den Europäern wussten, wo was in ihrer direkten Lebenswelt zu finden war, eröffneten sie den Fremden häufig Möglichkeiten, die sie allein nie gehabt hätten. Überdies wurde das einheimische Wissen der Botanisierer insofern genutzt, als man gerne auf lokale Klassifikationssysteme etwa zwischen verschiedenen Käfer
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der aus einer königlichen Familie stammte. Er wurde von der Baseler Mission an der Goldküste erzogen und von dieser nach Basel und Stuttgart geschickt. Nach seiner Rückkehr war er schließlich als Missionar tätig. Er übersetzte Bücher in die Twi-Sprache und ver öffentlichte selbstständige Monografien. Vgl. Erika Eichholzner, Missionary Linguistics on the Gold Coast. Wrestling with Language, in: Patrick Harries/David Maxwell, The Spiritual in the Specular. Missionaries and Knowledge about Africa, Gran Rapids 2012, S. 72–99, hier S. 91. Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 190. Vgl. auch den Fall von Fritz Togbe, der als Übersetzer bei Hans Gruner angestellt war und über den wir aufgrund der Tagebücher von Hans Gruner gut informiert sind. Vgl. Hollermann, Kolonialer Alltag, S. 59. Sebald (Hg.), Vormarsch zum Niger, S. 35. Yannakakis, Being In-between, S. 7. Sie argumentiert für die spanische Zeit Mexikos: »The Spanish state imposed a system of native government and a legal system that excluded indigenous women from roles like governor and interpreter general, and the catholic Church came to rely exclusively on indigenous men as lay catechists and Church intermediaries, indigenous women became nearly invisible in the arena of formal institutional power«. Ursula Trüper, The Invisible Women Zara Schmelen. African Mission Assistant at the Cape and in Namaland, Basel 2006. Hedwig Rohns, Zwanzig Jahre Missions-Diakonissenarbeit im Eweland. Bd. 2. Die Entwicklung der Arbeit im Eweland, Bremen 1912, S. 31. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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sorten zurückgriff. Regelrecht ausgefragt wurden die Helfer, wenn es darum ging, mögliche Heileigenschaften von Pflanzen zu erfahren, wenn es also um pharmazeutische Forschungen ging.70 Dann wieder waren intermediaries wichtig, weil sie die ersten Informanten für anthropologische Untersuchungen darstellten. So fragte derselbe Junod Männer und Frauen aus der Region nach ihren Märchen aus und verschriftlichte diese anschließend.71 Und doch, so zentral die intermediaries für einzelne wissenschaftliche Disziplinen waren, sie sind wahrscheinlich diejenigen Akteure, die im akademischen Betrieb die geringste Aufmerksamkeit erfuhren. Mag der eine oder andere Missionar noch in Fußnoten seinen »Gehilfen« gedankt haben, so sucht man ähn liches bei den gestandeneren Wissenschaftlern, aber auch bei den Kolonialbeamten meist vergeblich. Dieses bis heute teilweise zu beobachtende Verschweigen änderte aber nichts daran, dass intermediaries von ihrer Tätigkeit profitieren konnten. So wusste der im Kolonialdienst angestellte Amason seinen Dolmetscherjob für einen lukrativen Sklavenhandel zu nutzten.72Anderen, wie David Asante und Andreas Akku, bot ihre Position des in-between nicht nur Zugang zur Schriftlichkeit, die sie dazu nutzten, eigene Werke zu verfassen, sondern sie wurden auch zu Wortführern afrikanischer Eliten, die in antikolonialen Un abhängigkeitsbestrebungen eine wichtige Rolle spielten.73 Zwiespältiger mag die Situation von Ludwig Adzalo, der als Zuarbeiter und Übersetzer für Jakob Spieth in Tübingen tätig war, bewertet werden: Einerseits wurde er stark reglementiert. Neben der deutschen Sprache sollte er sich auch deutsche Kultur aneignen und Posaune und Klavier erlernen und zweifellos musste er auch die eine oder andere Disziplinierungsmaßnahme über sich er gehen lassen. Andererseits gewann er an subtiler Macht, und zwar dadurch, dass er maßgeblich mitbestimmte, was die Missionare verkündeten – womit er Zugang zur Gestaltung des Sakralen hatte. Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Amateurinnen und Amateure
Schließlich sei als letzte die Gruppe derjenigen genannt, deren Tätigkeit Wissenschaftlern wie Robert Koch am nächsten kam: Die Rede ist von den vielen Forschern und wenigen Forscherinnen, die es insbesondere in den wissenschaftlichen Disziplinen gab, die erst im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstanden, und die man deshalb Amateurforscher nennt. Sie arbeiteten in 70 Harries, Butterflies and Barbarians, S. 137–139. 71 Ebd., S. 220. Junod tat aber noch mehr, indem er die lokale Bevölkerung Aufsätze schreiben ließ, die Aufschluss über wichtige Fragen des familiären und gesellschaftlichen Systems gaben, etwa über die Rolle der Polygamie – ein unter Missionaren wie professionellen Anthropologen sehr beliebtes Thema. 72 Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 190–191. 73 Azamede, Transkulturationen, S. 141 ff. Akku wurde Präses der Ewe-Kirche im Jahr 1922. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Forschungsfeldern, für die es noch keine Lehrstühle gab und man folglich kein Studium in dem Fach hatte absolvieren können, also streng genommen Laie war. Zu nennen sind hier Männer, die dann später häufig als Pioniere ihres Faches bezeichnet wurden, etwa Richard Thurnwald, der studierter Jurist war, dann eine Hilfskraftstelle am Museum für Völkerkunde in Berlin bekam, im Auftrag desselben Reisen nach Melanesien, Palau und in viele andere Regionen unternahm und schließlich doch noch habilitierte, um eine Professur in Soziologie und Ethnologie zu erhalten. Zu denken ist auch an Georg Thilenius, der Medizin studiert hatte und nach zahlreichen Forschungsreisen 1900 eine außerordentliche Professur in Berlin in Anthropologie und Ethnologie bekam. Heinrich Barth, der unter anderem Altertumswissenschaft, Germanistik und Geografie studiert hatte, unternahm zahlreiche Forschungsreisen und publizierte umfängliche Werke; er landete zwar trotz der vielen Forschungspublikationen nie an einer Universität, galt zeitgenössisch aber doch als Afrikaforscher.74 Es war gerade diese Offenheit der verschiedenen Wissenschaften und ihrer Institutionen, die es ermöglichten, dass auch Frauen, die ja qua Geschlecht bis 1908 vom Universitätsstudium ausgeschlossen waren, zumindest am Rande immer wieder als Amateurinnen auftauchten. Zu nennen ist hier Amalie Dietrich,75 die 1821 in Sachsen geborene Tochter eines Handschuhmachers und einer Kräutersammlerin, die schließlich zur Namensgeberin einer ganzen Reihe von Tieren und Pflanzen wurde.76 Amalie Dietrich war über ihre 1846 erfolgte Heirat mit Wilhelm August Salomo Dietrich, der aus einer Botanikerfamilie stammte, schon als junge Frau in den Handel mit Naturalien eingestiegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Cesar Godeffroy kennenlernte. Nach der Trennung von ihrem Mann, brauchte sie dringend Geld und es gelang ihr, Godeffroy zu überreden, sie nach Australien zu schicken, damit sie dort für sein Museum botanisches und zoologisches Material sammeln konnte. Sie blieb 10 Jahre in Australien, sammelte mehr als 20.000 botanische Specimen, aber auch Hölzer, Schädel und Ethnologica und schuf die erste umfassende Sammlung australischer S pinnen. Zurück in Hamburg wurde sie Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und arbeitete weiter im Museum Godeffroy. Amalie Dietrich ist zweifellos ein außergewöhnliches Beispiel für eine Amateurwissenschaftlerin – und doch vereint sie wesentliche Charakteristika, die für viele angehende Wissenschaftler und Amateurinnen der Zeit typisch waren: Es fehlte die fachspezifische Ausbildung, das Wichtigste waren die Kennt74 Umgekehrt gab es aber auch ausgebildete Mediziner wie etwa Gustav Nachtigal, Max Buchner und Eduard Schnitzer, die sich als Afrikaforscher und vor allem als Eroberer einen Namen machten. Vgl. Wolfgang U. Eckart/Meike Cordes, »People too wild?«. Pocken, Schlafkrankheit und koloniale Gesundheitskontrolle im Kaiserlichen »Schutzgebiet« Togo, in: Martin Dinges/Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchen geschichte, Stuttgart 1995, S. 175–206, hier S. 187–192. 75 Scheps, Das verkaufte Museum. S. 87–105. Kranz, das Museum Godeffroy, S. 19–23. 76 Scheps, Das verkaufte Museum, S. 100. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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nisse und Dinge, die man direkt gesammelt hatte, denn die wissenschaftlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts würdigten ihre Arbeit aufgrund dieser auf Erfahrung und Augenzeugenschaft beruhenden Expertise. Der Tochter einer Kräutersammlerin bot das Außereuropäische in dieser Phase der Wissenschaftsgeschichte, die etwa um 1900 – in manchen Wissensfeldern erst nach dem Ersten Weltkrieg – endete, eine einmalige Chance: Sie konnten ohne akademische Ausbildung Reisen nach Übersee unternehmen und sich mit ihren Forschungen internationale Anerkennung verschaffen.
Missionare, Kaufleute, Amateurinnen und Intermediaries und ihre Netze des Wissenstransfers So faszinierend die Lebensläufe dieser Missionare, Diakonissen, Kaufleute, intermediaries, Amateure und Kolonialbeamten auch sind, will man ihre wissensgeschichtliche Bedeutung erfassen, sollte man sich vor der Falle hüten, aus der sich die neuere Wissenschaftsgeschichte gerade erst mühsam herausgearbeitet hat: Sich in den Erinnerungsdienst von Männern und Frauen zu stellen, um diese zu heroisieren. Vielmehr darf man diese herausragenden Akteurinnen und Akteure nicht isoliert betrachten, sondern muss sie als Teil eines Netzwerkes, einer »imperial interconnectedness«77, begreifen. Das heißt, man muss sie als Teil eines oder mehrerer Netze verstehen, in denen sie agierten und die sie gestalteten. Dabei darf man dreierlei nicht aus dem Blick verlieren: Diese Netzwerke waren erstens von Interessen und zweitens von Machtverhältnissen bestimmt. Drittens hatten diese Forschungstätigkeiten zudem teilweise Folgen, die sich keineswegs allein mit einem Verweis auf diese Machtpositionen erklären lassen. Hedwig Rohns, die Steyler Schwestern und einheimische Missionsgehilfen waren Teile von Netzwerken, die sie bezahlten – in dem Fall waren das die heimischen Missionsgesellschaften respektive die katholische Kirche – und die sie mit Aufträgen versahen, welche nicht ohne Einfluss auf ihre Forschungen blieben. Die Nigerexpedition des Kolonialbeamten Gruner wiederum wurde vom Kolonialamt initiiert und verfolgte selbstredend keine ausschließlich geografische Forschungsagenda, sondern diente dazu, das Land so zu erschließen, dass es für die deutsche Kolonialmacht fruchtbar gemacht werden konnte.78 Die von Kaufleuten und ihren Verbänden finanzierten Baumwollexpeditionen wiederum entsprangen einem dichten Interessensnetz, welches das Kolonialwirtschaftliche Komitee zwischen Textilproduzenten, Botanikern, die sich mit Schädlingen 77 Vgl. Zum »network conception of imperial interconnectedness«: David Lambert/Alan Lester, Introduction. Imperial Spaces, Imperial Subjects, in: David Lambert/Alan L ester (Hg.), Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge u. a. 2006, S. 1–31, S. 11. 78 Sebald, Vormarsch zum Niger, S. 24. Vgl. auch Trotha, Koloniale Herrschaft. Malam N’Musam alias Krause wurden Fördergelder vom Afrikafonds verweigert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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beschäftigten wollten, und ehrgeizigen Kolonialbeamten, die das Existenzrecht ihrer Kolonie mittels wirtschaftlichen Erfolgsnachrichten legitimieren wollten, gesponnen hatte. Damit aus den Verbindungen zwischen Geldgebern oder auch nur Unterstützern, die eher mit Immateriellem und Symbolischem unter die Arme griffen, und den Amateuren, Kolonialbeamten oder Kaufleuten erfolgreiche Forschungen hervorgehen konnten, bedurfte es freilich mehr, nämlich weiterer Beziehungsgeflechte: Etwa zu intermediaries, aber auch zu Museen, die die gesammelten Artefakte gewinnbringend erwarben, und zu den Redakteuren der geografischen Zeitschriften, die die Beiträge publizierten. In diesen Beziehungsgeflechten gab es selbstredend Interessen, und – seien sie nun primär politischer oder doch eher religiöser oder wirtschaftlicher Natur – auch diese waren überaus folgenreich dafür, welche Auswahl der jeweilige Missionar unter den zu sammelnden exotischen Tieren traf und unter welcher Perspektive ein Kolonial beamter die »Hottentotten« oder gar »Kannibalen« betrachtete. Nicht zuletzt das Beispiel der Togoer Schlafkrankheitskommission, in deren Rahmen der Regierungsarzt von Raven Experimente durchführte, die Hunderten von Menschen das Leben kosteten,79 macht darüber hinaus deutlich, dass diese Netze nicht nur interessengeleitet, sondern immer Teil von Machtstrukturen waren – womit der zweite wichtige Aspekt benannt ist, der beachtet werden muss, will man die Bedeutung von Akteuren und Akteurinnen im Wissenstransfer beurteilen. Diese Macht muss sich nicht immer wie bei von Raven in nackter Gewalt äußern: Wenn etwa der Amateurforscher Georg Schweinfurth die Azande als kriegerische Urmenschen beschrieb, die zum Kannibalismus neigten, was er mit Schädelmessungen belegen zu können glaubte, dann übte Schweinfurth bei der Gewinnung dieser Erkenntnisse vielleicht keine körper liche Gewalt aus. Es war aber insofern ein machtvoller Akt der Benennung, als er Einfluss hatte auf die konkrete Kolonialpolitik, die auf der Grundlage eben dieser Schweinfurthschen Forschungen dann Maßnahmen ergriff.80 Überdies ist das, was auf den ersten Blick als schlichter Akt einer Benennung erscheint, bei genaueren Hinsehen alles andere als schlicht und auch nicht nur eine Benennung. So generierten forschende Kaufleute, Kolonialbeamte und auch inter mediaries neue Bedeutungen und nahmen dabei billigend in Kauf, dass dadurch die ursprünglichen Bedeutungen, die Dinge und Praktiken, Glaubensformen und Erzählungen vor Ort für eine Gesellschaft hatten, denunziert und manch79 Hiroyuki Isobe, Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen »Schutzgebieten« vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin u. a. 2009, S. 190. Dabei ging es um Versuche mit einem Medikament, das der Pharmakonzern Hoechst bereitgestellt hatte. Vgl. Peter Sebald, Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen »Musterkolonie« auf der Grundlage amtlicher Quellen, Berlin 1988, S. 519 ff. Vgl. zur Schlafkrankheitskommission auch Eckart/Cordes, »People too wild?«, S. 163 ff. 80 Zu Georg Schweinfurth: Eva Bischoff, Kannibale-Werden. Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900, Bielefeld 2011, S. 71–83. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mal ganz zum Verschwinden gebracht wurden. Die Bibelübersetzung des Mis sionars Spieth ins Ewe hatte dann am Ende mehr mit dem Württemberger Pietismus als mit der Bildwelt der Ewe zu tun.81 So sehr sich im Transfer die Deutungen auch änderten und obschon diese Veränderungen zweifellos im Kontext von Machtverhältnissen zu sehen sind, so darf diese wichtige Einsicht doch nicht zu allzu funktionalistischen Deutungen verleiten, frei nach dem Motto: europäische Akteure und Akteurinnen haben in kolonialen Kontexten des Wissenstransfers immer und ausschließlich zur Verschärfung kolonialer Unterdrückungsverhältnisse beigetragen. Das hieße – und damit ist ein dritter wichtiger Faktor genannt, der unerlässlich ist, will man die Bedeutung von Akteurinnen und Akteuren im Wissenstransfer klären – die Macht und Bedeutung einzelner Akteure ganz im Sinne der älteren Traditionen von Wissenschaftsgeschichte zu überschätzen. Es hieße überdies zu übersehen, wie ungleich verteilt diese Macht war, und zwar nicht nur zwischen »colonizer and colonized«, sondern auch innerhalb der Europäer und Europäerinnen genauso wie innerhalb der lokalen Bevölkerung. So genoss der Kolonialbeamte Hans Gruner weit mehr Unterstützung und war Teil weit einfluss reicherer Beziehungsgeflechte als der Afrikaforscher Gottlob Adolf Krause, alias Malam Musa, der nicht nur erhebliche Schwierigkeiten hatte, seine Expeditionen zu finanzieren, sondern dessen Arbeit offen von der deutschen Regierung behindert wurde.82 Dann waren im deutschen Kontext häufig die protestantischen Missionen einflussreicher als die katholischen, was etwa dazu führte, dass sich die Norddeutsche Mission mit ihren Vorstellungen bezüglich der Verschrift lichung des Angelo-Dialektes durchsetzen konnte und nicht die Steyler, die mehr dazu neigte, den Anecho-Dialekt für die wichtigere Quelle einer neu zu erschaffenden Sprache zu halten.83 Auch hatten nur sehr wenige der hier vorgestellten Amateure oder forschenden Kolonialbeamten und Missionare die Macht, sich in das akademische Wissen einzuschreiben – die meisten wurden spätestens mit der Institutionalisierung der jeweiligen Disziplinen ausgegrenzt und vergessen. Manche allerdings hatten in Europa wie vor Ort erhebliche Macht: Sei sie körperlicher Natur wie beim Arzt von Raven oder sei sie symbolischer oder vor allem bei den intermediaries subversiver Natur.
81 Rainer Alsheimer, Missionarsethnologie und Tribalismus. Ewe in Westafrika, in: Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 21–32. 82 Vgl. ausführlich dazu: Peter Sebald, Malam Musa – Gottlob Adolf Krause, 1850–1938. Forscher – Wissenschaftler – Humanist. Leben und Lebenswerk eines antikolonial gesinnten Afrika-Wissenschaftlers unter den Bedingungen des Kolonialismus, Berlin 1972. 83 Vgl. Brief Arnold Jansen an Missionsinspektor der Norddeutschen Mission Schreiber 30.9.1902, in: Generalarchiv SVD, Rom. Briefe von Arnold Janssen in chronologischer Anordnung, transkribiert von Pater Bosold. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Freilich führte diese Macht keineswegs immer zu den von den Missionaren, Kaufleuten, Amateuren oder intermediaries intendierten Folgen – manches Mal verkehrten sich diese sogar in ihr Gegenteil. Vielleicht muss man nicht so weit gehen wie Yannakakis, die schreibt, dass diejenigen, die the Art of Being in-Between beherrschten, sich gleichsam zu Garanten von kolonialer Stabilität machten.84 Und doch ist es wichtig auf die teilweise geradezu paradoxen Folgen hinzuweisen, die die Arbeit von manch einem dieser Akteure und Akteurinnen zeitigt: Im Fall von Raven produzierten die Forschungen in erster Linie Widerstand, und zwar so starken, dass man 1911 nach Berlin meldete: Das energische Vorgehen unserer Schlafkrankheitskommission hat unter den Ein geborenen der Schlafkrankheitsgebiete bereits zu solcher Erregung geführt, dass […] mit offenem Widerstand und vielleicht mit militärischem Eingreifen gerechnet werden muß.85
Die Missionare, die ins Außereuropäische gezogen waren, um zu christianisieren, trugen über ihre Berichte bezüglich exotischer Glaubenspraktiken dazu bei, dass sich in den europäischen Gesellschaften ein zusehends pluralisiertes Verständnis von Religionen ausbreitete, was zumindest aus kirchlicher Sicht keineswegs wünschenswert war.86 Die Abhandlungen des Mediziners Külz über die Arbeitskraft des »Negers« trugen wenig dazu bei, diese Arbeitskraft im deutschen Sinne zu befördern, stattdessen aber befruchteten sie die sozialhygienische Debatte.87 In all diesen Abhängigkeiten von Netzen und Machtkonstellationen unterschieden sich diese Amateurforscher und -forscherinnen nicht von L ivingstons Forschungen, die ebenfalls Teile komplexer Netzwerke waren, in denen unterschiedliche Interessen eine Rolle spielten. Ebenso waren die überraschenden Dynamiken, die der Wissenstransfer entfalten konnte, schon im Falle von Humboldts Physischer Weltbeschreibung zu beobachten, die – wie bereits die zeitgenössische Geologie zugeben musste – weniger deshalb aufschlussreich war, weil sie valides Wissen über Gesteinsarten zutage förderte, sondern weil sie die Illusion eines einheitlichen Zugangs zur Welt nährte. Und auch Robert Kochs Expeditionen basierten genauso auf kolonialen Netzen und gingen mit tödlichen Begleiterscheinungen einher wie das bei von Raven der Fall war. Hedwig Rohns, Ludwig Adzaklo, Johann Karl Vietor und auch August Schynse, Alexander M erensky, Rudolf Asmis und Salomon Volkhart unterscheiden sich von den Heroen des 19. Jahrhunderts durch etwas anderes: Sie waren nicht 84 Yannakakis, Being In-between. Trotha spricht von »Mittler-Despotismus«, vgl. Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 198, Anmerkung 10. Rudolf Asmis, Kalamba na m’putu. Kolo niale Erfahrungen und Beobachtungen, Berlin 1942, S. 93. 85 Zit. nach Sebald, Togo 1884–1914, S. 523. 86 Rebekka Habermas, Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: GG 36. 2010, S. 257–284. 87 Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus, Deutschland 1884–1945, Paderborn 1997, S.71. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Rebekka Habermas
im Zentrum sich professionalisierender Wissensinstitutionen, hatten nicht die Macht, deren Inhalte mitzubestimmen und waren nicht Teil von personalen und finanziellen Netzen, die ihnen einen vergleichbaren Nachruhm hätten sichern können – sie waren in erster Linie Missionare, Diakonissen, Dolmetscher, Kolonialbeamte und Kaufleute. Und doch sähen viele Wissenschaften ohne sie heute anders aus.
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Ulrich van der Heyden
Der Missionar Alexander Merensky als Wissenschaftler
Wohl jede deutsche protestantische Missionsgesellschaft, deren Missionare sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Übersee machten, um dort den »Eingeborenen« das Christentum zu bringen, verfügt in ihren Archiven über eine Vielzahl von überlieferten, zum Teil noch unerschlossenen Aktenbeständen, so auch die Berliner Missionsgesellschaft (BMG).1 Vornehmlich galten die dort lagernden handschriftlich verfassten Berichte der Missionare aus ihren Arbeitsgebieten der Rechenschaftslegung über Erfolge und Hindernisse bei der christlichen Missionierung der »Eingeborenen«. Für wichtig erachtete Extrakte daraus wurden vor allem in den periodisch erscheinenden Berichtsorganen der jeweiligen Missionsgesellschaft publiziert. Nicht zuletzt waren es die Leitungsgremien, die aus missionstaktischen Gründen an Darstellungen über das »Heidentum« interessiert waren, war es doch gerade jenes Phänomen, welches zu bekämpfen die europäischen Missionare in die überseeische Welt geführt hatte. Eine effektive Bekämpfung des »Heidentums« und die Ausbreitung des Christentums sollten vor allem dadurch möglich werden, dass sich die euro päischen Missionare mit der Sprache und Kultur beschäftigten. In der ersten Phase des Erkennens und der Konfrontation mit dem Fremden war noch nicht daran gedacht worden, darüber wissenschaftliche Abhandlungen zu erstellen. Vielmehr war mit der schriftlichen Berichterstattung beabsichtigt, die heimische Gemeinde in den deutschen Ländern sowie die Vorgesetzten in den Missions leitungen so aktuell wie möglich von den konkreten Hindernissen der Arbeit auf dem Missionsfeld zu informieren. Die protestantischen Gemeindemitglieder in Deutschland, die die Berichte lasen, waren letztlich die Finanziers des Missionsunternehmens und sicherten somit die Existenz jedes einzelnen Missionars. Die regelmäßige Berichterstattung der Missionare über Fortschritte und Hemmnisse ihrer Arbeit war das sich ständig mit neuen Informationen ergänzende Fundament für das weitverzweigte Netz der Missionsinteressierten in der
1 Für die Berliner Missionsgesellschaft vgl. Ulrich van der Heyden, Unbekannte Geschichtsquellen in Berlin. Das Archiv und die Bibliothek der Berliner Missionsgesellschaft (= Sozialanthropologische Arbeitspapiere, H. 45), Berlin 1991; ders., Die wissenschaftliche Nutzung von Archiv und Bibliothek der Berliner Missionsgesellschaft. Eine Bibliographie, Berlin 2010. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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städtischen, aber auch ländlichen Gesellschaft Deutschlands.2 Grundlage hierfür war der fortwährende Nachschub an aktuellen Informationen aus Übersee. Die Berliner Missionsgesellschaft, deren bekanntester Missionar in Südafrika im Folgenden näher vorgestellt werden soll, hatte ausdrücklich in ihren Statuten festgelegt, dass ihre Mitarbeiter dem publizistischen Anliegen besonders verpflichtet sein sollten.3 Die »Missions-Ordnung«4, zu deren Einhaltung jeder ausgesandte Missionar verpflichtet war, legte im Paragraph 19 fest: Die erste Aufgabe des Missionars, der unter einem heidnischen Stamm eine Missions arbeit beginnt, ist, daß er die Sprache derselben erlernt, daß er sobald als möglich ein enges Band mit dem Volk knüpfend, von demselben gewissermaßen als Stammes genoß betrachtet, sein Vertrauen gewinne, daß er die Sitten und Weise derselben genau kennnenlerne.
Weiter heißt es unter Paragraph 21, dass der Missionar keine schöngefärbten Berichte oder übertreibenden Darstellungen ins Heimatland senden solle, sondern objektiv bleiben möge, auch wenn es gleichzeitig einschränkend heißt: In seiner Correspondenz mit der Heimath muß sich der Missionar großer Vorsicht befleißigen. In Sonderheit soll er alles dasjenige vermeiden, was auf die Mission, auf einzelne Missionare und die Verwaltung ein übles Licht wirft.
Diese Einschränkung in der Berichterstattung lässt sich direkt durch einen Vergleich der eingesandten Briefe und Berichte mit den gedruckten Publikationen, vor allem in dem monatlich herausgegebenen Berichtsorgan, den Berliner Missionsberichten, nachweisen. Denn »üble Lichter« wurden dort nicht publiziert. Allerdings handelte es sich bei den Passagen aus den Berichten und Briefen, die keine Aufnahme in den Berichtsorganen fanden, vornehmlich um interne Auseinandersetzungen zwischen den Missionaren vor Ort und ihren Vorgesetzten in der Synode oder in der Heimat sowie um interne Personalangelegenheiten.5 Hauptsächlich berichteten die Missionare über das Tagesgeschehen, häufig vermengt mit historischen oder theologischen Reminiszenzen bzw. zum Teil ausschweifenden theoretischen Überlegungen und subjektiven Feststellungen. 2 Vgl. Rebekka Habermas, Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift, H. 3, 2008, S. 629–679. 3 Im Prinzip, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität, galt dies für alle deutschen Missionsgesellschaften, jedoch insbesondere auch für die London Missionary Society, was kürzlich Alexandra Przyrembel explizit nachgewiesen hat. Vgl. dies., Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, Frankfurt 2011, insbesondere S. 72–112. 4 Missions-Ordnung der Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden zu Berlin, Berlin 1882, S. 16–18. 5 Missionsdirektor Wangemann war der Meinung, »daß man in den Berichten vorzugsweise die erfreulichen Erfolge mittheilt und die Schwächen des Werks nicht vor den Augen einer Menge aufdeckt«. Vgl. Hermann Theodor Wangemann, Motive und Erläuterungen zu der Missions-Ordnung der Berliner Gesellschaft zur Beförderung der Evangelischen Missionen unter den Heiden, Berlin 1882, S. 25. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Allerdings richtete sich das Augenmerk der Missionare in ihrer Berichterstattung nicht nur auf ihren Alltag. Sie interessierten sich nicht zuletzt für die Meinungen und Handlungen und natürlich auch für die soziale Situation derjenigen Menschen – und die sie beeinflussenden kulturellen und bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisse –, um deren Willen sie den weiten Weg und die nicht ungefährliche Tätigkeit im fernen Afrika oder Asien auf sich genommen hatten. Und hieran waren die Leser in der deutschen Heimat insbesondere interessiert. Heute sind dies oftmals die einzigen schriftlich überlieferten Meinungsäußerungen über den Missionierungs- und den damit häufig eng verbundenen Kolonialisierungsprozess. Die missionarischen Berichterstatter wurden, wie es in der damals weit verbreiteten Zeitschrift Das Ausland von dem führenden deutschen Missions theoretiker Gustav Warneck zutreffend heißt, »wie keine anderen Europäer, schon durch ihre gründliche Sprachkenntnis, befähigt […], [die] alten Traditionen [der Afrikaner] zu sammeln und die Sitten und religiösen Anschauungen zu erkunden«. Und: Sie seien die eifrigsten Sammler und ihre Berichte dürften fast durchweg den Wert eines viel authentischeren Quellenmaterials beanspruchen als die der gelehrten Reisenden, denen, selbst wenn sie einige Sprachkenntnisse besitzen, die lange vertraute Bekanntschaft mit den betreffenden Völkern fehlt.6
Die Berliner wie die anderen deutschen Missionare in Südafrika waren somit wichtige Akteure an einer »zivilisatorischen Erschließungsgrenze«7. Kaum ein anderer Missionar der Berliner Missionsgesellschaft hielt sich so strikt an die Anweisungen der Missionsleitung zur Berichterstattung über die Objekte ihres missionarischen Interesses wie der spätere Superintendent und Missionsinspektor Alexander Merensky. Sein ausgesprochenes Interesse an wissenschaftlicher Forschung und Publizistik hatte wesentlichen Anteil daran, dass er einer der bedeutendsten frühen Erforscher der Ethnohistorie und Völkerkunde der ethnischen Gemeinschaft der Pedi im südlichen Teil der heutigen Republik Südafrika geworden ist.8 Er war einer der ersten Berliner Missionare, der nicht nur über das von ihm erlebte und beobachtete Tagesgeschehen für mis sionarische Publikationsorgane schrieb, sondern er veröffentlichte ebenso Ergebnisse eigenständiger Forschungen für ein akademisch interessiertes Publikum. Und dies nicht nur in missionsinternen Publikationsorganen. Der vielseitig interessierte und begabte Missionar war am 8. Juni 1837 in Panten bei Liegnitz in Schlesien als Sohn eines königlichen Oberförsters geboren 6 Gustav Warneck, Zur südafrikanischen Ethnologie, in: Das Ausland. Wochenschrift für Länder- und Völkerkunde 1882, H. 4, S. 77. 7 Näheres zu diesem Begriff vgl. Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46. 1995, S. 101–138. 8 Vgl. Ulrich van der Heyden, Alexander Merenskys Beitrag zur ethnographischen und historischen Erforschung der Völkerschaften Südafrikas, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 32. Jg., 1991, H. 2, S. 263–268. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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worden und erhielt nach seiner Ausbildung am Missionsseminar der Berliner Missionsgesellschaft im Jahre 1859 den Auftrag, im Süden Afrikas das christ liche Wort zu verbreiten.9 Dazu beschränkte er sich nicht nur auf das Erlernen afrikanischer Sprachen, um größere Resonanz bei der Verkündung des Evangeliums unter den Afrikanern zu erreichen, sondern er bemühte sich auch, mithilfe der Sprache die Geschichte sowie die kulturellen und religiösen Besonderheiten der von ihm zum Christentum zu bekehrenden Ethnien zu erforschen. Seine davon Zeugnis ablegenden vielfältigen publizistischen Arbeiten sind jedoch wohl nur zu einem gewissen Teil dem missionarischen Eifer nach der effektivsten Gewinnung von Konvertiten unter den einst vollständig »heidnischen« Völkerschaften im nördlichen Teil der heutigen Republik Südafrikas zuzurechnen. Vielmehr scheinen die Erfassung, Erforschung und Publizierung von historischen und ethnografischen, aber auch geografischen und botanischen Gegebenheiten seines Arbeitsfeldes auf ein recht stark ausgeprägtes vielschichtiges wissenschaftliches Interesse zurückzugehen. Es liegt sogar die Vermutung nahe, dass Merensky nach einigen Jahren Aufenthalt im Süden des afrikanischen Kontinents zeitweilig seine wissenschaftliche Neugier über sein missionarisches Interesse stellte. So soll er versucht haben, seine Missionstätigkeit in Südafrika durch eine in der Missionsliteratur über Jahrzehnte hinweg nachhaltig kolportierte inszenierte Flucht zu beenden. Er war dafür nicht nur bereit zu übertreiben, sondern es auch mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Er erfand nämlich eine angebliche Gefahr für Leib und Leben inmitten des »heidnischen Stammes« der Pedi, um seine Station verlassen zu können.10 A lexander Merensky gab deshalb seine Position inmitten der ethnischen Gemeinschaft der Pedi auf11 und somit die eines direkten »teilnehmenden Beobachters«, aber er siedelte sich – da es ihm nicht gelang, nach Europa zurückzukehren – in der Grenzregion zwischen burischen Siedlern und der noch in Freiheit lebenden Afrikaner an. Hier konnte er sein Interesse durch Sammeln von Informationen über die Kultur, Religion und Geschichte der Pedi, wenn auch räumlich distanzierter, fortsetzen. Diese bislang wissenschaftshistorisch wenig beachtete Tätig9 Vgl. die Personalakte Merenskys im Archiv des Berliner Missionswerkes: Acta des Missionszöglings A. Merensky betreffend, Abt. II Fach 3 m, Mo. 6 (ohne Paginierung). Sein handschriftlicher Lebenslauf, mit dem er sich um eine Ausbildung als Missionar bewarb, ist abgedruckt bei: Carsten Bolz, Alexander Merensky, in: Wilfried Brose/Ulrich van der Heyden (Hg.), Mit Kreuz und deutscher Flagge. 100 Jahre Evangelium im Süden Tanzanias. Zum Wirken der Berliner Mission in Ostafrika, Münster 1993, S. 140–162. 10 Vgl. Ulrich van der Heyden, Die Inszenierung einer Flucht eines Berliner Missionars vor den Heiden. Der Mythos von Alexander Merenskys Rettung vor den Pedi im Jahre 1864, in: ders./Andreas Feldtkeller (Hg.), Border Crossings. Explorations of an Interdisciplinary Historian. Festschrift for Irving Hexham, Stuttgart 2008, S. 67–92. 11 Sehr gewagt und durch keine Quelle belegt ist die These von Peter Delius, dass Merensky es leid gewesen sei, in einer »independent, intact African polity« zu arbeiten: Peter Delius, The Land belongs to Us. The Pedi-Polity, the Boers and the British in the Ninetheenth Century Transvaal, Johannesburg 1983, S. 122. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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keit wissenschaftlichen Arbeitens12 stellte in der damaligen Zeit eine zentrale Forschungsmethode dar. Anders als heute war zum Ende des 19. Jahrhunderts »das Sammelparadigma in den Wissenschaften weitaus verbreiteter und be deutender […], um außereuropäische Kulturen möglichst umfassend darstellen zu können«.13 Weil die Missionare der deutschen Missionsgesellschaften mit den in Südafrika präsenten Kolonialmächten keine direkten machtpolitischen Interessen verbanden, konnte ein Großteil der Berliner Missionare dort ethnische, reli giöse und historische Besonderheiten der Afrikaner weit besser erkunden und deren Unterwerfung unter die Kolonialherrschaft objektiver beurteilen als etwa die deutschen Missionare in den Kolonien des deutschen Kaiserreiches. Merensky baute, nachdem er seine ursprüngliche Station 1864 verlassen hatte, nicht nur eine neue Station, Botshabelo, zur »Musterstation« auf und aus und war nicht nur äußerst aktiv bei der Vergrößerung des Landbesitzes der Berliner Mission im Süden Afrikas,14 was für ihn einen großen Zeit- und Schreibaufwand bedeutete, sondern er erweiterte auch ständig seinen wissenschaftlichen Horizont. Dabei waren die Anlage und der Ausbau der Infrastruktur von Botshabelo mit Schule und Ausbildungszentren15 eine wichtige Voraussetzung für seine nun einsetzende rege Publikationstätigkeit in europäischen, zumeist deutschen Zeitschriften. Die publizierten wissenschaftlichen Erkenntnisse waren nicht direkt für den Ruf nach deutschen Kolonien verwertbar. Erst als Merensky im Jahre 1882, also nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit der Südafrikanischen Republik (Transvaal) von Großbritannien, dauerhaft nach Deutschland zurückkehren musste, nutzte er seine in Südafrika gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse für die Unterstützung der deutschen Kolonialpolitik. Als Exponent einer Kolonialmission und den politischen Kreisen um Carl Peters nahe stehend16 trat er für die Errichtung eines umfassenden deutschen Kolonialreiches ein, ohne je12 Vgl. Robert E. Kohler, Finders, Keepers. Collecting Sciences and Collecting Practices, in: History of Science, H. 4, 2007, S. 428–454. 13 Jürgen G. Nagel, Der Missionar und die andere Religion, in: Ulrich van der Heyden/An dreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in A frika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 233–248. 14 Vgl. Andrea Schultze, »In Gottes Namen Hütten bauen«. Kirchlicher Landbesitz in Süd afrika. Die Berliner Mission und die Evangelisch-Lutherische Kirche Südafrikas zwischen 1834 und 2005, Stuttgart 2005. 15 Vgl. Ulrich van der Heyden, Die Anfänge des Lehrerbildungsseminars der Berliner Missionsgesellschaft in Botshabelo, in: ders./Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 173–192. 16 Vgl. Horst Gründer, Missionsgesellschaften auf dem Weg zur Kolonialmission, in: Klaus J. Bade (Hg.), Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, Wiesbaden 1982, S. 76. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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doch in Gänze die Auffassungen des berüchtigten Kolonialabenteurers zu teilen. Dennoch stand er, wie es in einer kolonialen Zeitschrift aus den 1930er Jahren heißt, »an führender Stelle in der jungen Kolonialbewegung«17 und nutzte seine Afrika-Kenntnisse unter anderem dazu, sich mit solchen Problemen wie »Was lehren uns die Erfahrungen, welche andere Völker bei Kolonisations versuchen in Afrika gesammelt haben?«18, »Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagenarbeit?«19, »Zur Frage der Negererziehung«20, »Welches Interesse und welchen Anteil hat die Mission an der Erziehung der Naturvölker zur Arbeit«21 oder »Deutschlands Pflicht gegenüber den Heiden und dem Heidentum«22 zu beschäftigen. Seiner befürwortenden Einstellung zur Kolonialmission entsprechend, leistete Merensky auch »praktische Kolonialarbeit«, so als er 1891 eine Expedition im Auftrag der Berliner Mission in die Region im Norden des Njassa-Sees führte und dort Missionsstationen anlegte. Er bereitete somit die koloniale Besitzergreifung Deutsch-Ostafrikas durch das Deutsche Reich entscheidend mit vor.23 Hand in Hand damit ging sein ausgesprochenes Interesse an den religiösen Vorstellungen und kulturellen Besonderheiten der afrikanischen Menschen, denen er auf seinem Weg südlich des Limpopo Rivers begegnete. Seine dabei gewonnenen Erkenntnisse verarbeitete er in mehreren Publikationen.24 Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in seinen letzten Lebensjahren, setzte sich Alexander Merensky kritischer mit den Folgen der Kolonialpolitik und mit der Rolle der christlichen Missionsgesellschaften im Prozess der kolo nialen Machtausübung auseinander, wobei er nunmehr über die Grenzen des deutschen Einflussgebietes in Afrika sowie des südlichen Afrika hinausblickte: Er sprach den Afrikanern ein Anrecht auf Menschenrechte zu.25 Diese Seite des Wirkens von Merensky ist bislang wenig beachtet worden und belegt erneut, dass es notwendig ist, zwischen Befürwortern und Kritikern der Kolonialpolitik in den Kreisen der Mission, so wie es seit den 1980er Jahren von 17 K. Kayser, Alexander Merensky als Geograph und deutscher Kolonialpionier, in: Kolo niale Rundschau, 28. Jg., 1937, H. 6, S. 387. 18 Alexander Merensky, Was lehren uns die Erfahrungen, welche andere Völker bei Kolo nisationsversuchen in Afrika gemacht haben?, Berlin 1890. 19 Ders., Wie erzieht man am besten den Neger zur Plantagenarbeit?, Berlin 1886. 20 Ders., Zur Frage der Negererziehung, in: Deutsche Kolonialzeitung, 4. Jg., 1887, H. 4, S. 325 f. 21 Ders., Welches Interesse und welchen Anteil hat die Mission an der Erziehung der Naturvölker zur Arbeit?, Berlin 1887. 22 Ders., Deutschlands Pflicht gegenüber den Heiden und dem Heidentum in seinen Kolonien, Berlin 1905. 23 Vgl. Ulrich van der Heyden, Zu den politischen Hintergründen der Njassa-Expedition von Alexander Merensky, in: Winfried Brose/Ulrich van der Heyden (Hg.), Mit Kreuz und deutscher Flagge. 100 Jahre Evangelium im Süden Tanzanias. Zum Wirken der Berliner Mission in Ostafrika, Münster 1993, S. 89–95. 24 Vgl. vor allem: Alexander Merensky, Deutsche Arbeit am Njassa, Berlin 1894. 25 Vgl. Merensky, Deutschlands Pflicht, insbesondere S. 10. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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einigen Historikern gefordert worden ist, zu differenzieren.26 Denn bei so manchem Missionar sind erstaunliche Wandlungen seiner Einstellung zur Rolle der Kolonialpolitik sowie der christlichen Mission zu verzeichnen. So vertrat Alexander Merensky im fortgeschrittenen Alter die Ansicht Die christliche Mission hat den Beruf und die Pflicht als Anwalt für die Eingeborenen einzutreten, wo diese von Europäern grausam behandelt werden. Diese Pflicht liegt ihr ob, weil das Wissen von Ungerechtigkeiten, Schändlichkeiten und Verbrechen, die Mission zum Mitschuldigen machen würde, wenn sie nicht wagen sollte, solchen Taten entgegenzutreten, und auch weil es Pflicht gegenüber den christlichen Völkern ist, Grausamkeiten, die von ihren Gliedern oder gar Beamten begangen werden, auf zudecken, damit die Schuld solcher Verbrechen nicht ungesühnt auf solchen Völkern liegen bleibe.27
Obwohl Alexander Merensky, wenn auch erst ziemlich spät, zur allgemeinen Kritik an Erscheinungen der europäischen Kolonialpolitik bereit war, so stellte er dennoch ihre Rechtmäßigkeit an sich nicht infrage. So beeinflusste Alexander Merensky aufgrund seiner exzellenten Kenntnisse der Sprache, Kultur, Geschichte und Lebensweise verschiedener afrikanischer Ethnien sogar nachhaltig die so genannte Eingeborenenpolitik Deutschlands als wichtigstes Element zur Durchsetzung der kolonialen Herrschaftspläne. Dazu nutzte er unzählige Vorträge und seine eifrige Mitarbeit an der Deutschen Kolonialzeitung. Um publizistisch die Etablierung und Festigung der kolonialen Herrschaftsmethoden Deutschlands in Afrika zu unterstützen, nutzte er immer wieder seine aus Südafrika stammenden Erfahrungen. Dabei war er, wie auch andere europäische Missionare, von den »rassenüberheblichen« Buren als einer der nutzlosesten Menschen der Welt betrachtet worden.28 Vor allem wegen seiner Vermittlungsbemühungen in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Pedi und den Transvaal-Buren sowie seiner Behandlung der Afrikaner als Menschen, die über eine eigene Kultur, Geschichte und religiöse Vorstellung verfügten, die zu erforschen sich lohne, erregte er Unmut. Jedoch vor allem wegen seines Eintretens für die Rechte der Pedi gegenüber der britischen Kolonial administration – das aus seiner paternalistischen Grundhaltung gegenüber den Afrikanern resultierte29 – musste er letztendlich Südafrika im Jahre 1882 ver
26 Vgl. Heinrich Loth, Christian Mission between Conformity to and Criticism of Colonialism, in: Asia – Africa – Latin America. Special Issue Bd. 16: Colonialism, Neo-Colonialism, and Africa’s Path to a peaceful Future, Berlin 1985, S. 178–180. 27 Alexander Merensky, Schreckliche Grausamkeiten, verübt an den Eingeborenen im KongoStaat, in: Der Missions-Freund, 58. Jg., 1903, H. 8, S. 63. Vgl. auch ders., Die Mission – der Anwalt der Eingeborenen, in: Allgemeine Missionszeitung, 29. Jg., 1902, H. 29, S. 153–170. 28 Vgl. Olga Lehmann, Alexander Merensky, ein deutscher Pionier in Südafrika, Göttingen 1965, S. 13. 29 Werner van der Merwe, Merensky, Alexander, in: The Encyclopaedia Africana. Dictionary of African Biography in 20 volumes, Bd. 3, Algonac 1995, S. 157. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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lassen, denn auch die burische Regierung, die wieder die Macht in Transvaal erringen konnte, misstraute ihm.30 Er ließ sich nicht einschüchtern und kritisierte auch von Deutschland aus weiterhin die Politik der Regierung der Südafrikanischen Republik (Transvaal), insbesondere deren »Eingeborenenpolitik«.31 Dennoch erscheint es berechtigt, seine Haltung in den Auseinandersetzungen zwischen Afrikanern einerseits und den Buren bzw. Briten andererseits als oftmals zwiespältig und inkonsequent zu bezeichnen. Das lässt die Einschätzung seiner Persönlichkeit im damaligen offiziellen Organ der südafrikanischen Befreiungsorganisation ANC , Sechaba, verständlich erscheinen, wo es 1982 hieß, Alexander Merensky »played a double game, hunting with the hounds and running with the hares«32. Besonders intensiv beschäftigt sich Merensky mit völkerkundlichen Fragen. Sein wissenschaftliches Interesse und die daraus resultierenden Publikationen, die – wie die der anderen Missionare – nicht nur als historische und ethno grafische zeitgenössische Quellen, sondern auch aus damaliger Perspektive für den Erkenntnisfortschritt Bedeutung hatten, spiegeln die Einstellung und Haltung des größten Teils der deutschen Missionare im 19. Jahrhundert gegenüber den Afrikanern und deren Kultur wider. Die Arbeiten Merenskys übertreffen jedoch die der anderen Berliner Missionare an Quantität. Die monografischen Arbeiten von und über die Missionare zählten schon Ende des 19. Jahrhunderts allein in deutscher Sprache Hunderte, wenn nicht Tausende. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich quasi eine eigenständige Literaturgattung herausgebildet. Diese »Missionsliteratur« hatte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg einen so großen Umfang angenommen, dass schließlich eine Zentralstelle für Missionsliteratur eingerichtet wurde, die spezielle Kataloge herausgab.33 Neben seinen beruflichen Pflichten, zu denen auch die exakte Führung eines Tagebuchs und periodisch abverlangter Berichte gehörten, bewältigte M erensky ein großes publizistisches Arbeitsprogramm. Er verfügte über die Fähigkeit, einen sachlichen Bericht mit einer plastischen, lebendigen Darstellung zu ver binden, die auf Beobachtungen bzw. dem basierte, was zeitgenössisch als For30 Vgl. dazu ausführlicher: T. S. van Rooyen, Die Sendeling Alexander Merensky in die Geskiedenis van die Suid-Afrikaanse Republiek, 1859–1882, in: Argiefjaarboek vir SuidAfrikaanse Geskiedenis, Bd. 17, Teil 2, Cape Town 1954; S. P. P. Mminele, The Berlin Lutheran Missionary Enterprise at Botshabelo 1865–1955. An historial-educational study, Diss. Pietersburg 1983, S. 31–35; J. Müller, Aus dem Leben von Dr. Alexander Merensky, in: Der Missions-Freund, 89. Jg., H. 6. 1937, S. 42–47. 31 Vgl. T. S. van Rooyen, Die Verhoudinge tussen de Boere, Engelse en Naturelle in die Geskiedenis van die Oos-Transvaal tot 1882, in: Argiefjaarboek vir Suid-Afrikaanse Geskiedenis, Bd. 14, Teil 1, Kapstadt 1951. 32 We remember Sekhukhune, in: Sechaba. Official Organ of the African National Congress South Africa, 1982, S. 18. Ähnlich wird Merensky auch in einigen historischen Standardwerken beurteilt, z. B. bei: Thomas Rodney Davenport, South Africa. A Modern History, London 19914, S. 143. 33 Zentralstelle für Missionsliteratur in Stuttgart und Basel (Hg.), Wegweiser durch das Schrifttum der evangelischen Mission, Berlin 1924; 2. erweiterte Auflage 1927. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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schung bezeichnet wurde. Davon zeugen mehrere umfangreiche Bücher, wie »Erinnerungen aus dem Missionsleben«34, »Beiträge zur Kenntnis Süd-Afri kas«35 oder »Deutsche Arbeit am Njassa«, aber auch kleinere Schriften, wie die Traktate »Ein afrikanischer Kriegszug«36 und später dann über die Missionierung der nordamerikanischen Indianer37 und Südseeinsulaner38, sowie zahl reiche Zeitschriftenartikel. Darüber hinaus verfasste Merensky Berichte, die ursprünglich nicht als wissenschaftliche Mitteilungen oder Abhandlungen gedacht waren, sondern einen anderen quasi tagespolitischen Zweck erfüllen sollten und daher in den regelmäßig erscheinenden Publikationsorganen der Berliner Missionsgesellschaft oder auch in Tageszeitungen, völkerkundlichen und geografischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. In jenen Periodika sind Details aus dem Alltagsleben, aber auch von Höhepunkten aus dem gesellschaft lichen Leben der Afrikaner zu finden. Vollkommen richtig konstatiert Reinhard Wendt, dass solche missionarischen Berichte »häufig zu den frühesten und nicht selten zu den einzigen [zählten], die linguistische, botanische und ethnologische Informationen aus den Neuen Welten vermittelten«.39 Insbesondere in den regelmäßig erscheinenden Berichtsorganen setzten sich die Missionare sehr intensiv mit den religiösen Vorstellungen der Afrikaner auseinander und führten dort mehr oder minder kontroverse Diskussionen um theologische und linguistische Themen,40 an denen sich auch Alexander Merensky beteiligte.41 Einige Arbeiten von Alexander Merensky wurden ins Englische übersetzt und sogar mit Livingstones Werken verglichen.42 Er ließ sich von dem selbst formulierten Grundsatz leiten: »Der Missionar hat die heilige Pflicht […], [die] sittlichen Anschauungen des Volkes, unter dem er arbeitet, zu schonen, ja zu achten«. Dadurch war ihm der Zugang zu so mancher ethnografischen Frage34 Alexander Merensky, Erinnerungen aus dem Missionsleben in Südost-Afrika (Transvaal), 1859–1882, Bielefeld 1888; zweite durchgesehene und vermehrte Auflage unter dem Titel »Erinnerungen aus dem Missionsleben in Transvaal 1859–1882«, Berlin 1899; Neuausgabe nach der zweiten Auflage unter dem Titel »Erinnerungen aus dem Missionsleben in Transvaal (Südafrika) 1859–1882«, hg. von Ulrich van der Heyden, Berlin 1996. 35 Ders., Beiträge zur Kenntnis Süd-Afrikas, Berlin 1875. 36 Ders., Ein afrikanischer Kriegszug, Berlin o.J.3 37 Ders., Etwas von der Mission unter den Indianern in Nordamerika (= Missionsschriften für Kinder, Bd. 37), Berlin 1900. 38 Vgl. ders., Der alte Sefanaja. Eine Geschichte von den Witi-Inseln, Berlin 1909; ders., Etwas aus der Mission in Kaiser-Wilhelmsland, Neuguinea, Berlin o. J. 39 Reinhard Wendt, Einleitung, in: ders. (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht, Tübingen 2001, S. 10. 40 Vgl. Ernst Dammann, Missionarische Berichte zu den Religionen Schwarzafrikas, in: Johannes Triebel (Hg.), Der Missionar als Forscher. Beiträge christlicher Missionare zur Erforschung fremder Kulturen und Religionen, Gütersloh 1988, S. 17–35. 41 Beispielsweise: Alexander Merensky, Noch einmal. Der Gottesname bei den Bantu und der Unkulunkulu der Zulu, in: Allgemeine Missions-Zeitschrift 1895, 22. Jg., H. 22, S. 181–185. 42 Vgl. Lehmann, Alexander Merensky, S. 14; Kayser, Alexander Merensky als Geograph, S. 386. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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stellung erleichtert. Nach seiner Auffassung sollte der Missionar »das Gemütsund Geistesleben seines Volkes kennenlernen«, wobei »ein tiefes Eindringen nur möglich [sei] durch persönlichen Verkehr mittels der eigenen Sprache des Volkes«.43 Auch mit Geologie und Geografie beschäftigte sich Merensky. So entwarf er 1868 gemeinsam mit dem Generalpostmeister und Kartografen Friedrich Jeppe die ersten Landkarten der Südafrikanischen Republik (Transvaal)44, die er später ergänzte und verbesserte. Im Jahre 1875 wurden sie von der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin erneut publiziert.45 Sie bildeten die Grundlage für eine Reihe kartografischer Skizzen, die vornehmlich in den missionseigenen Periodika veröffentlicht wurden, aber auch in einen »Missionsatlas«46 Eingang fanden. Von dort aus gelangten die Karten in andere Publikationen, die keinen missionarischen Charakter aufwiesen. Über Jahre hinweg galten die Arbeiten von Merensky auf diesem Gebiet als die beste kartografische Grundlage für die weitere Erforschung dieses Teils des heutigen südafrikanischen Staatsgebietes. Seine Reiseberichte aus Swaziland inklusive der Berichte über seinen Aufenthalt am Hofe des Herrschers der Swazi enthalten die ersten umfassenden, wenn auch bislang noch nicht ausgewerteten Quellen über diese ethnische Gemeinschaft im Süden Afrikas. Merensky publizierte auch über Klimafragen, befasste sich mit linguistischen Fragestellungen47 und schrieb selbst über veterinär medizinische Probleme wie über die Akklimatisation von europäischen Pferden in Südafrika.48 Nachdem er in Pretoria seine Approbation als praktischer Arzt erworben hatte, beschäftigte sich der Botshabeloer Missionar mit Forschungen zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten, wie Malaria49 und Lepra, und veröffentlichte einige seiner Beobachtungen und Forschungsergebnisse in angesehenen europäischen Fachzeitschriften. Besonderes Interesse schenkte Merensky der Geschichte der südafrikanischen Völker. Seine Erkundungen der vorkolonialen Geschichte der Pedi wurden 1862 43 Alexander Merensky, Die Stellung der Mission zum Volkstum der Heidenvölker, Berlin 1901, S. 7–8. 44 Friedrich Jeppe/Alexander Merensky, Original Map of the Transvaal or South-African Republic, Potchefstroom 1868. 45 Alexander Merensky, Original Map of the Transvaal or South Africa Republic including the Gold- and Diamondfields, Berlin 1875; ders., Eine neue Karte der süd-afrikanischen Republik, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, 10. Jg., 1875, H. 10, S. 366–379. 46 Missions-Atlas über die Arbeitsgebite der Berliner evangelischen Missionsgesellschaft (Berlin I) in Südafrika, Deutsch-Ostafrika, Südchina (Provinz Kanton) und Nordchina (Kiautschou), Berlin 1903. 47 Vgl. Alexander Merensky, Wörterverzeichnis zum Gebrauch bei Bearbeitung afrika nischer Sprachen, Berlin 1891. 48 Vgl. Eberhard W. Machens, Hans Merensky. Geologe und Mäzen. Platin, Gold und Diamanten in Afrika, Stuttgart 2011, S. 30. 49 Vgl. hierzu: Alexander Merensky, Bemerkungen über Natur und Behandlung des afrikanischen Malaria-Fiebers, Berlin 1893. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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in den Berliner Missionsberichten veröffentlicht.50 Es handelt sich um ein äußerst seltenes Dokument, welches sich mit der vorkolonialen Geschichte dieser Ethnie befasst. Viele spätere Forscher, die sich mit den Pedi beschäftigten, stützten sich auf diese, aber auch auf spätere Arbeiten Merenskys über die Pedi bzw. Northern Sotho.51 Seine Quellen waren größtenteils mündliche Überlieferungen und Berichte von alten Stammesangehörigen. Er war somit einer der ersten Forscher in Südafrika, die mit Methoden der oral history gearbeitet hatten. Schon seit Beginn seines Aufenthaltes in Afrika beschäftigte Merensky die Geschichte eines sagenhaften afrikanischen Reiches nördlich des Limpopo. Er sammelte darüber alle ihm zugänglichen Informationen und Erzählungen der Afrikaner und wertete alte schriftliche portugiesische Dokumente aus. Angespornt wurde der Missionar bei seinen historischen Forschungen immer wieder durch die verlockende Aussicht, »die Geheimnisse des alten sagenhaften Landes Ophir«52 lichten zu können. Als der deutsche Forscher Karl Mauch Mitte der 1860er Jahre den Berliner Missionar auf seiner Missionsstation Botshabelo besuchte, waren beide von diesem Gedanken gefesselt. Gemeinsam besprachen und prüften sie das von Alexander Merensky von afrikanischen Informanten zusammengetragene Material. Der Missionar stellte dem von August Petermann finanzierten deutschen Afrikareisenden seine Erkenntnisse zur Verfügung, die es letztendlich Karl Mauch im Jahre 1871 »mit Hilfe seiner Wegweisung«53 ermöglichten, einem europäischen Publikum von der »Entdeckung« der Ruinen von Simbabwe zu berichten.54 Bis zu seinem Lebensende – Alexander Merensky verstarb am 22. Mai 1918 – waren ihm zahlreiche Ehrungen zugedacht worden und hatte er viele Verpflichtungen übernommen, die illustrieren, wie er sich auf dem schmalen Grat zwischen Missionstätigkeit, Wissenschaft und Kolonialpolitik bewegt hatte. Er betrachtete anscheinend alles als Einheit.55 So waren einerseits seine wissenschaftlichen Verdienste durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Phi50 Alexander, Merensky, Beiträge zur Geschichte der Bapedi. Ein Vortrag gehalten auf der Winterkonferenz der Berliner Missionare unter den nördlichen Bassuto, in: Berliner Missionsberichte 1862, Teil 1: H. 20, S. 327–342; Teil 2: H. 21, S. 353–358. 51 So etwa die heute als wichtige Quellen geltenden Standardwerke von: H. O. Mönnig, The Pedi, Pretoria 1967; Werner Eiselen, Über die Häuptlingswürde bei den Bapedi, in: Africa, 5. Jg., 1932, H. 3, S. 297–306; D. R. Hunt, An Account of the Bapedi, in: Bantu Studies, Bd. 5, Johannesburg 1931, S. 275–326. 52 Lehmann, Alexander Merensky, S. 14. Vgl. den Beitrag von Alexandra Przyrembel in diesem Band. 53 Hermann Petrich, Alexander Merensky. Ein Lebensbild aus der deutschen evangelischen Mission des letzten Jahrhunderts, Berlin 1919. 54 Vgl. Ulrich van der Heyden, Carl Mauch’s Aufenthalt im südlichen Afrika und seine Suche nach dem sagenumwobenen Land Ophir, in: Hannelore van Ryneveld/Janina Wozniak (Hg.), Einzelgang und Rückkehr im Wandel der Zeit. Unknown Passages – New Beginnings. Festschrift für Gunther Pakendorf, Stellenbosch 2010, S. 35–64. 55 Vgl. Ulrich van der Heyden, Alexander Merensky und die »Zivilisation« der Afrikaner, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 41. Jg., 1993, H. 6, S. 508–512. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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losophischen Fakultät der Universität Heidelberg (1897) sowie durch die der Theologischen Fakultät der Universität Berlin (1899) anerkannt worden. Außerdem erhielt er die selten verliehene Ehrenmitgliedschaft der Kaiserlich-Leopol dinisch-Karolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle; darüber hinaus war er Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaft in Jena und Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Andererseits bekleidete er auch Funktionen und Ämter in weniger dem Ruf von humanitären oder wissenschaftlichen Anliegen verpflichteten Gesellschaften und Vereinen, in denen »seine Mitarbeit an kolonialen Fragen«56 geschätzt wurde. So wählte man ihn zum Ehrenmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft. Er gehörte außerdem dem Vorstand der Gesellschaft für deutsche Kolonisation an und vertrat schließlich sogar die deutschen Interessen im Institut Colonial International in Brüssel.
56 Johannes Müller, Aus dem Leben von Dr. Alexander Merensky, in: Der Missions-Freund, 89. Jg., 1937, H. 6, S. 47. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Pater August Schynse (1857–1891) Prediger, Wissensvermittler und Symbolfigur
Missionare waren nicht einfach nur eine weitere Gruppe von kolonialen Akteuren neben Entdeckern, Kolonialbeamten, Wissenschaftlern und Philanthropen, die an der Produktion, der Vermittlung und Verzerrung von Wissen über die Welt beteiligt waren. Sie hatten spezifische Perspektiven, Vorbildungen, Intentionen und Interaktionsformen vor Ort, mit denen sie eigentümliche Wissensbestände erzeugten – so eine Prämisse dieses Kapitels. Die zweite lautet: Wie andere europäische Akteure konnten Missionare ihr Wissen nur in Auseinandersetzung mit Kulturvermittlern (Dolmetschern, Führern, Karawanenchefs, lokalen Eliten, Konvertiten) hervorbringen: Sie alle handelten Wissen vor Ort aus. Sie nutzten die Missionsstationen als Umschlagplatz für Informationen und Wissen. Ein solcher Akteur war August Wilhelm Schynse.
Zur Person: ein Missionar zwischen Kulturkampf und kolonialer Eroberungsphase Posthum wurde Pater Schynse zu einer kleinen Berühmtheit im deutschen Reich. Brockhaus (1912) und Meyer (1905) führten kurze biografische Notizen, die Allgemeine Deutsche Biografie (1908) einen längeren Artikel. Das war für einen einfachen katholischen Missionar ungewöhnlich. Schließlich war der ›Kulturkampf‹ zwischen der katholischen Kirche und dem neuen kleindeutschprotestantisch dominierten Staat kaum verklungen. Grund für Schynses zeitweilige Prominenz war ein koloniales Spektakel, dass sich 1886 bis 1891 zwischen Zentral- bzw. Ostafrika und Europa abspielte und an dem Schynse eher zufällig Teil hatte: die ›Rettung‹ des verschollenen Emin Pascha durch Henry Morton Stanley in Zentralafrika. Beteiligt an dem Ereignis waren neben Schynse Forscher, Abenteurer und Offiziere aus England, Deutschland, Italien und Österreich, der Karawanenfürst Tippu Tip und der Ägypter Vita Hassan. Alle publizierten sie Augenzeugenberichte. Politisch brisant war die Debatte, weil die bereisten Gebiete von Deutschland, Großbritannien und Belgien als Kolonial gebiet beansprucht wurden: Der »Scramble for Africa« hatte begonnen.1 Schynse hatte sich der Karawane Stanleys und Emin Paschas auf dem Rückweg nach 1 Vgl. Aylward Shorter, Cross and Flag in Africa. The »White Fathers« during the Colonial Scramble (1892–1914), Maryknoll (NY) 2006, S. 23–37. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Daressalam angeschlossen, um in bewaffneter Begleitung sicher durch Ostafrika zu reisen. In Europa entbrannte ein publizistischer Streit zwischen Stanley, anderen Expeditionsteilnehmern und deutschen Publizisten.2 Emin war nach seiner Ankunft an der ostafrikanischen Küste in deutsche Dienste getreten und zog erneut ins Landesinnere, um das Gebiet für das Deutsche Reich zu reklamieren – Schynse begleitete ihn. Beide starben auf dieser Reise. Wer war nun dieser junge katholische Missionar, der für einen Augenblick durch die grellen Scheinwerfer der Weltpolitik huschte?3 August Schynse wurde 1857 nahe Koblenz geboren. Der Vater, ein Gutsverwalter, verstarb früh. Der Junge erhielt eine frühe religiöse Sozialisation, die von der Pubertät bis zur Volljährigkeit im Zeichen des Kulturkampfs stand. Diese Auseinandersetzung, durch die Bismarck den gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche zu brechen versuchte, führte zu einer soziokulturellen Verdichtung und Politisierung katholischer Milieus.4 Schynse besuchte ein katholisches Gymnasium, studierte Theologie und Philosophie in Bonn und empfing 1880 die Priesterweihe. Bald wurde er wegen politischer Predigten zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt und ihm die Ausübung des Priesteramts verboten. 1882 trat Schynse der Missionsgesellschaft der Weißen Väter (Missionaires d’Afrique) bei. Der 1868 gegründete Orden befand sich Ende der 1880er Jahre nach einigen Fehlschlägen in Zentralafrika in einer Phase der Expansion.5 Die Kurie wies dem Orden neben dem Stammsitz Algier den Maghreb, die Sahara und große Missionsgebiete im Kongo und im heutigen Ruanda, Uganda und Tansania zu.6 In Algier lernte Schynse Französisch sowie Arabisch und eignete sich ethnografische sowie naturwissenschaftliche Grundkenntnisse an. Danach schickte ihn der Orden zwei Jahre nach Frankreich und Belgien, um dort an Missionsschulen zu unterrichten 2 Schynses Bericht kam eine zentrale Rolle zu, da er von der Verbitterung Emins über die ökonomischen und machtpolitischen Ziele Stanleys berichtete und fortan als eine Art Kronzeuge der deutschen Position gehandelt wurde. Vgl. Paul Reichard, Dr. Emin Pascha. Ein Vorkämpfer der Kultur im Innern Afrikas, Leipzig 1891, S. 302–304 und kritisch zu Schynse: Henry Morton Stanley, Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Pascha’s, Gouverneurs der Äquatorialprovinz 2, Leipzig 1890, S. 400. 3 Vgl. Victor Hantzsch, August Wilhelm Schynse, in: AdB 54 (1908), S. 288–292, unter: http://www.deutsche-biographie.de/sfz120549.html#adb; s.v. Schynse, in: Brockhaus. Kleines Konversationslexikon Bd. 2, Leipzig 1911, S. 675; s.v. Schynse, in: Meyer’s Großes Konversationslexikon Bd. 18, Leipzig 1905, S. 224; Pater August Schynse und seine Missionsreisen in Afrika, hg. v. einem Freund, Straßburg 1894; Pater August Schynse, sein Leben und Wirken, in: Afrika-Bote 1–3. 1895–1897; Johannes Madey, August Schynse, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, Bd. 9, Hamm (Westf.) 1995, Sp. 1244–1245. 4 Vgl. Rebekka Habermas, Piety, Power, and Powerlessness. Religion and Religions Groups in Germany, 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern History, Oxford 2011, S. 453–480. 5 Vgl. Jean-Claude Ceillier, Histoire des Missionaires d’Afrique (Pères Blancs). De la fondation par Mgr. Lavigerie à la mort du fondateur (1868–1892), Paris 2008, S. 184–186. 6 Vgl. Shorter, Cross, S. 1–22. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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und Spenden zu sammeln. Nach Deutschland kam er heimlich, da er sich dem Militärdienst entzogen hatte. Katholische Missionare wie August Schynse lebten und arbeiteten in stark politisierten Kontexten. Ihre Erfahrungen in Europa waren von Kulturkampf und wachsendem Nationalismus geprägt. In Zentralafrika wirkte Schynse im Umfeld kolonialer Eroberung und Konkurrenz der euro päischen Mächte. Dementsprechend nahm er seine Rolle als Missionar wahr: als Glaubenskämpfer, Zivilisationsbringer, Forscher. Im Juni 1885 erhielt er den Auftrag, nordöstlich von Brazzaville und Kinshasa eine Station zu gründen. Bis er am Ziel war, vergingen sieben Monate beschwerlicher Reise. Meist reiste Schynse alleine mit seinen Trägern am Ufer des Kongo oder mit Booten und Dampfern. Nahe bei einem Dorf der Bayansi-Bevölkerungsgruppe an der Mündung des Kassai in den Kongo gründete er mit den Patres Dupont und Merlon im Februar 1886 die Station Bungana. Ein Jahr später wurde Schynse nach Algier berufen. Das Missionsgebiet war einem anderen Orden zugewiesen worden.7 Im August 1888 brach er erneut nach Zentralafrika auf, diesmal von der Ostküste her. Kaum war er von Daressalam abgereist, brach der erste Kolonialkrieg in Deutsch-Ostafrika aus, der so genannte Araberaufstand. Schynse und seine Mitbrüder reisten an den vom Krieg nicht betroffenen Viktoria-See. Als ein Mitbruder an einem Augenleiden erkrankte, musste Schynse ihn wenige Monate später an die Küste begleiten. Auf diesem Weg schlossen sie sich der Emin-Pascha-Expedition Stanleys an, die im Dezember 1889 die Küste Tansanias erreichte. Schon im April 1890 reiste Schynse zusammen mit Emin erneut an den Viktoria-See, wo er im November 1890 an einer Lungenentzündung starb.8 Die wenigen Jahre als Missionar verbrachte Schynse abwechselnd mit Reisen, der Gründung einer Station, als Lehrer in algerischen und französischen Missionsschulen, mit Vortragsreisen und Spendenwerbung in Westeuropa. Zwischen den Aufträgen verfasste er drei Reiseberichte, einer davon wurde posthum veröffentlicht.9 Er publizierte Briefe und Berichte aus Zentralafrika in den Missionsjournalen der Weißen Väter,10 dem Zentralorgan Die Katholischen 7 Vgl. Ceillier, Histoire, S. 184–186. 8 Schynses Schwester Katharina gründete nach seinem Tod 1892 den Verein katholischer Frauen und Jungfrauen zur Unterstützung der zentralafrikanischen Missionen der Weißen Väter (später Missionsvereinigung katholischer Frauen und Jungfrauen), der 1901 an die 12.000 und 1920 fast 300.000 Mitglieder nur in Deutschland hatte. Ab 1916 wirkte der Verein auch in den USA. Vgl. Gabriele Lautenschläger, Katharina Schynse, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, Bd. 9, Hamm (Westfalen) 1995, Sp. 1245–1246. 9 August Schynse, Zwei Jahre am Congo, Köln 1889; ders., Mit Stanley und Emin-Pascha durch Deutsch Ost-Afrika. Reisetagebuch, Köln 1890; ders., P. Schynse’s letzte Reisen. Briefe und Tagebuchblätter, Cöln 1892. 10 Vgl. Der Afrika-Bote 1–3. 1895–1897. Hinzu kamen ordensinterne Publikationen, die den Erfahrungsaustausch der Mitglieder untereinander fördern sollten. Vgl. Jean-Claude Ceillier/Ivan Page, Histoires de la Société des Missionaires d’Afrique. Les sources écrites internes à la société, Rom 2004. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Missionen11 sowie in Tageszeitungen wie der Kölnischen Volkszeitung, außerdem geografische und astronomische Aufzeichnungen in Fachzeitschriften (z. B. Petermanns Mitteilungen). Sein Bericht über die Gründung der Station Bungana am Kongo steht im Zentrum dieses Kapitels.
Die Fabrikation missionarischen Wissens und kultureller Transfer Die katholische Mission war der wissenschaftlichen Anerkennung, die Erkenntnisse ihrer Missionare gelegentlich unter Experten hervorriefen, nicht abgeneigt. Schließlich hatten sie in den europäischen Metropolen mit dem Attribut der Rückständigkeit zu kämpfen.12 Schynses Berichte etwa wurden durch den im Zuge des Kulturkampfs entstandenen Think-Tank Görres-Gesellschaft verteilt, der sich der Förderung der »Wissenschaften im katholischen Deutschland« widmete. Die Mission produzierte in einigen profanen Wissenschaftsbereichen führende Experten, Institutionen und Medien – ein Beispiel ist das ethnografische Journal Anthropos, das 1905 von dem Steyler Missionar Wilhelm Schmidt gegründet worden war und aus dem 1931 das Anthropos-Forschungsinstitut hervorging. In der ersten Anthropos-Ausgabe ordnet Alexandre LeRoy die missionarische Forschung dem Grundziel der Bekehrung unter: »Dienst am Vaterland«, »Zivilisierungsmission« und Wissenschaft seien der Verkündigung des Evangeliums jederzeit unterzuordnen.13 Ein Missionar könne nur einer Sache dienen, nämlich der Bekehrung der »Heiden«. Dazu müsse zumindest der Missionsleiter eine »Kenntnis des Landes und seiner Bewohner, ihrer Sitten, der Gesetze, der Religionen und der Sprachen« haben. Je besser er das »Milieu« kenne, in dem er arbeite, desto weniger Fehler würde er begehen und desto größer seien seine Erfolgschancen. LeRoy wusste, wovon er sprach: Nicht nur stand er einem Missionsorden (Missionare vom Heiligen Geist) vor, der in Zentralafrika arbeitete. Er war bei der Exploration der ostafrikanischen Küste und der Gründung der Missionsstation Bagamoyo 1881 dabei. Später leitete er die Heilige-GeistMission in Gabun. LeRoy forderte von Missionaren, sich mit der Geografie, Verkehrswegen, Kommunikationsmitteln, natürlichen Ressourcen, Bevölkerungsdichte und sozialen Struktur auseinanderzusetzen. So könne vermieden werden, dass sich eine Mission an einem »Ort ohne Zukunft« einrichte, während sie ein »großartiges Missionsfeld« übersehe. Gleichzeitig betonte LeRoy die Vorzüge missionarischer Arbeit. Reisende, Eroberer und Abenteurer hätten zwar kaum 11 Vgl. Nachrichten aus den Missionen. Äquatorialafrika, in: Die katholischen Mission 20. 1892, S. 66 f., 106 f. 12 Vgl. Richard Hölzl, Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitäts anspruch und Zivilisationskritik, in: Christoph Bultmann u. a. (Hg.), Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der Europäischen Religionsgeschichte, Münster 2012, S. 143–164. 13 Alexandre LeRoy, Le rôle scientifique des missionaires, in: Anthropos 1. 1906, S. 3–4. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mehr weiße Flecken auf den Karten gelassen. Doch, so schätzte er, seien wohl kaum zwei von zehn Namen auf diesen Karten richtig. Pflicht jeden Missionars sei es aber vor allem, die eigentümliche Mentalität eines Volks zu erfassen. Um »bis zum Grund vorzudringen, und zu den Details des sozialen Organismus eines exotischen Volkes«, müsse man sich einleben, akzeptiert, ja geliebt werden: »Noir avec les Noirs, Jaune avec le Jaunes, Rouge avec les Rouges«.14 LeRoys Ausführungen sind repräsentativ für die Haltung der katholischen Mission zur Wissenschaft.15 Wissen hatte der Bekehrung zu dienen, anwendungsorientiert und pragmatisch zu sein. In der Gründungsphase musste sondiert werden. Raumgreifende, schnelle und valide Einschätzungen eines Gebiets nach topografischen Kriterien waren nötig, um zu entscheiden, wo sich eine Missionsgesellschaft niederließ, wo sie ihre knappen Mittel erfolgreich investierte, welche Bevölkerungsgruppen überhaupt konvertierbar waren. In der zweiten Phase – nach der Gründung – war anderes Wissen gefragt: LeRoy beschrieb so etwas wie die Methode der teilnehmenden Beobachtung, die der Ethnologe Bronisław Malinowski in den 1920ern formulierte. Diese Missionsmethode hatte eine lange Tradition. Seit dem 16. Jahrhundert betrieben die Jesuiten in Asien kulturelle Anpassung, wollten mit Paulus in der Verkündung des Glaubens »allen alles« werden. Missionare sollten in die lokalen Gesellschaften gleichsam hineinwachsen.16 In der Praxis konnte dieser hehre Anspruch keineswegs immer umgesetzt werden. Feststellen mussten dies aber auch professionelle Ethnologen.17 Das Beispiel Schynses weist auf noch etwas hin, das LeRoy nicht aufgreifen mochte. Berichte und Geschichten von Missionaren zirkulierten nicht nur in Fachwissenschaften und großen Kulturtheorien.18 Häufiger noch fanden sie Eingang in die Zeitschriften und Broschüren, mit denen die Missionen in Europa um Spenden warben. Der Veränderungsgrad missionarischer Alltags erfahrung dürfte in beiden Fällen hoch gewesen sein.
Missionare auf Reisen: topografische Sondierungen Die historische Forschung hat die Wahrnehmungen von Reisenden oft als Spiegelung des eigenen Innenlebens interpretiert.19 Dies ist auf den ersten Blick auch für August Schynse richtig. Sein Bericht erinnert an Joseph Conrads Abenteu14 Ebd., S. 5–6. 15 Vgl. Shorter, Cross, S. 153–170. 16 Vgl. Michael Sievernich, Die christliche Mission in Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2009, S. 106–138. 17 Karl-Heinz Kohl, Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie, Frankfurt 1987, S. 39–62. 18 Vgl. etwa: Lucien Levy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, Wien 1930. 19 Vgl. z. B.: Albert Wirz, Innerer und äußerer Wald. Zur moralischen Ökologie der Kolonisierenden, in: Michael Flitner (Hg.), Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, Frankfurt 2000, S. 23–48. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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erroman »Heart of Darkness« (1898/1902). Conrad heuerte fünf Jahre, nachdem Schynse auf dem Kongo gereist war, ebendort 1890 als Kapitän eines Flussdampfers an. Urwald und Fluss sind die zentralen Allegorien seines Romans, die für den moralischen Verfall der Europäer in den Kolonien stehen. Extreme körper liche Anstrengung, Krankheit und Verletzungen, Gefahren der Reise, Niederlagen und Verlust der Ladung, all dies findet auch in Schynses Bericht seine Reflexion in der topografischen Beschreibung: Beständig lauern Krokodile, verschwinden angeschossene Antilopen unwiederbringlich im Savannengras, undurchdringlich für das Auge erstreckt sich der Wald am Ufer. Der innere Kampf zeigt sich in den Stromschnellen, die der Missionar im Ruderboot überwindet, in Dörfern, die verlassen werden, sobald Schynse sich nähert, und in den vermeintlichen Idiosynkrasien der Träger, die immer wieder anhalten, Forderungen stellen, desertieren. Kurz vor Erreichen seines Ziels, der Kassai-Mündung bei Kwamouth, schildert Schynse vom Dampfer aus das Ufer in düsterer Stimmung: [A]uf dem rechten Ufer ein elendes Dorf beim Verlassen des Pools. Wir dampfen noch zwei Stunden stromauf und machen halt um Holz zu schlagen. Im Uferdickicht sehen wir einen in Verwesung begriffenen Cadaver; die an Bord befindlichen Bangalas hoffen, ein Flusspferd zu finden, und nähern sich, kommen aber sofort zurück; es ist eine menschliche Leiche.20
Hinzu kam bei Missionaren die Intention, die eigene Zivilisierungs- und Be kehrungsmission durch düstere Zustände im Missionsfeld zu rechtfertigen. Dafür mussten aber auch die Chancen und Potenziale der jeweiligen Gebiete und Bevölkerungen aufgezeigt werden. Darüber hinaus enthält Schynses Reisebericht einen dichten Teppich topo grafischer Information. Detailliert werden Tagesetappen geschildert: z. B. das Verhalten der Träger, Witterung, Wege, Wasserstellen, ebenso die Lage der Siedlungen und die Zugänglichkeit der Bewohner. Dorfoberhäupter erfahren eine charakterliche Bewertung, Bevölkerungsgruppen werden nach anthropolo gischen Kategorien eingeordnet.21 Die lokalen Ökonomien werden evaluiert, die jeweils gefragten Tauschwaren angegeben, Gesteinsarten, Pflanzenwuchs, Bodengüte und Klima hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit beschrieben, gesunde Orte von krankmachenden unterschieden:
20 Schynse, Congo, S. 44. 21 »Die drei hier [am Ngobila-See] zusammentreffenden Racen sind äußerlich sehr verschieden. Die Bateke übertreffen die Bakongo an Größe, sind aber von mehr zartem Körperbau, ihre Gesichtszüge feiner, das Gesicht schmal, der Kopf lang, […]. Die Bayanzi dagegen sind kräftig gebaut, oft wahre Hünen, mit breiter Brust, starker Muskelbildung, eckigem Kopfe, kräftige Ruderer, im Übrigen wegen ihrer Wildheit verschrieen [!].« Schynse, Congo, S. 43. Vgl. zu den anthropologischen Einordnungen der Weißen Väter in Ruanda: Leonhard Harding, Mission und Gewalt. Zum Verhältnis von missionarischem Diskurs, Geschichtsbewusstsein und Gewalt in Rwanda, in: Mihran Dabag u. a. (Hg.), Kolonialismus, Kolonialdiskurs und Genozid, München 2004, S. 232–260. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Manyanga gilt für den ungesundesten Platz am Congo; wodurch es diesen Ruf sich angeeignet hat, weiß ich nicht, Thatsache ist, daß hier ein Europäer nie länger blieb als sechs Monate (Herr Dannfeld ausgenommen), dann mußte er wegen Krankheit weg oder starb (11 Europäer in kurzer Zeit). Sümpfe gibt es nicht, die Ufer sind unwirthlich steinig; woher die Miasmen?22
An jedem Ort werden die europäischen Entscheidungsträger identifiziert und kurz charakterisiert, nach Nationalität, Ausrüstung und nach dem Grad der Aufgeschlossenheit. Traf Schynse auf andere Reisegruppen, so glich er seine Erfahrungen ab, tauschte Informationen über die Situation am Oberen Kongo und in Europa aus: Dr. Mense, ein Landsmann aus Westfalen, Arzt des Congo-Staates, trifft ein mit einem Engländer, auf der Reise nach Leopoldville, wo er den Sanitätsdienst übernehmen soll. Er besichtigt mein Knie […]. Dann erzählt er mir Neues aus Deutschland, vom spanischen Conflicte etc. Auch die Berichte Zöller’s vom Congo sehe ich hier. Ich hatte früher die Artikel in der Indépendence belge und dem Mouvement géo graphique mit ihren scharfen Angriffen gesehen und war gespannt auf die Ursache dieses Zorns. Was Zöller über den unteren Congo bis Vivi sagt, wird jeder Unpartheiische unterschreiben.23
Ganz im Sinne LeRoys ist das Wissen, das hier aggregiert wird, ein praktisches, auf den Missionserfolg abgestimmtes. Nicht nur war die Reise genau nach zuvollziehen. Spätere Reisende konnten ihre Route planen und die Kontakt personen vor Ort identifizieren.24 Dieser sondierende Blick verweist auf die Wissensformen, die Michel Foucault in seiner Herrschaftssoziologie mit dem Begriff »Gouvernmentalité« als besonders herrschaftsnah und anwendungsorientiert im Sinne einer bio-politischen Optimierung eines Territoriums beschrieb.25 Allerdings zeigt sich bei Schynse auch der flüchtige Blick jenes Reisenden, der Distanz schnell und reibungslos überwinden möchte. Sein Ziel war, eine Station zu gründen. Waren Missionare am Ziel angekommen, veränderte sich ihr Blick, verengte sich das Raster, fokussierte auf detaillierte Untersuchungen. Eng definierte Wissensbestände wurden erhoben: Sprache, Religion, lokale Sozial strukturen und Ökonomien.26
22 23 24 25
Schynse, Congo, S. 30. Ebd., S. 27–28. Vgl. zum Lerneffekt innerhalb des Ordens: Shorter, Cross, S. 37–41. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementa lität I. Vorlesungen am Collège de France 1977/1978, Frankfurt 2006. 26 Systematische Ethnografie praktizierten die Weißen Väter erst nach 1900. Vgl. Shorter, Cross, S. 186–190. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Richard Hölzl
Missionare vor Ort: lokale »Wissensmärkte« Nach der Gründung der Mission im März 1886 waren die Patres Schynse, Merlon und Dupont nicht nur mit Roden, Bauen und Säen befasst, sondern auch damit, gute Beziehungen zur lokalen Bevölkerung zu knüpfen. Schon das Bauen bedeutet Wissenstransfer, da die »Eingeborenen« den diffizilsten Teil des Mis sionsgebäudes mit immerhin 23 m Länge und 7,5 m Breite fertigten, nämlich das Dach, während die Patres und ihre mitgebrachten Helfer den Rest übernahmen. Schynse im Gegenzug begab sich mit den Bayansi auf Jagd, erlegte Flusspferde, Krokodile und Wasservögel: Meine Canots waren sehr schwer geladen. So war wieder Überfluss in der ganzen Umgegend, neue Verbindungen angeknüpft und das Freundschaftsband mit den Eingeborenen fester angezogen. Gebe Gott seinen Segen dazu!27
Sprache, Sozialstruktur und Religion der lokalen Bevölkerung zu eruieren, gestaltete sich keineswegs einfach. So stellten die Patres erst nach sechs Monaten fest, dass die Menschen um die Station den Namen Bayansi als Beleidigung auffassten und sich selbst Bubangi nannten. Dies hatte Pater Dupont von dem Bayenye-Oberhaupt Mu-Manyama erfahren, der ihn über die jüngere Geschichte und die Konflikte der Bevölkerungsgruppen aufklärte und schilderte, wer wem aus seiner Sicht tributpflichtig sei, welche Rechte und welche Erbfolge sich daraus ableiteten.28 Für die Menschen am mittleren Kongo bedeutete die Kolonisierung der 1880er Jahre eine massive, politische und sozio-ökonomische Umstellung. Die Eliten hatten erhöhten Informationsbedarf. Dafür diente die Missionsstation als Umschlagplatz. Im Herbst 1886 etwa traf Ibiki, ein Clan-Oberhaupt aus der Umgebung, dort ein, um die Missionare »zu begrüßen«. Im Gespräch kam die Rede auf die schwindenden Elfenbeinvorräte. Ibiki versuchte die Missionare zu überreden, Elfenbein für ihn einzulagern, um den zukünftigen Anstieg der Preise zu nutzen. Langfristig stellte er den Einstieg in den Sklavenhandel in Aussicht. Die Missionare informierten Ibiki darüber, dass die Europäer den Sklavenhandel zukünftig mit Gewalt unterbinden würden. Ibiki, nun über die Ergebnisse der Berliner Kongo-Konferenz von 1884 in Kenntnis gesetzt, verließ die Station »sich den Kopf zerschlagend, um einen Ausweg zu finden«.29
27 Schynse, Congo, S. 51. 28 Ebd., S. 53–54. 29 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Pater August Schynse (1857–1891)
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Vom mühseligen Finden einer reinen Sprache Fast klingt Schynse verzweifelt: »Es hält hier so schwer eine reine Sprache zu erlernen«.30 Um ihre Bekehrungsmission erfüllen zu können, mussten die Missionare die Sprache ihrer Adressaten lernen. Dabei ging es keineswegs nur um eine bloße Verständigung, sondern um die Kodifizierung ganzer Sprachen.31 Schynses Bericht verrät die vorgefassten Konzeptionen der missionarischen Sprachforscher, die ihre Suche zu mehr als einer bloßen Verzeichnung der unterschiedlichsten Sprachen machten. Vor allem gingen sie vom Herder’schen Junktim eine Sprache/ein Volk aus. Dies war aber an den von transregionalem Handel und starker Migration geprägten Ufern des Kongo kaum der Fall. Fast alle Bewohner waren mehrsprachig und das Vokabular äußerst reichhaltig. Was die Kommunikation über räumliche und ethnische Grenzen hinweg erleichterte, erschien den Missionaren problematisch, da es »wohl für’s gewöhnliche Leben« genüge, nicht aber, um »Religion zu lehren«. Schynse engagierte einen 12-jährigen Bayansi-Jungen als Sprachlehrer, um den vermeintlich unverfälschten Dialekt zu erlernen. Doch auch er sprach »schon das Kiteke und viel vom Kibuma und Kikongo«. Ebenso verfolgten die Missionare sehr bestimmte grammatikalische Vorstellungen: »Die Abstracta bleiben zurück, es fällt so schwer, zu erklären, Verba erhält man nur zufälligerweise, ebenso wie die Conjugationen und die Wortbildung.« Diese den europäischen Sprachlehrbüchern entlehnten Vorstellungen riefen »Kopfschütteln« hervor bei den Bewohnern des KongoUfers. Ihr Spracherwerb verlief auf anderem Wege und ziemlich erfolgreich, wie Schynse konstatierte: »[E]igentümlich, wie leicht diese Leute Sprachen lernen. Es sind ja freilich alles Bantu-Sprachen mit derselben Grammatik, aber die Vo kabular-Unterschiede sind groß«. Wortschatz wurde auf der Station ausgehandelt – fragte ein Dorfbewohner bestimmte Waren nach, nutzten die Missionare die Gelegenheit zur Sprach forschung: Er nennt die Körperteile, hat aber kein Glück, alles bekannt. Dann die Einzelheiten des Hauses, er findet nur wenig. Er muß den Busch durchstöbern, lehrt uns einige Pflanzennamen und Verba, indem er uns sagt, was gerade der eine oder andere thut. Unser Hund schlief – abva aleka, der Hund schläft.32
30 Ebd., S. 65–66, siehe dort auch die folgenden Zitate. 31 Zwischen 1892 und 1914 publizierten die Weißen Väter in Algier an die 50 volkssprachliche Wörterbücher und Grammatiken sowie hunderte religiöse Bücher und Unterrichtsmaterialien. Vgl. Shorter, Cross, S. 162. 32 So erweiterten die Patres das Angebot an regionalem Obst und Gemüse im Missions garten: Schynse, Congo, S. 84 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Ndsakumba auf Reisen – die Suche nach dem »höchsten Gott« der Bayansi Im Wege der Aushandlung wurde auch die Religion der Bayansi konstruiert. Die Fragen der Missionare – nach einem höchsten Gott (ndsakumba), nach der Seele (nkuyu) – strukturierten wahrscheinlich die Antworten. Ndsakumba, laut Schynse der oberste Gott der Bayansi, wurde so, vermittelt durch ein Werk des Theologen und Paderborner Bischofs Wilhelm Schneider, zu einem Baustein in den Theorien des Ethnologen Leo Frobenius über kulturelle Aneignung. Frobenius fügte Ndsakumba in eine Ableitungstabelle von Götternamen ein.33 Derlei Übersetzungskaskaden waren durchaus typisch für das Verhältnis zwischen früher Ethnologie und Mission. Der Religionsethnologe, Missionar und Bayansi-Spezialist Josef Franz Thiel nennt heute aber für die Bayansi-Religion andere Götter: Ngwil als Schöpfergott und am ehesten Schynses Ndsakumba entsprechend, außerdem Nziam/Nziambi als klassischen, von christlichen Vorstellungen beeinflussten Hochgott sowie die im täglichen religiösen Leben präsenten Lubwij.34 Missionare wollten religiöse Begriffe finden, mit denen sich christliche Lehren möglichst genau übertragen ließen.35 Der Ethnologe Lucien Levy-Bruhl kritisierte die missionarische Ethnografie, da selbst die akribischsten Missionare immer erwarteten, »bei den Eingeborenen, unter denen sie leben, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangene Unterscheidung zwischen Körper und Seele anzutreffen«.36 Umgekehrt interpretierten Bayansi die Messfeier als nkisi, als Ritual »zum Gelingen eines Unternehmens, Schutz vor Gefahr etc.«37 Auch dies war typisch für die komplexe Aneignung des Christentums, die keineswegs mit dem abwertenden Attribut Synkretismus zu fassen ist.38
Schlussbetrachtung Die Publikationen rund um das Emin-Pascha-Spektakel werfen ein Schlaglicht auf die Rolle von Missionaren im Kolonialdiskurs des 19. Jahrhunderts. Der Geograf Franz Stuhlmann, der mit Schynse zum Viktoriasee reiste, schrieb, 33 Vgl. Schynse, Congo, S. 66; Wilhelm Schneider, Die Religion der afrikanischen Natur völker, Münster 1891, S. 81; Leo Frobenius, Die Weltanschauung der Naturvölker, Weimar 1898, S. 228. 34 Vgl. Josef F. Thiel, Religionsethnologie. Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker, Berlin 1984, S. 195–201. 35 Vgl. Shorter, Cross, S. 163–164. 36 Levy-Bruhl, Seele, S. 106. 37 Schynse, Congo, S. 67. 38 Vgl. dazu: Birgit Meyer, Translating the Devil. Religion and Modernity among the Ewe in Ghana, Edinburgh 1999. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Pater August Schynse (1857–1891)
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Schynse habe als »guter Kenner der Verhältnisse am See« und als »in astronomischen Beobachtungen geübt« gegolten. Er hielt ihn aber gleichzeitig für einen »religiösen Eiferer«, der für die Katholizismuskritik des islamischen Konvertiten Emin, vormals Dr. Eduard Schnitzer, wenig Verständnis hatte.39 Diese mehrdeutige Charakterisierung zeigt, dass Schynses Wissen nicht leicht einzuordnen ist. Zu sehr stand er zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansprüchen – seines Orden, einer katholischen Öffentlichkeit, religionskritischer Wissenschaftler, aber auch seiner Sozialisation, der theologischen Ausbildung und den Anforderungen auf den Stationen. Von der missionarischen Wissensproduktion trennen ließ sich dies damals genauso wenig wie im rückblickenden Zugriff der Geschichtswissenschaft. Zeittypisch enthalten Schynses Reiseberichte daher imperialistische Ambitionen, Legitimationen katholischer Missionsarbeit oder Vorurteile über »Primitive«. Die Brille des Europäers setzte er selten ab. Allerdings lassen sich seine Berichte ›gegen den Strich‹ lesen. So wird das Aushandeln, das bargaining, in und um Missionsstationen über Information und Wissen sichtbar. Schynses Station Bungana war eine regelrechter Umschlagplatz für Waren, Dienstleistungen und Wissen: Den Missionar interessierten Sprache, Sozialstruktur, Religion und Lebensweisen im zentralafrikanischen Tropen wald, die Bayansi politische Einschätzungen, Handelskontakte oder spirituelle Angebote der Missionare. Auf Reisen begleiteten Schynse erfahrene Träger, Führer und Dolmetscher aus dem Kongodelta und aus den jeweiligen bereisten Flussabschnitten. Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sammelte Schynse so jede Menge Erfahrung – Alltagswissen, das er sich von diesen oft sehr reiseund kontakterfahrenen Vermittlern einhandelte. Diese Erkenntnisse über kulturelle Vermittlung modifizieren die Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Reiseforschung, etwa von Marie Louise Pratt.40 Die durchaus vorhandene »kulturelle Brille« vieler europäischer Reisender verhinderte nicht immer die Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg. In den Kontaktzonen, innerhalb der Karawanenzüge, auf den Stationen, in den Hafenstädten und Plantagen entwickelten sich sehr wohl ein gemeinsamer Alltag, dichte, nicht immer asym metrische Beziehungen wie auch fundiertes transkulturelles Wissen. 39 Franz Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika, Berlin 1894, S. 11, 30. Gae tano Casati, ein italienischer Abenteurer, bezeichnete Schynse und einen Mitbruder als »leuthselig[e], intelligente, thätige Männer«, die die »Pflichten ihres Amtes« und »ernste wissenschaftliche Studien« verbanden (Zehn Jahre in Äquatoria und die Rückkehr mit Emin Pascha 2, Bamberg 1891, S. 281). Der Offizier Rochus Schmidt war begeistert von Schynses »unbeugsamer Energie, schnellem Entschluß, und großer Tatkraft« und attestierte ihm hervorragende »geistige Eigenschaften« (Geschichte des Araberaufstandes in Ost-Afrika, Frankfurt/O. 1892, S. 133–135). Der ägyptische Beamte Vita Hassan bemerkte, Stanley habe nach der Ankunft der Missionare angefangen, Kranke zu versorgen statt sie zurückzulassen (Die Wahrheit über Emin Pascha, die ägyptische Äquatorial provinz und den Sudan 2, Berlin 1893, S. 215). 40 Vgl. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, Neuaufl. London 2010, S. 7. Problematisch ist der Begriff Transkulturation als einseitiger, selektiver Transfer von einer dominanten zu einer kolonisierten Kultur. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Richard Hölzl
Am Ende meiner Lektüre von Schynses Berichten werden kulturelles »Verstehen« oder »Missverstehen« zu sehr relativen Begriffen: Kurz nach Gründung der Station Bungana hatten die Missionare eine Bayansi-Frau aufgenommen. Sie war nach einem Hexerei-Prozess aus ihrem Dorf ausgeschlossen worden. Die Missionare nannten sie hoffnungsvoll Prima, wiesen ihr eine Hütte neben dem Holzkreuz der Mission zu und hießen sie für Kost und Logis auf der Station arbeiten. Als sie nach einigen Monaten »um einen Mann« bat, versprachen die Missionare »ihr einen Mann zu kaufen«, wenn sie »sich gut führe«.41 Als die Missionare drei weitere Monate später entdeckten, dass Prima Waren in ihrer Hütte hortete, um einen Bayenye-Mann heiraten zu können, wurde sie der Station verwiesen. In ihrer prekären Lage hatte die Mission für die Frau eine einmalige Gelegenheit geboten, um sich ein neues Leben aufzubauen. Während sie ihre Arbeit auf der Station als temporäre Beschäftigung ansah, betrachteten die Mis sionare sie als potenzielle Konvertitin. Sie sollte eine Familie gründen – den Kern eines künftigen Christendorfs. Derlei Erlebnisse bewirkten bei Schynse eine selbstkritische Einschätzung seines Wissensstands. Nach einigen Jahre werde er das ein oder andere Wissensgebiet »so beherrschen«, um Abhandlungen darüber zu verfassen, schrieb er an einen Freund in Deutschland: »Wenn ich heute lese, was ich vor 18 Monaten in mein Tagebuch schrieb, da muss ich selber mich oft bemitleiden über die Naivität meiner Ideen«.42
41 Schynse, Congo, S. 54–55, S. 86–87. 42 Ebd., S. 92. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Christof Dejung
Der Kaufmann Salomon Volkart Globale Märkte und die Zirkulation von Wissen
Im November 1844 verließ der Schweizer Kaufmann Salomon Volkart seinen Heimatort im Zürcher Oberland und reiste via Neapel, Smyrna, Konstantinopel, Kairo nach Indien. Diese Reise unternahm er im Auftrag verschiedener schweizerischer, italienischer und österreichischer Industrieunternehmen. Das Ziel von Volkarts Expedition bestand darin, die Produkte dieser Firmen in N eapel, der Levante und in Indien zu vertreiben. Schon bald konnte der junge Kaufmann erste Erfolge vermelden: »[F]ür Joh. Hürlimann schickte ich einen Auftrag auf 200 Dutz. Mouchoirs 8/4, 25 Stk. Mousselinette und 41 Stk. Balzarin ein«, hielt Volkart in einem Tagebucheintrag vom Januar 1845 über seinen Aufenthalt in Neapel fest, »und saldierte für denselben eine Partie alte Fazonats imprimés und Moußlins in 651 Stücken bestehend im Ertrag von F 15000.«1 In Indien angekommen betrieb der Kaufmann intensive Marktanalysen. So besuchte er eine Seidenweberei in Poona und schickte Muster der dortigen Fabrikate an die Schweizer Textilfirma Hüni & Fierz, in der Hoffnung, »dass es Euch gelingen werde, auch hierin zu arbeiten.« Die ausgedehnte Erkundungsreise quer durch Indien, davon zeigte er sich überzeugt, werde für das Haus über kurz oder lang interessante neue Geschäftsfelder eröffnen: »[Wie] manches habe ich jezt ge sehen, was uns späterhin von großem Nutzen seyn kann und wie viele Artikel, die schon in Bombay schönen lucro lassen, lernte ich kennen«.2 Volkarts Indienreise ist ein frappanter Beleg für die Weltmarktorientierung von Teilen der damaligen europäischen Textilindustrie. So gingen um 1845 40 bis 50 Prozent aller schweizerischen Exporte nach Nord- und Südamerika und 15 bis 20 Prozent nach Asien und in den Nahen Osten.3 Auch der Erfolg 1 Zit. nach: Hans Peter, Salomon Volkart (1816–1893) (=Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Bd. 6), Zürich 1956, S. 48. 2 Zit. nach: Hans Conrad Peyer, Aus den Anfängen des schweizerischen Indienhandels. Briefe Salomon Volkarts an Johann Heinrich Fierz 1844–1845, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1961, Zürich 1960, S. 107–119, hier S. 116. 3 Leo Weisz, Die Zürcherische Exportindustrie. Ihre Entstehung und Entwicklung, Zürich 1936; Thomas Fischer, Toggenburger Buntweberei auf dem Weltmarkt. Ein Beispiel schweizerischer Unternehmerstrategien im 19. Jahrhundert, in: Paul Bairoch/Martin Körner (Hg.), Die Schweiz in der Weltwirtschaft (15.–20. Jh.), Zürich 1990, S. 183–205; B éatrice Veyrassat, 1945–1990: Bilan des recherches sur l’histoire du négoce international de la Suisse (XVIIIe siècle – Première Guerre mondial), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 41. 1991, S. 274–286. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der britischen Textilindustrie beruhte zu einem Gutteil auf der Möglichkeit, Baumwollerzeugnisse nach Westafrika, Nord- und Südamerika exportieren zu können. Dies zeigt, dass der Markt für Baumwolltextilien im 19. Jahrhundert durchaus globale Dimensionen erlangt hatte.4 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die wirtschaftliche Verflechtung weiter, wodurch sich das Volumen des Welthandels zwischen 1850 und 1913 verzehnfachte.5 Wie dieser Beitrag darlegen möchte, wäre dieser beispiellose Anstieg des weltweiten Gütertausches unmöglich gewesen, wenn er nicht von einer Zirkulation kaufmännischen Wissens begleitet worden wäre. Die Verschiffung der Waren und der Absatz in den fremden Zielländern beruhten wesentlich auf der Tätigkeit privater Handelsfirmen. Eine Analyse ihrer Aktivitäten kann aufzeigen, dass Märkte nicht automatisch durch Angebot und Nachfrage entstehen. Es bedarf vielmehr ökonomischer Akteure, die aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen diese Märkte schaffen. Dies tun sie, indem sie bestimmte Dienstleistungen – wie Selektion und Aufbereitung von Waren, Organisation des Transports, Lagerhaltung, Kreditgewährung oder Herstellung von Kundenkontakten – anbieten, die es räumlich getrennten Käufern und Verkäufern erlauben, miteinander in Beziehung zu treten.6 Aus einer handlungstheoretischen Perspektive können Märkte somit als Strukturen aufgefasst werden, die sich aufgrund des Handelns ökonomischer Akteure herausbilden.7 Ein solcher Zugang ist wiederum anschlussfähig an neuere Ansätze aus der Globalgeschichte. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson etwa plädieren dafür, Prozesse der Globalisierung »aus beobachtbaren Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen [zu] erschließen«, die sich wiederum »zu Netzwerken verstetigen und […] Stabilität gewinnen« können.8 4 Prasannan Parthasarathi/Giorgio Riello, Introduction. Cotton Textiles and Global History, in: Dies. (Hg.), The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles, 1200–1850, Oxford 2009, S. 1–13. 5 Vgl. u. a.: Wolfram Fischer, Expansion – Integration – Globalisierung. Studien zur Geschichte der Weltwirtschaft, Göttingen 1998; Cornelius Torp, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg. Die erste Welle der ökonomischen Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279. 2004, S. 561–609; Knut Borchardt, Globalisierung in historischer Perspektive, in: Jürgen Osterhammel (Hg.), Weltgeschichte. Basistexte, Stuttgart 2008, S. 217–238. 6 Emil M. Bammatter, Der schweizerische Transithandel. Eine Darstellung seiner Struktur und ein Überblick seiner Entwicklung in den Jahren 1934–1954, Lörrach 1958, S. 3 f.; Philippe Chalmin, Negociants et chargeurs. La saga du négoce international des matières premières, Paris 1985, S. 95–184. 7 Eine solche Modellierung von Märkten wird auch vorgeschlagen von Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt 2009, S. 211. Theoretisch kann dieser Zugang abgestützt werden auf die Strukturierungstheorien von Max Weber und Anthony Giddens: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Sozialökonomik Bd. 3, Tübingen 1922; Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984. 8 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 20 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Der Kaufmann Salomon Volkart
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Wirtschaftliche Transaktionen sind somit Prozesse, die wesentlich durch soziale Interaktionen ermöglicht werden. Diese wiederum können nur auf Basis von geteilten kulturellen Deutungsmustern und Wissensbeständen stattfinden.9 Gerade, wenn die geschäftlichen Interaktionen über face to face-Beziehungen hinausreichen, benötigen sie notwendigerweise Übereinkünfte, die Vertrauen herstellen und begründbare Annahmen zu künftigen Verhaltensweisen von Transaktionspartnern erlauben. Im Fernhandel bestanden hier aber höchst problematische Wissenslücken. Potenziellen Geschäftspartnern, die auf verschiedenen Kontinenten beheimatet waren, fehlten oft wichtige Voraussetzungen, um direkt miteinander ins Geschäft zu kommen. Sie konnten die Zuverlässigkeit von Geschäftspartnern nur schwer einschätzen, kannten die Eigenschaften der Produkte, die in den fernen Märkten angeboten wurden, zu wenig genau und waren oft weder mit den lokalen Geschäftssitten noch mit den fremden Sprachen vertraut. Handelsfirmen wiederum besaßen genau diese Kompetenzen und konnten so als Mittelsleute zwischen Käufern und Verkäufern auf verschiedenen Kontinenten agieren.10 Zudem sorgten sie dadurch, dass sie Pflanzen, Tierpräparate und ethnologische Objekte in ihre Heimatländer schickten und sich an der Gründung von Völker- und Naturkundemuseen beteiligten, auch für die Verbreitung von kolonialem Wissen in der europäischen Gesellschaft. Die Bedeutung von Wissen für den Fernhandel soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart gezeigt werden. Das Handelshaus wurde 1851 vom eingangs erwähnten Salomon Volkart und seinem jüngeren Bruder Johann Georg in Winterthur, einer schweizerischen Kleinstadt in der Nähe von Zürich, und in Bombay gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts war die Firma zu einem der bedeutendsten Handelsunternehmen im südasia tischen Raum geworden. Die Ausweitung der geschäftlichen Tätigkeiten führte bis 1914 zur Gründung von vier weiteren Filialen auf dem Subkontinent, zur Eröffnung je einer Filiale auf Ceylon und in London sowie von Verkaufsagenturen in China und Japan. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten zudem Filialgründungen in Singapur, New York und Bremen sowie eine Expansion nach Südamerika.11 9 Vgl. für neuere Versuche, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte miteinander ins Gespräch zu bringen: Hansjörg Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25. 1999, S. 276–301; Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt 2004; Christof Dejung u. a. (Hg.), WerkstattGeschichte. Themenheft 58. 2011: »Wissen und Wirtschaften«. 10 Janet Tai Landa, Trust, Ethnicity, and Identity. Beyond the New Institutional Economics of Ethnic Trading Networks, Contract Law, and Gift-Exchange, Ann Arbor 1994; Mark Casson, The Economic Analysis of Multinational Trading Companies, in: Geoffrey Jones (Hg.), The Multinational Traders, London 1998, S. 22–47; Geoffrey Jones, Merchants to Multinationals. British Trading Companies in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Oxford 2000. 11 Vgl. für die Geschichte der Firma: Christof Dejung, Die Fäden der Globalisierung. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2013. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Christof Dejung
Wissen über Kundenwünsche und Märkte Verschiedene europäische Staaten betrieben im frühen 19. Jahrhundert eine höchst protektionistische Wirtschaftspolitik. Da die umliegenden Märkte für die bereits hoch entwickelten Schweizer Industrieunternehmen damit nicht mehr zugänglich waren und da der Heimmarkt äußerst klein war, begannen sie, ihre Produkte – vor allem Textilien und Uhren – in großem Stil nach Nordund Südamerika sowie in den Nahen Osten zu exportieren.12 Ab 1840 rückten zudem Afrika, Indien und Südostasien als Absatzgebiete ins Blickfeld. Für ihre Exporte betrieben die Schweizer Fabrikanten eine intensive Studie der Geschmäcker, Gewohnheiten und verfügbaren Mittel ihrer überseeischen Kon sumentinnen und Konsumenten. Ab den 1830er Jahren begannen größere Industrieunternehmen, eigene Vertreter und Reisende zu beschäftigen, um aus erster Hand Informationen über gerade angesagte Farben und Muster zu erhalten.13 In vielen Fällen wurden Marktinformationen auch durch vor Ort tätige Kaufleute eingeholt.14 Wie wichtig diese Informationen waren, belegt der Bericht eines Inspektors, der 1846 im Auftrag der belgischen Regierung die Schweiz besuchte. Dieser zeigte sich überaus beeindruckt vom kaufmännischen Geschick der Schweizer Unternehmer, das demjenigen der belgischen Fabrikanten weit überlegen sei: Nous ne savons pas, comme les Suisses, quelle marchandise se vend dans chaque localité, quels sont les goûts et les habitudes des consommateurs suivant les climats et les moeurs dans les différentes parties du monde; nous travaillons trop souvent à l’aventure, comme l’on a déjà dit.15
Zur Illustration schilderte er einen Besuch in der Firma Greuter & Rieter, die Mitte der 1840er Jahre einen Zeichner nach Sumatra geschickt hatte, um Farbe, Motive und Gerüche der dortigen Sarongs zu studieren. Die Schweizer Stoff druckerei kopierte dabei sogar gewisse als Fehler wahrgenommene Unregel mäßigkeiten, da die Käuferinnen diese offenbar als Qualitätsmerkmal ansahen. 12 Hans Conrad Peyer, Von Handel und Bank im alten Zürich, Zürich 1968, S. 182–189; U lrich Pfister, Entstehung des industriellen Unternehmertums in der Schweiz, 18.– 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 42. 1997, S. 14–38, hier S. 15 f. 13 Fischer, Toggenburger Buntweberei auf dem Weltmarkt, S. 198. 14 Otto Alder, Jugenderinnerungen eines St. Gallischen Überseers aus den Jahren 1849–73. Der Familie und Freunden erzählt, St. Gallen 1929, S. 76 f. 15 »Wir wissen im Gegensatz zu den Schweizern nicht, welche Ware sich an welchem Ort verkaufen lässt, welches die Geschmäcker und die Gewohnheiten der Kunden sind, die durch die klimatischen und sittlichen Verhältnisse in den verschiedenen Erdteilen beeinflusst werden; wir arbeiten zu häufig auf Gut Glück, wie bereits früher festgestellt wurde«: Jules Kindt, Notes sur l’industrie et le commerce de la Suisse, in: Ministère de l’Agriculture et du Commerce (Hg.), Annales du commerce extérieur, Suisse. Faites commerciaux, 2, Paris 1847, S. 14–26, hier S. 23–26. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Der Kaufmann Salomon Volkart
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Salomon Volkart war einer der Vertreter, die durch die Schweizer Textilunternehmen nach Asien geschickt worden waren. Während seiner eingangs geschilderten Reise kam er zum Schluss, dass er sein neu erworbenes Wissen über den indischen Markt für sich selbst geschäftlich nutzbar machen könnte. In einem an seine Auftraggeber gerichteten Brief aus Bombay gab er bekannt, dass er vorhabe »nach Erforschung aller jener Plätze […] eine Art Exportations-Geschäft zu errichten, am lucrativesten wenn es sich agenturartig thun ließ.«16 Nachdem er in die Schweiz zurückgekehrt war, begründete Salomon Volkart zusammen mit seinem Bruder Johannes Georg am 1. Februar 1851 die Handelsfirma Gebrüder Volkart. Aufgrund ihres umfassenden kaufmännischen Wissens – auch Johann Georg Volkart war zwischen 1847 und 1850 als Agent eines deutschen Handelshauses in Bombay tätig gewesen – konnten sich die beiden Brüder schon bald erfolgreich im Handelsgeschäft zwischen Europa und Indien positionieren. Kurz nach ihrer Gründung erhielt die junge Firma Aufträge von verschiedenen deutschen, französischen und schweizerischen Industrie unternehmen, die ihre Waren auf Kommissionsbasis durch Volkart in Indien absetzen wollten.17 Darüber hinaus bemühten sich die Brüder auch um die Lieferung indischer Rohstoffe nach Europa. In einem Brief an ein Unternehmen in Marseille bot Salomon Volkart unmittelbar nach der Firmengründung die Lieferung von 1.800 bis 2.000 Ballen indischer Baumwolle an. Der Zeitpunkt für eine solche Baumwollsendung, seines Wissens »die erste Zufuhr die von Bombay aus directe nach Marseille gebracht wuerde«, sei günstig, da die Preise aufgrund der schwachen Nachfrage in Europa relativ tief seien. Außerdem falle die neue Ernte günstig aus und es seien zusätzlich 100.000 Ballen Baumwolle der letztjährigen Ernte auf den Markt gekommen, die aufgrund ihrer Verunreinigung mit Saatgut nochmals hätten gereinigt werden müssen. Sodann wird die ganze Ernte welche in den Monaten Februar bis April groeßtenteils hereinkommt unter freiem Himmel gelagert und zwar bis zu Eintritt der Regenzeit wo sie dann in die Magazine geschafft werden muss: da nun die Miethe dieser Locale sehr theuer bezahlt wird, so sucht man sie moeglichst dadurch zu vermeiden, dass man noch vor Eintritt der Regenzeit realisiert und dieser Umstand fuehrt gewoehnlich die Gelegenheit herbei billig anzukommen.18
Das Geschäft kam zwar nicht zu Stande, die Offerte zeigt aber, dass die VolkartBrüder gewillt waren, ihre profunden Kenntnisse des indischen Marktes zu nutzen, um auch das Exportgeschäft mit indischen Rohstoffen aufzunehmen. 16 Peyer, Aus den Anfängen des schweizerischen Indienhandels, S. 116. 17 Volkart-Archiv, Winterthur (VA), Dossier 1, B) Die Teilhaber, 1) Salomon Volkart, Auszüge aus dem ersten Briefkopierbuch, 3.2.1851–11.11.1851: J. G. Volkart an Mr. Johnston Bombay, 22.2.1851. 18 VA, Dossier 1, B) Die Teilhaber, 1) Salomon Volkart, Auszüge aus dem ersten Briefkopierbuch, 3.2.1851–11.11.1851: Winterthur an J. Loeffler/FA Loeffler, Naegeli & Co. Marseille, 27.2.1851 (Sal. V.). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wissen über die Zuverlässigkeit von Geschäftspartnern Eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg im Fernhandel lag darin, dass der Auftraggeber Vertrauen in die Fähigkeiten und die Ehrlichkeit eines Handelshauses hatte. Dies nicht zuletzt, weil die Handelshäuser Informationen über die jeweiligen Märkte besaßen, die für die produzierenden Firmen unerlässlich waren. Wenn es zu Absatzproblemen kam, waren die Hersteller darauf an gewiesen, dass sie sofort darüber unterrichtet wurden, um ihre Lager zu leeren und die Produktion zu drosseln. Andernfalls drohte ihnen im schlimmsten Fall der Konkurs. Das Handelshaus, das die Exporte auf Kommissionsbasis vorgenommen hatte, erlitt dagegen in einem solchen Fall nur einen geringen Verlust.19 Um regelmäßig Aufträge zu erhalten, musste die Handelsfirma zudem darum bemüht sein, Verträge unter allen Umständen einzuhalten. Georg Reinhart, ein Enkel von Salomon Volkart und ab 1904 Teilhaber des Handelshauses, meinte in der Festschrift anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Firma im Jahr 1926: »Eine der wesentlichsten Ursachen des Erfolges unserer Firma liegt in der zuverlässigen Bedienung unserer Kundschaft. […] Mit Recht sind infolgedessen unsere Abladungen in der ganzen Welt durch ihre Zuverlässigkeit bekannt.« Für Reinhart war deshalb klar: »[E]ine kaufmännische Organisation beruht […] nicht nur auf der räumlichen Anordnung des Einkaufs- und Verkaufsapparates, … sondern ebenso sehr, wenn nicht noch mehr, auf geistigen Faktoren«.20 Darüber hinaus musste die Handelsfirma stets genau über die Zahlungskräftigkeit und Ehrlichkeit ihrer Geschäftspartner informiert sein. Dies war gerade für den Erfolg in einem überseeischen Markt wie Indien essenziell. Auf dem Subkontinent waren die europäischen Handelshäuser nämlich ihrerseits auf Kooperationen mit einheimischen Kaufleuten angewiesen, da ihnen die nötigen Geschäftsbeziehungen und Sprachkenntnisse fehlten, um ohne die Vermittlung von indischen Mittelsleuten agieren zu können. Zudem besaßen sie zu wenig Kapital, um das risikoreiche indische Exportgeschäft allein durchzuführen. Wenn sie Waren aus Indien exportieren wollten, mussten sie bis in die 1870er Jahre einen Vorschuss von bis zu 80 Prozent des zu erwartenden Verkaufspreises bezahlen.21 Die dafür nötigen Mittel liehen sich die europäischen Handelshäuser häufig bei einem wohlhabenden indischen Kaufmann, der als Bankier tätig war, einem so genannten shroff.22 Oft waren solche indischen Kreditgeber vertraglich an eine Exportfirma gebunden. In diesem Fall wurden sie als Guarantee 19 Fischer, Toggenburger Buntweberei auf dem Weltmarkt. 20 Georg Reinhart, Gedenkschrift zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen der Firma Gebr. Volkart, Winterthur 1926, S. 75 f. 21 Jakob Anderegg, Volkart Brothers 1851–1976. A Chronicle, Winterthur 1976, S. 51 f. 22 Marika Vicziany, Bombay Merchants and Structural Changes in the Export Community 1850 to 1880, in: Kirti N. Chaudhuri/Clive J. Dewey (Hg.), Economy and Society. Essays in Indian Economy and Social History, Delhi 1979, S. 163–196. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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uarantee Broker bezeichnet.23 Volkart verfügte ab Juli 1851 über einen solchen G Broker. Dieser fungierte sowohl als Kreditgeber wie auch als Mittelsmann für die Vermittlung von Exportgeschäften.24 Auch beim Importhandel griffen europäische Handelsfirmen auf einheimische Guarantee Broker zurück. Gegen eine Kommission von 1,5 Prozent garantierten diese die Bezahlung der europäischen Konsumgüter, die über die europäischen Handelsfirmen an die Kaufleute im Bazar geliefert worden waren, und sie organisierten die Bestellungen für künftige Lieferungen.25 Dies zeigt, dass die ökonomische Expansion von europäischen Kaufleuten in Asien undenkbar gewesen wäre, wenn sie sich nicht der leistungsfähigen asiatischen Handels- und Kreditnetzwerke hätten bedienen können.26 Generell waren die bedeutenden indischen Kaufmannsunternehmen in den Küstenstädten bis Mitte des 19. Jahrhunderts oft nicht nur kapitalstärker, sondern sie galten häufig auch als zuverlässiger als ihre europäischen Pendants.27 Da jedoch der indische Binnenhandel gleichzeitig durch eine Unzahl von Kleinund Zwischenhändlern geprägt wurde, deren Ehrlichkeit nicht über alle Zweifel erhaben war, wurde die Wahl der richtigen Geschäftsverbindung für die europäischen Handelsfirmen zu einer wirtschaftlichen Überlebensfrage. Wenn ein zuverlässiger Broker oder shroff gefunden war, hielt die Geschäftsbeziehung oft mehrere Jahrzehnte lang. Bei den europäischen Kaufleuten genossen die indischen Geschäftspartner zum Teil eine überaus hohe Wertschätzung. Diese rührte nicht zuletzt daher, dass die Angehörigen der indischen Kaufmannselite über eine merkantile Kultur verfügten, die ähnlich war wie diejenige in Europa.28 So beschrieb ein ehemaliger Mitarbeiter von Volkart in einer Erinnerungsschrift die indischen Händler, mit denen er in den 1870er Jahren in Karachi zu tun hatte, als a class of men who would be an ornament to any commercial community in and out of India. They were honest, straightforward and reliable in their dealings with others and cautious, nay conservative, as regards their own affairs.29 23 Charles A. Jones, International Business in the Nineteenth Century. The Rise and Fall of a Cosmopolitan Bourgeoisie, Brighton 1987, S. 81; Christopher A. Bayly, Rulers, Townsmen and Bazaars. North Indian Society in the Age of British Expansion, 1770–1870, Cambridge 1983, S. 31, 163 und 178–180. 24 Anderegg, Chronicle, S. 55 f. 25 Rajat Kanta Ray, The Bazaar. Changing Structural Characteristics of the Indigenous Section of the Indian Economy before and after the Great Depression, in: Indian Economic and Social History Review 25. 1988, S. 263–318, hier S. 283. 26 Rajat Kanta Ray, Asian Capital in the Age of European Domination. The Rise of the Bazaar, 1800–1914, in: Modern Asian Studies 29. 1995, S. 449–554; Bayly, Rulers, Townsmen and Bazaars. 27 Anderegg, Chronicle, S. 57. 28 Vgl. für die Bedeutung einer geteilten kaufmännischen Kultur im Asienhandel: Christof Dejung, An den Grenzen der Kaufmannskultur? Europäische Handelsfirmen in Asien während der Kolonialzeit, in: Werner Abelshauser u. a. (Hg.), Kulturen der Weltwirtschaft (= Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 24), Göttingen 2012, S. 159–181. 29 August F. Ammann, Reminiscences of an Old V. B. Partner, Special Number of the V. B. News. Published by Volkart Brothers, Winterthur, and Devoted to the Interests of their Employees, 1921, S. 59. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wissen über die Beschaffenheit der gehandelten Produkte Aufgrund der großen Distanzen zwischen Europa und Indien lagen zwischen dem Moment, in dem europäische Industrieunternehmen bei einer Handelsfirma Rohstoffe wie Kokosbast, Baumwolle, Kaffee oder Gewürze bestellten, und dem Moment der Ablieferung oft mehrere Monate. In dieser Zeit konnte sich der Preis der Waren stark verändern. Auch wussten die Industriellen nie genau, wie die tatsächliche Qualität der Ware sein würde, die sie beim bestimmten Handelshaus bestellt hatten. Die Handelsfirma versprach lediglich, gegen eine fünf prozentige Kommission zum bestmöglichen Preis Waren zu beschaffen, welche der Durchschnittsqualität der saisonalen Ernte entsprachen.30 Diese Geschäftspraxis kam mit der Einrichtung des telegrafischen Verkehrs zwischen Europa und Indien Mitte der 1860er Jahre zu einem raschen Ende. Durch die Telegrafie hatten die Käufer in Europa eine bessere Möglichkeit, die Angebote verschiedener Handelsfirmen miteinander zu vergleichen. Die Handelsfirmen waren in der Folge gezwungen, den europäischen Abnehmern Preislisten vorzulegen, und die Käufer konnten aus den verschiedenen Offerten, die sie erhielten, die für sie günstigste auswählen.31 Dazu mussten die Handels häuser in der Lage sein, den europäischen Industrieunternehmen eine einheit liche und klar definierte Produktqualität liefern zu können. Um diese qualitativen Standards garantieren zu können, aber auch um der Konkurrenz von kleineren Handelsfirmen zu begegnen, welche nach Eröffnung der Telegrafenlinie in den Küstenstädten aktiv wurden, gingen die größeren Handelshäuser dazu über, ihre Produkte nicht mehr wie bis dahin üblich von Zwischenhändlern in den Bazars von Bombay und Karachi zu kaufen, sondern ein Netz von Einkaufsagenturen im Landesinnern einzurichten. Dies war etwas, was die europäischen Handelshäuser seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder versucht hatten, womit sie aber aufgrund der schlechten Transportrouten stets gescheitert waren.32 Durch die Verbesserung der Transportwege, namentlich dem Bau eines leistungsfähigen Eisenbahnnetzes, das in den 1880er Jahren bereits 10.000 Meilen umfasste, war dies endlich möglich geworden.33 Bis in die 1920er Jahre eröffnete Volkart etwa hundert Einkaufsagenturen auf dem ganzen Subkontinent.34 Diese erlaubten es insbesondere, die Qualität der eingekauften Rohstoffe besser zu kontrollieren. Ab den 1860er Jahren war der Export von indischer Rohbaumwolle das wichtigste Geschäftsfeld der Firma. Durch die Möglichkeit der Selektion im Landesinnern konnte Volkart in den 30 31 32 33
Ebd., S. 9 f. Ebd., S. 3–5. Bayly, Rulers, Townsmen and Bazaars, S. 249–254. VA, Dossier 62: ex GR persönliches Archiv II, Verbesserungen im Geschäftsbetrieb und verschiedene Anregungen, 1896–1924: Darstellung unserer Organisation, Winterthur, Dezember 1921. 34 VA, Dossier 3: Bombay I, 4. Table of Events 1851–1961/2. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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1870er Jahren standardisierte Baumwolltypen etablieren, die sich durch eine jeweils einheitliche Farbe, Faserlänge und Festigkeit auszeichneten. Die Einführung dieser Typen wurde zentral für das Geschäft der Firma. 1870 hatte Salomon Volkart in einem Brief an die Filiale in Bombay geschrieben: Wenn es Ihnen gelaenge, in Oomra gewisse Typen festzusetzen und bei denselben zu verharren, so waere das von großer Wichtigkeit fuer unser Geschaeft. Die Qualitaeten muessten durch besondere Marken bezeichnet werden und falls sie immer gleichmaeßig ausfielen so wuessten unsere Abnehmer jederzeit, was sie für Baumwolle zu erwarten haben.35
Die Selektion dieser Typen geschah durch Verwendung des Klassierungssystems der Liverpooler Baumwollbörse. Die Firma Volkart bezeichnete ihre Baumwoll typen als Bombay Classements.36 Diese galten bei den europäischen Spinnern schon bald als Standards für indische Baumwolle. Volkart gelang damit die »Eta blierung einer Marke V. B.37, die von gewissen Abnehmern extra gut bezahlt [wurde]«, wie es in einem Brief aus dem Winterthurer Haupthaus von 1922 hieß.38 Durch die Verbesserung der Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten erfolgte somit Ende des 19. Jahrhunderts eine Systematisierung und Beschleunigung der Wissenszirkulation im globalen Handel. Doch auch wenn die Unabwägbarkeiten des Fernhandels durch diese Neuerungen ein Stück weit verringert werden konnten, war dieses Geschäftsfeld bis in die Gegenwart hinein wesentlich durch personalisierte Vertrauensbeziehungen geprägt. So hielt ein leitender Angestellter von Volkart hierzu 1960 fest: Ueberseegeschäft ist ein Vertrauensgeschäft. Man kauft und bezahlt Ware, die man erst nachher zu Gesichte bekommt. Es empfiehlt sich also, sich an zuverlässige Lieferanten zu halten, die man aus Erfahrung kennt und bei denen man auf Grund früherer Abschlüsse weiss, dass man auf sorgfältige Ausführung des Geschäftes zählen kann.39
Verbreitung von ethnologischem und naturkundlichem Wissen Gerade weil der Fernhandel hohe Anforderungen an das Produktwissen und die interkulturelle Kompetenz der europäischen Kaufleute stellte, war deren Ausbildung zentral für den geschäftlichen Erfolg. Die Firma Volkart verlangte von 35 VA, Dossier 1, B) die Teilhaber, 1) Salomon Volkart, 3. Privat-Copierbuch 9.1.1867– 25.8.1870, 22.12.1870 Winterthur an Bombay. 36 Gebrüder Volkart, Calculationstabellen Gebrüder Volkart Winterthur, Winterthur 1873, S. 14. 37 V. B. ist die Abkürzung von Volkart Brothers. 38 VA, Dossier 13: London/Liverpool (VB + Woods&Thorburn)/Bremen: Bremen (incl. Hamburg office), 3. Correspondence: Winterthur an Bremen, 9. Juni 1922. 39 VA, Dossier 48: Artikel/Abhandlungen/Gedichte/Briefe etc. von ehemaligen Mitarbeitern: O. Kappeler, Ueberseehandel, 23.11.1965. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ihren Angestellten ein intensives »Studium der Eingeborenensprachen«, damit sie sich »in überseeischen Ländern ohne Vermittlung von Dolmetschern fliessend verständigen können«, wie es in der Festschrift zum 75. Jubiläum des Handelshauses hieß.40 Darüber hinaus bemühten sich kaufmännische Kreise darum, Wissen über koloniale Gebiete zu sammeln und in ihren Heimatländern zu verbreiten. So finanzierten die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Schweizer Städten gegründeten geografischen Gesellschaften, die wesentlich durch Kaufleute getragen wurden, Expeditionen von Geografen, Naturkundlern und Ethnologen. Zudem initiierten sie den Bau von ethnografischen Museen und stellten für diese die Exponate zur Verfügung, die sie über ihre überseeischen Niederlassungen in die Schweiz bringen ließen.41 Ähnliches geschah in Deutschland. 1861 richtete der Hamburger Kaufmann und Reeder Johan Cesar Godeffroy in seinem Kontorhaus ein privates Museum ein. Dieses stellte zoologische, botanische und völkerkundliche Objekte aus, die Godeffroy durch die Kapitäne seiner Schiffe in die Hansestadt hatte bringen lassen. Das Museum war, im Gegensatz zu vielen damaligen Privatsammlungen, öffentlich zugänglich und erlangte in Wissenschaftskreisen schon bald Weltruf.42 Auch die Gründung des Städtischen Museums für Natur-, Völker- und Handelskunde in Bremen 1896 und seines Vorgängers, dem 1808 eröffneten naturwissenschaft lichen Museum, wurde nicht zuletzt durch lokale Kaufleute vorangetrieben. Diese brachten in der Folge auch immer wieder ethnografisches Material – vor allem aus Westafrika – nach Deutschland.43 Im späten 19. Jahrhundert wurde die Sammlung von ethnografischem und naturkundlichem Material zunehmend professionalisiert. Es wurden großangelegte Expeditionen ausgerüstet, die ständig neue Objekte und Wissensbestände in die europäischen Metropolen brachten.44 Wie gezeigt wurde, spielten euro päische Kaufleute jedoch bei der Gründung von wissenschaftlichen Gesellschaften und Museen oft eine zentrale Rolle. Hinter dieser Initiative standen unterschiedliche kommerzielle und soziale Interessen. So sollte die Vermittlung von kolonialem Wissen die angehenden Fernhandelskaufleute auf ihre spätere Tätigkeit vorbereiten. Die Gründung des Bremer Museums wurde in einer Eingabe an den Senat folgendermaßen begründet: Denn die Kenntnis von den Waren und Produkten, mit denen sich der Handel beschäftigt […] je nach Ursprungsländern, besitzt nicht nur an sich den größten Wert, 40 Reinhart, Gedenkschrift, S. 77. 41 Andreas Zangger, Koloniale Schweiz. Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860–1930), Bielefeld 2011, S. 359–377. 42 Helene Kranz (Hg.), Das Museum Godeffroy, 1861–1881. Naturkunde und Ethnographie der Südsee, Hamburg 2005. 43 Bettina von Briskorn, Zur Sammlungsgeschichte afrikanischer Ethnographica im Übersee-Museum Bremen 1841–1945, Bremen 2000. 44 Vgl. etwa für die Völkerkunde: H. Glenn Penny, Objects of Culture. Ethnology and Ethno graphic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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sondern kommt dem Handel selbst, dem Haupterwerbszweig in unserem Gemein wesen dadurch unmittelbar zugute, daß demselben Kräfte zugeführt werden, deren Anschauung in dem Museum belebt, und deren Interesse daselbst geweckt und gefördert werde.45
Zudem boten die geografischen, ethnografischen und naturkundlichen Gesellschaften, die im 19. Jahrhundert in zahlreichen Städten gegründet wurden, den Kaufleuten auch eine Möglichkeit, durch die Schenkung von Exponaten soziales Prestige zu erwerben. Dies erleichterte ihnen nicht zuletzt ihre Wiedereingliederung in die bürgerliche Gesellschaft, wenn sie nach jahrzehntelanger Tätigkeit in den Kolonien nach Europa zurückkehrten.46 All diese Prozesse verweisen darauf, dass ökonomische Beziehungen weit mehr beinhalteten als Finanztransaktionen und den Austausch von Gütern. Die wirtschaftliche Globalisierung des 19. Jahrhunderts basierte nicht zuletzt auf kulturellen Grundlagen und der weltweiten Zirkulation von Wissensbeständen. Dies verdeutlicht, dass auch wirtschaftshistorische Vorgänge ein wichtiges Untersuchungsfeld der Sozial- und Kulturgeschichte darstellen können.
45 Zit. nach: von Briskorn, Zur Sammlungsgeschichte, S. 60. 46 Zangger, Koloniale Schweiz, S. 377. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Bettina Brockmeyer
Der Kolonialbeamte Rudolf Asmis Im Jahre 1912 schrieb Eduard Sachau, Direktor des Berliner Seminars für Orientalische Sprachen, in einer Denkschrift über sein Institut: Was wir 1887, als das Seminar gegründet wurde, von den realen Verhältnissen in Ostafrika oder Deutsch-Südwestafrika wußten, als das Reich dort festen Fuß faßte, war außerordentlich wenig, und was wir seinerzeit über Kamerun und sein Hinterland wußten, war gleich Null. Und jetzt? Eine gewaltige, fruchtreiche Forschertätigkeit hat eingesetzt, eine ausgebreitete Literatur hat sich angesammelt, einzelne Teile unserer Kolonien sind so bekannt wie Teile des Deutschen Reiches.1
An dieser »gewaltigen« und »fruchtreichen Forschertätigkeit« hatten die Kolo nialbeamten des Deutschen Kaiserreiches ihren Anteil. Wie – das möchte ich im Folgenden darstellen. Die Kolonialbeamten, verstanden ganz allgemein als Männer, »die für den Dienst eines Schutzgebietes angestellt«2 waren, kamen oft lediglich mit einer beruflichen, nicht jedoch mit einer kulturellen, sprachlichen oder bevölkerungskundlichen Vorbildung in die Kolonien. Bis zum Ende deutscher Kolonialherrschaft war es im Reich nicht gelungen, eine einheitliche oder überhaupt verbindliche Ausbildung für Kolonialbeamte zu etablieren.3 Dabei betonte auch 1 Ed[uard] Sachau, Denkschrift über das Seminar für Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin von 1887 bis 1912, Berlin 1912, S. 20 f. 2 Reichs-Kolonialamt (Hg.), Besoldungsregelung der Kolonialbeamten der afrikanischen und Südsee-Schutzgebiete vom 1. April 1910 ab nebst Kolonialbeamtengesetz, Berlin 1910, S. 55. Der Begriff »Kolonialbeamter« kann streng genommen erst ab 1892 gelten, da die Beamten vorher noch aus dem Reichshaushalt bezahlt wurden und erst ab dann zum »Schutz gebiets«-Etat gehörten. Das Gesetz von 1810 fasst den Begriff jedoch sehr weit und in diesem Sinne werden hier auch all diejenigen als Kolonialbeamte verstanden, die in der Verwaltung der Kolonien vor Ort arbeiteten, egal, ob sie einen zivilen oder militärischen Hintergrund hatten und ob sie Beamte oder Angestellte waren. Vgl. zum Begriff auch: Bettina Zurstrassen, »Ein Stück deutscher Erde schaffen«. Koloniale Beamte in Togo 1884–1914, Frankfurt 2008, S. 35. 3 Zu den wenigen existierenden Ausbildungsinstitutionen im Reich siehe: Jens Ruppenthal, Kolonialismus als »Wissenschaft und Technik«. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908 bis 1919, Stuttgart 2007; Eckhard Baum, Daheim und überm Meer. Von der Deutschen Kolonialschule zum Deutschen Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen, Witzenhausen 1997; Holger Stoecker, Das Seminar für Orientalische Sprachen, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 115–122; Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft« – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Mechthild Rommel/Hulda Rautenber, Die kolonialen Frauenschulen von 1908–1945, Witzenhausen 1983. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der Nationalökonom und spätere Gründungsrektor der Universität Hamburg, Karl Rathgen, in seiner Rede zur Eröffnung des Hamburger Kolonialinstituts 1908, dass der »ideale Kolonialbeamte« eigentlich dem Beamten in der Heimat noch haushoch überlegen sein solle: Er müsse »ganz anders vielseitig sein«, da er »auf sich selbst angewiesen«, ohne kollegiale Unterstützung sei und »keine Handbibliothek zu seiner Orientierung« habe.4 Die mangelnde Vorbildung hielt die Kolonialbeamten gleichwohl nicht davon ab, sich im kolonialen Alltag und mithilfe des vorhandenen Wissens von Europäern vor Ort, zum Beispiel von Missionaren und Missionsschwestern, zu selbst ernannten Experten spezifischer Kenntnisse zu entwickeln. Hier zeigt sich die von Rathgen postulierte Vielseitigkeit, denn es bildeten sich mithilfe einer freimütigen, eklektischen Autodidaktik Volkskundler, Sprachforscher, Botaniker, Geografen, Rechtsexperten und Architekten heraus. Um nur zwei Beispiele zu nennen, die beide auf ein Interesse an bestimmten Kenntnissen wie aber auch an Repräsentation hinweisen: Der Arzt Herrmann Kersting hatte seine Station in Togo angeblich mit Pflanzen verschönert, die, ins Reich eingeschickt, nach ihm benannt worden waren5 – aus dem Mediziner wurde in Übersee unversehens ein Botaniker. Der Offizier Hans Georg von Doering entwickelte sich in Togo anscheinend zum Architekten, indem er seinen Amtssitz »nach Art eines ostpreußischen Herrenhofes« bauen ließ.6 Ein besonders produktiver Experte auf unterschiedlichen Gebieten war der promovierte Jurist Rudolf Asmis (1879–1945). Asmis, im Kolonialdienst mit Unterbrechungen von 1906 bis 1912 tätig, hatte für dieses Expertentum eine pragmatische Begründung: Wissenschaftliche Betätigungen hülfen schlicht gegen die Einsamkeit in Übersee nach Dienstschluss.7 Denn der weiße Mann saß in seinem »Mahnmal kolonialer Macht weithin sichtbar in der eroberten Landschaft«8 und suchte nach Zerstreuung. Manch einer wählte das Abenteuer, zum Beispiel auf der Jagd.9 Asmis selbst befasste sich nach eigener Aussage »gern
4 Karl Rathgen, Beamtentum und Kolonialunterricht. Rede, gehalten bei der Eröffnungsfeier des Hamburgischen Kolonialinstituts am 20. Oktober 1908, Hamburg 1908, S. 49. 5 Vgl. Rudolf Asmis, Kalamba Na M’Putu. Koloniale Erfahrungen und Beobachtungen, Berlin 1942, S. 67. 6 Rudolf Asmis, Erfahrungen aus meinen kolonialen Wanderjahren, München 1941, S. 15. Pesek weist auch auf diese von Kolonialherren wie Hermann von Wissmann explizit geforderte »Nebentätigkeit« von Kolonialbeamten hin und nennt noch mehr Beispiele, siehe: Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt 2005, S. 269. 7 Vgl. Asmis, Kalamba, S. 70. 8 Pesek, Koloniale Herrschaft, S. 254. Pesek beschreibt die Stationen in Deutsch-Ostafrika sehr eindrücklich als »Inseln von Herrschaft«, die von Reisenden sogar als »potemkinsche Dörfer« wahrgenommen wurden. Ebd., S. 244–259, hier S. 254. 9 Zur Bedeutung des Abenteuers und Jagens siehe auch: Sandra Maß, Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Bedeutung kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006, S. 142–157. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mit den geschichtlichen Vorgängen und den rechtlichen Verhältnissen unter den Eingeborenen.«10 Freilich waren nicht alle Kolonialbeamte Wissenssammler und -verbreiter. Außerdem merkt Michael Pesek zu Recht an, dass die Verbindung zwischen dem laienhaft entwickelten Wissen in den Kolonien und der Wissenschaft im Reich letztlich noch nicht geklärt ist.11 Zu vermerken ist jedoch, dass zahlreiche Kolonialbeamte an der kolonialen Wissensproduktion und -distribution Anteil hatten. Darauf weisen eine Vielzahl eigener Publikationen und Beiträge in zeitgenössisch renommierten kolonialpolitischen und -wissenschaftlichen Zeitschriften, wie zum Beispiel der Kolonialen Rundschau, hin. Für Kamerun zeigt Albert Gouaffo außerdem anhand einer Zusammenstellung der Schriften von Kolonialbeamten die schrittweise Erforschung des so genannten Hinterlandes.12 Gouaffo nimmt diese Schriften ausdrücklich in den Fundus des produzierten Wissens über Kamerun mit auf. Bei Rudolf Asmis ist die Einbringung in populärwissenschaftliche wie auch in wissenschaftliche Debatten des Kaiserreiches – und darüber hinaus – evident. Er veröffentlichte unter anderem im Journal of the African Society, in der Kolonialen Rundschau, in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, in The Living Age und in den Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg. Darüber hinaus verfasste er zahlreiche selbständige Buchpublikationen und hielt, wie sein Nachlass dokumentiert, kolonialpolitische sowie wirtschafts historische, auf seine Erfahrungen in Übersee bezogene Vorträge bei unterschiedlichen Veranstaltungen und Gesellschaften im Reich. Insofern war Asmis ein Akteur der von Sachau hervorgehobenen Forschertätigkeit. Mehr noch: Er war ein Protagonist der kolonialen Publikationsarbeit, und zwar in akademischen ebenso wie in populärwissenschaftlichen Medien und in der politischen Öffentlichkeit sowohl des Kaiserreiches als auch Europas. Jede seiner Lebens- und Arbeitsstationen hinterließ umfangreiche schrift liche Spuren eines erworbenen und postulierten Wissens, deshalb skizziere ich kurz seinen Werdegang:13 Rudolf Asmis, geboren 1879 in Mesekenhagen/Vor pommern als Sohn eines protestantischen Amtmannes, gestorben/verschollen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1945, studierte Rechtswissenschaften und legte gleich zwei Promotionen ab.14 1906 trat er der Kolonialabteilung des Aus10 Asmis, Kalamba, S. 67. 11 Siehe zu einer kritischen Diskussion der Beteiligung von Kolonialbeamten an der Wissensproduktion: Pesek, Koloniale Herrschaft, S. 295–299. 12 Albert Gouaffo, Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun-Deutschland (1884–1919), Würzburg 2007, S. 60 f. 13 Vgl. zum Lebenslauf v. a. den Eintrag: Rudolf Asmis, in: Auswärtiges Amt, Historischer Dienst (Hg.), Biographisches Handbuch des Auswärtigen Dienstes: 1871–1945, Bd. 1, Paderborn 2000, S. 52–54. 14 Die zweite Promotion deutet bereits auf Asmis’ berufliche Interessen hin: Rudolf Asmis, Britisch-Afrika in dem geplanten britischen Reichszollverein, Diss. Universität Greifswald 1906. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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wärtigen Amtes bei, ging im selben Jahr zunächst nach Kamerun, dann bis 1912 nach Togo, wechselte 1912 in die konsularische Laufbahn und war als Konsul zur kommissarischen Verwendung bis 1914 im Belgischen Kongo. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er in Brüssel in der Verwaltung des Generalgouvernements Belgien. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst für das Reichsamt, dann für das Reichsministerium des Innern, ab 1920 wieder für das Auswärtige Amt. Er war von 1922–1924 der Diplomatischen Vertretung in Moskau zugeteilt, 1924 in Peking, von 1925–1932 Gesandtschaftsrat in Bangkok, 1932–1939 Konsul in S ydney und schließlich bis 1944 am Reichskolonialamt in Berlin. Asmis arbeitete für eine Monarchie, eine Republik, eine Diktatur an zahlreichen Orten weltweit.
Wissensgenerierung und Wissensverbreitung Quasi nichts hätten die Wissenschaftler des Kaiserreiches über Kamerun gewusst, bevor das Seminar für Orientalische Sprachen auf den Plan getreten sei und dieses Unwissen erfolgreich bekämpft habe – so jubilierte Sachau 1912. Auf dieses, wenn auch durchaus schon länger durch Reisende, Missionare und Andere generierte Wissenskorpus bezog sich Rudolf Asmis, als er 1906 in die deutsche Kolonie Kamerun ging, und zugleich trug er seinen Teil zu dessen Kon solidierung und Verbreiterung bei. Die koloniale Situation15, auf die Asmis traf und die zum Verständnis der von ihm produzierten Texte hier zumindest angerissen werden soll, war in etwa die folgende: Als von Händlern wie Adolph Woermann zur Kolonialisierung aus ersehenes Gebiet blieb Kamerun bis zur Jahrhundertwende eine von einigen wenigen deutschen Kaufleuten stark geprägte Kolonie. Eins von vielen Problemen innerhalb dieser Kolonie erwuchs aus dem Versuch, die Bevölkerungsgruppe der Duala zu unterwerfen.16 Die Duala waren zum Großteil Händler, die bereits seit 15 Leonhard Harding verwendet den Begriff, der eigentlich auf einen grundlegenden Aufsatz von Georges Balandier zurückgeht, um ausführlicher die »Situation« in Europa, im Deutschen Kaiserreich und in Kamerun zu beschreiben. Leonhard Harding, Die koloniale Situation, in: ders. (Hg.), Mpundu Akwa. Der Fall des Prinzen von Kamerun. Das neuentdeckte Plädoyer von Dr. M. Levi, Münster 2000, S. 59–83; auch: Georges Balandier, Die koloniale Situation. Ein theoretischer Ansatz [1952], in: Rudolf von Albertini (Hg.), Moderne Kolonialgeschichte, Köln 1970, S. 106–124, und dazu siehe v. a.: Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, S. 33–55. 16 Zu Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft und zum seit den 1880er Jahren und bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit in Kamerun existierenden und z. T. gewaltsamen Konflikt zwischen Kaufleuten, der Kolonialverwaltung und den Duala siehe bes.: An dreas Eckert, Die Duala und die Kolonialmächte: eine Untersuchung zu Widerstand, Protest und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg, Münster 1991; Ulrike Schaper, Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916, Frankfurt 2012; Ralph A. Austen, Jonathan Derrick, Middlemen of the Cameroons Rivers. The Duala and their Hinterland, c. 1600 – c. 1960, Cambridge 1999, S. 93–137; Martin Njeuma (Hg.), Introduction to the History of Cameroon. Nineteenth © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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längerer Zeit Handelserfahrungen mit Europäern hatten und darüber hinaus teilweise selbst in Deutschland oder Großbritannien ausgebildet worden waren. Die in deutscher Wahrnehmung mächtigsten Gruppen waren die Akwa und die Bell,17 wobei letztere sich im Sinne der Kolonialherren erfolgreicher an die deutsche Besatzung anpassten. Ralph A. Austen und Jonathan Derrick bezeichnen die Duala als »Middlemen of the Cameroon Rivers«,18 die eine zentrale Position zwischen dem Handel mit den Europäern an der Küste und demjenigen mit der Bevölkerung im so genannten Hinterland einnahmen. Insgesamt war die Kolonisierung Kameruns von Beginn an konfliktreich und gewalttätig. Eine Besonderheit dieser Auseinandersetzungen ist, dass die Duala versuchten, sich nach deutschem Recht zur Wehr zu setzen, indem sie sich 1902 an die Kolonialabteilung in Berlin und 1905 an den Reichstag wandten. Sie handelten damit als Subjekte des Deutschen Reiches, sie sandten Petitionen und sogar Delegierte nach Berlin und versuchten, auf juristischem Weg Einfluss auf die koloniale Herrschaft zu nehmen. Die erste Amtshandlung Rudolf Asmis’ steht in diesem Konflikt-Zusammenhang. Die Beschwerde einiger Repräsentanten der Bevölkerungsgruppe der Akwa von 1905, die an den Reichskanzler und den Reichstag ging, beinhaltete 24 Anklagepunkte gegen die deutsche Kolonialherrschaft, insbesondere auch gegen den Gouverneur Jesko von Puttkamer und den Bezirksamtmann von Douala, Eduard von Brauchitsch. Sie entwarf ein ganzes Tableau von Grausamkeiten: Steuer- und Arbeitszwänge, als ungerecht wahrgenommene Verurteilungen und Verordnungen, Enteignungen, Amtsmissbrauch et cetera. Hinter diesen einzelnen Punkten verbergen sich unter anderem Vorwürfe wie erzwungene Ochsenverkäufe, willkürliche Amtshandlungen, zum Beispiel Verurteilungen ohne Anhörungen, sowie der Kauf von afrikanischen Mädchen. Ende 1905 hielt auch das Gouvernement in Kamerun diese Beschwerde in Händen und die am schwersten beschuldigten Herren erhoben ihrerseits Anzeige gegen die Beschwerdeführer wegen Beleidigung. Der Bezirksrichter von Douala kam noch im Dezember 1905 in einem Verfahren von zwei Tagen zu einem Urteil mit hohen Gefängnisstrafen für die and Twentieth Centuries, London 1989; Gotthilf Walz, Die Entwicklung der Strafrechtspflege in Kamerun unter deutscher Herrschaft 1884–1914, Freiburg 1981; Karin Hausen, Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, Freiburg 1970; Adolf Rüger, Die Duala und die Kolonialmacht 1884– 1914. Eine Studie über die historischen Ursprünge des afrikanischen Antikolonialismus, in: Helmuth Stoecker (Hg.), Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Bd. 2, Berlin 1968, S. 181–257; Hans-Peter Jaeck, Die deutsche Annexion, in: Helmuth Stoecker, Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Bd.1, Berlin 1960, S. 29–95; Adolf Rüger, Die Widerstandsbewegung des Rudolf Manga Bell in Kamerun, in: Walter Markov (Hg.), Etudes Africaines. African Studies. Afrika-Studien. Dem II. Internationalen Afrikanistenkongreß in Dakar gewidmet, Leipzig 1967, S. 107–128. 17 Ich richte mich bei den Bezeichnungen nach der deutschsprachigen Forschung, die, wie Hans-Peter Jaeck betont, »pidgin-englische« sind: Jaeck, Annexion, S. 37. 18 Austen/Derrick, Middlemen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Afrikaner.19 Dieses Urteil wurde im Reichstag, der von der allgemeinen Verun sicherung im Deutschen Reich im Hinblick auf das europäische und besonders deutsche Kolonialunternehmen nicht unberührt blieb, mit Empörung auf genommen, diskutiert und in der Folge aufgehoben. Zur Begutachtung des Verfahrens und zu einer erneuten Urteilsfindung gingen Kammergerichtsrat Straehler und Rudolf Asmis im Spätsommer 1906 im Auftrag der Berliner Kolonialabteilung nach Buea, das seit 1901 Amtssitz der Kolonie war.20 Aus Berichten der Basler M ission, die einen Verteidiger der Akwa stellte, ist zu erfahren, dass es lange dauerte, bis man einen Richter fand, der bereit war, in diesem Verfahren dem darüber verstorbenen Vorgänger nachzufolgen.21 Der ehrgeizige junge Assessor Asmis, der sich nachdrücklich um eine Anstellung in der Kolonialabteilung bemüht hatte, war bereit. Er war im April 1906 als so genannter außeretat mäßiger Assessor in die Kolonialabteilung eingetreten, wurde im August desselben Jahres zunächst nach Kamerun geschickt mit dem Auftrag, sich nach Abschluss der Verhandlungen an seinen eigentlichen Bestimmungsort, Togo, zu begeben.22 Asmis verhandelte im Oktober 1906 drei Tage als Sonderrichter und lieferte, zusammen mit Straehler, im Januar 1907 eine 72-seitige Denkschrift nach Berlin. In dieser Denkschrift wurde das Urteil, das die Angeklagten erneut für schuldig befand, ihre Strafe allerdings etwas milder bemaß, dargestellt und begründet. Die Verfasser bereiteten die Angelegenheit für ein deutsches Publikum auf. So beschrieb Straehler in seiner knapp zweiseitigen Einleitung der Denkschrift die Duala als ein[en] Negerstamm, der hauptsächlich vom Hausierhandel mit dem Hinterlande lebt. Setzt man Kamerun an Größe etwa Deutschland gleich, so entspricht die räumliche Ausdehnung ihres Bezirks annähernd einer Fläche, wie sie die Stadt Greifswald mit den nächsten umliegenden Ortschaften einnimmt.23
Die »Middlemen«-Stellung wird hier mit »Hausiererhandel« beschrieben. Zur geografischen Erläuterung dient die deutsche Peripherie: Der Heimatort des 19 Hierzu am detailliertesten: Walz, Strafrechtspflege, S. 133–141; zum zweiten Urteil: ebd., S. 141–146. 20 In der Denkschrift findet sich der Satz, dass Asmis »das zweite Urteil gegen die Akwahäuptlinge gesprochen hat.«; Bericht des stellvertretenden Direktors der Kolonialabteilung vom 13. d. Mts., betreffend das Ergebnis der Untersuchung in der Beschwerdesache der Akwahäuptlinge in Kamerun nebst Anlagen, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Nachlass Asmis (im Folgenden: PA AA NL Asmis), Bd. 62. Im vom AA herausgegebenen Biographischen Handbuch heißt es, Asmis sei Protokollführer in dem Verfahren gewesen. Auswärtiges Amt, Biographisches Handbuch, S. 52. Das entspricht dem Auftrag, den Bose Asmis am 10.8.1906 erteilte, vgl. PA AA NL Asmis, Bd. 1. In seinen Erinnerungen bezeichnete sich Asmis selbst als Leiter der Verhandlung, der »mit der Aburteilung dieser Häuptlinge betraut« gewesen sei: Asmis, Kalamba, S. 95 f., Zitat S. 95. 21 Vgl. dazu ausführlich die Darstellung bei: Walz, Strafrechtspflege, S. 141–146. Hier werden auch die Basler Missionare zitiert. 22 PA AA, NL Asmis, Bd. 1. 23 Das Folgende bezieht sich auf: Denkschrift, S. 5 f., PA AA, NL Asmis, Bd. 61. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Sonderrichters gilt als Vergleichsfolie, Douala, eine zentrale Stadt Kameruns, wird auf diese Weise – um noch einmal Sachau zu bemühen – »bekannt [gemacht] wie Teile des deutschen Reiches«. Im nächsten Schritt dieser Einführung werden Akwa und Bell differenziert. Während letztere sich in das deutsche System gut eingefunden hätten, wären die Akwa, allen voran ihr »Oberhäuptling« Dika Awa, nicht dazu in der Lage. Das liege daran, dass die Akwa »träge, feig, hinterlistig, verlogen und dabei anmaßend« seien. Diese anthropologischen Zuschreibungen entnahm Straehler, wie er schrieb, den »in Kamerun lebenden Weißen«, die den »Charakter« der Awa derart zusammenfassten. Schließlich ging Straehler auf die Stadt Douala noch einmal gesondert ein: Um es [Douala, B. B.] seiner Bestimmung zuzuführen, mußte vor allem für eine Besse rung der gesundheitlichen Verhältnisse gesorgt werden. Duala bot das übliche Bild eines Negerdorfs. […] Duala ist eine freundliche, sonnige Stadt geworden.
Mit dem hygienischen Argument stellte Straehler die umstrittene Amtsführung Eduard von Brauchitschs, die darauf abzielte, durch Enteignungen städtebauliche Segregation zu betreiben, in ein »sonniges« Licht. Hier wird auf ein Wissenskorpus der Tropenmedizin rekurriert, um den Freispruch der Kolo nialherren durch Verweis auf deren Verdienste einem deutschen Reichstag (beziehungsweise dessen Publikum) als notwendig und angemessen erscheinen zu lassen.24 Die Bildung von geografischen Analogien, die Berufung auf Erfahrungswissen europäischer Bewohner der Kolonie und der Rekurs auf prominente Ergebnisse der zeitgenössischen Tropenmedizin bildeten den Argumen tationsrahmen dieser Einführung. Die Urteilsabschrift erfolgte von Rudolf Asmis. Sämtliche Beschwerdeführer wurden wegen Beleidigung verurteilt, das Strafmaß lag zwischen einigen Wochen und eineinhalb Jahren. Keiner der Kolonialherren wurde für sein Verhalten belangt, wohl aber findet sich in einem einleitenden Absatz des eher reform orientierten Staatssekretärs des Reichskolonialamtes, Bernhard Dernburg, die vage Formulierung, dass das Vorgehen der Kolonialverwaltung in mancher Hinsicht nicht »gebilligt« werde, »die Vorschriften in verschiedenen Beziehungen als den derzeitigen Verhältnissen entsprechend nicht mehr betrachtet werden können« und er dementsprechend »Reformen eingeleitet« habe.25 In der Zusammenfassung des Urteils begründete Asmis noch einmal gebündelt die Strafen. Hier findet sich der unausgewogen anmutende Balanceakt zwischen der Anerkennung des Rechts der Kolonisierten, Beschwerde einzureichen, und der Begründung ihrer Verurteilung wegen Beleidigung der Beamten. Man 24 Siehe zur Tropenmedizin und ihren städtebaulichen Auswirkungen z. B.: Felix Brahm, Tropenmedizin, in: Pim den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte 3. Europa und die Welt, München 2012, S. 253–263, bes. 259 f. 25 Denkschrift, S. 2, PA AA, NL Asmis Bd. 62. In der Tat wurde in der Folge Jesco von Puttkamer als Gouverneur abgesetzt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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müsse bedenken, dass der »Neger« noch auf einer tieferen Stufe stehe als der »Weiße«, er als »noch nicht gleichberechtigt stehend angesehen« werde. Diese Ansicht zu beurteilen, sei »hier nicht der Ort«, aber da sie nun einmal so bestehe, wiege es eben noch viel »schwerer«, wenn ein Afrikaner sich erdreiste, Beschwerde gegen die Kolonialisten zu üben, und die Beschwerden seien noch dazu massiv gewesen. Außerdem bestrafe man in Afrika strenger als im Reich wegen der anderen Verhältnisse: So sehe ein Afrikaner zum Beispiel eine Gefängnisstrafe nicht als entehrend an.26 Nicht lange nach dem Eintreffen vor Ort hatten Straehler und Asmis ein Bild von der Bevölkerungsgruppe der Duala entworfen und vermittelten es in ihrer Denkschrift. Dieses Bild entsprach letztlich dem der Kolonialherren vor Ort und führte zu einem die Herrschaft wahrenden Ergebnis. Asmis beließ es nicht bei den Ausführungen in der Denkschrift, sondern nutzte sein erworbenes Wissen noch für einen anderen Publikationsort: In den Mit teilungen aus den deutschen Schutzgebieten erschien im Jahr 1907 ein Artikel von ihm mit dem Titel »Der Handel der Duala«. Für diesen Artikel nahm Asmis die »bekannte Beschwerdeschrift«27 von 1905 zum Ausgangspunkt. Es sei den Duala darin um den Verlust ihres Handelseinflusses gegangen, wobei sie auch behauptet hätten, dass im Annexionsvertrag von 1884 ihr Monopol gesichert worden sei. In der Tat gab es wohl bei diesem Vertrag eine angehängte Erklärung, so genannte Wishes, »that white men should not go up and trade with the ›Bushmen‹.«28 Von diesen »Wishes« wusste Asmis entweder nichts oder er stritt ihre Existenz vor der Leserschaft ab. Die in seiner Darstellung unrechtmäßige Forderung der Duala nach dem Schutz ihrer Handelsrechte bot Asmis jetzt den Aufhänger für seine Ausführungen zur Geschichte des Handels der Duala. Denn über diesen Handel sei noch wenig geschrieben, »die großen Werke über Afrika und Kamerun« würden sich kaum bis gar nicht damit befassen. Er wiederum bezöge sich »vornehmlich [auf, B. B.] mündliche Mitteilungen von Eingeborenen, Kaufleuten und Missionaren«.29 Hiernach entwickelte Asmis sehr detailliert eine Geschichte der Duala seit ihrer von ihm aus unklaren Gründen für 1706 datierten Siedlung in der Küsten- und Flussmündungsregion in Kamerun. Er stellte eine Entwicklung vom Sklaven zum Palmöl-, Palmkerne- und Elfenbeinhandel dar, zählte Tauschwaren und Preise auf, beschrieb anschaulich konkrete Tauschsituationen, das Verhältnis von Europäern und Duala sowie Geschenk- und Heiratsbräuche.30 Die 26 Ebd., S. 65–72, Zitate S. 71. 27 Rudolf Asmis, Der Handel der Duala, in: Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten, XX. Band, S. 85–91, Zitate S. 85. 28 Ralph A. Austen, The Metamorphosis of Middlemen: The Duala, Europeans, and the Cameroon Hinterland, ca. 1800– ca. 1960, in: The International Journal of African Historical Studies 16. 1983, S. 1–24, hier S. 11. 29 Asmis, Handel der Duala, S. 85. 30 Zu der nach heutiger Wissensproduktion nur sehr schwer ermittelbaren Geschichte der Duala, die auf wenigen Quellen beruht, siehe v. a. Andreas Eckert, Grundbesitz, Land konflikte und kolonialer Wandel: Doula bis 1960, Stuttgart 1999, S. 26–43. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Geschichte, die Asmis entwickelte, war eine europäische Fortschrittsgeschichte, eine Geschichte der von den deutschen Kolonialherren schließlich zum Erfolg geführten »Befriedung des Schutzgebietes«31, die neue Handelswege und -optionen ermöglicht und die Vormachtstellung der Duala zugunsten anderer Bevölkerungsgruppen aufgebrochen habe. Ganz im zivilisationsmissionarischen Sinne argumentierte er, dass es den Duala möglich gewesen sei, neue Absatzmärkte et cetera zu erwerben, sie sich jedoch, und hier meinte er besonders die Akwa, dazu nicht in der Lage gezeigt hätten. Sein letzter Absatz lautete: Die Vernichtung des Zwischenhandelsmonopols der Duala war hiernach eine notwendige Folge der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, ihre Verarmung die Folge der Indolenz und Schwerfälligkeit des mit verhältnismäßig wenigen Ausnahmen zu ernster, zielbewußter Arbeit unfähigen Volkes.32
Wirtschaftliche, zivilisatorische, historische und anthropologische Erklärungsmuster, mithin Wissen, wird in diesem Artikel zusammengefügt, um kolonialpolitische Aussagen zu treffen. Die anthropologische Erklärung zeigt dabei, wie explizit auf Stereotypen der Kolonialherren über afrikanische Bevölkerungsgruppen zurückgegriffen wurde.33 Der koloniale Herrschaftsanspruch wird ebenso wie das rechtliche Vorgehen gegen eine kolonialisierte Bevölkerungsgruppe im Duktus der Wissensvermittlung gerechtfertigt. Referenzen für dieses Wissen bilden Gespräche, angeblich auch mit »Eingeborenen« – wobei nicht deutlich wird, in welcher Sprache diese Gespräche geführt wurden, das heißt ob eventuell Dolmetscher zwischengeschaltet waren. Austen zufolge war in Kamerun zwischen den europäischen Händlern und den Duala das Machtgefälle auch an der Sprache sichtbar, denn die Duala eigneten sich etwas Englisch an, um gekehrt gab es aber keine Bemühungen. Erst die Missionare lernten die Sprache der Duala und so wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den Handelsgeschäften »English, Pidgen, or Duala« geläufig.34 Der Nachlass des Kolonialbeamten, Konsuls und Publizisten Rudolf Asmis gibt nicht nur Hinweise auf Inhalte kolonialen Wissens, sondern auch darauf, wie dieses Wissen verbreitet wurde. So zeigen zum Beispiel Briefe und weitere Unterlagen, dass Asmis nach Kriegsende einen Beitrag zur Neuverteilung der Kolonien in Afrika, bei der auch Deutschland wieder partizipieren sollte, auf dem
31 Asmis, Handel der Duala, S. 90. 32 Ebd. 33 Wobei die Faulheitszuschreibung immer auch auf die Grenzen der Kolonisation verweist, wie Andreas Eckert betont, denn hier werden Widerstände bzw. Verweigerungen vonseiten der Afrikaner und Afrikanerinnen indirekt sichtbar: Andreas Eckert, What is Global Labour History Good For?, in: Jürgen Kocka (Hg.), Work in a Modern Society. The German Historical experience in Comparative Perspective, New York 2010, S. 169–181, hier S. 175; siehe allg.: Reimer Gronemeyer (Hg.), Der faule Neger. Vom weißen Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang, Reinbek bei Hamburg 1991. 34 Austen, Metamorphosis, S. 8. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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englischsprachigen Publikationsmarkt unterbringen wollte.35 Bereits während der Kolonialzeit schrieb er auch über englische Kolonien und stand mit deren Verwaltung in Kontakt. Ulrike Lindner hat jüngst gezeigt, wie eng zum Teil die Zusammenarbeit zwischen den Kolonialmächten in Afrika vor dem Ersten Weltkrieg war.36 Asmis war ein Akteur innerhalb dieses europäischen Austausches und hat damit in direkter Weise zu einer Wissensverbreitung nicht nur im Deutschen Reich, sondern in ganz Europa beigetragen. Dabei handelt es sich zum einen um auf die genannten Weisen generiertes Wissen über die Kolonialisierten und die Kolonien, zum anderen um Wissen über das Kolonialisieren, über koloniale Herrschaft. Dass diese Wissensbestände, die freilich miteinander verknüpft und auf einander bezogen sind, zeitgenössisch nicht ausschließlich ihren Ort in Schriften und Reden hatten, die wiederum politisch eingesetzt wurden, zeigt die Beteiligung Asmis’ an der Besatzungspolitik in Belgien während des Ersten Weltk rieges. Hier wurde explizit auf Wissen und Praxis aus der Kolonialisierung Afrikas zurückgegriffen.37 Asmis trug damit eben nicht nur zu einer Expansion und Anwendung des Wissens über die Kolonisierten, sondern auch über das Kolonisieren bei. In seinen kolonialrevisionistischen Ausführungen während des Nationalsozialismus resümierte er denn auch recht zufrieden, dass der Dienst als Kolonialbeamter »keinen leichtfertigen Dilettantismus« erlaubt habe, stattdessen »gründlichstes Wissen« gefordert und »stets das Beste der Eingeborenen im Auge« gehabt habe.38
Schlussbetrachtung Die »ausgebreitete Literatur«, die sich bis 1912 »angesammelt« hatte, war unter anderem von Kolonialbeamten verfasst worden. Indem Sachau die »Forscher tätigkeit« seit 1887 herausstellte und lobte, brachte er implizit erstens die gängige Meinung zum Ausdruck, dass Afrikaner und Afrikanerinnen selbst kein Wissen über sich produziert hatten, das man am Seminar für Orientalische Sprachen hätte lehren können. Jegliches nicht aus Europa stammende Wissen wurde damit zweitens unterschlagen. Drittens schließlich, das wird bei Asmis’ v agen Ausführungen zur Generierung seines Wissens deutlich, wird die Rolle der intermediaries, also der Afrikaner und Afrikanerinnen, die von der Kolonial 35 Was ihm letztlich auch gelang, siehe: Rudolf Asmis, Africa as a World Problem, in: The Living Age 8. 1922, S. 255–262. Zu seinen Bemühungen, den Artikel über Deutschland hinaus zu veröffentlichen siehe die Akte: »Propaganda im Ausland« im PA AA, NL Asmis, Bd. 24. 36 Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt 2011. 37 Jens Thiel, »Menschenbassin Belgien«. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007, S. 29. 38 Asmis, Kalamba, S. 162. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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verwaltung z. B. als Dolmetscher angestellt worden waren, weitgehend verschwiegen.39 All das gehört zu einer wirkmächtigen, von der Kolonialherrschaft mit verbreiteten stereotypen Beschreibung Afrikas als einem Kontinent ohne Geschichte. Dieser so vielfach beschworenen Geschichtslosigkeit, die mit einer als mangelhaft wahrgenommenen Schrift- und Baukultur begründet wurde, wurde mit einer intensiven, die Einsamkeit vertreibenden Schreibtätigkeit zu Leibe gerückt. Das produzierte Material, das als Wissen in den europäischen Markt eingespeist wurde, basierte wiederum zum Teil ausschließlich auf Mündlichkeit. Referenzen für Asmis waren vor allem nicht mehr nachzuvollziehende Gespräche mit Europäern und Europäerinnen sowie angeblich auch mit Afrikanern und Afrikanerinnen während einer sehr kurzen Aufenthaltsdauer vor Ort. Dieses Wissen, das auf der Autorität der Erfahrung vor Ort basierte, wurde eklektisch gesammelt, je nach den Vorlieben der Kolonialbeamten. Juhani Koponen spricht denn auch zu Recht davon, dass der »,scientific colonialism‹ was more a slogan than a reality.«40 Die verschiedenen Fachgebiete, auf denen sich die Kolonialbeamten betätigten, und andere Forschungen in den Kolonien bildeten ein Sammelsurium, das Institutionen wie dem Seminar für Orientalische Sprachen einen Flickenteppich an Wissensbeständen zur Verfügung stellte. Dabei ist hier nur die Rede von den veröffentlichten Schriften. Dass auch die Produktion administrativen Materials, die Speisung der kolonialen Archive, wichtige Einsichten in die Herstellung von kolonialem Wissen liefert und die Fragilität ebenso wie Macht dieses Wissens zeigt, stellt Ann Laura Stoler überzeugend dar.41 Und ebenso wie für Akten der Herrschaft kann man meines Erachtens für die veröffentlichte Wissensproduktion der Kolonialbeamten sagen: »Ontologies are both productive and responsive, expectant and late.«42 In ihrer orientalisierenden Art, Ontologien herzustellen, wirkten die Wissen Schaffenden »verhängnisvoll« für die »entdeckten Völker«, wie Gouaffo den Wissenstransfer Kamerun-Deutschland resümiert.43 Denn der Transfer sollte zur Stabilisierung der Kolonialherrschaft im Reich über die Herstellung von Differenz zu den Kolonisierten beitragen und interessierte sich letztlich kaum für die Protagonisten und Protagonistinnen dieses Wissens.
39 Afrikaner und Afrikanerinnen waren in vielen Bereichen angestellt, z. B. als Eisenbahnarbeiter, Krankenschwestern, im Sekretariat, in der Übersetzung etc. Zu ihrer Rolle in der kolonialen Situation siehe bes.: Benjamin N. Lawrance/Emily Lynn Osborn/Richard L. Roberts, Introduction. African Intermediaries and the »Bargain« of Collaboration, in: Dies. (Hg.), Intermediaries, Interpreters, and Clerks. African Employees in the Making of Colonial Africa, Madison/Wisconsin 2006, S. 3–34. 40 Juhani Koponen, Knowledge, Power and History: German Colonial Studies in Tanzania, in: Ulrich van der Heyden/Achim von Oppen (Hg.), Tanzania: Koloniale Vergangenheit und neuer Aufbruch, Münster 1996, S. 118–139, hier S. 134. 41 Ann Laura Stoler, Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2009. 42 Ebd., S. 4. 43 Gouaffo, Wissens- und Kulturtransfer, S. 244. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Räume
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Räume jenseits von Kolonie und Metropole Einführung
Wissen, praktisches ebenso wie abstraktes, bewegt sich in Abhängigkeit zu Räumen und Zeiten. Es muss »getätigt«, das heißt produziert, vermittelt, verändert, angenommen und wieder verändert werden. Eben diese »Tätigung« geschieht in Abhängigkeit zu besagten Räumen und Zeiten. Dies ist der Grundtenor, der sich aus den Beiträgen von Tony Ballantyne, Stefanie Gänger und Patrick Harries ergibt. Wie jedoch Räume und Zeiten in ihrer Beweglichkeit in Bezug auf Wissensformationen strukturiert sind, bleibt zu erörtern. Damit verbunden ist die Frage, wie Räume entstehen und sich verändern. Genau darum soll es im Folgenden gehen, denn nur wenn diese Frage geklärt ist, können wir verstehen, wie Wissen im 19. Jahrhundert spezifische Formen und Inhalte aufgrund bestimmter zeiträumlicher Bedingungen annahm, die sich ihrerseits als wandelbar und unstetig erwiesen. Zunächst sei der Gedanke aufgegriffen, dass Räume zwar keine Container sind, dass aber ebenso wenig eine wie immer geartete Weltgesellschaft, in der Globalisierungen von Wissen stattfinden, völlig entgrenzt existiert.1 Bei »Räumen« – so die weitgehende Übereinstimmung in den meisten Geistes-, Sozial- und Area-Wissenschaften – handelt es sich nicht um festgelegte Entitäten, wie es etwa seit der Gründung von Nationalstaaten häufig den Anschein hatte. Vielmehr verändern sie sich stetig, werden unter Mitwirkung zahlreicher Akteurinnen und Akteure immer wieder neu erstellt. Damit gilt auch der Staat nicht länger als eine primär ordnende und homogenisierende, gar in sich ruhende Institution, die unhinterfragt vorausgesetzt werden kann. Auch der Staat ist eine wandelbare, nach innen differenziert strukturierte wie nach außen unterschiedlich weit reichende Macht, die sich nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Mobilität zahlreicher Akteurinnen und Akteure verändert. Vor allem aber haben die Debatten der letzten Jahre deutlich gemacht, dass es viele Räume jenseits des Staates gibt, die sich bis zu einem gewissen Grad besser mit einem Begriff wie dem der »Kulturen« fassen lassen. Insbesondere die kritisch mit in kolonialen Archiven dokumentierten Wissensbeständen und hegemonialen Diskursen
1 Zur Kritik am Raum als Behälter siehe bereits Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974. Zur Vorstellung von entgrenzter Räumlichkeit dann später: Wolfgang Luutz, Vom »Containerraum« zur »entgrenzten« Welt: Raumbilder als sozialwissenschaftliche Leitbilder, in: Social Geography 2. 2007, S. 29–45. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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umgehende postkoloniale Forschung hat uns diesbezüglich sensibilisiert.2 Allerdings sei davor gewarnt, »Kultur« unreflektiert mit Fremdheit und Andersartigkeit zu assoziieren, während solche Begriffe wie »Staat« oder »Gesellschaft« immer noch leichter als etwas so genanntes Eigenes gelten. Fernerhin sei davor gewarnt, in der Auseinandersetzung mit »Kulturen« in »anderen« Räumen außer Acht zu lassen, dass auch diese nach innen entlang von Kategorien der Ungleichheit und Differenz wie race, class und gender differenziert sind, zu denen man neuerdings auch Altersgruppe bzw. Generation, Nation und Religion, gar (dis) ability hinzufügen müsste.3 In dieser internen Fragmentierung entfalten alle »Kulturen« nach außen hin unterschiedliche Handlungs- und Wirkungsmächte, die wiederum räumlich spezifisch ihren Ausdruck finden. Als Akademikerinnen und Akademiker bewegen wir uns zunächst einmal in disziplinären Räumen und damit in jeweils spezifischen Arealen akade mischen Wissens. In ihnen konvergieren Interessen, Expertisen, Techniken und Diskurse. Als Akademikerinnen und Akademiker mögen wir danach streben, diese Räume und Wissensareale interdisziplinär zu öffnen. Doch müssen wir uns zuletzt immer auch in diesen Räumen positionieren. Wir können uns nicht außerhalb des wissenschaftlichen Systems begeben. Und es kann sich unter Umständen nachteilig auswirken, wenn wir uns zu stark an die Ränder dieser wissenschaftsspezifischen Räume drängen lassen. Dies unterscheidet uns von den Wissensakteurinnen und -akteuren, die uns in unseren Arbeiten beschäftigen und die in sozialer Interaktion und durch politische Entscheidungen Wissenskorpora mit einer räumlichen Dynamik versehen. Auch Globalisierungen des Wissens sind ohne mobile Akteure und Akteurinnen des Wissens nicht denkbar. Insofern fordert uns ein Band wie der von Bernd Hausberger herausgegebene, in dem globale Lebensläufe zusammengestellt sind, an der richtigen Stelle und vielleicht am radikalsten heraus, im Bemühen um globalisierte Perspektiven aus unseren disziplinären Räumen nicht einseitig makrohistorische und unfragmentierte Narrative erwachsen zu lassen.4 Ein akteurszentrierter Blick auf jene, die über globale Lebensläufe verfügen, wie auch auf jene, die Globalisierung in äußerst kleinräumigen Bezügen einfach nur erfahren,5 konfrontiert uns immer wieder mit der grundlegenden Frage, wie wir im Rahmen unserer als akademische Wissensareale konzipierten disziplinären Räume die 2 Einschlägig zum Beispiel Edward Said, Orientalism, New York 1979, oder Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Kritisch in Bezug auf einseitige Diskursorientierung, die nicht programmatisch in der postkolonialen Forschung angelegt ist, siehe: Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’Homme ZFG. 11. 2000, S. 105–119. 3 Zur Einführung siehe beispielsweise Margaret L. Andersen/Patricia Hill Collins, Race, Class and Gender. An Anthology, Belmont (CA) 2007. 4 Bernd Hausberger (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschicht lichen Geschehen, Wien 2006. 5 Kirsten Rüther, Koloniale Globalisierung. Geschichte aus dem Blickwinkel der Emma Sandile (1842– ca. 1893), in: L’Homme. EZFG 23, 2. 2012, S. 33–48. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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räumlichen Bezüge derjenigen, die wir betrachten, analytisch überhaupt erfassen können. Je nachdem, wo wir Inter- und Intradisziplinaritäten für hilfreich erachten, schärfen wir den Blick über eigene disziplinäre Grenzen hinaus oder differenzieren nach innen aus – wie gesagt, immer unter der Notwendigkeit, beim Verfassen unserer Arbeiten in unsere disziplinären Räume zurückzu kehren. Gerade in Bezug auf das Verstehen uns nicht unmittelbar vertrauter Kulturen und früherer Perioden bleibt dieses Vorgehen zentral.6
Raumkonzeptionen der Area Studies Area studies, wie unter anderem die Afrikawissenschaften, die Nahoststudien, die Lateinamerikastudien, die Nordamerikastudien, die Japanstudien, die Orientalistik, die Islamwissenschaften (!) und viele mehr, die sich in gewisser Weise auf das Verstehen geografisch entfernter, manchmal auch näherer, immer aber nicht-europäischer Gesellschaften, ihrer Sprachen, Kulturen und Geschichtsverläufe spezialisieren, stehen in einem teilweise kuriosen Verhältnis zu den so genannten Hauptdisziplinen. Sie sind im Vergleich interdisziplinärer angelegt, sollen aber häufig mit dem Wissen weniger Experten und Expertinnen ein regionales, zeitliches und methodisches Spektrum abdecken, das eine nicht re gional definierte Wissenschaft nie innerhalb eines einzigen Rahmens würde unterbringen wollen. In der interdisziplinären Auseinandersetzung mit den so genannten Hauptdisziplinen ergeben sich dann Felder der themenorientierten Debatte, die innerhalb der jeweiligen area study nicht unbedingt Konjunktur haben. Deshalb sind die an interdisziplinärem Austausch beteiligten universitären Fächer wechselseitig aufgefordert, die Rahmenbedingungen und Interpretationsparadigmen ihrer separat betriebenen Forschung kritisch zu hinterfragen, neue Fragestellungen aufzugreifen und sich an ungewohnte Historiografien anzunähern, ohne diese zum Gegenstand der eigentlichen Expertise zu machen. Erst so entsteht die Grundlage dafür, tatsächlich neu perspektivierte Geschichte zu schreiben, um nicht allein einer additiv erweiterten und im Rahmen der Globalisierungsforschung makrosperspektivisch strukturierten Geschichtsbetrachtung zu bedienen. Zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden diese so genannten area studies, die sich mit verschiedenen geokulturell definierten Weltregionen, ihren Kulturen, Sprachen, Gesellschaftsverhältnissen und Geschichtsverläufen befassen.7 Eine Aneinanderreihung von (Welt)-Regionen macht einen geschichtlichen 6 Hans Medick, ›Missionare im Ruderboot‹? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt 1989, S. 48–84. 7 Zum Beispiel Afrika, Südasien, Mittlerer Orient, Lateinamerika. Nordamerika wird klassischerweise nicht und Europa auch nicht als unter dem Paradigma der Regionalwisssenschaften zu betrachtende Region subsumiert. Siehe Birgit Schäbler (Hg.), Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Zugang jedoch noch nicht global. Die Aneinanderreihung von Wissen über einzelne Regionen erweitert zwar Kenntnisse, führt aber in der Geschichtsschreibung nicht zwangsläufig zu einem Perspektivenwechsel. In ihrer Einführung in die Geschichte der Globalisierung sprechen sich Niels Petersson und Jürgen Osterhammel sogar ganz explizit gegen die Vorstellung aus, einzelne Räume als Teile eines sich aus ihnen ergebenden großen Ganzen zu verstehen. Die Frage nach Räumlichkeit und räumlichen Bezügen stellt sich stattdessen immer wieder neu, wenn sich Historiker und Historikerinnen auf die Suche nach den großen Linien begeben.8 Nicht zuletzt deshalb bleibt der Umgang mit den Kern zonen und Grenzen unserer Disziplinen spannend, herausfordernd und häufig ein facettenreiches Wagnis.
Dynamisierung von Raumkonzepten Einen im Sinne von Beweglichkeiten und Grenzverschiebungen konzipierten Raumbegriff zu denken, birgt aber auch Schwierigkeiten. Mehrortigkeit, Grenzüberschreitung und Transnationalität strengen auch mobile Menschen an, die auf der Suche nach einer wie auch immer gearteten Verankerung sind. Gesellschaft desorientiert, wenn sie weder territorial fixiert noch integriert oder integrativ gedacht wird. Wenn eine Gesellschaft als polyzentrisch, multidimen sional und ortsplural etikettiert wird, deutet sich zumindest im 21. Jahrhundert (wieder?) auch jene Unübersichtlichkeit an, die analytisch zu strukturieren sich Sozial- und Geisteswissenschaften auf die Fahnen geschrieben haben. Außerdem – und das ist ein zentrales Problem – verdrängt die Rede in Kategorien, die mit den Zusätzen »Multi«-, »Pluri«- und »Post«- operieren, tendenziell die Frage nach den Abhängigkeiten und Machtverhältnissen. Räumlich gefasste Zirkulationen und Wechselwirkungen bleiben doch – zumindest sporadisch – auf Orte und Verankerungen angewiesen, an denen Beziehungen zwischen Akteuren, Dingen, Umwelt und Ideen im Sinne einer Globalisierung verdichtet und intensiviert werden. Nachhaltige und weit reichende Entscheidungen über den Verlauf und die Dynamik der im Sinne von Globalisierung hervortretenden Zirkulationen und Wechselwirkungen konkretisieren sich an einer ganz spezifischen Stelle, und zwar im Handeln von identifizierbaren Personen oder Gruppen, die ihrerseits wiederum Interessen verfolgen. Und doch eröffnet die Einsicht, dass Räume nicht gegeben sind, sondern durch Handlungen erstellt und verändert werden, neue Möglichkeiten, Räumlichkeiten in der Geschichte zu betrachten. Gerade für die Geschichte kolonialer Beziehungen erweist sich das als erkenntnisfördernd. Denn, um an einer ausgewählten Raumpraxis einmal konkret zu werden, so vermeintlich harmlos, wie zum Beispiel Erkundungsreisen auf den ersten Blick erscheinen, waren diese gar 8 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 20. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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nicht. Sie traten an, Räume zu verändern, und zwar zugunsten der Erkunder und ihrer Herkunfts- oder Auftragsgesellschaft und, gewissermaßen im Umkehrschluss, zuungunsten derer, die und deren Ressourcen auf diesen Reisen erkundet wurden. Gerade Erkundungsreisen, auf denen nach Bodenschätzen und anderen Ressourcen gefahndet wurde – das so genannte prospecting – oder auf denen Gebiete kartografiert wurden – das so genannte mapping – stellten Techniken dar, Grenzen zu ziehen, Handlungsbereiche zu verzerren und Raum zu rationalisieren. Die Berichte über diese Reisen, selbst wenn »im Fieber« verfasst,9 trugen zur Etablierung eines generellen Diskurses bei, der Wissen über die bereisten Regionen dominieren ließ, das meistens nicht die Sichtweise der sich lokal zu Prozessen von Globalisierung verhaltenden Akteure und Akteurinnen widerspiegelte – auch wenn diese zur globalen Erfassung neuer Wissensbestände mit beigetragen hatten. Insbesondere geografische und topografische Wissensproduktionen entsprangen in der Regel einer Sichtweise von oben und einem Selbstverständnis, damit den Anspruch auf Dominanz zu erheben.10 Diese Aktivitäten trugen – ganz im Sinne Foucaults – zu Wissensakkumulation und Möglichkeiten der Kontrolle bei. Sie boten dem Staat Grundlagen und Instrumentarien, Natur wie Räume, Menschen, Gesellschaften und ihre Orte zu vereinfachen, zu »lesen« und zu überformen.11 Eroberung und Besiedlung von Räumen wurden so effektiv ermöglicht – häufig im Namen der Verbesserung der bisherigen Lebensbedingungen.12 Diejenigen Menschen, Gruppen und Gesellschaften, deren Räume derart Gestalt verliehen wurde, mussten sich fortan zu diesen dominanten und global dominierenden räumlichen Definitionen ver halten und positionieren. Sie zu verändern, war ihnen nur bedingt vergönnt. Mit dynamischen Raumbegriffen zu operieren, kann deshalb mehreres bedeuten: Zahlreiche Studien behandeln Räumlichkeit, indem sie Netzwerke, Transfers, Zirkulationen und Wechselwirkungen untersuchen. Exemplarisch sei hier auf Lara Putnam verwiesen, die die Vorzüge einer akteurszentrierten Mikrogeschichte erläutert, mittels derer atlantische Geschichtsbetrachtungen insbesondere um ihre afrikanischen Dimensionen bereichert wurde.13 Putnam erläutert, dass der Fokus in der Erforschung der transatlantischen Sklaverei auf9 Johannes Fabian, Im Tropenfieber: Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001. 10 Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870. Paderborn 2011. 11 James C. Scott, Seeing Like A State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, insb. Kapitel 1 & 2. Grundlegende Kritik an Scotts fehlender Differenzierung des Staates nach innen und damit des Problems, dass die räumlich ungleiche Reichweite seiner Politiken nicht behandelt wird, findet sich bei Tania Murray Li, Beyond »the State« and Failed Schemes, in: American Anthropologist 107. 2005, S. 383–394. 12 David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2008. 13 Lara Putnam, To Study the Fragments/Whole. Microhistory and the Atlantic World, in: Journal of Social History 39. 2006, S. 115–130. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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grund der Quellenlage lange auf den beiden Amerikas lag. Erst mit der Einbeziehung der so schwierig und eben immer fragmentarisch zu rekonstruierenden afrikanischen Seite veränderte sich das Verständnis darüber, was bei dem Begriff der transatlantischen Sklaverei »atlantisch« eigentlich bedeutete: Es wurde sichtbar, dass transatlantische Sklaverei an interne Entwicklungen in west- und zentralafrikanischen Gesellschaften zurückgekoppelt war – auch wenn über diese Rückkoppelungen immer noch viel zu wenig bekannt ist. In anderen Untersuchungen kommt dem so genannten »Dazwischen« eine besondere Bedeutung zu. So zeigt Partha Chatterjee, dass der Zugang zu Wissen im Zuge kolonialer Globalisierung für indische Intellektuelle schwerer zu er langen war, und verdeutlicht dies am Beispiel medizinischen und gesundheitsrelevanten Wissens.14 Nicht nur führten die sich aus Europa durchsetzenden Professionalisierungsprozesse dazu, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts einstige Wissensexpertinnen und -experten nicht länger als solche angesehen wurden. Sphären des gesundheitsrelevanten Wissens, die einst im Austausch miteinander verbunden waren, wurden im Prozess der Wissensglobalisierung getrennt. Ayurvedisches Wissen wurde so als Kontrast zum Korpus westlicher Medizin definiert, was dessen Universalisierung letztlich lange verhinderte. Als »Experten« standen indische Wissensdurstige deshalb lange zwischen dem als universal geltenden medizinischen Wissen »des Westens« und den eigenen als lokal konzipierten Wissenstraditionen. Diese Grundproblematik, dass Menschen, Gruppen und Gesellschaften oft regelrecht ihr Mittelpunkt genommen wurde, führt fast unmittelbar weiter zur Beschäftigung mit solchen Orten und Räumen, die, weil nicht von Eliten und Kapitalkräftigen eingenommen, im Zuge der Globalisierung regelrecht ab gehängt wurden und in denen Transfers abbrachen. Der Afrikahistoriker Frederick Cooper mahnt, solche Orte, an die zum Beispiel in einer durch Kapitalisierung verdichteten Welt das Kapital nicht geht, mit zu berücksichtigen. Sie blieben konstitutiv für eine wie auch immer verdichtete globale Räumlichkeit und sind nicht nur in Afrika auszumachen.15 Schließlich lässt sich ein Großteil der Migrationen im 19. Jahrhundert darauf zurückführen, dass Menschen dahin gingen, wo das Geld war. Infolge der Amerikaauswanderung leerten sich beispielsweise in Deutschland ganze Landstriche, die dann entweder zur »Provinz« wurden oder die sich nachfolgend mittels einer konsolidierten Landwirtschaft, die weniger Menschen beschäftigte, »erfolgreich« an der Modernisierung beteiligten.16 Ganz explizit mit Löchern und blinden Flecken beschäftigt sich auch Jürgen Osterhammel in seiner Darstellung des 19. Jahrhunderts, auch 14 Parta Chatterjee, Our Modernity, Rotterdam 1997. 15 Frederick Cooper, What is the Concept of Globalization Good For? An African Historian’s Perspective, in: African Affairs 100. 2001, S. 189–213. 16 Man denke an das Zurückfallen ganzer Regionen in der Weber- und Leinenproduktion, siehe z. B.: Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokal geschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996, aber auch an das Aufholen solcher © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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wenn bei der Lektüre des Kapitels auffällt, dass zur Annäherung an jene Löcher die Erläuterung von Netzen zentral bleibt.17 Die nachfolgenden Beiträge greifen diese Aspekte in der einen oder anderen Weise auf und zeigen damit, dass das Denken in Peripherie und Zentrum, genauso wie das Denken in Behälter räumen oder das Denken ohne Akteurinnen und Akteure zum Teil darüber hinweggehen, dass es auch weniger intensiv vernetzte Räume gab. Sie machen überdies deutlich, dass es anregende und klug durchkomponierte Alternativen gibt, sich empirisch wie konzeptionell den vielfach programmatisch geäußerten Herausforderungen zuzuwenden, die Historikerinnen und Historiker für ihre Zunft benennen. Räume haben etwas mit Bewegung zu tun. Hierin mögen sie sich von Orten der verankerten Wissensproduktion oder Wissensdissemination unterscheiden, die allerdings für den Umgang mit Wissen weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Bewegung und Verrückbarkeit räumlicher Bezüge lassen sich vielfältig thema tisieren. Tony Ballantyne, Stefanie Gänger und Patrick Harries haben deshalb unterschiedliche Zugänge gewählt. Das lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur darauf, dass es multiple, aber eben keine beliebig wählbaren Sichtweisen gibt, aus denen heraus Raumkonstruktionen in Bezug auf Wissensdynamiken zu verstehen sind. Der Zugang wird immer auch durch das empirische Material bzw. den gewählten Materialausschnitt bestimmt, dem damit eine enorme Bedeutung zukommt.18 So thematisiert Tony Ballantynes Beitrag zu Indien Beziehungen und Wechselwirkungen innerhalb eines durch politische Abhängigkeitsverhältnisse, in dem Fall zur kolonialen Metropole Großbritannien, vorstrukturierten kolonialen Raumes. Aus diesem durch politische Abhängigkeit geprägten Raum resultierte jedoch ein Gewebe von Wissen, dass sich in ganz eigener Dynamik, wenn auch nicht autonom, über große Teile der Welt verbreitete und dabei weit über die Grenzen des Britischen Empire und seiner kolonialen Besitzungen in Indien hinaus in andere europäische Räume hineinwirkte. Damit wird nicht zuletzt auch die Steuerungsfähigkeit des kolonialen »Zentrums« infrage gestellt. Stefanie Gänger hingegen wendet sich am Beispiel der Kunst- und Antiquitätensammler einem kosmopolitischen Raum zu, an dessen Ausgestaltung zunächst einmal Sammler aus Peru und ihre Stadtvillen zentral beteiligt waren. Weit weniger als man zunächst annehmen könnte, war dieser kosmopolitische Raum also von Europa und seinen Kunstzentren geprägt. Was im ersten Moment so Regionen wie beispielsweise dem Oldenburger Münsterland nach 1880, in dem bis heute die Schweineproduktion dominiert. (Böse Zungen behaupten, es gebe mehr Schweine als Menschen in dieser Region.) 17 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kap. 14. 18 Alle der hier im Kontext der klassischen area studies ausgebildeten Autorinnen und Autoren gehen über dieses enger umschriebene regionale Feld hinaus. Auch ich muss mich hier als Regionalwissenschaftlerin zu erkennen geben: »Meine« area study sind die Afrika wissenschaften. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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aussehen könnte, als würde hier ausschließlich Peru in den Blick genommen, stellt sich bei genauerer Lektüre als ein Text heraus, der in der Fokussierung auf Peru nur einen Ausgangspunkt wählt, um anschließend einen viel weiteren Raum in den Blick zu nehmen. Dieser viel weitere Raum wurde nicht etwa durch kulturübergreifendes Agieren regional unterschiedlich verortbarer Akteure zusammengehalten, sondern durch den geteilten sozialen Status jener Sammler und Mäzene, die von unterschiedlichen Orten kamen. In der einschlägigen Sicht stellten gerade diese Sammlungen Orte dar, an denen Wissen über die Kolonien von »Kolonisierenden« verfestigt wurde. Hier aber wird eine alternative Sicht auf die Sammlungen eingenommen. Die Sammlungen werden als Orte verstanden, an denen sich als Sammler betätigende Bewohner der Kolonien selbst Wissen über wiederum andere Kolonisierte zusammentrugen, um sich in einer kosmopolitisch strukturierten Welt Status und Ansehen zu erwerben. An Gängers Beitrag schließen sich Fragen nach dem Management der Grenzen jener sozialräumlichen Gebilde an, über die Inklusion und Exklusion zu sich sozial abgrenzenden Kreisen reguliert werden. Von Patrick Harries Beitrag schließlich ließe sich im ersten Moment behaupten, dass in ihm der Verfasser ein Schweizer Missionsarchiv zum Ausgang seiner Analyse wählt. Doch bei genauerem Hinschauen lässt sich feststellen, dass Harries den Weg in dieses Archiv erst einmal in seiner Zeitlichkeit beschreitet, bevor er von dessen komprimiertem Informationsdickicht aus verschiedene Nutzergruppen und -generationen fokussiert, die hier Spuren aufnahmen und Schneisen in die Geschichte des Wissens über Afrika schlugen. Alle hier versammelten Beiträge reflektieren nicht nur Wissensdynamiken in räumlichen Bezügen. Sie historisieren auch Räumlichkeit. Das ist keine Selbstverständlichkeit, da im Blick auf bewegliche und intensiviert verschlungene Räumlichkeiten die Dimension der Transformation häufig nur am Rande mitgedacht wird. Auf diese Weise unterbreiten die Artikel nicht nur Vorschläge zur räumlichen Auseinandersetzung mit Prozessen der Globalisierung von Wissen. Sie rücken auch die durchgängige Veränderlichkeit dieser Prozesse in den Blickpunkt.
Beziehungen und Wechselwirkungen: Kolonie und Metropole Indien und das Britische Empire stellen ein geradezu klassisches Beispiel für einen durch koloniale Beziehungen abhängig verknüpften Raum dar. Lange Zeit wurde hier ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich dieser Raum aus einem steuernden Zentrum Großbritannien bzw. London und einer davon getrennt zu betrachtenden Peripherie Indien zusammensetzte. Genau diesem Verständnis setzt Ballantyne einen neuen Befund entgegen, wenn er gleich zu Beginn seines Beitrages darauf hinweist, dass das Funktionieren von Weltreichen auf Bewegung und Beweglichkeit beruht habe. Damit argumentiert er, dass auch das Britische Empire einen Raum darstellte, in dem sich verschiedene © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zunächst ähnlich starke Akteure positionierten. Ihnen gelang es, konkurrierende Wissensordnungen zu etablieren, die von Anfang an miteinander rivalisierten.19 Tatsächlich werden in neueren Forschungen Kolonie und Metropole vielfach als ein umfassendes, nach innen jeweils zu differenzierendes analytisches Feld gedacht.20 Ann Laura Stoler und Frederick Cooper plädierten vor mittlerweile mehr als fünfzehn Jahren dafür, Kolonie und Metropole als einen einzigen, durch ungleiche Beziehungen und Wechselwirkungen strukturierten Raum zu begreifen und nicht länger auf die alte Dichotomie zwischen Peripherie und Zentrum zu rekurrieren. Den zu betrachtenden Raum derart zu erweitern, eröffnete neue Perspektiven auf die Kolonien und machte überdies sichtbar, dass die Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft in Europa zentral mit Erfahrungen im nicht ausschließlich fernab stattfindenden Kolonialismus zu tun hat. So betrachtet stellt sich die Frage ganz neu, was denn das Empire eigentlich war. Insbesondere die unter dem Etikett der New Imperial History an Einfluss gewinnende Geschichtsschreibung stellt deshalb die einst als gegeben vorausgesetzte Steuerungsfähigkeit des kolonialen Zentrums infrage. Die Vertreter und Vertreterinnen dieser Historiografie verweisen auf Kolonialismus als eine multipolare und polyvalente Dynamik, die in Abhängigkeit stehende Räume mittels verschiedener Diskursen aufeinander bezog und Räume des Dazwischen eröffnete.21 In diesem Kontext sollte zum Beispiel Catherine Halls Studie zur Zivilisierung von Untertanen erwähnt werden, in der es, wenn auch aus Sicht der Metropole, sowohl um die Zivilisierung befreiter Sklaven und Sklavinnen in Jamaika wie – in Rückwirkung und aus dem britischen Engagement für die Abolition resultierend – um die Disziplinierung bürgerlicher Welten in Birmingham geht.22 Mit Jane Burbank und Frederick Cooper ließe sich dieser Befund noch verschärfen, wenn man nämlich deren Argument aufgreift, dass in Kolonialreichen durch die Zusammenbindung von Kolonie und Metropole Gesellschaften fragmentiert wurden und eklatante Unterschiede ganz bewusst und systematisch in sie hinein fabriziert wurden.23 19 Hierzu einführend für Nicht-Südasienspezialisten von einem Spezialisten: Dhruv Raina, Wissenssysteme, außereuropäische, 3. Südasien, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15, hg. von Friedrich Jäger, Stuttgart 2012, Sp. 146–156. 20 Programmatisch hierzu siehe Ann Laura Stoler/Frederick Cooper, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–56. 21 Kathleen Wilson (Hg.), A New Imperial History. Culture, Identity and Modernity in Britain and the Empire 1660–1840, Cambridge 2004; Catherine Hall (Hg.), Cultures of Empire. A Reader: Colonizers in Britain and the Empire in the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2000. 22 Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830–1867, Oxford 2002. 23 Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, S. 288–289. Der Titel ist auf deutsch als: Imperien der Welt geschichte. Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute, Frankfurt 2012 erschienen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Ballantyne konzentriert sich auf die East India Company, eigentlich eine Organisation die aus dem Zentrum kam, die aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und praktisch bis zum Einsetzen der Anglizierungspolitik 1835 mithilfe indischer Wissensexperten verschiedene in Südasien etablierte Wissenscodes zu verstehen versuchte. Damit bemühte sich die East India Company darum, sich als weitere Instanz im »Kräftefeld«24 der Region zu legitimieren und ihren Herrschaftsanspruch auszudehnen. Infolgedessen kristallisierte sich die East India Company als eine aus dem Zentrum kommende, aber dezentralisiert agierende Institution, die sich in die südasiatische Region hinein unter anderem in Colleges verankerte. In ihnen wiederum fanden wissenschaftliche Auseinandersetzungen statt, die kulturelle Grenzen überschritten. Ballantyne legt vor dem Hintergrund solcher räumlichen Rekonzeptualisierung eines Herrschaftsinstruments eine weitere Spur: Er zeigt, dass in der begeisterten Suche nach Möglichkeiten, neu entdecktes Wissen zu systematisieren, Räume zueinander in Beziehung gesehen und später auch tatsächlich gesetzt wurden, die quer zum Britischen Empire lagen. Gerade in der linguistischen Arbeit, die die East India Company anstieß, wurde mittels der Analyse von Grammatik und im Rahmen etymologischer Forschungen nach Verbindungen zwischen Sprachen gesucht, auch nach Verbindungen zwischen Sanskrit und europäischen Sprachen. So kamen im wissenschaftlichen Diskurs Großbritannien und Indien nebeneinander zu stehen. Gleichzeitig wurden gerade in frühen wissenschaftlichen Studien die grundsätzliche Monogenese sprachlicher Varianten betont und somit die Vorstellung propagiert, dass es eine an der Sprache ablesbare Einheit der Menschheit gäbe. Auch gelehrsame und offizielle Korrespondenz wie gleichsam eine Druckkultur etablierten sich als Kräfte im Feld der Beziehungen, veränderten die Machtbalance und kamen quer zum politischen Empire Indien-Groß britannien zu liegen. Hier wird ganz deutlich, dass Räume nicht nur entstehen, sondern sich auch verändern. Infolgedessen begeisterten sich beispielsweise Goethe und andere seiner Zeitgenossen an Wissensbeständen, die zunächst im kolonialgeografisch definierten Raum zirkuliert waren. Die Zirkulationen des Empire gestalteten sich aber durchlässig und anschlussfähig. Sie ermöglichten weitergehende und vor allem unabhängige Raumbildungen des Wissens. Letztlich belegen sie auch die indirekten Wirkungen des Kolonialismus in Europa und repräsentieren damit die anders als durch ko lonialunternehmerische Expansion erfolgende Anbindung europäischer Mittelschichten und ihrer Gelehrten an kolonial geprägte Denkweisen. So wob nicht zuletzt Georg Forster die Bewegung der Deutschen Romantik, Pazifikstudien und Orientalismus zusammen und trug damit zur Schaffung ganz eigener Wissens-Räume bei, in denen Indien als Ursprung, Quelle und Alternative zu jenem Wissen galt, in dem diejenigen sozialisiert worden waren, die ihrerseits 24 Zum Konzept des Kräftefeldes siehe weiterführend: Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zur Verwebung der Räume beitrugen bzw. von diesen Verwebungen maßgeblich profitierten. Diese Konzepte von Räumlichkeit greifen auf kolonialgeschichtliche Arbeiten zurück, die sich mit den Rückwirkungen kolonialer Erfahrung auf die Metropole beschäftigen: So zeichnet Linda Colleys nach, wie Versklavungserfahrung von außerhalb der britischen Metropole auf diese zurückwirkte. Es ist ihr Verdienst, die Geschichte der Versklavung als Teil der europäischen Geschichte sichtbar gemacht zu haben. Denn Colley fragt danach, was eigentlich mit den im Mittelmeer durch Piraten in Sklaverei geratenen britischen Soldaten passierte und stößt auf erstaunliche Rückwirkungen in kirchlichen und staatlichen Institutionen der Metropole, die sich dieser Gefahr für »ihre« Soldaten durchaus bewusst waren und sogar öffentliche Rituale inszenierten, um als Gesellschaft mit dem Trauma umzugehen und Kontrolle über diese entwürdigende Er fahrung zurückzuerlangen.25 Auch Alan Bewell ist hier zu nennen, der zeigen konnte, wie die in den Kolonien zu beobachtende Fokussierung auf Vorstellungen von Krankheit Rückwirkungen auf die so genannte Metropole hatte. Er macht das insbesondere an den Erfahrungen britischer Soldaten in der Karibik klar, die, wie hinlänglich bekannt, unter traumatisierenden hygienischen Umständen ihre Arbeit zu verrichten hatten. Bewell findet nun diese Erfahrung in literarischen Texte und Gedichten wieder, die von der bisherigen Forschung mitnichten in kolonialen Kontexten gesehen wurden. Er hingegen kann zeigen, dass diese literarischen Texten indirekte Verarbeitungen traumatisierender Krankheitserfahrungen in den Kolonien sind.26 Auch damit wird eine Antwort auf die von Ballantyne gestellte Frage gegeben, was denn das Empire eigentlich sei: nämlich ein aufgrund kolonialer Erfahrungen nach innen auch verstörter Raum, der Rituale inszenierte, um seine eigene Steuerungsfähigkeit wieder unter Beweis zu stellen. Oft ergibt sich in diesen Arbeiten eine Verschiebung ins 18. Jahrhundert, eine Periodisierung, die in makrogeschichtlich-globalgeschichtliche Betrachtungen mehrfach übernommen wurde und zum Ausdruck bringt, dass das 19. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund der britischen Geschichtserfahrung ein »langes« war.27
Netzwerke und Transfers: Räume für Kosmopoliten und objektgebundene sozialräumliche Strukturen Stefanie Gängers Beitrag führt in einen aus regionaler Sicht atlantisch gerahmten Kosmopolitismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Atlantik ist vielfach regional konzipiert worden, um Geschichtsverläufe aus Politik, Wirt25 Linda Colley, Captives. Britain, Empire and the World 1600–1850, London 2003, S. 23–134. 26 Alan Bewell, Romanticism and Colonial Disease, Baltimore 1999, S. 66–130. 27 Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt 2006; Osterhammel, Verwandlung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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schaft, Kultur und Religion in weiteren geografischen Dimensionen zu erfassen. In dem von Jack Greene und Philip Morgan herausgegebenen Band sollen beispielsweise breitere Perspektiven in dem Sinne erhoben werden, dass transnationale Geschichtsdynamiken in den Blick geraten und damit nationale und kleinräumige Perspektiven überwunden werden. Außerdem will ein Band wie der von Greene und Morgan welt- und globalgeschichtliche Interaktionen periodenspezifisch fokussieren.28 Daneben gibt es Bemühungen, insbesondere die Süd-SüdBeziehungen im Atlantik zu betonen, da diese angesichts der Tendenz, den »Atlantik« auf Beziehungen zwischen Europa und Nordamerika zu reduzieren, häufig vernachlässigt wurden.29 Auch der Zugang über Akteure, wie von Lara Putnam in die Debatte geführt, hat, wie weiter oben skizziert, zentrale historische Dynamiken wie zum Beispiel den atlantischen Sklavenhandel neu perspektiviert.30 Gängers Beitrag bietet eine weitere Variante, über den Atlantik insbesondere in seinen kosmopolitischen Dimensionen nachzudenken: Alle Städte, die für die Interaktionen der von ihr betrachteten Akteure wichtig sind, stellten Orte des Sammelns, Knotenpunkte des Wissensaustausches »im Atlantik« dar. Doch geht es in ihrem Beitrag nicht um Geografie. In der Fokussierung auf eine kosmopolitisch agierende »Gelehrtenrepublik« wird diese gewissermaßen aus gehebelt. Gänger behandelt unter anderem Objekte, die aus Sammlerhänden in Peru in Museen und Sammlungen in die ganze Welt inklusive Lateinamerika transferiert wurden. Wissen über diese Objekte kann aber nicht vorschnell unter der Kategorie der kolonialen Wissensproduktion subsumiert werden. Denn hier war es eben nicht so, dass Gelehrte oder auch Sammler aus Paris, Berlin, Philadelphia, London, Madrid und New York die Initiative ergriffen hätten, um Wissen über Kolonien abzubilden. Dennoch bildeten genau diese Orte die jewei ligen Bezugspunkte für das auf Wissensproduktion ausgerichtete Interagieren von Gelehrten und die Vernetzung ihrer statusmäßig definierten Kreise. Wichtig für Gängers Beitrag ist tatsächlich, dass die Sammler aus Peru kamen. Als ausschlaggebender aber erwies sich, dass sie sozial privilegiert waren und sich aufgrund ihrer sozialen Herkunft Interaktionsräume erschließen konnten, die weniger privilegierten Akteuren und Akteurinnen aus Peru nicht offen standen. Denn die Zugehörigkeit bzw. die Erarbeitung einer Möglichkeit des Zugangs zu einer bestimmten privilegierten sozialen Schicht, die sich zumeist in
28 Zu diesem Ansatz siehe beispielsweise Jack P. Greene/Philip D. Morgan (Hg.), Atlantic History. A Critical Appraisal, Oxford 2009, siehe deren Einleitung, S. 8. 29 Ulrike Schmieder/Hans-Heinrich Nolte (Hg.), Atlantik. Sozial- und Kulturgeschichte in der Neuzeit, Wien 2010. Eine exemplarische, sich unter dem Etikett des Atlantik lediglich auf Beziehungen zwischen Europa und Nordamerika stützende Untersuchung, die allerding nicht einmal nordamerikanische Indianer zu Wort kommen lässt, wäre: Ulrike Kirchberger, Konversionen zur Moderne? Die britische Indianermission in der atlan tischen Welt des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden 2008. 30 Putnam, To Study. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Stadtv illen der kreolischen Oberschicht oder in Vereinen begegnete, bildete die Voraussetzung dafür, dass die hier porträtierte kosmopolitische Bewegung ihre Dynamik erhielt. Die Grundlage für die Bewegung bildet hier das Netzwerk – eine Formation, derer sich auch andere Gruppen wie zum Beispiel die stigmatisierten Lançados und Tangomaos bedienten. Sie waren – im Gegensatz zu den hier betrachteten Antiquaren, Sammlern und Archäologen transkulturativen Dynamiken gegenüber allerdings aufgeschlossen.31 Bei den Antiquaren, Sammlern und Archäologen handelt es sich um eine Gruppe, die intern durch ethnische oder sich auf Herkunft beziehende Zuschreibungen hierarchisiert war. Durch die gemein samen Aktivitäten des Sammelns gelangen aber Austausch und die Überwindung der internen Hierarchien, zumindest punktuell sogar die erfolgreiche Anbindung an die internationale Gelehrtengemeinschaft. Dies wäre ohne die Objekte nicht möglich gewesen, die einerseits aus lokalen Kulturen in die Hände kreolischer Sammler und über diese in Museen und Ausstellungsräume europäischer Sammler verfrachtet wurden. Die gesammelten, zum Teil transferierten, teilweise aber auch bei Sammlern in Lateinamerika verbleibenden Artefakte brachten aber andererseits einen Austausch in Schwung und markierten einen an seinen Grenzen nicht scharf abgegrenzten Sozialraum. Denn Wissen über diese Objekte konstituierte sich, indem Korrespondenzen zwischen den beteiligten Sammlern hin- und herwechselten. Bis zu einem gewissen Grad markierten damit die Objekte selbst den Raum, in dem Gespräche zwischen Reisenden und Sammlern geführt wurden. Netzwerke konnten, wenn vorübergehend brach liegend, über Bezugnahme auf die Objekte wieder neu belebt werden. Sie bildeten einen eigenständigen Bezugsrahmen, der sich um vieles effektiver erwies als die Christen und Bibeln, die sich atlantisch, aber nicht kosmopolitisch bewegten und die letztlich immer eine fragmentierte Struktur repräsentierten.32 Hier findet sich im wahrsten Sinne des Wortes eine objektgebundene sozialräumliche und interaktive Struktur. Gerade in Bezug auf einen kosmopolitischen, damit sozial distinkten Raum lässt sich fragen, wie der Zugang reglementiert ist. An den Grenzen oder in den Übergangsräumen der Vermittlung von Wissen in Bezug auf Objekte musste schließlich das Management der Grenze betrieben werden. Es müssen Politiken existiert haben, bestimmte Personen einzulassen, andere wiederum auf Abstand zu halten oder gar ganz auszuschließen. Im Zusammenhang dieses Beitrags mag an jene Forschung erinnert werden, die, insbesondere auf die räumliche Stadtforschung bezogen, den Zugang zu Recht auf Raum thematisiert.33 Denn Zuzügler in die Stadt kämpfen seit langem für ein Recht auf Wohnen im urbanen 31 Christian Cwik, Atlantische Netzwerke. Neuchristen und Juden als Lançados und Tangomaos, in: Schmieder/Nolte (Hg.), Atlantik, S. 66–85. 32 Kirsten Rüther, Christentum im Spannungsfeld atlantischer Bezüge. Versuche der An näherung, in: Schmieder/Nolte (Hg.), Atlantik., S. 138–153. 33 David Harvey, The Right to the City, in: New Left Review 53. 2008, S. 23–40. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Raum. Ob sich solche Ansätze auf die Erforschung von Wissens-Räumen anwenden lassen, müsste sicher einer Prüfung unterzogen werden.
Spuren und Schneisen: Ein Archiv in Lausanne Patrick Harries begibt sich in ein Archiv, das auf eine schier unglaubliche Anzahl von Lesarten der von ihm bewahrten Stücke verweist. Physisch sucht Harries einen Ort in Lausanne im schweizerischen Kanton Waadt auf, der sich über die Jahre nicht nur selbst verändert hat. Auch der Weg dorthin sieht heute anders aus als früher. Dieser Ort in Lausanne, das Archiv, in dem Wissen und Informationen abgelegt sind, hat eine Beziehung zu Afrika, das unter Umständen den aktuellen Staaten Mozambique, Lesotho und Südafrika zuzuordnen ist, als Gegenstand der Forschung, politischen Bewegungen und aktivistischen Kam pagnen aber quer zu nationalen Grenzen, sozialen Räumen und Bewegungen vielfacher Art zu liegen gekommen ist. So stellt sich schon beim ersten Blick ins Archiv heraus, dass diese Beziehung vielschichtig, teilweise auch widersprüchlich ist. Harries betont die Mehrdimensionalität des Raumes, die sich regional, sozial überkreuzenden Spuren, in die zusätzlich Umgangsweisen einzelner Akteure mit race und gender eingewoben sind. Die zahlreichen Nutzer haben dieses Archiv für unterschiedliche Ziele genutzt. Auf verschiedenen Pfaden, die der Beitrag nachzeichnet, stößt der Autor beispielsweise auf das gelehrte Wissen der Romantik, deren Vertreter sich in ihrer Zeit aber unverstanden fühlten und die deshalb für ihre Ideen einen Re sonanzraum in den als unberührt wahrgenommenen Alpen und der so genannten Wildnis suchten.34 Die Nutzer im Archiv kommen mit Wissenskorpora der Religion, der Anthropologie und der Naturwissenschaften in Berührung, die als Areale des Wissens maßgeblich von Missionaren bestückt wurden, die ihrerseits Ansehen und Reputation mit dieser Tätigkeit erwarben. Im Archiv sind Wissen und Informationen nicht nur in Kisten, Akten und Kartons auf gehoben. Sie residieren auch in der Person des Archivars, den eine lebensgeschichtliche Beziehung mit Afrika und einigen Menschen dort verbindet. Diese aufstiegsorientierten Menschen begeben sich aufgrund der Beziehungen zwischen einer Missionsgesellschaft in Lausanne und Mozambique in durch eigene Initiative ausgestaltete Ausbildungsnetzwerke, die, nachdem Ausbildungsmöglichkeiten in Südafrika auf enge Grenzen stoßen, ambitionierte Christen auch in die USA führten. Dort überlappten sich die diese Ausbildungsnetzwerke mit
34 Dazu auch Patrick Harries, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford 2007, Kap. 1 & 2; oder ders., Natural Science and Naturvölker. Missionary Entomology and Botany, in: ders./David Maxwell (Hg.), The Spiritual in the Secular. Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids 2012, S. 30–71. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Netzwerken der Politisierten – immerhin bewegt sich die Welt auf die Unabhängigkeit im südlichen Afrika zu. Und auch Theologen und Historiker beginnen in den 1980er Jahren, das Archiv für die Beantwortung neuer Fragen zu erschließen. Während sich die bereits privilegierten oder sich gerade privilegierenden Männer Wege der Aus bildung und in die neue Elite beschritten, positionierten sie sich als Vertreter einer Generation und als Männer, denen eine rassische Zugehörigkeit zugeschrieben wurde. In Südafrika und Mozambique kamen sie in Berührung mit Wanderarbeitern, die ihrerseits mobil waren, die nationale Grenzen manchmal mit und manchmal ohne Pässe überschritten und die ihrerseits einen spezifischen Umgang mit dem Wissen der Kirche pflegten bzw. zu den Wissens beständen der Mission, die anschließend im Archiv gelagert werden, durch ihre Überlebensstrategien beitrugen. Auch der Kolonialstaat nutzte das im Rahmen der Missionsarbeit abgebildete Wissen, unter anderem um Ethnisierungspolitiken und eine mit rassischem Denken unterlegte Segregationspolitik zu zementieren. Gemäß dieser Politiken sollte Beweglichkeit eingeschränkt werden, was sich schlagend auf eine aufstrebende Elite auswirkte, die an ungewollte Grenzen stieß. Im Rahmen solcher politischen Rahmenbedingungen begaben sich Theologen in Nord-Süd-Debatten, kam es zu Konfrontationen im Rahmen der Dichotomien des Ost-West-Konflikts und organisierte sich eine kosmo politische Landschaft der Weltkirchenführung. Die Säkularisierung und Verwissenschaftlichung von Wissensbeständen, die einst von (auch) religiös motivierten Akteuren verzeichnet wurden, beschrieb wieder eine ganz eigene Umlaufbahn, die in ihrer ganzen Dynamik an einem Ort wie dem des Archivs rekonstruierbar wird.35 Und in der Tiefe des Archivs verzweigt sich Wissen vermutlich weiter. Unterteilt wird dieser Raums entlang der Figur der Spur, die bereits Bernd Hausberger für die Erfassung globalgeschichtlicher Dynamiken angewendet hat.36 Ähnlich greift auch Felix Schürmann in der Routenbeschreibung eines Sklaven auf solche Spuren im Sinne »ungeahnter Wege« zurück.37 Die Artikel verdeutlichen – unter Umständen nicht ganz losgelöst von einem Raumverständnis, das besondere Gültigkeit in afrikanischen Gesellschaften und Epochen der Geschichte hat –, dass Territorien und fest umgrenzte Terrains nicht den Referenzrahmen für räumliche Praktiken bieten und dass ein Quellenbestand entsprechend disparat zusammengestellt sein kann. Denn bei der Aufnahme von Spuren als räumlicher Praxis dominieren extreme Flexibilität und Bewältigung von sich immer wieder neu gestaltenden Herausforderungen und Unsicherheiten. Dies stellt eine Alternative zum Reisebericht dar, der gemein35 Dazu weiterführend Harries/Maxwell, The Spiritual. 36 Hausberger, Globale Lebensläufe. 37 Felix Schürmann, Ungeahnte Wege. Mobilitätserfahrungen des befreiten Sklaven Timbo Samuel Samon im südlichen Afrika des 19. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 17. 2009, S. 75–91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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hin mit Entdeckungsreisen verbunden wird. Jene Ebene der Vermittlung, die in Reiseberichten fehlt, wird hier durch die herangezogenen Archivmaterialien selbst eingezogen.
Schlussbetrachtung Über Räume nachzudenken, die konstitutiv für fast jede Geschichtserzählung sind, kann verschiedenes bedeuten. Es muss die Frage nach den Umgrenzungen und nach den Möglichkeiten oder Notwendigkeiten von deren Verschiebung nachgedacht werden. Darüber hinaus stellen sich Fragen nach Bewegungen und Beweglichkeiten im Raum. Deshalb interessieren Zirkulationen, Wechselwirkungen, Transfers und Netzwerke sowie die jeweiligen Behinderungen in der Ausgestaltung solcher Beweglichkeiten. Selbstverständlich gibt es keine Vorschrift, Räumlichkeit in der einen oder anderen Variante zu konzipieren. Denn welche Konzepte von Räumlichkeit zur Anwendung kommen, hängt nicht zuletzt von den historischen Sachverhalten ab, die wir untersuchen. Die Beiträge von Ballantyne, Gänger und Harries bieten hier drei vielversprechende Ansatzpunkte. Bleiben die Desiderate, weitere Probleme und insbesondere die Fragen nach den jeweiligen Ungleichheiten und Machtverhältnissen sowie nach Räumen, die sich nicht fassen lassen, weil sie »Löcher« sind. Wie in anderen Prozessen der Globalisierung auch bringt es die Verdichtung von Wissensstrukturen mit sich, dass dieses Wissen gleichsam gewisse Orte exkludiert, bestimmte räum liche Strukturen umzirkelt und in zahlreiche Sozialräume nicht vordringt. Diese Nicht-Orte der Globalisierung von Wissen sind aber trotzdem konstitutiv für den Globalisierungsprozess. Sie zu thematisieren, bedeutet allerdings, das Archiv zu rekonzeptionalisieren, auf das Historiker für ihre Arbeit angewiesen sind. Denn, wie eingangs betont, trägt die Wahl des Untersuchungsausschnittes und vor allem die Zusammenstellung des zu analysierenden Materials zur potenziellen Erhellung auch dieser schwieriger fassbaren Teilaspekte von Räumlichkeit bei. Und so sind denn auch verschiedentlich Versuche unternommen worden, über Wissenspraktiken zu schreiben, die an so genannten Nicht-Orten meist unberücksichtigt blieben. Antoinette Burtons zeigt, dass sich in Manuskripten indischer Frauen, die nicht in Archiven aufbewahrt wurden, aber unter Frauen diskutiert in deren Privatgemächern verblieben sind, politisch sensible, kluge, hoch intellektuelle Auseinandersetzungen, zum Beispiel über den Prozess der Nationsbildung, finden. Sie wurden in der Geschichtsschreibung lange vernachlässigt. Von diesen Wohnräumen aus wurde die Nationsbildung vielleicht nicht betrieben, wohl aber betrachtet und kritisch reflektiert.38 Karin Barber wiede38 Antoinette Burton, Dwelling in the Archive. Women Writing House, Home, and History in Late Colonial India, Oxford 2003. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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rum zeigt etwas ganz Ähnliches für die afrikanische Geschichte: Hier sind es die in privaten Häusern und Wohnungen von Familien aufbewahrten oder von Migranten bei sich getragenen Blechkisten, die regelrechte »Archive des Wissens« enthalten: Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotos und Tagebücher wurden hier gesammelt, die heute für die Entzifferung verborgener Geschichten in Afrika genutzt werden können. Auch diese Dokumente eröffnen Zugänge zum Verständnis von Globalisierungsprozessen, die diese Menschen nicht federführend mitgestalten, zu denen sie sich aber oft klug und aufschlussreich positionieren.39 Auch auf Schiffen, die den Atlantik überquerten, sollen Seeleute solche Kisten mit sich geführt haben, die Dokumentationen ihres Wissens, ihrer Erfahrung und ihres Umgang mit der auf sie einströmenden Welt enthielten.40 Für einen wieder anderen Kontext habe ich jüngst versucht zu zeigen, dass selbst Menschen, die sich regionalgeografisch sehr wenig bewegten, von der Globalisierung erfasst werden konnten und dann einen Umgang damit entwickelten. So strengte eine junge Xhosa-Prinzessin einen regen Briefverkehr mit den ihr übergeordneten Vormündern, einem anglikanischen Bischof und einem Generalgouverneur an, um sich diesen einerseits ehrerbietig zu zeigen, gleichzeitig von ihnen aber Schutz und Privilegierung zu verlangen. Dieser von einer »ko lonisierten« Frau initiierte Briefaustausch verlief sporadisch, war kurz und intensiv und dann wieder lange unterbrochen. Er ist als Quellenkorpus nur fragmentiert erhalten. Für diese junge Frau, die in den Anfangsjahren ihres Lebens durch ihren Status privilegiert war, und aufgrund ihrer Rasseneinordnung und misslingenden Heirat später aber an Vorrechten einbüßte, sah der Prozess der Globalisierung anders aus als für jene, die wir reichlich Quellenmaterial hinterlassen haben.41 Globalisierung findet rückgekoppelt an räumliche Verhältnisse statt. Die für Prozesse der Globalisierung spezifischen Verdichtungen ergeben sich nicht in abgekoppelten Sphären – genau darauf machen die Beiträge von Ballantyne, Gänger und Harries aufmerksam, wenn sie in konkreten Räumen forschen beziehungsweise zeigen wie neue Räume auch durch Wissen entstehen.42 Sie betrachten konkrete Momente der Transformation und können genau dadurch dazu beitragen, auch über Fragen der Periodisierung neu nachzudenken.43 Da39 Karin Barber (Hg.), Africa’s Hidden Histories. Everyday Literacy and Making the Self, Bloomington 2006. 40 Peter Linebaugh/Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra. The Hidden History of the Revolutionary Atlantic, London 2000. 41 Rüther, Koloniale Globalisierung. 42 Alle der hier im Kontext der klassischen area studies ausgebildeten Autorinnen und Autoren gehen über dieses enger umschriebene regionale Feld hinaus. Vgl. Wolfgang Schwentker, Globalisierung und Geschichtswissenschaft. Themen, Methoden und Kritik der Globalgeschichte, in: Jürgen Osterhammel (Hg.), Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 101–118. 43 Zu Periodisierungsfragen siehe z. B. Knut Borchardt, Globalisierung in historischer Perspektive, in: Jürgen Osterhammel (Hg.), Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S. 217–238. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mit stellen die Beiträge Globalisierungskonzepte infrage, die losgelöst von tatsächlichen Raumproduktionen theoretisiert sind und die sich praktisch über die empirisch nachvollziehbaren Zusammenhänge stellen. Indem Tony Ballantyne, Stefanie Gänger und Patrick Harries Aspekte der Globalisierungen in teilräumlichen Bezügen aufgreifen, zeichnen sie sowohl Beziehungen und Wechselwirkungen wie Netzwerke und Transfers, aber auch Spuren und Schneisen nach und erinnern daran, dass diese Prozesse letztlich immer wieder auch verschiedenen Arealen akademischen Wissens zugeordnet werden müssen. Es bleibt zu hoffen, dass diese selbst ihre Grenzen verschieben in dem Bewusstsein, dass es nicht ausbleiben wird, durch diese Grenzverschiebungen neue »Löcher« und Fragmentierungen in den Arealen der Wissenschaft zu kreieren.
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Indien und die Globalisierung kolonialen Wissens Die Arbeitsweise moderner Imperien war abhängig von Bewegung und Beweglichkeit. Imperien waren nicht nur ungleiche politische Gebilde, in denen ein Königreich, eine Nation oder eine Gemeinschaft Herrschaft über andere Gebiete und Menschen ausübte, sondern sie waren auch ebenso Systeme der Expansion und der Zirkulation. Die Funktionsfähigkeit moderner Imperien war abhängig vom Kapitalverkehr, der Ausbeutung von Ressourcen und der Arbeitskraft kolonisierter Völker, dem Import wertvoller Rohstoffe und in den Kolonien hergestellter Produkte sowie dem Export industriell gefertigter Produkte und Technologien in koloniale Märkte. Doch moderne Imperien erzeugten auch weitreichende Wissensordnungen und waren von diesen abhängig. Diese lieferten Informationen über die kolonisierten Völker, ihre Ländereien und Ressourcen an ihre Verwaltungsinstitutionen und erzeugten interpretative Rahmen, die die Macht hatten, sich aus dem bruchstückhaften Material einzelner Briefe und Berichte einen Sinn zu erschließen und das Wesen sowie die Eigenschaften ›einheimischer‹ Gesellschaften grundsätzlicher zu erklären. In anderen Worten: Diese Wissensordnungen dokumentierten und erklärten die kulturellen Unterschiede, von denen man glaubte, dass sie die koloniale Herrschaft garantierten und legitimierten. So waren um 1800 Informationen das Herzstück jedes Imperiums: Sie beeinflussten die politische Entscheidungsfindung, halfen die Stationierung militärischer Ressourcen zu lenken, legten viele wirtschaftliche Praktiken fest und prägten darüber hinaus die Entscheidungen von Missionaren, Kaufmännern und Einwanderern. Wörter, Texte und Bilder wurden durch die Netzwerke dieser globalisierten Regime bewegt und in Umlauf gebracht, sie überwanden dabei oftmals weite Entfernungen, um an Orte zu gelangen, die weit entfernt von ihren Produktions stätten lagen. In einem sehr realen Sinne waren europäische Imperialsysteme abhängig vom Anhäufen und Verteilen von Papier – von einem Schreibtisch oder einem Büro zum anderen, innerhalb von Häfen und über Ozeane hinweg. Im kolonialen Indien betonten einige einheimische Kommentatoren die zentrale Stellung von Papier in der von der Ostindien-Kompanie erschaffenen Ordnung und betitelten seine Macht mit kaghazi raj – die Herrschaft des Papiers.1 Indien hatte eine zentrale Position innerhalb der britischen imperialen Wissensordnung des 19. Jahrhunderts inne, spiegelte es doch seinen Stellenwert für eine sich industrialisierende und handelsorientierte britische Wirtschaft und 1 Martin Moir, Kaghazi Raj: Notes on the Documentary Basis of Company Rule: 1773–1858, in: Indo-British Review, 21.2.1993, S. 185–193. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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konnte gleichermaßen als Aushängeschild der ökonomischen, politischen und kulturellen Stärke Großbritanniens auf der globalen Bühne dienen. Die faktische wie symbolische Bedeutung der territorialen Macht, die die Ostindien-Kompanie in Südasien ab 1765 ausübte, bedeutete, dass britische Sichtweisen Indiens und seiner Völker selten statisch waren. Vielmehr waren sie dynamisch und umstritten, da sie durch interkulturelle Begegnungen an vielen unterschiedlichen Orten Südasiens, außerdem durch wechselnde Prioritäten innerhalb des imperialen Handels und strategischen Denkens sowie durch wirtschaftliche, politische, religiöse und kulturelle Spannungen in Großbritannien selber geprägt wurden. Die wichtigste geistige Strömung, die sich in Britisch-Indien herausbildete, lässt sich wohl am besten mit »Company Orientalism« umschreiben. Hiermit ist die Wissensordnung gemeint, die von der Britischen Ostindien-Kompanie entwickelt worden ist, nachdem sie im Jahr 1765 die Verwaltung von Bengal, Bihar und Orissa übernommen hatte.2 »Company Orientalism« nahm in dem Augenblick Gestalt an, als die East India Company hart daran arbeitete, ihre Herrschaft in Nordostindien zu errichten. Ab 1772 überwachten Angestellte der Handelsfirma die Steuereintreibung, und sie übernahmen auch die volle Verantwortung für die Justizverwaltung. Das Unternehmen entschied, die »einheimische« Rechtsprechung beizubehalten, also gesonderte muslimische und hinduistische Gesetzbücher anzuwenden sowie Persisch, die Sprache des Mughal-Hofes, als Amtssprache gelten zu lassen. Diese Strategien erlaubten es der East India Company, ihre Legitimität als südasiatischer Herrscher auszubauen, sie forderte jedoch gleichzeitig von ihren Angestellten, sich solide sprachliche Fähigkeiten anzueignen und schnell ein Verständnis der südasiatischen Schrifttraditionen zu entwickeln, die Grundlage von Herrschaft, Recht und Religion waren. Dieses Vorhaben gestaltete sich als schwierig und während der 1770er Jahre hatten viele Führungskräfte der Company hinsichtlich ihrer Fähigkeit Bedenken, die indische Gesellschaft zu verstehen. Andererseits waren sie auch besorgt über ihre Abhängigkeit von einheimischen Wissensexperten, die ihnen als Sprachlehrer und Übersetzer halfen. Tatsächlich lehnten es viele südasiatische Gelehrte erst einmal ab, ihre Sprachkenntnisse und ihr Wissen grundsätzlich mit der Company zu teilen. Trotzdem gelang es der Company im Laufe der 1780er Jahre mit lokalen Experten Arbeitsbeziehungen einzugehen, vor allem nach Hungersnöten und nachdem das Steuersystem der Company begann, langjährigen lokalen Systemen von Begünstigungen ihre Grundlagen zu entziehen.3 Diese Veränderungen halfen dabei, Kalkuttas Vorrangstellung als Ort des interkulturellen Austausches zu festigen. Und sie steigerten außerdem erheblich die Möglichkeiten der 2 Tony Ballantyne, Orientalism and Race: Aryanism in the British Empire, Basingstoke 2002, S. 20–32. 3 Brian A. Hatcher, Idioms of improvement: Vidyasagar and Cultural Encounter in Bengal, New Delhi 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Company, Zugang zu einer ganzen Fülle südasiatischer Wissenstraditionen zu erlangen. Diese Transformationen wurden auf andere Regionen ausgedehnt, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts einflussreiche schiitisch-muslimische Schriftgelehrte, sachkundige Verwalter aus muslimischen Dienstfamilien aus Allahabad und Lucknow, Kashmiri Brahmanen, sowie einflussreiche pandits (Experten) und k aranams (Schriftgelehrte) aus Tamil Nadu in zunehmendem Maße in den Dienst der Company aufgenommen wurden.4 Im Jahr 1800 wurde die Übermittlung von interkulturellem Wissen durch die Gründung des College of Fort William formalisiert. Es beschäftigte ein ganzes Gefolge von Experten einheimischer Sprachen sowie etliche Schriftsetzer, Buchdrucker und andere sachkundige Arbeiter, die die von der Company angestellten führenden britischen Gelehrten unterstützen sollten.5 Dieses »Kalkutta-Modell«, das einerseits südasiatische Sprachen wertschätzte, gleichzeitig aber lokale Experten britischen Lehrmeistern unterordnete, wurde bald von der Company auf Colleges in Bombay und Madras übertragen. Diese Colleges nahmen eine zentrale Rolle bei der Formung und Übertragung des immer besser organisierten »Wissenskörpers« ein, der von den Angestellten der Company, einheimischen Experten und lokalen Informanten produziert wurde. Im Mittelpunkt ihres Bildungsprogramms standen Forschungsergebnisse, die von Europäern und Indern zusammengetragen wurden, die den in den kolonialen Hafenstädten entstandenen wissenschaftlichen Gesellschaften – allen voran der Asiatic Society of Bengal – angeschlossen waren. Im Jahre 1784 gegründet, bot diese Gesellschaft einen wichtigen institutionellen Rahmen für die Vertiefung des britischen Studiums indischer Sprache, Religion und Politik. Sie war der Ort, an dem Sir William Jones, primäre Kraft bei der Gründung der Society und deren erster Präsident, die Erforschung der Beziehung indischer und europäischer Sprachen und Kulturen auf neue Grundlagen stellte. Diese Forschung war von großer Bedeutung, da sie als Vorbild für die Erforschung indischer Sprachen, Kultur und Geschichte für die nächsten hundert Jahre diente. Sie stand außerdem im Mittelpunkt zahlreicher Kontroversen.
William Jones und die Studien des Sanskrit Die Erfahrungen, die Jones als Jurist in Bengalen sammeln konnte, ließen ihn mit großer Sorge auf die Grenzen der kolonialen Wissensordnung blicken, was ihn dazu brachte, mit dem Studium des Sanskrit zu beginnen. Jones befürchtete Urkundenfälschung und Falschaussagen, da er glaubte, dass die Macht der pandits aufgrund ihres Monopols bezüglich der Kenntnisse des Sanskrit unkon 4 Christopher. A. Bayly, Empire and Information: Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780–1880, Cambridge 1996, S. 80, hier S. 83–88. 5 Sisir Kumar Das, Sahibs and Munshis: an Account of the College of Fort William Calcutta 1978, S. 7–21, hier S. 107. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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trollierbar blieb. Aber Jones’ Sanskrit-Studien hatten noch einen grundsätz licheren Nutzen, als er selbst ursprünglich erwartet hatte, gestalteten sie doch seine Vorstellungen von Sprache, Geschichte und Ethnologie um. Nach weniger als sechs Monaten intensiven Sanskrit-Studiums, im Februar des Jahres 1786, übergab Jones seinen »Third Anniversary Discourse«, »On the Hindu’s [sic]« an die Asiatic Society. Dieser Artikel war der erste in einer Reihe von Essays, die das Wesen asiatischer Ethnografie und Geschichte untersuchten. Da er mit der Serie einen neuen Interpretationsrahmen der asiatischen Geschichte begründen wollte, beschäftigte Jones sich sehr mit der Frage nach kulturellen Ursprüngen. In der Tat trug der letzte Essay der Serie den Titel: »On the Origin and Families of Nations«.6 Das Sprachstudium war für Jones’ Vorhaben das wesentliche Werkzeug, bot es doch eine Schlüsselquelle für seine Mutmaßungen über die indische ›Gesellschaftsgeschichte‹. Er ging davon aus, dass das sorgfältige Studium der Etymologie und Grammatik, eine Demystifizierung der Fabeln ermöglichen würde, die Inder um ihre Vergangenheit woben. Glücklicherweise waren eben jene Sprachen, die benutzt wurden, um indische Mythen und Legenden zu erschaffen, an sich selbst schon reichhaltige Quellen. Jones war vom Sanskrit zutiefst beeindruckt und sein Enthusiasmus wird anhand eines berühmten Zitats deutlich, wonach Sanskrit is of a wonderful structure; more perfect than the Greek, more copious than the Latin, and more exquisitely refined than either, yet bearing to both of them a stronger affinity, both in the roots of the verbs and in the forms of the grammar, than could possibly have been produced by accident; so strong indeed, that no philologer could examine them all three, without believing them to have sprung from some common source, which, perhaps, no longer exists …7
Jones erkannte eine enge Verbindung zwischen Sanskrit und europäischen Sprachen, eine Entdeckung, die die Entwicklung der Linguistik, der Studien der frühen Geschichte Indiens, aber auch Debatten über das Muster der Menschheitsgeschichte tiefgreifend prägen sollte. Jones legte nahe, dass Sprache eine wichtige Quelle war, um Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern zu erkennen, sie aber trotzdem nicht als einzige Quelle gelten könnte und in seinen Diskursen über Asien untersuchte er zusätzlich zur Sprache auch die Philosophie, Ruinen von Monumentalbauten sowie »Wissenschaften und Künste«. Allerdings bildete Sprache durchaus den analytischen Mittelpunkt von Jones’ Schriften. Etymologische Zusammenhänge, falls sie a posteriori sicher ermittelt wurden, waren gravierende Belege für Beziehungen zwischen Völkern, aber aus ihnen allein ließen sich Jones zufolge noch nicht mit Sicherheit Verbindungen bestimmen. Die grammatikalische Struktur war hierbei entscheidend, denn sie konnte entweder den Zusammenhang zwischen zwei Sprachen nachweisen oder ihn auch ohne Umstände widerlegen. Diese entschiedene Methodik unterschied 6 In: Asiatick Researches, 3. 1792, S. 479–492. 7 Ebd., S. 348–349. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Jones’ Arbeit nicht nur von seinen eher spekulierenden Zeitgenossen, sondern erlaubte es ihm auch, tief verwurzelte grammatikalische und etymologische Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit und den europäischen Sprachen aufzuzeigen. Diese sprachlichen Wesensverwandtschaften prägten Jones’ Ansichten über die Ethnologie und Menschheitsgeschichte. Jones brachte seine Überzeugung von der Verwandtschaft der indischen und europäischen Sprachen mit der religiösen Überlieferung der Genesis in Einklang, die das westliche Verständnis von Sprache und menschlicher Entwicklung stützte. Durch seine linguistischen Arbeiten bestätigte Jones erneut die grundsätzliche Einheit aller Menschen. Er war überzeugt davon, dass selbst Chinesisch Bezüge zu den Sprachen Tibets und Indiens aufwies, was den »gemeinsamen Ursprung« von Sprache weiter bestärkte. In seinen Sprachstudien untermauerte Jones die allgemeinen Grundzüge der Genesis-Darstellung: Die ganze Menschheit stammte demnach von einem »Ursprungspaar« ab und er war sich dabei »zweifelsfrei« sicher, dass der Iran das »nach-sintflutige« Zentrum sei, aus dem das gesamte »Geschlecht der Menschen entstammte«. Seiner Meinung nach entstiegen der »großen Flut« drei verschiedene Rassen: »Perser und Inder« (zu denen auch Griechen, Römer, Goten, Ägypter und ihre Nachfahren sowie wahrscheinlich Chinesen und Japaner gehörten), »Juden und Araber« und »Tartaren«.8 Diese drei vage definierten »Rassen« entsprachen dabei nicht nur den Söhnen Noahs, sie waren dies auch in erster Linie aufgrund ihrer gemeinsamen sprachlichen Basis. Jones’ Unterteilung unterschied sich deutlich von späteren Theorien des 19. Jahrhunderts, die »Arier« (Inder, Europäer und auch Polynesier) als Söhne Japhets beschreiben würden. Nach Jones’ Prinzip glichen die Tartaren den Söhnen Japhets, aber sie waren unzivilisierte Nomaden, die hinter den anderen Zweigen der menschlichen Familie deutlich zurückstanden. Die etwas »weiter entwickelten« Juden und Araber galten dabei als Söhne Shems. Die Sprachen der Semiten wiederum unterschieden sich grundlegend von den Sprachen der letzten Gruppe, der Perser und Inder. Diese Gruppe, die Nachfahren von Ham, bevölkerten Afrika, Indien, Italien, Griechenland und eventuell Ostasien und Lateinamerika. Jones’ Bestehen auf dem hamitischen Ursprung der von späteren Wissenschaftlern als »indoeuropäisch« oder »arisch« bezeichneten Familie spiegelte sowohl europäische als auch indische Quellen wider. Mit seiner Theorie überarbeitete und erweiterte Jones Jacob Bryants »Analysis of antient mythology« (1774–1776), die argumentierte, dass Ägypter, Griechen, Römer und Inder alle Abkömmlinge Hams seien.9 Diese Lesart wurde auch durch indo-islamische Quellen gestützt. Muhammad Qasim Firishtahs persische Geschichte deutete die Inder als Abkömmlinge Hams, während Abul Fazl’s »Akbarnama« auch die hamitischen Wurzeln der Hindus hervorhob und dabei gleichzeitig den japhe tischen Wurzeln der Mughals größeren Wert beimaß. 8 Ebd., S. 479–480, 487, 490–491. 9 Thomas R. Trautmann, Aryans and British India (Berkeley, 1997), S. 42–47. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die Verbreitung dieser Auffassungen in der gebildeten indo-islamischen Elite bestätigte gleichzeitig das ethnologische Rahmenwerk der Genesis und unterstützte Jones’ Vorstellung von der Bedeutung Indiens in der Weltgeschichte.10 Dieses Verständnis südasiatischer Sprache und Kultur hatte enormen Einfluss auf das europäische Geistesleben des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Dieser Einfluss war vielschichtig, und nahm eine Vielzahl von Formen an: So wurde die europäische Wahrnehmung dieser ›Entdeckung des Sanskrit‹ durch die Struktur akademischer Institutionen, die Bedeutung von Sprache für die Herausbildung einer nationalen Identität sowie divergente politische Kräfte geprägt. Die Arbeit der in Kalkutta ansässigen Orientalisten wurde fortan in ganz Europa verbreitet. Dies war in großem Maße eine Folge von Sir William Jones’ erfolgreicher Verknüpfung einer Brief- mit einer Publikationskultur: Er baute ein großes Netzwerk von Briefpartnern auf, mit denen er Daten und Texte über eine Vielfalt von Themen austauschte – von Botanik bis Sanskrit, von Musik bis hin zu hinduistischer Rechtsprechung. Auch wenn die erste Ausgabe von Asiatick Researches nicht vor Januar 1789 gedruckt wurde, hatte Jones bereits vorher in seinen Briefen die Neugier europäischer Gelehrtenkreise geweckt. Diese europäische Leserschaft begrüßte eine früh veröffentlichte Version seines »First Discourse« und zeigte eine große Nachfrage nach der Zeitschrift, da innerhalb kürzester Zeit nicht autorisierte Ausgaben von Asiatick Researches verbreitet wurden.11 Jones’ Netzwerk an Briefpartnern war beeindruckend und schloss die führenden englischen Intellektuellen (vor allem Sir Joseph Banks), wichtige politische und kulturelle Persönlichkeiten in Irland (Edmund Burke und Joseph Cooper Walker) sowie Gelehrte auf dem europäischen Festland, wo Jones’ Werk besonders einflussreich war, ein. Goethe stellte im Jahr 1819 fest, dass »die Verdienste dieses Mannes überall bekannt und zu zahlreichen An lässen hervorgehoben und genau beschrieben worden seien«.12 Die rasche Verbreitung von Jones’ Werk und Einfluss in Europa erinnert uns an die durchlässigen Grenzen zwischen den verschiedenen Imperien und Staaten, selbst in Zeiten der politischen Krise und internationalen Konflikte. Und sie erinnert an die verbindende Kraft des Briefeschreibens sowie des Buchdrucks.13
10 Ebd., S. 53–54. 11 Zum Beispiel Sir William Jones, A Discourse on the Institution of a Society for Enquiring into the History of Asia, delivered at Calcutta, January 15th, 1784, London 1784 sowie William Jones to James Burnett, Lord Monboddo, 24. September 1788, in: Garland Cannon (Hg.), The Letters of Sir William Jones, 2 Bände, Oxford 1970 hier Bd. II, S. 818. 12 Johann Freidrich Kleuker übersetzte William Jones’ Beiträge aus den Asiatick Researches 1795 ins Deutsche. 13 Ähnlich argumentiert auch Richard Drayton, ›A l’école des Français: les sciences et le deuxième empire britannique (1783–1830)‹, in: Revue Française d’Histoire D’Outre-Mer 86. 1999, S. 91–118. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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William Jones’ Theorien auf Wanderschaft Hinsichtlich des Einflusses von Jones ist vielleicht das Beispiel Georg Forsters besonders beeindruckend. Diesem fiel bei der Verbindung von deutscher Romantik, Pazifik-Studien und Orientalismus eine zentrale Rolle zu: Genauso wie sein Bericht über seine Reise an der Seite von James Cook einen »Pazifik-Boom« in Europa ausgelöst hatte, war auch seine Übersetzung von Jones’ lateinischer Version des Sanskrit-Stücks »Shakuntala« enorm wichtig für die Auslösung einer Epoche des »Indien-Kults« in Deutschland.14 Forster schickte Johann Gottfried Herder ein Exemplar der ersten Auflage, der von dessen Schönheit und Aussagekraft vollkommen überwältigt war.15 Und so verfasste Herder nicht nur das Vorwort zur zweiten Ausgabe von Forsters Buch, sondern war anschließend überzeugt, dass die spirituellen Ursprünge der Menschheit sicher in Indien auszumachen seien.16 Südasien avancierte schnell zu einer bedeutenden Quelle für die deutsche Romantik, da die Bedeutung der Philologie und eine romantische Sehnsucht nach geistiger Erneuerung Jones’ Zelebrieren der Macht und Bedeutung des S anskrit noch weiter verstärkten und vergrößerten. Friedrich Schlegel war von der angestammten Vorrangstellung des Sanskrit und Indiens spiritueller Lebenskraft überzeugt, welche er als ein Gegengift zur Verdorbenheit der modernen europäischen, vor allem aber der französischen, Gesellschaft sah. Schlegel integrierte Indien nicht nur in seine eigene Deutung der europäischen Geschichte, er war auch ein einflussreicher Verfechter der Indologie in Kontinentaleuropa. In Folge von Schlegels Meilenstein »Über die Sprache und Weisheit der Indier« (1808) orientierten sich viele französische, besonders aber deutsche Indologen an der linguistischen Forschung der Company-Orientalisten, insbesondere an Jones, und schufen so ein mächtiges wissenschaftliches Narrativ über Indien. Obwohl Deutschland über keinerlei ländliche Besitztümer in Indien verfügte und nur schwache wirtschaftliche Kontakte zur britischen Kolonie unterhielt, gewann das Studium indischer Sprachen und seiner Texttraditionen innerhalb des intellektuellen Lebens Deutschlands im 19. Jahrhundert an Einfluss: 22 Lehrstühle für Indologie wurden in Deutschland eingerichtet, während in Großbritannien nur drei ins Leben gerufen worden waren. Dies hatte weitreichende Konsequenzen, wie Sheldon Pollock aufgezeigt hat, da es die Vorstellungen von einem »deutschen« Ursprung umgestaltete und Dichotomien, die zwischen »indo-germanischen« und »semitischen« Völkern in deutschspra14 Vgl. George W. Stocking, Jr., Victorian Anthropology, New York 1987, S. 23; P. J. Marshall/ Glyndwr Williams, The Great Map of Mankind: British Perceptions of the World in the Age of Enlightenment, London 1992, S. 258. 15 Raymond Schwab, The Oriental Renaissance: Europe’s rediscovery of India and the East, 1680–1880, New York 1984, S. 58; S. N. Mukherjee, Sir William Jones, A Study in Eighteenth-Century British Attitudes to India, Cambridge 1968, S. 114–116. 16 Schwab, Oriental Renaissance, S. 58–59. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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chigen Ländern und im vereinigten Deutschland nach 1871 gezogen wurden, legitimierte.17 Auch wenn die englische Reaktion auf Jones’ Arbeit im Vergleich zur deutschen eher zurückhaltend war, beeinflusste sie doch tiefgreifend Modelle, die zur Analyse kultureller Differenzen innerhalb des Britischen Königreiches und seines Empires herausgebildet wurden. Jones’ Anwendung von komparativer Sprachwissenschaft im Sinne eines ethnologischen Werkzeugs war sehr einflussreich vor allem in schottischen Intellektuellenkreisen, die aufgrund des schottischen Einflusses an führenden Stellen der Ostindien-Kompanie und im Empire überhaupt von globaler Reichweite waren. Aufgrund des sprachlich gemischten Umfeldes ihres Heimatlands waren schottische Schriftsteller weniger damit befasst, vergleichende Sprachwissenschaft anzuwenden, um irgendwelche Behauptungen über eine sich herausbildende Nationalstaatlichkeit nach Art und Weise der deutschen Romantiker zu stärken oder gar etwaige Forderungen nach einer selbständigen nationalen Identität zu untermauern: Stattdessen bot sie ihnen eine Reihe an Einsichten und Methoden, die das Schreiben von Welt geschichte förderten. Eine Gruppe von Forschern, die an der Universität von Edinburgh zwischen 1784 und 1803 ausgebildet worden waren, nutzten ihren Dienst in der Ostindien-Kompanie dazu, die Geschichten asiatischer Gesellschaften zu schreiben, die deren Aufstieg von der Barbarei zur Kultiviertheit vor dem Hintergrund einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Zivilisation nachzeichneten. Dieses Vorgehen, von dem William Robertson sich erhoffte, dass es den Glauben an die »naturgegebene« Überlegenheit der Europäer in Frage stellen würde, bevorzugte »Sprache« als eine Analysekategorie. Demnach erlaubte die vergleichende Sprachwissenschaft, den Entwicklungsgrad einer beliebigen Gesellschaft genauer zu bestimmen.18 Mit einem starken Fokus auf Indien war die vergleichende Sprachwissenschaft besonders wichtig bei der Erforschung der Ursprünge und Entwicklungen der Völker »Hinterindiens« – des heutigen Südostasiens, das unter anderem Laos, Teile Vietnams, Thailands und Malaysia umfasst. Britische Orientalisten widmeten erhebliche Kapazitäten ihrer Zeit der Beschreibung seiner Bevölkerung und der Herstellung der Zusammenhänge zwischen den Sprachen der Region und denen Indiens. Francis Buchanan behauptete beispielsweise, dass eine gemeinsame »tartarische« Herkunft »die Halbinsel Indiens jenseits des Ganges« vereinte und, dass diese sich über die malaiische Halbinsel und den malaiischen Archipel 17 Sheldon, Pollock, ›Deep Orientalism? Notes on Sanskrit and power beyond the Raj‹, in: Carol A. Breckenridge/Peter van der Veer (Hg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993, S. 83; Indra Sengupta, From S alon to Discipline: State, University and Indology in Germany, 1821–1914, Würzburg 2005 (= Beiträge zur Südasienforschung). 18 William Robertson, An Historical Disquisition Concerning the Knowledge Which the Ancients had of India, London 1791, S. 335–336; Jane Rendall, ›Scottish Orientalism: From Robertson to James Mill‹, in: Historical Journal, 25. 1982, S. 43–69. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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bis nach Neuguinea ausgedehnt hatte.19 Texte wie William Marsdens »History of Sumatra« (1787), Stamford Raffles’ »History of Java« (1817) und John Crawfurds »History of the Indian Archipelago« (1820) waren gespickt mit Diskus sionen über Begriffe, Bräuche und Glaubenssätze, die angeblich bis nach Indien zurückzuverfolgen seien.20 John Leyden, der schließlich Professor für Hindustani am Fort William College wurde, arbeitete die sprachlichen und kulturellen Verwandtschaften innerhalb des »Indo-Persischen« und des »Indo-Chinesischen« »Hinterindiens« aus. In Folge von Jones’ bahnbrechender Arbeit entdeckte L eyden im Malaiischen den Einfluss des Sanskrit sowie arabische Lehnwörter. Leyden glaubte, dass nur über einen solchen sprachwissenschaftlichen Zugang die ganze Komplexität der südostasiatischen Gesellschaften und ihrer Geschichten zu entwirren sei.21 John Crawfurd teilte in seiner History of the Indian Archipelago viele der Anliegen von Leydens Arbeit.22 Während die Popularität des Begriffes »Hinterindien« während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehende kulturelle Kontinuitäten suggerierte, die Süd- und Südostasien verbanden, spiegelte er zugleich auch die Tatsache wider, dass die Briten sowohl das südostasiatische Festland als auch seine Inseln als Grenze ihres indischen Empires ansahen. Natürlich verfügten schottische Ethnologen wie Crawfurd nicht nur über bedeutende Erfahrungen in Indien, sondern gelangten im Auftrag der Ostindien-Kompanie auch bis nach Südostasien. Diese Erfahrungen, gekoppelt mit der Autorität, die orientalistische Bildung innerhalb ihrer Ausbildung genoss, ermutigten diese Orientalisten, sich eine imaginierte Geografie Asiens zu formen, die Indien als Kernregion festlegte, von der aus kulturelle, religiöse und sprachliche Einflüsse bis zu den Gesellschaften an der »Peripherie« dieser indischen Welt ausstrahlten. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts festigte Indien – vor allem Kalkutta – seine Stellung als ein äußerst wichtiges sub-imperiales Zentrum innerhalb des britischen Wirtschafts- und Kolonialsystems. Die durch Mitarbeiter der Kompanie entwickelten weltweiten Netzwerke garantierten, dass die orientalistische Überlieferung auch über Indien hinaus eine nachhaltige Bedeutung hatte. Allerdings war sie nie unumstritten. Das Vor gehen britischer Missionare in Indien, die bewusst marginalisiert wurden, da das Unternehmen eine Politik religiöser Toleranz verfolgte, war begründet in einer Lesart indischer Kultur, die in keiner Weise mit derjenigen der Orientalisten vereinbar war. Missionare stellten das Kastensystem in Frage, kritisierten 19 Francis Buchanan, ›Notices on the Birman Empire‹, Asiatick Researches, 5 (1801), S. 219. 20 See James A. Boon. Affinities and Extremes: Crisscrossing the Bittersweet Ethnology of East Indies History, Hindu-Balinese culture, and Indo-European Allure, Chicago 1990, S. 288–349. 21 John Leyden, ›On the languages and literature of the Indo-Chinese nations‹, in: Asiatick Researches, 10. 1808, S. 162. 22 John Crawfurd, History of the Indian Archipelago. Containing an account of the manners, arts, languages, religions, institutions, and commerce of its inhabitants, 3 Bände, Edinburgh 1820, hier Bd. II, S. 8–9 sowie auch Bd. II, S. 46–47. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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brahmanische Rituale und bezweifelten den Wert hinduistischer Schrifttradi tionen, alles zentrale Bestandteile der orientalistischen Interpretation südasiatischer Gesellschaft und Strukturen, auf die die Ostindien-Kompanie ihre Herrschaft aufbaute. Auch die Einstellungen gegenüber den südasiatischen Sprachen unterschied sich bei den Missionaren von denen der Orientalisten der Kompanie: Sie waren im Allgemeinen weniger interessiert an Sanskrit oder den wichtigsten Verwaltungs- und Sakralsprachen des muslimischen Indiens, Persisch oder Arabisch. Da es ihr Ziel war, das Christentum zu verbreiten, bevorzugten sie die einheimischen Sprachen wie Hindustani (Hindu/Urdu) und die regionalen Sprachen wie Bengali, die für das ökonomische, kulturelle und politische Leben entscheidend waren. Noch viel entscheidender aber war, dass Missionare oft aufs Schärfste kritisierten, was ihrer Ansicht nach die Exzesse eines populistischen Hinduismus und die Willkürherrschaft des Islam waren. Ihre Argumente vereinigten sich mit und bezogen Kraft von Evangelikalen in Großbritannien, die überzeugte Kritiker der Politik der Kompanie, insbesondere ihrer Tolerierung indischer religiöser Praktiken, waren. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch Briten in Indien zunehmend skeptisch gegenüber dem Wert des Beherrschens heiliger Sprachen wie Sanskrit und dem Studium antiker religiöser Texte. Es wurde nun verstärkt Wert auf die Bedeutung der ›Beobachtung‹ einheimischer Gesellschaft sowie auf die Aussagekraft von Statistiken gelegt, um die Gesellschaft darzustellen, über die sie herrschten.23 Zu gleicher Zeit wurden Angriffe gegen indische Wissensexperten und Traditionen formuliert, vor allem von Briten in Indien, die sich der Konkurrenz gebildeter Südasiaten ausgesetzt sahen, die zunehmend Zugang zur Staatsbürokratie und den Bildungsinstitutionen hatten.24 Als der Stellenwert ihrer Traditionen in Frage gestellt wurde, prangerten südasiatische Religionsführer sowie Befürworter der britischen Herrschaft untergeordneten Wissenstraditionen zunehmend die Umkehrung der kolonialen Ordnung an.25 Diese Auseinandersetzungen belasteten die engen Verbindungen, die früher an vielen Orten zwischen Funktionären der Kompanie und gebildeten indischen Eliten entstanden waren.
Schlussbetrachtung Die neuartige Gewichtung der East India Company auf die »Anglisierung« ihrer Sprach- sowie Bildungspolitik ab 1835 kennzeichnete die schwindende Autorität des alten Orientalismus in dem Unternehmen. Während die Pionierarbeit, die von den 1780er Jahren bis zu den 1810er Jahren durchgeführt wurde, nicht 23 G. J. Christian, Report on the Census of the North-West Provinces of the Bengal Pre sidency Taken on the 1st June 1853, Kolkata 1854 sowie Bayly, Empire and Information, S. 316. 24 C. A. Bayly, ›Knowing the Country‹, in: Modern Asian Studies, 27. 1993, S. 30–31. 25 Penelope Carson, The East India Company and Religion, 1698–1858, London 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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länger dominierte, blieb sie in Indien doch noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einflussreich, aber sie wurde zunehmend von neuen Anstößen und Bedenken überzogen, da der Kolonialstaat verstärkt die Notwendigkeit zu einer Modernisierung der indischen Infrastruktur, des Nachrichtenwesens sowie des Bildungssystems ins Auge fasste. Diese Neuausrichtungen entfremdeten den Staat von den indischen Gesellschaften, über die er herrschte, und sie waren ein entscheidender Grund für die Unfähigkeit der Kompanie, den Ausbruch der großflächigen Rebellion von 1857–8 vorauszusehen. Diese Erhebung, in d eren Verlauf wichtige Gebiete Nord- und Zentralindiens unter die Kontrolle diverser indischer Gruppen fielen, eröffnete eine neue Debatte über die Richtung, welche Politik die Kompanie vertreten wollte, sowie die Folgen der Abwendung vom Studium indischer Sprachen und Schriften. Auch wenn viele Kommentatoren in Indien und Großbritannien unterschiedliche Deutungen der Ursachen und der Wichtigkeit des Aufstands anführten, stimmten viele darin überein, dass die Rebellion das Versagen spiegele, den »einheimischen Geist« zu verstehen.26 Die Vulnerabilität der East India Company und der Briten in Indien während der Jahre 1857–8 erzeugten tiefsitzende Sorgen um die Qualität des kolonialen Wissens und die Fähigkeit der Briten, die kolonialen Subjekte zu verstehen, über die sie herrschten. Innerhalb des neu ausgerichteten Britisch-Indiens, das nach der Rebellion Form annahm, bemühten sich Kolonialverwalter häufig um Verständnis lokaler Bräuche sowie über die Gesinnung lokaler Herrscher, religiöser Führer und einheimischer Beamter. Doch während Verunsicherung und Zwiespältigkeit als ständige Begleiter bei der Generierung neuen Wissens über Indien vor Ort in der Kolonie gegenwärtig waren, hallte die ältere Wissenschaft von Männern der Kolonie wie Sir William Jones immer noch nach und formte weiterhin das europäische Verständnis der Welt. Die britische Imperialmacht hatte – unbeabsichtigt – einen leistungsfähigen Rahmen für das Verständnis der Zusammenhänge zwischen Sprachen und Völkern geschaffen, der in einer Reihe von Gesellschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder aufgegriffen und umstrukturiert werden sollte.
Aus dem Englischen von Jan Schuster und Marcel Siepmann
26 John William Kaye, A History of the Sepoy War in India, 1857–1858, 1875 (7. Aufl.), S. 491. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Patrick Harries
Von der Information zum Wissen Ein Missionsarchiv zu Afrika
Lausanne liegt malerisch auf den Hügeln direkt am Genfer See und blickt auf die eindrucksvollen französischen Savoyen. Um Lausannes Verbindung mit Afrika auf die Spur zu kommen, muss man am Hauptbahnhof in einen Bus der Linie 3 steigen. Am Chauderon-Platz angekommen, geht man am imposanten Gebäude der Schweizer Kantonalbank vorbei und passiert den linken Buchladen Basta! (einst der alte maoistische La Cause du Peuple). So gelangt man in den Chemin des Cèdres, wo nur eine schmale Gasse, die Rue Saint-Roche, die hier gelegenen Gebäude des alten Theologischen Kollegs vom größeren Département Évan gélique trennt. Hier, im Herzen der Kirche des Kantons Waadt, öffnet sich die Tür in die afrikanische Geschichte. Lausanne hatte sich während der Aufklärung, als die französisch-sprachige Schweiz intellektuelle Größen wie Voltaire, Rousseau oder Charles Bonnet beherbergte, zu einem geistigen Zentrum entwickelt: Hier brachen die Intellektuellen am Ende des 18. Jahrhunderts mit den klassischen Ansichten der Aufklärung und begannen, nach dem Natürlichen und Authentischem im menschlichen Geist zu suchen. Die Schweizer Alpen, kontrastreicher Gegensatz zu Industria lisierung und Verstädterung, boten für Männer wie Albrecht von Haller oder Horace-Bénédict de Saussure dafür die richtige Umgebung. Hatten die mächtigen Berge mit ihren dunklen Tälern einst Angst oder Gefahr ausgelöst, so wurden Haller und seinesgleichen nun von Gefühlen wie Ehrfurcht und Freiheit ergriffen. Die Romantik schätzte das Sublime und Pittoreske. Gebräuche und Traditionen, die sich über die Generationen hinweg bewahrt hatten, waren für sie wertvolle Überlieferungen. In den Alpen fanden die führenden Männer dieser neuen Geistesbewegung einen Rückzugsort vor den als einengend und künstlich empfundenen Gepflogenheiten des städtischen Lebens, und aus diesem Zeitgeist heraus entwickelte sich eine Haltung,1 die den »primitiven« Leuten, die in den »dunklen« und »verlorenen« Tälern der Alpen lebten, Achtung zollte und diejenigen zu Helden erklärte, die in die »jungfräuliche« Wildheit »eindrangen«. Im Jahre 1755 preiste Jean-Jaques Rousseau den natürlichen Zustand des Menschen in seiner »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« und entwarf dabei auch ein Bild der »Hotten 1 Patrick Harries, From the Alps to Africa. Swiss Missionaries and Anthropology, in: Helen Tilley/Robert Gordon (Hg.), Ordering Africa. Anthropology, Imperialism and the Production of Knowledge, Manchester 2005, S. 201–224. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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totten« in Südafrika.2 Aber es war ein Pastor aus Lausanne, Alexander-César Chavannes, der als erster den Terminus »Anthropologie« benutzte, als er im Jahre 1788 das soziale Leben »primitiver« Menschen untersuchte und sich damit auf einem Feld betätigte, das zu der Zeit eigentlich von den anatomischen Studien Blumenbachs3 beherrscht wurde. Anstatt die Menschheit nach anatomischen und physischen Besonderheiten zu klassifizieren, unterschied dieser armchair-Fachmann Nationen und Völker anhand ihrer sozialen Entwicklung.4 Dieses Interesse an der Herkunft und dem Platz der Menschheit in ihrer historischen Entwicklung nahm in den 1830er Jahren noch zu, was sich besonders an den Forschungen zur Ichnologie (Spurenkunde fossiler Lebewesen) und Glaziologie zeigt, die ganz in der Nähe von Lausanne, im benachbarten Neuchâtel von Louis Agassiz durchgeführt wurden – dessen Vorfahren ebenfalls Pastoren gewesen waren. Einen neuerlichen Aufschwung erhielten diese Forschungen, als aufgrund mehrerer Dürrejahre die Überreste einiger Dörfer zutage gefördert wurden, die in vorrömischer Zeit am Ufer der schweizerischen Seen gebaut worden waren. Die Romantik hinterließ auch in der Welt der Religion ihre Spuren: Im be ginnenden 19. Jahrhundert mehrten sich die Stimmen, welche die christliche Kirche von ihrer vermeintlich zunehmenden Künstlichkeit befreien und in ihren Urzustand zurückversetzen wollten. Für die Romantiker war das Christentum eine zutiefst persönliche Religion, in deren Zentrum ihr Glauben und die Verzweiflung über die Qual ihrer Sündhaftigkeit standen. Sie hatten wenig Verständnis für die formalen Konventionen und Rituale der Kirche, die versuchten, Kontrolle über ihre Religion und ihren Glauben auszuüben. Besonders wandten sie sich gegen den staatlichen Einfluss auf die Kirche. Mitte der 1840er Jahre gründeten sie daher eine eigene evangelikale Freikirche. Den Mitgliedern dieser neuen Kirche galt Mission als wichtige Aufgabe, für manche sogar als ihre einzige raison d’être. Das Missionswerk – so die hier zum Ausdruck kommende Hoffnung – werde nicht nur das Wort Gottes zu den Heiden bringen, vielmehr werde die neu gegründete Kirche selbst durch den Kontakt mit authentischen, natürlichen Völkern, die noch nicht mit dem Unglauben und dem Materialismus der industriellen Gesellschaft in Berührung gekommen waren, verjüngt werden. In Afrika könne die Freie Kirche die führende Rolle wieder erringen, die der Nationalen Kirche in dem säkularen Staatswesen in Europa mehr und mehr verloren gehe. 2 François-Xavier Fauvelle-Aymar, L’invention du Hottentot. Histoire du regard occidental sur les khoisan (XVe – XIXe siècle), Paris 2002, S. 272 ff. 3 Alexandre Chavannes, Anthropologie ou science générale de l’homme pour servir d’intro duction à l’étude de la philosophie et des langues, et guide dans le plan d’éducation intellectuelle, Bern 1788. 4 Gerald Berthoud, Une science générale de l’homme. L’oeuvre de Alexandre-César Cha vannes, in: Annales Benjamin Constant 13. 1992, S. 29–41; P. A. Gloor, Alexandre-César Chavannes et le premier emploi du terme »ethnologie«, in: L’Anthropologie 74. 1970, S. 263–268. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die ersten Missionare brachen aus dem Kanton Waadt nach Afrika mit genau diesen Ideen auf. Nicht nur hatten sie eine festgefügte Vorstellung von den »Naturvölkern«, die sie zu missionieren suchten, sie verfügten auch über die notwendigen Mittel, um diese zu beschreiben. In den späten 1850er und 1860er Jahren arbeiteten die Missionare der Freien Kirche zunächst gemeinsam mit der Pariser Missionsgesellschaft in Lesotho, dem Bergkönigreich im südlichen Afrika. Um ihre neue Umgebung zu verstehen und ihren Aufenthalt in Afrika zu rechtfertigen, eigneten sich die Missionare eine ganze Palette an Kenntnissen an: Adolphe Mabille wurde ein führender Linguist der Sotho-Sprache und gründete 1863 die erste Zeitung im südlichen Afrika, die in Bantu-Sprache erschien, die Zeitung Leselinyana. Seinem Nachfolger Eduar Jacottet, einem anderen Schweizer, der für die Pariser Missionsgesellschaft arbeitete, wurde im Jahr 1920 sogar der erste Lehrstuhl für Bantu-Philologie an der Universität von Witwatersrand angeboten.5 Und noch in seinem Ruhestand schrieb Frédéric Ellenberger die zum Klassiker avancierte »History of Basotho, Ancient and Modern«. Seine Nachfahren sollten sich später durch ihre Forschungen zu Felsmalerei, Geologie, Psychologie und Ichnologie einen Namen machen. Am Ende der 1860er Jahre entschied die Freie Kirche von Waadt aber schließlich, ihre eigenen Missionare auszusenden, und wenige Jahre später wurde eine eigene Mission im Norden der Transvaal Republik gegründet. Im Jahr 1883 dehnte sich die Mission bis nach Mosambik in portugiesisches Gebiet hinein aus. Einige Treppenstufen im Département Évangélique führen in den Keller des Gebäudes, wo die Archive untergebracht sind. Diese waren in den frühen 1970er Jahren eingerichtet worden – weniger als ein Jahrzehnt nachdem sich die Freie Kirche wieder der Staats- (bzw. der Kantons-)Kirche angeschlossen hatte und staatliche Gelder ihre Einrichtung ermöglicht hatten. Der kurz zuvor in den Ruhestand getretene Missionar André Clerc übernahm die Leitung der Archivarbeiten. Er klassifizierte das Material und erstellte eine Ordnung des Archivs: Briefe wurden unter dem Namen des jeweiligen Missionars abgeheftet, während Berichte und Statistiken einzelner Missionsstationen gesondert archiviert wurden. Dieser Essay will einen Eindruck vermitteln, wie Historikerinnen und Historiker dieses Archiv in den letzten 35 Jahren nutzten, um die Geschichte des südöstlichen Afrikas zu erforschen. André Clerc war selbst eine reiche Quelle für die Geschichte Mosambiks. Als er im Jahr 1998 im Alter von 96 verstarb, hatte er dort mehr als vierzig Jahre als Missionar gewirkt. Zahlreiche seiner Schüler gehörten zu denjenigen, die 1975 die Macht in Mosambik übernommen hatten.6 1946 hatte Clerc ein weitbeachtetes Buch über die Kindheit eines Hirtenjungen im Süden Mosambiks verfasst. Die Geschichte des Jungen schildert zunächst die zahlreichen Stammesbräuche 5 Tim Couzens, Murder at Morija, Johannesburg 2003, S. 363. 6 Der mosambikanische Künstler Malangatana Ngwenya (1936–2011) war einer seiner Studenten. Ein kurzer Videofilm aus dem Jahr 1991 zeigt beide Männer zusammen, einsehbar unter: http://www.rtbot.net/play.php?id=ec4kMph_JQ4, zuletzt eingesehen am 15.4.2013. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der 1920–30er Jahre, von denen die Kindheit des Jungen geprägt worden war. Es behandelt anschließend die schwierigen Veränderungen, die mit seinem Eintritt in die Schule einhergingen und verdeutlicht, wie erst seine Beharrlichkeit ihm überhaupt ein Studium in der Hauptstadt Lourenço Marques (Maputo) ermöglichte. Der Junge durchlief schließlich eine Ausbildung zum Prediger in Rikatla in der Missionsschule. Da er wegen seines Alters keine staatliche weiterführende Schule besuchen durfte, ging der Junge schließlich in eine Schule der Metho disten, wo er Englisch lernte. Vermutlich setzte er seine Ausbildung in der Eliteschule der Schweizer Mission, dem Lemana College, im Norden Transvaals fort. »Schitlangu, der Sohn des Häuptlings« wurde die triumphierende Geschichte darüber, wie die Mission aus einem ungebildeten Jungen eine Führungspersönlichkeit der modernen Nationalkirche machen konnte.7 Dieser Junge hieß Eduardo Mondlane. Nachdem er seine Ausbildung am Lemana College beendet hatte, wurde er von der Mission ermutigt, sich sozial in seiner Gemeinde zu engagieren. Er besuchte daher zunächst die Jan Hofmeyer Schule für Soziale Fürsorge in Johannesburg und später die soziologische Fakultät an der Universität Witwatersrand, musste aber schließlich im Zuge der Apartheid das Land verlassen. Mondlane ging 1948 in die USA und setzte dort sein Studium am Oberlin College und an der Northwestern University fort, wo er schließlich promoviert wurde.8 Dort ging er eine Beziehung zu einer amerikanischen weißen Frau, Janet Rae Johnson, ein. Die Mission und insbesondere André Clerc beäugten diese Beziehung mit Misstrauen, sie fürchteten ihren Zögling wegen dieser Beziehung zu verlieren,9 was sich zunächst auch zu bestätigen schien: Das Paar heiratete und Mondlane unterrichtete schließlich, nachdem er einige Jahre bei den Vereinten Nationen gearbeitet hatte, an der Universität von Syrakus. Wie sich jedoch zeigen soll, sah sich die Mission vor ganz andere Probleme gestellt, als ihr Zögling schließlich in den Dekolonisationsprozess in Afrika verwickelt wurde. Viele Jahre lang beschäftigten sich zahlreiche Mitglieder der Mission mit der Geschichte ihrer Institution. Diese Arbeiten stellen vor allem die Erfolge der Mission in den Vordergrund – nicht zuletzt, um die zahlreichen Unterstützer der Mission zu weiteren Spenden zu bewegen. Eine neue Richtung bekam die Mis sionsgeschichte erst in der Mitte der 1980er Jahre, als ein niederländischer Theologe als erster das Missionsarchiv in Lausanne nutzte, um die führende Rolle, die den Afrikanern sowohl in der Verbreitung der Missionsgedanken als auch für den Inhalt der Botschaft und ihrer Liturgie zugekommen war, zu betonen.10 7 Das Buch wurde zuerst auf Französisch unter dem Titel »Chitlangou, fils de chef«, Neu châtel 1946, veröffentlicht und 1950 ins Englische und Deutsche übersetzt. Später folgten Übersetzungen u. a. ins Finnische und in Oshivambo. 8 Nadja Manghezi, Eduardo Mondlane nos Estados Unidos de América, 1951–61, in: Estudos Moçambicanos 17. 1999, S. 7–34. 9 Dies., O meu coração está nos mãos de um negro. Uma história da vida de Janet Mondlane, Maputo 1999. 10 Jan van Butselaar, Africains, Missionaires et Colonialistes. Les origines de l’église pres bytérienne du Mozambique (Mission suisse), 1880–1896, Leiden 1984. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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In einem sorgfältig recherchierten Buch schildert Jan van Butselaar den Beginn der Mission in Südafrika und wie die afrikanischen Evangelisten die christliche Botschaft nach Mosambik trugen, dort ein neues Hauptquartier in Rikatla einrichteten und das Christentum in zahlreiche Dörfer an der Küste und im Hinterland brachten: Diese »afrikanistische« Interpretation von Mission sollte sich bald einen zentralen Platz in der Geschichte des Christentums auf dem Kon tinent erobern.11 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts brachten Minenarbeiter aus Mo sambik verschiedenartige Formen des Christentums in ihre Heimat, nachdem sie auf Zuckerplantagen in Natal, in Diamantminen bei Kimberley oder in den Goldminen rund um Johannesburg gearbeitet hatten, und lösten damit einen sozialen Umbruch in Mosambik aus. Schweizer Missionare beschrieben in ihren Briefen und Berichten aus dem Gebiet, wie Männer zu den Minen mit sozialen Normen, Traditionen und Werten aufbrachen und wie sie diese in ihrem neuen Leben in den Minen anwandten. Schließlich kehrten sie – so die Missionare – mit Ideen zurück, deren Spannbreite von Themen wie der Natur der Arbeit bis hin zu Fragen, wie sie ihren neuen Status in einer sich verändernden Gesellschaft bekanntmachen könnten, reichte. Gleichzeitig wurden christliche Ideen und christlicher Glaube zu Hause durch eine immer größer werdende Anzahl von Missionsgesellschaften und Unabhängigen Kirchen befördert und kultiviert.12 Zwar stand die Geschichte der kirchlichen Institutionen in Südmosambik in einigen Forschungen im Mittelpunkt, die meisten Historiker legten ihren Fokus aber eher auf die politischen Auswirkungen der Dekolonisation auf die Mis sion.13 In Südafrika entwickelte sich 1963 aus der Mission heraus die Tsonga Presbyterian Church (TPS), deren Führung sich zu einer Hauptstütze des Bantustan in Gazankulu entwickelte. Während der Apartheid sollte das Land da11 Adrian Hastings, The Church in Africa, 1450–1950, Oxford 1994, S. 437–438. Siehe auch: Alf Helgesson, Church, State and People in Mozambique. An Historical Study with Special Emphasis on Methodist Developments in the Inhambane Region, Uppsala 1994. 12 Patrick Harries, Work, Culture and Identity. Migrant Workers in Mozambique and South Africa, c. 1860–1910, Portsmouth, N. H. 1994, S. 76–77, 105–106, 177, 213–220; Daniel Rochat, L’enfer des mines d’or. Terreau d’Evangile, Lausanne 2011. Zur isolierten Mission in Magude am Fluss Nkomati, siehe: Nicolas Monnier, Stratégie missionnaire et tactique d’appropriation indigènes. La mission romande au Moçambique 1888–1896, in: Le Fait Missionnaire 2, 1995. 13 Zur Institutionengeschichte der Mission in Südafrika vgl.: Jean-François Bill, The Respon sible Selfhood of the Church. A Study of the Tsonga Presbyterian Church. M. A.-Arbeit, Theologisches Seminar, Chicago 1965; Tinyiko Maluleke, Some Legacies of 19th Century Mission. The Swiss Mission in South Africa, in: Missionalia 23. 1995, S. 9–29. Zur Mission in Mosambik, siehe: Charles Biber, Cent Ans au Mozambique. Le Parcours d’une minorité, Lausanne 1987; Patrick Harries, Christianity in Black and White, The Establishment of Protestant Churches in Southern Mozambique, in: Lusotopie 1998, S. 317–333. Hans Huppenbauer, Suchen nach Gerechtigkeit. Metamorphosen der Südafrika-Mission 1874–2012, Affoltern a. A. 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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durch »dekolonisiert« werden, dass die südafrikanische Regierung der schwarzen Bevölkerung in den ländlichen Reservaten »Selbstverwaltung« und letztlich »Unabhängigkeit« zugestand. Die Apartheid zielte darauf ab, die schwarze Bevölkerung zu schwächen, indem sie die Macht der Stammeshäuptlinge reinstitutionalisierte und ethnische Differenzen erneut betonte. Die Mission hatte eine zentrale Rolle in der Transkription der Tsonga-Sprache gespielt, außerdem hatte sie vorsichtig versucht, das Christentum mit solchen afrikanischen Gebräuchen, die für europäische Wertvorstellungen akzeptabel waren, zu vereinbaren. Für viele erhielten die traditionellen Werte, die von der Mission unterstützt worden waren, durch die Einrichtung von Gazankulu als Homeland für die Tsonga einen zusätzlichen Rückhalt durch die staatliche Gewalt, wenn auch die eines Bantustan, – und dies wurde auch als eine Stärkung der noch jungen Kirche vonseiten staatlicher Autoritäten gewertet.14 Ein Teil der Kirche sah diese Verbindungen zwischen TPC und dem Apartheid-Regime mit Unbehagen. Große Teile der Opposition sammelten sich um Jean-François Bill, einen Sohn Schweizer Missionare, der in der Tsonga-Sprache und in Französisch aufgewachsen war und erst viel später Englisch gelernt hatte. Durch sein Studium in Chicago zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren und beeinflusst durch die Schriften Martin Niemöllers und Dietrich Bonhoeffers nahm Bill zunehmend eine radikalere Position ein. Als Dozent beim Federal Theological Seminary in Alice (Fedsem) pflegte er enge Kontakte zu der Black Consciousness-Bewegung und ihren Führungspersönlichkeiten wie Steve Biko. Während seines Dienstes als Moderator der sich entwickelnden Evangelical Presbyterian Church of South Africa (EPCSA) wurde Bill deswegen von der Sicherheitspolizei festgenommen. Nach neunmonatiger Haft und einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz kehrte er jedoch schließlich als General sekretär des South African Council of Churches (SACC) nach Südafrika zurück. Dort war er auch noch beschäftigt, als eine Bombe der Sicherheitspolizei den Hauptsitz des SACC in Johannesburg komplett zerstörte. Die Spannungen, die sich aus der politischen Teilung der EPCSA ergaben, teilten die Kirche – in Südafrika wie in der Schweiz.15 Die historische Verbundenheit, die schließlich zu der Teilung innerhalb der EPCSA führte, trug auch zu einer hitzig geführten Debatte innerhalb der Kirche bei. In einem 1993 erschienenen Artikel kritisierte Tinyiko Sam Malulek, ein ehemaliger Student am Lemana-Kolleg und Theologe an der Universität von Südafrika, die Mission offen dafür, dass sie ein ethnisches Bewusstsein unter den 14 Patrick Harries, The Anthropologist as Historian and liberal. H.-A. Junod and the Thonga, in: Journal of Southern African Studies 8. 1981, S. 37–50; ders., Exclusion, Classification and internal Colonialism.The Emergence of Ethnicity among the Tsonga- Speakers of South Africa, in: Leroy Vail (Hg.), The Creation of Tribalism in South Africa, London 1989, S. 82–117. 15 Nicolas Monnier, De la bière dans les théières. Essai sur les fondements et l’avenir du partenariat missionnaire Afrique du Sud-Suisse, in: Le Fait Missionnaire 8. 1999. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Tsonga gefördert habe, das sich nun in das Bantustan- Programm der Apartheid eingliedere.16 Die Missionare, die nach dem Krieg in Südafrika arbeiteten, waren in der Theologie Karl Barths ausgebildet worden, sie waren in den Arbeiten Niemöllers und Bonhoeffers bewandert, aber sie hatten kaum Kenntnisse über die Apartheid. Klauspeter Blaser, Theologieprofessor in Lausanne, mischte sich schnell in diese Nord-Süd-Debatte ein. Wie François Bill hatte auch er in F edsem unterrichtet, war ein strikter Gegner der Apartheid und kannte die Positionen der schwarzen Theologen. Dennoch zögerte er, die kulturellen Werte, die von früheren Missionarsgenerationen propagiert worden waren, um die Tsonga vor den Gefahren der Industrialisierung zu bewahren, einfach zurückzuweisen. Für diese früheren Missionare habe Gott die Missionare ausgesandt, um »ihr« Volk in Afrika zum Christentum zu führen. In diesem Zuge sollte »ihre« Sprache transkribiert und angereichert werden, und zwar um diejenigen Worte und Bedeutungen, die zur erfolgreichen Missionierung notwendig gewesen seien. Die erste Aufgabe der Missionare sei es, zu missionieren, und diese Aufgabe habe sorgsam abgewogen werden müssen gegen soziale, aber letztlich säkulare Aufgaben. Für Maluleke hingegen hatten die Missionare durch ihre Arbeit die afrikanische Bevölkerung geteilt, indem sie dazu beigetragen hätten, die Tsonga als eine kleine, ethnische Minderheit in Südafrika zu isolieren. Entwicklungsarbeit und soziale Fürsorge der Missionare hätten eine ungesunde und übertriebene Abhängigkeit von der Hilfe von Außen bewirkt.17 Eduardo Mondlane konnte währenddessen seinen politischen Einfluss in Mosambik vergrößern. Er war auf Einladung von Julius Nyerere nach Tan ganyika gezogen; dort brachte er die verschiedenen Gruppen, die sich für eine Dekolonisation einsetzten, zusammen und vereinigte sie zu einer Nationalen Bewegung, die Front for the Liberation of Moçambique (Frelimo). Umstritten blieb zunächst, inwiefern die Ziele dieser Bewegung mit Waffengewalt umgesetzt werden sollten, waren Mondlane und seine Frau doch als praktizierende Christen Gegner von Gewalt.18 1962 meldeten sich aber schließlich einige Freiwillige zu einem militärischen Training in unabhängigen afrikanischen Gebieten, und zwei Jahre später marschierten Frelimo-Truppen aus Tansania in Mosambik ein. Severino Ngoenha hat die Korrespondenz zwischen André Clerc und Eduardo Mondlane sorgfältig analysiert. Er konnte zeigen, wie der einstige Musterschüler
16 Tinyiko Sam Maluleke, Mission, Ethnicity and Homeland. The Case of the EPCSA, in: Missionalia 21. 1993, S. 236–252. 17 Klauspeter Blaser u. a., The Ambivalence of Ethnic Identity. A Response to T. S. Maluleke, in: Missionalia 22. 1993, S. 193–200; Maluleke, North-South Partnerships – The Evangelical Presbyterian Church of South Africa and the Département Missionnaire in Lausanne, in: International Review of Mission 83. 1994, S. 93–100; Maluleke, Some Legacies of 19th Century Mission. Siehe außerdem: Jan van Butselaar, The ambiguity of CrossCultural Mission, in: Missionalia 24. 1996, S. 63–77. 18 Robert Faris, A Changing Paradigm of Mission in the Protestant Churches of Mozambique. A Case Study of Eduardo Mondlane. PhD, University of Cape Town 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der Missionare einige seiner alten Lehrer davon überzeugen konnte, die Unumgänglichkeit des bewaffneten Vorrückens zu unterstützen. Wenn auch zögerlich ließen sich die Missionare überreden, ein unabhängiges Mosambik zu akzeptieren.19 Letztlich bedeutete das große Engagement ihres einstigen Zöglings in einer bewaffneten Befreiung Mosambiks für die Mission aber Ärger: Die Ermordung Mondlanes im Jahre 1969 verwandelte Frelimo von einer breiten nationalen Bewegung in eine streng sozialistische Organisation und in einen Verbündeten der Sowjetunion.20 Während in Südafrika das Tsonganidade, unterstützt von den Missionaren, der Apartheid in die Hände spielte, löste es in Mosambik ein Streben nach Un abhängigkeit von der lusitanischen Kultur aus, was wiederum zu starken Gegenreaktionen vonseiten der portugiesischen Kolonialmacht führte. Als sich die Igreja Presbyteriana de Moçambique (IPM) von der Mission 1970 abspaltete, gab ihr nämlich gerade die Hochschätzung der Tsonga-Sprache und Kultur einen Anstrich von Unabhängigkeit und Nativismus. Die demokratische Struktur der Kirche mit ihren Synoden, Kirchenräten, Schulen und einer Geschichte von afrikanischer Führung in Kombination mit der von ihr propagierten und beförderten Meinungsfreiheit bewegte viele Mitglieder dazu, sich Frelimo anzuschließen.21 Als 1972 Anhänger der Frelimo das erste Mal im Süden Mosambiks in Guerillakämpfe verwickelt wurden, ließen die Portugiesen einige Führer der Kirche verhaften und ermordeten den Präsidenten der Synode in Lourenço Marques’ berüchtigtem Machava-Gefängnis.22 Als 1975 tatsächlich die Unabhängigkeit Mosambiks erreicht wurde, schien eine bessere Zukunft für die Mission und die Kirche zum Greifen nahe. Doch die Proklamation eines marxistisch-leninistischen Staates in Mosambik nur zwei Jahre später führte zu neuen Konflikten zwischen Kirche und Partei. Welche schwierige Zeit dies für die IPM war, wird anschaulich in der Biografie Claudine Roulets geschildert, die am Xicumbane Krankenhaus im XaiXai Distrikt über zehn Jahre lang gemeinsam mit ihrem Mann arbeitete; aus Beira schrieb Maurice Vonnez zwar zunächst optimistisch klingende Briefe nach Lausanne, in denen er die Ankunft der Frelimo-Soldaten in der Stadt detailreich schilderte. Beide mussten aber das Land verlassen, als die Partei Kirchen schloss, Subventionen einfror und kirchlichen 19 Ngoenha, Os missionários suíços face ão nacionalismo moçambicano, in: Lusotopie 1999, S. 425–36. 20 T. Cruz e Silva, The Influence of the Swiss Mission on Eduardo Mondlane (1930–1961), in: Journal of Religion in Africa 28. 1998, S.187–209. 21 Teresa Cruz e Silva, Igrejas Protestantes no Sul de Moçambique e Nacionalismo. O caso da »Missão Suiça« (1940–74), in: Estudos Moçambicanos 10. 1992; Cruz e Silva, T., Identity and Political Consciousness in Southern Mozambique,1930–1974: Contextualizing two Presbyterian Biographies, in: Journal of Southern African Studies 24, 1998; Cruz e Silva, Evangelicals and Democracy in Mozambique, in: Terence Ranger (Hg.), Evangelical Christianity and Democracy in Africa, Oxford 2008, S. 161–190. 22 Cruz e Silva, Protestant Churches and the Formation of Political Consciousness in Southern Mozambique (1930–1974), Basel 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Besitz verstaatlichen ließ.23 Erst in den Jahren 1983 und 1984, als der Krieg sich auf einem Höhepunkt befand und von Südafrika unterstützte Renamo-Rebellen drohten, das Frelimo-Regime zu stürzen, fand das Verhältnis von Staat und Kirche ein neues Gleichgewicht.24 Dieser Essay begann mit einer Darstellung der zahllosen Beiträge von Kirchen männern der französischsprachigen Schweiz zu den sich formierenden Disziplinen der Anthropologie und den Naturwissenschaften, mit denen sie eng verbunden war. Die Missionare aus Lausanne und Neuchâtel, die in den 1870er und 1880er Jahren nach Südafrika aufbrachen, stammten aus eben diesem Milieu. Die Neugierde, mit der sie die afrikanische Umwelt betrachten, wurde bei einigen nur noch durch das Interesse an der afrikanischen Bevölkerung selbst übertroffen. Dies zeigt vor allem das Beispiel von Alexandre Junod, auch wenn dieser lediglich einer der Gastgeber für missionarische Naturforscher in Afrika war.25 Junod sandte beständig botanische Funde zum Bossier Herbarium in Genf und er sammelte Insekten und Tiere für eine ganze Reihe von Museen, vor allem für das von Louis Agassiz gegründete Naturkundemuseum in Neuchâtel. Sein Interesse an Naturgeschichte führte ihn schließlich zur Feldforschung. Er lernte die Tsonga-Sprache und begann, sich dafür zu interessieren, wie die lokale Bevölkerung die Natur wahrnahm, sodass er sogar zur Klassifizierung der Fundstücke ihre Systematisierungen nutzte.26 Bereits in seinen Veröffentlichungen zur Naturgeschichte hatte Junod einen nüchternen Erzählstil entwickelt, den er auch in sein neues Interessensgebiet, die Anthropologie, übertrug. Angeregt durch die Schriften Darwins fügte er evolutionistische Vermutungen über die Reproduktion von Gesellschaft zu seinem ursprünglichen funktionalistischen Ansatz hinzu. Junods Klassifizierungen, die Menschen nach Sprache und Kultur gruppierten, prägten so die Vorstellung mit, dass sich die in Stämmen organisierte afrikanische Bevölkerung wesentlich von der südafrikanischen Bevölkerung mit europäischen Wurzeln unterschied; diese und die von ihm mitentwickelte Anthropologie, spielte der segregationistischen Politik geradezu in die Hände.27 Dennoch: seine detailreichen Feldforschungen und sein Engagement zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Afrikanern haben ihn zu einem vielbeachteten Gegenstand akademischer Studien gemacht.28 23 Roulet, Une petite chronique mozambicaine, Genf 1987/2006; Briefe und Berichte von M. Vonnez, 3.7.1974–17.09.1975, Schweizer Missions Archiv. Département Évangelique, Lausanne, 3056. 24 Eric Morier-Genoud, Of God and Caesar. The Relationship between Christian Churches and the State in Mozambique, 1974–1981, in: Le Fait Missionnaire 3. 1996. 25 Patrick Harries, Natural Science and Naturvölker. Missionary Entomology and Botany, in: Ders./David Maxwell (Hg.), The Spiritual in the Secular. Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids, 2012, S. 30–71. 26 Ders., Butterflies and Barbarians, Kapitel 5. 27 Ebd., Kapitel 8 u. 9. 28 Lorenzo Macagno, Missionaries and the Ethnographic Imagination. Reflections on the Legacy of Henri- Alexandre Junod (1863–1934), in: Social Sciences and Missions 22. 2009; © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Henri-Philippe Junod folgte seinem Vater in den Kirchendienst und wirkte als Missionar bei den Chopi in Mosambik. Er wurde einer der führenden Sozialanthropologen in den 1930er Jahren, obwohl er von den etablierten Anthropologen an den Universitäten weitgehend ignoriert wurde. Henri-Philippe widmete sein Leben daher sozialen Themen in Südafrika, insbesondere der Verbesserung des Strafsystems. Aber sein fortdauerndes Interesse an »Rassenbeziehungen« und »Afrikanischen Studien« führten 1961 zu seiner Ernennung als ersten Direktor des Afrikanischen Instituts in Genf. Im darauffolgenden Jahr nahm er an dem ersten Kongress der Afrikanisten teil, der an der Universität von Ghana in Legon stattfand. Unterstützt von der Ford-Stiftung und der Unesco versammelte der Kongress nahezu 600 Afrikanisten zahlreicher Disziplinen und Länder. Junod schrieb den offiziellen Bericht zu den Verhandlungen, den er 1964 in der kurz zuvor von ihm mitgegründeten Zeitschrift Genève-Afrique veröffentlichte. Obwohl es in seiner Genfer Zeit zu zahllosen Differenzen mit Kollegen und »DrittWelt«-Unterstützern kam, leistete Junod einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur der Etablierung der Afrikanistik in der Schweiz und in Europa.29 Während dieser ganzen Zeit bestand die soziale Arbeit der Mission unver ändert fort. Ihre Geschichte hat die Aufmerksamkeit von Studenten erregt, vor allem von solchen, die sich für Missionsschulen und Krankenhäuser in Südafrika interessierten, um ihre Nationswerdung in der Apartheid zu verarbeiten.30 Die Ambiguitäten und Ambivalenzen, mit denen die Mission versuchte, ihre Landkauf-Politik zu reformieren, wurde jüngst zum Thema einer Studie gemacht, die auch die zerklüftete Geschichte der internationalen Rolle der Mission im Kampf gegen die Apartheid fokussierte.31 Heute herrscht in den Büros des Département Évangélique in Lausanne eine Atmosphäre, die einer Nichtregierungsorganisation ähnelt. Die Bilder an den Wänden weisen auf die Entwicklungsarbeit der Mission in Afrika und im Rest der Welt hin. Flugzeuge von verschiedenen Weltteilen symbolisieren die Globalität der Kirche und ihre Partnerschaft mit den Kirchen im Süden. Bunte Serge Reubi, Aider l’Afrique et servir la science: Henri-Alexandre Junod, Missionnaire et ethnographe, in: Musée Neuchâtelois 44. 2004; Bronwyn Michler, A Biographical Study of H.-A. Junod: The Fictional Dimension, M. A.-Arbeit University of Pretoria 2003; Silas Fiorotti, »Conhecer para converter« ou algo mais? Leitura crítica das etnografias mis sionárias de Henri-Alexandre Junod e Carlos Estermann’ (M. A.-Arbeit Methodist University of São Paulo 2012). 29 Eric Morier-Genoud, Missions and Institutions: Henri-Philippe Junod. Anthropology, Human Rights and Academia between Africa and Switzerland, 1921–1966, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 105. 2011, S. 193–219. 30 Inge Neugebauer, Ein Jahrzehnt der Ungewissheit. Von der Segregation zur Apartheid in einer südafrikanischen Schule: Lemana Training Institution 1948–1958, M. A.-Arbeit Universität Basel 2010; Sarah Staehelin, Elim Hospital 1899–1906. A Swiss Mission Hospital in the Transvaal’ (M. A.-Arbeit Universität Basel 2008). 31 Caroline Jeannerat/Eric Morier-Genoud/Didier Péclard, Embroiled: Swiss Churches, South Africa and Apartheid, Berlin 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Zeitschriften verbreiten eine Botschaft, die spirituelle Erlösung mit sozialem Aufstieg kombiniert. Einzig die Archive im Keller erinnern an die Geschichte der Kirche in Afrika und ihren Beitrag zum Leben in Südafrika und Mosambik. Sie illustrieren die Geschichte der Kirche und ihrer Ableger in Afrika, aber sie erzählen auch eine Geschichte über Nationalismus, Kolonialismus, Wissenschaften und deren Anwendung, über die Praktiken von Bildung, Medizin und »Entwicklung« in Afrika. Die Korrespondenzen und Berichte, Fotografien und Artefakte, die in den Archiven der Missionsgesellschaft in einer Europäischen Stadt lagern, bieten damit einen reichen Zugang zu der Geschichte Afrikas. Aus dem Englischen von Karolin Wetjen
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Antiquare, Sammler, Archäologen Vorspanische Antiquitäten in Peru, 1858–1906
Die Geschichtsschreibung über Archäologie in Peru im 19. Jahrhundert, und das gilt auch für andere Gegenden Lateinamerikas, hat lange Zeit beinahe ausschließlich europäische oder nordamerikanische Forschungsreisende und Archäologen in den Blick genommen. Die Literatur zum Andenraum vermittelt den Eindruck, ein wissenschaftliches Interesse an der vorspanischen Vergangenheit sei in Peru durch den Einfluss deutscher, französischer und nordamerikanischer Forschungsreisender Ende des 19. Jahrhunderts erst entstanden.1 Die dieser Erzählung zugrunde liegende Vorstellung, »moderne Wissenschaft« habe in Nordeuropa ihren Ursprung, sei im 19. Jahrhundert in andere Teile der Welt exportiert worden und habe dort als modernisierende Kraft wissenschaftliche Entwicklung hervorgebracht, gerät in der Geschichtswissenschaft zunehmend in die Kritik.2 Zweifelsohne verbreiteten sich Ende des 19. Jahrhunderts europäische Institutionen und Modelle – die Universität als Ort von Ausbildung und Forschung, eine Fächersystematik in Disziplinen oder das Ideal eines spezialisierten und professionellen »Wissenschaftlers« – und ersetzten oder konkurrierten mit bestehenden Formen der Gewinnung und Tradierung von Wissen in den europäischen Kolonien, in Japan, China und in vielen islamischen Gebieten. »Wissen« ist jedoch, im Gegensatz zu Institutionen, Curricula und Berufsbildern, eine zu flüchtige Substanz und die anderen Wissenskomplexe, die mit europäischen interagierten, sind zu unterschiedlich in ihren Inhalten und ihrer 1 Der Historiker Sergio Chávez beispielsweise zählt in einem Versuch, »archäologische« Aktivität in Peru für die Zeitspanne von 1824 bis 1900 zu quantifizieren, 21 »Archäologen«, darunter 18 europäische und nordamerikanische Forschungsreisende und Einwanderer, aber nur drei Peruaner: Sergio J. Chávez, A Methodology for Studying the History of Archaeology. An example from Peru (1524–1900), in: Jonathan E. Reyman (Hg.), Rediscovering our Past. Essays on the History of American Archaeology, Aldershot 1990, S. 38–39. Das Gründungsnarrativ der Disziplin Archäologie in Peru beruft sich oft auf die »Vaterfigur« des deutschen Forschers Max Uhle. Siehe bspw.: John Howland Rowe, Max Uhle, 1856–1944. A Memoir of the Father of Peruvian Archaeology, in: University of California Publications in American Archaeology and Ethnology 46, 1. 1954, S. 1–134. Kreolische Antiquare und Sammler vor 1906 wurden lange Zeit als »Schatzgräber« und »Abenteuer« abgetan: Federico Kauffmann Doig, El Perú y los Arqueólogos Alemanes, in: Humboldt. Revista para el Mundo Ibérico 23. 1963, S. 175–78, hier S. 65. 2 Für eine Zusammenfassung dieser Debatten in der englischsprachigen Wissenschafts geschichte siehe: Sujit Sivasundaram, Sciences and the Global. On Methods, Questions, and Theory, in: Isis Global Histories of Science 101. 2010, S. 146–158. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Widerständigkeit, als dass sich Wissenstransfer in statische Modelle von Import und Export – oder von Produktion und Rezeption – fassen ließe. Wissen und Wissenschaft im Spanischen Amerika etwa haben eine eigene Geschichte, die sich seit der spanischen Eroberung im Zusammenwirken mit Entwicklungen im spanischen Mutterland und – in geringerem Ausmaß – in Nordeuropa, Asien und Afrika entfaltete.3 Die Geschichte der staatlich geförderten Archäologie in Peru etwa begann im 18. Jahrhundert, im Zusammenhang mit einer Hochphase klassizistischer Faszination im südlichen Europa unter der Patronage des Monarchen, Karl III., zunächst von Neapel (1734–1759) und dann bis 1788 von Spanien und dessen amerikanischen Kolonien. Vorspanische »Antiquitäten« waren seit dem 18. Jahrhundert fortwährend Gegenstand antiquarischer und archä ologischer Abhandlungen sowie kreolischen und spanischen Sammelns für Kabinette oder Museen – in Madrid ebenso wie in Lima oder Mexiko Stadt.4 Als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Forschungsreisende aus den Metropolen der »Alten Welt« in Lateinamerika zur Institutionalisierung der Archäologie als Disziplin an Universitäten beitrugen und neue Ideen und Methoden mit sich brachten, traten sie damit weder in einen akademisch »leeren« noch in einen intellektuell oder soziokulturell »fremden« Raum: Ihre Reisen waren lediglich ein Glied in einer langen Kette von Interaktionen zwischen eng miteinander verwandten Wissenskomplexen. Nationalmuseen, die naturkundliche ebenso wie historische und archäo logische Objekte ausstellten, entstanden in Amerika unmittelbar nach der Unabhängigkeit der ehemaligen spanischen Kolonien – zwischen 1822 und 1826 in Santiago de Chile, Bogotá, Buenos Aires, Mexiko und Lima. Sie waren jedoch aufgrund ihrer finanziell und politisch meist prekären Situation weder die einzigen noch die bedeutendsten Sammlungen und Räume antiquarischer und archäologischer Gelehrsamkeit.5 Tatsächlich waren staatliche Institutionen in den lateinamerikanischen Republiken vor der Begründung der Archäologie als Disziplin an Universitäten im frühen 20. Jahrhundert für die Gewinnung und Tradierung von Wissen und den Aufbau von Sammlungen nur sehr bedingt von Bedeutung. Sammelkulturen und damit verbundene wissenschaftliche Tätig3 Für Überblicke zur Wissenschaftsgeschichte der iberischen Welt siehe: Jorge Cañizares Esguerra, Iberian Colonial Science, in: Isis 96. 2005, S. 64–70; Juan Pimentel, The Iberian Vision. Science and Empire in the Framework of a Universal Monarchy, 1500–1800, in: Osiris. A Research Journal Devoted to the History of Science and its Cultural Influences 15. 2000, S. 17–30. 4 Zur Geschichte antiquarischer Sammlungen und staatlicher Archäologie im Süd- und Mittelamerika des 18. Jahrhunderts: Joanne Pillsbury/Lisa Trever, The King, the Bishop, and the Creation of an American Antiquity, in: Ñawpa Pacha 29. 2008, S. 191–219; José Alcina Franch, Arqueólogos o anticuarios. Historia antigua de la arqueología en la América Española, Barcelona 1995. 5 Zur Geschichte der Nationalmuseen in Lateinamerika, siehe: Maria Margaret Lopes/Irina Podgorny, The Shaping of Latin American Museums of Natural History, 1850–1990, in: Osiris. A Research Journal Devoted to the History of Science and its Cultural Influences 15. 2000, S. 108–118. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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keit bildeten sich vielmehr in bürgerlichen, nichtöffentlichen und nach 1860, in zivilgesellschaftlichen Kreisen: Antiquarisches und archäologisches Interesse fand in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit vor allem in Gelehrtensozietäten, Vereinen und privaten Sammlungen Ausdruck. Wie auch in England und andernorts im späten 19. Jahrhundert noch üblich, waren die meisten lateinamerikanischen Sammler und Gelehrten gentlemen scholars. Sie waren Offiziere, Angehörige des Klerus, Großgrundbesitzer oder, wie etwa José Mariano Macedo (1823–1894), der um das Jahr 1858 eine der größten und bedeutendsten Sammlungen Perus in Lima anzulegen begann, wohlhabende Ärzte.6 Sie widmeten sich ihren Studien und ihrer Sammlertätigkeit in den Stunden oder Lebensphasen, in denen sie nicht von ihren beruflichen Pflichten eingenommen waren. Da, anders als in der Archäologie des 20. Jahrhunderts, in Europa wie Lateinamerika nicht der Prozess der Grabung und Bestimmung des Fundkontextes im Vordergrund stand, sondern das Ansammeln von Stücken und die Bestimmung ihrer Bedeutung über Deskription, Typologie und Analogie7, gruppierten sich Sozie täten und gelehrte Zirkel oft im unmittelbaren Umfeld bedeutender, privater Antiquitätensammlungen, wie derjenigen Macedos. Bereits die ersten euro päischen und nordamerikanischen Forscher, die nach der Öffnung für nichtspanische Reisende mit der Unabhängigkeit lateinamerikanischen Boden betraten, berichten von den Sammlungen, die sie in den Stadtvillen der kreolischen Oberschicht, in städtischen und nationalen Museen und in gelehrten Gesellschaften und Vereinen in Peru, Mexiko oder Bolivien sahen. Ihre Erzählungen von gelehrten Gesprächen inmitten von Keramikgefäßen, fein gewobenen Textilien, von Goldschmuck, Mumien und Bronzefiguren aus der Zeit der Inka, Azteken und Maya vermitteln einen lebhaften Eindruck von dem vorhandenen Interesse und Wissen über die vorspanische Vergangenheit, das sich ihnen bereits bei ihrer Ankunft offenbarte.8 Lateinamerikanische Sammler schätzten die Gegenwart ihrer europäischen und nordamerikanischen Gäste und suchten Anschluss an die internationale Gelehrtengemeinschaft der Zeit. Weder sprachliche noch fundamentale kulturelle Grenzen standen dem Austausch zwischen antiquarisch interessierten 6 In einem Brief an Albin Kohn 1878 schrieb Macedo, er sammle seit zwanzig Jahren Antiquitäten. José Mariano Macedo (1878), Carta a Albin Kohn, in: Sociedad Peruana de Historia de la Medicina (Hg.), Vida y Obras de José Mariano Macedo (1823–1894), Lima 1945, S. 112. 7 Siehe etwa das deutsche Beispiel: Glenn H. Penny, Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002. Zur Unterscheidung zwischen antiquarischen Praktiken und Archäologie, siehe beispielsweise: Alain Schnapp, Between Antiquarians and Archaeologists. Continuities and Ruptures, in: Tim Murray/Christopher Evans (Hg.), Histories of Archaeology. A Reader in the History of Archaeology, Oxford 2008. 8 Siehe beispielsweise die Beobachtungen des französischen Reisenden Francis de Castelnau: Francis de Castelnau, Expédition dans les parties centrales de l’Amérique du Sud, de Rio de Janeiro a Lima, et de Lima au Para. Exécutée par ordre du gouvernement français pendant les années 1843 a 1847, Paris 1851, S. 244. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Zeitgenossen im Wege: Beide Seiten waren vertraut mit den Gepflogenheiten europäischer bürgerlicher Geselligkeit und teilten die akademischen Praktiken und Formen eines den amerikanischen Kontinent und den Atlantik umspannenden wissenschaftlichen Interaktionsrahmens. Museumsangestellte, Sammler und Privatgelehrte in Südamerika waren in der Mehrzahl Mitglieder einer Elite, die sich auf ihre spanische Abstammung berief – die meisten von ihnen hätten sich selbst wohl als »Kreolen« bezeichnet – oder, wenn sie Einwanderer oder Nachfahren indigener Eliten waren, die in dieser hispanischen Schicht sozialisiert worden waren. Sie waren Europäern und Nordamerikanern näher in ihrem Selbstbild als ihren Landsleuten – den Indios, die sie als Nachfahren der vorspanischen Bevölkerung Amerikas zu erkennen glaubten und deren Vergangenheit sie sich durch die Sammlungen vertraut und zu Eigen machten.9 Diejenigen etwa, die Ende des 19. Jahrhunderts in Peru, einem Zentrum antiquarischen und archäologischen Interesses auf dem südamerikanischen Kontinent, Sammlungen begründeten, staatliche Museen leiteten oder sich an Diskussionszirkeln beteiligten, waren beinahe ausnahmslos wohlhabend, kosmopolitisch und gebildet. Macedo war seit seinen Reisen nach Paris oder Berlin vertraut mit den wichtigsten Museen der Zeit, Abonnent wissenschaftlicher Zeitschriften aus Philadelphia und Besitzer einer bedeutenden privaten Bibliothek, die frühkoloniale spanische Chroniken ebenso wie europäische Reiseberichte und Publikationen zu den neuesten Ergebnissen der Paläontologie und Prähistorie enthielt. Macedos Notizbücher erlauben einen Blick auf seine Überlegungen zu den Forschungsthemen, die Wissenschaftler in Europa und Nordamerika damals beschäftigten: Er äußerte Skepsis an den kraniologischen Studien der Zeit oder zerbrach sich den Kopf über steinzeitliche Funde.10 Die Lektüre ausländischer Forschung und Bildungsreisen nach Paris, London oder Berlin prägten den Gesichtskreis peruanischer Gelehrter ebenso wie auch ihre zahlreichen, archäologisch interessierten, europäischen und nordamerikanischen Besucher. Museumsangestellte aus Berlin oder französische Forschungsreisende durchstreiften die Museen eines Macedo und seiner peruanischen Zeitgenossen. Sie zeigten lebhaftes Interesse am Ankauf von Antiquitäten und alten Manuskripten, am Wissen der Sammler und ihrer peruanischen Bekannten über den Weg zu abgelegenen Ruinen, über vor Ort tradierte Legenden oder die Bedeutung einzelner Stücke und erhöhten so oft noch die Wertschätzung der Dinge und des Wissens um ihre Deutung in Peru. Bisweilen beeinflussten Besucher durch Hinweise 9 Historiker befassen sich seit vielen Jahren mit der »patriotischen« oder »nationalen« Aneignung der indigenen Vergangenheit seitens der kreolischen Elite. Eine der frühesten und einflussreichsten Arbeiten zum Thema war: David Brading, The First America. The Spanish Monarchy, Creole Patriots, and the Liberal State 1492–1867, Cambridge 1991. 10 Macedos Notizbücher wurden von seinen Nachfahren aufbewahrt: José Mariano Macedo, Memorandum Histórico, Lima 1880. Eine ausführliche Auswertung des Nachlasses findet sich im Rahmen meiner Dissertation: Stefanie Gänger, The Collecting and Study of pre-Columbian Antiquities in Peru and Chile, c. 1830s–1910s, Diss. Universität Cambridge 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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auf Veränderungen im Geschmack oder auf neuere Forschungsinteressen auch die Zusammenstellung der Sammlungen. Ana María Centeno (1817–1876) aus Cuzco etwa, deren Sammlung ein wichtiger Ort der Begegnung zwischen Reisenden und ortsansässigen Antiquaren war, orientierte sich in der Auswahl der inkaischen Antiquitäten, die sie in ihrem Stadthaus ausstellte, ausdrücklich an den Bemerkungen ihrer peruanischen ebenso wie ihrer europäischen und nordamerikanischen Besucher.11 Sammlungen und Debatten in Peru entwickelten sich in der Wechselwirkung mit Wissen, Vorstellungen und Ideen aus Europa und Nordamerika: durch den Einfluss der Lektüre nordamerikanischer Zeitschriften, von Bildungsreisen nach Paris oder Besuchern aus Berlin. Dabei waren archäologisch und antiquarisch interessierte Sammler und Gelehrte aus Peru, ebenso wie ihre Zeitgenossen aus Mexiko, Kolumbien oder Chile, weit mehr als nur Rezipienten europäischen Wissens – sie waren konstituierende Elemente der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik des späten 19. Jahrhunderts. Macedo etwa besuchte internationale Ausstellungen und Wissenschaftskongresse, die der Erforschung des vorspanischen Amerikas gewidmet waren, er hielt dort Vorträge oder organisierte Ausstellungen von Teilen seiner Sammlung in Madrid, Paris und Berlin. Als Macedo 1876 seine Sammlung in seinem Haus in Lima für ein auserwähltes Publikum öffnete, kamen be freundete peruanische Sammler und argentinische Gelehrte ebenso wie europäische Reisende zu Besuch – unter ihnen Adolf Bastian, der Direktor des Ethnologischen Museums in Berlin – um Macedos Textilien, Keramiken in Form von Menschen, Pflanzen und Tieren, inkaische Knotenschriften und Metallschmuck aus Silber und Gold aus der Zeit vor der Ankunft der Spanier zu besichtigen.12 Macedo veröffentlichte in den Zeitschriften wissenschaftlicher Gesellschaften und Universitäten in Nordamerika über Perus vorspanische Antiquitäten und korrespondierte brieflich wie viele andere seiner südamerikanischen Zeitgenossen mit Museumsdirektoren, Antiquitätenhändlern oder Privatgelehrten in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen des späten 19. Jahrhunderts.13 Häufig traten Archäologen und Museumsdirektoren in New York, Paris oder Berlin mit peruanischen Sammlern in Kontakt, weil sie hofften, Antiquitäten aus deren Sammlungen erwerben zu können, aber auch weil sie sich von deren Position »vor Ort« inhaltliche Hinweise für ihre Forschungen, Messungen oder ethnografischen Beobachtungen versprachen. Man war sich in Peru ebenso wie unter europäischen oder nordamerikanischen Forschungsreisenden der unterschiedlichen Wissenskomplexe und »Standortvorteile« auf beiden Seiten des Atlantiks bewusst, und auch der daraus resultierenden wechselseitigen Abhän11 Um einen Eindruck von den Begegnungen und Gesprächen im Salon Centenos zu ge winnen, siehe den Bericht eines zeitgenössischen Beobachters und Bekannten Centenos: Ricardo Dávalos y Lissón, El Museo de la Señora Centeno, in: El Correo del Perú, 5.9.1875, S. 290–291. 12 Ein Katalog der Sammlung wurde 1881 in Paris veröffentlicht: José Mariano Macedo, Catalogue d’objets archéologiques du Pérou de l’ancien empire des Incas, Paris 1881. 13 Siehe Kapitel drei meiner Dissertation: Gänger, The Collecting. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gigkeit. Wie der Antiquar José Lucas Caparó Muñiz (1845–1921) aus Cuzco, ein Zeitgenosse und Landsmann Macedos, einmal bemerkte, erkenne man in Peru an, dass Wissenschaftler aus dem nordatlantischen Raum in ihrem Zugang zu Publikationen, Instrumenten oder materieller Kultur aus verschiedenen Teilen der Welt im Vorteil waren. Zugleich seien Reisende aber auch im Nachteil in der Erforschung vorspanischer Kulturen gegenüber in den Anden sesshaften Antiquaren gewesen: aufgrund ihrer Unkenntnis lokaler Sprachen, ihres begrenzten Zugangs zu Quellenmaterial und ihres oberflächlichen Verständnisses der geografischen und ethnografischen Gegebenheiten Südamerikas.14 Die Korres pondenz ebenso wie die institutionellen Foren der Zeit vermitteln uns keinesfalls das Bild eines Exports von »Wissen« aus Nordeuropa nach Südamerika, sondern vielmehr einen Eindruck von der beiderseitigen Notwendigkeit, Fragen zu stellen und sich auszutauschen: »Wissen« über die vorspanische Vergangenheit konstituierte sich aus spezifischen Methoden, aus Sprachkenntnissen, Vergleichen und der Möglichkeit, auf materielle Kultur, tradierte Erzählungen und Beobachtungen zuzugreifen – und damit aus dem Zusammenspiel von sehr unterschiedlichen Wissensbeständen. Sammlungen verkörperten häufig diese intellektuellen und materiellen Austauschbeziehungen: Ankäufe, Geschenke oder Tauschgeschäfte mit peruanischen Sammlern Ende des 19. Jahrhunderts prägen bis heute ethnologische und archäologische Sammlungen in Städten wie Berlin, Chicago oder Paris. Viele der bedeutendsten Museen des 19. Jahrhunderts entstanden auf der Grundlage des Erwerbs privater Sammlungen aus aller Welt, auf einem Markt, der auf internationalen Netzwerken von Kommunikation und Austausch beruhte.15 Die Sammlung José Mariano Macedos etwa bildet heute – zusammen mit der von Ana María Centeno – den Kern der altamerikanischen Sammlungen des Berliner Ethnologischen Museums. Die peruanischen Sammlungen wurden nach ihrem Verkauf neuen Deutungen unterworfen und musealen Kontexten untergeordnet, aber sie waren dabei keine Rohmaterialien, kein unbeschriebenes Blatt: Sie waren Resultat einer »wissenschaftlichen und kulturellen Praxis«,16 Zeugen des Geschmacks, der Expertise und der Vorstellungswelten der Männer und Frauen, die diese Sammlungen zusammengetragen, die Stücke ausgewählt und ihr Interesse für das Studium oder die Imagination der vorspanischen Vergangenheit bestimmt hatten. Die Wissenschaftsgeschichte hat, unter dem Eindruck von »schwarzen Legenden« über spanisch-katholische Rückständigkeit und Aberglauben, iberische Wissensproduktion wahlweise als isoliert von oder als Antithese zur nordatlantischen wissenschaftlichen Moderne erzählt. Die Fäden des 14 Caparós Aussagen finden sich in seinen Notizen zu vorspanischen Knotenschriften: José Lucas Caparó Muñíz. Khipu pre-colombiano, Paruro 1903. 15 Penny, Objects of Culture, S. 51–52. 16 Anke Te Heesen/Emma C. Spary, Sammeln als Wissen, in: dies. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S.7–21, hier S. 8. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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weitläufigen Netzwerkes, das in Macedos Stadthaus in Lima zusammenlief, das sich in den altamerikanischen Sammlungen des Berliner Museums spiegelt oder in den Mitgliederlisten internationaler Wissenschaftskongresse sichtbar wird, zeigt nicht nur die Reichweite und Bedeutung der Netzwerke kosmopolitischer Sammler und Gelehrter; es zeigt auch das viel zu lange verkannte Gewicht von Männern und Frauen aus Lateinamerika in der wissenschaftlichen Gelehrten gemeinschaft des späten 19. Jahrhunderts. Man betrachtete in Peru die Institutionalisierung wissenschaftlicher Praxis in Ländern wie den USA, England, Frankreich oder Deutschland als Teil einer erstrebenswerten Moderne und unternahm nach 1906 den Neuaufbau des Nationalmuseums und die Institutionalisierung der Archäologie als Disziplin in einem universitären Rahmen von staatlicher Seite. Die Dynamik der Rezeption dieser disziplinären Organisationsformen Anfang des 20. Jahrhunderts aber erklärt sich nur aus dem bereits bestehenden Feld von Interessen, Wissenskomplexen und materiellen Grundlagen; sie hat ihre Wurzeln in Zirkeln und Sammlungen, wie der 1851 von Macedo begründeten. Die Idee, Wissen entstehe in Europa und werde in einem einheitlichen, formlosen »Außereuropa« rezipiert, verhehlt nicht nur die Vielfalt der Welt rings um Europa, die Komplexität anderer Wissensformen und die Bedeutung von Wissenschaftslandschaften wie den südamerikanischen, die auf Jahrhunderte alte, im Austausch mit den euro päischen gewachsene Bildungstraditionen zurückblickten. Sie verhehlt auch die Abhängigkeit europäischer Gelehrter von Wissen aus ebendiesem »Außereuropa«, gerade in den »Humanwissenschaften vom Fremden«. Die neuere Forschung zur »Globalen Wissenschaftsgeschichte« betont, erstens, das Ineinandergreifen von wissenschaftlichen Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Welt: die Beobachtung, dass Europäer, als sie weltweit Forschung und Handel vorantrieben, in bestehende Wissensnetzwerke eintraten. Besonders in Gegenden mit sozial stark differenzierten Gesellschaften und institutionalisierten Bildungssystemen, wie der lateinamerikanischen aber auch der südasiatischen, entsteht in der Forschung zunehmend ein Bild der Begegnung unterschiedlicher, aber in ähnlichem Maße komplexer Systeme.17 Die neuere Forschung widersetzt sich, zweitens, der Vorstellung einer nicht-westlichen Aneignung als Gegenstück zu westlicher Innovation. Sie zeigt, dass Aneignungsprozesse von Wissen weltweit stattfanden – in Europa selbst ebenso wie in den vormaligen und bestehenden Kolonien.18 Wechselseitiges Ineinandergreifen und Aneignung sind die Variablen, entlang derer die Geschichte eines José Mariano Macedo erst erzählbar wird. Denn ebenso wie die Wissenswelt eines peruanischen Sammlers im späten 19. Jahrhundert undenkbar wäre ohne seine Beziehungen in den nord 17 Für ein dem südamerikanischen vergleichbares Beispiel aus dem südasiatischen Raum, siehe: Phillip B. Wagoner, Precolonial Intellectuals and the Production of Colonial Knowledge, in: Comparative Studies in Society and History 45. 2003, S. 783–814. 18 Lissa Roberts, Situating Science in Global History. Local Exchanges and Networks of Circulation, in: Itinerario 32. 2009, H. 1, S. 9–30. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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atlantischen Raum, wären nordamerikanische Publikationen, internationale Kongresse oder europäische Museen in ihrer damaligen Form nicht vorstellbar ohne den Einfluss peruanischer und anderer lateinamerikanischer Gelehrter und Sammler wie Macedo. In der Folge postkolonialer Theorie und einer Flut kritischer Geschichtsschreibung zur Einbindung von Wissenschaft in imperiale Projekte ist in der Wissenschafts- und Wissensgeschichte zunehmend ein dichotomer und konfrontativer Wissensbegriff in den Vordergrund gerückt. Historisches Arbeiten ist oft durchsetzt von der Vorstellung, koloniales oder europäisches Wissen und das Wissen der Menschen in »Außereuropa« seien voneinander trennbar und genuin verschieden.19 Männer wie Macedo bedeuten uns nicht nur die Notwendigkeit, lateinamerikanische Wissenschaft in den Blick zu nehmen, sondern auch, jenseits von Kategorien wie Europa und Außereuropa zu denken. Im 19. Jahrhundert ließen neue Kommunikations- und Transportkapazitäten einen funktionierenden Weltmarkt entstehen, freien Welthandel und globale Migrationsbewegungen; sie verstetigten, verdichteten und beschleunigten aber auch bestehende oder erst entstehende Zusammenhänge von Wissen und Wissenschaft in ungekanntem Ausmaß.20 Macedos Sammeln und Forschen ebenso wie die Inhalte eines Berliner Museums oder die Texte einer amerikanischen Wissenschaftszeitschrift gründeten so sehr auf der Begegnung von Akteuren, Artefakten und Ideen aus verschiedenen Teilen der Welt, dass sich bei näherem Hinsehen die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen dem einen und dem anderen verlieren. Gerecht wird der Welt, die sich uns Ende des 19. Jahrhunderts offenbart, nicht ein Denken in nationalen oder imperialen Wissenschaftsgemeinschaften. Am nächsten kommt ihr die Vorstellung von Wissenschaft als ein Ozeane und Kontinente überspannendes Netzwerk, das Bedeutungshierarchien und Grenzen aufzulösen und von den vielen Zentren der Wissenschaftslandschaft des späten 19. Jahrhunderts zu erzählen erlaubt. Die Idee vom Wissensnetzwerk soll dabei nicht Schwerpunkte, Brüche und Machtungleichgewichte leugnen – es soll aber eine Welt zeigen, der die Vorstellung von einem einzigen, europäischen Zentrum nicht Genüge tut. Die Fäden, die in den Briefen, der Sammlung und den Begegnungen eines José Mariano Macedo zusammen liefen, spiegeln ein solches Netzwerk – von Stimmen und Dingen, die mitein ander Verbindungen eingingen, Aushandlungen erforderten und einander unwiederbringlich verändern sollten.
19 Sivasundaram, Sciences and the Global. 20 Für eine Einführung in die Geschichte der Globalisierung siehe: Jürgen Osterhammel/ Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Disziplinen
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Iris Schröder
Disziplinen Zum Wandel der Wissensordnungen im 19. Jahrhundert. Einführung
In der ersten Hälfte 19. Jahrhunderts war Wissenschaft ein Betätigungsfeld für erstaunlich Viele. Besonders um 1800 war es in Europa geradezu eine Mode, sich dem eigenen Wissenserwerb, ja, der allgemeinen Wissensvermehrung zu widmen: Anstelle eines Sonntagsspaziergang begaben sich wissenshungrige Bürgerinnen und Bürger auf botanische Wanderungen, und unter der Woche trafen sich die selbsternannten Naturforscher oftmals in geselligen Clubs, um dort die erbeuteten Fundstücke zu zeigen sowie die eigenen Sammlungen und die gewonnenen Erkenntnisse einem staunenden Publikum Gleichgesinnter zu präsentieren. Anders als vielleicht zu erwarten, waren wissenschaftliche Aktivitäten also nicht nur auf einige wenige ausgewiesene Spezialisten beschränkt. Im Gegenteil, neben anerkannten Gelehrten widmeten sich Amateure sowie zahllose selbst ernannte Liebhaber der Wissenschaften ausgiebig den Erscheinungen und Wundern der sie umgebenden natürlichen Welt. Vor diesem Hintergrund erfreuten sich Gesellschaften und Vereine wie die 1773 gegründete Berliner Gesellschaft naturforschender Freunde über Jahrzehnte hinweg eines anhaltend großen Zulaufs. Und ebenso bedeuteten – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die im Winter 1827/28 an der Singakademie gehaltenen Kosmosvorlesungen Alexander von Humboldts ein gesellschaftliches Großereignis, das im provinziellen Berlin geradezu die Massen bewegte.1 Um 1900 hatte sich diese Praxis grundlegend gewandelt: Im so genannten »naturwissenschaftlichen Zeitalter« war wissenschaftliches Arbeiten, so scheint es, vorrangig das Privileg einiger Weniger geworden. Denn neben den wohl etablierten Akademien, zu denen nur ausgewiesene Gelehrte Zugang besaßen, hatten sich die Wissenschaftler vor allem an den Universitäten gleichsam ihr eigenes Reich geschaffen. In den Fakultäten etablierten sich die so genannten Disziplinen, mithin die einzelnen, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstandenen Fächer, deren Vertreter sich sorgsam voneinander abzugrenzen
1 Vgl. zur Mode des Botanisierens beispielhaft: Ann B. Shteir, Cultivating Women, Cultivat ing Science. Flora’s Daughters and Botany in England, 1760–1860, Baltimore u. a. 1996; Alexander von Humboldt, Über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie, hg. von Jürgen Hamel/Klaus-Harro Tiemann/Martin Pape, Frankfurt u. a. 1993. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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pflegten.2 Wissenschaftliche Arbeit wurde auf diese Weise eng an den notwendigen Erwerb von Bildungspatenten, ja an den akribisch überwachten Erwerb wissenschaftlicher Autorität durch entsprechende Abschlüsse und an univer sitäre Ämter gekoppelt. Amateuren und Autodidakten sowie selbstredend auch Frauen – letzteren im Übrigen allein qua Geschlechtszugehörigkeit – sollten die Pforten der Universitäten hingegen weitgehend verschlossen bleiben; Frauen waren sogar lange Zeit noch nicht einmal zum Studium als Gasthörerinnen zugelassen. Mit der Ausbildung der universitären Disziplinen wurde somit mehrerlei im wahrsten Sinne des Wortes geschaffen: erstens ein Fächerkanon, der eine übergreifende zeitgenössische Wissensordnung abbilden sollte, zweitens dann aber auch eine jeweils auf das einzelne Fach bezogene Ordnung des Wissens, die sich nicht zuletzt in entsprechenden allgemeinen Lehrbüchern artikulierte.3 Über die so konstituierten Wissensordnungen unterschiedlicher Reichweite hinaus wurde mithilfe einer fixen institutionellen Ordnung zugleich auch drittens eine hierarchisch fixe soziale Ordnung der Wissenschaften etabliert. Für Außenseiter schien hier nun kein Platz mehr zu sein, und ebenso dürfte ihr prekäres Wissen die Fachvertreter an den Universitäten wohl nur in den wenigsten Fällen explizit interessiert haben.4 Die so nur sehr knapp skizzierte Geschichte der Wissenschaften, genauer gesagt die Geschichte der wissenschaftlichen Disziplinbildung an den Univer sitäten des 19. Jahrhunderts, ist bekannt und – kein Zweifel – sie ist bereits oft und in vielen Versionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten erzählt worden. Diese vermag in weiten Teilen durchaus überzeugend plausibel zu machen, wie sich die Wissenschaften im 19. Jahrhundert umfassend wandelten.5 Dennoch hat die hier nur kurz umrissene historische Entwicklung, trotz all ihrer Überzeugungskraft, aus heutiger Sicht einen entscheidenden Schönheitsfehler. Denn, so wie sie bis hierher erzählt wird, betrifft sie eine Geschichte der europäischen Wissenschaften respektive eine Geschichte der Wissenschaften europäischen Zuschnitts, die bestenfalls noch die Entwicklung in den USA mit einzubeziehen vermag. Damit reduziert sie die Welt des 19. Jahrhunderts auf eine ihrer Weltprovinzen, die sie überdies vom »Rest der Welt« gleichsam isoliert betrachtet. Die 2 Gerd Schubring (Hg.), »Einsamkeit und Freiheit« neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, sowie für eine neuere Diskussion mit Schwerpunkt auf den Sozialwissenschaften: Dorothy Ross, Changing contours of the social science disciplines, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Modern Social Sciences, Cambridge 2004, S. 205–237. 3 Vgl. dazu auch die einschlägigen Überlegungen bei Michael Hagner/Manfred Laubichler, Vorläufige Überlegungen zum Allgemeinen, in: dies. (Hg.), Der Hochsitz des Wissens. Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert, Zürich 2006, S. 7–21. 4 Bonnie G. Smith, The Gender of History. Men, Women, and Historical Practice, Cambridge 1998. 5 Vgl. für eine klassische Studie dieses Zuschnitts: Lynn K. Nyhart, Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800–1900, Chicago 1995. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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globale Welt des 19. Jahrhunderts, die zunehmende Verflechtung Europas mit anderen Teilen der Erde, die sich nicht zuletzt eng mit dem weiteren Auf- und Ausbau der europäischen Kolonialreiche verknüpfte, wird auf diese Weise hingegen ausgeblendet.6 Doch wie kam die außereuropäische Welt nach Europa? Und wie und in welcher Weise fand das Wissen von der ganzen Welt schließlich Eingang in die an den europäischen und nordamerikanischen Universitäten entwickelten Diszi plinen? Unter welchen Bedingungen also entstanden Fächer wie Orientalistik, Afrikanistik oder die Archäologie? Und wie kam es zu Disziplinen wie Geografie, Anthropologie und Ethnologie? Wie also entstanden zu guter Letzt all jene Fächer, die das Wissen vom Anderen und vom Fremden explizit in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückten?7 Im folgenden Essay soll genauer gefragt werden, wie und in welcher Weise sich die globale Welt des 19. Jahrhunderts in den sich in Europa etablierenden Wissenschaften artikulierte und in welcher Weise und auf welchen Wegen sie dann doch zumindest teilweise Einzug in die universitären Disziplinen finden sollte. Gefragt wird dabei nach den vielfältigen globalen Verflechtungen des Wissens, nach einem Wissen in Bewegung, einem Wissen, das nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Akteure unterschiedlichster Provenienz in erheblichem Umfang zirkulieren und sich im Zuge dessen nochmals verändern sollte. Empirischer Ausgangspunkt sind hier zunächst jene sich verändernden Geografien des Wissens, die für die europäischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts auch und gerade im globalen Zeitalter maßgeblich werden sollten. Ein zweites weiteres Augenmerk richtet sich dann auf die sich allmählich ausbildenden und sich zunehmend auch von einander abgrenzenden unterschiedlichen Wissensgebiete sowie nicht zuletzt auf die vielfältigen Effekte und Dynamiken, die sich aus den vielfältigen Zirkulationen und Verflechtungen des Wissens, aber auch aus jener Institutionenbildung ergaben, die sich eng mit dem Aus- und Aufbau der europäischen Kolonialherrschaft verknüpften.8
6 Vgl. als Überblick Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World, Oxford 2004; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 7 Vgl. zu Archäologie, Afrikanistik und Orientalistik die nachfolgenden Essays sowie zur Geschichte der Geografie: Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn u. a. 2011; Marie Claire Robic, Geography, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Modern Social Sciences, Cambridge 2004, S. 379–390; zur Anthropologie: Adam Kuper, Anthro pology, in: ebd., S. 354–378, sowie zur Ethnologie: Werner Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004. 8 Vgl. für eine solche Perspektive, die Betonung der Zirkulationen von Wissen explizit betont, Kapil Raj, Relocating Modern Science. Circulations and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900, Basingstoke 2007 sowie für mit Blick auf den engen Zusammenhang von Kolonialismus und Wissenschaft bezogen auf das französische Beispiel Anja Bandau/Marcel Dorigny/Rebekka von Mallinckrodt (Hg.), Les mondes coloniaux à Paris au XVIIIe siècle. Circulation et enchevêtrement des savoirs, Paris 2010. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Europäische und außereuropäische Geografien des Wissens Städte wie London, Paris, Berlin, Brüssel und Amsterdam avancierten ebenso wie später Wien und zunehmend auch St. Petersburg und New York im 19. Jahrhundert zu zentralen Orten der Wissenschaften.9 Vereinigungen und Clubs, die sich die Verbreitung und Vermehrung wissenschaftlichen Wissens auf ihre Fahnen schrieben, gehörten hier neben den Akademien sowie später den Univer sitäten zu den einschlägigen Orten des Wissens. Bibliotheken und Museen ergänzten die örtlichen Gegebenheiten, denn auch sie boten Interessierten, Gelehrten, Amateuren und Laien, oftmals gleichermaßen, einen Ort der Begegnung und des wissenschaftlichen Austausches. In ähnlicher Weise dürften auch kommerzielle Einrichtungen wie Verlage, Buch- und Kartenhandlungen oder die Häuser der großen Handelskompanien zu Treffpunkten eines interessierten Publikums geworden sein. Viele dieser Orte lagen oftmals vergleichsweise nah beieinander, und das selbst in London, das bereits um 1800 über eine Million Einwohner zählte. Innerhalb von greater London befanden sich die wichtigsten Örtlichkeiten fast ausnahmslos in zentraler gelegenen Teilen des Westens der Stadt: Hier residierte beispielsweise die 1830 gegründete und alsbald sehr aktive Royal Geographical Society, und zwar zunächst in der Regent Street, dann ab 1839 am Waterloo Place, sowie ab 1854 am Whitehall Place, von wo aus sie 1871 in das eigens erbaute Prachthaus in der Savile Row umzog.10 Die unterschiedlichen Vereinslokale der Gesellschaft lagen damit inmitten einer Fülle weiterer wichtiger Zentren, die das wissenschaftliche Leben der Stadt bestimmten. Südlich der Regent Street war einige Straßenzüge weiter die Royal Institution, noch etwas weiter südlich das Vereinslokal des Athenaeum, einer der führenden gentlemen’s clubs des Londoner Westend. Von dort war es nur ein kurzer Weg zum Somerset House am Strand, wo sich sowohl das King’s College, das 1826 gegründet worden war und nur kurze Zeit später in das University College London integriert werden sollte, als auch der Sitz der renommierten Royal Society und das Vereinslokal der einflussreichen 1807 gegründeten geologischen Gesellschaft befanden.11 Joseph Banks, einer der wichtigsten Initiatoren der 1788 gegründeten African Association und von 1778 bis 1820 Präsident der Royal Society, residierte am Soho Square und damit inmitten jenes kaum mehr als eine Meile Radius umfassenden Kreises, innerhalb dessen sich große Teil des für 9 Vgl. dazu die klassische These von Bruno Latour, Centres of Calculation, in: ders. (Hg.), Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge (Mass.) 1987, S. 215–257 sowie die Beiträge in David N. Livingstone/Charles W. J. Withers (Hg.), Geographies of nineteenth-century Science, Chicago 2011. 10 Vgl. Clement Markham, The Fifty Years Work of the Royal Geographical Society, in: Journal of the Royal Geographical Society 50 (1880), S. 112–115. 11 Zur wissenschaftlichen Geografie Londons: Martin J. S. Rudwick, The Great Devonian Controversy. The Shaping of Scientific Knowledge among Gentlemanly Specialists, Chicago 1985, S. 35. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Viele relevanten wissenschaftlichen Lebens abspielten. Mit seiner großen Privatbibliothek, die er Interessierten freigebig zur Verfügung stellte, war Banks’ Haus offenbar ein weiterer wichtiger informeller Treffpunkt.12 Gewiss, auch in London gab es Einrichtungen, wie die ebenfalls viele Jahre von Banks geleiteten Gärten von Kew oder das Observatorium in Greenwich, die außerhalb des skizzierten Stadtgebiets gelegen waren. Dessen ungeachtet konzentrierte sich jedoch vieles in einem vergleichsweise kleinen, geografisch überschaubaren, ja nahezu fußläufigen Rahmen. Eine Folge dieser räumlichen Konzentration war, dass sich die Wissenschaften im frühen 19. Jahrhundert gerade in den genannten Zentren, wie London, Paris, Berlin, Wien, St. Petersburg und New York, oftmals wie selbstverständlich als eine gesellige Unternehmung ins Werk zu setzen begannen. Dazu gehörten regelmäßige Treffen, so genannte Gesellschafts-, Vereins- oder Vortragsabende, die den Austausch der Mitglieder untereinander erheblich fördern sollten. Bezeichnenderweise waren viele gentlemen, denn oft handelte es sich allein um diese, da Frauen zunehmend von den geselligen wissenschaftlichen Vereinigungen ausgeschlossen sein sollten, in mehreren Vereinigungen aktiv.13 Charles Darwin etwa, der nach seiner Rückkehr von seiner Forschungsreise auf der Beagle in den 1830er Jahren zunächst in die britische Hauptstadt kam, sollte so, wie im Übrigen viele Andere auch, von einer Vereinigung zur nächsten wechseln, bevor er sich aus London wieder verabschiedete.14 Während Darwin in London also ein regelrechtes wissenschaftliches Wanderleben pflegte, versuchten Andere ihren weit gefächerten wissenschaftlichen Interessen parallel nachzugehen: Zu diesem Personenkreis gehörte beispielsweise der Geologe George Bellas Greenough, der sich mit mehr als dreißig Vereinsmitgliedschaften schmückte. So etwas wie eine Anwesenheitsverpflichtung, wie sie noch die ältere renommierte Royal Society für ihre Mitglieder bei ihren wöchentlichen Treffen vorgesehen hatte, konnte jemand wie Greenough gewiss nicht mehr wahrnehmen. Bezeichnend ist jedoch, dass er, wie ebenso vermutlich manch Anderer, mit seinen Mehrfachmitgliedschaften in unterschiedlich ausgerichteten Vereinigungen für eine enge Vernetzung der wissenschaftlichen Gesellschaften unterein ander sorgte.15 Dies war umso folgenreicher, als sich, wie die oben genannten Hinweise bereits andeuten, die wissenschaftlichen Vereinigungen in London – wie im Übrigen, obschon in anderem Umfang auch an anderen Orten – im frühen 19. Jahrhundert im Aufbruch befanden: Bezeichnend dafür war die Gründung neuer 12 Vgl. John Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture, Cambridge 1994. 13 Jane Rendell, The Clubs of St. James’s: Places of Public Patriarchy – Exclusivity, Domesticity and Secrecy, in: The Journal of Architecture 4, 1999, S. 167–189. 14 Martin J. S. Rudwick, Charles Darwin in London: The Integration of Public and Private Science, in: Isis 73. 1982, S. 186–206. 15 Iwan Morus/Simon Schaffer/Jim Secord, Scientific London, in: Celina Fox (Hg.), London – World City 1800–1840, New Haven 1992, S. 129–142. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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wissenschaftlicher Gesellschaften, die, anders als die renommierte 1688 gegründete Royal Society, nun begannen, sich einzelnen Spezialgebieten zuzuwenden. Zu den einflussreichsten Londoner Gründungen gehörten die Linnean Society (1788) sowie die Association for Promoting the Discovery of the Interior Parts of Africa (1788) – kurz: African Association –, sodann die Horticultural Society (1804) und die Geological Society (1807), der im Übrigen auch Charles Darwin eine Zeit lang angehörte. Nach 1820, nach dem Tod des einflussreichen Joseph Banks, kamen weitere Gesellschaften hinzu, unter ihnen die Astronomical Society (1820), die Royal Asiatic Society (1823), die Zoological Society (1826), die Statistical Society (1834) sowie die Royal Geographical Society (1830), in der die African Association 1831 übrigens aufging. Deuten bereits diese knappen Nennungen darauf hin, dass die »Vereinigungswut« vor den Wissenschaften nicht halt machte, so kommt hinzu, dass zusätzlich zu den neuen Spezialgesellschaften weitere Vereinigungen entstanden, die ihre Interessengebiete ebenso breit wie die Royal Society fassten. Die bekannteste unter ihnen war die 1831 in York gegründete British Association for the Advancement of Science, eine Organisation die sich in expliziter Konkurrenz, ja sogar in Opposition zur Royal Society definierte.16 Die Spezialisierung wissenschaftlicher Vereinigungen war somit nicht der einzige Trend, der den Gründungsboom wissenschaftlicher Gesellschaften nach der Jahrhundertwende kennzeichnete. Wie die bereits erwähnten Mehrfachmitgliedschaften zeigen, wurden die Grenzen zwischen den unterschied lichen Wissensgebieten offenbar als fließend wahrgenommen, wobei ein Glaube an die Einheit der Wissenschaften vermutlich nach wie vor als grundlegend angesehen worden sein dürfte. Konzentriert man sich auf die großen Zentren, deren innere Funktionsweise hier am Fall London beispielhaft aufgezeigt werden sollte, so werden die wissenschaftlichen Geografien des frühen 19. Jahrhunderts freilich nur unzureichend beschrieben. Denn bezeichnend für viele der neuen Vereinigungen war, dass sie ihre wissenschaftliche Aufmerksamkeit eben nicht auf die sie umgebende Lo kalität beschränkten, sondern dass sie, im Gegenteil, ihren Aktionsradius so weit wie möglich auszudehnen versuchten. Zu den klassischen Praktiken wissenschaftlichen Austausches gehörten der Auf- und Ausbau weitreichender Korrespondentennetzwerke. Besonders durch die Nominierung von Ehrenmitgliedern und Korrespondenten gelang es vielen Gesellschaften, ein umfassendes kommunikatives Netzwerk zu begründen. Gewiss, diese Netzwerke hatten ihre Schwerpunkte oft zuerst in der europäischen Gelehrtenwelt, mit der sie, ganz im Sinne des aus der Aufklärung tradierten Ideals einer Gelehrtenrepublik, enge Verbindungen pflegten. Im Verlauf des Jahrhunderts wurden aber darüber hinaus – wie erneut das Beispiel der Royal Geographical Society belegt – vielfach Korrespondenten in Übersee gewonnen. Die Royal Geographical Society verfügte sogar über eine Art Dependance, möglicherweise eine Art Schwestergesellschaft, im 16 Vgl. Morus u. a., Scientific London. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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britischen Indien, denn schon kurz nach ihrer Gründung wurde sie von einer 1832 in Bombay gegründeten Gesellschaft mit der Bitte um Unterstützung kontaktiert. Von 1833 bis 1837 war die Bombay Geographical Society eine Abteilung der Royal Geographical Society, und auch in den folgenden Jahrzehnten bestanden freundschaftliche Kontakte zwischen den beiden Gesellschaften, bis dass die geografische Gesellschaft in Bombay schließlich 1873 in der Royal Asiatic Society aufgehen sollte.17 Mit der Bombay Geographical Society, über die bislang nur wenig bekannt ist, ist eine Weltregion erwähnt, die für die Londoner Wissenschaftler von erheb licher Bedeutung war. Schließlich war das britische Indien, das zu der Zeit noch unter der Herrschaft der Ost-Indienkompanie stand, ein wichtiger Bezugspunkt für unterschiedlichste wissenschaftliche Vorhaben. Bezeichnend war in dem Zusammenhang das Engagement von Sprachforschern wie William Jones, der bereits 1784 für die Gründung der Asiatic Society of Bengal verantwortlich zeichnete. Diese Gesellschaft war eine Art Prototyp, der erst später in London und Paris die Gründungen der einflussreichen Société Asiatique sowie der Royal Asiatic Society in den 1820er Jahren folgten.18 Jones, der sich zunächst als Sanskritforscher und Übersetzer einen Namen gemacht hatte, befasste sich ebenfalls intensiv mit indischer Rechtssprechung.19 So trat er in einen intensiven Austausch mit dem indischen Rechtsgelehrten Jagannātha Tarkapanchānana, mit dem er in einem gemeinsam verfassten Werk die geltende Hindurechtsprechung zu revidieren suchte. Jagannāthas und Jones Abhandlung – der Vivā dabhangārnava – sollte für die britisch-indische Rechtsprechung der kommenden Jahrzehnte maßgebend bleiben.20 Doch damit nicht genug: Denn Jones Initiative war kein Einzelfall. Auch Warren Hastings, der von der Ost-Indienkompanie ernannte Generalgouverneur von Bengalen gehörte zu denjenigen, die sich entschieden dafür einsetzten, dass möglichst sämtliche Mitglieder der britischen Verwaltung die jeweiligen lokalen Sprachen zu lernen hätten, was zumindest einige von ihnen mithilfe indischer Munshi auch taten. Um das lokale Wissen der britischen Administratoren noch weiter zu vertiefen, wurde im Jahre 1800 in Kalkutta das College of Fort William gegründet. Diese frühe Gründung sollte den Ankommenden ein umfassendes Wissen über den Subkontinent, seine Sprachen wie seine unterschiedlichen Kulturen vermitteln.21 Ein weiteres wichtiges Kollaborationsprojekt war der Great Trigonometrical Survey of India, eine Initiative, die der Geograf James Rennell lancierte. Ihm gelang es in einem er17 Vgl. Markham, The Fifty Years Work of the Royal Geographical Society, S. 32 f. 18 Vgl. Robert Irwin, For Lust of Knowing. The Orientalists and Their Enemies, London u. a. 2006, S. 124, 139, 146. 19 Zu Jones siehe auch den Beitrag von Ballantyne in diesem Band. 20 Zu diesem und auch den nachfolgenden Beispielen vgl.: Kapil Raj, Colonial Encounters and the Forging of New Knowledge and National Identities. Great Britian and India, 1760– 1850, in: Roy M. MacLeod (Hg.), Nature and Empire. Science and the Colonial Enterprise, Chicago 2000, S. 119–134, bes. S. 123. 21 Vgl. Irwin, For Lust of Knowing, S. 160. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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staunlichen Umfang für die trigonometrische Erfassung Bengalens auf Wissensbestände unterschiedlicher Herkunft zurückzugreifen und eine Vielzahl unterschiedlicher Mitarbeiter zu gewinnen, die für die Messungen in den Regionen zuständig zeichnen sollten. Die unter Rennells Namen 1783 veröffentlichte Map of Hindustan, die die spätere Grundlage für den Trigonometrial Survey of India werden sollte, war ein Meilenstein der außereuropäischen Kartografie. Somit stellt sich hier in der Tat die Frage, ob nicht die außerhalb Europas entwickelte kartografische Praxis die später erst in Europa lancierten Vermessungsprojekte maßgeblich inspiriert haben könnte.22 Die engen Verbindungen, die zwischen Großbritannien und Indien im aus gehenden 18. sowie im frühen 19. Jahrhundert bestanden, mögen eine Ausnahme gewesen sein, und zudem waren sie, was die tatsächliche Zusammen arbeit anging, letztlich nur von kurzer Dauer. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich die britische Indienpolitik im Laufe des 19. Jahrhunderts grundlegend wandelte und dass so auch die Anerkennung und Hochschätzung lokalen Wissens grundlegend abnahm.23 Ein anderes Modell für die kollaborative Wissensproduktion betraf Afrika, hier freilich dominierte seitens der Londoner Wissenschaftler von Anfang an ein hierarchischer Gestus ›dem Anderen‹ gegenüber, der mit dem Ende der Aufklärung seinen Anfang genommen hatte. Entscheidend war hier die bereits erwähnte 1788 in London gegründete African Asso ciation, sie gehörte schon früh zu den Vereinigungen, die sich speziell Problemen der Geografie zuwandten. Die programmatische Wahl, die Geografie Afrikas zu fördern, entsprach dabei wohl einem strategischen Kalkül ihrer Gründungsmitglieder, denn nachdem die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit vom Britischen Empire erlangt hatten, bot sich vor allem Afrika dazu an, in einem bis dahin für Europa unbekannten Gebiet den britischen Einfluss zu stärken. Die African Association war eine Organisation, die die geografische Erforschung des Unbekannten auf diese Weise mit klaren politischen und wirtschaftlichen Ambitionen und Zielen verknüpfte. Das erwünschte Wissen über Afrika war somit in erster Linie ein Mittel zum Zweck, wobei das von der Gesellschaft vertretene Fernziel, der Ausbau des britischen Freihandels und des Empire, durchaus mit
22 Vgl. zu dieser These : Kapil Raj, Connexions, croisements, circulations. Le détour de la cartographie britannique par l’Inde, XVIIIe-XIXe siècles, in: Michael Werner/Bénédicte Zimmermann (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, S. 73–98; für eine andere Interpretation des Great Trigonometrical Survey, die die europäische Komponente weitaus stärker gewichtet, s. Matthew H. Edney, Mapping an Empire. The Geographical Construction of British India, 1765–1843, Chicago/London 1997. 23 Für eine ähnlich enge Verflechtungsgeschichte des Wissens, in diesem Fall zwischen Europa und Lateinamerika plädiert auch: Ottmar Ette, Paris/Berlin. Alexandre von Humboldt, la liberté du voyage et les perspectives d’un concept scientifique relationnel des TransArea Studies, in: Anja Bandau/Marcel Dorigny/Rebekka von Mallinckrodt (Hg.), Les mondes coloniaux à Paris au XVIIIe siècle. Circulation et enchevêtrement des savoirs. Paris 2010, S. 121–147. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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anderen zeitgenössisch viel diskutierten Themen wie der umstrittenen Abschaffung der Sklaverei in Verbindung gebracht wurde.24 Die Initiatoren der African Association waren – wie kaum anders zu erwarten – namhafte Vertreter jener guten Londoner Gesellschaft, die sich den Wissenschaften eng verbunden fühlte. Neben dem Mitbegründer Joseph Banks, der als Präsident der Royal Society über einen erheblichen Einfluss verfügte, engagierte sich besonders der aus Indien zurückgekehrte James Rennell für die Geschicke der neu gegründeten Gesellschaft. Rennell hatte aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Kartograf in Indien gute Verbindungen zur East India Company aufgebaut. Überdies brachte er seine umfassende fachliche Expertise in Sachen Kartografie in die Arbeit der African Association ein. Die African Association sollte sich alsbald einen Namen machen, als sie begann, Forschungsreisende nach Afrika zu entsenden. Zwar sollten die ersten Expeditionen scheitern, doch dann gelang ihr mit der Reise des schottischen Arztes Mungo Park, der Mitte der 1790er Jahre in ihrem Auftrag nach Westafrika reiste, um den Niger zu erkunden, ein geradezu sensationeller Durchbruch. Der von Park verfasste Reisebericht, der 1799 erschien, sollte in Europa zu einem Bestseller werden. Er war schon binnen einer Woche ausverkauft, weitere zwei Auflagen folgten im gleichen Jahr. Außerdem wurde das Buch umgehend in mehrere europäische Sprachen übersetzt.25 Parks Reise steht wie viele andere Reisen emblematisch für das so genannte Zweite Zeitalter der Entdeckungen, in der seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts von Europa ausgehend zahlreiche Forschungsreisen gestartet wurden, und das sowohl in die Südsee, nach Südostasien, Indien, nach Nord- und Südamerika, Afrika sowie zu guter Letzt auch in die Polargebiete, wo vor allem die britische Admiralität hoffte, vermittels einer Nord-West-Passage einen kürzeren Seeweg nach Indien zu entdecken.26 Bezeichnend für diese Initiativen war der breit angelegte Versuch, umfassendes Wissen über möglichst alle Teile der Erde zu erlangen. Die Reisenden selbst verkörperten dabei gleichsam als Personen die große europäische Mission einer Welterkenntnis durch Reisen in die entlegensten Gebiete der Erde. Das Wissen von der ganzen Welt sollte – so lautete der Auftrag – vermittels umfassender Sammlungen zusammengetragen werden.27 Ob es sich 24 Vgl. zur African Association insgesamt Robin Hallett, Introduction, in: ders. (Hg.), Records of the African Association,1788–1831, London u. a. 1964, S. 1–41. 25 Mungo Park, Travels in the Interior Districts of Africa [1799], hg. von Kate Ferguson Marsters, Durham 2000, sowie Kate Ferguson Marsters, Introduction, in: ebd., S. 7; zum weiteren Kontext der geografischen Afrikaforschung im frühen 19. Jahrhundert: Schröder, Wissen. Siehe auch den Beitrag »Ressourcen« in diesem Band. 26 Vgl. für einen gelungenen knappen Überblick zu diesem Thema: Harry Liebersohn, Scientific Ethnography and Travel 1750–1850, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Modern Social Sciences, Cambridge 2004, S. 100–112. 27 Vgl. zu diesen Anspruch auch die Beiträge in: Anke te Heesen/Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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bei den auf Reisen gesammelten Fundstücken, Objekten und Daten um geografisches Wissen oder um Pflanzenwissen handelte, wie sie beispielsweise britische Gelehrte allerorten vor allem für die botanischen Sammlungen im Garten von Kew zusammenzustellen hatten, spielte um 1800 nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil, Reisende wie der erwähnte Mungo Park erhielten einen breit gefassten Aufgaben- und Forschungskatalog mit auf die Reise, wobei man hoffte, dass der Zurückgekehrte zumindest einige Antworten auf die anfangs gestellten Fragen nach Europa zurückbringen sollte.28
Neue Ordnungen des Wissens Mitte des Jahrhunderts hatte sich die hier nur knapp skizzierte Praxis in mehr facher Hinsicht gewandelt. Hatte es im frühen 19. Jahrhundert noch veritable Kooperationsprojekte gegeben, wie sie vor allem für den indischen Fall überliefert sind, oder gab es, wie in zahlreichen Berichten von europäischen Afrikareisenden der Zeit nachgelesen werden kann, zumindest teilweise noch ein Bemühen, das Wissen lokaler Informanten zu markieren und somit explizit als ein solches weiter zu tradieren, so sollte dieser gleichsam kooperative Gestus auf Seiten der europäischen Reisenden im Laufe der Zeit immer mehr zurücktreten. Stattdessen dominierte zunehmend – und zwar ganz unbeschadet der nach wie vor bestehenden engen Abhängigkeiten vor Ort – in den später publizierten Reisewerken eine immer unübersehbarer werdende Überlegenheitsgewissheit. Das Wissen der Anderen, der lokalen Reisebegleiter und Informanten, sollte dabei zum einen verschwiegen, zum anderen zugleich aber auch als eigenes Wissen, ja als »eigene Entdeckung« ausgewiesen werden. Dass viele der in Europa als solche gefeierten »Entdeckungen« auf der schlichten Tatsache beruhten, dass lokale Führer europäische Reisende erstmals in bestimmte Regionen begleiteten, wurde dabei geflissentlich unterschlagen. Anstatt also die immer großformatiger angelegten Reiseunternehmungen in ihren vielfältigen Abhängigkeiten offen zu legen und die Zusammenarbeit vor Ort zu würdigen, stilisierten sich viele europäische Reisende immer öfter als nahezu vollständig einsame Helden. Aus fernen Weltgegenden zurückgekehrt ließen sie sich – ganz dem Zeitgeist des heroischen 19. Jahrhunderts entsprechend – feiern, gleichsam wie nach erfolgreicher Schlacht zurückgekehrte Feldherren.29 28 Vgl. beispielsweise zu den Pflanzensammlungen: Fa-ti Fan, British Naturalists in Qing China. Science, Empire, and Cultural Encounter, Cambridge 2004; sowie, allerdings mit einem größeren Schwerpunkt auf London: Richard Drayton, Nature’s Government. Science, British Imperialism and the »Improvment« of the World, New Haven 2000. 29 Vgl. für diesen Zusammenhang zu den Afrikareisenden in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts, Schröder, Wissen, S. 126–190 sowie den vielfach aufgelegten und übersetzten zeitgenössischen Bestseller Thomas Carlyle, On Heroes, Hero-worship & the Heroic in History. 6 Lectures, London 1841. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die vor allem seit der Jahrhundertmitte immer mehr zunehmende Praxis, das auf Reisen vor Ort erworbene Wissen ausschließlich als eigenes auszuweisen, ist freilich nur ein Trend, der den Wandel von der ersten zur zweiten Jahrhunderthälfte kennzeichnet. Ein maßgeblicher zweiter, eng damit verbundener Trend bestand bei allen Beteiligten auf europäischer Seite darin, den Gestus der Wissenschaftlichkeit, ja die eigenen wissenschaftliche Herangehensweise immer mehr zu betonen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass sich gerade in den erwähnten europäischen Zentren immer weiter spezialisierte Zirkel herausbildeten, die sich ihrerseits die emphatisch verfolgte Verwissenschaftlichung ihres eigenen Tuns auf die Fahnen geschrieben hatten. Gelehrte wie der britische Geograf William Desbourough Cooley, im Übrigen ein ausgewiesener Kenner der arabischen Literatur und der Südsahara, aber auch Kartografen wie August Petermann, der im Gothaer Perthesverlag wirkte, versuchten im Zuge dessen, das Wissen der Reisenden für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.30 Dazu gehörte, das mitgebrachte Wissen, ja selbst die von einem breiten Publikum gern gefeierten sensationellen Entdeckungen der Reisenden, genauestens zu prüfen und zu hinterfragen. So kritisierte Cooley beispielsweise die Missionare Johann L udwig Krapf und Johannes Rebmann, die von »Schneebergen am Äquator« berichtet hatten. Für Cooley widersprach eine solche Beobachtung jeglicher geografischer Raison, so wie er sie verstand. Der neue Glaube an die gerade erst als solche identifizierten Naturgesetze sollte demnach die vermeintliche Beobachtung vor Ort falzifizieren helfen. Entsprechend zählte nun also nicht mehr die Beobachtung allein, vielmehr musste diese nun in eine immer elaboriertere Ordnung von Wissensbeständen eingefügt werden. Eine besondere Bedeutung kam in dem Zusammenhang, wie gesagt, den immer prominenter diskutierten Gesetzmäßigkeiten zu. Der Streit zwischen Krapf und Rebmann auf der einen sowie Cooley auf der anderen Seite, der sich im Übrigen um die heute unbestrittene Präsenz des Kilimandscharomassivs in Ostafrika rankte, ist somit bezeichnend für die grundlegende Hinwendung zu neuen Ordnungen des Wissens, die – etwa auf dem Gebiet der Geografie – die Gemüter um die Jahrhundertmitte vermehrt beschäftigen sollten.31 Gehörte William Desborough Cooley zu den energischen Vertretern einer wissenschaftlichen Geografie – die hier beispielhaft für die anderen sich immer wissenschaftlicher dünkenden Fächer genauer betrachtet werden soll – so stand ihm der Kartograf August Petermann in dieser Hinsicht in
30 Vgl. William Desborough Cooley, The Negroland of the Arabs Examined and Explained; or An Inquiry into the Early History and Geography of Central Africa [1841], London 19662. 31 Vgl. dazu die zusammenfassende Streitschrift: William Desborough Cooley, Inner Africa Laid Open, in an Attempt to Trace the Chief Lines of Communication Across that Continent South of the Equator, with the Routes to the Muropue and the Cazembe, Moenemoezi and Lake Nyassa. The Journeys of the Reverend Dr. Krapf and the Reverend J. Rebmann on the Eastern Coast and the Discoveries of Messieurs Oswell and Livingstone in the Heart of the Continent, London 1852. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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keiner Weise nach, auch wenn er die Akzente etwas anders setzte als der letztlich nur wenig erfolgreiche Cooley. Petermann verstand sich ebenfalls als Mann der Wissenschaft, doch machte er dabei die Wissenschaft zum Geschäft, indem er eine geografische Zeitschrift lancierte, die jeweils von den neuesten Entdeckungen und Erkenntnissen auf dem Gebiet der Geografie berichtete. Das Erfolgsrezept der 1855 gegründeten und später nach ihrem ersten Chefkartografen benannten »Petermanns Mitteilungen« bestand unter anderem in einem strengen Regiment, das sowohl Petermann als auch die ihm folgenden Chefkartografen gegenüber den Reisenden führten, die ihre Forschungsdaten dem Verlag in bestmöglicher Form abzuliefern hatten. Wer hier versagte, wer nicht richtig messen wollte und unpräzise, widersprüchliche Datenreihen vorzulegen wagte, wurde strengstens gemaßregelt – zu wichtig war die Mission geografischer Welterkenntnis, die sich, so Petermanns Credo, allein auf präzise instrumentengestützte Messungen zu stützen hatte.32 Wie die beiden Streitpunkte exemplarisch verdeutlichen, war die möglichst umfassende wissenschaftliche Expertise, mit der Reisende etwa von der Jahrhundertmitte an ihre Daten zu erheben hatten, eine neue Forderung der Zeit. Demnach ging es fortan nun nicht mehr um ein schlichtes Sammeln von Wissen, sondern um die akribisch auszuführende wissenschaftliche, mithin instrumentengestützte Arbeit im Feld, die nach der Rückkehr der Reisenden in weiteren möglichst streng ablaufenden wissenschaftlichen Prüfverfahren in die europäischen Wissensordnungen Eingang finden sollte. Bezeichnenderweise sollten diese europäischen Wissensordnungen sich genau zu der Zeit als universell und alleingemeingültig auszugeben beginnen. Dabei fand das Wissen der Anderen, wenn überhaupt, dann nur in höchst vermittelter und weiter verarbeiteter Form Eingang. Auch in den anderen sich allmählich ausbildenden Fächern, wie Anthropologie, Geologie oder auch in der Botanik, wurden die zuvor teilweise geradezu sorglos gesammelten Fundstücke welchen Zuschnitts auch immer in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einer zunehmend akribischer ablaufenden Prozedur unterzogen, um als wissenschaftliche Objekte Eingang in die entsprechenden Sammlungen finden zu können. Der einstmalige Zeitvertreib gebildeter Bürgerinnen und Bürger, oder auch das Abenteurertum so mancher Reisender, wurde so zu einer ernsten Angelegenheit, die allerstrengster Reglementierung und Aufsicht bedurfte und die
32 Im Vorwort zu seinem großen Reisewerk bekannte so beispielsweise Heinrich Barth, die erforderliche wissenschaftliche Präzision bei seiner Arbeit nicht immer streng eingehalten zu haben, die Gegenposition formuliert findet sich im fünften Band des gleichen Werkes in einem eigens von Petermann verfassten Kommentar zu den begleitenden, dem Reisewerk beigefügten Karten, vgl. Heinrich Barth, Reisen und Entdeckungen in Nord- und Central-Afrika in den Jahren 1849 bis 1855. Tagebuch seiner im Auftrag der Brittischen Regierung unternommenen Reise, 5 Bde., Gotha 1857–1858, bes., Bd. 1, S. XVIf. sowie Petermann, August, Einige Bemerkungen über die Karten, in: ebd., Bd. 5, S. 753–757. Siehe auch den Beitrag »Medien« in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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deshalb eigentlich auch nur eigens dafür ausgebildeten Wissenschaftlern obliegen konnte.33 Die Wissenschaften, und zwar insbesondere jene Teile, die sich der außereuropäischen Welt zuwandten, sollten auf diese, geradezu paradox anmutende Weise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer fast schon primär europäischen Angelegenheit werden, wurden doch die wesentlichen Schritte der wissenschaftlichen Aufbereitung vorrangig in Europa vollzogen. Dennoch gab es noch einen dritten Trend, der das bisher Gesagte teils bestätigt, teils aber auch konterkariert: Denn mit dem weiteren Auf- und Ausbau der europäischen Kolonialreiche, in die sich manche der allmählich ausbildenden Fächer wie Geo grafie, Anthropologie ebenso wie Botanik und Zoologie zunehmend einzuschreiben begannen, konnte faktisch nur ein Teil dessen abgedeckt werden, was für die europäische Landnahme benötigt werden sollte. Hier nämlich war weniger wissenschaftliches Wissen, als vielmehr praktisches anwendbares Wissen gefragt, denn hier wollte – um ein Beispiel zu nennen – wohl kaum einer der anwesenden Kolonialbeamten vor Ort, die frischgebackenen wissenschaftlichen Gesetze der Geografie erkunden. Stattdessen war eine möglichst zuverlässige Karte der jeweiligen Örtlichkeit vonnöten, die die eigene Fortbewegung und die dazugehörige Orientierung erleichtern helfen sollte.34 Auch ging es den örtlichen Kolonialbeamten vermutlich immer seltener um die Fortschritte der Botanik, stattdessen interessierte eine anwendungsbezogene Agrarforschung, die genauer zu erkunden hatte, was in welchen Gebieten mit welchen Erfolgsaussichten angebaut werden könne.35 Und last but not least interessierte hier vermutlich weniger die neue philologische Forschung, als vielmehr das jeweils für das lokale Idiom einschlägige Wörterbuch, das im Übrigen dann ja auch oft von den langjährig Anwesenden vor Ort verfasst werden sollte.36
33 Vgl. Anja Laukötter, Vom Alltags- zum Wissensobjekt. Zur Transformation von Gegenständen in Völkerkundemuseen im beginnenden 20. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), URL: http://www.europa.clio-online.de/2008/Article =290, zuletzt eingesehen am 29.5.2013. 34 Dass viele Kolonialgebiete kartografisch nur unzureichend erfasst waren, zeigen beispielhaft die deutschen Kolonialkriege, in denen sich die vorhandenen Karten als zu ungenau und unzuverlässig für die Militärs erwiesen, vgl. Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 236–238. 35 Vgl. zu diesen Befund die unterschiedlichen Initiativen, die – freilich ohne nachhaltigen Erfolg – beispielsweise Deutsch-Ostafrika in eine agrarwirtschaftlich prosperierende Siedlungskolonie umzuwandeln trachteten: Philippa Söldenwagner, Spaces of Negotiation. European Settlement and Settlers in German East Africa, 1900–1914, München 2006 sowie mit Blick auf die Zirkulationen von Expertenwissen zwischen Deutschland, den USA und Togo in Sachen Baumwollanbau: Andrew Zimmerman, Alabama in Africa. Booker T. Washington, the German empire, and the globalization of the new South, Princeton 2010. 36 Vgl. dazu die im Artikel »Akteure« genannten Beispiele. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Das koloniale Projekt verlangte demnach nach einem spezifischen Wissen, ja nach einem nutzbaren Wissen, das dem eigenen Vorhaben zu dienen hatte. Ähnlich wie schon im britischen Indien im frühen 19. Jahrhundert, war die Ausbildung der künftigen Kolonialbeamten schließlich ein beständiges Desiderat, dem durch eigene Schul- wie Institutsgründungen Rechnung getragen wurde. Das 1887 in Berlin gegründete Seminar für orientalische Sprachen sowie das 1908 gegründete Hamburger Kolonialinstitut waren freilich, um hier nur zwei Beispiele aus dem deutschen Kontext anzuführen, Orte, in denen auf den ersten Blick weniger wissenschaftliches Wissen im Sinne der eingangs erwähnten universitären Disziplinbildung gelehrt werden sollte. Dessen ungeachtet sollten sich in diesen und ähnlichen Einrichtungen, über einen längeren Zeitrum hinweg betrachtet, die Anfänge manch neuer regionsbezogener Disziplin herauszukristallisieren beginnen, wie dies nicht zuletzt das Beispiel der Afrikanistik verdeutlicht.37 Im Zuge des versuchten Ausbaus der europäischen Kolonialreiche sollten somit die auf die außereuropäischen Weltteile bezogenen Wissensgebiete zunächst auch außerhalb der Universitäten einen neuen Ort finden. Gewiss, anders als die sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts an Universitäten allmählich etablierende Afrikanistik, waren andere Fächer schon vergleichsweise früh mit veritablen Lehrstühlen an europäischen Universitäten vertreten gewesen: Bereits 1818 erhielt August Wilhelm Schlegel den ersten Lehrstuhl für Sanskrit in Bonn, dem erst 1833 ein erster Lehrstuhl in Großbritannien folgte. Mit diesen Initiativen verband sich freilich das Bemühen – auch im Falle von Sanskrit – die zeitgenössische Philologie und damit à la longue eine vergleichende sprachwissenschaftliche Forschung zu begründen, ein Vorhaben, das sich zunehmend explizit von den praktischen Wissensbeständen der kolonialen Landnahme entfernen sollte.38 Über eine eigentümliche Dynamik verfügte im Übrigen auch die Archäologie, die zwar ebenfalls früh an den Universitäten etabliert wurde, die sich dann aber im Verlauf des Jahrhunderts, teilweise zumindest, zu einer für nationale Zwecke durchaus nützlichen Wissensgebiet entwickeln sollte.39 Ähnlich wie diese verhielt sich – aus der Vogelschau betrachtet – die institutionelle Entwicklung in der Geografie, die sich zwar in einen eher naturwissenschaftlichen und einen eher humanwissenschaftlichen Zweig 37 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Afrikanistik bezogen auf den Berliner Fall: Andreas Eckert, Afrikanische Sprachen und Afrikanistik, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 535–546 sowie übergreifend, Sara Elizabeth Berg Pugach, Africa in Translation: A History of Colonial Linguistics in Germany and Beyond, 1814–1945, Ann Arbor 2012. 38 Vgl. Irwin, For the Lust of Knowing, S. 156 sowie für die Ausbildung der Orientalistik als Wissenschaft bezogen auf den deutschen Fall Sabine Mangold , Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. 39 Vgl. dazu Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Washington, DC u. a. 2009 sowie Charlotte Trümpler (Hg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940), Köln 2008. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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teilte, darüber hinaus aber sogar noch einen explizit kolonialgeografischen Zweig hervorbrachte.40 Wie die zuletzt angeführten, durchaus gegenläufigen Beispiele der Afrikanistik auf der einen sowie der Orientalistik und der Archäologie auf der anderen Seite andeuten, ergibt sich für jene Wissensgebiete, die sich vorrangig der außereuropäischen Welt zuwandten, in der Zeit um 1900 also ein eher unübersicht liches Bild. Während sich manche Fächer in den universitären Kanon der Disziplinen einzufügen vermochten, sollten andere – institutionell betrachtet – eher außen vor bleiben. Dies freilich konnte durchaus dafür sorgen, dass nun auch neue Akteure Zugang zu den vermeintlich exklusiven Wissensbeständen erhielten, wie das Beispiel der kolonialen Gartenbauschule Swanley zeigt, die aus sehr pragmatischen Gründen um 1890 für Frauen geöffnet wurde.41 Hier wie auch an anderen nicht-universitären Orten fanden sich somit jene ein, die im disziplinären Gefüge der etablierten Universitäten den zeitgenössischen Vorstellungen folgend außen vor zu bleiben hatten, was ihrer Wissbegierde, die an die spazierenden Bürgerinnen und Bürger des frühen 19. Jahrhundert erinnert, wohl kaum abträglich gewesen sein dürfte. Für die weitere Disziplinbildung in den auf die einzelnen außereuropäischen Weltregionen bezogenen Fächern sollten diese nicht-universitären Orte schließlich mit als Ausgangsbasis dienen.
40 Vgl. dazu die am Berliner Fall entwickelten Thesen bei Hans-Dietrich Schultz, Was »ist« Geographie? Was »ist« sie nicht? Zur Konfiguration des Faches als politisch relevante »reine« (Natur-)Wissenschaft, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010, Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 651–674 sowie vergleichend dazu auf Frankreich bezogen: Robic, Geography. 41 Vgl. Donald L. Opitz, »A Triumph of Brains over Brute«: Women and Science at the Horticultural College, Swanley, 1890–1910, in: Isis 104. 2013, S. 30–62. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Sabine Mangold
›Orientalen‹ in der europäischen Orientalistik Der Fall Ahmed Muhiddin: Informant, Lektor, Wissenschaftler
Einleitung: Die Orientalistik auf dem Weg zu einer globalisierten Disziplin Als Jörg Kraemer 1958 auf den orientalistischen Lehrstuhl in Erlangen berufen wurde, beschrieb er in seiner öffentlichen Antrittsvorlesung die Orientalistik1 auf dem Weg zu einer kooperativen Disziplin: Im Verein wie in Auseinandersetzung mit unseren abendländischen und orientalischen Kollegen werden wir die einst gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse zu überprüfen und, wo nötig, zu modifizieren haben.2
Die damit verbundene Erkenntnis, dass die wissenschaftliche Auseinander setzung mit den Sprachen und Kulturen, den politischen Geschichten und Reli gionen des Orients in Vergangenheit und Gegenwart künftig nur noch gemeinsam mit orientalischen Kollegen erfolgen könne, führte er dabei auf die politischen und kulturellen Umwälzungen seit dem Ersten Weltkrieg zurück, als vor allem osmanische und ägyptische Intellektuelle anfingen, sich mit den Ergebnissen orientalistischer und islamkundlicher Forschung auseinanderzusetzen.3 Das folgende Fallbeispiel verknüpft diese beiden Stränge miteinander, in1 Zur Geschichte der Orientalistik mit ihren Subdisziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Ludmilla Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Sabine Mangold, Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. Die Kritik an der Orientalistik als Disziplin geht im Wesentlichen auf Edward Said, Orientalism, New York 1978 zurück. Zu der von Said angestoßenen Debatte über den europäischen Orientalismus vgl. stellvertretend für eine Überfülle an Literatur Birgit Schäbler, Riding the Turns: Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte, in: Burkhard Schnepel u. a. (Hg.), Orient-Orientalistik-Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, S. 279–302; Stefan Hauser, Orientalismus, in: Der Neue Pauly 15. 2001, S. 1233–1243. 2 Jörg Kraemer, Das Problem der islamischen Kulturgeschichte, Tübingen 1959, S. 6. 3 Vgl. dazu Ekkehard Rudolph, Westliche Islamwissenschaft im Spiegel muslimischer Kritik: Grundzüge und Merkmale einer innerislamischen Diskussion, Berlin 1991; neuerdings Dietrich Jung, Orientalists, Islamists, and the Global Public Sphere. A Genealogy of the Modern Essentialist Image of Islam, Sheffield 2011. Zum Einschnitt des Ersten Weltkriegs für die politische und mentale Geschichte des Orients vgl. Erez Manela, Die Morgenröte einer © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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dem es am Beispiel des osmanischen Intellektuellen und Türkisch-Lektors der Universität Leipzig Ahmed Muhiddin aufzeigt, wie auf der Schwelle zwischen Erstem Weltkrieg und Nachkriegszeit aus einem orientalischen Informanten und wissenschaftlichen Hilfsarbeiter ein eigenständiger an der Fachwissenschaft beteiligter Forscher wird. Aus der Sicht der orientalistischen Disziplingeschichte offenbart sich damit der Wandel von der europäischen Orientalistik zu einer globalisierten Disziplin, wobei die Integration von muttersprachlichen Lektoren seit der Wende zum 20. Jahrhundert eben nicht nur die personelle Zusammensetzung, sondern auch die Inhalte und Wissensbestände betrifft. Im Kontext einer Globalisierungsgeschichte des Wissens lassen sich muttersprach liche Lektoren wiederum nicht nur als Produkt zunehmender Verflechtung Europas mit der Welt am Ende des 19. Jahrhunderts interpretieren. Mit ihrer transnationalen Existenz, ihren grenzüberschreitenden Karrieren und ihrer mobilen Lebensführung stehen sie zudem exemplarisch für die Möglichkeiten der Transformation von Wissen zwischen europäischer Wissenschaft und lokalen Bildungseliten. Diese These soll im Folgenden am Beispiel des ersten TürkischLektors der Universität Leipzig Ahmed Muhiddin und seiner akademischen Qualifikationsschrift auf der Folie der kulturellen sowie politischen Strömungen im späten Osmanischen Reich untersucht werden.
Das »Türkische Lektorat« der Universität Leipzig und die transnationale Karriere des Lektors Ahmed Muhidin Da bisher sowohl eine Geschichte der orientalischen Lektoren innerhalb der Orientalistik wie eine Geschichte der Turkologie in Deutschland fehlt, fällt die Kontextualisierung des seit 1916 bestehenden Türkisch-Lektorats an der Alma Mater Lipsienis, traditionell ein Ort herausragender Morgenländischer Wissenschaft, impressionistisch aus:4 Die späte Institutionalisierung der Turkologie an den deutschen Universitäten, die mit dem Leipziger Lektorat einen ihrer Anfänge nahm, verweist einerseits auf das Desinteresse an den Turksprachen, die sich weder der semitischen noch der arischen Sprachfamilie zuordnen ließen; andererseits haben sich die Universitätsorientalisten, insbesondere die Semineuen Ära: Der »Wilsonsche Augenblick« und die Transformation der kolonialen Welt, 1917–1920, in: Sebastian Conrad u. a. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt 2007, 282–312. David Fromkin, A Peace to end all Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York 1989. 4 Zur Orientalistik in Leipzig während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vgl. Mangold. Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹, S. 91–96; S. 151–155. Zur Turkologie vgl. ebd., S. 102 sowie Klaus Kreiser (Hg.), Germano-Turcica. Zur Geschichte des Türkisch-Lernens in den deutschsprachigen Ländern, Bamberg 1987. Speziell zur Turkologie in Leipzig vgl. Heidi Stein, Die Entwicklung der turkologischen Forschung und Lehre an der Universität Leipzig, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 28. 1979, S. 107–117. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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tisten unter ihnen, im Unterricht wie in ihren Forschungsarbeiten das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer wieder mit osmanischen Texten beschäftigt, ja das Osmanische drängte sich als dritte islamische Kultursprache all jenen immer wieder zur Kenntnis auf, die sich mit der Geschichte des Islams und der politischen Geschichte des Orients beschäftigten. Auch gab es unter den akademischen Vertretern der Orientalischen Philologie wie unter den Privatgelehrten – und erst recht in der Tagespresse wie unter den politischen Schriftstellern – stets ein lebhaftes Interesse für die Geschichte und Gegenwart des Osmanischen Reiches als Großmacht zwischen Orient und Okzident, das sich indes kaum in wissenschaftlichen Publikationen niederschlug. Gerade in Deutschland lässt sich zudem seit dem späten 19. Jahrhundert geradezu von einem protürkischen Sonderdiskurs sprechen, der sich aus dem verspäteten Auftreten des Deutschen Reiches als europäische Großmacht in Konkurrenz zu den bereits etablierten, global agierenden Kolonialmächten England und Frankreich ergab und in seiner emotionalen Form nicht nur auf eine politische Schicksalsgemeinschaft, sondern geradezu auf eine völkische Seelenverwandtschaft zwischen Deutschen und Türken abzielte.5 Für die Aufnahme muttersprachlicher Lektoren innerhalb der Orientalistik dürfte vor allem das Vorbild des 1887 gegründeten Seminars für Orientalische Sprachen (SOS),6 einem Institut der Berliner FriedrichWilhelm-Universität zur Ausbildung sprachkundiger Diplomaten, Beamten und Kaufleute, eine Rolle gespielt haben: Wurden dort doch erstmals systematisch muttersprachliche Lektoren eingestellt,7 die später, während des Ersten Weltkrieges, zum Teil auch als Dolmetscher in die Nachrichtenstelle für den Orient (NfO) übernommen wurden.8 Diese Einrichtung zusammen mit einem veränderten, mehr auf anwendbare Nützlichkeit orientierten Wissenschaftsverständnis weckte schließlich auch an anderen Universitäten das Bedürfnis nach Lektoren zur praktischen Sprachausbildung, die bis dahin aufgrund der philo
5 Kompakt zur deutschen Turkophilie vgl. Malte Fuhrmann, Zwei Völker in Waffen. Türkisch-deutsche Interdependenzen beim nation building, in: Ulf Brunnbauer (Hg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikte und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag, München 2007, S. 231–244. 6 Zum SOS vgl. Mangold, Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹, S. 226–250. 7 Zu den Lektoren am SOS vgl. Eduard Sachau, Bericht über die Wirksamkeit des Seminars für Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin während der ersten fünf Jahre seines Bestehens von 1887–1892, Berlin 1893, S. 7; ders., Denkschrift über das Seminar für Orientalische Sprachen an der Königlichen FriedrichWilhelm-Universität zu Berlin von 1887 bis 1912, Berlin 1912, S. 15 f., 25 und 55–59; für die Weimarer Zeit vgl. Kurt Forstreuter, Das Seminar für orientalische Sprachen in Berlin 1887–1936 (1945), in: ders., Wirkungen des Preußenlandes. Vierzig Beiträge, Köln 1981, S. 194–206, bes. S. 201. 8 Zur den orientalischen Mitarbeitern der NfO vgl. Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen, Weltgeschichtliche Mosaiksplitter. Erlebnisse und Erinnerungen eines kaiserlichen Dragomans, Baden-Baden 1967, S. 151; Höpp, Muslime in der Mark. Als Kriegs gefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914–1924, Berlin 1997, S. 58, 59, 68. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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logisch-kulturhistorischen Ausbildung in der deutschen Universitätsorientalistik nicht gefordert und gefördert wurde. Seine Entstehung verdankte das Leipziger Türkisch-Lektorat ganz konkret jedoch dem Kriegsbündnis zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich.9 Diese politische und militärische Zusammenarbeit veranlasste das sächsische Kultusministerium, die Leipziger Universität aufzufordern, Lehrgänge in der Literatur-, Verwaltungs- und Geschäftssprache des Verbündeten, also dem Osmanischen, aber auch im gesprochenen Umgangstürkisch für Studenten und Gasthörer anzubieten.10 Als sich die Mitglieder des Semitischen Seminars der Leipziger Universität, August Fischer11 und Hans Stumme,12 im Frühjahr 1916 daraufhin um die Anstellung eines »eingeborenen Lektors«13 für das Türkische bemühten, begründeten sie diesen Wunsch konsequenterweise mit der wachsenden Zahl von Studenten, die »in der Erwartung nach dem Kriege in der Türkei ihr Glück machen zu können«,14 Türkischkenntnisse erwerben wollten. Für deren praktisches, im Grunde unakademisches Bedürfnis wünschten sich die beiden Professoren, die bisher auch den Osmanischunterricht übernommen hatten, eine muttersprachliche Hilfskraft. Der Seminarleiter Fischer nutzte demnach die Gelegenheit, mit einem politischen Argument die personelle Ausstattung der Leipziger Orientalistik zu verbessern und sich selbst von (lästigen) Lehrverpflichtungen zu befreien: Der »bisherige Verlauf der sich zur Zeit vollziehenden 9 Zu den deutsch-türkischen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus vgl. Wilhelm van Kampen, Studien zur deutschen Türkeipolitik in der Zeit Wilhelms II., Kiel 1968. Mustafa Gencer, Bildungspolitik, Modernisierung und kulturelle Interaktion. Deutsch-türkische Beziehungen 1908–1918, Münster 2007. Ulrich Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1914–1918, Princeton 1968. 10 Zur Einordnung der Lektoratsgründung in die Geschichte der Türkischstudien an der Universität Leipzig vgl. Heidi Stein, Zur Geschichte türkischer Studien in Leipzig (von 1612 bis ins 20. Jahrhundert), in: Kreiser, Germano-Turcica, S. 41–46. 11 Zu August Fischer (1865–1949), der im Jahr 1900 auf den Leipziger Lehrstuhl für Orientalische Sprachen berufen wurde und gegen die neu aufkommende Islamkunde vehement an der Philologie als »deutscher Wissenschaft« festhielt, vgl. Johann Fück, August Fischer, in: ZDMG 100. 1950, S. 1–18. Arthur Schaade, August Fischer, in: Der Islam 30. 1952, S. 97–101. Zum islamisch-semitischen Seminar der Universität Leipzig vgl. Mangold, Eine weltbürgerliche Wissenschaft, S. 170–172. 12 Zu Hans Stumme (1864–1936), der ebenfalls 1900 außerordentlicher Professor für das Neuarabische und hamitische (also afrikanische) Sprachen in Leipzig wurde, vgl. August Klingenheben, Zum 70. Geburtstage von Hans Stumme, in: Forschungen und Fortschritte 10. 1934, S. 375 f.; Siegmund Brauner, Die Entwicklung der Afrikanistik an der Univer sität Leipzig, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 28. 1979, H. 1, S. 132–137. 13 Zur Einrichtung des Lektorats und der Suche nach einem geeigneten Lektor vgl. Universitätsarchiv Leipzig (UAL), B2/27/13, Bl. 8–30; das Zitat: ebd., Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig an das sächsische Kultusministerium, 11.2.1916, Bl. 19; nach einer Vorlage Fischers vom 3.2.1916, ebd., Bl. 8. 14 Ebd., Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig an das sächsische Kultusministerium, 11.2.1916., Bl.18; nach einer Vorlage Fischers vom 3.2.1916, ebd., Bl. 8. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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weltgeschichtlichen Ereignisse« – so Fischer in einem Schreiben an seinen Dekan der Philosophischen Fakultät – lasse »mit verhältnismäßig großer Sicherheit erwarten, dass Deutschland nach dem Friedensschluss auf Jahre hinaus in der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei eine ausschlaggebende Rolle spielen wird.«15 Angesichts Fischers nationaler Einstellung handelte es sich dabei zweifellos nicht allein um eine Instrumentalisierung des politischen Argumentes; bemerkenswerter ist jedoch die indirekte Verknüpfung des Globalisierungsgeschehens Erster Weltkrieg respektive des gemeinsamen deutsch-osmanischen Machtzuwachses mit der Internationalisierung der orientalistischen Fachgemeinschaft: Um dem Dresdner Ministerium die Entscheidung leicht zu machen, stellte der von Fischer instruierte Dekan in einem zweiten Gesuch nämlich zugleich den »nach längerem Suchen und eifrigem Korrespondieren«16 aufgetriebenen Wunschkandidaten vor. Dessen Beschreibung macht nun deutlich, wo die Probleme und Hindernisse bei der Einstellung eines nicht-deutschen Universitätslektors lagen – und wie sie argumentativ zu überwinden waren. Der Leipziger Dekan jedenfalls sah sich veranlasst zu betonen, dass der zu berufende Mann namens Ahmed Muhiddin sich »durch Intelligenz und Kenntnisse und namentlich auch in einem für einen Osmanen ganz ungewöhnlichen Grade durch Fleiß, Energie und Zielbewusstheit auszeichnet«17. Dass er auch die deutsche Sprache »mündlich und schriftlich vorzüglich«18 beherrschte, obwohl er erst seit Ende 1914 in Deutschland weilte, mochte da niemanden mehr verwundern, galt aber stillschweigend als Einstellungsvoraussetzung für einen Lektor. Ahmed Muhiddins19 weitere Qualifikation wich indes deutlich von der eines deutschen Dozenten ab: 1892 in Konstantinopel als Sohn eines Offiziers ge boren, hatte er seine Ausbildung am Istanbuler Darülfünun erhalten. Erst kurz nach Kriegsausbruch war er als Stipendiat nach Deutschland gekommen, wo er an der Oberrealschule Gummersbach Deutsch lernte. Danach hatte er für die »Illustrierte Zeitung« in Leipzig gearbeitet, die im Auftrag der Nachrichtenstelle für den Orient eine Sondernummer zur Türkei herausgab.20 Damit fehlte Muhiddin nicht nur ein deutsches Bildungsdiplom, sondern als Journalist 15 Ebd. 16 Ebd., Bl. 24: Fischer an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 6.4.1916. 17 Ebd., Bl. 25: Dekan der Philosophischen Fakultät Wiemer an den sächsischen Kultus minister, 7.4.1916. 18 Ebd. 19 Zu Ahmed Muhiddin, auch Muhieddin geschreiben, vgl. den biografischen Beitrag: Heidi Stein/Andreas Hinz, Ahmed Muhiddin (1892–1923). Leipzig’de bir Türk Bilimadamı, in: Tarih ve Toplum 114. 1993, S. 356–358. Leider verzichtet dieser Beitrag völlig auf Literatur- und Quellenangaben. Zu Muhiddins Lebenslauf, dem alle folgenden Angaben entnommen sind, vgl. UAL, B2/27/13, Bl. 25: Dekan der Philosophischen Fakultät Wiemer an den sächsischen Kultusminister, 7.4.1916. 20 Zur Verbindung zwischen der Nachrichtenstelle für den Orient und der »Türkennummer« der »Illustrierten Zeitung« vgl. Schabinger, Weltgeschichtliche Mosaiksplitter, S. 152. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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auch jede Forschungs- und Lehrerfahrung an einer deutschen Universität. Immerhin aber brachte er zwei Voraussetzungen mit, die seine Gleichstellung mit einem deutschen Gymnasiallehrer erlaubten: Das Darülfünun, an dem Muhiddin von 1909 bis 1913 türkische Literatur, Geschichte, Geografie, Philosophie, Pädagogik und Nationalökonomie studiert hatte, genoss unter deutschen Türkeikennern während des Ersten Weltkrieges durchaus einen guten Ruf als »Konstantinopler Universität«,21 obwohl es erst nach 1914 unter erheblichen Einfluss deutscher Professoren geriet.22 Zudem hatte Muhiddin in der Türkei bereits an zwei Gymnasien als Lehrer der türkischen Sprache und Geschichte gearbeitet. Der Leiter des Leipziger Seminars entschied sich somit für einen Mann, der wenigstens eine quasiakademische Bildung sowie Lehrerfahrung aufwies, zugleich aber durch seine transnationale Existenz bereits als Mittler nationaler Identitäten tätig war: Seine Mitarbeit an der türkischen Ausgabe der renommierten Leipziger Illustrierten Zeitung bestand einerseits darin, die deutschen Anzeigentexte ins Osmanische zu übersetzen – was darauf hinweist, dass der Band auch in der Türkei verbreitet werden sollte; andererseits dürfte er an der Vermittlung und vielleicht auch Übersetzung der türkischen Autoren beteiligt gewesen sein, die in dieser Ausgabe publizierten.23 Diesen Beitrag zum öffentlichen Türkeibild in Deutschland und zum öffentlichen Deutschlandbild in der Türkei während des Ersten Weltkrieges ergänzte Muhiddin durch seine aktive Beteiligung an der innertürkischen Reform- und Nationalisierungsdebatte: Muhiddins nationalökonomische Beiträge erschienen in Konstantinopel in der Anfang 1915 neu ins Leben gerufenen Zeitschrift Islam Mecmuasi, die deutschen Beobachtern als Blatt der liberalen Theologie galt und panislamische und turkistische Ideen mit einander vereinte.24
21 Vgl. UAL, B2/27/13, Bl. 25: Dekan der Philosophischen Fakultät Wiemer an den säch sischen Kultusminister, 7.4.1916. 22 Zum Darülfünun vgl. Klaus Kreiser, Geographie und Patriotismus. Zur Lage der Geowissenschaften am Istanbuler Dârülfünûn unter dem jungtürkischen Regime (1908–1919), in: ders., Türkische Studien in Europa, Istanbul 1998, S. 189–205; ders.: Deutsche Professoren am Istanbuler Darülfünun, in: Ausgewählte Vorträge. Deutscher Orientalistentag 1985, Stuttgart 1989, S. 211–218. 23 Vgl. Illustrierte Zeitschrift, Nr. 3803, Kriegsnummer 94: Die Türkei und Deutschland. Alle handschriftlichen Umschriften dürften, auch wenn die Zeitschrift selbst keinen Hinweis darauf enthält, von Muhiddin stammen. Die osmanischen Autoren sind M. Halil Halid-Bey, eine namenlose »Türkin«, Aka Gündüs und Habib Edib; die Zeitschrift enthält zudem Zeichnungen des Osmanen Ismail Hakki-Bey. Nur für den Text von Gündüs wird ein (deutscher) Übersetzer angegeben. 24 Vgl. Martin Hartmann, Aus der neueren Osmanischen Dichtung Bd. 2, in: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Abteilung1: Ostasiatische Studien 20. 1917, S. 86– 149, das Zitat: S. 98, Anm. 1. Muhiddin selbst nennt die Zeitschrift »Islam medschmû’asy« das »Organ des Nationalismus für die religiöse Frage«. Ahmed Muhiddin, Die Kultur bewegungen im modernen Türkentum, Leipzig 1921, S. 47. Die Beiträge Muhiddins für die »Islam Mecmuasi« sind bisher nicht ausgewertet. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Muhiddin blieb nach Kriegsende zunächst in Deutschland, erst als sein staatlich-osmanisches Stipendium nicht mehr bezahlt wurde, reiste er im Juli 1919 in die Türkei zurück: Die Besoldung seines Lektorats allein reichte zum Leben in Deutschland nicht aus. Obwohl Fischer schon damit rechnete, »daß er uns verloren geht«,25 kam Muhiddin dennoch nach Deutschland zurück und blieb bis Juli 1921 an der Leipziger Universität.26 1922 schließlich kehrte er in die Türkei zurück. Die letzten anderthalb Jahre in Deutschland nutzte Muhiddin schließlich, um mit zwei Schriften auf sich aufmerksam zu machen. Zum einen lieferte er der Deutsch-Türkischen Vereinigung (DTV) nach seiner Rückkehr aus Konstan tinopel einen ausführlichen Bericht über die dortigen Zustände, der auch in die Hände des deutschen Auswärtigen Amtes (AA) gelangte.27 Zum anderen ver öffentlichte Muhiddin mit finanzieller Unterstützung des orientalistischen Legatum Flügelianum28 eine Untersuchung über »Die Kulturbewegung im modernen Türkentum«, die er auch als Dissertation einreichte.29
Ahmed Muhiddins Dissertation »Die Kulturbewegung im modernen Türkentum« Muhiddins Schrift stellte nun eine singuläre Veröffentlichung dar: In ihr präsentierte ein junger in Deutschland lebender Türke noch vor der Ausrufung der Türkischen Republik mit wissenschaftlichem Anspruch »den wahren Sinn und die eminente Bedeutung des Zeitabschnitts des türkischen Kulturlebens«30 vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in seine Gegenwart. Muhiddin ging es dabei darum, die mentalen und sozialen Veränderungen im Osmanischen Reich aus zwei zentralen ideengeschichtlichen Bewegungen – der nationalen und der religiösen – zu erklären und diese als sozio-kulturelle Gegenwartserscheinungen vorzustellen. Wie er selbst bekannte, identifizierte er sich nicht mit den be schriebenen »Ideen, Strömungen und Richtungen«31; doch muss diese Aussage als bewusste (Selbst-)Täuschung, man könnte auch sagen Selbstschutz, gelesen 25 UAL B2/27/13, Bl. 45: Fischer an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 10.8.1919. 26 Vgl. ebd., Bl. 48–53. 27 PAAA, R 13761, Bericht des türkischen Lektors an der Universität Leipzig, Ahmed Muhieddin, über seine Urlaubsfahrt in die Türkei, vermittelt durch die DTV an AA, 28.11.1919. Mehr zu diesem Bericht vgl. Sabine Mangold-Will, Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen, voraussichtlich 2013. 28 Das Legat wurde von dem Orientalisten und Koranherausgeber Gustav Flügel (1802–1870) gestiftet, der 1821 bis 1824 an der Universität Leipzig studierte. Vgl. Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 157 und Flugel, in: Gustav Dugat, Histoire des Orientalistes de l’Europe du XIIe au XIXe siècle précédée d’une esquisse historique des études orientales, Bd. 2, Paris 1870, S. 91–100. 29 Muhiddin, Die Kulturbewegungen. 30 Ebd., Vorwort, S. V. 31 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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werden. Muhiddins Mitarbeit an der Islam Mecmuasi, die zugleich eines der wichtigsten Publikationsorte ihres Spiritus Rector, des Dichters und Soziologen Zia Gökalp32, darstellte, dessen Texte im Mittelpunkt von Muhiddins Analyse standen, macht deutlich, dass der junge Türke dessen islamisch-türkischen Nationalismus favorisierte. Insofern beinhaltete Muhiddins Buch nun tatsächlich einen Vermittlungsversuch nationaler Identität und damit ganz spezieller türkischer Wissensbestände: Er wollte das deutsche akademische Lesepublikum mit den beiden großen Geistesbewegungen des modernen Türkentums und ihren Vertretern bekannt machen und nahm dafür, wie er ausdrücklich bekannte, Vereinfachungen in Kauf. Sein Leipziger Kollege Richard Hartmann33 überlieferte jedenfalls, dass Muhiddin ganz bewusst auf bedeutende Texte des türkischen Nationalismus und vor allem auf Hinweise europäischer Vorbilder verzichtete, weil er es »als seine Aufgabe an(sieht), die Entwicklung aus dem Türkentum selbst heraus verständlich zu machen.«34 Das heißt aber nichts anderes, als dass Muhiddin ganz bewusst dazu beitrug, die transnationalen Elemente im türkischen Nationalismus, nach denen die Transnationalitätsforschung heute mühsam sucht, zu verschleiern. Zugleich trug er damit aber zur Globalisierung der Vorstellung vom Nationalismus als einer jeweils autochtonen Erscheinung bei, um ihn als Mittel im Kampf gegen Imperialismus und Okzidentalismus einsetzen zu können.35 Auch hier zeigt sich also wieder einmal die Gleichzeitigkeit von Homogenisierung unter westlichen Vorzeichen und Heterogenisierung unter partikularen Vorzeichen im Zuge der kulturellen Globalisierung. Aus Sicht der deutschen Zeitgenossen, die sich auch nach dem Krieg für die deutschtürkische Freundschaft einsetzten, bildete dies die kulturelle Grundlage einer Internationalen der Nationalisten, die sich weltweit gegen den englischen Imperialismus wehrte.36 Obwohl oder wohl gerade weil der bekennende Philologe Fischer ihn »beim Weben ihres sprachlich-stilistischen Gewandes«37 unterstützte, konnte Muhiddins Studie – wie so viele orientalistische Fachtitel – keine populäre Wirkung entfalten. Nicht einmal die deutschen »Asienkämpfer« – wie sich die militä rischen und zivilen Veteranen der Orientfront des Ersten Weltkrieges, aber auch die multikulturellen und transnationalen Türkeideutschen selbst nannten –
32 Zu Zia Gökalp vgl. Taha Parla, The social and political thought of Ziya Gökalp 1876–1924, Leiden 1985. 33 Zu Richard Hartmann vgl. Hans Robert Roemer, Richard Hartmann in memoriam (1881– 1965), in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 117. 1967, S. 1–10. 34 Richard Hartmann, Zija Gök Alp’s Grundlagen des türkischen Nationalismus, in: Orientalistische Literaturzeitung 28. 1925, Sp. 578–610, das Zitat: Sp. 581. 35 Vgl. Muhiddin, Die Kulturbewegungen, Einleitung, S. 1–13. 36 Zur Vorbildfunktion des türkischen Nationalismus in Form des Widerstandes gegen die britische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Mangold-Will, Deutschland und die Türkei. 37 Muhiddin, Die Kulturbewegungen, Vorwort, S. VI. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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registrierten sie in ihrer Verbandszeitschrift.38 Dabei stellte sie doch dem, der es wollte, einen detaillierten und differenzierten Einblick in die komplizierte Geschichte und Wechselwirkung nationaler türkischer Selbstfindung und reli giöser islamischer Reform zur Verfügung, der das Bild vom unproduktiven Orient und vor allem dem erneuerungsunfähigen Islam gänzlich zerstörte. Muhiddin kam mit seiner Schrift so dem eigenen Bedürfnis nach, die Modernisierung des Türkentums wie des Islams zu dokumentieren und zugleich in Deutschland für »die Seele der Türken und den Geist der Zeit«39 Verständnis zu wecken; das fiel ihm umso leichter als es eben, wie erwähnt, nicht erst seit dem Kriegsausbruch einen protürkischen orientalistischen und politischen Diskurs vom »aufsteigenden Halbmond«40 gab, auf den Muhiddin zwar nicht eingeht, ohne den aber sein Mentor Fischer sich kaum für ihn interessiert hätte. Diesem Diskurs entlehnt der junge Türke implizit sein zentrales Argument: Seit den Tagen Herders und der Romantiker speiste sich die westliche, insbesondere die deutsche Faszination für den Orient unter anderem aus dem Reichtum der orientalischen Dichtung. Bei Hegel beispielsweise lässt sich lesen: »und ebenso ist auch die freie Poesie, die freie Phantasie, die noch in heutigen Tagen von Goethe in Anregung gebracht ist, an den Orient angegründet.«41 »Die Poesie war im Orient«, so Muhiddin, »von jeher die Trägerin des Geistes.«42 Am Ende des 19. Jahrhunderts ist dabei nicht mehr wirklich zu unterscheiden, was an diesem Satz aus dem orientalischen Bildungs- und Wertekanon selbst stammt und was der romantischen Verklärung der Poesie als Ausdruck des Geistes eines Volkes geschuldet ist. Die Dichter jedenfalls standen im Orient längst in Ansehen, bevor Orientalisten wie William Jones, Antoine Isaac Silvestre de Sacy oder Joseph von Hammer-Purgstall anfingen, arabische, persische, indische und osmanische Dichter zu übersetzen. Ohne ihren Beitrag zur Universalisierung orientalischer Dichtung indes hätte Muhiddin 1919 wohl kaum schreiben können: Im Eingange der osmanisch-türkischen Literaturgeschichte tritt uns das Lehrgedicht als vorherrschende Gattung entgegen. Die ersten Dichter dichteten bewusst, um das Volk zu belehren. Diese geschichtliche Stellung wies der türkischen Dichtung auch in der Neuzeit eine Kulturmission zu. (…) Die türkische Dichtung ist also das wahre Organon des türkischen Geisteslebens. Und so bildet sie die Hauptquelle für die Er forschung der neuen Weltanschauung.43
38 Zum Bund der Asienkämpfer und seiner Zeitschrift vgl. Mangold-Will, Deutschland und die Türkei. 39 Muhiddin, Die Kulturbewegungen, Einleitung, S. 3. 40 Vgl. Ernst Jäckh, Der aufsteigende Halbmond. Beiträge zur türkischen Renaissance, Berlin 1911. 41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, Berlin 1822/23, ND Hamburg 1996, S. 461. 42 Muhiddin, Die Kulturbewegungen, Einleitung, S. 6. 43 Ebd., S. 6. Muhiddin negierte übrigens, dass diese Sichtweise europäisch sei, sondern bezog sich in einer Fußnote ausdrücklich auf eine osmanische Literaturgeschichte. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Konsequenterweise präsentierte Muhiddin in seiner Arbeit fast ausschließlich poetische Werke und interpretierte diese grundsätzlich als Urheber der neuen türkischen Welt- und Lebensanschauung: Es soll gezeigt werden, wie in der Türkei die erwähnte neue Welt- und Lebensauf fassung aufkommt, wie sie in der Dichtung geschaffen und getragen wird, und wie sich schließlich ein neuer Geist erzeugt, der das soziale, wirtschaftliche und politische Leben umzugestalten und aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten des Islams heraus eine neue Religion zu schaffen sucht,44
kurz also wie »Nationalismus und die Reformation«45 sich gegen den »Okziden talismus«46 durchsetzten. Dass diese Sichtweise keineswegs neu oder gar nur »orientalisch«, sondern auch den Orientalisten vertraut war, mit denen Muhiddin in Leipzig zusammenarbeitete bzw. die er rezipierte, macht der Blick in das Werk Martin Hartmanns47 deutlich. Während des Krieges hatten sich bereits eine Reihe deutscher Übersetzer der türkischen zeitgenössischen Dichter angenommen und deren Auftreten seit der Jahrhundertwende im Kontext der türkischen Nationalbewegung im Sinne einer nationalen Erneuerung interpretiert. Hartmann sprach schließlich bereits 1916 davon, dass es »eine völlig irrige Vorstellung« sei, »der man immer noch begegnet, auch bei denen, die besser unterrichtet sein könnten, dass die moderne osmanische Entwicklung nichts sei als das Schwätzen von ein paar Schöngeistern der alten Sorte in Stambul, die sich in ihren Phrasen bespiegeln«; statt dessen ging er davon aus, dass das Ideal der nationalen Erneuerung aus der Not heraus eine Idee sei, die sich »weiten Kreisen eingeprägt« habe.48 Auch August Fischer, Muhiddins Mentor und »warme Freund des Türkentums«,49 dürfte diese Sichtweise der türkischen Nationswerdung durch die Dichtung als höchstem Ausdruck nationaler Individualität aus dem Geiste der Niederlage zugesagt haben. In ihrer gemeinsamen Anthologie, die Fischer und Muhiddin bereits 1919 herausgaben, findet sich jedenfalls folgende Beschreibung der nationalistischen türkischen Dichter: Ihre Propaganda, so Fischer/Muhiddin, machte gute Fortschritte, und als es Zia [Gökalp] gelang, das Komitee für ›Einheit und Fortschritt‹ und damit die Regierung für seine Anschauungen und Pläne zu gewinnen, war der Sieg der nationalistischen Bewegung gesichert. Die innerste Ursache ihres Erfolges war freilich die militärische Niederlage der Türkei im Balkankrieg, denn 44 Ebd., S. 2. 45 Ebd., S. 13. 46 Ebd. 47 Zu Martin Hartmann vgl. Marchand, German Orientalism, 356–361. Mangold, Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹, 241 f. mit der einschlägigen Literatur. Vgl. auch die Analyse Hartmanns durch Alexander Haridi, Das Paradigma der ›islamischen Zivilisation‹ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933): Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 2005, S. 69–79. 48 Hartmann, Aus der neueren Osmanischen Dichtung, S. 148, Anm.1. 49 Ebd., Vorwort, VI. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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diese hatte in weiten Kreisen die Überzeugung hervorgerufen, dass nur eins das Reich vor dem völligen Untergang retten könne: die Wiedergeburt des alttürkischen Geistes, der sich in der ruhmreichen Vergangenheit der Osmanen so glänzend bewährt hatte.50
Es dürfte wohl kaum eine Überinterpretation sein, aus dieser Formulierung – jedenfalls bei Fischer – auch eine indirekte Forderung an die Deutschen und ihre Dichter herauszulesen; ob die beiden Autoren damit indes den gedanklichen Zirkelschluss verbanden, die Identität von blühender Dichtung und Nationswerdung beweise geradezu die Seelenverwandtschaft von Deutschen und Türken, kann allenfalls vermutet werden.
Zur Rezeption Muhiddins – oder: die Rückkehr des Eigenen in »orientalischer« Verfremdung Bei dem Wiener Osmanisten und Georgianer Paul Wittek51 zündete nun gerade dieser Gedanke sehr wohl. Die Begegnung mit der türkischen Dichtung wurde für ihn geradezu zum Vorbild für die Erneuerung des deutschen Reiches. Im 18. Jahrgang der Oesterreichischen Rundschau, deren Chefredakteur Wittek war, erschien 1922 unter dem Titel »Die Kulturbewegung im modernen Türkentum« Witteks Rezension der Dissertation Ahmed Muhiddins, die mit den folgenden Sätzen endete: Das Buch des Dr. Ahmed Muhiddins ist auf deutschem Boden und in deutscher Sprache verfasst, die fehlerfrei, aber mit einem reizvoll fremdartigen syntaktischen Gebrauche verwendet ist, daran der ganze Charme einer in der ewigen Schönheit Konstantinopels gereiften und mit den Kräften des dort noch lebendigen Gemütes gespeisten Seele sichtbar wird.52
Aus der Sicht Witteks, der einem zyklischen Geschichtsbild und monumentaler (im Sinne Nietzsches) Geschichtsschreibung anhing, zeigte sich in Muhiddins Werk geradezu die Universalisierung von Wissenschaft wie des Wissens von der Herrschaft des Geistes und der Sprache: Noch war es für den Rezensenten – selbst ein frisch promovierter Orientalischer Philologe – ungewöhnlich, dass ein Türke eine Dissertation ablieferte; tatsächlich würdigte Wittek Muhiddins Werk weniger als wissenschaftliche Leistung denn als Beitrag zum Verständnis jener Welt, die er als Osmanist selbst untersuchte. Aber Ahmed Muhiddin hatte es 50 August Fischer/Ahmed Muhieddin (Hg.), Anthologie aus der neuzeitlichen türkischen Literatur. I Texte und literaturgeschichtliche Einführung, Leipzig 1919, Einleitung, S. 3–16, das Zitat: S. 10. 51 Zu Wittek vgl. demnächst Korinna Schönhärl/Sabine Mangold-Will, Die Orientfaszination im George-Kreis, in: Bertram Schefold/Bruno Pieger, Frankfurter George-Tagung 2012. 52 Paul Wittek, Die Kulturbewegung im modernen Türkentum, in: Oesterreichische Rundschau 18. 1922, S. 836–839, das Zitat: S. 839. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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trotzdem geschafft: Seine Arbeit wurde von einem Fachgenossen als Werk eines wissenschaftlichen Mitstreiters wahr- und ernstgenommen. Denn das Buch, das Paul Wittek den Lesern seiner Zeitschrift empfahl, stammte – darauf wies er explizit hin – von einem promovierten Osmanen: Dr. Ahmed Muhiddin. Seine eigentliche Motivation, Muhiddins Werk zu rezensieren, muss allerdings in dessen Globalisierung des Deutschen wie in der Universalisierung des Ideals einer nationalen Kulturbewegung mittels der Dichtung gesehen werden: Nicht allein die deutsche Sprache fand für Wittek erst durch die »Verfremdung« des Türken zur Vollendung; es war auch der türkische Kollege, der eine zutiefst deutsche, in Deutschland selbst aber als ewig menschlich interpretierte Eigenheit in seiner Sprache zum Ausdruck brachte: Seele. Aufgrund dieser Gleichgestimmtheit aber fand Wittek nun in der von Muhiddin präsentierten türkischen Dichtung jenes menschliche Wissen, das seiner Ansicht nach die wahre Universalität, nämlich die Universalität nationaler geistiger Individualität ausmachte; und so endete Wittek seine Rezension mit dem sicherlich bekanntesten Gedicht des türkischen Dichters Zia Gökalp, der auch im Zentrum von Muhiddins Arbeit stand: »Für die Türken ist das Vaterland weder die Türkei noch Türkistan, (ihr) Vaterland ist ein großes und ewiges Land: Turan.«53 Damit kehrte der romantische Gedanke der Erneuerung des »Reiches« als kulturelle (und politische) Heimat durch die Dichtung in seiner türkischen Anverwandlung durch Zia Gökalp wieder in die deutsche Geistesgeschichte zurück und verband sich durch Paul Wittek zudem mit dem Kreis um den Dichter Stefan George.54
Schlussbetrachtung Obwohl die Beschäftigung mit Poesie für einen gelehrten Osmanen wie Muhiddin auch ohne deutschen Einfluss zum Bildungskanon gehörte, muss sein Werk letztlich als Ausdruck der Globalisierung jener romantischen Vorstellung ge lesen werden, wonach Dichtung nicht nur Ausdruck des Geistes eines Volkes sei, sondern geradezu der Beweis für die politische Erneuerung einer Nation. Das wissenschaftlich-soziale Netzwerk, das Muhiddin in Deutschland erwarb, verweist zugleich auf das geistige (und indirekt auch das politische) Interesse an den kulturellen nationalen Äußerungen der Türken am Orientalischen Seminar der Leipziger Universität. Es zeigt aber auch, dass die berufenen Übersetzer – die Lektoren und Professoren der orientalischen Seminare – die gesellschaftliche 53 Muhiddin, Die Kulturbewegung, S. 50; Wittek, Die Kulturbewegung, S. 839 wählt die poetischere Übersetzung: »Den Türken ist das Vaterland nicht Türkei noch Turkistan, Vaterland ist für sie ein großes Land, ein ewiges Land: Turan«, die sich offenbar an M artin Hartmann anlehnt. Vgl. Hartmann, Aus der neueren Osmanischen Dichtung, S. 92. 54 Vgl. Schönhärl/Mangold-Will, Die Orientfaszination im George-Kreis. Zum GeorgeKreis insgesamt vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Aufgabe einer kulturellen Vermittlung zwischen Türken und Deutschen wahrnahmen und damit ihrerseits zur Globalisierung beitrugen. Den Lektoren insgesamt kam dabei zusätzlich die Rolle des transnationalen Importeurs zu, denn ohne ihre Kenntnisse der Sprache wie der vorhandenen Literatur hätten auch die Professoren, die in Amt und Würden kaum noch in den Orient reisten, deutlich spärlicheren Zugang zu neuen, auch zeitgenössischen Texten gefunden. Institutionell bot sich die deutsche Universität als Ort einer Globalisierung von Wissen demnach aus zweierlei Gründen an: Hier wurden nicht nur in den Medien »Mensch« und »Buch« Wissensbestände gehortet und gehütet, die zum Teil bereits seit ihrer Entstehung einen Anspruch auf Universalität enthielten wie beispielsweise die romantische Vorstellung von nationaler Erneuerung durch Dichtung. Hier konzentrierte sich durch die überschaubare Zahl von Individuen vielmehr auch die Kommunikation und damit die Einflussmöglichkeiten, zumal wenn sie – wie hier exemplarisch am Beispiel der Orientalischen Philologie aufgezeigt – durch überschaubare disziplinäre Strukturen eine enge personelle Anbindung und damit auch eine intensive Zusammenarbeit ermöglichte. Gerade die Verdichtung der Begegnung zwischen deutschem Professor und muttersprachlichem Lektor offenbart zugleich, dass der orientalistische Diskurs bei allem Ungleichgewicht spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts ein Gespräch zwischen »Europäern« und »Orientalen« darstellte; mehr noch: Wir müssen uns die Arbeit der Orientalisten bereits vor der Jahrhundertwende viel stärker in einem permanenten Austausch mit den Texten und Menschen des Orients vorstellen, als dies bisher geschehen ist. Muttersprachliche Lektoren und Doktoranden trugen schließlich aber auch ihrerseits wieder zur Globalisierung (orientalistischen) Wissens bei, indem sie am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend eine Doppelrolle als Informanten und Wissenschaftler einnahmen. So transportierten sie das westliche, von ihnen aber bereits mit beeinflusste Wissen, vor allem aber die Form der Wissensgenerierung, nämlich die wissenschaftlichen Methoden, wieder in ihre Herkunftswelt zurück. Diese Wirkung indes blieb dem ersten Türkisch-Lektor der Universität Leipzig Dr. Ahmed Muhiddin versagt, weil er kaum ein Jahr nach seiner Rückkehr in die Türkei bereits 1923 »zu früh«55 verstarb.
55 So Muhiddins Leipziger Kollege Richard Hartmann, Zija Gök Alp’s Grundlagen des türkischen Nationalismus, Sp. 581. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Afrikanistik in Deutschland Die wissenschaftliche Gemeinschaft von Gelehrten und Experten, die sich in Deutschland im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wissenschaftlich mit Afrika beschäftigten, blieb bis zum Ersten Weltkrieg ohne fachspezifische Selbstbezeichnung, die ihren wissenschaftlichen Gegenstand verdeutlicht und von benachbarten Disziplinen abgrenzt hätte. Der Begriff »Afrikanistik« wurde im deutschsprachigen Raum erstmals um 1914 von dem Afrikalinguisten Carl Meinhof (1857–1944) benutzt und allein auf die Sprachforschung bezogen.1 Der Begriff »Afrikanologie«, 1912 von dem Kulturmorphologen Leo Frobenius (1873–1938) entworfen, zielte auf eine multidisziplinäre Untersuchung der Kulturformen Afrikas unter Einschluss, aber ohne Hervorhebung der Sprachw issenschaft.2 Zwischen den Weltkriegen entstand die Auffassung von der Afrikanistik als einer Wissenschaft vom afrikanischen Kontinent südlich der Sahara und seinen kulturellen, ethnologischen, religiösen, historischen und zunehmend auch sozialen und politischen Kontexten, ohne dass zwischen diesen Disziplinfeldern exakte Grenzen gezogen wurden. Diese umfassendere Auffassung von einer »Gesamtafrikanistik«, die der Sprachforschung eine gewisse Vorreiterrolle einräumte, wurde in den Zwischenkriegsjahren vor allem von dem Berliner Afrikanisten Diedrich Westermann (1875–1956) praktiziert, ohne sie allerdings theoretisch zu fundieren.3 In diesem Sinne fand in den 1920er Jahren auch im anglophonen Bereich der Terminus »Africanist« als einem »Experten für Afrika« Eingang in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch.4 Heute fasst man unter »Afrikanistik« (synonym Afrikawissenschaft) allgemein jene geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammen, die die afrikanischen Gesellschaften und Staaten südlich der Sahara im allgemeinen, ihren Gesellschaftsaufbau und ihre wirtschaftliche Struktur, ihre Kulturen und Geschichte, ihre Sprachen und Literaturen, ihre gegenwärtige Politik sowie ihre sonstigen gesellschaftlichen und ethnischen 1 Herrmann Jungraithmayr/Wilhelm J. G. Möhlig (Hg.), Lexikon der Afrikanistik. Afrika nische Sprachen und ihre Erforschung, Berlin 1983, S. 22 f. 2 Leo Frobenius, Vom Schreibtisch zum Äquator. Planmäßige Durchquerung Afrikas (= Erlebte Erdteile, Bd. 3), Frankfurt 1925, S. 414; Walter Hirschberg (Hg.), Neues Wörterbuch der Völkerkunde, Berlin 1988, S. 14 f. 3 Westermann sprach von der »Afrikanistik mit ihren beiden gleichgeordneten Zweigen der Völkerkunde und Sprachenforschung«, Diedrich Westermann, Völker- und Sprachen forschung in Afrika, in: Zeitschrift für Politik 32. 1942, S. 254. 4 Kenneth Robinson, Experts, Colonialists, and Africanists 1895–1960, in: J. C. Stone (Hg.), Experts in Africa. Proceedings of a Colloquium at the University of Aberdeen, March 1980, Aberdeen 1980, S. 57. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Verhältnisse untersuchen.5 Jenes kooperierende Ensemble dieser verschiedenen Disziplinen ist das Ergebnis langer, zum Teil noch anhaltender Kontroversen.6
Personen Seit dem frühen 19. Jahrhundert hatten sich Gelehrte verschiedener natur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen mit Afrika, vor allem mit afrikanischen Sprachen, befasst. Martin Hinrich Carl Lichtenstein (1780–1857), der sich zwischen 1803 und 1806 als Hauslehrer, Arzt und Naturforscher in der Kapprovinz aufhielt, postulierte die Zweiteilung der südafrikanischen Sprachen in Bantuund Khoisansprachen. Lichtenstein ist eine prominente Figur der Berliner Wissenschaftsgeschichte: 1811 wurde er als erster Professor für Zoologie an die Berliner Universität berufen, leitete seit 1813 das Zoologische Museum und von 1844 an den Zoologischen Garten Berlins.7 Der Ägyptologe Karl Richard Lepsius (1810–1884) entwickelte ein einheitliches systematisches Lautschriftsystem, mit dessen Hilfe afrikanische Sprachen bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von Missionaren schriftlich fixiert wurden.8 Als Pionier der Afrikaforschung gilt ebenso der in Berlin habilitierte Geograf Heinrich Barth (1821–1865), der sich mit seinen Reiseberichten aus dem nördlichen und westlichen Afrika an ein breites Publikum wandte und als einer der ersten mit der Verbindung von Geografie, Geschichte und Sprachwissenschaft einen interdisziplinären Ansatz verfolgte. Er vertrat ein positives Bild des afrikanischen Islam, was ihn der etablierten Gelehrtenschaft ebenso suspekt machte wie seine unzeitgemäßen Plädoyers gegen die Geschichtslosigkeit Afrikas und für die Gleichwertigkeit der Afrikaner.9 Der Missionar Sigismund W. Koelle (1820–1902), der im Dienst der britischen Church Missionary Society (CMS)10 in Sierra Leone wirkte, begrün5 Jungraithmayr/Möhlig, Lexikon der Afrikanistik, S. 22 f. 6 Adam Jones, Einleitung, in: Paideuma 42. 1996, S. 9. 7 Hinrich Lichtenstein, Reisen im südlichen Africa in den Jahren 1803, 1804, 1805 und 1806, 2 Bde., Berlin 1811/1812; Aaron M. Bauer, Early German Herpetological Oberservations and Explorations in Southern Africa, With Special Reference to the Zoological Museum of Berlin, in: Bonner zoologische Beiträge 52. 2003, S. 193–214. 8 Brigitte Reineke, Die Bedeutung von Lepsius’ Standardalphabet für die schriftliche Fixierung afrikanischer Sprachen, in: Elke Freier/Walter F. Reineke (Hg.), Karl Richard Lepsius (1810–1884). Akten der Tagung anlässlich seines 100. Todestages, 10.–12.7.1984 in Halle, Berlin 1988, S. 202–207; Hildegard Höftmann, Lepsius’ Beitrag zur Klassifikation afrikanischer Sprachen, in: ebd., S. 191–201. 9 Heinrich Barth, Reisen und Entdeckungen in Nord- und Central-Afrika in den Jahren 1849 bis 1855, Gotha 1857/58; Christoph Marx, Heinrich Barth, in: ders., Völker ohne Schrift und Geschichte. Zur historischen Erfassung des vorkolonialen Schwarzafrika in der deutschen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. 10 Gegründet 1799 in London als evangelikal-protestantisches Netzwerk zur Abschaffung des Sklavenhandels sowie zur Förderung innerer sozialer Reformen und der weltweiten Evangelisation, begann die CMS mit der Missionstätigkeit 1804 in Sierra Leone. Die ers© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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dete mit seiner Polyglotta Africana die vergleichende Forschung über afrikanische Sprachen.11 Auch der dem Pietismus nahestehende CMS -Missionar Johann Ludwig Krapf (1810–1881) zählte mit seinen Bibelübersetzungen, Grammatiken und Wörterbüchern zum Oromo, Kiswahili und anderen ostafrikanischen Sprachen zu den Akteuren einer frühen, über die Missionsgesellschaften europaweit vernetzten Wissens- und Kommunikationsgemeinschaft des 19. Jahrhunderts.12 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weitete sich die Kenntnis afrikanischer Sprachen vor allem durch ehemalige Kolonialbeamte und Missionare mit eigener Afrikapraxis aus. Carl Gotthilf Büttner (1848–1893), zunächst Missionar der Rheinischen Mission im heutigen Namibia, dann Inspektor der Berliner Evangelischen Missionsgesellschaft in Ostafrika, wirkte als erster Swahili-Lehrer am 1887 eröffneten »Seminar für Orientalische Sprachen« zu Berlin. Büttner beschäftigte sich als erster in Europa mit der wissenschaftlichen Erforschung der Swahililiteratur13 und unternahm 1880 den Versuch eines vergleichenden Wörterbuchs der Bantusprachen. Zur gleichen Thematik gelang dem hinterpommerschen Dorfpfarrer Carl Meinhof 1899 der wissenschaftliche Durchbruch, der – mit Unterstützung des jungen Kameruners Njo a Dibone – in seinem »Grundriß einer Lautlehre der Bantusprachen« die vergleichende Bantuistik begründete, ohne selbst jemals zuvor in Afrika gewesen zu sein. Ähnlich wie es bereits Germanisten mit dem Urindogermanischen versucht haben, unternahm Meinhof hier mittels der historisch-vergleichenden Methode die Rekonstruktion des so genannten Urbantu. Er postulierte dies als die Ausgangssprache für alle BantuSprachen, die sich in einem gewalttätigen Wanderungsprozess ausgebreitet habe. Meinhofs umstrittene Rekonstruktion markierte die Anerkennung der »Afrikanistik als akademische Disziplin im Kreis der etablierten Wissenschaften«.14
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ten Missionare der CMS kamen aus dem pietistisch geprägten Württemberg. Kevin Ward/ Brian Stanley (Hg.), The Church Mission Society and World Christianity, 1799–1999, Grand Rapids 2000. Sigismund Wilhelm Koelle, Polyglotta Africana. Or a comparative Vocabulary of nearly 300 words and phrases, in more than one hundred distinct African languages, London 1854; Sara Pugach, Koelle, Sigismund Wilhelm (1820–1902), in: Keith Brown (Hg.), Encyclopedia of Language and Linguistics, Amsterdam 20052. Jungraithmayr/Möhlig, Lexikon der Afrikanistik, S. 47 f. Carl Gotthilf Büttner, Contributions to a comparative dictionary of the Bantu languages, Cape Town 1880; Katrin Bromber, Verdienste von Lehrern und Lektoren des Seminars für Orientalische Sprachen zu Berlin im Schaffen und Bewahren von Swahili-Wortkunst, in: Flora Veit-Wild (Hg.), Nicht nur Mythen und Märchen. Afrika-Literaturwissenschaft als Herausforderung, Trier 2003, S. 37; Jungraithmayr/Möhlig, Lexikon der Afrikanistik, S. 57 f. Ludwig Gerhardt, Das Seminar für Afrikanische Sprachen im Nationalsozialismus, in: Hilke Meyer-Bahlburg/Ekkehard Wolff (Hg.), Afrikanische Sprachen in Forschung und Lehre. 75 Jahre Afrikanistik in Hamburg (1909–1984), Berlin 1986, S. 65; Sara Pugach, Africa in Translation. A History of Colonial Linguistics in Germany and Beyond, 1814–1945, Ann Arbor 2012; Albert Wirz, Migration. Das Problem der Bantu-Expansion, in: JanGeorg Deutsch/Albert Wirz (Hg.), Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 37; Gudrun Miehe, Vom Verhältnis zwischen Afrikanistik und allgemeiner Sprachwissenschaft, in: Paideuma 42. 1996, S. 272. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Um die Herkunft der Bevölkerung in Afrika südlich der Sahara zu ergründen, wurde mit Hilfe der historisch-vergleichenden Sprachforschung versucht, afrikanische Ethnien als Sprachgruppen zu typologisieren, zu klassifizieren sowie die Abstammungsbeziehungen unter ihnen und zu anderen Sprachgruppen zu rekonstruieren.15 In diesem Kontext erlangte die so genannte Hamiten-Theorie eine tiefgreifende Wirkung, welche an eine biblische Erzählung anknüpfte, die Noahs Sohn Ham zum Stammvater der »schwarzen« und »kraushaarigen« Afrikaner (1. Mose 9, 25–27 & 10, 6) macht. Allerdings kehrte das afrikanistische Hamiten-Konzept die Wertungen der biblischen Erzähltradition um. Die Hamiten wurden zu einer anthropologisch, linguistisch, ökonomisch und politisch definierten, hellhäutigeren Menschengruppe bzw. »Rasse«, die aus Westasien nach Afrika eingedrungen sei und die »urafrikanische« dunkelhäutige Bevölkerung durch partielle Vermischung biologisch und zivilisatorisch aufgewertet bzw. dank waffentechnischer Überlegenheit nach Süden verdrängt habe. Aus der Vermischung von Hamiten mit der afrikanischen Urbevölkerung sei die vor gefundene Vielfalt von Mischsprachen hervorgegangen.16 Das Konzept der Hamiten-Sprachen war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an europäischen Universitäten, insbesondere in komparativ-linguistischen Fächern (Orientalistik, Ägyptologie), entwickelt worden und vor allem in der Linguistik als Oberbegriff für alle nichtsemitischen Genussprachen in Afrika verbreitet. In den folgenden Jahrzehnten entwarfen europäische Gelehrte diverse Modelle von Sprachklassifikationen, jedoch vereint in der »Intention, einen hamitischen Sprachstamm mit linguistischen Kriterien belegen zu können«.17 Diese Klassifikationsmodelle waren von Anfang an »von evolutionistisch beeinflußten Spekulationen hinsichtlich der Entstehung der Sprachen begleitet«,18 linguistische Beobachtungen wurden oftmals mit anthropologischen und ethnologischen Vorstellungen vermischt. Mitunter wurden rassistische Hierarchisierungen unter den Ethnien vorgenommen, zuweilen wurden sie nach der Helligkeit ihrer Hautfarbe zugeordnet. Das Hamiten-Konzept war in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg vor allem mit Carl Meinhof verbunden,19 dessen Darlegungen »von Rassismus geradezu imprägniert« waren und der sprachhistorische Erkenntnisse »in eine aus zeittypischen europäischen Überlegenheitsphantasien geborene Werthierarchie« übersetzte.20 Umstritten war das Hamiten-Konzept unter zeitgenössischen Gelehrten allerdings weniger wegen 15 Norbert Cyffer, Koloniale Sprachpolitik. Der Beitrag der deutschen Afrika-Linguistik, in: Eva-Maria Buchhaus/Leonhard Harding (Hg.), Hundert Jahre Einmischung in Afrika 1884–1984. Jahrestagung der Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland (VAD) 1984, Hamburg 1986, S. 169. 16 Franz Rottland, Hamiten, Neger, Négritude. Zur Geschichte einer afrikanistischen Klassifikation, in: Paideuma 42. 1996, S. 53–62; Wirz, Migration. 17 Jungraithmayr/Möhlig, Lexikon der Afrikanistik, S. 102. 18 Ebd. 19 Carl Meinhof, Die Sprache der Hamiten, Hamburg 1912. 20 Wirz, Migration, S. 38. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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seiner rassistischen Implikationen, sondern weil es nicht gelang, mit Hilfe der historisch-vergleichenden Sprachforschung zu gesicherten Erkenntnissen über jenen hamitischen Sprachstamm zu gelangen.21 Gleichwohl blieb die Mehrheit der Afrikalinguisten und -ethnologen bis in die 1940er Jahre dem Hamiten-Konzept verhaftet, »wobei die biologischen Ausweitungen nie fehlten, also anscheinend sprachliche Klassifikationen nie ohne Menschenklassifikation gedacht werden konnten«.22 Zugleich macht das Hamiten-Konzept den immensen Einfluss deutlich, der von der biblisch intendierten Afrika-Imagination noch im 20. Jahrhundert sowohl auf die Gelehrten in den Metropolen als auch auf die Datensammler in Afrika ausging. Missionare waren oftmals die ersten Europäer mit einer eigenen praktischen Afrika-Erfahrung. Kurzum: Die frühe Afrika forschung war personell wie ideell eng verzahnt mit den christlichen Missionsbewegungen; vor allem Missionare und Theologen machten die Afrikanistik zu einem akademischen Gegenstand.23 Neben der Afrika-Linguistik beschäftigte sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem die Völkerkunde mit Afrika, ebenfalls eine relativ junge Wissenschaftsdisziplin. Die evolutionistische Forschungsrichtung, die die deutsche Völkerkunde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominierte, verortete die autochthone Bevölkerung Afrikas als Relikt aus der menschheitsgeschichtlichen Vorzeit. Als Angehörige einer imaginären Vergangenheit sah man sie der Gefahr ausgesetzt, durch den Kontakt mit Europäern ihren »ursprünglichen« Charakter zu verlieren. Daher sahen sich Völkerkundler gleichsam in einem Wettlauf mit der Zeit, um Artefakte der »kulturlosen« Völker vor der Zerstörung ihrer traditionellen Zusammenhänge aufzuspüren und in den Museen zu bewahren. Paradoxerweise trug die Sammelleidenschaft der Ethnologen gerade zum beklagten Verschwinden des »ursprünglichen« Charakters der kolo nisierten Ethnien bei. Eine Folge war, dass sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in den Völkerkundemuseen eine unüberschaubare Menge von Objekten angesammelt hatte, die nun vorwiegend mit quantifizierenden Methoden vermessen, verglichen und verzeichnet wurden.24
21 Jungraithmayr/Möhlig, Lexikon der Afrikanistik, S. 102 f. 22 Rottland, Hamiten, S. 55. 23 Peter Probst, Betwixt and between. An anthropologist’s perspective on the history of African Studies in Germany, in: afrika spectrum 40, 3. 2005, S. 403–427; Gunther Pakendorf, Der Missionar als Anthropologe. Albert Kropf und das »Volk der Xosa-Kaffern«, in: U lrich van der Heyden/Heike Liebau (Hg.), Missionsgeschichte – Kirchengeschichte – Weltgeschichte. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwicklungen in Afrika, Asien und Ozeanien, Stuttgart 1996, S. 161–175, siehe hierzu ebenso die Beiträge von van der Heyden, Hoelzl und Brockmeyer in diesem Band. 24 Christine Stelzig, Afrika am Museum für Völkerkunde zu Berlin 1873–1919. Aneignung, Darstellung und Konstruktion eines Kontinents, Herbolzheim 2004. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Institutionalisierung Die wissenschaftliche Erforschung Afrikas wurde in Deutschland mit der Gründung des Seminars für Orientalische Sprachen an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin 1887, kurz nach dem Beginn der kolonialen Expansion Deutschlands in Afrika, erstmals institutionalisiert.25 Seither erlebten die afri kanistischen Studien in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg einen stetigen Aufschwung. Die Afrika-Abteilung des Berliner Orientalischen Seminars war die erste und neben dem 1909 gegründeten Hamburger Kolonialinstitut26 bis 1945 die bedeutendste wissenschaftliche Institution in Deutschland, die sich mit der Lehre und Erforschung der afrikanischen Sprachen und der afrikanischen Gegenwart befasste. Gemeinhin gilt diese Phase als die der »Institutiona lisierung afrikanistischer Sprachforschung in Deutschland«.27 Gleichwohl deutet der Charakter des Orientalischen Seminars als einer kolonialpraktischen Lehranstalt darauf hin, dass die Afrikanistik in Deutschland nicht in erster Linie als eine Abspaltung von etablierten Mutterwissenschaften, sondern aus einem starken kolonialen Praxisbezug entstanden war. Die meisten deutschen Afrikanisten der Gründergeneration (Carl G. Büttner, Carl Velten, Carl Meinhof, Julius Lippert, Diedrich Westermann u. a.) kamen denn auch aus nichtakademischen, praxisorientierten Kontexten (Kolonialverwaltung, Mission und Kirche) zur Afrikaforschung. Das Orientalische Seminar in Berlin war vor allem ein Lehrinstitut zur Vermittlung von Sprachen des Orients und Ostasiens für den praktischen Gebrauch, weniger für die wissenschaftliche Forschung. Eine solche Lehranstalt war aufgrund des wachsenden außen- und handelspolitischen Engagements Deutschlands in Asien und Afrika sowie nach der Einleitung einer deutschen Kolonialpolitik 1884 und der Berliner Kongokonferenz 1884/85 notwendig geworden, in erster Linie um für das Auswärtige Amt geeignete Dolmetscher auszubilden. Die Ausbildung von so genannten Dragomanen, das heißt von sprachlich und landeskundlich geschulten Übersetzern in diplomatischen beziehungsweise konsularischen Diensten, stand mithin zunächst im Vordergrund. Darüber hinaus wurde bereits mit der Einrichtung des Seminars »das gesamte Interesse der deutschen Nation in fremden, besonders asiatischen und afrikanischen 25 Holger Stoecker, Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Geschichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes, Stuttgart 2008, S. 39–44. 26 Hilke Meyer-Bahlburg/Ekkehard Wolff, Afrikanische Sprachen in Forschung und Lehre. 75 Jahre Afrikanistik in Hamburg (1909–1984), Berlin 1986; Pugach, Africa in Translation, S. 117–140. 27 Burkhard Forstreuter u. a., Zur Geschichte der Afrikanistik an der Berliner Universität/ Humboldt-Universität (= Berliner Afrikanistische Arbeitsblätter, Heft 1), Berlin 1993, S. 3; Lothar Burchardt, The School of Oriental Languages at the University of Berlin – Forging the Cadres of German Imperialism?, in: Benedikt Stuchtey (Hg.), Science across the European Empires, 1800–1950, London 2005, S. 63–105. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Ländern ins Auge gefaßt«.28 Für die Vertretung der deutschen Interessen in diesen Ländern, seien »junge Männer vorzubilden, sie mit einer solchen Summe von sprachlichen und realistischen Kenntnissen und Fertigkeiten auszurüsten, welche sie befähigen würde, eine kompetente Vermittlung bei fremden Behörden und Privatpersonen durchzuführen.«29 Vor allem die Erwerbungen der DeutschOstafrikanischen Gesellschaft in Ostafrika und ihre Legitimierung durch einen Schutzbrief des deutschen Kaisers vom 27. Februar 1885 führte die Notwendigkeit einer institutionalisierten Lehre der Sprachen in den kolonialen Gebieten vor Augen.30 Dieses zweite Aufgabenfeld, das so genannte Kolonialstudium, erstreckte sich auf Unterweisungen zu Sprachen und Landeskunde sowohl der deutschen »Schutzgebiete« in Afrika, China und in der Südsee als auch auf Re gionen, in denen das Deutsche Reich zwar Handelsinteressen verfolgte, aber keine eigenen Kolonien verwaltete. Aufgrund der doppelten Aufgabenstellung des Seminars für Orientalische Sprachen teilten sich das Auswärtige Amt als Reichsbehörde und das preußische »Staatsministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten« die Trägerschaft des Seminars zu gleichen Teilen.31 Es war institutionell zwar an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin angebunden, aber formal kein Teil von ihr. Diese institutionelle Konstruktion bestand bis zur Auflösung der aus dem Seminar hervorgegangenen Ausland-Hochschule 1939. Sie spiegelte über die etwa fünfzig Jahre der Existenz des Seminars sowohl seinen besonderen Platz in der preußischen Wissenschaftslandschaft wie auch seine Einbindung in die deutsche Außen- und Kolonial politik wider. Der Lehrplan umfasste anfangs neben sieben asiatischen nur eine afrikanische Verkehrssprache: Swahili. Doch mehr und mehr wurde der afrikabezogene Unterricht auf die Bedürfnisse der Kolonialverwaltungen, der Schutztruppen, von kolonialen Handelshäusern und Firmen sowie der in Afrika tätigen deutschen Missionsgesellschaften (einschließlich der Basler Mission) abgestimmt. Die so genannten Realienfächer vermittelten an Kolonialbeamte und -offiziere, Missionare, Forschungs- und Handelsreisende kolonialkundliche und praktische Kenntnisse für den Aufenthalt in den Kolonien. Unterweisungen in Religionen, Sitten und Gebräuche, Geografie und Geschichte sollten die Verständigung mit der einheimischen Bevölkerung ermöglichen. Ebenso dienten Vorlesungen über Kolonial- und Konsularrecht, wirtschaftliche Verhältnisse, 28 Eduard Sachau, Das Seminar für orientalische Sprachen, in: Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 3. Bd., Halle 1910, S. 239. 29 Ebd. 30 Winkler, Fünfundzwanzig Jahre Seminar für orientalische Sprachen, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 14. 1912, S. 864 f. 31 Ministerialverfügung des Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. Bekanntmachung, betreffend das Seminar für orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 5.8.1887, in: Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, 6.8.1887, Nr. 182, 1887. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Tropenhygiene, tropische Nutzpflanzen, wissenschaftliche Beobachtungen und Fotografie auf Reisen in den kolonialen Gebieten der Vorbereitung auf den Kolonialdienst. So unterwies Büttner die Seminar-Hörer beispielsweise »Über die socialen und commerciellen Verhältnisse in Mittel- und Süd-Afrika«, während Velten »Übungen im Erklären und Abfassen von öffentlichen und privaten Urkunden« auf Swahili abhielt.32 Hinsichtlich des Lehrangebots reagierte die Seminarleitung nicht selten auf konkrete Wünsche der Kolonialverwaltung oder des Oberkommandos der Schutztruppen, etwa als 1901 ein Kurs für geogra fische Ortsbestimmung und Routenaufnahmen für Offiziere im Kolonialdienst eingerichtet wurde.33 Bald nach der Gründung des Seminars wurde das Lehrangebot um weitere Sprachen der deutschen Kolonien in Afrika ergänzt: Herero, Nama und Ovambo (Deutsch-Südwestafrika), Haussa, Duala, Ewe, Fulbe, Twi und Jaunde (Togo und Kamerun). Hinzu kamen seit dem Wintersemester 1905/06 Gujarati (auch: Guzerati, ein auch in Ostafrika gesprochener indischer Dialekt) sowie Äthiopisch, worunter man sowohl die alte äthiopische Kirchensprache Ge’ez als auch die lokalen Sprachen Oromo und Tigrinya verstand, und Amharisch, die am Horn von Afrika, also außerhalb des deutschen Kolonialgebietes, gesprochen wurden. Ebenso wurden am Seminar als »Ergänzungsstudien« noch vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem die Sprachen der europäischen Kolonialmächte Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch unterrichtet.34 Die Hörer des am Seminar angebotenen Kolonialstudiums waren vor allem für den Ko lonialdienst vorgesehene Verwaltungs-, Zoll-, Forst-, Post-, Eisenbahn- und Gerichtsbeamte, sich auf den Dienst in den Kaiserlichen Schutztruppen und in der Marine vorbereitende Offiziere, aber auch Lehrer, Missionare und auswanderungswillige Privatpersonen.35 Den Sprachunterricht hielten zumeist ein deutscher Lehrer bzw. Dozent und ein muttersprachlicher Lektor gemeinsam ab. So waren einige der Sprachdozenten ehemalige Missionare, andere hatten zuvor für die deutsche Kolonialverwaltung gearbeitet. Die Vorlesungen in den Realien fächern hielten oft die Sprachlehrer nebenher. Zunehmend wurden hiermit aber auch Kolonialpraktiker beauftragt: Ehemalige Konsulats- und Kolonialbeamte, aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Offiziere und Militärärzte sowie frühere Missionare.36 Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war das Seminar durch das Direktorat von Eduard Sachau (1845–1930) geprägt. Sachau war seit 1876 Professor für orientalische Sprachen an der Berliner Universität und trat als Editor arabischer 32 Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen und Übungen, Wintersemester 1891/92 und Winter semester 1903/04. 33 Vgl. Oberkommando der Schutztruppen an Kultusministerium, 17.4.1901, in: GStA PK I. HA Rep. 76 Va Sektion II Titel X, Nr. 124, Bl. 138. 34 Vgl. die Verzeichnisse der Vorlesungen und Übungen, welche im Seminar für Orienta lische Sprachen gehalten werden, Wintersemester 1887/1888 bis Sommersemester 1912. 35 Vgl. Einschreibe-Bücher, in: GStA PK I. HA Rep. 208 A, Nr. 361–399. 36 Winkler, Fünfundzwanzig Jahre, S. 866. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Texte hervor. Er hielt keine eigene Lehre am Orientalischen Seminar ab, betonte aber stets, dass sich dessen Ausbildungsprogramm auf die Praxis hin zu orientieren habe. Die Erforschung fremder Sprachen sollte am Seminar nur insoweit stattfinden, wie sie der Lehre zugute komme: Das Seminar will keine Gelehrten ausbilden, sondern Männer des Beamten- und Erwerbslebens für ihre praktische Betätigung und die Vertretung deutscher Interessen in asiatischen und afrikanischen Ländern.37
Angesichts dessen ist der Umfang der sprachwissenschaftlichen Publikationen der am Seminar tätigen Dozenten erstaunlich, blieb die wissenschaftliche Forschung doch eher der Initiative der Lehrenden überlassen. Dies gilt insbesondere für das Gebiet der afrikanischen Sprachen, das – anders als die am Seminar gelehrten orientalischen Sprachen – bis zum Ende des Kaiserreiches nicht mit einem eigenen Lehrstuhl an der Universität vertreten war. Afrika stellte den regionalen Schwerpunkt des so genannten Kolonial studiums dar. Bis zum Ersten Weltkrieg bestanden am Orientalischen Seminar im Wesentlichen zwei Dozenturen für afrikanische Sprachen: Für den ostafrikanischen Sprachraum, das heißt vor allem für Swahili (und weiterer Bantu-Sprachen), und für westafrikanische Sprachen (Sudan-Sprachen). Swahili wurde vertreten von Carl Büttner, dem ersten Lehrer einer afrikanischen Sprache am Orientalischen Seminar. Ihm folgten die beiden früheren Seminar-Schüler und kaiserlichen Dragomanen (amtliche Übersetzer) in Deutsch-Ostafrika Gustav Neuhaus (1866–1942) und Carl Velten (1864–1942) sowie Carl Meinhof. Der Unterricht von westafrikanischen Sprachen wie Haussa, Duala oder Ewe, dessen Besuch für Schutztruppenoffiziere ebenso verpflichtend war, wurde seit 1897/98 von Julius Lippert (1866–1911), hauptberuflich Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek (heute Staatsbibliothek) zu Berlin, und seit 1905 von dem ehemaligen Missionar Diedrich Westermann, der neben Meinhof als Gründervater der deutschen Afrikanistik gilt, vertreten. Zudem waren über nahezu den gesamten Zeitraum der Existenz des Orientalischen Seminars in Berlin und seiner Nachfolgereinrichtungen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs etwa dreißig afrikanische Lektoren als so genannte Sprach- oder Lehrgehilfen beschäftigt. Einige wurden von heimkehrenden Missionaren aus Afrika mitgebracht, andere gezielt über die Kolonialverwaltungen nach Berlin vermittelt. Zumindest während der Kolonialperiode blieben sie selten länger als zwei Jahre am Seminar, bevor sie in der Regel wieder in ihre Heimat zurückgeschickt wurden.38 Das Reichskolonialamt war bestrebt, einen 37 Vgl. Sachau, Das Seminar für orientalische Sprachen, S. 240; Sachau an den Kultusminister, 2.7.1913, zit. nach: Forstreuter u. a., Zur Geschichte der Afrikanistik, S. 8. 38 Vgl. die Aufstellung der in Berlin tätigen afrikanischen Sprachlehrer und -informanten, in: Stoecker, Afrikawissenschaften, S. 318. Am Kolonialinstitut in Hamburg waren im gleichen Zeitraum 19 afrikanische Sprachlehrer beschäftigt, vgl. Meyer-Bahlburg/Wolff, Afrikanische Sprachen in Forschung und Lehre, S. 85–90. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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dauerhaften Aufenthalt von Afrikanern in Deutschland zu vermeiden.39 Die deutschen Dozenten hingegen schätzten an den afrikanischen Lektoren deren breite Kenntnisse der afrikanischen Sprachen, Literatur und Oratur. Zudem hatten sie meist einen guten Bildungsstand: Einige von ihnen waren zuvor in Afrika als Lehrer an Regierungsschulen tätig gewesen. Abdallah Adam, von 1910 bis 1912 am Orientalischen Seminar Lektor für Haussa, Fulbe und Arabisch, hatte zuvor gar an der Universität Kairo studiert und war dort von Westermann nach Berlin angeworben worden.40 Vor dem Ersten Weltkrieg begründete die Völkerkunde, vor allem aber die afrikanistische Sprachforschung, die internationale Geltung der deutschen Afrikaforschung.41 Nach dem Ersten Weltkrieg wirkte sich das Ende der deutschen Kolonialherrschaft umso stärker aus, als Sozialwissenschaftler in anderen Ländern die Vorteile der von der britischen »Social Anthropology« praktizierten Feldforschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung entdeckten und die älteren evolutionistisch-historischen und vergleichenden Ansätze der deutschen Wissenschaft in den Hintergrund drängten. Die neuen empirischen Methoden, die nur vor Ort zu erproben und zu praktizieren waren, konnte jedoch nur anwenden, wer ungehinderten Zugang zum Forschungsfeld hatte. Mit dem fehlenden kolonialen Einfluss deutete sich zudem an, dass in Deutschland das öffent liche Interesse an der Afrikaforschung kleiner werden würde.
Schlussbetrachtung Das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen wurde am Beginn der deutschen Kolonialperiode gegründet unter der Maßgabe, dass ein hohes Maß fremder Sprachkenntnis […] stets eine conditio sine qua non bleiben [wird], besonders da, wo Millionen kulturloser oder kulturarmer Menschen von Europa nach den Prinzipien europäischer Gesittung regiert werden sollen.42 39 Reichskolonialamt an das Preußische Innenministerium, Juni 1916, in: Bundesarchiv Berlin, R 1001–4457, Bl. 121. 40 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA Rep. 208, Nr. 77: Haussa-Lektoren, Bl. 11–40; Holger Stoecker, Lehrer, Informanten, Studienobjekte. Afri kanische Sprachlektoren in Berlin in den Zwischenkriegsjahren, in: Oumar Diallo/Joachim Zeller (Hg.), Black Berlin. Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2013 (im Druck); Stoecker, Afrikawissenschaften, S. 83–104. 41 Albert Wirz/Jan-Georg Deutsch, Geschichte in Afrika. Einleitung und Problemaufriß, in: dies., Geschichte in Afrika, S. 13. 42 Denkschrift vom 3. April 1886, in: Eduard Sachau: Denkschrift über das Seminar für Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin von 1887 bis 1912, in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sektion 2 Titel X, Nr. 124, Bd. VIII, Bl. 151. Vgl. Wolfgang Morgenroth, Das Seminar für Orientalische Sprachen in der Wissenschaftstradition der Asien- und Afrikawissenschaften, in: asien, afrika, lateinamerika 16. 1988, S. 710–712. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Entsprechend erlebte die deutsche Afrikanistik bis zum Ersten Weltkrieg einen stetigen Aufschwung. Mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die deutsche Afrikanistik jedoch grundlegend. Durch das Ende der deutschen Kolonialherrschaft waren dem Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin wie dem Kolonialinstitut in Hamburg wesentliche Einsatzbereiche ihrer Absolventen abhanden gekommen. Afrikanistische Sprachkurse wurden daher nun nur noch von wenigen Hörern besucht. Zudem war den deutschen Afrikawissenschaftlern, welche bis zum Ersten Weltkrieg als international führend im Bereich von Linguistik und Ethnologie galten, der ungehinderte Zugang zum Forschungsfeld verwehrt. So verlor die deutsche Afrikawissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr an internationaler Bedeutung. Zugleich setzte nach dem Ersten Weltkrieg mit der Einrichtung neuer Lehrstühle für afrikanische Sprachen an den Universitäten in Hamburg und Berlin die Etablierung der akademischen Afrikaforschung in Deutschland ein. Diese paradoxe Entwicklung – einerseits der allmähliche Bedeutungsverlust der deutschen Afrikawissenschaften, andererseits ihre erfolgreiche und dauerhafte Etablierung an akademischen Einrichtungen – hatte mehrere Ursachen. So wirkte sich die Popularität der Kolonien, die ihren Höhepunkt erst nach dem Ende der aktiven Kolonialherrschaft im Zuge des Kolonial revisionismus erreichte, förderlich auf die Positionierung der Afrikawissenschaften in der Wissenschaftslandschaft der Zwischenkriegszeit aus. Zugleich beteiligten sich Afrikawissenschaftler ihrerseits engagiert an der Propaganda gegen die »Kolonialschuldlüge« der Siegermächte des Ersten Weltkrieges und für den Wiedererwerb von Kolonien sowie im Dritten Reich an den Vorbereitungen zur kolonialen Restitution.43 Sie zeigten in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit kein Verständnis für jene, die in dem unfreiwilligen Verlust der Kolonien vorausschauend vor allem die Chance sahen, von den Folgen der zaghaft einsetzenden Dekolonisation verschont zu bleiben. Und so wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein deutscher Wissenschaftler, der Berliner Nationalökonom Moritz Julius Bonn, bereits 1926 den Begriff der »Dekolonisation« erfand und in die internationale Diskussion über die Zukunft der Kolonien einführte.44
43 Vgl. Stoecker, Afrikawissenschaften, S. 28–31. 44 Vgl. Moritz J. Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 1926, S. 21 ff.; ders., The Age of Counter-Colonisation, in: International Affairs XIII. Nov. 1934, S. 845–847. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die Orientforscherin Gertrude Bell (1868−1926) Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zwei Heimatländer zu haben und durch lange Bindeglieder mit dem einen wie dem andern verknüpft zu sein.1
Gertrude Bell: Politikerin, Schriftstellerin, Archäologin, Reisende, Fotografin – Grenzgängerin zwischen Orient und Okzident. Das außergewöhnliche Leben dieser Engländerin ist heute wenig bekannt und sie hat trotz ihrer zahlreichen Verdienste in den unterschiedlichsten Bereichen immer noch nicht die angemessene Würdigung erfahren. Bell war zwar am Ende ihres Lebens weltberühmt, wie wir durch ihre unzähligen Nachrufe wissen, ihre Bekanntheit hielt jedoch nicht lange an. Allein im Gertrude Bell Archive in der Newcastle University Library, wo ihr Nachlass aufbewahrt wird, sind in einem Album 270 Zeitungsartikel zusammengestellt, die anlässlich ihres Todes am 12. Juli 1926 erschienen sind.2 Darunter befinden sich Nachrufe von großen Zeitungen Amerikas und Europas, aber auch zahlreicher arabischer Länder, die voller Bewunderung und Respekt von ihrem beeindruckenden Leben berichten. Dass ihr Ruf dennoch rasch verblasste, hängt nicht nur mit ihrem Geschlecht, sondern mit dem Umstand zusammen, dass ihr Zeitgenosse Thomas Edward Lawrence (Lawrence von Arabien), der ähnliche Tätigkeiten im Nahen Osten ausübte, schon zu Lebzeiten als englischer Nationalheld verehrt wurde. Gertrude Lowthian Bell wurde am 14. Juli 1868 in New Hall in Washington, County Durham (Nordostengland), als Tochter eines Industriellen geboren, dessen Familie mit Kohle und Stahl ein Vermögen gemacht hatte. Von 1884 bis 1886 besuchte sie das renommierte Queen’s College in London, wo unter anderen die Königinnen Victoria und Elizabeth II. ihre schulische Ausbildung erhielten. Bell litt unter der strengen Disziplin, vor allem auch, weil sie als Frau immer von einer Aufsichtsperson begleitet werden musste: »Ich würde so gerne ins Nationalmuseum gehen, aber leider ist niemand da, der mich begleiten könnte. Wäre ich ein Junge, könnte ich jede Woche in dieses einzigartige Museum gehen,« schrieb sie in einem Brief nach Hause.3 Auf Rat der Schulleiterin, die von der Intelligenz 1 Gertrude Bell, Ich war eine Tochter Arabiens. Das abenteuerliche Leben einer Frau zwischen Orient und Okzident, Bern 1995, S. 140. 2 Obituary notes of Gertrude Bell, Album 1926, Item 9, Newcastle University, Special Collections, Robinson Library. 3 Janet Wallach, Königin der Wüste. Das außergewöhnliche Leben der Gertrude Bell, München 1999, S. 45. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Bells sehr beeindruckt war, entschloss sie sich zu einem Studium in Oxford. Dort war kurz vorher, 1879, das erste Studentenheim für Frauen eingerichtet worden, aber von der Gleichberechtigung der Studentinnen mit den männlichen Kommilitonen konnte keine Rede sein. Aussagen über die Frauen wie diejenige des zeitgenössischen englischen Soziologen und Philosophen Herbert Spencer (1820 − 1903): »Eine Überbeanspruchung des Gehirns habe ein Nachlassen der Fortpflanzungsfähigkeit zur Folge« prägten das Klima an der Universität.4 Die zwei Gasthörerinnen, die Geschichte studierten, durften sich auch nicht in den Hörsaal zu den Männern setzen, sondern mussten neben dem Professor auf dem Podium Platz nehmen. Trotz aller Hindernisse schloss Bell 1888 als erste Frau mit Auszeichnung das Studium in Neuer Geschichte ab.5 Das eigentliche Problem entstand für sie jetzt erst, denn sie war im heiratsfähigen Alter und sollte, gemäß den damals üblichen Konventionen, möglichst bald verheiratet werden. Um ihr den gesellschaftlichen und diplomatischen Schliff zu geben, wurde sie für ein Jahr zu ihrem Onkel nach Bukarest geschickt, der dort als Diplomat tätig war. Zurück in England gelang es ihr jedoch nicht in den drei Ballsaisons, die einer heiratsfähigen Frau zustanden, einen Mann zu finden. Um diesem Problem zu entgehen, entschloss sie sich zu reisen. Es schien ihr die einzige Möglichkeit, sich aus den engen gesellschaftlichen Zwängen des viktorianischen Englands zu befreien. Sie begann persisch zu lernen, um ihren Onkel, der nun als britischer Botschafter unter Schah Nasr ed-Din im Iran tätig war, zu besuchen. 1892 reiste sie nach Teheran. Sie war hingerissen vom Orient, von der andersartigen, sinnlichen Kultur, der Landschaft und den Leuten. 1894 veröffentlichte sie »Safar Nameh, Persian Pictures«, in denen sie die Eindrücke ihrer Reise in den Iran schilderte,6 und »Poems from the Divan of Hafiz«.7 Ihre Übersetzungen des persischen Poeten Hafiz gehören zu den besten, die es auf Englisch gibt. Prägend für ihr weiteres Leben war ein Besuch in Athen, wo sie den Archäologen David Hogarth (1862−1927) kennenlernte. Der Bruder von Janet H ogarth, mit der sie zusammen in Oxford Geschichte studiert hatte, war zu dieser Zeit Direktor der British School of Archaeology in Athen und später Direktor des Ashmolean Museums in Oxford. Es war Bells erste intensive Begegnung mit der Archäologie, und sie ließ sich so begeistern, dass sie anfing sich mit der antiken Geschichte und Kultur zu beschäftigen. Auf Anraten des deutschen Orientalisten Friedrich Rosen (1856−1935), dessen Bekanntschaft sie in Teheran gemacht hatte, lernte sie Arabisch. Friedrich Rosen, der erst Persisch am Seminar für orientalische Sprachen in Berlin unter4 Ebd., S. 49. 5 H. V. F. Winstone, Gertrude Bell, London 2004, S. 51. The Letters of Gertrude Bell, selected and edited by Lady Bell, Bd. 1, London 1927, S. 15. 6 Safar Nameh, Persian Pictures, anonym veröffentlicht, London 1894. Deutsch: Gertrude Bell, Persische Reisebilder, Hamburg 1949. 7 Gertrude Bell, Poems from the Divan of Hafiz, London 1897. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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richtete und anschließend als Referent des Auswärtigen Amtes in Teheran tätig war, kam 1899 als Konsul nach Jerusalem. Er lud Gertrude Bell ein, ihn und seine Frau dort zu besuchen. 1899 unternahm sie eine Reise nach Jerusalem, um ihre Arabischkenntnisse zu vertiefen. Von dieser Reise besitzen wir Bells erste Fotografien. Bis zu ihrem Tod 1926 fotografierte sie systematisch und mit großem Engagement Land und Leute sowie archäologische und kunsthistorische Stätten. Dieser unschätzbare Fotobestand befindet sich heute im Archiv und umfasst insgesamt 6.000 Bilder, die in Fotoalben aufbewahrt werden.8 Es war Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus nicht selbstverständlich, dass Reisende und Forscher ihre Expeditionen mit dem Fotoapparat dokumentierten. Reisebeschreibungen wurden meistens durch Zeichnungen illustriert. Der fotografische Nachlass von Bell gehört deshalb weltweit zu den bedeutendsten Konvoluten dieser Zeit. Trotz der großen Sorgfalt, mit der sie Fotografien herstellte, besaß sie ein ambivalentes Verhältnis zur Kamera: »The camera may be a horrid modern invention, but it’s a universial letter of credit in strange parts,« schrieb sie in einem Brief an ihre Mutter.9 Damit drückte sie aus, welch große Bedeutung dem Fotoapparat in der Fremde beigemessen wurde. Bells Bilder sind nicht nur von einer hervorragenden Qualität, sondern sie sind auch einzigartige Dokumente von teilweise nicht mehr vorhandenen Stätten.
Die Expeditionen Gertrude Bells: Zwischen Archäologie und Kartografie Von Jerusalem aus unternahm sie im März 1900 ihre erste Expedition in die Wüste. Begleitet wurde sie von einem Koch, zwei Maultiertreibern und einem Führer und später – zum Schutz für ihre Sicherheit – von einem Soldaten. Sie selbst ritt auf einem Pferd. Es war der Beginn einer jahrelangen intensiven Ex peditionstätigkeit, die sie ohne Begleitung durch andere Europäer und unter großen Strapazen in unerforschte Gebiete unternahm. Die Reise führte sie durchs Jordantal, nach Mschatta, 30 km südlich von Amman in Jordanien. Dieser zwischen 743−744 n. Chr. in frühislamischer Zeit entstandene Palast begeisterte sie so, dass sie nach Hause schrieb: »Die Schönheit von allem ist ganz unbeschreiblich. So etwas vergisst man sein Leben lang nicht.«10 Die Bilder, die sie dort am 22. März 1900 erstellte, gehören zu den besten, die wir von der Palastfassade vor Ort haben. Denn diese gelangte nur kurz danach, 1903, durch diplomatische Verhandlungen nach Berlin: Als Geschenk von Sultan Abdul Hamid II., dem Herrscher des Osmanischen Reiches, an 8 Das Bildarchiv des Gertrude Bell Archive an der Newcastle-University ist auf vorbildliche Weise digitalisiert unter: http://www.gerty.ncl.ac.uk/photos.php. 9 Letters of Bell, S. 159; Jim Crow, Gertrude Bell. Fotografin und Archäologin, in: Charlotte Trümpler (Hg.), Das Große Spiel. Archäologie und Politik, Köln 2008, S. 598. 10 Bell, Tochter Arabiens, S. 37. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Kaiser Wilhelm II. Heute bildet die Fassade von Mschatta ein Kernstück des Islamischen Museums im Pergamonmuseum. Eine weitere Expedition im Mai 1900 führte sie durch die Wüste nach Palmyra. Auf dieser Reise entwickelte sie sich von einer Touristin zu einer Orientforscherin. Sie ritt abseits der üblichen Wege, quer durch die Wüste, wo sie nun auch übernachtete. Die unendliche Weite und die unbeschreibliche Stille beeindruckten sie tief, und die Wüste wurde zu einer lebenslangen Leidenschaft. Sehr viel später, am 2. Februar 1914, schrieb sie in das Tagebuch für ihren Geliebten Richard Doughty-Wylie: »Aber was für eine Welt! Unglaubliche Einsamkeit – von Gott und Mensch verlassen, so sieht es aus und ist es auch. Ich glaube, niemand kann hierher reisen und als derselbe Mensch zurückkehren. Es drückt Dir seinen Stempel auf, zum Guten oder Schlechten.«11 Prägend für Bells weitere Forschungen war ein Studienaufenthalt in Paris bei dem renommierten Salomon Reinach. Salomon Reinach (1858−1932), ein französischer Archäologe und Philologe, war Professor für Archäologie an der École du Louvre und Direktor des Musée des Antiquitées nationales in Saint-Germain-en-Laye bei Paris. Er forderte Bell auf, sich mit den byzantinischen und islamischen Monumenten zu beschäftigen, um die Auswirkungen auf die Architektur des Nahen Ostens analysieren zu können. Dieses Fachgebiet war zu jener Zeit praktisch unerforscht. Auf ihrer nächsten Reise nach Syrien dokumentierte sie zahlreiche antike Stätten, setzte sich aber auch intensiv mit den Beduinen und Drusen ausein ander. Ihre Beobachtungen veröffentlichte sie in dem Buch »The Desert and the Sown.«12 Der literarisch sehr schön geschriebene, lebendige Reisebericht mit zahlreichen Fotografien umfasst sowohl Beschreibungen von Monumenten als auch Schilderungen von den Sitten und Gebräuchen der Araber. Es wurde ihr erfolgreichstes Buch und von den Kritikern hochgelobt. 1905 besichtigte sie auf einer Reise durch die Türkei das Gebiet Binbirkilise (1001 Kirchen). Fasziniert von den Ruinen, dokumentierte sie die byzantinischen Kirchen und anderen Gebäude; es war ihre erste archäologische Arbeit. Zwei Jahre später kehrte sie mit dem britischen Archäologen Sir William Ramsay zurück, führte Ausgrabungen durch und vermaß die Bauten. Ihre gemeinsame Publikation, die zahlreiche Fotografien beinhaltet, bildet bis heute das Standardwerk über frühbyzantinische Architektur in Anatolien.13 Das Werk ist aber auch ein unschätzbares Zeitdokument, denn schon 1909, als Bell wieder dorthin kam, waren zahlreiche Gebäude durch Steinräuber abgetragen worden. Bei dieser Expedition, die sie von Aleppo durch die syrische Wüste in Richtung Irak und dem Euphrat entlang führte, entdeckte sie die Ruine des Wüstenpalastes Ukhaidir, eine bis dahin unbekannte riesige Anlage mit zahlreichen stuckverzierten Räumen aus der abbasidischen Zeit des späten 8. Jahrhunderts 11 Ebd., S. 112. 12 Gertrude Bell, The Desert and the Sown, London 1907. Deutsch: Am Ende des Lavastroms. Durch die Wüsten und Kulturstätten Syriens, Wien 1991. 13 William Ramsay/Gertrude Bell, The Thousand and One Churches, Sevenoaks 1909. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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n. Chr. Sie fertigte Skizzen und einen Plan an und fotografierte die verschiedenen Gebäudeteile, weil sie eine Erstpublikation erstellen wollte. Auf der Rückfahrt erfuhr sie jedoch zu ihrer großen Enttäuschung in Konstantinopel, dass kurz davor ein französischer Archäologe in der Gazette des Beaux Arts über Ukhaidir geschrieben hatte. Ihr Traum, auf wissenschaftlichem Gebiet und in dem imperialen Gerangel um Erstentdeckungen für England einen Triumph zu feiern, erfüllte sich somit nicht. Allerdings war sie die erste, die eine Bauaufnahme der Burg erstellt hatte. 1911 fuhr sie ein zweites Mal hin, um weitere Messungen vorzunehmen. In »Amurath to Amurath«, einem Reisebericht mit politischen Kommentaren zur Situation des Osmanischen Reiches und zahlreichen Beschreibungen von archäologischen Stätten, veröffentlichte sie eine umfangreiche Dokumentation von Ukhaidir.14 Die vollständigen wissenschaftlichen Ergebnisse folgten 1914 in einer Monografie mit zahlreichen Plänen und Foto grafien.15 Trotz des Konkurrenzkampfes, der zwischen den großen Nationen am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte, stand sie in engem Kontakt zu anderen Wissenschaftlern und Forschern, die im Nahen Osten tätig waren. Sie besuchte mehrmals den deutschen Bauforscher Robert Koldewey (1855−1925), den langjährigen Ausgräber von Babylon im Irak, dessen stratigrafische Ausgrabungsmethoden sie sehr bewunderte und mit dessen Architekten sie ihre Pläne von Ukhaidir diskutierte. Intensiven Kontakt unterhielt sie auch zu den deutschen Forschern Friedrich Sarre (1865−1945) und Ernst Herzfeld (1879–1948), die sich beide ebenfalls mit der islamischen Architektur – unter anderem mit Samarra – beschäftigten. 1908 lernte sie in der Royal Geographical Society in London Karten zu erstellen, Land zu vermessen und astronomische Beobachtungen zu machen. Ab diesem Zeitpunkt fertigte sie auf ihren Reisen Landkarten von bis dahin nicht kartografierten, unbekannten Gebieten an. Diese Karten wurden jedoch nicht nur von Forschungsreisenden verwendet, sondern auch vom Militär. Im Ersten Weltkrieg waren sie sowohl in politischen als auch militärischen Belangen von unschätzbarer Bedeutung. Die Karten und Notizbücher von Bell befinden sich heute in der Royal Geographical Society in London. Von dieser Institution erhielt sie 1914 die Goldmedaille und einen Theodoliten für ihre ungewöhnlichen Verdienste in der Erforschung unbekannter Gebiete im Nahen Osten und spe ziell für ihre Reise nach Hail.
Militär und Politik Von Dezember 1913 bis März 1914 unternahm sie ihre gefährlichste und politisch wichtigste Mission. Sie wollte die Führer der beiden großen Stämme Zen tralarabiens kennenlernen: Ibn Raschid vom Stamm der Schammar und Ibn 14 Gertrude Bell, Amurath to Amurath, London 1911. 15 Dies., Palace and Mosque at Ukhaidir, London 1914. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Die Orientforscherin Gertrude Bell (1868−1926)
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Saud vom Stamm Anaseh. Diese Expedition unternahm sie ohne Schutz der Engländer, die sie für zu gefährlich einstuften. In einer langen strapaziösen Reise von mehreren Wochen durch die Wüste Nedj in Saudi-Arabien erreichte sie Hail. Wir sind über diese Reise durch ihre Briefe, die sie wie immer nach Hause schrieb, informiert,16 aber auch durch ein Tagebuch, das sie für ihren Geliebten führte, den verheirateten Richard Doughty-Wylie, der 1915 in Gallipoli ums Leben kam.17 Bells Berichte über ihre Expedition geben einen hervorragenden Einblick in die Machtverhältnisse der arabischen Nomadenstämme, aber auch in das Verhältnis zwischen den Türken und Arabern. Sie war der Überzeugung, dass die Macht der Raschids zu Ende ging und dass die Zukunft bei Ibn Saud lag.18 Und mit dieser Einschätzung sollte sie Recht behalten, denn 1924 besiegte Ibn Saud die Haschemiten, die Scherifen in Mekka, und wurde Herrscher über das 1932 neu gegründete Saudi-Arabien. Auf Bitte des Kriegsministeriums verfasste Bell zu Beginn des Ersten Weltkrieges ein Memorandum über ihre Erfahrungen in Syrien, im Irak und Arabien.19 In dem Bericht, der ans Kriegsministerium in London ging, gab sie die dringende Empfehlung, eine arabische Revolte gegen die Türken zu orga nisieren. Trotz ihrer unschätzbaren Kenntnisse und Verbindungen im Orient konnte sie jedoch nicht vor Ort arbeiten, da eine Frau in den militärischen Strukturen nicht vorgesehen war. Erst nach einem Jahr Tätigkeit beim Roten Kreuz in Boulogne und London erhielt sie eine Stelle im militärischen Geheimdienst in Kairo. Es war der Archäologe David Hogarth, der Leiter der Nachrichtenstelle, der den Mut und die Weitsicht besaß, sie in seiner Abteilung aufzunehmen. Für ihn waren Bells hervorragende Kenntnisse über wenig erforschte Gebiete im Nahen Osten und über die zahlreichen Nomadenstämme unersetzlich. Ende 1915 wurde sie deshalb Stabsoffizier des militärischen Geheimdienstes im Arab Bureau in Kairo und somit der erste weibliche Offizier des britischen Geheimdienstes. Im Januar 1916 wechselte sie ins Direktorium des britischen Geheimdienstes in Basra, im Südirak. Anschließend war sie in diplomatischer Mission in Indien tätig, das damals zum Britischen Empire gehörte. Ihre Aufgabe war es, den englischen Vizekönig Hardinge (1858−1932) zu überzeugen, den Aufstand der Araber gegen die Türken zu finanzieren und mit Soldaten zu unterstützen. Hardinge beauftragte sie, als Verbindungsoffizier zwischen dem britischen Ge-
16 Briefe vom 19.12.1913 bis 22.3.1914 unter: http://www.gerty.ncl.ac.uk/letters.php, zuletzt eingesehen am 15.4.2013. 17 Newcastle University, Special Collections, Robinson Library, Gertrude Bell Archive, Diaries: Journey to Hail for D. W. November 1913−April 1914; Gertrude Bell, The Arabian Diaries 1913–1914, herausgegeben von Rosemary O’Brian, New York 2000. Auszüge in: Bell, Tochter Arabiens, S. 105−122. 18 Bell, Tochter Arabiens, S. 120−121. Gertrude Bell, A Journey in Northern Arabia, in: The Geographical Journal 44. 1914, S. 77. 19 David Hogarth, Gertrude Bell’s Journey to Hayil, in: The Geographical Journal 70. 1977, S. 1−17, hier S. 16. Wallach, Königin, S. 213−214. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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heimdienst in Kairo und Delhi zu agieren und die arabischen Aktivitäten zu beobachten. Im Bericht »The Arabs of Mesopotamia« lieferte sie 1917 den militärischen und politischen Behörden weitere ausführliche Informationen über die im Zweistromland ansässigen Stämme, ihre politischen Beziehungen und Rivalitäten untereinander sowie ihr Verhältnis zum türkischen Feind. Die politisch bedeutendste Stelle erhielt sie, als sie zum Oriental Secretary (Orientsekretärin) ernannt wurde, eine Schlüsselposition beim Geheimdienst. Zugleich wurde sie für ihre Verdienste im Oktober 1917 mit der hohen Ehre Commander of the British Empire ausgezeichnet. Nach der Einnahme von Bagdad durch die Engländer im März 1917 kam Bell in die Hauptstadt und half nach dem Waffenstillstand vom 31. Oktober 1918 bei der Gründung sowie beim Aufbau des jungen irakischen Staates. Auf der Konferenz von San Remo wurde am 25. April 1920 die Aufteilung der arabischen Länder beschlossen: Syrien und Libanon wurden unter französisches, Irak und Palästina unter britisches Völkerbundmandat gestellt. Am 23. August 1921 wurde Feisal, der dritte Sohn von Hussein ibn Ali, des Scherifen von Mekka aus der Dynastie der Haschemiten, zum König des Irak gekrönt. Bell kümmerte sich neben ihren politischen und administrativen Aufgaben intensiv um die Archäologie. 1922 wurde sie vom Kabinett auf Vorschlag von König Feisal zur ehrenamtlichen Antikendirektorin des Irak ernannt.20 Sie arbeitete ein neues Antikengesetz aus, das die Fundteilung vorsah: Die Hälfte der Funde sollte im Land bleiben, die andere Hälfte die Ausgräber bekommen, die sie in ihr Heimatland exportieren durften. Die qualitätsvollsten und wertvollsten Unikate blieben von der Fundteilung ausgeschlossen und somit im Irak. Mit dieser Regelung wollte Bell sichergehen, dass sich Ausländer fanden, die die Grabungen finanzierten und die Objekte auch wissenschaftlich bearbeiteten. Damit waren nicht alle irakischen Nationalisten einverstanden. Unter der Leitung des Wissenschaftsministers Abu al-Khadun Sati‘ al-Husar versuchten sie ein vollständiges Ausfuhrverbot antiker Objekte zu erreichen.21 Dies gelang ihnen nicht und 1922 begannen Wissenschaftler des British Museums und der University von Pennsylvania unter der Leitung von Leonard Woolley erste Ausgrabungen in Ur. Bells größter Wunsch, ein großes Archäologisches Museum zu errichten, ging im März 1926 in Erfüllung: Es freut Dich sicher zu hören, dass ich das Gebäude, das ich mir vor allen anderen für mein Museum wünschte, bekommen habe […]. Es wird ein richtiges Museum sein, ganz ähnlich wie das British Museum, nur ein bisschen kleiner.22
Sie widmete sich mit großem Engagement der Einrichtung dieses Museums, obwohl sie durch die jahrelange anstrengende Arbeit im Orient und durch körperliche und psychische Krankheiten geschwächt war. Im Juni 1926 konnte sie den 20 Brief vom 24. Oktober 1922 an ihren Vater: Letters of Bell, Bd. 2, S. 652−653. 21 John R. Gillis, Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1996, S.93. 22 Brief vom 3. März 1926 an ihre Mutter: Bell, Tochter Arabiens, S. 238. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Die Orientforscherin Gertrude Bell (1868−1926)
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Abb. 1: Das Stadttor von Hail, Saudi-Arabien. Foto: Gertrude Bell 1914.
ersten Saal im Beisein von König Feisal eröffnen. Es sollte ihre letzte größere öffentliche Aktion sein. Die Nationalisten waren mit der britischen Präsenz im Irak schon länger nicht mehr einverstanden und somit schwand auch Bells Einfluss. Erschöpft durch die körperlichen Anstrengungen und die mangelnde längerfristige berufliche Perspektive im Irak beging sie am 10. Juli 1926 mit einer Überdosis von Schlafmitteln Selbstmord. Wie sehr Bell im Nahen Osten geschätzt und beliebt war, zeigen nicht nur die eingangs erwähnten Nachrufe in den arabischen Zeitungen sondern auch eine Tafel mit ihrer Büste, die am Eingang des Museums stand: Gertrude Bell. Deren Andenken die Araber immer in Ehrfurcht und Liebe bewahren werden, schuf dieses Museum 1923 in ihrer Funktion als ›Ehrenamtliche Direktorin für Altertümer‹ des Iraks. Mit großer Kenntnis und Hingabe sammelte sie die kost barsten Gegenstände, und trotz der Hitze des Sommers arbeitete sie hier unermüdlich bis zu ihrem Tode am 12. Juli 1926. Als Dank für alles, was sie für dieses Land geleistet hat, haben König Feisal und die Regierung des Iraks angeordnet, dass der Hauptflügel ihren Namen trägt, und mit Erlaubnis des Königs und der Regierung haben ihre Freunde diese Gedenktafel an gebracht.23
Bells außergewöhnliche Biografie und ihre vielfältigen Aktivitäten erlauben es nicht, sie in einen engen Rahmen einzuordnen. Ihr Leben ist nicht nur für die 23 Wallach, Königin, S. 543. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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damalige Zeit einzigartig, sondern wäre es auch heute noch und dies nicht, weil sie eine Frau ist. Ihre Verdienste sind so vielfältig und ungewöhnlich, dass es kaum Parallelen zu ihren männlichen Zeitgenossen gibt. Sie reüssierte als Forscherin im Orient, als Wissenschaftlerin, Kartografin, im Militär und Geheimdienst, als Politikerin sowie als Fotografin und Schriftstellerin. Müsste man jedoch zwei ihrer herausragenden Eigenschaften erwähnen, dann sind es ihre Leidenschaft für die Archäologie und ihre Liebe zum Orient. Beide entwickelten sich im Laufe ihres Lebens zum zentralen Lebensinhalt, für den sie mit uneingeschränkter Hingabe bis zur Selbstaufgabe tätig war, der ihr aber auch einen Halt gab. Als Engländerin mit klaren nationalen Interessen, aber einer starken Empathie für die arabischen Länder, bemühte sie sich in den schwierigen politischen Zeiten nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches um einen Aufbau von Nationalstaaten im Nahen Osten unter Aufsicht europäischer Mächte. Die wissenschaftliche Arbeit in der Archäologie im Irak, die ihr besonders am Herzen lag, verdankt ihr sehr viel. Unter ihrer Leitung begannen die ersten internationalen Grabungen nach dem Ersten Weltkrieg, ein Antikengesetz wurde eingeführt und das erste nationale archäologische Museum eingerichtet, der Vorläufer des heutigen Irakmuseums in Bagdad. Ihr großes Interesse an wissenschaft lichen Themen antiker Kulturen, die von der Prähistorie bis in die islamische Zeit reichte, war ein Gewinn für die Archäologie, der bis heute andauert.
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Medien
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Empire, Medien und die Globalisierung von Wissen im 19. Jahrhundert Einführung
»Ein tiefer Drang, ein unaufhaltsames Streben nach Erkenntnis erfüllt des Menschen Brust.«1 Voller Pathos und ganz im Sinne des bürgerlichen Bildungsideals begründete der Geograf und Kartograf August Petermann (1822–1878) Mitte des 19. Jahrhunderts die Herausgabe einer neuen geografischen Zeitschrift. Die Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt, so der unscheinbare Name des Verlages, berichten seit ihrem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1855 über die bedeutenden imperialen Expeditionen des Jahrhunderts.2 Der jenseits der Zentren des internationalen Buchmarktes in der deutschen Provinz, in Sachsen-Gotha, gelegene Verlag Justus Perthes hatte sich bereits zu diesem Zeitpunkt zu einem angesehenen Verlagshaus entwickelt, das sich aufgrund der von Petermann initiierten Forschungsexpeditionen im 19. Jahrhundert alsbald zu einem bedeutenden Zentrum der Wissenschaft, vor allem der Geografie, entwickelte.3 Obgleich der Verlag sich zunächst vor allem auf die Genealogie der europäischen Adelshäuser konzentriert hatte, avancierte die Geographische Anstalt in Gotha innerhalb kürzester Zeit zu einem der bedeutenden ›global player‹ der Medienwelt im 19. Jahrhundert. Dieser kurze Einblick in die Geschichte eines Buchverlages, der vor mehr als hundert Jahren zu internationalem Renommee gelangt war und der heute einer breiteren Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist, wirft Fragen auf, die für eine Analyse der Bedeutung von Medien für die Verbreitung und Vermittlung von Wissen im langen 19. Jahrhundert, sowie ihre Wechselwirkung mit Prozessen der Globalisierung von Belang sind.4 Allein schon die unterschiedlichen Materialien (die ethnologischen Zeichnungen, die Tagebücher oder auch die Karten), 1 August Petermann, Vorwort, in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 1 (1). 1855, S. 1–2. 2 Der genaue Titel der Zeitschrift lautet Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie. Sie erschien bis 1937, seit 1925 unter dem veränderten Titel Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt. 3 Zur Verlagsgeschichte und zur Sammlung des Verlages in der Forschungsbibliothek Justus Perthes siehe auch: Petra Weigel, Die Sammlung Perthes Gotha. Forschungsbibliothek Gotha. Erfurt 2001 (= Patrimonia Bd. 254). 4 Christopher Bayly, The Birth of the Modern World, 1780–1914: Global Connections and Comparisons. Malden, MA 2004; dt: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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die von Petermann und seinen Kollegen zusammengestellt wurden, um ein möglichst ›authentisches‹ Abbild der Expeditionen, ihres Verlaufs samt ihren Hindernissen zu geben, zeigt, dass es sich bei dem Begriff ›Medium‹ selbst um einen Begriff handelt, der weiterer Erläuterung bedarf.5 Der Begriff Medien ist vergleichsweise neu und wird seit den 1980er Jahren – vor allem durch die sich zu diesem Zeitpunkt professionalisierende Kommunikationswissenschaft – verwendet.6 Im Folgenden wird der Begriff »Medium« als Bedeutungsträger verstanden, dessen Relevanz für die Generierung und Verbreitung von Wissen durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Darstellungsformen (wie beispielsweise in einer Ausstellung) zum Ausdruck kommt. Diese sprechen wie die literarischen Texte, Fotografien oder Gegenstände auf ›Reisen‹, die einen Weg von tausenden Kilometern vom Bismarck-Archipel und anderen europäischen Kolonien ins Berliner Museum zurück legten und über diesen Transport einen fundamentalen Bedeutungswandel erfuhren,7 mit dem Sehen, dem Hören und vielleicht auch dem Berühren unterschiedliche Sinne an.8 Ebenso setzen sie mit dem Lesen den Erwerb bestimmter Kompetenzen voraus, deren Definition kulturell variierte. In Anlehnung an die britische Forschung möchte ich hier argumentieren, dass die mediale Vermittlung von colonial knowledge im 19. Jahrhundert erstens eingebunden war in unterschiedliche Interaktionsformen des ›Cultural Encounter‹ und sie zweitens ein breites Spektrum unterschiedlicher Deutungsangebote bereithielt, die sich nicht auf die hegemoniale Repräsentation bestimmter Machtkonstellationen reduzieren lässt, wie sie noch von Edward Said in seinem »Orientalism« (1978) unterstellt wird.9 Doch zunächst sei die Frage gestellt: Wer konnte im 19. Jahrhundert überhaupt lesen?
1780–1914, Frankfurt 2006; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009². 5 Stefan Hoffmann, Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg 2002 (= [Archiv für Begriffsgeschichte/Sonderheft] Archiv für Begriffsgeschichte). 6 Im deutschen Magazin Der Spiegel wird der Begriff noch in den 1950er Jahren im Sinne spiritistischer Medien verwendet. Siehe hierzu u. a.: Frank Bösch,; Annette Vowinckel, Mediengeschichte. Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. Siehe Frank Bösch, Mediengeschichte: vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt u. a. 2011 (= Historische Einführungen); Peter, Burke, A social history of the media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2005². 7 Nicholas Thomas, Entangled objects: exchange, material culture, and colonialism in the Pacific, Cambridge, Mass. u.a.1991. 8 Robert Jütte, Geschichte der Sinne von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000. 9 Siehe hierzu bereits Christopher A. Bayly, Empire and Information. Intelligence, Gathering and Social Communication in India, 1780–1870, Cambridge 1996, S. 6–9. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Literacy und das 19. Jahrhundert – ein Zeitalter des Lesens? Dass der Erwerb von Lesekompetenzen der bloßen Aneignung medial kommunizierten Wissens vorausging, ist ein von der Mediengeschichte oftmals vernachlässigter Sachverhalt. Die Vorstellungen darüber, was unter literacy zu verstehen ist, variiert erheblich.10 In Anbetracht der widersprüchlichen Vorstellungen, was unter Lese- und Schreibkompetenzen überhaupt zu verstehen ist, ist deren Erforschung ein für Historiker und Historikerinnen komplexes Unternehmen.11 Denn der Begriff selbst ist kulturell codiert. Daher schlägt beispielsweise Jeffrey Brooks in seiner Studie »When Russia Learned to Read« (1988) vor, das zeitgenössische Verständnis von literacy als Grundlage heranzuziehen. Die russische Landbevölkerung des 19. Jahrhunderts, für deren Leseverhalten er sich interessiert, verstand unter literacy eine Form der höheren Bildung, aber gleichzeitig war sie auch eine Kompetenz, die von den Kindern innerhalb weniger Winter zu erlernen war.12 Nicht zuletzt aufgrund dieser Vielfalt von Deutungsangeboten ist die folgende statistische Annäherung an das Phänomen der literacy unter Vorbehalt zu betrachten. Welche Entwicklungen lassen sich für das lange 19. Jahrhundert beobachten? Für diesen Zeitraum sind frappierende Unterschiede im Lese- und Schreibverhalten in den Vereinigten Staaten, in Europa und in einigen Regionen Afrikas zu verzeichnen. In den USA, hierauf hat Jürgen Osterhammel hingewiesen, verbreitete sich bereits seit den 1840er Jahren das Gefühl, ein age of reading sei angebrochen.13 In den Neuenglandstaaten beispielsweise lag die Alphabetisierungsrate unter – weißen – Männern im Jahr 1860 bereits bei 95 Prozent, bei Frauen hatte sie sich vergleichbar entwickelt.14 In Westeuropa stieg die Alphabetisierungsquote im Laufe des 19. Jahrhunderts so eklatant, dass für diese Entwicklung auch das Schlagwort von der »Lese revolution« gefunden wurde.15 Dieser Prozess verlief in Europa heterogen, und 10 Hinweise zur Problematik von »literacy« sowie aktuelle Statistiken finden sich auf folgender Website der Unesco: http://www.unesco.org/new/en/education/themes/educationbuilding-blocks/literacy/. 11 Auf die irreführende Annahme, dass Alphabetisierung notwendigerweise die Inklusion in bzw. Exklusion aus Bildung bedeute, verweist bereits Engelsing; siehe Rolf Engelsing, Analphabetentum und Lektüre, Stuttgart 1973, X. Grundlegend sind die Studien von Robert Darnton und Roger Chartier: Robert Darnton u. Daniel Roche, Revolution in print. The press in France, 1775–1800, Berkeley 1989. Siehe auch Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1117–1132. 12 Jeffrey Brooks, When Russia learned to read: literacy and popular literature; 1861–1917, Princeton, NJ 1988, S. XIV. 13 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1122. 14 Ebd., S. 1123. 15 Es wird zwischen der ersten und der zweiten Leserevolution um 1800 bzw. um 1900 unterschieden. Schätzungen zufolge entwickelte sich die Lesekompetenz wie folgt: Im Jahr 1770 konnten 15 Prozent der Bevölkerung lesen, um 1800 waren es bereits 25 Prozent, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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es lässt sich ein deutliches Nord-Süd-Gefälle beobachten. Hatte die Alphabetisierung in Großbritannien, in den Niederlanden und in Deutschland im Jahr 1910 gar 100 Prozent erreicht, so lag sie in Frankreich bei 87 Prozent, in Italien und Spanien bei 62 bzw. 50 Prozent.16 Außerdem stellte die Anschaffung von Büchern noch Ende des 19. Jahrhunderts für den größten Teil der deutschen Bevölkerung aufgrund begrenzter finanzieller Mittel einen Luxus dar.17 Noch komplizierter als in Europa oder den Vereinigten Staaten ist die Rekonstruktion der heterogenen Verlaufsgeschichte des Erwerbs von Lesekompetenzen in jenen Gebieten, die zum Objekt europäischer Expansion wurden. Im Jahr 1899 gab es im Sudan – zu dieser Zeit unter britisch-ägyptischer Herrschaft – 1.500 khalwas (Koranschulen), in denen etwa 60.000 Kinder unterrichtet wurden.18 Die Intensität der erworbenen Lesekompetenz als auch die Breitenwirkung dieser Maßnahmen lässt sich schlecht einschätzen, da sechzig Jahre später – zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1956 – die Alphabetisierungsrate durchschnittlich auf 13,5 Prozent gestiegen war, wobei die überwiegende Mehrheit der Lesekundigen Männer waren.19 Auch variierte der Erfolg ihrer Bemühungen regional erheblich.20 Vor allem die protestantischen Missionsgesellschaften, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das Christentum in globaler Dimension verbreiteten, bemühten sich um die Vermittlung des Lesens und Schreibens sowie um die Verschriftlichung von Sprachen. In diesem Fall war sie, wie beispielsweise der Blick nach Tahiti zeigt, unmittelbar mit der Missionsarbeit verknüpft. So übersetzte beispielsweise die London Missionary Society – eine der bedeutenden britischen protestantischen Missionsgesellschaften – im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Bibel ins Tahitische und ließ sie drucken. Sie hatte zu diesem Zweck mit Hilfe von Schiffen der Gesellschaft eigens Druckmaschinen in die Südsee geschafft.21 Der Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz war mitbestimmt durch das Geschlecht, die Klasse, der man angehörte, und auch durch race. In einem Artikel über die Anstrengungen, die Schweizer Missionare im südlichen Afrika unternahmen, um ihre Gemeinden im Lesen und Schreiben zu unterrichten, macht der Afrika-Historiker Patrick Harries darauf aufmerksam, dass die Vermitt-
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1840 40 Prozent und 1870 waren es bereits 75 Prozent. Um 1900 seien bereits 90 Prozent der über sechs Jahre alten Bevölkerung Mitteleuropas als potentielles Lesepublikum in Frage gekommen (vgl. Wittmann, Reinhard, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 174; Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozial geschichte der populären Lesestoffe, 1770–1910, München 1977). Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1118. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 233. Iris Seri-Hersch, Towards Social Progress and Post-Imperial Modernity? Colonial Politics of Literacy in the Anglo-Egyptian Sudan, 1946–1956, in: History of Education 40. 2011, S. 333–356. Den Schätzungen von Iris Seri-Hersch zufolge hatten 23 Prozent der Männer und 4 Prozent der Frauen Lesekompetenzen erworben. Siehe: Ebd. S. 339 und 356. Ebd., S. 356. Richard Lovett, The history of the London Missionary Society 1795–1895. London 1899. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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lung von literacy eine Herrschaftstechnik des social engineering war. Denn die Schweizer Missionare wie Henri-Alexandre Junod, die im ausgehenden 19. Jahrhundert Missionsstationen im südlichen Afrika errichteten, hätten die Bedeutung von literacy als einem »revolutionary tool for the transformation of society« erkannt.22 Das »Alphabet«, so schreibt Junod in einem seiner Aufsätze, wird Dingen insgesamt eine frische Note geben. Diese zwanzig bis dreißig Buchstaben, von denen die Schwarzen nicht die leiseste Ahnung hatten, diese Zeichen, denen zu Dank Holz und Papier zum Sprechen gebracht wurden, wird zukünftig erlauben, dass große Geister ihre Gedanken an ihre Mitmenschen weiterreichen können. Das Wissen einer Epoche wird dann unversehrt an die folgenden Generationen weitergeleitet […] Das Buch wird der Akkumulator sein, in dem die intellektuelle Größe einer Rasse für zukünftige Übertragung gespeichert wird.23
Gerade das Buch – und die Fähigkeit, es zu beherrschen – werden hier zu einer Metapher für die Kompetenz, das Wissen über die eigene Geschichte zu ordnen und zu verwalten: Das Lesen und Schreiben ist somit eine Voraussetzung für die Geschichtsfähigkeit einer Gesellschaft – eine Fähigkeit, die Afrikanern zu diesem Zeitpunkt abgesprochen wurde.24 Die Grenzen zwischen europäischen Praktiken der Schriftlichkeit und afrikanischen Praktiken von Mündlichkeit waren allerdings fließender, als es sich die protestantischen Missionare eingestanden. Denn die religiöse Praxis der Missionare beinhaltete eine mitunter exaltierte mündliche Kultur – so waren die Sonntagsgebete beispielsweise immer auch von Musik begleitet.25 Abgesehen von der Tatsache, dass die Kenntnis der Schrift oftmals in die lokalen Glaubensvorstellungen integriert wurde und nicht den von den Missionaren erhofften Erfolg einer bereitwilligen Hinwendung zum christlichen Glauben erzielte, bemühten sich die Missionare etwa mit der Herausgabe von Gesangsbüchern um eine Integration oraler Traditionen bei der Vermittlung des Lesens.26 Wie gegensätzlich die Definition dessen war, was unter Lesen verstanden wurde, wird auch an folgendem Bericht deutlich, der von einer Missionarsfrau über die Fertigkeit des Lesens in ihrer Gemeinde erstellt wurde. Die Mitglieder ihrer Gemeinde »lasen Seite für Seite, vielleicht zwanzig, auf der 21. Seite hielten sie inne
22 Patrick Harries, Missionaries, Marxists and Magic: Power and the Politics of Literacy in South-East Africa, in: Journal of Southern African Studies 27 (3). 2001, S. 405–427. 23 H. A. Junod, Les Ba-Ronga: Etude ethnographique sur les indigenes de la baie de Delagoa, in: Bulletin de la societé neuchâteloise de géographie, 10.1898, S. 228, zit. nach Harries, Missionaries, S. 410. Übersetzung A. P. 24 Johannes Fabian, Time and the other: how anthropology makes its object, New York u. a. 2002. 25 Harries, Missionaries, S. 406; siehe auch ders., Butterflies & barbarians. Swiss mis sionaries & systems of knowledge in South-East Africa, Oxford 2007; Gesine Krüger, Schrift – Macht – Alltag. Lesen und Schreiben im kolonialen Südafrika, Köln 2009. 26 Harries, Missionaries. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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und sagten: ›Von hier weiß ich nicht weiter‹. Sie hatten alles einfach auswendig gelernt«.27 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass literacy auf einem komplizierten Aneignungsprozess beruhte, der nicht nur auf unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen über die Bedeutungen der zu lesenden Literatur (wie eben der Bibel) beruhte, sondern ebenso mit unterschiedlichen Praktiken des Lesens einhergeht.28 Nicht zuletzt sollte in Anschluss an die Ausführungen von Patrick Harries darauf hingewiesen werden, dass die Vermittlung des Lesens keineswegs ›neutrales Terrain‹ war. Sie kann mit Herrschaftstechniken des social engineering einhergehen, und sie spiegelt oftmals ebenso gesellschaftliche Asymmetrien. Zeitgleich zur zögerlichen Verbreitung der Lesekompetenz im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand ein globalisiertes Kommunikationsnetzwerk, zu dem zumindest einige gesellschaftliche Gruppen Zugang hatten.
Beschleunigung und Homogenisierung: Medien und die Erfindung neuer Technologien Die Historizität der Erfahrung von Zeit und Raum um 1800 und um 1900 sei mit Hilfe von zwei Fallbeispielen illustriert. Die Briefe, die von dem Missionar David Darling verfasst wurden – er befand sich für die protestantische London Mis sionary Society auf einer der Marquesas-Inseln im Südpazifik – erreichten erst Monate später London.29 Die Antwort der Missionsgesellschaft – sie bemühte sich um eine Steuerung der Missionsarbeit und gab die Berichte in ihren Zeitschriften heraus – brauchte wiederum Wochen, bis sie bei Darling ankam. Das Tagebuch, in dem Darling in den 1830er Jahren auch ethnologische Beobachtungen festhielt, hatte also erst einmal einen langen Seeweg zurückzulegen, bis es potentielle Leser und Leserinnen erreichte. Jahrzehnte später und tausende von Kilometern entfernt, warb der Schausteller und Kinematograf Oskar Messter in Berlin, das mittlerweile zu einer Metropole herangewachsen war, für seine kinematografischen Darbietungen. Stellten seine Vorstellungen der Luftfahrten des Grafen Zeppelin – »Wir haben die umfassenden Vorbereitungen getroffen, gelegentlich der Besuche des Grafen mit seinem Luftschiff in Berlin ein möglichst
27 H. A. Junod, Ernest Creux et Paul Berthaud: Les Fondateurs de la mission Suisse en Afrique au Sud, Lausanne 1933, S. 143, hier S. 415. 28 Dies ist ein in der europäischen Literatur breit erforschtes Forschungsfeld. (Vgl. Roger Chartier/Guglielmo Cavallo, Einleitung, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt 1999, S. 9–59, hier S. 12; Martyn Lyons, Reading culture and writing practices in nineteenth-century France, Toronto u. a. 2008.) 29 Zu den Briefen, ihrer Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie siehe auch Alexandra Przyrembel, Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, Frankfurt 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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interessantes Bild herzustellen«30 – zeitgenössische Raumvorstellungen vollkommen auf den Kopf, experimentierten auch Missionsgesellschaften frühzeitig mit Diashows und der Kinematografie. Kinematografische Vorführungen in den mobilen Jahrmarktsbuden oder in Varietévorstellungen waren zu diesem Zeitpunkt alles andere als ausgereift. So experimentierte der Berliner Schausteller Messter beispielsweise mit der synchronen Wiedergabe von Bild und Ton, indem er in seinem Kinosaal eigens mehrere Grammophone aufstellte.31 Mit ihren »Lantern Lectures on the Congo Atrocities«, die sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen britischen Städten abhielten, machte das Missionarsehepaar John und Alice Harris nicht nur auf die Verbrechen im Kongo aufmerksam, es vermittelte hier auch ganz allgemein Wissen über die Region (»Village scene and chief’s compound«). Indem John und Alice Harris »60 excellent Photographic Lantern Slides from Photographs« in ihren Vorträgen zeigten und sogar Abzüge zum Verkauf anboten, stellten sie über das Medium der Fotografie eine räumliche Nähe zwischen ihrem europäischen Publikum und dem verbrecherischen Geschehen in Afrika her.32 Gerade das Überwinden großer Distanzen durch Dampfschiffe, die Erfindung der Eisenbahn – 1830 wurde die erste Strecke zwischen Liverpool und Manchester freigegeben – sowie der Telegrafie, die ein weltweit umspannendes Netz von Nachrichten-Agenturen von Bombay (1870) über Hong Kong (1872) bis nach Buenos Aires (1874) ermöglichte, werden als Indikatoren von Globalisierungsprozessen gedeutet.33 Roland Wenzlhuemer hat jüngst in seiner Studie »Connecting the World« (2013) beeindruckende Zahlen über die immer schneller werdende Überwindung räumlicher Distanzen vorgelegt. Der eigentliche Sprung – ein ›wiring of the world‹ – sei vor allem in den achtziger Jahren des esümee 19. Jahrhunderts abgeschlossen worden.34 Um 1900 habe sich, so das R Wenzlhuemers, der Raum globaler Kommunikation weitgehend von seiner geografischen Dimension gelöst.35 Allerdings dürfte dieser Prozess sehr zeit verzögert bei breiteren Bevölkerungsgruppen angekommen sein, unabhängig 30 Messters Projektion, Zeppelin in Berlin! In: Der Kinematograph, 1909. 31 Gelia Eisert (Hg.), Lebende Bilder: eine Technikgeschichte des Films. Berlin 2000 (= Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur). 32 T. Jack Thompson, Light on darkness?: missionary photography of Africa in the nineteenth and early twentieth centuries, Grand Rapids, Mich. u. a. 2012, S. 232. Hier findet sich ein Abdruck sowie eine Einordnung der »Lantern Lectures«, die vier Teile hatten (»Philanthropy in the Making«, »Philanthropy in Operation«, »Philanthropy Exposed« und »Philanthropy that my be«). 33 Dwayne Roy Winseck,; Robert M. Pike, Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860–1930. Durham 2007. 34 Die Übermittlung von Nachrichten sank auf einen Zeitraum von drei bis fünf Tagen – ja, von manchen Regionen dieser Welt, vom östlichen Südasien oder sogar aus Neuseeland benötigte der Bericht eines Ereignisses nicht einmal zwei Tage, bis er in der Londoner Zeitung The Times veröffentlicht wurde. Roland Wenzlhuemer, Connecting the nineteenthcentury world: the telegraph and globalization, Cambridge u. a. 2013, S. 126–128. 35 Ebd., S. 128. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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davon, ob sie in den europäischen Metropolen oder auf einer der afrikanischen Stationen des Schweizer Missionars Junod lebten. Die Erfahrung einer Überwindung von Zeit und Raum blieb letztlich auf gesellschaftliche Eliten beschränkt. Ein anderes Phänomen, das wiederum mit technischem Fortschritt einherging, ist für die hier zu diskutierende Fragestellung nach den veränderten Distributionsprozessen medialen Wissens von noch entscheidenderer Bedeutung: Mit Entwicklungen im Bereich der Buchproduktion, vor allem aber durch die Entwicklung der Fotografie, der Kinematografie und des Kinos, wie die Experimente des Berliner Schaustellers Messter oder auch die Humanitätskampagnen des britischen Missionarsehepaars Harris gezeigt haben, war es möglich geworden, größere Gruppen und im Fall des revolutionierten Zeitungswesens gar ein Massenpublikum zu erreichen.36 Wie sehr sich gerade die Fotografie zu einem Alltagsmedium entwickelt hat, zeigt die Empfehlung eines Bandes aus Süsserotts Kolonialbibliothek, wonach ein Fotoapparat zur zweckmäßigen Ausstattung eines jeden Kolonialreisenden gehöre. Dieser gestatte in besonderer Weise die »interessantesten Begebenheiten seiner Kolonialjahre, die Eigenheiten des Landes und seiner Bewohner« dauerhaft zu fixieren.37 Technische Innovationen veränderten die Möglichkeiten der Distribution eines Mediums im Laufe des 19. Jahrhunderts. Dies soll abschließend noch einmal am Beispiel der Buchproduktion gezeigt werden. Schließlich gehörte die eingangs erwähnte Gothaer Geographische Anstalt, der Perthes Verlag, diesem Industriezweig an.38 Sie war als ein internationales Unternehmen auf schnelle Distributionswege sowie auf ständige Verbesserungen in der Produktion von Karten und Büchern, somit also auf technische Innovationen angewiesen, um der ökonomischen Konkurrenz standzuhalten.39 Die Entstehung eines Massenmarktes hatte verschiedene Gründe, wobei die Industrialisierung der Buchproduktion ein entscheidender Faktor war.40 Stellvertretend für andere Innova tionen in der Buchproduktion sei hier die Erfindung der Schnellpresse im ersten 36 Für die Bedeutung eines veränderten Nachrichtenwesens und die Bedeutung der Stadt siehe Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900. Cambridge u. a. 1996. 37 Julius Johannsen, Die Photographie in den Tropen; Praktische Winke zur Wahl einer geeigneten photographischen Ausrüstung und zur erfolgreichen Ausübung der Photographie in tropischen Ländern (= Süsserotts Kolonialbibliothek), Berlin 1913, S. V. 38 Zu den Spezifika des geografischen Verlages siehe auch: Georg Jäger, Kartographischer Verlag, in: Georg Jäger (Hg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1870–1918, Teil I, Frankfurt 2001, S. 575–601. 39 Einen Überblick über die Entwicklung des europäischen Buchmarktes im 19. Jahrhunderts geben u. a. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, hier S. 238; John Barnes u. a., A place in the world, in: David McKitterick (Hg.), The Cambridge history of the book in Britain. Band 6, 1830–1914, Cambridge 2009, S. 595–634; Martyn Lyons, Reading culture and writing practices in nineteenth-century France, Toronto u. a. 2008. 40 Zur Differenzierung der Zeitabläufe siehe auch den Klassiker von Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, Cambridge 1979. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Deutschland bereits über 95 Prozent des Papiers mit Hilfe von Maschinen und somit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Drittel des 19. Jahrhunderts erwähnt. Zeitgleich zu der sich industrialisierenden Buchherstellung veränderte sich ebenso das Zusammenspiel von Konsum, Produktion und Distribution im Laufe des 19. Jahrhunderts. Mehr Buchhandlungen richteten sich zunehmend auf die Interessen eines Massenmarktes ein.41 Neue Produktionsverfahren hatten die kostengünstige Verbreitung von kleineren Formaten möglich gemacht, was von Buchverlagen, religiösen Institu tionen – wie den Missionsgesellschaften – und zunehmend auch von Unternehmern genutzt wurden. Der Schokoladenproduzent Stollwerck, ein technisch aufgeschlossener Fabrikant, nutzte früh verschiedene mediale Formate als Werbestrategien.42 Zu seinen Vermarktungsstrategien gehörte sowohl die Kinematografie als auch die Herausgabe von Sammelbildern. Diese griffen koloniale Themen – wie das Bild »Die Eingeborenen aus unseren Kolonien. Togo, Häuptling von Atakpame« zeigt – auf. Vor allem bei Kindern hatten diese Bildchen um 1900 eine wahre Sammelleidenschaft ausgelöst. Stollwerck alleine brachte zu dieser Zeit jährlich über 50 Millionen dieser Bilder auf den Markt und verkaufte 100.000 Sammelalben.43 Möglicherweise setzte spätestens mit dieser ökonomischen Nutzung massenwirksamer Publikationsformate eine neue ›Kultur der Aufmerksamkeit‹ ein, die zu diesem Zeitpunkt an das Empire gebunden war.44 Die Möglichkeiten, eine stereotype koloniale Bildsprache für ein Massenpublikum aufzubereiten, waren mit den technischen Transformationen des 19. Jahrhunderts gesteigert worden. Die Popularisierung kolonialen Wissens, wie sie sich in diesen Bildern für Kinder zeigt, war eine der medialen Begegnungsformen, die das Empire für seine Kolonien bereithielt.45 Schreiben für das Empire
Seit einigen Jahren wird in den Geschichts- und Kulturwissenschaften die Frage erörtert, inwieweit Begegnungen mit anderen Kulturen – im Englischen ist der Begriff des cultural encounter einschlägig – zu verflochtenen Herrschaftsfor-
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nicht einmal fünf Prozent in Handpressen gedruckt, siehe unter anderem Reinald Schröder, Die Industrialisierung des Buchdruckgewerbes in Deutschland vor 1914, in: Technikgeschichte 57. 1990, S. 91–110, hier S. 95. Eine Zusammenfassung des Prozesses findet sich bei Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 201–235. Martin Loiperdinger, Film und Schokolade – Stollwercks Geschäfte mit lebenden Bildern, Frankfurt 1999. Angelika Epple, Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt u. a. 2010. Joachim Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen: Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008, S. 11. Zur Bedeutung des Begriffes für die jüngere Zeitgeschichte siehe Axel Schildt, Die »Ökonomie der Aufmerksamkeit« als heuristische Kategorie einer kulturhistorisch orientierten Mediengeschichte, in: Comparativ 21. 2011, S. 81–92. John M. MacKenzie, Imperialism and popular culture, Manchester 1986. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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men, ökonomischen Transferbeziehungen und ebenso auch zu Austauschbeziehungen in der Produktion und Distribution von Wissen geführt haben.46 Im Folgenden geht es darum, die soziale Praxis des ›Cultural Encounter‹ vorzustellen, wie sie in den imperialen ›Entdeckungsgeschichten‹ des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Die civilizing mission, also die Inszenierung der Überlegenheit und Dominanz der westlichen Zivilisation47, prägt in entscheidender Weise ebenso die mediale Darstellung von Wissen. Für Reiseberichte, wie etwa der Bericht eines Theodor von Heuglin (1824–1876), hat die Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt in ihrer Studie Imperial Eyes herausgearbeitet, dass diese einen ›imperialen Expansionismus‹ reproduzieren.48 Gleichzeitig erzeugt die mediale Repräsentation von Wissen eine »Irritation festgefügter Wissensordnungen«, die eindeutige Zuschreibungen wie etwa die zwischen Zentrum und Peripherie, also zwischen Empire und europäischen Kolonien, in Zweifel ziehen, vielleicht sogar als Imaginationen auflösen.49 Diese beiden Pole – die Fortschreibung imperialer Herrschaftspraktiken und Axiome durch mediale Inszenierungsformen des Wissens einerseits, die Fragilität und Vielschichtigkeit solcher Konstruktionen und Vorstellungen andererseits – sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Das lange 19. Jahrhundert ist in politischer Hinsicht zentral vom Übergang informeller kolonialer Herrschaft (Informal Empire) zur konkreten Herrschaftsausübung geprägt, deren Höhepunkt im Scramble for Africa – der Aufteilung Afrikas durch die europäischen Kolonialstaaten – in den 1880er Jahren war. In diesen Zeitraum (genauer in das Jahr 1884) fällt auch der Beginn der ersten deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika.50 Diese politischen Rahmenbedingungen strukturieren das Wissen über fremde und vertraute Welten, wie sie in den Medien der Zeit – in den Reiseberichten, den Ausstellungen oder auch den Fotografien – kommuniziert werden. Arbeitsberichte von Missionaren, Reiseliteratur oder auch fiktionale Texte über koloniale Abenteuer waren dankbare Sujets für den sich professionalisierenden Buchmarkt.
46 Grundlegend: Frederick Cooper/Ann Stoler, Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda, in: Dies. (Hg.), Tensions of empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley u. a. 1997, S. 1–58. 47 Michael Mann, »Torchbearers Upon the Path of Progress«: Britain’s Ideology of a ›Moral and Material Progress‹ in India. An Introductory Essay, in: Harald Fischer-Tiné/Michael Mann (Hg.), Colonialism as civilizing mission: cultural ideology in British India. London 2004, S. 1–26. 48 Mary Louise Pratt, Imperial eyes: travel writing and transculturation, London u. a. 1992, S. 6. Die Literatur zu den Reise- und Entdeckungsberichten des 18. und 19. Jahrhunderts ist unübersichtlich; siehe unter anderem: Urs Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Be gegnung, München 1976; Felix Driver, Geography militant: cultures of exploration and empire, Oxford u. a. 2001. 49 Siehe hierzu den Text von Barbara Buchenau in diesem Band. 50 Siehe die Einführungen: Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008; Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Das wachsende koloniale Interesse fand seinen Niederschlag nicht nur in den Beststellern eines David Livingstone, sondern ebenso in Buchreihen. Der Ber liner Verlag Wilhelm Süsserott beispielsweise gab eine Kolonialbibliothek heraus, in der vom Kochbuch über den Erfahrungsbericht bis hin zur Anleitung bei der Herstellung von Fotografien in den Kolonien ein wahres Sammelsurium veröffentlicht wurde. Eine der erfolgreichsten Reihen jedoch war Macmillan’s Colonial Library, in der in den Jahren ihres Erscheinens – von 1886 bis 1960 – mehr als 1.700 Buchtitel erschienen sind.51 Bevor allerdings Buchverlage die Kolonien für sich entdeckt hatten, verbreiteten protestantische Missionsgesellschaften sowie katholische Missionsorden in ihren zahlreichen Zeitschriften, die sie unter anderem auch für Kinder herausgaben, ethnologisches Wissen, das sie immer auch entlang einer für sie charakteristischen, vom christlichen Glauben dominierten Zivilisierungsmission ordneten.52 Zwei Klassiker und das Empire
Zwei Reiseberichte erfreuten sich im langen 19. Jahrhundert einer ausgesprochenen Popularität: Die Tagebücher James Cooks, die Ende des 18. Jahrhunderts einen Südsee-Boom ausgelöst hatten, und die Reiseberichte David Livingstones.53 Da an beiden Texten der Wandel, den das Genre des Reiseberichts und seine spezifische Bedeutung im Kontext der Wissensproduktion erfuhr, in besonderer Weise deutlich wird, sollen sie im Folgenden vorgestellt werden. In zahlreiche Sprachen übersetzt, kursierten unmittelbar nach der ersten Veröffentlichung der Cook-Tagebücher viele Ausgaben.54 Auf seinen drei Reisen verfolgte James Cook unterschiedliche wissenschaftliche Zwecke. Im Zentrum von Cooks Ex peditionen standen die Forschungsaufträge der Royal Society sowie die Interessen der Royal Navy.55 Beide Institutionen finanzierten seine Reisen in den Südpazifik bzw. statteten Cook mit Schiffen aus. In den geheimen Anweisungen für seine dritte Forschungsexpedition wurde er aufgefordert, Häfen, Küsten und Landstriche zu erkunden, wenn diese nützlich »either to navigation or commerce« seien. 51 John Barnes u. a., A place in the world, hier S. 601. 52 Siehe auch Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen: transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012; siehe auch den Beitrag von Rebekka Habermas in diesem Band. 53 Vgl. John Beaglehole (Hg.), The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery, 4 Bde., Cambridge 1967 ff. 54 Bernard Smith, Imagining the Pacific. In the wake of the Cook voyages, New Haven 1992; siehe auch Harry Liebersohn, The travelers’ world. Europe to the Pacific, Cambridge, MA 2006. Exemplarisch für die umfangreiche Forschung zu Cook siehe Nicholas Thomas, Discoveries. The voyages of Captain Cook, London, New York 2003. 55 Julia Angster, Erdbeeren und Piraten. Die Royal Navy und die Ordnung der Welt 1770– 1880, Göttingen 2012; vgl. Paolo Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Außerdem sollte er die Flora und Fauna – »the animals, fowls, and fish found on new coasts« – so minutiös und akkurat wie möglich beschreiben und zeichnen (lassen).56 Die Beobachtungen sollten in einem Tagebuch genau protokolliert und unter anderen dem Lord High Admiral of England vorgelegt werden.57 Cooks Forschungsreisen und ihre Dokumentation in Form des Reiseberichts waren ebenso maßgeblich von naturgeschichtlichen Verfahren geprägt. Der Soziologie Wolf Lepenies beobachtete drei Faktoren, die hier maßgeblich waren: die »Verzeitlichung« von Deutungszusammenhängen, der »Erfahrungsdruck« und der »Empirisierungszwang« des Forschenden.58 Die Tagebücher Cooks folgen einer klassischen Erzählung, sie berichten über die von ihm ›neu‹ entdeckten Orte: Über das Ankommen, die Begegnungen und den Aufbruch. Diese Anlage der Journale spiegelt sich insbesondere in den Landkarten und Zeichnungen wider, die den Abschnitten über die verschiedenen »Neu«-Entdeckungen beigefügt sind.59 In diesem Sinne ähneln die Reisejournale Cooks jenem Typus von Reisebericht, den Pratt als »circumnavigation« bezeichnet, also jenem Schreibstil, der die (europäische) Produktion von Wissen für mehr als drei Jahrhunderte prägte: Die Weltumsegelung, die in einem Reisebericht dokumentiert wird.60 In der Anlage der Tagebücher finden sich eine Übersicht unbekannter Begriffe der Südsee-Sprachen sowie mögliche Übersetzungen.61 Auch dies ist ein Beleg für die Beobachtung Michel Foucaults, wonach die Naturgeschichte »ein ganzes Gebiet der Empirizität gleichzeitig als beschreibbar und als in Ordnung versetzbar« konstituiere.62 Wenn die Tagebücher James Cooks Wissen im Sinne der Naturgeschichte vermittelten, so verfolgte der Reisebericht – unter dem schlichten Titel »Mis sionary Travels in Africa« erschienen – von David Livingstone (1813–1873) nicht expressis verbis wissenschaftliche Ziele.63 Obschon sich Livingstone später von 56 Bernard Smith, European vision and the South Pacific 1768–1850: a study in the history of art and ideas, Oxford 1960, S. 76. 57 Zur genauen wissenschaftlichen Praxis sowie den einschlägigen Autoren siehe Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier: die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien u. a. 2002; zum Genre des Reiseberichts auch einschlägig: Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2013². 58 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 17 u. 20. 59 Insbesondere dokumentiert in Bd. 1 von Cook, Voyages. 60 Pratt, Imperial Eyes, S. 29. Pratt unterscheidet einen zweiten Typus der »erdumspannenden« Globalerzählungen, der auch von Tinte und Papier abhängig war: nämlich die Kartierung (»mapping«). Weltumsegeln (»circumnavigation«) und Kartierungen hätten zur Herausbildung eines europäischen globalen Subjekts geführt (ebd., S. 30). 61 James Cook, Voyages to the Pacific Ocean Undertaken by the Command of his Majesty for Making Discoveries in the Northern Hemisphere, 3 Bde., dritter Band fortgeführt von James King, London 1784., S. 553. 62 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt 1974, S. 204. 63 David Livingstone, Missionary travels and researches in South Africa. Including a sketch of sixteen years’ residence in the interior of Africa, and a journey from the Cape of Good © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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der bedeutenden London Missionary Society trennen sollte, verortet er in dem Vorwort der Missionary Travels seine eigene Biografie und somit auch seine Afrika-Expeditionen in den Zusammenhang seiner persönlichen religiösen Erweckung.64 Sein Bericht deckte ein breites Spektrum von Themen ab – wie die Jagd auf Elefanten, die Beschreibung der Bevölkerung (siehe das Unterkapitel zum Thema »Superstitious Reverence for the Lion«) und schließlich seine Kritik an der Haltung von Sklaven.65 Die »Missionary Travels« holten Afrika insofern näher an Europa heran als sie exotische Konfrontationen mit der Natur mit vertrauten Naturerfahrungen (wie der Themse) verknüpften. Vor allem aber zeichnete sich die Buchausgabe durch zahlreiche Bildtafeln aus, die dramatische Szenen (wie die Begegnungen mit Löwen) in Szene setzten.66 In mehrere Sprachen übersetzt, waren alsbald zahlreiche Fassungen dieses Textes in Umlauf – bei einigen von ihnen handelte es sich sogar um Fälschungen, wie die Londoner Times und andere Magazine herausfanden.67 Von all seinen Erkundungen hatte er regelmäßig dem Vorsitzenden der britischen Royal Geographical Society berichtet. Diese Briefe waren bereits in der Zeitschrift der Organisation er schienen.68 Zahlreiche Ehrungen zeigen, dass Livingstone zu einem bedeutenden Repräsentanten des britischen Empire geworden war.69 Aufgrund der erfolgreichen Strategien des Verlegers John Murray – neben dem Verlagshaus Baedeker, dem wichtigsten deutschen Verleger von Reiseführern – wurde das Buch zu einem Beststeller.70 Gekürzte Ausgaben (wie die amerikanische Edition des Verlagshauses J. W. Bradley aus Philadelphia) ermöglichten eine kostengünstigere Verbreitung der Reiseberichte, die von der Presse sehr freundlich aufgenommen wurde.71 Das Buch erlangte Kultstatus und vor allem Rezipienten aus dem missionarischen Umfeld, zu dem Livingstone eine Zeitlang gehörte, trugen maßgeblich zu dessen Heldenverehrung bei.72 Von einer seiner späteren Reisen – er hatte sich zum Ziel gesetzt, die Nilquellen zu finden – war Livingstone zunächst nicht zurückgekehrt: Erst der amerikanische Journa-
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Hope to Loanda on the West Coast; thence across the continent, down the river Zambesi, to the Eastern Ocean, London 1857. Zu Livingstone siehe das Kapitel Afrika als Bühne europäischer Helden, in: Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2012, S. 181–190, hier S. 186. Siehe die Kapitel XX und XXI, in: Livingstone, Missionary travels and researches in South Africa. Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt, S. 182. Ebd., S. 327, Anm. 315. Ebd., S. 190. Ebd., S. 182. Susanne Müller, Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers; 1830–1945, Frankfurt 2012. John Barnes, A place in the world,. Dies legen zumindest die Notices of the Press im Buch nahe; eine digitalisierte Fassung der amerikanischen Ausgabe von 1858 findet sich hier: http://catalog.hathitrust.org/ Record/011552293. Anonym, David Livingstone, der Afrika-Reisende und Missionar, Berlin 1889. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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list Henry Morton Stanley, der vom New York Herald entsandt worden war, hatte ihn ausfindig gemacht.73 Der Erfolg Livingstones lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen: Zum einen war das Wissen über die Geografie Afrikas zum Zeitpunkt der Erscheinens seines Buches alles andere als abgeschlossen.74 Vor allem aber war die Veröffentlichung der Missionary Travels ein Medienereignis, das von der ersten Publikation der Berichte in den Zeitschriften über den bewussten Einsatz der Abbildungen bis hin zu den das Buch lancierenden Medien-Kampagnen in den Tageszeitungen von einer Vielzahl von Akteuren – der London Missionary Society, der Londoner Geographical Society und dem Verlag John Murray – gesteuert worden war. Cultural Encounter und die Bedeutung der ›Zeugenschaft‹
Selbstverständlich bedienten nicht alle Reiseberichte die Erwartungen mög licher Leser und Leserinnen wie die Tagebücher Cooks oder der ›Pageturner‹ Livingstones, und sie entwickelten sich schon gar nicht alle zu einem kommerziellen Erfolg. Bei dem Bericht des Theodor von Heuglin (1824–1876) handelte es sich um einen solchen, auf den ersten Blick zunächst ›unauffälligen‹ Reisebericht.75 Heuglin, der als Pfarrersohn in Württemberg geboren und zum Inge nieur ausgebildet wurde, verbrachte zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrere Jahre in Zentralafrika. Die Begegnung mit einem Zoologen und Afrika-Reisenden in Stuttgart brachte ihn von seinem ursprünglichen Vorhaben ab, Ingenieur zu werden.76 Während seiner Zeit in Afrika war Heuglin Botschafter von Österreich, Ethnograf, Geograf, Ornithologe, Zoologe und ebenso Begleiter der niederländischen Adeligen Alexandrine Tinné (1835–1869), die als eine der ersten europäischen Frauen überhaupt Afrika bereiste.77 73 Manfred Eggert, Henry Morton Stanley (1841–1904) oder Die Erschließung Zentral afrikas als Medienereignis, in: Stefanie Samida (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 273–296; vgl. Henry Morton Stanley, How I found Livingstone: travels, adventures, and discoveries in Central Africa, London 18722; siehe auch die Autobiografie Stanleys und hier insbesondere das Kapitel The Finding of Livingstone, in: Henry Morton Stanley, The Autobiography of Sir Henry Morton Stanley, London 1914 4, S. 251–284. Eine digitalisierte Fassung ist zu fin den hier: http://openlibrary.org/books/OL13507801M/The_autobiography_of_Sir_Henry_ Morton_Stanley. 74 Vgl. die Rezension in Harper’s New Monthly Magazine, February, 1858. 75 Joost Willink, The fateful journey. The expedition of Alexine Tinne and Theodor von Heuglin in Sudan (1863–1864): a study of their travel accounts and ethnographic collections, [Amsterdam] 2011. In der Forschungsbibliothek Gotha findet sich im Bestand des Perthes Verlages ebenso der Nachlass von Heuglin. 76 Siehe den Artikel Heuglin, Theodor von, in: ADB 12 (1880), S. 325–327. 77 Als Beispiel für das breite Spektum von Heuglins Interessengebieten sei hier auf seine Vogelstudien verwiesen, vgl. ders, Ornithologie Nordost-Afrika’s, der Nilquellen und Küsten-Gebiete des Rothen Meeres und des nördlichen Somal-Landes, 4 Bde., Kassel 1869. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die »Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet« (1865), als wissenschaftlicher Arbeits- und Reisebericht in einer der vielen zeitgenössischen geografischen Fachzeitschriften erschienen, erreichte niemals ein Massenpublikum. Genau genommen handelt es sich bei diesem Bericht um eine von mehreren wissenschaftlichen Abhandlungen Heuglins über seine Reisen in das Nilgebiet.78 Die komplexe wissenschaftliche Biografie Heuglins und die Verflechtungen zur schillernden Persönlichkeit Tinnés, die gemeinsam mit ihren Kammerfrauen reiste und deren finanzielle Mittel reichten, um ein Dampfschiff für die Erkundung des Nil zu chartern,79 sind jüngst in einer faszinierenden und angesichts der Berücksichtigung zahlreicher Wissens- und Handlungsfelder der AfrikaForschenden auch einzigartigen Biografie aufgearbeitet worden.80 Eine genaue Lektüre des Reiseberichts zeigt, dass dieser Bericht für den Leser eine Vielzahl von Informationen bereithält, die über den Diskurs des Colonial Knowledge hinausweisen. Der Bericht enthält alle Charakteristika, die Pratt und andere für eine imperiale Perspektive als maßgeblich erachteten.81 Ich möchte hier zwei weitere Aspekte herausheben, die Heuglins Reisebericht – samt der von ihm im Anhang veröffentlichten Karte – interessant wie aufschlussreich zugleich macht. Dabei bringt er erstens auf diesen wenigen Seiten eine Vielfalt unterschiedlicher Dimensionen des Cultural Encounter zum Ausdruck. Heuglins Reisebericht ist zweitens mit einer weiteren sozialen Praxis – dem Akt des Bezeugens, the act of witnessing – verknüpft.82 In seinem Reisebericht dokumentiert Heuglin nämlich ebenso den exzessiven Handel mit Sklaven, an dem europäische und arabische Händler beteiligt waren. Obgleich Heuglin unter seinen Zeitgenossen keineswegs als ein großer Literat galt,83 bedient auch dieser Reisebericht das Genre, das einem »wissenschaftlichen Entdeckungs-Reisenden ersten Ranges«84 zu dieser Zeit gemäß zu sein
78 Siehe u. a. Theodor von Heuglin, Reise in das Gebiet des Weissen Nil und seiner westlichen Zuflüsse in den Jahren 1862–1864. Mit einem Vorwort von August Petermann, Leipzig/ Heidelberg 1869. 79 Sie unterstützte Heuglin mit Kamelen sowie finanziell; ihre eigene Reise hat größere Summen verschlungen. (Vgl. Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quell gebiet (1865), VII, Fn. 1.) 80 Willink, The fateful journey. 81 Denn bereits der erste Absatz des Tagebuchs von Heuglin macht die Differenz des euro päischen Forschungsreisenden gegenüber der afrikanischen Bevölkerung unmissverständlich deutlich. Hier betont Heuglin, wie schwer es ist, »Neger zu Fortschaffung des Gepäcks in hinreichender Menge zu erhalten« (vgl. Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet (1865), 1). 82 Zur zeitgenössischen Bedeutung des ›witnessing‹ im Kontext des Humanitarismus im 21. Jahrhundert siehe Didier Fassin, Humanitarian Reason: A Moral History of the Present. Berkeley 2011, S. 23 ff. 83 Siehe den Artikel Heuglin, Theodor von, in: ADB 12 (1880), S. 325–327. 84 Vgl. August Petermann, Vorwort, in: Heuglin, Reise in das Gebiet des Weissen Nil (1862–1864), S. VIII. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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scheint: Der Naturforscher und Ornithologe beschreibt die vielen Herausforderungen der Reise (mit Todesfolgen), außerdem alltägliche wie exotische Beobachtungen eines Marktes oder einer Elefantenjagd.85 Der Bericht, eigentlich eine edierte Sammlung der Briefe an den Herausgeber Petermann, vereint mit dem Tagebuch, seinen ethnologischen Notizen sowie der Karte unterschiedliche wissenschaftliche Materialien.86 Die Karte – sie dokumentiert die Routen verschiedener Reisender, benennt Handelsplätze und gibt ethnologische Informationen – wird von dem geografischen Verlag Perthes zweifelsohne als Herzstück des Berichts betrachtet, schließlich weist eine editorische Notiz auf ihre Bedeutung wie ihren Entstehungsprozess hin.87 Heuglin selbst betont seinen Wunsch, »ein gutes Stückchen« der »›terra incognita‹« der Nilregion auszufüllen.88 Die vielfältigen Dimensionen des Cultural Encounter werden in Heuglins Reisebericht auf unterschiedlichen Ebenen deutlich. Zunächst beschreibt er einerseits den Austausch, den die europäischen Reisenden und Forschenden untereinander pflegten. Der Austausch der europäischen Elite – die Reisenden waren bürgerlicher und adeliger Herkunft – bezog sich sowohl auf das (Mit-)Teilen von Forschungsergebnissen als auch ganz konkret auf die praktische Organisation der Reise wie das Mitteilen von bestimmten Reiserouten. Ein französischer Reisender stellte ihm Kartenmaterial zur Verfügung, das später in Petermanns Zeitschrift veröffentlicht wurde.89 Die vielfältigen Dimensionen des Cultural Encounter werden aber andererseits auch an den unterschiedlichen Kooperationsformen deutlich, die von den Reisenden zu den zahlreichen Akteuren der einheimischen Bevölkerungsgruppen (den Eliten, den politischen Entscheidungsträgern und den so genannten ›Negern‹) unterhalten werden: Der Bericht beschreibt alltägliche Interaktionsformen (wie die Unterhaltungen auf dem Markt), er verweist aber ebenso immer wieder auf – namenlose – Informanten, die den Forschungsprozess überhaupt ermöglichten.90 Dieser Austausch zwischen den europäischen Reisenden und den anonymen Informanten war seinerseits die Bedingung dafür, die genaue Rekonstruktion der Geografie, die Zuweisung von Namen zu gewährleisten. Wenngleich der Bericht exzessiv die Arbeitsergebnisse von seinen europäischen Mitreisenden zitiert,91 geht er mit 85 Siehe hierzu auch die Einleitung des Verlages, in: Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet (1865), V–VIII. 86 Der Anhang des Reiseberichts enthält »Ethnographisches«, »Zoologisches«, »Arabische Eigennamen« und »Bemerkungen zur Karte« vgl. Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet (1865), S. 30 ff. 87 Siehe die »Originalkarte des westlichen Theiles des oberen Nil-Gebietes«. Abgebildet sind hier ferner ethnologische Insignien, so die »Staatspfeife der Dor« oder die »Eiserne Lanzenspitze der Dor (als Tauschmittel)«. 88 Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet (1865), S. 14. 89 Ebd., S. V. 90 Ebd. 91 Heuglin verweist selbst in seinem Bericht auf die Arbeitsergebnisse anderer europäischer Reisender. Wesentliche Ergänzungen wurden aber vom Perthes Verlag vorgenommen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Hinweisen auf das von ihm verwendete local knowledge äußerst sparsam um. In seinem Bericht stützt er sich vor allem auf Informationen, die er durch Hörensagen erhalten hatte.92 Andere Reisende gehen mit ihrer Verwendung des local knowledge wesentlich offensiver um, waren sie doch auf die Übersetzungen so genannter ›Intermediaries‹ angewiesen.93 Neben den unterschiedlichen Formen der Kooperation, wie sie die soziale Praxis der Forschungsreise generiert, ist die Zeugenschaft ein weiteres zentrales Moment der Reisebeschreibungen von Heuglin. Denn der Bericht von Heuglin beschreibt den Sklavenhandel, wie er im Sudan – vor allem in Khartum und in Bahr al-Ghazāl (im heutigen Südsudan) noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts übliche Praxis war.94 Khartum war übrigens nicht nur Handelsort von Sklaven, sondern ebenso von Ethnografika.95 In den frühen 1860er Jahren, als Heuglin sich in Khartum befand, lebten etwa 40–45 Europäer in der Stadt, in der ebenso eine österreichische Missionsstation, türkische Kaffeehäuser und Geschäfte griechischer Kaufleute zu finden waren.96 Die Beschreibung des Sklavenhandels ist deshalb von Bedeutung, da ein britischer Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 1807 den Sklavenhandel von englischen Häfen aus und die Einfuhr in englische Kolonien verboten hatte. Knapp 30 Jahre später verbot das britische Parlament auch den Besitz von Sklaven.97 In dem Zeitraum vom 16. bis in das 19. Jahrhundert war die Sklavenwirtschaft mit mehr als 12 Mio. Menschen ein wesentliches Element der Weltwirtschaft.98 Auf der Karte findet sich diese Zeugenschaft wieder, indem bestimmte Orte als »berühmter Handelsplatz für Elfenbein u. Sklaven« ausgewiesen werden.99 92 Vgl. Kathrin Fritsch/Isabel Voigt, »Local knowledge is wonderfully good, but …« – A frican Knowledge in European Maps. Proceedings of the Portsmouth Symposium, ICA Commission on the History of Cartography, 10.–12.09.2008 in Portsmouth/UK. 93 Beatrix Heintze, Ethnographische Aneigungen. Deutsche Forschungsreisende in Angola; Kurzbiographien mit Selbstzeugnissen und Textbeispielen, Frankfurt 1999, S. 82; siehe auch das Kapitel »Afrikaner als Intermediäre kolonialer Herrschaft«, in: Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt 2005, S. 300–324; zu den ›Intermediaries‹ siehe auch den Beitrag von Rebekka Habermas in diesem Band. 94 Siehe unter anderem die Abschnitte »Sklaven auf den Schiffen der Expedition« und »Grosser Sklaven-Transport vom Bahr el ábiad«, in: Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet (1865), S. 16 und S. 26. Neben einheimischen Händlern ist die Rede unter anderem von ägyptischen, auch österreichischen Händlern (ebd., S. 26). Gabriel Warburg, European Travellers and Administrators in Sudan before and after the Mahdiyya, in: Middle Eastern Studies 41. 2005, S. 55–77. 95 Siehe die in sozialgeschichtlicher Hinsicht sehr interessante Beschreibung von Khartoum, in: ebd., S. 223 ff. 96 Ebd., S. 222. 97 Einführend: Andreas Eckert, Transatlantischer Sklavenhandel und Sklaverei in West afrika, in: Andreas Eckert u. a. (Hg.), Afrika 1500–1900. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2010, S. 72–88. 98 Vgl. Eckert, Transatlantischer Sklavenhandel und Sklaverei in Westafrika. 99 Heuglin, Die Tinne’sche Expedition im westlichen Nil-Quellgebiet, S. 47 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wie wertvoll diese Karte in sozialgeschichtlicher Hinsicht ist, zeigt ebenso der Sachverhalt, dass es nahezu keine Karten gibt, die von ehemaligen Sklaven über ihr eigenes Schicksal angefertigt wurden. Derlei Funde über eine »subaltern cartographic practice« gelten in der Geschichtsschreibung der Sklaverei als ausgesprochene Seltenheit.100 Dagegen belegt Heuglins »Originalkarte des westlichen Theiles des Oberen Nil-Gebietes« die Existenz so genannter Zeribahs (Wohnorte), von denen aus die arabischen bzw. europäischen Besitzer ihre Sklavengeschäfte betrieben.101 Obgleich neben Petermann’s Mittheilungen auch andere führende geografische Zeitschriften – wie das Bulletin der Royal Geographical Society sowie das Bulletin de la Société de Géographie – den Sklavenhandel im Sudan dokumentiert hatten, war die bereits erwähnte Karte von Heuglin aus dem Jahr 1865 die erste, die den Sklavenhandel südlich von Khartum, der heutigen Hauptstadt des Sudan, dokumentierte.102 Hinsichtlich seiner eigenen sozialen Rolle der Zeugenschaft kommt Heuglin zu folgendem Fazit: Wir hatten wohl einige Kunde von den Gräuelscenen der Händler und ihrer Trabanten, waren aber durchaus nicht eingeweiht in die ganze exclusive Einrichtung und Gliederung ihrer Unternehmungen.103
Der Reisebericht Heuglins dokumentiert einen dynamischen Interaktions- und Austauschprozess zwischen den europäischen Forschenden einerseits und den heterogenen afrikanischen Akteuren andererseits. Die soziale Praxis der Zeugenschaft macht deutlich, dass die europäischen Forschungsreisenden als Mitwisser des Sklavenhandels, manchmal vielleicht auch als unmittelbar am Geschehen Beteiligte, mehr als nur Forschende waren. Von seinen Reisen brachte der Ornithologe und Zoologe Heuglin lebende und ausgestopfte Tiere mit, die er dem Wiener Zoologischen Garten Schönbrunn sowie dem Naturalienkabinett Stuttgart übergab. Als Anerkennung für die zuletzt erwähnte Schenkung wurde ihm im Jahr 1855 der württembergische Kronorden verliehen, womit er in den Adelsstand berufen wurde.104 Die von ihm gesammelten Speere, Messer, Löffel, Pfeifen oder auch Schmuckstücke – sie wurden bereits 100 Dies betont Stephen P. Hanna in seinem Aufsatz über die Autobiografie des ehemaligen Sklaven John Washington (1838–1918), die eine Karte samt möglicher Fluchtwege enthält (vgl. Ders., Cartographic Memories of Slavery and Freedom: Virginia, in:. Examing John Washington’s Map and Mapping of Fredericksburg, in: Cartographica. 2012, H. 1, S. 50–63). 101 Die Karte benennt verschiedene solcher Stationen wie beispielsweise die von Johann Kleincznick, der zur österreichischen Mission gehört hatte und mittlerweile mit Elfenbein handelte. Auf der Karte heißt das Anwesen »Seribah Klaincznick«, das sich im Übrigen in der Nachbarschaft von anderen Stützpunkten dieser Art befindet. Angaben zu Kleincznick finden sich bei Willink, The fateful journey, S. 76. 102 Willink, The fateful journey, S. 232. 103 Beschreibungen der Handels- und Tauschbeziehungen bei Heuglin, Reise in das Gebiet des weißen Nil (1869), S. 166–169, hier S. 168. 104 Siehe den Artikel Heuglin, Theodor von, in: ADB 12. 1880, S. 325–327, hier S. 326. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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1865 im Rahmen einer Sonderausstellung präsentiert – finden sich noch heute im Linden-Museum in Stuttgart.105
Käfer und Menschen – Sammeln und Ausstellen für das Empire Objekte verkörpern die komplexe Geschichte ihrer globalen Bewegungen. Sie sind historisch ›gemacht‹.106 Denn sie sind eingebettet in politische wie wissenschaftliche Diskurse, und sie haben darüber hinaus eine symbolische Bedeutung.107 Der Anthropologe Nicholas Thomas weist in seiner Studie »Entangled Objects« auf diese vielfältigen Bedeutungsebenen hin, die einem Objekt in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zugewiesen werden: »The category to which a thing belongs, the emotion and judgement it prompts, and the narrative it recalls, are all historically refigured.«108 Kaufleute, Kolonialbeamte, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen brachten von ihren Reisen oder auch ihren Arbeitsaufenthalten in den Kolonien Gegenstände mit, die sie – wie der Naturforscher und Zoologe Heuglin – ebenso Museen zur Verfügung stellten. Auch Missionsgesellschaften sammelten Objekte, die ihre Sammlungen so genannter heidnischer Objekte schon früh im Rahmen von Ausstellungen einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatten.109 Gegründet, um die »unzähligen, und (in einigen Fällen) furchtbaren, Götzendarstellungen« derjenigen zur Schau zu stellen, die sich von der »Torheit und Sünde des Götzentums« verabschiedet hätten,110 versammelte das Museum der London Missionary Society Ausstellungsstücke, die von den Missionaren auf ihren Missionsstationen gesammelt worden waren. An einem Tag in der Woche geöffnet, scheint das Museum seinem ursprünglichen Ziel, die Londoner Bevölkerung aufzuklären über die »Hunderte von Millionen der menschlichen Rasse«, die angeblich als »Vasallen von Igno105 Siehe den Ausstellungs-Catalog der ethnografischen Sammlung des Herrn Hofrath Dr. v. Heuglin vom Mai 1865. Ein Hinweis auf diesen Katalog sowie Abbildungen der von Heuglin gesammelten Ethnografica finden sich bei Willink, The Fateful Journey, S. 309 und S. 386 ff. 106 Siehe hierzu den Beitrag von Andrew Zimmerman in diesem Band. 107 Zur symbolischen Bedeutung von Objekten siehe vor allem auch Tilmann Habermas, Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt 1999. 108 Thomas, Entangled Objects, S. 125. 109 Friars, Austin, Catalogue of the Missionary Museum, Including Specimen in Natural History, Various Idols of Heathen Nations, Dresses, Manufactures, Domestic Utensils, Instruments of War, &c &c &c, London 1826. Zur Sammelpraxis der London Missionary Society siehe unter anderem das Kapitel Converted Artifacts: The Material Culture of Christian Missions, in: Thomas, Entangled Objects, S. 152 ff.; vgl. Ann Colley, Colonies of Memory, in: Victorian Literature & Culture (31), H. 2. 2003, S. 405–427. Ein Plädoyer für eine Berücksichtigung der religiösen Dimension von ›westlichen‹ Ausstellungspraktiken finden sich bei Sujit Sivasundaram, Natural History Spiritualized: Civilizing Islanders, Cultivating, and Collecting Souls, in: History of Science 39. 2001, S. 417–443. 110 Friars, Catalogue of the Missionary Museum (1826). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ranz und Aberglauben« ihr Dasein fristeten, nicht näher gekommen zu sein.111 So beklagte sich ein nach eigenem Dafürhalten kundiger Besucher über das »Chaos«, das in dem Museum herrsche und in keiner Weise »dem herrlichen Triumph des Kreuzes durch die christlichen Armeen unseres Landes« gerecht werde.112 Auch naturhistorische Sammlungen profitierten vom Sammeleifer der europäischen Reisenden. Einige Dekaden, bevor Heuglin seine Sammlungen nach Stuttgart und Wien gebracht hatte, war der Naturforscher Hinrich Lichtenstein (1780–1857) in das südliche Afrika aufgebrochen. Dieser brachte von seinen Reisen in das südliche Afrika zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tiere mit: Schmetterlinge, vielleicht auch Käfer, in jedem Fall aber ebenso Löwen, die präpariert oder ausgestopft in die Sammlungen des Zoologischen Museums – einem Vorläufer des Berliner naturhistorischen Museums – gelangten.113 Lichtenstein beauftragte ebenso Sammler wie den ehemaligen Apotheker Ludwig Krebs (1792–1844).114 Ob Lichtenstein oder auch Krebs für das Berliner Zoolo gische Museum ebenso menschliche specimen gesammelt hatten, lässt sich auf der Grundlage der erhaltenen Sammellisten nur vermuten.115 Der Fall der Sara Baartman – vom imperialen Spektakel zum anatomischen Objekt
Zeitgleich zu den Aktivitäten des Apothekers Krebs als Sammler wurde Sara Baartman, die unter dem Namen ›Venus Hottentot‹ zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte, von Alexander Dunlop – einem britischen Importeur von Museumsexponaten nach Großbritannien – verschifft. In ihrem Fall treffen unterschiedliche Diskursfelder zusammen, die die bereits erwähnte Beobachtung des Anthropologen Nicholas Thomas’ veranschaulichen, wonach ›Gegenstände‹ eine historisch spezifische Bedeutung zugewiesen bekommen. Der medizinische Diskurs der Zeit legte allerdings ein wirkungsmächtiges Narrativ über das Erscheinungsbild der ›Hottentotten‹-Frau vor, das hier nur mit einem, allerdings durchaus repräsentativen Satz zusammengefasst wird: »Im übrigen gibt es nichts Widerlicheres als die Erscheinung der Hottentotten.«116 111 Ebd. 112 Schreiben von Henry Syer Cuming vom 29.4.1839, zit. nach Przyrembel, Verbote und Geheimnisse, S.75. 113 Hinrich Lichtenstein, Reisen im südlichen Africa in den Jahren 1803, 1804, 1805 und 1806, Berlin 1811. 114 Vgl. Pamela Ffoliott/Richard Liversidge, Ludwig Krebs. Cape Naturalist to the King of Prussia, 1792–1844, Cape Town 1971, S. 50 u. 67. 115 In einer seiner Sendungen fanden sich nicht näher spezifizierte »specimen found around the River« siehe Ffoliott/Liversidge, Ludwig Krebs, S. 67. 116 Vgl. Dictionnaire [sic] des sciences médicales, Art. ›Femme‹ (anthropologie et physiologie), 1815, Bd. XIV, S. 515f, zit. nach: Sarasin, Philipp, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt 2001, S. 199. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Während der Fall der Sara Baartman auf der Folie dieses spezifischen, vor allem auf körperliche Attribute abzielenden Rassismus interpretiert wurde,117 schlägt die jüngere Forschung einen anderen Weg vor. Dieser Interpretation zufolge durchlief Baartman in der kurzen Zeit ihrer Präsentation in Europa unterschiedliche Stationen. Von einem naturhistorischen ›Ausstellungsgegenstand‹, der kontroverse Diskussionen über die Sklaverei ausgelöst hatte, bis hin zu einem Versuchsobjekt der Anatomie – in ihrer kurzen europäischen Geschichte hatte die Südafrikanerin (sie war eine Khoikhoi)118 die Deutungsmacht des Empire auf verschiedensten Ebenen kennengelernt.119 Aus Sicht des naturhistorischen Diskurses des 18. Jahrhunderts repräsentierte die Afrikanerin ein Wesen, das als eine Zwischenstufe zwischen Mensch und Tier einzuordnen war.120 Verfrachtet gemeinsam mit anderen Ausstellungsstücken (mit Menschen, Tieren und Pflanzen), die wie sie koloniale Expansion und die Vorteile ökonomischer Transfers repräsentierten, symbolisierte Sara Baartman »imperial success and a prized specimen of the ›Hottentot‹« zugleich.121 Im Jahr 1810 in Großbritannien angekommen, wurde Baartman an einen Schausteller verkauft. Ein Poster kündigte ihre Darbietung auf dem Piccadilly Circus mit folgenden Worten an: »The Hottentot Venus, just arrived from the Interior of Africa; the greatest Phoenomenon (sic!) ever exhibited in this Country.«122 Der Text fügte noch hinzu, dass die Ausstellung nur für sehr kurze Zeit zu sehen sei.123 Die Ausstellung der Sara Baartman erregte breite öffentliche Aufmerksamkeit, allerdings verschafften sich auch bald kritische Stimmen Gehör. Vor allem die Abolitionisten – also die Gegner der Sklaverei – kritisierten die Ausstellung einer Afrikanerin.124 Dies widerspreche, so der Kommentar eines Lesers des Morning Chronicle, »every principle of morality.« Außerdem sei diese mit einer Beleidi-
117 Siehe Sander Gilman, Black Bodies, White Bodies: Toward an iconography of female sexuality in late nineteenth-century art, medicine, and literature, in: Henry Louis Gates Jr. (Hg.), ›Race‹, Writing and Difference, Chicago 1985, S. 223–261, siehe auch das Kapitel The Hottentot Venus, in: Stephen Jay Gould, The Flamingo’s Smile. Reflections in Natural History, New York/London 1985, S. 291–305; einschlägig: Clifton C. Crais u. Pamela Scully, Sara Baartman and the Hottentot Venus. A ghost story and a biography, Princeton 2009. 118 Vgl. Christoph Marx, Südafrika. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2012. 119 Sadiah Qureshi, Displaying Sara Baartman, the ›Hottentot Venus‹, in: History of Science 46. 2004, S. 233–257. 120 Keith Thomas, Man and the natural world. Changing attitudes in England, 1500–1800, New York 1996, S. 121 ff. 121 Qureshi, Displaying Sara Baartman (2004), S. 235. Hier findet sich auch eine überzeugende Auseinandersetzung, ob Sara Baartman möglicherweise als Sklavin verschleppt worden sei. 122 Siehe das Faksimile des Posters mit entsprechenden Hervorhebungen, in: ebd., S. 237. 123 Ebd. 124 Zur Einführung: Seymour Drescher, Abolition. A History of Slavery and Anti-Slavery, Cambridge 2009. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gung öffentlicher Anständigkeit »with that most horrid of all situations, Slavery« verflochten.125 Ein Prozess, von den Abolitionisten aus den erwähnten moralischen Gründen angestrengt, verlief sich. Sara Baartman wurde weiterhin in London und in anderen britischen Städten ausgestellt, bis sie vier Jahre später in Paris ankam. Hier sollte ihr Schicksal eine weitere Wendung nehmen: Die Zoologen Étienne Geoffrey Saint-Hilaire (1772–1844) und Frédéric Georges Cuvier (1773–1838), Professoren am Muséum d’Histoire Naturelle, untersuchten Baartman für drei Tage im Jardin des Plantes und nahmen sie in ihre vierbändige Histoire naturelle des mammifères auf, wo sie als einziger Mensch präsentiert wurde.126 Im Jahr 1815 starb Baartman. Georges Cuvier, ein Bruder des bereits erwähnten Zoologen, führte eine Sektion des Leichnams durch und diagnostizierte »une maladie inflammatoire et éruptive«.127 Die Körperteile der Sara Baartman befanden sich bis zu ihrer Überführung nach Südafrika im Besitz des Musée de l’Homme, das aus dem Pariser Naturkundemuseum hervorgegangen war.128 Die Faszination gegenüber dem Ausstellungsobjekt ›Mensch‹ sollte sich bis in das frühe 20. Jahrhundert halten. Wie fließend die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Neugierde gegenüber dem Fremden einerseits, exotischem Spektakel und imperialer Wissensproduktion andererseits sind, wird an der Ausstellung exotischer Völker deutlich. In Berlin, Paris oder London wurden Eskimos, Indianer oder auch die Bewohner und Bewohnerinnen der fernen Südsee-Inseln im Rahmen so genannter Völkerschauen ausgestellt. Die Hamburger Familie Hagenbeck veranstaltete seit den 1870er bis in die 1930er Jahre derartige Shows. Ähnlich wie im Fall von Sara Baartman verfolgte der Schausteller das Ziel, ein breiteres Publikum anzusprechen.129 Die Shows hatten auch den Charakter eines Spektakels – sie wirkten allerdings in äußerst komplexer Weise in das wissenschaftliche Feld hinein. In Kooperation mit der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte studierte der Physiologe Rudolf Virchow (1821–1902) – nicht nur einer der führenden Wissenschaftler, sondern auch ein bedeutender Wissenschaftsmanager seiner Zeit130 – beispielsweise Hagenbecks Eskimo Show 125 Schreiben vom 12.10.1810, zit. nach Qureshi, Displaying Sara Baartman (2004), S. 238. 126 Ètienne Geoffrey Saint-Hilaire/Frédéric Cuvier, Histoire naturelle des mammifères, 4 Bde., Paris 1824–1847, S. I; zit. nach ebd. S. 241. 127 Vgl. Georges Cuvier, Extrait d’observations faites sur le cadavre d’une femme connue à Paris et à Londres sous le nom de Vénus Hottentotte, in: Mémoire du Musée Nationale d’Histoire Naturelle III (1817), S. 259–274; zit. nach ebd. S. 242. 128 Zur Nachgeschichte der Sara Baartman siehe auch Gesine Krüger, Moving Bones: Unsettled Histories in South Africa and the Return of Sarah Baartman, in: Sebastian Jobs/ Alf Lüdtke, Unsettling history. Archiving and narrating in historiography, Frankfurt 2010, S. 233–250. 129 Nigel Rothfels, Savages and beasts. The birth of the modern zoo, Baltimore 2002; Hilke Thode-Arora, Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt u. a. 1989. 130 Zimmerman, Anthropology and antihumanism in Imperial Germany; vgl. Constantin Goschler, Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker, Köln 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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im Jahr 1878.131 Von einem erfolgreichen Sammler organisiert, kann die Show als eine der erfolgreichsten bezeichnet werden.132 Ohne selbst die Anstrengungen des Reisens auf sich nehmen zu müssen, ermöglichten die ›Völkerschauen‹ (so zumindest die Hoffnung) die wissenschaftliche Erkundung unbekannter Völker.133 Ärzte, Musikwissenschaftler, Linguisten, Ethnologen studierten die sechs Mitglieder der Eskimo Show, unter denen sich ebenso zwei Kinder befanden.134 Die Dynamisierung dieses Wissensdursts findet ihren Niederschlag in mancher Kuriosität, wie beispielsweise dem Studium von Schuhen.135 Zahlreiche wissenschaftliche Artikel, publiziert in dem Fachblatt der Berliner Gesellschaft, belegen das nachhaltige Interesse an den ›Völkerschauen‹. Die Wissenschaftler vermaßen Körperteile, allerdings stützten sie sich in ihren Studien ebenso auf Fotografien.136 Die ›Völkerschauen‹ dienten nicht nur der Berliner Anthro pologischen Gesellschaft, sondern Hagenbeck verkaufte das Equipment der Ausstellungen ebenso an die bedeutenden Völkerkundemuseen in Berlin, Hamburg oder auch Leipzig.137 Als wissenschaftliche Institutionen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründet, erfuhren sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen eklatanten Bedeutungswandel: Mit der Entstehung einer Massenkultur wurden zunehmend auch weniger gebildete Schichten angesprochen.138
Schlussbetrachtung: Wissen, Medien und die Vielfalt der Stimmen Wenn wir die unterschiedlichen Stationen dieses Essays Revue passieren lassen, dann scheinen für die Bedeutung medialer Repräsentationen des Wissens und ihre Verflechtungen mit dem Empire folgende Aspekte zentral zu sein. Zunächst 131 Vgl. Virchow, Über Eskimos, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthro pologie, Ethnologie und Urgeschichte 10. 1878, S. 185. Rothfels vermutet, dass das Interesse an den Völkerschauen seitens der Berliner Gesellschaft mit dem nachlassenden Einfluss Virchows in derselben abnimmt (vgl. ders., Savages and Beasts, S. 227). 132 Zur Rolle des Sammlers Jacobsen, der unter anderem für Hagenbeck sowie die Berliner Anthropologische Gesellschaft nach geeigneten Objekten fahndete, siehe Rothfels, Savages and Beasts, S. 107 und S. 230. 133 Zum Typus des Armchair-Anthropologen, der sich vor allem auf Reiseberichte stützte, siehe George W. Stocking, Victorian anthropology, New York 1987. 134 Vgl. Rothfels, Savages and beasts, S. 93. 135 Die Abendausgaben der Frankfurter Zeitung und des Handelsblatts vom 21.7.1896 berichteten, dass ein Experte für »Naturschuhwerk« seine Messungen der Füße von den Bewohnern der Insel Somoa abgeschlossen hat (vgl. Rothfels, Savages and Beasts, S. 93, Fn. 42). 136 Vgl. Alexander Sokolowsky, Menschenkunde. Eine Naturgeschichte sämtlicher Völkerrassen der Erde, Stuttgart 1901. 137 Vgl. Rothfels, Savages and Beasts, S. 112. 138 Zur Geschichte der Völkerkundemuseen während des Deutschen Kaiserreichs wurde aufgearbeitet von Glenn Penny, Objects of culture. Ethnology and ethnographic museums in imperial Germany, Chapel Hill 2002; vgl. Zimmerman, Anthropology and anti humanism, S. 141–160. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gilt es festzuhalten, dass der Zugang zu medial kommuniziertem Wissen gesellschaftlich und kulturell zentrale Unterschiede auswies. Der Lehrer in einer der khalwa-Schulen im Sudan war ähnlich privilegiert wie die adeligen Reisenden Alexandrine Tinné oder auch Theodor von Heuglin. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts waren große Teile der Weltgesellschaft von der Praxis des Lesens praktisch ausgeschlossen. Dieser Sachverhalt hatte nicht notwendigerweise Rückwirkungen auf die Interpretation der Dinge oder auch von Fotografien, wie sie unter anderem in den Völkerkundemuseen in Berlin oder London ausgestellt wurden. Die Aneignung der Lesekompetenz war allerdings mit der kolonialen Praxis des social engineering verknüpft, und das ›Buch‹ wurde im Kontext der Missionsarbeit im südlichen Afrika zum Beleg der eigenen – und in diesem Fall west lichen – Kompetenz des Ordnens und Übermittelns von Geschichte. Zeitgleich führten technische Innovationen zur Entstehung eines Massenmarktes. Mit der Telegrafie, mit der Entstehung eines globalen Kommunikationsnetzwerkes rückte die Welt näher zusammen. Die Publikation von David Livingstones Missionary Travels profitierte von beiden Entwicklungen – ihr Erscheinen kann als ein transnationales Medienereignis bezeichnet werden, das von unterschiedlichen Interessengruppen (der Royal Geographical Society, dem Verlagshaus Murray, der London Missionary Society) beeinflusst wurde. Auch an dem Schicksal von Sara Baartman, der man während ihrer wenigen Lebensjahre in Europa die unterschiedlichsten Bedeutungen zuwies, bis sie zum Objekt anatomischer Betrachtung wurde, beteiligten sich verschiedene Hintermänner. Die Sammler von Ethnografica verfolgten nicht notwendigerweise ein wissenschaftliches Interesse – oftmals bestimmten die ökonomischen Regeln des Marktes, ob weitere Lieferungen opportun waren. Während die öffentliche Darbietung der Baartman in den Zuweisungen ihrer Bedeutung als imperial spectacle in London weniger eindeutig war, wies der medizinhistorische Diskurs der Zeit, vor allem unter französischer und deutscher Federführung, ihrem Körper rassistische Attribute zu. Auch die vielen Entdeckungsberichte, die von den europäischen Reisenden nach Europa mitgebracht wurden, schrieben oftmals die Wissensformationen des colonial encounter fort, deren extreme Form sich am Beispiel der Sara Baartman manifestiert. Die Berichte eines Heuglin und anderer zeigen in ihren Berichten auch, dass sie in ihrer Rolle als Produzenten und Vermittler von Wissen auf komplexe Formen kultureller Austauschprozesse angewiesen waren. Diese Dimensionen des joint venture zugereister und lokaler Akteure, von Wissenschaftlern und Laien, sind auf der Grundlage der über lieferten Zeugnisse – von Texten, Objekten und Fotografien – allenfalls zu erahnen. Deutlich aber ist, dass das analytische Konzept des colonial knowledge diesen dynamischen Prozess, der grundlegend ist für die Wissensproduktion, auf den Aspekt der hegemonialen Machtbeziehungen begrenzt. Die soziale Praxis des witnessing, also des Belegens der eigenen Zeugenschaft eines florierenden und nicht allein von europäischen Händlern geprägten Sklavenhandels, verweist auf die komplexen sozialen Beziehungen, die der Forschende auf seiner Reise in unterschiedliche Wissensgebiete auch im 19. Jahrhundert unterhielt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Barbara Buchenau
Erdichtetes Wissen über das präkoloniale Amerika Junge Märkte und Ideen im Bann des Song of Hiawatha (1855)
Was hat Henry Wadsworth Longfellow, dieser erste große öffentliche Dichter Nordamerikas, mit der Speisestärke Mondamin zu tun? Heute scheint die Verbindung zwischen »Amerikas erstem ›Pop‹ Poeten« und dem seit dem frühen 20. Jahrhundert in deutschen Küchen vertretenen Mondamin abwegig, doch zur Jahrhundertwende war der Nexus für alle Konsumenten zweifelsfrei gegeben.1 So setzten deutsche und amerikanische Verbraucherinnen und Verbraucher erst Vertrauen in die industriell gefertigte Maisstärke und andere Produkte aus Maismehl, als Werbetexter auf beiden Seiten des Atlantiks das neue Nahrungsmittel unter die Patenschaft von Longfellows »The Song of Hiawatha« stellten. Für dieses Langgedicht im Buchformat aus dem Jahr 1855 hatte Longfellow sogar seine nicht sonderlich geliebte Tätigkeit als Professor für europäische Sprachen und Literaturen an der Harvard University niedergelegt und sich ganz dem Studium des präkolonialen Amerika gewidmet. Ein Entschluss, der sich bezahlt machen sollte, denn »The Song of Hiawatha« war ein sofortiger und umfassender Erfolg: Das Gedicht über einen mythischen indianischen Nationsstifter wurde überall dort gelesen, gesungen und aufgeführt, wo sich Menschen trafen. Generationen von Schulkindern lernten es in der Grundschule auswendig und der transatlantische Hype um Longfellows Hiawatha riss nicht nur Kunstschaffende wie die afrikanisch-indianische Künstlerin Edmonia Lewis, den tschechischen Komponisten Antonín Dvořák und den britisch-afrikanischen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor mit, er zog auch die jungen Kulturwissenschaften in seinen Bann, da sowohl die Künste als auch die Geisteswissenschaften Antworten suchten auf die provokanten Synthesen, den Synkretismus und die Demokratisierung der literarischen Kommunikation, die sich aus dem »Song of Hiawatha« ergaben.2 Wie der folgende Beitrag zeigt, diskreditiert sich »The Song of Hiawa1 Christoph Irmscher, Longfellow Redux, Urbana 2006, S. 7–71, Zitat S. 23: »America’s first ›pop‹ poet«. Zu Longfellow und dem Konzept der öffentlichen Dichtung siehe Astrid Franke, Pursue the Illusion: Problems of Public Poetry in America, Heidelberg 2010, S. 89–148. 2 Irmscher, Longfellow Redux, S. 11, zu Longfellows Tätigkeit als »Smith Professor of Modern Languages and Belles Lettres« an der Universität Harvard; Tom Nurmi, Writing Ojibwe: Politics and Poetics in Longfellow’s Hiawatha, in: The Journal of American Culture 35:3. 2012, S. 249 zur Bedeutung des »Song of Hiawatha« an Schulen und für ein nicht-literarisches Publikum. In Deutschland kannten in der Generation der Kriegskinder noch viele »Das Lied des Hiawatha«, das in Übersetzungen Eingang in den deutschen Schul- und Arbeitsalltag gefunden hatte. Können von den heute 80-Jährigen viele noch Passagen des Ge© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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tha« zwar durch die Wiederholung, Aufarbeitung und Fusion etablierter Traditionen und bewährter Formen des Wissens als literarisch und kulturell ernstzunehmender Text. Zugleich bringen aber gerade die synthetisierenden Elemente des Gedichts Unruhe in die anerkannten Ordnungen des Wissens und tragen auf diese Weise zu der Herausbildung neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und der Professionalisierung der Geisteswissenschaften bei.3
Das Gedicht Longfellows Langgedicht »The Song of Hiawatha« (1855) nimmt den Namen der historischen Person Hiawatha, einem Mohawk des vermutlich 16. Jahrhunderts, der als einer der Begründer des irokesischen Bundes von herausragender politischer und kultureller Bedeutung ist, und macht aus ihm eine Erlöserfigur in einer synkretistischen, also verschiedene Religionen fusionierenden Offenbarungsgeschichte.4 Diese poetische Offenbarung verwebt Geschichten und Traditionen der Ojibwa (Anishinaabe) und der Irokesen (Haudenosaunee) dichts zitieren, so ist das Gedicht in Deutschland bei Schulkindern des jungen 21. Jahrhunderts völlig unbekannt. Eine wegweisende Interpretation des Gedichts, die auch dessen politisch und wissenschaftshistorisch explosive Erfolgsgeschichte hinzuzieht, findet sich bei Alan Trachtenberg, Shades of Hiawatha, Staging Indians, Making Americans, 1 880–1930, New York, 2004, S. 51–97. 3 Jochen Hörisch legt in »Das Wissen der Literatur«, München 2007, das Vermögen der Literatur dar, das allzu Vertraute in neuem Licht erscheinen und so Verborgenes sichtbar werden zu lassen. Sein Rezensent Roman Luckscheiter bringt es auf die griffige und für unser Beispiel absolut einschlägige Formel, »dass die Stärke der Literatur eben in der Irritation festgefügter Wissensordnungen liegt.« Roman Luckscheiter, Rezension von Jochen Hörisch, Das Wissen der Literatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.2007, S. 36. 4 Zu Hiawatha, den Irokesen (Haudenosaunee) und dem irokesischen Gründungsmythos siehe Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie: Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation, Münster 2004, ins. S. 15–17. Im Synkretismus werden Elemente und Ideen aus verschiedenen Religionen so verbunden, dass sich ein neues Glaubenssystem ergibt. Wie dies in Nordamerika funktionierte, lässt sich besonders gut am Beispiel india nischer christlicher Missionare beobachten (vgl. Bonnie Sue Lewis, Creating Christian Indians: Native Clergy in the Presbyterian Church, Norman, Oklahoma 2003). Sicherlich kann man trefflich darüber streiten, ob »The Song of Hiawatha« ein neues religiöses System entwirft oder vielleicht nur Elemente aus indianischen Traditionen assimiliert. Da das Gedicht aber sowohl von indianischen Laienschauspielern und prominenten indianischen Künstlerinnen, als auch von jüdischen, russisch-orthodoxen und katholischen Immigranten sehr häufig und mit großer Begeisterung aufgeführt wurde, wird mehr auf dem Spiel gestanden haben als bloße Assimilation. Zur performativen Praxis einer indianischen Künstlerin siehe Ruth Spack, Zitkala-Sa, The Song of Hiawatha, and the Carlisle School Band: A Captivity Tale, in: Legacy 25.2.2008, S. 211–24; zu Hiawatha-Interpretationen durch indianische Laienschauspieler siehe Michael David McNally, The Indian Passion Play: Contesting the Real Indian in Song of Hiawatha Pageants, 1901–1965, in: American Quarterly 58.1.2006, S. 105–136; zur Bedeutung von »The Song of Hiawatha« für russisch-orthodoxe, katholische und jüdische Immigranten siehe Trachtenberg, Shades of Hiawatha, S. 98–169. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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mit alt- und neutestamentarischen Erlösungsgeschichten. Dabei verschmelzen in dem Gedicht zentrale Autoritäten, Geschichten und Figuren des Christentums und verschiedener indianischer Religionen Nordamerikas (insbesondere der Anishinaabeg und der Haudenosaunee) zu einer neuen, vermeintlich indianisch geprägten Geschichte. Als Leser und Leserinnen durchleben wir die Lebensgeschichte der Titelfigur: Seine Geburt nach der Affäre einer jungen Frau mit einer Gottheit, Kindheit und Lehrjahre, die von magischen Ereignissen durchzogen sind, adoleszente, aber todernste Kämpfe mit dem göttlichen Vater und mit einem Hecht, der Hiawatha – dem biblischen Jonas gleich – verschlingt, ein tödlicher Ringkampf mit dem in deutschen Küchen so folgenreichen Jüngling Mondamin. Mondamins gewaltsames Ende, sein Begräbnis und die Grabpflege sind die Voraussetzung für den Sprung der poetischen Indianer von der Stufe der nomadischen Sammler und Jäger auf die Stufe der sesshaften Landbesitzer, denn aus Mondamins Grab sprießt bald der Mais und Hiawatha kann nun seine Mitmenschen im Maisanbau unterrichten. Es folgt die Unterweisung in der Bilderschrift und dem Handwerk; erst dann hat der Held die menschliche Reife für die Liebe, die er bei verfeindeten Nachbarn sucht und findet. Die Heirat bringt Aussöhnung und eine Verfeinerung des diplomatischen Protokolls, aber der Friede währt nicht lange, denn bald bedrohen innere Feinde Hiawatha und sein zivilisatorisches Glück. Seine Frau Minnehaha kann zwar in einer nächtlichen Zeremonie den Mais segnen und so eine Anishinaabe Tradition erfüllen, die vom Amateur-Ethnologen Henry Rowe Schoolcraft überliefert worden war,5 jedoch bringen zwei dunkle Gestalten schon bald nach dem nächtlichen, Nacktheit erfordernden, Ritual den Tod. Hiawatha ist nun eine sterile Vaterfigur einer indianischen Land- und Hauswirtschaft, die zwar alle grundlegenden Zivilisa tionstechniken kennt, aber dennoch nicht wirklich zukunftsfähig ist. Und so räumt Hiawatha am Ende des Gedichts seinen Platz als intellektuelle und spirituelle Spitze seiner Gemeinde und überlässt das Feld dem europäischen, katholischen Missionar. Hiawatha wird zum indianischen Grenzer und zieht gen Westen, der Missionar bringt die koloniale Kultur, die nur auf dem von Hiawatha aufbereiteten Boden fruchten kann. Longfellows Gedicht gilt in der Forschung nicht nur als eine besonders einflussreiche koloniale Repräsentation des edlen Wilden und auch des »letzten roten Mannes«, im Amerikanischen mit mehr Aufmerksamkeit für die hierbei zugrundeliegende Metaphorik vanishing Indian genannt; dieses Gedicht ist auch ein Paradebeispiel für die zentrale Bedeutung, die die imaginative Aneignung nordamerikanischer indianischer Kulturen und ihrer herausragenden Persönlichkeiten für die postrevolutionäre und zunehmend imperiale Selbstbestimmung der USA im 19. Jahrhundert hatte.6 5 Henry Rowe Schoolcraft, The American Indians: Their History, Condition and Prospects, from Original Notes and Manuscripts, Rochester 1851, S. 179–181. 6 Vgl. Roy Harvey Pearce, Savagism and Civilization: A Study of the Indian and the Ame rican Mind, Baltimore 1953; Robert Berkhofer; The White Man’s Indian, New York 1978, für den »vanishing Indian«. Für die Bedeutung dieser Repräsentation für das postkoloniale © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Longfellows Ojibwa auf dem Markt der Nahrungsmittel Mit ihrer Benennung nach dem indianischen Korngott in Longfellows »The Song of Hiawatha« suggerierte die neue Maisstärke Mondamin, dass sie ein Produkt des globalisierten zivilisatorischen Fortschritts war, aber dennoch teilnahm an der naturreligiösen Heilsankündigung des Gedichts. An der flüchtigen Verbindung zwischen Longfellow, dem von ihm besungenen, zuvor von Henry Rowe Schoolcraft beschriebenen indianischen Korngott und Mondamin lässt sich exemplarisch zeigen, wie Literatur die Globalisierung des Wissens vorantrieb und auf diese Weise die etablierten Wissensordnungen störte. Seit den 1880ern sind Maisstärke und die aus ihr gewonnenen Nahrungsmittel auf dem amerikanischen Markt bekannt. Damals warb die Columbus, Ind. Cerealine Manufacturing Company mit einer fünfzehnseitigen, im wissenschaftlichen Duktus gehaltenen Broschüre für die Food of Foods Cerealine Flakes. Die Broschüre schließt mit einem Anschreiben von WM. L. Dudley, M. D., Prof. für Chemie, Vanderbilt Universität, Nashville, Tennessee, der sich als gewissenhaft arbeitender Autor der chemischen Analysen zu erkennen gibt. Das kolorierte Heftchen führt in detaillierten Tabellen die chemische Zusammensetzung der Maisflocken auf, vergleicht sie mit bekannten Getreideprodukten und erklärt ihren Nutzen und Anwendungsbereich in der zeitgenössischen Küche und im modernen, ökonomisierten Haushalt. Das wissenschaftliche Argument wird durch Exzerpte aus Longfellows Gedicht gerahmt und mit Illus trationen indianischer Szenen geschmückt. Weder der Name des Dichters noch der volle Name des Gedichts fallen. Allein eine Kapitelüberschrift aus dem »Song of Hiawatha«, ausführliche Hinweise auf die Wertschätzung der »indianischen Ureinwohner« für den Mais und berühmte Zeilen und Posen aus dieser »indianischen Edda«, wie Longfellow sie nannte, genügten, um den Leser und Leserinnen die Gewissheit zu vermitteln, dass das Produkt nicht nur wissenschaftlichen Standards genüge, sondern auch zur seelischen und körperlichen Gesundheit der ganzen Nation beitragen könne.7 Longfellows Gedicht beflügelte die noch junge Nahrungsmittelindustrie auch in Europa. Im Jahr 1896 wurde beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Kennziffer 13311 der Name Mondamin als Markenname eingetragen, 1913 erfolgte die Gründung der heute zum Unilever Konzern gehörenden Mondamin GmbH in Berlin. Auf der Website von Mondamin heißt es gegenwärtig, dass der Name des Produkts auf einen Gott der Azteken zurückgehe. Dieser neue Hinund imperiale Amerika siehe Philip J. Deloria; Playing Indian, New Haven 1998; Trachtenberg, Shades of Hiawatha. 7 [»Hiawatha’s Fasting.«] Cereal Foods Series. Columbus, Ind., Cerealine manufacturing co., [1886?], keine Paginierung, Stanford Special Collections and University Archives, Übersetzung B. B. »Indian Edda«: Henry Wadsworth Longfellow, The Complete Writings of Henry Wadsworth Longfellow, Craigie Edition, 11 Bände, Boston 1904, Band 2, S. 379, zitiert in: Irmscher, Longfellow Redux, S. 106, Übersetzung B. B. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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weis auf die Azteken verbindet das Produkt mit der erfolg- und folgenreichen Geschichte der essbaren Rohstoffe (neben Mais gilt dies vor allem für Tabak, Kaffee und Schokolade), die aus den Kolonien nach Europa kamen und dort umgearbeitet wurden zu Schätzen europäischer Speisekammern. Hatte Longfellows poetische ›Jesus-artige‹ Figur eines mystischen nordamerikanischen Jünglings dem Hersteller im ausgehenden 19. Jahrhundert geholfen, auf dem jungen und skeptisch beäugten Markt der industriell gefertigten Nahrung Fuß zu fassen, so muss derselbe Jüngling im 21. Jahrhundert seinen poetischen Ursprung verhüllen und als beinahe authentischer Azteke gekennzeichnet sein, um den Konsumenten der postindustriellen Wissensgesellschaft etwas zu bedeuten.8
Literatur und die Globalisierung des Wissens Longfellows kometenhafte Reise durch die Lebensmittelwerbung lässt era hnen, wie stark die Literatur an der wechselseitigen Bedingtheit des Ausbaus der Märkte, der lokalen Generierung und globalen Abänderung und Umwertung von Wissen beteiligt ist. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Literatur und Wissen so angespannt, dass es zu einem der ergiebigsten Forschungsgebiete der Literaturwissenschaft gehört.9 Im 19. Jahrhundert waren es vor allem Texte im Format der Dichtung, der Erzählung und des Dramas, die den Menschen in Europa die koloniale und postkoloniale Welt vorstellten. In der Mitte des 8 Firmenseite zu Mondamin unter: www.mondamin.de/historie.asp: »Der Name der Marke Mondamin basiert auf der Maispflanze und ihrer historischen Bedeutung im Reich der Azteken. So erzählt eine Sage der Azteken von der Begegnung des jungen Kriegers Hiawatha und dem Gott Mon-da-min, dem Freund des Menschen. Mon-da-min forderte Hiawatha zum Kampf heraus und verlor. Der besiegte Gott verwandelte sich in ein lebensspendendes Maisfeld. Mais wurde demnach in der indianischen Mythologie zum Geschenk der Götter.« Zur postindustriellen Wissensgesellschaft als einer Gesellschaft, in der diverse Wissensformen zu Waren von höchster gesellschaftlicher Bedeutung werden und gesellschaftliche Entscheidungsträger stärker aus Institutionen der Politik und Bildung als aus dem Bereich der Wirtschaft kommen siehe Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society. New York 1973. Eine Reevaluierung der Rede von der postkapitalistischen Wissensgesellschaft findet sich in Gertraud Mikl-Horke, Historische Soziologie – Sozioökonomie – Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2011, S. 176–178. 9 Vgl. Tilmann Köppe (Hg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. linguae & litterae, Publications of the School of Language & Literature, Freiburg Institute for Advanced Studies, Bd. 4, Berlin 2011; John Gibson u. a. (Hg.), A Sense of the World. Essays on Fiction, Narrative, and Knowledge, New York 2007; Rita Felski, Knowledge, in: dies., Uses of Literature, London, S. 77–104. Eine weitere Forschungsrichtung befasst sich mit der für das neunzehnte Jahrhundert zentralen Verbindung zwischen Literatur und dem Mangel an Wissen. So beispielsweise Michael Bies/Michael Gamper (Hg.), Literatur und NichtWissen: Historische Konstellationen 1730 –1930, Zürich 2012; Andrew Bennett, Ignorance. Literature and Agnoiology, Manchester 2009. Das wohl eindringlichste Beispiel der Bedeutung der Literatur für die Geisteswissenschaften zeigt sich in Hayden Whites The Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1985. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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19. Jahrhunderts gewann Henry Wadsworth Longfellows indianisches Heldenepos zunächst den Wettlauf mit den noch sehr jungen Kulturwissenschaften um die bekanntesten Geschichten über das präkoloniale Amerika: Ein Sieg, der sich nicht nur in einem geradezu wütenden Entwicklungsschub der Anthro pologie und der Ethnologie bemerkbar machte, sondern auch in der Musik und der Kunst, in der Schulbildung und selbst in der Küche Konsequenzen zeigte.10 Dabei hat Literatur, wie Jochen Hörisch in einer süffisanten Mischung aus Platon und James Bond sagt, die »Lizenz zur Lüge« und ist doch zugleich ein schier unendliches und extrem widerständiges Reservoir des Wissens, das Menschen angehäuft haben.11 Literatur kann zugleich Wissen vermitteln, kommentieren, verspotten und sein. Die Wissenschaften wiederum wenden sich der schönen Literatur immer wieder zu, begegnen ihr aber auch mit Skepsis, Vorsicht und manchmal mit Verachtung, da Literatur seit Platon als Medium der moralischen Erziehung wie auch der Verführung gilt.12 Zu den gängigen Annahmen über das Verhältnis von Literatur und Wissen zählt, dass Literatur Wissen vermittelt, bloß veranschaulicht, popularisiert oder im entgegen gesetzten Fall gar antizipiert oder problematisiert. Ein konkretes Wissen kann im Text enthalten sein, der Text kann es bei seinem Publikum voraussetzen oder er selbst kann Wissen sein.13 Rita Felski behandelt Literatur als eine »Form des sozialen Wissens«, die über ein »distinktives Repertoire literarischer Techniken, Konventionen und ästhetischer Möglichkeiten« zur öffentlichen Darbietung von »linguistischen Idiomen und kulturellen Grammatiken« verfügt.14 Die Schöne Literatur zeichne sich durch Polyphonie und Multiperspektivik aus und könne dadurch »ungewöhnliche Kombinationen von Wissensbeständen herstellen und in von den Wissenschaften vernachlässigte Gebiete vordringen.«15 Gern befasst sie sich mit dem Nicht-Wissen, der Unmöglichkeit, zu verlässlichem Wissen zu gelangen, oder den Hindernissen, die sich dem menschlichen Wissensdurst entgegenstellen.16 In dem hier vorgestellten Fallbeispiel des Versepos »The Song of Hiawatha« bestimmt gerade das Fehlen einer klaren, verlässlichen Stimme und die ver gebliche Suche nach definitiven Antworten die Ausgangssituation, in der ein lyrisches Ich wunderbare und wunderbar wahre Geschichten verspricht, ohne seinem Gegenüber genau beantworten zu können, woher diese Geschichten oder Gesänge kommen: 10 11 12 13
Vgl. Trachtenberg, Shades of Hiawatha, S. 88–95. Jochen Hörisch, Das Wissen der Literatur, München 2007. Vgl. Marjorie Garber, The Use and Abuse of Literature, New York 2010, S. 7–17. Tilmann Köppe, Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen, in: Köppe, Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, S. 6. 14 Felski, Uses of Literature, S. 104: »a form of social knowledge«, »a distinctive repertoire of techniques, conventions, and aesthetic possibilities«, »linguistic idioms and cultural grammars.« 15 Michael Gamper; Einleitung, in: Bies/Gamper, Literatur und Nicht-Wissen, S. 9–24. Zitat S. 15. 16 Ebd., vgl. Bennett, Ignorance. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Should you ask me, whence these stories? Whence these legends and traditions, With the odors of the forest, With the dew and damp of meadows, With the curling smoke of wigwams, With the rushing of great rivers, With their frequent repetitions, And their wild reverberations, As of thunder in the mountains? I should answer, I should tell you, From the forests and the prairies, From the great lakes of the Northland, From the land of the Ojibways, From the land of the Dacotahs, […] I repeat them as I heard them From the lips of Nawadaha, The musician, the sweet singer.17
In endlosen, leicht zu erinnernden Schleifen aus Wiederholungen, Parallelismen und Auflistungen verspricht hier ein Sprecher auf der gedruckten Seite die Wiedergabe mündlicher Überlieferungen aus dem präkolonialen amerikanischen Nordosten (Hiawatha) und Nordwesten (Ojibwa und Dacotah). Als Leser und Leserinnen sind wir aufgefordert, uns den fiktiven Autor im Gespräch mit einem der vielen angedeuteten naturverbundenen indianischen Erzähler vorzustellen und auf diese Weise Literatur wieder im Sinne der Antike als gesprochene Sprache zu begreifen.18 Die indianischen Figuren avancieren dadurch zu Vertretern einer amerikanischen Antike, so dass Amerika eine eigene, von Europa unabhängige Geschichte zugesprochen bekommt, die aber mit zentralen Konzepten der europäischen Geschichte erklärt wird. Das präkoloniale Amerika ist somit zugleich als Raum des differenten Wissens anerkannt als auch durch europäische Wissensordnungen annektiert.19 Mit diesem widersprüchlichen Bild einer indianischen Antike greift das Gedicht mit dominantem Gestus aktiv in die Kolonisierung der amerikanischen Ureinwohner ein. Zugleich steuert es aber auch auf unauflösliche Widersprüche zu, wird hier doch »die mündliche und kulturelle Gegenwart der Ojibwa durch die Grammatik und Syntax des ge17 Henry Wadsworth Longfellow, The Song of Hiawatha, in: Poems and Other Writings, New York, S. 141–279, hier S. 141. 18 Vgl. Garber, Use and Abuse, S. 7. 19 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Selbst- und vor allem die Fremdbeschreibung indianischer Redner siehe Timothy J. Shannon, Dressing for Success on the Mohawk Frontier: Hendrick, William Johnson, and the Indian Fashion. William and Mary Quarterly, 3d Ser. 53 1996, S. 13–42; Zur Aneignung des indianischen Amerika durch Projekte des kulturellen und politischen Nationalismus siehe Deloria, Playing Indian. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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schriebenen Englisch« hervorgebracht.20 Allerdings füllen sich diese Widersprüche mit neuem Leben, wenn bei der öffentlichen Rezeption des Gedichts so viele Menschen aus der Erinnerung heraus rezitieren können, dass dem »Song of Hiawatha« eine Rückführung der Geschichte in eine neue Form der mündlichen Überlieferung an bildungsferne Menschen gelingt.21
Longfellows präkoloniales Amerika als intertextuelle Fusion Für seine Auseinandersetzung mit den mündlichen Traditionen der Ojibwa, der Dacotah und der Irokesen und deren Umdeutung im Sinne einer amerika nischen Antike muss Longfellow eratische Kompilationen und heterogene Materialien verwenden, kann aber auf seine eigene jahrelange Erfahrung als einer der ersten amerikanischen Professoren für europäische Sprachen und Literaturen zurückgreifen, da er für seine Tätigkeit am Bowdoin College und an der Harvard University jeweils in Europa Materialien gesammelt, eigens übersetzt und für die zu unterrichtenden Kurse zusammengestellt hatte.22 Diesmal reist er nicht und erlernt auch keine indianischen Sprachen, sondern arbeitet nur mit Büchern. Da ist zum einen eine widerspruchsreiche Tradition der Verwendung indianischer Bilder zur Beschreibung Amerikas. Neben englischen Darstellungen, die indianische Figuren zur Suggestion einer inhärenten zivilisatorischen, technischen und wissenschaftlichen Unterlegenheit Nordamerikas nutzten, stehen amerikanische Rückgriffe auf indianische Gründungsfiguren, die dem Auf- und Ausbau eines republikanischen Selbstbildes dienen. Auch eine eher fortschrittsskeptische europäische Traditionslinie ist vertreten, denn seit Michèle de Montaigne wird das indianische Amerika als Gegenbild des europäischen zivilisatorischen Verfalls bemüht.23 Zum anderen verfügt der Buchmarkt Mitte des 19. Jahrhunderts bereits über eine solide Anzahl historischer Abhandlungen über die diversen indianischen Bünde des kolonialen Nordamerika – insbesondere zu nennen ist hier die Geschichte des Kolonialbeamten Cadwallader Colden, der für die Verhandlungen mit der irokesischen Konföderation zuständig war und das so erlangte Wissen 20 Tom Nurmi, Writing Ojibwe, S. 249: Im längeren Original heißt es »The Song of Hiawatha proffers the oral and cultural presence of the Ojibwe through the grammar and syntax of written English, a project that necessarily collapses under the weight of the contradictions.« 21 Ebd. Nurmi verweist auf Virginia Jackson, The Longfellow Tradition; or, Picture Writing a Nation, Modern Language Quarterly 59.4.1998, S. 471–496. 22 Irmscher, Longfellow Redux, S. 159–160, S. 181–182. 23 Neben Berkhofer, White Man’s Indian, und Deloria, Playing Indian, bieten beispielsweise Kate Flint, The Transatlantic Indian, 1776–1930, Princeton 2009; Helen Carr, Inventing the American Primitive: Politics, Gender and the Representation of Native American Literary Traditions, 1789–1936, New York 1996, und Shari Huhndorf, Going Native: Indians in the American Cultural Imagination, Ithaca 2001, gute Einführungen in kulturelle Arbeit europäischer und amerikanischer Darstellungen indianischer Figuren und Geschichten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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in »The History of the Five Indian Nations« (2 Bde., 1727/1747) niederlegte. Auch ethnografische Studien liegen vor, beispielsweise die umfangreichen Schriften des Entdeckers, Geologen und Ethnografen Henry Rowe Schoolcraft, der zusammen mit seiner Frau Jane Johnston mündliche Traditionen der Ojibwa in den zweibändigen »Algic Researches« (1839) niederlegte, seine Frau jedoch weder hier, noch in vielen der darauf folgenden Studien und Kompilationen als Mitautorin aufführte.24 Johnston war die Tochter des einflussreichen Pelzhändlers John Johnston und einer in indianischen Kontexten mindestens ebenso mächtigen Ojibwa. Sie beherrschte die Sprache, hatte die notwendigen Kontakte und kannte viele der zusammengetragenen Geschichten aus ihrer Kindheit, und doch kam ihr aus damaliger Sicht lediglich die Rolle der Informantin zu.25 Mindestens ebenso wichtig war die erste, extensive anthropologische Studie »League of the Ho-De-No-Sau-Nee, or Iroquois«, die Henry Lewis Morgan 1851 veröffentlichte. Morgan war mit einem ausgeprägten literarischen Interesse und einer nationalkulturellen Ambition an die Arbeit gegangen, als er in den 1840ern einen Geheimbund gründete, der bei der Herausbildung einer klassischen amerikanischen Literatur behilflich sein sollte. Im Rahmen dieses Interesses machte er das Indianerspiel zum zentralen Bestandteil des täglichen Protokolls und fand in der Bemühung um eine authentische Nachahmung irokesischer Kleidung, Sprache und Gebräuche zu einem ernsthaften Studium der Haudenosaunee.26 Schließlich studierten Longfellow und/oder sein Publikum auch die Schriften indianischer Autoren, Berichte von Menschen, die als Kinder verschleppt und von indianischen Familien adoptiert wurden, Legendensammlungen, die von Ehefrauen des amerikanischen Militärs zusammengetragen wurden und Sammlungen der wichtigsten Verträge, welche die Kolonialmächte und die junge Republik mit indianischen Nachbarn geschlossen hatten.27 Im Ergebnis zeigt sich die24 Cadwallader Colden, The History of the Five Indian Nations Depending on the Province of New York. 1727, expanded 1747, Ithaca 1964: Neben den bereits genannten A lgic Researches sind vor allem folgende Werke der Schoolcrafts von Interesse: Henry Rowe Schoolcraft, unter Mitarbeit von Jane Johnston Schoolcraft, Notes on the Iroquois: or, Contributions to the Statistics, Aboriginal History, Antiquities and General Ethnology of Western New York, New York 1846; Millwood, N. Y.: Kraus Reprint, 1975, und Henry Rowe Schoolcraft, Personal Memoirs of a Residence of Thirty Years with the Indian Tribes on the American Frontiers: with Brief Notices of Passing Events, Facts, and Opinions, A. D. 1812 to A. D. 1842, Philadelphia 1851. 25 Schneider, Bethany. Not for Citation: Jane Johnston Schoolcraft’s Synchronic Strategie, ESQ: A Journal of the American Renaissance: 54.1–4. 2008, S. 111–144, hier S. 114. 26 Vgl. Wagner, Irokesen und Demokratie, S. 175–180; Deloria, Playing Indian, S. 71–94. 27 Z. B. die Schriften des Ojibwa George Copway, der später eine Tochter nach der Heldin aus Longfellows Gedicht Minnehaha nennen sollte (Trachtenberg, Shades of Hiawatha, S. 62– 63); John Tanner, A Narrative of the Captivity and Adventures of John Tanner, (U. S. Interpreter at the Sault de Ste. Marie), during Thirty Years Residence among the Indians in the Interior of North America, New York 1830; Mary Henderson Eastman, Dacotah, or Life and Legends of the Sioux Around Fort Snelling, illustriert von ihrem Mann Seth Eastman, veröffentlicht in New York, 1849; Benjamin Franklins umfangreiche Sammlungen indianischer Verträge, herausgegeben in den Jahren 1736–62. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ses disparate Reservoire des Wissens über die indianischen Gemeinschaften des amerikanischen Nordwesten und Nordosten in dem Gedicht nur in höchst synthetisierter Form, obwohl umfangreiche Annotationen dennoch den Eindruck einer wissenschaftlichen Basis der Dichtung vermitteln.28
Literatur, Kunst und Wissen im Spannungsfeld von Globalisierung und Lokalität An dem Beispiel des »Song of Hiawatha« lässt sich erkennen, dass die Literatur ein zentraler Bestandteil kolonialer und imperialer Ökonomien ist und dennoch zugleich die Fähigkeit besitzt, bestehende Ordnungen des Wissens, des Herrschens und des alltäglichen Lebens zu irritieren. Binnen weniger Jahre nach der Veröffentlichung fanden sich auf dem transatlantischen Markt der Produkte und Ideen fast alle Spielarten der intertextuellen Verarbeitung: von der ernsthaften, manchmal nahezu huldigenden Übersetzung oder musikalischen Adaptation über parodistische Illustrationen und Umschreibungen bis zur beißenden Persiflage war alles vertreten. »The Song of Hiawatha« hatte damit sofort und mühelos den Sprung in das Zeitalter der Kulturindustrie geschafft. Sein Ruf allerdings war ruiniert: Literaturkritiker und die erste Generation professioneller Geisteswissenschaftler profilierten sich, indem sie Longfellows Gedicht aus dem Pantheon ernsthafter Literatur verbannten. Schon wenige Dekaden nach seiner Publikation galt Longfellows Hiawatha als die wirklichkeitsgetreueste und zugleich die treuloseste Version des amerikanischen Ureinwohners.29 Was war passiert? Mitte des 19. Jahrhunderts galt Originalität insbesondere im von Kolonialisierung und Globalität gezeichneten Nordamerika als Maxime der Literatur. Longfellows Arbeit mit Versatzstücken einer Vielzahl literarischer und wissenschaftlicher Texte erzeugte Gegenwehr. Das Gedicht wiederholt beispielsweise durchaus genüsslich den Fehler aus dem »Algic Researches« des Amateur-Ethnologen Henry Rowe Schoolcraft, indem es Hiawatha als einen mythischen Ojibwa bezeichnete.30 Diese Wiederholung der Verwechslung hat eine ganze Generation junger Studenten und Universitätsabsolventen in ihrer Ambition beflügelt, sich in einer reichen Mischung der verschiedenen indianischen 28 Ein Großteil dieser Intertexte wird von Irmscher, Longfellow Redux und Trachtenberg, Shades of Hiawatha, diskutiert. 29 So Carr, Inventing the American Primitive, S. 124. Zum umstrittenen Ruf des Dichters und seiner Verbannung aus dem Pantheon der angesehenen Literatur siehe Irmscher, Longfellow Redux, S. 7–23. 30 Eine ausführliche Darstellung des Aufruhrs und der konkreten Konflikte an der von Longfellows Gedicht berührten Schnittfläche von Wissenschaft und Literatur findet sich bei Christoph Irmscher, Longfellow Redux, S. 106–109. Irmscher führt unter anderem eine Korrespondenz zwischen Longfellow und Ferdinand Freiligrath an, nach der Longfellow sehr wohl um die Verortung Hiawathas in der irokesischen Kultur wusste, den Namen aber aus Gründen des guten Klangs dennoch wählte. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Erdichtetes Wissen über das präkoloniale Amerika
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Sprachen, Traditionen und Historien zurechtfinden zu wollen und die Geschichten endlich »richtig« zu erzählen. Forscher wie Horatio Emmons Hale (1817– 1896), einer der ersten, noch philologisch geschulten Anthropologen Nordamerikas, und Arthur Caswell Parker (1881–1955), der erste Präsident der Society for American Archaeology und nebenbei ein Mann mit irokesischen Vorfahren und indianischer Sozialisation, gehören zu einer langen Reihe von Geisteswissenschaftlern des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die mit den indianischen Fusionen des »Song of Hiawatha« rangen.31 Eine weitere Anleihe war mindestens ebenso problematisch. Longfellow hatte offensichtlich eine europäische, literarische Quelle ausgiebig genutzt ohne sie aufzuführen. Er bediente sich bei einer deutschen Übersetzung des finnischen Epos »Kalevala«, das der Mediziner Elias Lönnrot in Nordfinnland zusammengetragen und 1835 veröffentlicht hatte. Dieses Werk, das in Finnland eine große Rolle im zeitgenössischen kulturellen Nationalismus spielte, diente als Vorlage für das ungewöhnliche Metrum des »Song«, den trochaischen Tetrameter und für zentrale Szenen der beiden Texte. Diese Entdeckung zerstörte die Autorität des »Song of Hiawatha« als indianisches Epos und spornte ebenfalls zur ernsthaften wissenschaftlichen Forschung an.32
Schlussbetrachtung In seiner intensiven Vernetzung heterogener Texte forcierte Longfellows Vers epos eine Form der öffentlichen, performativen Dichtung, die es ihren Leserinnen und Lesern erlaubte, im Rahmen des eigenen Umgangs mit dem Gedicht ein neues nationales Selbstverständnis zu formulieren und Dichtung zu einer schwer zu berechnenden, aber nie zu unterschätzenden Größe in der öffent lichen Kommunikation zu machen. Indem das Gedicht »ein allgemeines amerikanisches historisches Vokabular« schuf, wurde es nun seinerseits verfügbar für diverse Formen der Adaptation, der Übertragung und der Verarbeitung – die Verwertung in der Lebensmittelindustrie inbegriffen.33 »The Song of Hiawatha« wurde Vorbild für eine Form der künstlerischen Synthese, in der lokale, koloni31 Siehe Horatio Hale, A Lawgiver of the Stone Age, in: Proceedings of the American Association for the Advancement of Science 30 1881, S. 324–341, nachgedruckt in: Elisabeth Tooker (Hg.), An Iroquois Source Book, Bd. 1, Political and Social Organization, New York 1985, S. 324–341; zu der beruflichen Laufbahn von Hale und Parker siehe William N. Fenton, Hale, Horatio Emmons, in: Dictionary of Canadian Biography Online, Bd. 12, 1891– 1900, unter: http://www.biographi.ca/009004-119.01-e.php?&id_nbr=6139, 10.01.2013; und Chip Colwell-Chantahaphonh, Inheriting the Past. The Making of Arthur C. Parker and Indigenous Archaeology, Tucson 2009. 32 Zur Kalevala-Anleihe Irmscher, Longfellow Redux, 107 und Tom Nurmi, Writing Ojibwe: Politics and Poetics in Longfellow’s Hiawatha, in: The Journal of American Culture 35:3. 2012, S. 244–257, hier S. 249–251. 33 Nurmi, Writing Ojibwe, spricht von »a common American historical vocabulary« (S. 247). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ale, imperiale, nationale und selbst postkoloniale Elemente zu neuen Geschichten verbunden werden konnten. In der Musik, in der Pädagogik und in der neuen Disziplin der Anthropologie war Longfellows Gedicht über das präkoloniale Nordamerika wegweisend, wobei in keinem der genannten Felder der Innovation gern über die dichterische Ideenstiftung gesprochen wurde. Etwas Grund legendes geschah also ein weiteres Mal mit den etablierten Ordnungen des Wissen, als »The Song of Hiawatha« aufgegriffen wurde von Immigranten, von indianischen Schauspieler/innen und Künstler/innen und von Komponisten und Bildhauern wie Antonín Dvořák, Samuel Coleridge-Taylor und Edmonia Lewis, die selbst mit den Folgen des Kolonialismus haderten, weil sie als ethnisch markierte Kunstschaffende vermarktet wurden.34 Diese Weiterverarbeitungen wurden zu Bestandteilen von öffentlichen Ritualen im Bann des »Song of Hiawatha«. Sie sicherten den Auf- und Ausbau einer polyvalenten, demokratisierenden, gemeinschaftlichen Sprechweise, die zu einem wichtigen Baustein der sozialen Mobilität einer expandierenden kapitalistischen Gesellschaft wurde.35 Als öffentlich gelebte und geteilte Formen der Literatur ergänzten diese Aufführungen die Irritationen, die das Gedicht selbst hervorgebracht hatte. Fusionierte das Gedicht indianische, amerikanische und europäische Produkte und Verfahren des Wissens und provozierte auf diese Weise die noch jungen Geisteswissenschaften zu einer professionelleren, systematischeren Auseinandersetzung mit dem präkolonialen Amerika und mit der amerikanischen Literatur, so vermochte der generalisierte, nunmehr als ethnisch markierte »Hiawatha« mit Hilfe der Nahrungsmittelindustrie das tägliche Leben der Konsumenten zu ändern. Eine Literatur, die nicht mehr ihrem Autor gehört, sondern als Allgemeingut von ihren Leserinnen und Lesern in immer neue Kontexte getragen und dort neu eingebettet wird, stört die etablierten Verfahren der Wissensproduktion auf höchst effektive Weise, lädt sie doch zu Formen des Synkretismus und der Synthese ein, die inmitten des Vorgewussten Neues schaffen.
34 Trachtenberg, Shades of Hiawatha, S. 86–97, zu den diversen Formen des modernen Hiawatha Spektakels in Kunst, Musik und Aufführung. Zu der Aufführung des Song of Hiawatha durch indianische Schauspieler und Schauspielerinnen siehe Spack, Zitkala-Sa; McNally, The Indian Passion Play. Der Fall der Longfellow-Verarbeitung durch Antonín Dvořák ist besonders komplex, denn Dvořák war als Komponist einer neuen tschechischen nationalen Musik von einer amerikanischen Millionärswitwe zum Direktor des New Yorker Conservatory of Music berufen und mit dem Entwurf einer amerikanischen Schule der klassischen Musik beauftragt worden. Dort setzte er sich für die Komposition seiner Neunten Symphonie (Aus der Neuen Welt) mit einer Libretto-Fassung des Gedichts auseinander und trat zudem öffentlich dafür ein, dass eine genuin amerikanische Musik europäische, afrikanische und indianische Traditionen integrieren müsse. Vgl. Klaus Döge, Antonín Dvořák: Leben – Werke – Dokumente, Zürich 1992, S. 255–287. 35 Zur demokratisierenden Sprechweise Leo Marx, The Pilot and the Passenger: Essays on Literature, Technology, and Culture in the United States, New York 1988, S. 274. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Kathrin Reinert
Das Antlitz der Anderen Fotografie und Wissen von argentinischen indígenas, 1879–1910
Unmittelbar nachdem Häuptling Pincén 1878 verhaftet worden war, brachte ihn ein Polizeikonvoi zu einem Fotostudio. Bis heute kennt man ihn als halbnackten Indianer mit Lanze und boleadoras, wie er etwas deplatziert vor einer gemalten Kulisse posiert. In der Version als Postkarte wurde das Motiv obendrein mit zarten Pastelltönen koloriert. Warum ließ die argentinische Regierung Pincén in dieser Weise inszenieren? Der vorliegende Beitrag behandelt die Erforschung einheimischer Bevölkerungsgruppen in Argentinien. Er beschreibt den fotografischen Zugriff auf menschliche »Objekte der Forschung« und die Prozesse der Bedeutungszuschreibung anhand der wissenschaftlichen Fotografien von indígenas aus der Pampa und Patagonien.1 Chronologisch setzt der Artikel bei der Campaña del Desierto (1879–1885) an und endet mit den Feierlichkeiten zur einhundertjährigen Unabhängigkeit (Centenario) im Jahr 1910. Im Verlauf dieser drei Jahrzehnte änderten sich die Formen und Räume des Kontakts zwischen Forschern und zu Erforschenden: die indígenas, sofern sie die Kampfhandlungen überlebt hatten, wurden als Gefangene in die städtischen Zentren am La Plata-Fluss gebracht. Dort waren sie dem fotografischen Zugriff von Seiten der Polizei und Mitarbeitern wissenschaftlicher Institutionen gleichermaßen ausgesetzt. Die Möglichkeiten für die Wissenschaftler, sich diese Abbilder weitgehend ohne Rücksicht auf persönliches Einverständnis der Betroffenen anzueignen, blieben über lange Zeit unverändert bestehen. Nach einer kurzen Skizze des historischen Kontextes beschreibe ich ver schiedene Szenarien, in denen fotografische Aufnahmen von indígenas gemacht wurden, wobei auch deren Handlungsspielräume als »Modelle« berücksichtigt werden. Die Bilder inszenierten Einheimische als exotische »Andere«. Sie nutzten die vorgebliche Objektivität des Mediums, um die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen zu steigern. So wurde der Diskurs über die Inferiorität der indígenas gestützt. Die Aneignung der Territorien der indígenas durch den argenti1 Die Nachkommen dieser Bevölkerungsgruppen bezeichnen sich heute als pueblos origi narios oder pueblos indígenas, vgl. die Sprachregelung der nationalen Indigenen-Organisation in Argentinien (Organización de Naciones y Pueblos Indígenas en Argentina (ONPIA)), unter: http://www.onpia.org.ar/, eingesehen am 19.09.2012. Die deutschen Übersetzungen des Begriffs »indígena« umfassen u. a. auch die Bedeutungen »Eingeborene« oder »Ureinwohner«, die jedoch stark kolonialistisch konnotiert sind und daher in diesem Beitrag nicht benutzt werden. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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nischen Nationalstaat konnte auf diese Weise auch mit Hilfe wissenschaftlicher Fakten und neuer wissenschaftlicher Methoden (wie der Fotografie) legitimiert werden.
Staat und indígenas in Argentinien, 1879–1910 Einhundert Jahre nach der so genannten »Mairevolution« vom 25. Mai 1810 beging die Bevölkerung in Argentinien mit den Centenario-Feierlichkeiten das Jubiläum der Unabhängigkeit des Landes von Spanien. Damit endete ein Jahr hundert der nationalen Einigung, das eine von Konflikten zwischen föderalen und zentralistischen Kräften (1810–1862) geprägte Phase und die Epoche der Konsolidierung bis 1930 umfasste. Von relativer Ruhe und Prosperität war die Periode von 1880 bis 1910 geprägt (»konservative Ordnung«). Die liberalen Kräfte unter General Julio Argentino Roca betrieben die Modernisierung des staatlichen Territoriums und die Integration der argentinischen Wirtschaft in den Weltmarkt.2 Dies entspricht einem globalen Muster, das Christopher A. Bayly in Bezug auf die Nationalstaatsbildung und der weltweiten Angleichung der Ökonomien im langen 19. Jahrhundert beobachtet hat: Imperialismus und Kolonialismus waren nur eine, oftmals gewaltsame Dimension sehr viel allgemeinerer Entwicklungen, in deren Verlauf der Nationalstaat und die kapitalistische Wirtschaft ihre eigenen inneren Grenzen überwanden und veränderten.3
Die von Juan Bautista Alberdi (1810–1884) geprägte Formel »Regieren heißt bevölkern«4 umschreibt die Absicht der Staatsführung, mit Hilfe massiver Einwanderung die Nation zu stärken. Gewünscht wurden vor allem Immigranten aus den nordeuropäischen Staaten. Eine »weiße Nation« sollte dank ihrer rassisch bedingten Überlegenheit zu neuer Prosperität führen. Den größten Anteil der über drei Millionen Einwanderer, die sich zwischen 1871 und 1914 dauerhaft in Argentinien niederließen, stellten jedoch Italiener und Spanier.5 1910 feierte diese stark gewachsene Bevölkerungsgruppe nun gemeinsam das Jubiläum einer Nation, die politisch konsolidiert, sozial homogen und in wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen modern erscheinen sollte. Tatsächlich aber war 2 Vgl. Sandra Carreras/Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, Frankfurt 2010, S. 131. 3 Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt, Frankfurt 2006, S. 540. 4 »Gobernar es poblar.« Die These, dass Einwanderung aus dem europäischen Norden die Lösung für das dünn besiedelte und wenig modernisierte Land sein könnte, stammt aus A lberdis meist beachtetem Werk Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, das 1852 erschien und maßgeblich die ein Jahr später verabschiedete Verfassung beeinflusste. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, hier besonders S. 103–108. 5 Ezequiel Gallo, Argentina: society and politics, 1880–1916, in: Leslie Bethell (Hg.), The Cambridge history of Latin America, Cambridge 1986, S. 359–391, hier S. 363. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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die Nationsbildung6 auf politischer7 wie territorialer und ganz besonders auf der ethnisch-sozialen Ebene schleppend verlaufen. Weite Teile im Süden (Pampa und Patagonien) waren bis 1879 eine frontier8 geblieben. Im Gebiet zwischen den Flüssen Pilcomayo und Bermejo (Chaco Central) an der Grenze zu Paraguay dauerte die Integration in die staatliche Verwaltungs- und Infrastruktur sowie die Durchsetzung moderner Produktionsformen sogar bis in die 1930er Jahre. Die Auseinandersetzungen staatlicher Organe mit den einheimischen Bevölkerungsgruppen des Südens und des Chaco Central wurden von beiden Seiten zunehmend aggressiv geführt. Von 1879/80 an wurden die Verbünde der indígenas in der Pampa und in Patagonien unter der Führung des Generals Julio A. Roca (1843–1914) besiegt.9 Das staatlich kontrollierte Territorium wurde im Rahmen der so genannten »Wüstenfeldzüge« bis 1885 weit über das bis dato militärisch beherrschte und zivilgesellschaftlich integrierte Gebiet hinaus ausgedehnt, wobei auf Freiheitsund Siedlungsrechte der einheimischen Völker keinerlei Rücksicht genommen wurde.10 Einzig im Grenzgebiet zu Paraguay und Bolivien war noch infrastrukturell und wirtschaftlich zu erschließender Raum vorhanden. 1881–1884 kam es zu vergleichbaren Feldzügen im Chaco Central. Teilweise wird die physische Vernichtung der indígenas durch die Bundesarmee von der Forschung als Genozid bezeichnet.11 Den traditionellen Siedlungs- und kulturellen Ausdrucks formen der indígenas begegneten die staatlichen Organe mit Repression. Auf diese Weise konsolidierte sich die Nation räumlich, indem der Staat das »von 6 Zum Zusammenhang, der zwischen »nation building« und der »imagined community« besteht, siehe Benedict R. Anderson, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, neu durchgesehene Ausgabe, London 2006. 7 Eine Verfassung hatte sich Argentinien erst 1853 gegeben, sie blieb bis 1930 in Kraft. Vgl. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 85. 8 Der historiografische Begriff frontier meint keine staatsrechtliche Grenze, sondern eine räumliche Kategorie: »In ihr geht das von einem Staat beanspruchte Territorium in Gebiete über, in denen indigene Gemeinwesen siedeln, die vorstaatlich verfasst sind. Größe und Ausdehnung der frontier sind unbestimmt. Ein benachbarter Staat betrachtet sie für gewöhnlich als zukünftiges Kolonisationsgebiet.« Michael Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, München 2009, S. 8. Zur Organisation der indigenen Herrschaft siehe beispielsweise Julio Esteban Vezub, Valentín Saygüeque y la Gobernación Indígena de Las Manzanas. Poder y etnicidad en la Patagonia septentrional (1860–1881), Buenos Aires 2009. 9 Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 104–105. Siehe auch Susana Bandieri, Historia de la Patagonia, Buenos Aires 2005; Gastón Pérez Izquierdo (Hg.), La campaña del desierto, Buenos Aires 2009; Ramón las Mercedes de Tissera, Chaco. Historia general, Resistencia 2008. 10 Vgl. Susana Bandieri, Historia de la Patagonia, Buenos Aires 2005, Ernesto Del Gesso, Pampas, araucanos y ranqueles, Buenos Aires 2007, Gastón Pérez Izquierdo (Hg.), La campaña del desierto, Buenos Aires 2009. 11 Vgl. Michael Riekenberg, »Aniquilar hasta su exterminio a estos indios…«. Un ensayo para repensar la frontera bonaerense (1770–1830), in: Ibero-Americana Pragensia 30. 1996, S. 61–75. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ihm beanspruchte Territorium endgültig in Besitz [nahm]. Die frontier existierte nicht mehr.«12 Staatliche Institutionen wie das Museo de La Plata förderten die ethnologische Erforschung der südamerikanischen Ethnien: Südamerikanische Ethnien, die kurz zuvor im so genannten Wüstenfeldzug (1879) von der argentinischen Armee besiegt worden waren und deren materielle Kultur wurden im Museum einem sich formierenden bürgerlichen Publikum präsentiert. Damit trug das Museum als symbolischer Ausdruck des Kampfes zwischen ›Zivilisation‹ und ›Barbarei‹ zur Bildung der nationalen Identität Argentiniens bei.13
Evolutionistische Theorien und Techniken einer bildlichen Darstellung, die das Individuum zunehmend in den Hintergrund (etwa in Form anthropometrischer Fotos oder sog. Typen-Aufnahmen) rückte, erleichterten die Vereinnahmung der indígenas als Gegenbild zur »weißen Nation« und rechtfertigten die Landnahmen der Regierung in Buenos Aires unter dem Deckmantel des Fortschritts und allgemeiner Wohlfahrtssteigerung. Populärwissenschaftliche Medien, beispielsweise Bildpostkarten oder bebilderte Artikel in Journalen wie Caras y Caretas, verbreiteten das Bild der indígenas als der »Anderen«, sie wurden auf eine Stufe gestellt mit weiteren Gruppen, die am Rande der bürgerlichen Gesellschaft lebten, Sucht- oder Erbkranke, Kriminelle etc.14 Die Integration der frontier bedeutete die Errichtung kolonialer Verhältnisse ohne Kolonialismus.15 Eugenische Überlegungen motivierten die politischen Eliten,16 die einheimischen Bevölkerungsgruppen und ihre Kultur auf Grund biologisch-rassistischer Vorstellungen zurückzudrängen und Nordeuropäer, die moralisch und kulturell besser angesehen waren, zur Besiedlung der ehemaligen frontier anzuwerben. Die Regionen im Süden und Nordosten wurden gezielt als eine menschenleere Landschaft dargestellt, die nur auf die Einwanderer und deren ökonomische Aktivitäten warten würden. Die militärischen Unter nehmungen tragen bis heute in der nationalen Historiografie die Bezeichnung Campañas del Desierto (Wüstenfeldzüge). Sowohl an den Militäraktionen als auch an einzelnen Expeditionen in späteren Jahren waren Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, zum Beispiel Astro nomen und Meteorologen, Topografen und Ingenieure, Naturwissenschaftler et cetera beteiligt, die meist vom Staat finanzierten Institutionen an-
12 Michael Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 105. 13 Gregor Wolff/Katrin Hoffmann, Ethnologie Argentiniens und internationale Wissens zirkulation: Nachlass von Robert Lehmann-Nitsche (1872–1938), in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 44. 2007, S. 311–322, hier S. 313–314. 14 Eduardo A. Zimmermann, Racial Ideas and Social Reform: Argentina, 1890–1916, in: Hispanic American Historical Review 72. 1992, 1, S. 23–46. 15 Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 2006, S. 21. 16 Nancy Leys Stepan, The hour of eugenics. Race, gender, and nation in Latin America, Ithaca 1996. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gehörten.17 Die Forscher lieferten einerseits der Staatsführung in Buenos Aires Argumente zur Legitimation der staatlichen Inbesitznahme der frontier. Andererseits sammelten sie praktisches Wissen, mit dessen Hilfe diese Regionen überhaupt erst von einem modernen Staatswesen kontrolliert und ein kapitalistisches Produktionssystem etabliert werden konnten. Solche Wissensbestände, ihre Entstehungs- und Überlieferungspraktiken bezeichnet die Historiografie als colonial knowledge18. Bei der Produktion, Archivierung und (populären) Weitergabe des kolonialen Wissens in Argentinien kamen verschiedene Medien zum Einsatz.
Indígenas – Objekte der Fotografen und Forscher Eines davon war die Fotografie. Ihre verschiedenen Verfahren waren 1839 in England und Frankreich bekannt gemacht worden und innerhalb weniger Monate auch nach Lateinamerika gelangt.19 Seither war die Fotografie technisch weiterentwickelt worden,20 so dass ihr Einsatz auf längeren Expeditionen möglich wurde. Die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen passten rasch ihre Methodik an und wählten statt Zeichnung und Stichen nun das neue Visualisierungsmedium Fotografie, so auch die Anthropologie. Ein Beispiel hierfür ist Gustav Fritsch (1838–1927), der 1870 nicht nur für deutsche Forschende gültige Regeln zur wissenschaftlichen Fotografie des Menschen entwickelte.21 Aber auch die Wiedergabe ihrer Motive in verschiedenen gedruckten Medien, wie der illustrierten Presse oder auf Bildpostkarten, wurde zunehmend kostengünstiger. Nun konnten es sich Bürgerliche und Arbeiter gleichermaßen leisten, visu17 Lois nennt beispielsweise das Instituto Geográfico Argentino (1879–1930) und die So ciedad Geográfica Argentina (1881–1890). Carla Lois, De desierto ignoto a territorio representado. Cartografía, estado y territorio en el Gran Chaco argentino, 1866–1916, Buenos Aires 2004, S. 32–40. 18 Der Begriff stammt aus der vor allem britischen Imperialismusforschung und steht für »the form and content of the knowledge that was produced out of and enabled resource exploitation, commerce, conquest, and colonization«. Tony Ballantyne, Colonial Knowledge, in: Sarah E. Stockwell (Hg.), The British Empire. Themes and perspectives, Malden MA 2008, S. 178. Auch wenn es sich im argentinischen Fall um Kolonien ohne Kolonialismus handelt, diente das gesammelte Wissen den gleichen Zwecken wie im Falle britischer, deutscher oder französischer kolonialer Aktivitäten in Asien oder Afrika, weshalb eine Anwendung des Begriffs auch im Falle der frontier-Gebiete Südamerikas um 1900 sinnvoll erscheint. 19 Keith McElroy, The Daguerrean Era in Peru. 1839–1859, in: History of Photography 3.1979.2, S. 111–123. 20 Ein kurzer Abriss der technischen Fotografiegeschichte findet sich bei Jens Jäger, Foto grafie und Geschichte, Frankfurt 2009, S. 46–73. 21 Siehe auch Kathrin Reinert, Vernetzung durch Visualisierung? Wissenschaftliche Fotografie bei Max Uhle und Robert Lehmann-Nitsche, in: GILCAL-Arbeitspapiere zur Ibero romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft 8. 2011, S. 7–28, hier S. 10. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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elle Motive zu sammeln.22 Immer größere Bevölkerungskreise hatten damit Zugriff auf die ständig wachsende Bilderflut.23 Gleichzeitig hielten die Zeitgenossen sie für ein Medium, das »automatisch« Bilder erzeuge, die deshalb in besonderer Treue ihren Abbildungsgegenstand repräsentierten und die, wie die Wissenschaftshistoriker Daston und Gallison ausgeführt haben, als »objektive Bilder« wahrgenommen wurden.24 Diese zeitgenössische Wahrnehmung war ein Trugschluss, schließlich entscheidet auch der Fotograf bei einem technisch erzeugten (Negativ)Bild stets über Art und Inhalt des Motivs.25 Den Diskurs über die Augenzeugenschaft der Fotografie nutzten wiederum die Wissenschaftler und Politiker, um die Vorstellungen der breiten Öffentlichkeit von den »Wüsten bewohnern« der frontier gezielt zu formen. Denn diese Bilder entstanden nicht ohne Grund. Aus einem positivistischen Wissenschaftsverständnis heraus sollten alle Personenkreise, die in der einen oder anderen Weise von der sozialen Norm abwichen, identifiziert werden, um die Gesellschaft wirkungsvoll vor ihnen schützen zu können. Disziplinen wie die Anthropologie, Psychiatrie oder Kriminologie erfuhren deshalb im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert große Unterstützung. Innerhalb dieses Panoramas sollte die Anthropologie »rassisch« andersartige Personengruppen identifizieren und beschreiben.26 Die Fotografie diente dabei als Methode nicht zur Identifizierung einzelner Personen, sondern zur Klassifizierung von Gruppen anhand so genannter typischer Merkmale etwa der Physiognomie, wie sie die anthropometrische Fotografie festhielt.27 Aber auch in den Bereichen der 22 Karin Walter, Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 46–61, hier S. 49. 23 Eine statistische Angabe der genauen Nutzung der Fotografie durch die Mitglieder einzelner Bevölkerungsschichten ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht angestellt worden. Ausschnitte beleuchten aber zum Beispiel Daniel James/Mirta Zaida Lobato in ihrem Aufsatz: Family photos, oral narratives, and identity formation: the Ukrainians of Berisso, in: Hispanic American Historical Review 84.2004.1, S. 5–36 oder der Ausstellungskatalog von Barbara Göbel/Mirta Zaida Lobato (Hg.), ¡Al pueblo argentino de 2010! Culturas en movimiento en el Río de la Plata, octubre – noviembre 2010 (exposición), Buenos Aires 2010. Die Praxis des Sammelns von Bildpostkarten behandelt Carlos Masotta, Representación e iconografía de dos tipos nacionales: el caso de las postales etnográficas en Argentina 1900–1930, in: Marina Baron Supervielle (Hg.), Arte y antropología en la Argentina, Buenos Aires 2005, S. 65–114. 24 »The automatism of the photographic process promised images free of human interpre tation – objective images, as they came to be called.« Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, New York 2010, S. 130–131. 25 Jäger, Fotografie und Geschichte. S. 11. 26 Marta Noemi Penhos, Frente y perfil. Una indagación acerca de la fotografía en las prác ticas antropológicas y criminológicas en Argentina a fines del siglo XIX y principios del XX, in: Marina Baron Supervielle (Hg.), Arte y antropología en la Argentina, Buenos Aires 2005, S. 15–64, hier S. 26. 27 Zur Bedeutung der Typenfotografie siehe auch Paul Hempel, Facetten der Fremdheit. Kultur und Körper im Spiegel der Typenphotographie, in: Hans-Peter Bayerdörfer u. a. (Hg.), © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Psychiatrie und Kriminologie wurde mit vergleichbaren Methoden gearbeitet.28 Deshalb fanden die Frontal- und Profilaufnahmen, die man als Betrachter oder Betrachterin spontan mit einer Verbrecherkartei assoziieren könnte, in allen diesen Disziplinen Anwendung. Als zu Beginn der 1880er Jahre die caciques29 der frontier militärisch besiegt worden waren, brachte man sie und die Mitglieder ihrer Sippen als Gefangene nach Buenos Aires, wo sie in professionellen Fotostudios einerseits erkennungsdienstlich, andererseits auch im Porträtformat fotografiert wurden.30 Dazu kamen die Verfahren zum Einsatz, die von Alphonse Bertillon zur Identifikation von Kriminellen entwickelt worden waren:31 Die überlieferten Fotografien zeigen die indígenas jeweils frontal und im Profil. Ihre Frauen und Töchter wurden oft im Dreiviertel-Profil abgelichtet, um ihre Frisuren gleichermaßen abbilden zu können. Die Fotografen machten auch individuelle Porträtaufnahmen ranghoher indígenas. Diese Bilder verlassen den strengen Rahmen anthropo metrischer Fotografie. Der Kazike Valentín Sayhueque posiert auf einem solchen Porträt mit Hut und Reitstiefeln.32 Auch andere Kaziken wurden im Studio porträt festgehalten. Die deportierten indígenas hatten bald den Diskurs dieser fotografischen Praxis erkannt und verweigerten sich ihr erfolgreich. Denn sie wollten durch die Vermessung und fotografischen Aufnahmen nicht als Kriminelle markiert wer-
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Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 177–205, hier S. 183. Zu den historischen Verfahren der Kriminologie siehe Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999 wie auch das Kapitel zu »Science and Social Science« bei Mary Warner Marien, Photography. A cultural history, London 2011, S. 147–161. Der Begriff cacique, zu deutsch: Kazike, bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch das politische Oberhaupt einer einheimischen ethnischen Gruppe. Vgl. Real Academia Española, Diccionario de la lengua española22, unter: http://lema.rae.es/drae/?val=Cacique. Die bekanntesten caciques waren Namuncurá, Orkeke, Inakayal, Sayhueque, Foyel, Casimiro, Pincén etc. Ihre Porträts sind heute einfach im Internet aufzufinden. Carlos Masotta, El atlas invisible. Historias de archivo en torno a la muestra »Almas Robadas – Postales de Indios« (Buenos Aires, 2010), in: Corpus. Archivos virtuales de la alteridad americana 1. 2011, 1, S. 1–22, hier S. 6. Ebd. S. 6. Das System der Personenbeschreibung nach Alphonse Bertillon, die Bertillonage, sollte ursprünglich der Identifikation von Kriminellen dienen. Kombiniert mit eugenischen Überlegungen von Autoren wie Francis Galton und Arthur Batut und unter Anwendung fotografischer Methoden fand es ab den 1890er Jahren auch Anwendung in der Anthro pologie. Im Original nachzulesen bei Alphonse Bertillon, Signaletic instructions including the theory and practice of anthropometrical identification, Chicago 1896. Vgl. Jens Jäger, Photography: a means if surveillance? Judicial photography, 1850 to 1900, in: Crime, Histoire & Sociétés 5. 2001, 1, S. 1–22 hier, S. 10–11 und Juan Naranjo, Fotografía, antropología y colonialismo. (1845–2006), Barcelona 2006, S. 14–15. Ein Ausschnitt dieser Aufnahme ist seit 2006 zusammen mit seiner Unterschrift auf einer Briefmarke der argentinischen Post zu sehen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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den.33 Der Anthropologe des Museo de La Plata, Herman ten Kate, erlebte eine solche Situation 1896. Der Museumsdirektor, Francisco P. Moreno, ›überließ‹ ihm eine Gruppe indígenas, damit ten Kate diese anthropometrisch vermessen und fotografieren sollte. Die nicht näher beschriebenen Mitglieder einer als »Araukaner« bezeichneten, autochthonen Volksgruppe wurden von zwei Polizisten zum Museum begleitet, die sich über die technischen Hilfsmittel solcher Messungen unterhielten. Sie bezogen sich in ihrem Gespräch auch auf die Bertillonage. Die indígenas widersetzten sich daraufhin den Messungen und Fotografie-Versuchen. Ten Kate schilderte die Szene in der Zeitschrift des Museums: Bei ihnen waren zwei Polizeibeamte und sie hatten sie vom anthropometrischen Verfahren Bertillons sprechen hören, das man auch hier in La Plata anwendet. Nun aber glaubten sie, meine Forschungen hätten etwas mit der Polizei zu tun, und wollten nicht wie gewöhnliche Verbrecher behandelt werden, daher weigerten sie sich, sich [der Messung] zu unterziehen.34
Ten Kate betont, dass er solche Schwierigkeiten mit einheimischen ›Modellen‹ nie zuvor erlebt hätte. Erst als ein einheimischer Übersetzer, der langjähriger Mitarbeiter der Forscher war, dessen Tochter und ein weiterer indígena sich vermessen ließen, folgten einzelne Mitglieder der Gruppe ihrem Beispiel. Der Schluss liegt nahe, dass die indígenas die erkennungsdienstlichen Prozeduren, mit denen Verhaftete erfasst wurden, kannten. Die Schilderung des Forschers über ihre mangelnde Kooperation ist eine der seltenen Überlieferungen der Handlungsspielräume der Einheimischen. Wenn auch indirekt, gibt die Quelle Auskunft darüber, dass in begrenztem Ausmaß Möglichkeiten bestanden, sich der fotografischen Markierung zu entziehen. Daneben gab es aber auch Fotografien, die in den Gefangenenlagern in der Ortschaft El Tigre oder auf der Insel Martín García im Delta des La Plata-Flusses entstanden. Die indígenas waren über 18 Monate in El Tigre inhaftiert.35 Die erste Abbildung aus dem Jahr 1884 zeigt Modesto Inakayal mit seinen Angehörigen und Gefolgsleuten. Die Fotografie rückt zwei männliche Personen ins Zentrum des Bildes und der Aufmerksamkeit, deren Kleidung eine Mischung aus einheimischen Umhängen und europäisch geprägter Mode darstellt. Bei näherer Untersuchung des Bildes fällt auf, dass auch der cacique Inakayal, in zweiter Reihe als vierter Mann von links, westlich gekleidet war. Statt sich den Anforderungen einer Inszenierung zu beugen, trug er hier seine tägliche Kleidung und 33 Penhos, Frente y perfil, S. 35. 34 »Comme il y avait deux agents de police parmi eux, ils avaint entendu parler du service anthropométrique de Bertillon, tel qu’on l’applique aussi à La Plata. Or, ils se figuraient que mes recherches avaient quelque chose à faire avec la police et ne voulant pas ètre traités comme vulgaires malfaiteurs, ils refusaient de s’y soumettre.« Wiedergabe des französischen Originaltextes von ten Kate nach Milcíades A. Vignati, Iconografía aborígen, Sonderheft der Revista del Museo de La Plata 2. 1942, hier S. 17 [Übersetzung KR]. 35 María Luz Endere, Cacique Inakayal. La primera restitución de restos humanos ordenada por ley, in: Corpus. Archivos virtuales de la alteridad americana 1. 2011, 1, S. 1–7, hier S. 1. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Abb. 1: Gruppe um Inakayal in El Tigre, 1884.
demonstrierte damit einen Grad der sozialen Integration in die kreolische Mehrheitsgesellschaft, der politisch nicht gewünscht war. Ein bekanntes Fotomotiv des Fotografen Benito Panunzi36 von 1864/66, das den Kaziken Casimiro Biguá mit seinem Sohn zeigt, hatte bereits mit Hilfe der Kleidung exotisierende Inszenierungsweisen durchgespielt. Im Unterschied zu den oben genannten Aufnahmen entstanden diese Bilder, als Biguá in politischen Geschäften nach Buenos Aires gekommen war. Er war ein freier Mann, als er das Studio Panunzis betrat. Trotzdem wurde er allein und auch gemeinsam mit seinem Sohn mehrfach vor einem neutralen Hintergrund fotografiert, der Fokus der Kamera war, wie bei einer anthropometrischen Aufnahme, frontal auf beider Körper gerichtet. Marta Penhos hat die Fotografie aus kunsthistorischer Sicht beschrieben und ihren hohen Grad der Inszenierung aufgezeigt: 36 Erika Billeter beschreibt Panunzis Vita und seine Bedeutung für die argentinische Fotografiegeschichte: »[Z]wischen 1865 und 1870 […] hat ein italienischer Fotograf, Benito Panunzi (1835–1886) in Argentinien gelebt und in Buenos Aires ein Foto-Atelier eröffnet. Seine Leidenschaft war offensichtlich die Pampa, die vor ihm noch nie ein Mensch mit einer Kamera besucht hatte.« Erika Billeter, Kleiner Abriss der Geschichte der Fotografie in Lateinamerika. 1850–1930, in: Eva König (Hg.), Indianer 1858–1928. Photographische Reisen von Alaska bis Feuerland. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Hamburg 2002, S. 22–27, hier S. 23–24. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wenn wir nun aufmerksam die Fotos betrachten, so fällt auf, dass der Kazike und sein Sohn identische Posen vor der Kamera einnehmen, ihre Fell[mäntel] haben sie nach Art antiker Tuniken umgehängt, was im Ergebnis zu elaborierten künstlerischen Kompositionen führt, die auf eine Weise die realistische Intention und die Nutzung visueller Konventionen miteinander verbinden, die große künstlerische Kenntnisse voraussetzt[…].37
Es war also durchaus üblich, das äußere Erscheinungsbild von einheimischen Fotomodellen so zu manipulieren, dass es dem Bild der primitiven Anderen entsprach. Das Arrangieren der Kleidung widerspricht den Anforderungen an scheinbar authentische Aufnahmen. Die Fotos von Biguá weisen diese Exotisierung schon zu einem Zeitpunkt auf, als die Völker der Pampa und Patagoniens bzw. des Chaco Central noch nicht militärisch unterworfen worden waren. Sie fanden sich freiwillig in den Fotostudios ein. Erst mit der Campaña del Desierto waren Fotografen in großer Zahl an den Expeditionen beteiligt und machten auch außerhalb der Städte Aufnahmen einheimischer Gruppen.38 Von den Eliten in Buenos Aires wurde dieses Bild des exotischen Indios favorisiert, der gewaltbereit am Rande der Zivilisation lauert und mit entsprechenden Mitteln – oftmals Gewalt oder gar Krieg – besiegt werden muss. Eine entsprechende Inszenierung war beispielsweise 1878 im Falle von Pincén erfolgt. Der cacique kam als Gefangener der Bundesarmee in das Fotostudio, wo er in verschiedenen Posen, teilweise gemeinsam mit Familienangehörigen, von Antonio Pozzo abgelichtet wurde. Der Wissenschaftler Francisco P. Moreno, der sich mit Pincén in dessen Muttersprache unterhalten konnte, bat ihn, sich für eines der Motive vor der Kamera so zu verhalten, als sei er auf der Jagd. Pincén entledigte sich daraufhin teilweise seiner Bekleidung und Stiefel und nahm eine kraftvolle Körperhaltung ein. Die Quelle berichtet weiter, dass er freudig ein Ausstellungsstück aus dem Museum angenommen hätte, das Moreno ihm aus dem Hintergrund anreichte: »Sie holten ihm eine Lanze und, ihrer ansichtig, begannen seine Augen zu blitzen und seine Nasenflügel weiteten sich.«39 So ausgestattet, wurde er vor einer Studioszenerie abgelichtet, deren künstliche Felsen und Horizontlinie eine wilde, leere Landschaft suggerieren sollten (Abb. 2, das Motiv wurde später in das hier abgebildete Postkartenformat übertragen).
37 »Pero si observamos atentamente las fotos, se advierte que el cacique y su hijo se hallan en idéntica posición frente a la cámara, con sus pieles dispuestas a modo de túnicas antiguas, lo que da por resultado elaboradas composiciones de taller que combinan sabiamente la intención realista y el uso de convenciones visuales[.]« Penhos, Frente y perfil, S. 39 [Übersetzung KR]. 38 Vgl. Carlos Masotta., Telón de fondo. Paisajes de desierto y alteridad en la fotografía de la Patagonia (1880–1900), in: Aisthesis 46. 2009, S. 111–127. 39 »Trajéronle una lanza, y ante ella, los ojos le brillaron y dilatáronse sus fosas nasales.« Zitiert von Masotta, El atlas invisible, S. 6, nach Bartolomé Galíndez, Notas a La Conquista del Desierto, in: Antonio Espinosa, La conquista del desierto. Diario del capellan de la expedición de 1879, Buenos Aires 18682, S. 59 [Übersetzung KR]. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Abb. 2: Bildpostkarte Cacique Pincén.
Pincén stellte in dieser Inszenierung das exotische, feindliche Element am Rande der Zivilisation dar. Es wurde der Eindruck erweckt, dass er nur deshalb im Bild festgehalten werden konnte, weil er dem Vormarsch der Moderne nichts als physische Kraft und traditionelle Waffen entgegenzusetzen hatte. Die Quelle beschreibt auch seine Reaktion auf die ihm gereichte Waffe. Laut der Überlieferung habe er seine Zustimmung körperlich affektiv, wie ein Tier, statt in einem zivilisierten Akt menschlicher Kommunikation geäußert. Die Zeitgenossen waren sich dessen bewusst, dass er als Gefangener das Studio des Fotografen betrat.40 Alles zusammengenommen bestätigte sich in ihren Augen nur wieder die Über40 Die städtische Bevölkerung sah die Wagen mit den Gefangenen und ihren Bewachern, die indígenas stiegen manchmal sogar zu Sympathieträgern auf, wie Masotta im Falle Pincéns erwähnt. Masotta, El atlas invisible, S. 5. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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legenheit ihrer eigenen Kultur: »Pincén sieht wild und gefährlich aus, aber alle wissen, dass er es gar nicht mehr ist.«41 Dem evolutionistischen Weltbild des Positivismus folgend, sah die weiße Bevölkerung die indígenas als unfähig zur Entwicklung, zum »Fortschritt« an. Den autochthonen Bevölkerungsgruppen Afrikas, Asiens und auch Südamerikas wurde im wissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts ein Platz außerhalb der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zugewiesen. Sie fungierten als eine Art lebender Beweis der Frühgeschichte.42 Nach einer solchen Argumentation war es nur konsequent, einige Überlebende der militärischen Aktionen nach ihrer Gefangennahme und Vertreibung aus der frontier dorthin zu verlegen, wo auch die übrige nationale Prähistorie ihren Platz hatte: ins Museum.43 Francisco P. Moreno machte sich dafür stark, dass die beiden Kaziken Inakayal und Foyel mit ihrem Gefolge im Frühjahr 1886 in das Museo de La Plata einzogen. Im Museum mussten die indígenas als lebende Objekte in den Ausstellungsräumen fungieren, ihr Brauchtum und ihre handwerklichen Fähigkeiten demonstrieren, wogegen sich Inakayal aber zeitlebens wehrte und die Kooperation verweigerte.44 Er selbst und auch die Mehrheit seiner Gefolgsleute verstarben innerhalb weniger Jahre an Lungeninfektionen. Ihre Körper wurden nicht bestattet, sondern präpariert und katalogisiert. Sie dienten den Mitarbeitern des Museums als Material für anthropologische Untersuchungen und bis 1940 als Ausstellungsstücke.45 Damit waren sie endgültig von Individuen zu Objekten geworden. Auch die Fotos aus El Tigre (Abb. 1) blieben im Museum zurück. Als Abzüge fanden sie Eingang in den Nachlass des deutschen Anthropologen Robert Lehmann-Nitsche.46 Er versah sie zwar teilweise mit Inschriften auf der Rück41 »Pincén se ve salvaje y peligroso pero todos saben que ya no lo es.« Penhos, Frente y perfil, S. 40 [Übersetzung KR]. 42 Man bezeichnete sie gar als »lebende Fossilien«. Bayly, Die Geburt der modernen Welt, S. 558. 43 Die Überlebenden wurden zunächst in die Städte geschickt und dort zur Arbeit, vor allem im Dienstleistungssektor gezwungen. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 100–101. Im argentinischen Fall wurde ähnlich wie beispielsweise in den USA auf die »moralische Veredelung« der indígenas geachtet, konkret bedeutete dies ihre vollständige kulturelle Assimilierung. Ebd. S. 544. 44 Endere, Cacique Inakayal, S. 1. 45 Die Gruppe um Cacique Foyel konnte jedoch nach Patagonien zurückkehren. Siehe Endere, Cacique Inakayal, S. 2 und Penhos, Frente y perfil, S. 45. 46 Er war von 1897–1930 Leiter der Anthropologischen Abteilung des Museo de La Plata. Seine Fotosammlung liegt heute im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. IberoAmerikanisches Institut, Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Robert Lehmann-Nitsche [Sammlungen/Fotografien aus Südargentinien], 1885–1914, 10 Konvolute. Vgl. Barbara Potthast/Kathrin Reinert, Visiones y Visualizaciones de América del Sur, in: Gloria Beatriz Chicote/Barbara Göbel, (Hg.), Ideas viajeras y sus objetos. El intercambio científico entre Alemania y América austral, Frankfurt 2011, S. 267–280. Weitere Motive einhei mischer Herrscher liegen im Museo de La Plata, sie waren Lehmann-Nitsche sicherlich bekannt. Vgl. Tatiana Kelly/Irina Podgorny, Los Secretos de Barba azul. Fantasías y rea lidades de los archivos del Museo de La Plata, Rosario 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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seite, so dass man in Einzelfällen nachvollziehen kann, wer auf den Bildern zu sehen ist. In seiner Archivierungspraxis folgte er aber den Logiken seines Fachs. Er führte die Praxis der Musealisierung fort und machte aus den Personen prähistorische Objekte. Die Fotografien ordnete er entsprechend nach »rassischen« Kategorien. Seiner Methode zufolge konnten wissenschaftliche Daten ebenso gut Menschen repräsentieren und als Grundlage für ihre Erforschung dienen. Er glaubte, dass für diesen Zweck Fotografien den langen Formularen für anthropologische Aufnahmen vorzuziehen seien, obwohl er sich der Defizite der fotografischen Methode durchaus bewusst war.47 So wurden die Aufnahmen für Lehmann-Nitsche zu Formaten der anthropologischen Wissensproduktion.
Schlussbetrachtung Neue technische Möglichkeiten der Reproduktion vergrößerten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den bestehenden Markt für visuelles Material, von der Architektur- über die Landschaftsfotografie bis hin zur ethnografischen Fotografie. Populärwissenschaftliches Bildmaterial wurde in Zeitschriften und auch auf Bildpostkarten48 abgedruckt. Die Fotografen und Postkartenverlage kauften Motive von den Wissenschaftlern und legten alte Negative neu auf. Auch cacique Pincén erschien nun auf Bildpostkarten (Abbildung zwei).49 Gerade Pincéns Porträt sticht durch seine extreme Exotisierung aus der Gruppe der Kazikenporträts heraus: Seine Nacktheit und die Ausstattung mit Waffen sind zeitgenössische Stereotype für Gewaltbereitschaft, Primitivismus und eine Neigung zu ungezügelter Sexualität. Ähnliche Fotografien entstanden zeitgleich auch im kolonialen Kontext in Afrika und Asien. Aber im Vergleich zum Entstehungszeitpunkt hatte sich die soziale Lage der indígenas in Argentinien tatsächlich drastisch verändert. Pincén repräsentierte nun eine endgültig vergangene Epoche. In Folge der Militärkampagnen und der nachfolgenden Kolonisierung der frontierGebiete waren die Einwohnerzahlen der autochthonen, traditionell lebenden Bevölkerungsgruppen dramatisch zurückgegangen.50 Der »Wilde« Pincén auf der Bildpostkarte bestätigte damit im Nachhinein, was dem politischen Diskurs schon während der Campaña del Desierto als Argument gedient hatte: Die indí47 Robert Lehmann-Nitsche, Estudios antropológicos sobre los chiriguanos, chorotes, matacos y tobas (Chaco occidental). Resultados generales de la expedición á Jujuy realizada en 1906 por los profesores Doctor Robert Lehmann-Nitsche y Señor Carlos Bruch, in: Anales del Museo de La Plata, Jg. 1 (Zweite Serie). 1907, S. 53–149, hier S. 55. 48 Zum Medium Bildpostkarte vgl. Eva Tropper, Bild/Störung. Beschriebene Postkarten um 1900, in: Fotogeschichte 118. 2010, S. 5–16. 49 Die Onlineausgabe von Masotta, El atlas invisible, gewährt einen Einblick in die Farbigkeit dieser Bildpostkarten unter: http://ppct.caicyt.gov.ar/index.php/corpus/article/ view/242/94, zuletzt eingesehen Juli 2012. 50 Der Census von 1895 hatte nur noch 30.000 indígenas ausgewiesen, siehe Penhos, Frente y perfil, S. 49. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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genas hatten sich auf lange Sicht dem Vorrücken der modernen Zivilisation nicht entgegenstellen können. Auch im 20. Jahrhundert wurde die Fotografie von indígenas damit weiterhin eingesetzt, um evolutionistische Anschauungen von der angenommenen Überlegenheit einer kreolischen »weißen Rasse« über die indígenas Argentiniens mit visuellen Wissensbeständen zu unterfüttern. Die Fotos erschienen doppelt authentisch: Sie gehorchten einerseits der wissenschaftlichen Logik des Positivismus und erlaubten Lesarten, die die Unfähigkeit der indí genas zum »Fortschritt« dokumentierten und später ihren daraus resultierenden physischen und kulturellen Untergang belegten. Andererseits erhielten sie eine zusätzliche Glaubwürdigkeit durch die mit dem Medium assoziierte technische Objektivität. Beides wurde scheinbar in den visuellen Wissensformaten vereint, seien es einzelne Fotografien, Bildpostkarten oder populärwissenschaft liche, mit Fotos illustrierte Artikel. Das koloniale Wissen, das seit der Campaña del Desierto über die einheimische Bevölkerung zusammengetragen worden war, konnte auf diese Weise weiter an der Festigung der Nation als »imagined community« mitwirken. Die Stimmen der Abgebildeten blieben dabei ungehört.
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Bewegliche Objekte und globales Wissen Die Kolonialsammlungen des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin*
Stärker als in anderen Ländern ist die Ethnologie in Deutschland eine Wissenschaft, die sich vor allem auf die Sammlung von Objekten konzentriert hat. Die deutschen Gegenspieler der großen Ethnologen wie E. B. Tylor in Großbritannien, Émile Durkheim in Frankreich oder Henry Morgan in den Vereinigten Staaten waren nicht einzelne Autoren, sondern es waren vielmehr die riesigen Sammlungen des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin, heute das staatliche Ethnologische Museum. Einem im Jahr 1899 von dem amerikanischen Ethnologen George Dorsey verfassten Artikel nach verfügte das Museum über die »größte Ansammlung von ethnografischen Materialien, die man weltweit in einem Museum« finden konnte. Wahrscheinlich, so spekulierte Dorsey, »beinhaltete es mehr ethnographische Objekte als zwei andere Museen zusammen.«1 Deutsche Ethnologen, der empirisch orientierten Epistemologie der Zeit folgend, verstanden ihre Bemühungen um Sammlungen oftmals als Vorbereitung für zukünftige Forschungsprojekte – für zukünftige Formen der Produktionen von Wissen. Sie betrachteten die von ihnen zusammengetragenen Artefakte als natürliche wissenschaftliche Präparate, die über das Grundwesen der menschlichen Natur Aufschluss geben. Diese Präparate waren für die Ethnologen »ursprünglich«, da sie von den so genannten Naturvölkern hergestellt worden waren – also von jenen Völkern ohne Geschichte oder Kultur. Solche Bewegungen der Objekte waren für diese Ethnologen Ergebnis des Transportes, nicht der Transformation, ganz zu schweigen davon, dass sie in diesen Bewegungen einen möglichen Beitrag zur Wissensproduktion gesehen hätten. In der Tat erreichten diese Objekte ihren Status als »ursprünglich« nach dem Transferprozess, den sie auf dem Weg von den Gesellschaften Asiens oder den pazifischen Inseln über die militärische, wirtschaftliche sowie die staatliche Herrschaft des Kolonialismus bis in das Berliner Völkerkundemuseum zurückgelegt hatten. Paradoxerweise, erlangten diese Objekte ihren Status innerhalb * Ausschnitte dieses Artikels wurden erstmals veröffentlicht unter dem Titel: Kolonialismus und ethnographische Sammlungen in Deutschland, in: Pim de Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 3. Europa und die Welt, München 2012, S. 173–181. Wir danken dem Oldenbourg Verlag für die Genehmigung des Abdrucks. 1 George Dorsey, Notes on the Anthropological Museums of Central Europe, in: American Anthropologist N. S. 1. 1899, S. 462–474. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Abb. 1: Das Museum für Völkerkunde.
des ethnologischen Diskurses als ahistorische, natürliche Artefakte allein aufgrund jener komplexen Geschichten ihrer globalen Bewegungen.2
Ethnologie versus Geschichte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erforschten Ethnologen vor allem Gesellschaften, die, wie es deutsche Historiker seit Leopold von Ranke ausdrückten, als geschichtslos und der wissenschaftlichen Untersuchung als nicht würdig galten.3 Mit diesen Historikern teilten die Ethnologen die Meinung, dass 2 Adolf Bastian, Zur Kenntniss Hawaii’s, Berlin 1883; Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983; Fritz Graebner, Adolf Bastian’s 100. Geburtstag, in: Ethnologica 3. 1927, S. IX–XII; Felix von Luschan, Ziele und Wege eines modernen Museums für Völkerkunde, in: Globus 88. 1905, S. 238–240; Jürgen Osterhammel, ›Peoples without History‹ in British and German Historical Thought, in: Benedikt Stuchtey/Peter Wende (Hg.), British and German Historiography, 1750–1950: Traditions, Perceptions, and Transfers, Oxford 2000, S. 265–287; H. Glenn Penny, Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002. 3 Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001, S. 39–44; siehe Leopold von Ranke, Der Begriff des Fortschritts in der Geschichte und die Idee der Universalhistorie, in: Volker Dotterweich; Walther Peter Fuchs (Hg.), Vorlesungseinleitungen, Bd. 4, siehe auch Walther Peter Fuchs/Theodor Schieder (Hg.), Leopold von Ranke: Aus Werk und Nachlass, München 1975, S. 72–89, 255–261 und Leopold von Ranke, Weltgeschichte, Bd. 1, Leipzig: Duncker und Humboldt, 18965), S. V. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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die Gesellschaften, die sie erkundeten, keine Geschichte hatten. Von den Historikern übernahmen sie den Unterschied zwischen »Naturvölkern« und »Kulturvölkern«, wobei sie, im Gegensatz zu den Historikern, die »Naturvölker« als wertvoller für die wissenschaftliche Forschung erachteten als die »Kulturvölker«. Die Ethnologen vertieften hiermit die schwerwiegende Annahme in den Geisteswissenschaften: Nämlich, dass »Kultur« keine den Menschen universell gegebene Eigenschaft sei. Darüber hinaus verweigerten sie sich, die Entwicklung von Kultur näher zu erklären, was dazu führte, dass sie, während sie sich einerseits für die Gleichheit der Menschen einsetzten, andererseits die historische Chance verhinderten, die alle Menschen hätte verbinden können. Die Natur wurde hier ihrer Geschichte beraubt und auf ein ahistorisches Phänomen reduziert. In »Zur Kenntniss Hawaii’s« (1883) schrieb Adolf Bastian, der führende ethnologische Theoretiker des Deutschen Kaiserreichs und Leiter des Berliner Museums für Völkerkunde, dann auch: »Was also wäre hier alt? was jung? im Ewig-Alten oder Ewig-Jungen der Natur?«.4 Trotz des grundlegenden Unterschieds, der zwischen »Naturvölkern« und »Kulturvölkern« gemacht wurde, gingen die Berliner Ethnologen davon aus, dass alle Menschen physisch wie psychisch grundsätzlich gleich waren. Ihrer Ansicht nach war der Erwerb von Wissen über angeblich einfache Menschen der effizienteste Weg, alle Menschen zu verstehen. Deutsche Ethnologen definierten ihre Methoden wie ihre Materie, indem sie bewährten Formen der Geschichtsschreibung ein naturwissenschaftliches Modell gegenüberstellten. So wiesen sie darauf hin, dass Historiker sich auf historische Dokumente beriefen, diese aber von den Gesellschaften, die sie untersuchten, selber verfasst worden waren und selbstgefällige Übertreibungen und irreführende Lügen beinhalten konnten. Anstatt sich auf schriftliche Quellen zu verlassen, verließen sich Ethnologen lieber auf materielle Quellen, genauer gesagt auf die Körper und Besitztümer der Menschen, die sie erforschten. Diese, so führten sie aus, untersuchten sie nicht anhand von historischen, sondern naturwissenschaftlichen Methoden. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Ethnologie (1869) verkündete Bastian, es sei Ziel der Ethnologie, einen »Total-Eindruck« der Menschheit einschließlich all ihrer Variationen zu erstellen. Die meisten der anderen Ethnologen in Berlin zogen dem »Total-Eindruck« der Menschheit aber eine auf ausgewählten Erzählungen aufbauende, der Geschichtsschreibung näher stehende Ethnologie vor. Während die Ethnologie in der Praxis den Eindruck eines leichtfertigen Positivismus erwecken konnte, basierte sie in der Theorie auf einer philosophischen Kritik des Historismus. Genauer gesagt stellte die Ethnologie einen auf die Naturwissenschaften gestützten Angriff auf die in den Geisteswissenschaften privilegierte Disziplin der Geschichte – und damit der Erinnerung – dar.
4 Adolf Bastian, Zur Kenntniss Hawaii’s, Berlin, 1883, S. 124–125. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Das Königliche Museum für Völkerkunde Das Königliche Museum für Völkerkunde, das 1886 in Berlin eröffnet wurde, sollte den Humanwissenschaften ihre Zeitleiste nehmen. Die einzelnen Ausstellungsstücke sollten demzufolge nicht als historische Dokumente fungieren, die im Rahmen einer Erzählung erschlossen werden sollten, sondern zeitlose Exponate sein, die – so hofften die Ethnologen – es ermöglichen würden, die Menschheit unabhängig von historischem Wandel zu verstehen. Das Museum war folglich ein Ort des dreifachen »Misserinnerns«: Erstens erinnerte es an Kolonisierte als Menschen ohne Vergangenheit; zweitens erinnerte es anhand von Kolonisierten, denen jegliche Vergangenheit verweigert worden war, an die Entstehung der Menschheit; und drittens erinnerte es an die koloniale Begegnung als ein Auf einandertreffen von Kultur und Natur. Ermöglicht wurde dieses »Misserinnern« durch speziell angefertigte, aus Eisen und Glas hergestellte Museumsschränke, so genannte Berliner Eisenschränke, die ab der Jahrhundertwende im Museum für Völkerkunde und anderen ethnografischen Sammlungen Verwendung fanden.5 Die Kombination von Eisen und Glas, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Städten die Gestaltung von Innenräumen revolutioniert hatte, ermöglichte ebenso eine neue Art der musealen Inszenierung. Genau wie der für die erste Weltausstellung 1851 errichtete Crystal Palace in London und die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa errichteten Einkaufsarkaden eine Flut an Licht in Innenräume fallen ließen, erlaubten die Berliner Eisenschränke, ethnografische Ausstellungsstücke in neuer Zusammenstellung und unter gänzlich neuartigen Lichtverhältnissen zu präsentieren. Diese Art, ethnografische Exponate in großen Mengen auszustellen, sollte – so hofften die Ethnologen – dem Auge erlauben, die Objekte verschiedener »Naturvölker« rasch zu erfassen und zu vergleichen; dem Besucher sollte dies ermöglichen, im Unterschied zu einem historischen Verständnis einen »TotalEindruck« der Menschheit zu gewinnen. In der Tat verwehrte diese Art der Präsentation dem Auge, anders zu sehen. So konnte es sich nicht auf ein Objekt konzentrieren, sondern wurde vielmehr dazu gezwungen, von einem Objekt zum nächsten zu wandern. Im Museum waren es also nicht mehr einzelne Objekte, die in den Vordergrund gestellt wurden, sondern Ansammlungen von Objekten, die beeindrucken sollten. Der geschlossene Raum der akademischen Geschichtsschreibung wurde auf diese Weise durch den offenen Raum der von Überfluss geprägten Einkaufsarkaden ersetzt. Das Museum war so zu einem Instrument geworden, das – so hofften die Ethnologen – ihnen und auch den Besuchern die Möglichkeit geben würde, die Idee der Menschheit ungetrübt von historischer Erzählung und literarischer Inter5 Zur Funktion der Eisenschränke siehe auch George A. Dorsey, Notes on the Anthropological Museums of Central Europe, in: American Anthropologist, N. S.1 (1899), S. 462–474, hier S. 471. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Abb. 2: Eiserne Museumsschränke im Museum für Völkerkunde.
pretation zu erfassen. Durch die Ausstellung im Museum wurden ethnografische Ausstellungsstücke zu Exponaten einer angeblich ursprünglichen, ahistorischen Menschheit. Sie wurden weder als historische Kuriositäten noch als künstlerische Meisterwerke, sondern als naturwissenschaftliche Objekte ausgestellt. Die Existenzberechtigung des Museums war gewissermaßen, dass diese Objekte dort hingehörten. Menschen, insbesondere kolonisierte, konnten so, wie der Rest der Natur, einer Art von Klassifizierung unterworfen werden. Die Menschheit zu verstehen, war damit nicht mehr Aufgabe humanistisch gebildeter Historiker, die Individuen im Rahmen einer historischen Erzählung zu verstehen versuchten, sondern die Aufgabe von Naturwissenschaftlern, die in Individuen zu klassifizierende Objekte sahen. Das Museum setzte sich demnach für eine Beziehung zwischen Menschheitsforschern und Menschen ein, die auf distanzierter Objektivität beruht, wie sie nur ein panoptischer Blick gewährleisten kann. Das Museum und insbesondere die Berliner Eisenschränke verwandelten »Kulturgegenstände« dadurch in »Naturgegenstände«. Diese einfache, an Einkaufsarkaden angelehnte, Inszenierung, stellte die institutionelle Grundlage dar, von der aus Ethnologen die an den Universitäten propagierte, auf historischen Grundsätzen aufbauende Interpretation der Menschheit anfochten und den Gesellschaften, die sie untersuchten, Vergangenheit verweigerten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Kolonialer Austausch und ethnografische Sammlungen Diese die Ahistorizität der Menschheit betonende Präsentation ethnografischer Exponate war aber nicht allein das Werk von Ethnologen. Vielmehr waren die Exponate Zeugnis eines Austauschs, wie er zwischen Europäern und ihren kolonialen Untertanen in vielerlei Formen bestand. Tatsächlich reisten Ethnologen eher selten, um Sammlungen zu erweitern; wenn sie dies taten, dann zumeist, um aus bereits bestehenden Sammlungen, wie sie vor Ort lebende Europäer bereits zusammengetragen hatten, zu kaufen. Viel häufiger wurden dem Museum für Völkerkunde in Berlin Objekte, die deutsche Beamte, Händler und Soldaten in den Kolonien erworben hatten, auf dem Postweg zugestellt. Die Kolonien lieferten aber nicht nur Objekte, sondern trugen auch dazu bei, dass deren Bezug zur Vergangenheit unterdrückt wurde. Diese Verweigerung einer Vergangenheit war genauso Teil der angewandten Kolonialpolitik, wie sie Teil des ethno logischen Diskurses war. Grund hierfür war, dass die Kolonialverwaltung ein Interesse daran hatte, Kolonisierte so weit wie möglich von den Europäern abzugrenzen und sie ihnen als eindeutig minderwertige Menschen unterzuordnen. Die Objekte kolonisierter Menschen auszustellen, war Teil einer weit gefassten Kolonialpolitik, der es darum ging, Kolonisierten ihre Vergangenheit, ja ihre Menschlichkeit zu nehmen. Ethnologen und Kolonialbeamte waren damit Partner in einem umfangreich angelegten Prozess, der die Beziehungen zwischen Europa und dem Rest der Welt definierte. Der Austausch, ob von Geschenken, Waren oder auch in Form eines Schusswechsels, prägte den Kolonialismus und versorgte ethnografische Sammlungen mit Ausstellungsstücken; er war zugleich aber auch Ausgangspunkt des Prozesses, der Objekten ihre Vergangenheit nahm. Dieser Austausch brachte, wie vielleicht alle Kontakte dieser Art, für die teilnehmenden Parteien eine gewisse Instabilität mit sich, die gerade für die Kolonialverwaltung eine Gefahr darstellen konnte. Auch wenn die Kolonialverwaltung eindeutig die Übermacht hatte, stellten die Kolonisierten – absichtlich oder unabsichtlich – die europäischen Vorstellungen von Austausch immer wieder in Frage. Allein schon die Vorstellung eines solchen Austauschs zwischen Kolonialbeamten und Kolonisiertem stellte eine gefährliche Annäherung zwischen dem europäischen »Kulturvolk« und dem kolonisierten »Naturvolk« dar. Im Folgenden wird auf drei Vorgänge eines Tausches eingegangen, die die Sammlung des Museums für Völkerkunde bereicherten, auf verschiedene Art und Weise aber auch die Stabilität von kolonialer und ethnologischer Praxis gefährdeten. Während die Kolonialverwaltung und die Ethnologen sich letztlich dieser Gefahr widersetzen konnten, spiegelt die Geschichte des Sammelns die Grenzen wider, die bei dem Aufbau des Museums für Völkerkunde berücksichtigt werden mussten.
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Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur Einer der wichtigsten Beweggründe für deutsche Beamte, Händler und Soldaten, in den Kolonien ethnografische Materialien zu sammeln, war die Hoffnung, den Preußischen Rothe Adler-Orden oder den Königlichen Kronen-Orden verliehen zu bekommen.6 Der Grund, warum Schenkungen an das Museum für Völkerkunde in Berlin mit einem Orden gewürdigt werden konnten, lag darin, dass das Museum ein königliches Museum war und Schenkungen als Dienst an der Monarchie angesehen wurden. Die Verleihung eines Ordens brachte Ansehen und erlaubte dessen Träger, bei offiziellen Anlässen – und davon gab es in den Kolonien viele – Ordensband und Medaille zu tragen. Schon bald wurde die Schenkung von ethnografischen Materialien mit der Verleihung von Orden in Verbindung gebracht; es dauerte nicht lange, bis dies zu reiner Routine wurde. In der Praxis hatte dies zur Folge, dass deutsche Beamte, Händler und Soldaten relativ günstige Handelswaren gegen ethnografische Materialien und diese dann gegen königliche Orden eintauschten. Ein gutes Beispiel für diese Art von Tausch ist der Erwerb von ethno grafischen Materialien für das Museum für Völkerkunde, wie ihn Unterzahlmeister Max Braun von der S. M. S. Möwe im Mai 1898 in Deutsch-Neuguinea tätigte. Im Tausch für ein Beil, einen Hobel und vier Packungen Tabak erwarb er eine Holzfigur, die ursprünglich dazu gedient hatte, Kokospalmen vor Dieben zu schützen. Selbst dieser einfache Tausch, der ohne nennenswerte Vorkommnisse verlief, zeigt, was es bedeutete, wenn der Vertreter eines »Kulturvolks« ein Objekt eines »Naturvolks« als Sammlerstück erwarb. Im ersten Moment mag man den Tausch als Ausdruck der Modernisierung begrüßen oder aber verurteilen. Der Papua, so könnte man behaupten, hat sich von einer auf der magischen Manipulation der Welt beruhenden, traditionellen Form des ökonomischen Handelns zu einer von technologischer Intervention geprägten, modernen Form des ökonomischen Handelns hin orientiert. Dem könnte man hinzufügen, dass der Papua sich durch sein Handeln von dem System des Geschenkaustauschs distanziert und sich in das System des Warenaustauschs integriert hat. Der Tausch war jedoch nicht so sehr Ausdruck der Modernisierung, sondern stellte die Abgrenzung von »primitiver« und »moderner« Welt radikal in Frage. De facto endete der Tausch darin, dass ein »Naturmensch« ein aus Metall gefertigtes Beil und einen Hobel und ein »Kulturmensch« eine Holzfigur mit angeblich okkulten Kräften erwarb. Noch wichtiger war, dass diese Art von Tausch für Sammler wie Unterzahlmeister Braun der erste Schritt zum Erwerb eines Ordens war. Zum Zeitpunkt des Tauschs hatten die Tauschobjekte noch eine Reihe von nicht immer eindeutigen, intersubjektiven Bedeutungen, die die Ethnologen fortan aus ihren Studien zu eliminieren hofften. Sobald die Tauschobjekte aber in die Sammlung des Museums für Völkerkunde eingereiht waren, war der Tausch 6 Vgl. Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, S. 68–69. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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abgeschlossen und jegliche Magie und Vergangenheit der naturwissenschaft lichen Erkenntnis untergeordnet. Dass der Kontakt zwischen »Kulturvölkern« und »Naturvölkern« immer eine gewisse Instabilität erzeugte, beunruhigte auch die Ethnologen. Allein die Tat sache, dass ein »Naturmensch« nach dem Kontakt mit einem »Kulturmenschen« mit einem Beil, einem Hobel und Tabak weiterleben konnte, war für sie unerklärlich. Anstatt historischen Wandel bei den »Naturvölkern« zu akzeptieren, gingen sie davon aus, dass jeder Kontakt zwischen »Naturvölkern« und »Kulturvölkern« die einheimischen Bevölkerungsgruppen zerstören musste. Diese Annahme beruhte darauf, dass die Ethnologen nicht nur davon ausgingen, dass schon der erste Kontakt zwischen einem »Kulturvolk« und einem vormals unbekannten »Naturvolk« Letzterem seinen natürlichen, ahistorischen Charakter nehmen würde, sondern es möglicherweise sogar vernichten könnte. Ethnologen vertraten folglich die Meinung, dass die Bedingungen, die es Europäern erlaubten, mit vormals unbekannten »Naturvölkern« in Kontakt zu treten und von diesen zu sammeln, zugleich eben die Bedingungen waren, die diese Völker zerstören würden. Dies sollte keine Kritik am Kolonialismus, sondern vielmehr die Aufforderung sein, so schnell wie möglich ethnografische Materialien zu sammeln. In der Tat zogen Ethnologen, die den historischen Wandel von »Naturvölkern« als ein pathologisches Phänomen betrachteten, deren Tod der Verschmelzung von Forschung und Subjekt, wie sie die Geschichtsschreibung charakterisierte, konzeptuell vor. Da jeder Kontakt mit »Naturmenschen« doch Hinweise auf deren Geschichte und Kultur mit sich brachte, zogen Ethnologen es letztlich vor, sich lieber mit Materialien als Menschen zu befassen.
Koloniale Kriegführung und die Waffen der »Naturvölker« Kaum ein Beispiel veranschaulicht die Widersprüche zwischen ethnografischen Materialien und deutschem Kolonialismus so deutlich wie das Sammelverhalten, das der Maji-Maji-Aufstand in den Jahren 1905 bis 1908 in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) auslöste. Der Aufstand war der gemeinsame Kampf von ungefähr zwanzig ostafrikanischen Völkern gegen die deutsche Kolonialherrschaft und wandte sich insbesondere gegen die Rekrutierung von Zwangsarbeitern für die Baumwollproduktion. Eine wichtige Rolle bei dem Aufstand spielte der MajiMaji-Kult, dessen Maji-Zauber (Wasser-Zauber) angeblich die Kraft hatte, Aufständische vor deutschen Gewehrkugeln zu schützen. Während die Afrikaner anfangs einige Siege verzeichnen konnten, richteten ihre Pfeile, Speere und Vorderlader gegen die Maschinengewehre der Deutschen aber auf Dauer nichts aus. Dem Aufstand fielen bis zu 300.000 Afrikaner zum Opfer, zwei Drittel von ihnen dem Hungertod, der auf von deutschen Soldaten abgebrannte Felder zurückzuführen war. Im Jahre 1906 erhielt das Museum für Völkerkunde in Berlin mehr als 4.000 von den Deutschen im Maji-Maji-Aufstand erbeutete Waffen, darunter Hunderte © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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von Bögen, Pfeilen, Speeren und Vorderladern. Felix von Luschan, einer der leitenden Kustoden des Museums, zeigte sich gleichwohl enttäuscht, da die Speere, die den größten Teil der erbeuteten Waffen ausmachte, nicht in traditioneller Weise hergestellt, sondern schnell für den Krieg produziert worden waren. Seit Ankunft der Europäer in Afrika waren Waffen wahrscheinlich noch nie so nachlässig gefertigt worden. Der koloniale Kontakt, der es einem Wissenschaftler in Berlin ermöglicht hatte, über 1.200 Speere zu erwerben, hatte zugleich aber auch zu einem Krieg geführt, der die einheimischen Bevölkerungsgruppen dazu gezwungen hatte, sich Techniken anzueignen, die es ihnen erlaubten, Waffen in Massen zu produzieren. Derartige Sammelobjekte aber, die die moderne Geschichte von »Naturvölkern« dokumentierten, hatten für L uschan keinen wissenschaftlichen Wert. Zunächst erwog er, die Speere nach Ostafrika zurückzuschicken, damit sie dort an Touristen verkauft werden könnten. Zum Schluss entschied er sich, sie zu verbrennen und damit die unerwünschten Spuren der Vergangenheit zu vernichten.
König Kabua und der 50. Geburtstag Kaiser Wilhelms II. Wie die beiden vorangegangenen Beispiele veranschaulichten, brachte das Zusammentragen von ethnografischen Ausstellungsstücken fragwürdige Transaktionen mit sich, die das Grundverständnis der Ethnologie gefährden konnten. Als abschließendes Beispiel soll hier auf einen Austausch eingegangen werden, der in den Akten des Zivilkabinetts, heute im Geheimen Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz, dokumentiert ist und auf exemplarische Weise darstellt, wie Kolonialisierte den Austausch gegen die Kolonialherrschaft einzusetzen wussten. Transnationale politische Identitäten und Praktiken konnten häufig erst rückwirkend und aufgrund von nachweisbaren Missverständnissen und Fehlinterpretationen, zu denen die Ethnologie entscheidend beitrug, in europäische und nicht-europäische unterschieden werden. Im Jahr 1909, als die Marshallinseln deutsches Schutzgebiet waren und Kaiser Wilhelm II. seinen 50. Geburtstag feierte, ehrte König Kabua den deutschen Kaiser mit einem Feiertag.7 Fast drei Jahrzehnte waren vergangen, seitdem die Deutschen Kabua zum König gekrönt und ihm geholfen hatten, sich gegen einen politischen Rivalen durchzusetzen. Wie in vielen anderen Kolonien hatten die Deutschen militärische Unterstützung geboten, um einen ihnen zuneigenden führenden Politiker an die Macht zu bringen und damit die weitere Herrschaft über die Kolonie zu vereinfachen. Sowohl Kabua als auch Wilhelm II. wurden in der archaischen Sprache feudaler Herrschaft als König beziehungsweise Kaiser bezeichnet, waren streng genommen aber beide das Produkt einer neuen,
7 Die Korrespondenz befindet sich in: GStA PK, I. HA Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, Nr. 20489, Bl. 31–38 (M). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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transnationalen Staatsform – im Fall Wilhelms des 1871 begründeten Deutschen Reichs. Die Geburtstagsfeier begann mit einer Predigt in der protestantischen Mis sionskirche, die auf einem Text aus dem Römer-Brief des Paulus aufbaute: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet« (Röm 13,1). Der Predigt folgten Bootsrennen zwischen den Deutschen und den Marshallesen. Nach einem Empfang für die vor Ort lebenden Europäer und Vertreter der einheimischen politischen Elite führten Untertanen König Kabuas verschiedene Tänze auf. Zum Andenken an die Feierlichkeiten sandte der König dem Kaiser eine Trommel, einen der Speerschafte, wie sie während der Tänze benutzt worden waren, und zwei Schlafmatten. Er schickte dem Kaiser außerdem noch einen handgeschriebenen Brief. Die deutsche Verwaltung der Marshallinseln hatte, wie die Predigt erkennen ließ, die Geburtstagsfeier als Ritual der Unterordnung inszeniert. In seinem Brief ordnete sich Kabua aber nicht als »Untertan der Obrigkeit« ein, wie es der Paulusbrief vorgesehen hatte, sondern stellte sich diesem gleich, was er, rein formal gesehen, auch war. Wilhelm II. war folglich, unter dem ehrwürdigen Gesetz der Reziprozität, verpflichtet, Kabua gleichwertige Geschenke einschließlich eines handgeschriebenen Briefes zu übermitteln. Dieser Geschenkaustausch verkörperte die wechselseitigen Verpflichtungen der beiden Herrscher und bestätigte ihre politische Allianz. Des Weiteren signalisierte er ihren Untertanen ihre Überlegenheit: Nur sie, die Herrscher, verfügten über die entsprechende Würde, gleichwertige Geschenke auszutauschen. Es wird deutlich, dass Kabua die Gegensätze zwischen dem alten feudal-monarchischen System und der modernen kaiserlichen Administration geschickt zu manipulieren wusste. Hätte Wilhelm II. Kabuas Überlieferung der Festlichkeiten akzeptiert, hätte dies die Macht der deutschen Verwaltung auf den Marshallinseln geschwächt. Kabua wäre als Monarch im gleichen Rang mit Wilhelm II. Oberhaupt der deutschen Kolonialbeamten geworden, die aber Untertanen des Kaisers waren. Um diese Entwicklung zu unterbinden, setzte sich die deutsche Kolonialverwaltung dafür ein, dass Wilhelm II. Kabuas Brief und Geschenke nicht erwiderte. Da Wilhelm II. zunächst an dem ehrwürdigen Gesetz der Reziprozität festhielt, beriet das Reichskolonialamt ihn dahingehend, Kabuas Brief und Geschenke zu erwidern, dem König der Marshallinseln aber nicht als Herrscher, sondern als Untertan zu begegnen. Das Reichskolonialamt vertrat zudem die Meinung, dass Kabua eines handgeschriebenen Briefs des Kaisers nicht würdig sei; sein niedriger »Bildungsgrad«, so argumentierte man, würde ihm nicht erlauben, dem Brief die angemessene Achtung entgegenzubringen. Wilhelm II. stimmte daraufhin dem Vorschlag zu, Kabua ein Porträt von ihm, das sich bereits in einem der Landratsämter auf den Marshallinseln befand, überbringen zu lassen. Diese Vorgehensweise, dem König der Marshallinseln ein minderwertiges Geschenk und keinen Brief zu übermitteln, wies darauf hin, dass König Kabua kein gleichrangiger Monarch, sondern ein weniger bedeutender Untertan des deutschen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Kaisers war. Unter der Leitung des Reichskolonialamts wurden so Geschenke, die Zeichen des gegenseitigen Respekts sein sollten, in Zeichen der kolonialen Unterdrückung verwandelt. Am Ende überließ Wilhelm II. Kabuas Geburtstagsgeschenke dem Museum für Völkerkunde in Berlin, wo sie vom kolonialen Tribut zu einem ethnografischen Objekt wurden. Derartige Transformationen waren fester Bestandteil des kolonialen Austauschs. Die einzelnen Gegenstände hatten ohne Frage eine wichtige Funktion in der Festigung der deutschen Kolonialmacht, definierten und repräsentierten sie doch die politischen Beziehungen zwischen Kolonialherrschaft und Kolonialisierten. Sowohl Kabua als auch Wilhelm II. verstanden den Austausch von Geschenken zunächst als reziproke Interaktion zwischen zwei (historisch gleichgestellten) Personen. Dieses Verständnis wurde von der Kolonialverwaltung korrigiert, die in diesem Austausch einen Angriff auf ihre Autorität sah. Ein wichtiger Aspekt dieser Auslegung war, dass die Objekte in die Sammlung des Museums für Völkerkunde integriert wurden. Hier repräsentierten sie ein »Naturvolk«, wie es in einer unüberbrückbaren Kluft dem deutschen »Kulturvolk« gegenüberstand. Ethnologen unterstützten und profitierten von dieser Interpretation, indem sie König Kabuas Geburtstagsgeschenke im Museum für Völkerkunde entgegennahmen. In diesem Prozess trugen sie dazu bei, den König der Marshallinseln zu schwächen und den deutschen Kaiser zu stärken. Jedes dieser drei Beispiele veranschaulicht, wie Instabilität Teil des kolonialen Austauschs war und wie Kolonialbeamte und Ethnologen zusammenarbeiteten, um ethnografisches Material zum Zeichen einer ahistorischen, der Natur – und nicht Kultur – nahe stehenden Menschheit zu machen. Der wenig spektakuläre Austausch zwischen Unterzahlmeister Braun und einem Papua gefährdete die starke Abgrenzung, die zwischen Natur und Kultur gemacht wurde und auf der sowohl die deutsche Ethnologie als auch die deutsche Kolonialherrschaft beruhte. Die Integration ethnografischer Objekte in den musealen Kontext fixierte sowohl die koloniale als auch die ethnologische Interpretation dieses Austauschs. Die Speere, die zurzeit des Maji-Maji-Aufstands erbeutet wurden, waren jedoch so sehr von Geschichte gekennzeichnet, dass sie nicht im Museum für Völkerkunde ausgestellt werden konnten. König Kabua wiederum versuchte den Gegensatz zwischen dem alten feudal-monarchischen System und der modernen kaiserlichen Kolonialherrschaft geschickt zu seinem Vorteil zu nutzen. Während seine List ohne Erfolg blieb, unterstrich sein Versuch, dass selbst Objekte »ohne« Geschichte immer das Produkt von umstrittener Geschichte sind.
Ethnologische Sammlungen und die Geschichtswissenschaft Wenige würden heute die Ethnologie des 19. Jahrhunderts als Deutungsangebot der Welt in Anspruch nehmen. Im Gegenteil, sie wurde gleichermaßen zum Forschungsgegenstand wie die Sammlungen, die ins Museum gelangten. Der oftmals intensiv umkämpfte Prozess des Transfers der Objekte von den kolonisier© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ten Völkern bis ins Museum für Völkerkunde ließ Spuren zurück. Er erlaubt uns dadurch, sie als Grundlage für ein kritisches historisches »Gegenwissen« über den Kolonialismus und seine spezifischen Formen der Wissensproduktion heranzuziehen – hierfür ist dieser Essay ein Beispiel. Dieses historische »Gegenwissen« entstand nicht mit Hilfe der etablierten akademischen Disziplin der Geschichtswissenschaft, welche während des deutschen Kolonialismus noch weniger in der Lage war, die Gesellschaften zu verstehen, die Objekte des euro päischen Kolonialismus wurden, als es die Ethnologie konnte. Die akademische Disziplin der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert beruhte, nicht weniger als die Ethnologie, auf der ethnozentrischen Unterscheidung zwischen »Naturvölkern« und »Kulturvölkern«. Die Mitglieder beider Disziplinen waren in gleicher Weise unfähig, die Taten der Maji-Maji-Rebellen oder von König Kabua zu verstehen. Die politischen, militärischen, kulturellen Handlungen von Afrikanern sowie der Bewohner der südpazifischen Inseln und anderer kolonisierter Völker haben jedoch die Strukturen kolonialer Herrschaft so wirksam ins Wanken gebracht, dass diese Geschichten heute für Ethnologen und Historiker wissenswert erscheinen – sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden. Dieses historische »Gegenwissen« der letzten Dekaden entstand genauso wie die Völkerkunde des 19. Jahrhunderts aufgrund der Globalisierungen von Wissen. Wir – wie unsere wissenschaftlichen Vorfahren – haben Teil an den spezifischen globalen politischen und ökonomischen Netzwerken definiert durch Kolonialismus, Anti-Kolonialismus und Neo-Kolonialismus und sind abhängig von diesen. Wissen bewegt sich nicht einfach innerhalb dieser umstrittenen Netzwerke. Die Bewegungen innerhalb dieser Netzwerke selbst konstituieren Wissen – ob in den kolonialen akademischen Disziplinen des 19. Jahrhunderts oder in ihrem postkolonialen Pendant im 21. Jahrhundert.
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Ressourcen
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Public-private partnership Das koloniale Wissen und seine Ressourcen im langen 19. Jahrhundert. Einführung
Als der englische Forscher Mungo Park im Jahr 1795 zu seiner ersten Forschungsreise nach Afrika aufbrach, um den Verlauf des Niger-Flusses zu er forschen, konnte er sich auf eine ebenso illustre wie zahlungskräftige Runde von Angehörigen des britischen Establishments stützen, die sich in der 1788 gegründeten Association for Promoting the Discovery of the Interior Parts of Africa (heutzutage eher bekannt unter dem Namen African Association) zusammen gefunden hatten.1 Parks Reise war nicht die erste Forschungsexpedition ins Innere Afrikas, welche die Gesellschaft finanzierte, tatsächlich hatten sich in den Jahren 1788 bis 1790 schon eine Reihe von anderen Forschungsreisenden aufgemacht, um im Auftrag der Londoner Mäzene die europäische Landkarte Afrikas zu vervollständigen.2 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern setzte Park aber auf eine andere Route, indem er den Niger vom Senegal aus zu erreichen versuchte, anstatt wie bisher den Weg durch die Sahara zu wählen. Allerdings gelangte auch er nicht in das für die Europäer zu dieser Zeit noch mythische Timbuktu.3 Trotz des eher gemischten Erfolges seiner Reise kam Park nach seiner Rückkehr schnell zu breitem Ruhm in der britischen und europäischen Öffentlichkeit, denn sein im Jahr 1799 unter dem Titel »Travels in the Interior Districts of Africa« publiziertes Reisejournal entwickelte sich rasch zu einem Bestseller, der in Großbritannien bis 1810 in sechs Auflagen erschien und bereits 1800 ins Deutsche und Französische übersetzt war. Noch vor seinem geheimnisumwitterten Tod auf der zweiten Nigerreise im Jahr 1806 umgab Park damit eine große öffentliche Aura, die ihn zum ersten Vertreter jenes romantischen Bildes des heroischen Forschungsreisenden machte, welches das 19. Jahrhundert dominierte. Die Veröffentlichung macht aber auch deutlich, wie viel dieses Unternehmen den Ressourcen der African Association verdankte, denn Park widmete sein Buch nicht etwa dem britischen König, sondern jenen »noblemen and 1 Ich danke Pascal Schillings für zahlreiche Hinweise und Anmerkungen zu diesem Aufsatz. 2 Charles Withers, Mapping the Niger, 1798–1832. Trust, Testimony and ›Ocular Demonstration‹ in the Late Enlightenment, in: Imago Mundi 56. 2002, S. 170–193. 3 Frank T. Kryza, The Race for Timbuktu. In Search of Africa’s City of Gold, New York 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gentlemen« der Association, unter deren »patronage« er sich nach Afrika aufgemacht hätte.4 Die finanzielle und ideelle Unterstützung der Reise Parks und anderer Forscher durch die African Association wie auch ihre große Vermarktung in der Öffentlichkeit deuten auf einen entscheidenden Wandel der aufgeklärten Tradition des wissenschaftlichen Reisens am Ende des 18. Jahrhunderts: Diese veränderten sich nämlich in jener Zeit unter der Einflussnahme der bürgerlichen Öffentlichkeit, die über ihre Vereine sowie deren populäre Publikationen und Vorträge einen immer wichtigeren Anteil an der Finanzierung der Forschungsreisen in die nicht-europäische Welt und damit für die Herausbildung einer spezifischen »Explorationskultur« des 19. Jahrhunderts erhielt.5 Allerdings wäre es falsch, den eher graduellen und allmählichen Wandel als einen starken Bruch der bereits in der frühen Neuzeit entstandenen Kultur der wissenschaftlichen Reisen der Europäer6 anzusehen, standen doch durchaus schon früher private Initiativen hinter derartigen Unternehmungen. Vor allem der Handel und das Interesse an einer möglichen Ausbeutung von Pflanzen und Bodenschätzen bildeten wichtige Motive der europäischen Reisenden und ihres Sammelns von Wissen über die außereuropäische Welt.7 Doch erst durch die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehende bürgerlich-nationale Öffentlichkeit mit ihren wissenschaftlichen Vereinen8 erhielt diese Wissenspraxis ihren breiten Resonanzraum, der das lange 19. Jahrhundert aus europäischer Perspektive zum heroischen Zeitalter der Exploration machte. In diesem und damit nicht nur im rein finanziellen Sinne bildete die bürgerliche Öffentlichkeit des 19. Jahr hunderts eine zentrale Ressource für das Sammeln von Wissen über die nichteuropäischen Welten. Wie es die zweite, von der britischen Regierung finanzierte Reise Parks deutlich macht, lässt sich das Sammeln des Wissens über die nicht-europäische Welt im langen 19. Jahrhundert allerdings nicht allein als ein Unternehmen von rei4 Mungo Park, Travels in the Interior Districts of Africa, London 1799. 5 Zum Begriff der »europäischen Explorationskultur« des 19. Jahrhunderts siehe: Felix Driver, Distance and Distubance: Travel, Exploration and Knowledge in the Nineteenth Century, in: Transactions of the Royal Historical Society 14. 2004, S. 75. 6 Siehe hierzu unter anderem Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt (Das achtzehnte Jahrhundert – Supplementa, Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts; Bd. 11), Göttingen 2006; Hans Erich Bödeker, Arnd Bauerkämper, Bernhard Struck, Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt 2004; Hagen Schulz-Forberg (Hg.), Unravelling Civilisation. European Travel and Travel Writing, Brüssel 2005. 7 Harold Cook, Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age, Yale 2007. 8 Vgl. z. B. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, 2. A., München 2002; Ralph Jessen/Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der euro päischen Geschichte, Frankfurt 2002, Stefanie Samida (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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chen, wirtschaftlich interessierten Gentlemen darstellen. Denn auch der Staat hatte aus machtpolitischen Gründen einen nicht geringen Anteil und ein Interesse an diesen Unternehmungen, so dass diese in aller Regel – um einen anachronistischen, aber passenden Ausdruck zu verwenden – die Form einer publicprivate-partnership annahmen. Im Folgenden möchte ich in diesem Sinne jene zentralen Felder identifizieren, welche im 19. Jahrhundert wichtige Ressourcen für das immer öffentlichkeitswirksamere Sammeln von Wissen über die nicht-europäische, koloniale Welt darstellten. Wie bereits in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert, erlaubt es der hier gewählte, durchaus schillernde Begriff der »Ressource«, eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Phänomenen miteinander zu betrachten, die allesamt für die Vergrößerung des europäischen Wissens über die außer-europäische Welt von Bedeutung waren: finanzielle Unterstützungen ebenso wie eher ideelle, die öffentliche Aufmerksamkeit ebenso wie das private Engagement einzelner zentraler Akteure.9 Nicht nur materielle »Rohstoffe«, wie die Finanzierung, die Bereitstellung von Mitteln und Materialien für die europäische Forschung sowie die dafür verantwortlichen Institutionen, geraten auf diese Weise in den Blick des Historikers, sondern auch andere, immaterielle Ressourcen, welche die zeitgenössischen Akteure und Akteurinnen benötigten, um die Sammlung von Wissen über die außereuropäische Welt voranzutreiben. Dabei waren die verschiedenen Initiativen, Wissen im Rahmen von wissenschaftlichen Reisen, Handelsbeziehungen oder militärischen Expeditionen nach Europa zu bringen, durch ein Inund Miteinander von privaten und staatlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen, politischen und religiösen Motiven gekennzeichnet. Einige Historiker und Historikerinnen haben zurecht darauf hingewiesen, wie problematisch der in der Forschung eingeführte Begriff des »colonial knowledge« eigentlich ist, bündelt er doch eine Reihe von Momenten und Situationen der Sammlung von Wissen, die nicht in jedem Fall tatsächlich im Kontext der kolonialen Herrschaft stattfanden und nach den Vorstellungen der beteiligten Akteure auch nicht unbedingt zu ihrer Herstellung führen sollten.10 Dies 9 Vgl. zu den Diskussionen, die im Kontext des Historikertags 2012 über den »Ressourcen«Begriff in dem Internetforum von h-soz-u-kult geführt wurden: HSK Redaktion, H-Soz-uKult Debatte zu »Ressourcen« in den Geschichtswissenschaften: 1. Teil, in: H-Soz-u-Kult, 20.9.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=1876&type=diskussionen; dies., H-Soz-u-Kult Debatte zu »Ressourcen« in den Geschichtswissenschaften: Welche Narrative?, in: H-Soz-u-Kult, 21.9.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/ id=1885&type=diskussionen; dies.; H-Soz-u-Kult Debatte zu »Ressourcen« in den Geschichtswissenschaften: Welche Methoden?, in: H-Soz-u-Kult, 22.9.2012, siehe auch: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=1886&type=diskussionen. 10 Pierre Singaravelou, Professer l’Empire. Les »sciences coloniales« en France sous la IIIe République, Paris 2011, S. 16 ff. und Emmanuelle Sibeud, Une science impériale pour l’Afrique ? La construction des savoirs africanistes en France 1978–1930, Paris 2002, S. 9–17. Siehe auch Tony Ballantyne. Colonial Knowledge, in: Sarah Stockwell (Hg.), The British Empire. Themes and Perspectives, Oxford 2008, S. 177–197; Roy MacLeod, Introduction: Nature and Empire. Sciences and the Colonial Enterprise, in: Osiris 15. 2000, S. 1–13. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zeigen etwa die wissenschaftlichen Expeditionen, die von christlichen Missio naren wie Livingstone in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Afrika unternommen wurden. Allerdings banden sich auch diese Unternehmungen und das dabei produzierte Wissen in das Geflecht der ungleichen, hierarchischen Macht beziehungen zwischen Europa und der nicht-europäischen Welt ein, das sich unter dem Vorzeichen des sich im 19. Jahrhundert ausbreitenden Imperialismus noch weiter zu Ungunsten der letzteren verschob.11 Auch die von den Missionaren produzierten Wissensbestände waren ein Element der breiteren Veränderungen einer europäischen Wissensproduktion, welche die formelle wie informelle Herrschaft der Europäer begründete und damit die Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt in jener Zeit prägte. Denn ebenso wie die Angehörigen von europäischen Nicht-Kolonialmächten wie etwa Norwegen durchaus in das breitere europäische Unternehmen ›Kolonialismus‹ integriert sein konnten,12 blieb auch die nicht vordergründig einem kolonialen Anliegen verschriebene Wissensproduktion über die geteilten Klassifikationen und Stereotypen über die nicht-europäische Welt letztlich eng mit dem europäischen Projekt des Kolonialismus verknüpft. Colonial knowledge soll daher in diesem breiteren, kritischen Sinne nicht als ein allein an konkrete koloniale Situationen geknüpfte Wissensproduktion verstanden werden,13 sondern als das Ensemble jener europäischen Wissensbestände, welche sich in besonderer Weise auf die von kolonialen Interessen durchzogene außereuropäische Welt bezogen.14 Damit ordnet sich der Beitrag in eine Forschungsrichtung ein, die im britischen Kontext etwa als »Science and Empire-Studies« bezeichnet werden.15 Diese betrafen, wie die Forschung gezeigt hat, das ganze Kaleidoskop der unterschiedlichsten Wissensgebiete von der Kartografie und Geografie bis hin zur Archäologie und Ethnografie, Linguistik oder auch Botanik. In all diesen Feldern nutzten die Europäer das von ihnen im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte gesammelte Wissen sowie die dabei entwickelten Fremdbilder und Stereotypen zum Aufbau ihrer Herrschaft und zur Rechtfertigung der hierarchischen Machtbeziehungen, welche die globalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts prägten.16 Dass dabei durch die Prozesse der Zirkulation in vielen Fällen auch nichteuropäische Wissensbestände in das »europäische« koloniale Wissen einflossen, hat beispielsweise Kapil Raj anschaulich an den engen Vernetzungen gezeigt, die 11 Siehe hierzu allgemein Christopher Bayly, Die Geburt der Modernen Welt. Eine Globalgeschichte, 1780–1914, Frankfurt 2006; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 20092. 12 Kirsten Alsaker Kjerland/Knut M. Rio (Hg.), Kolonitid. Nordmenn på eventyr og big business in Afrika og Stillehavet, Oslo 2009. 13 So aber Singarvelou, Professer, S. 16 ff. 14 Ähnlich auch Londa Schiebinger, Forum Introduction: The European Colonial Science Complex, in: Isis 96. 2005, S. 52–55, hier S. 52 f. 15 Vgl. etwa Mark Harrison, Sciences and the British Empire, in: Isis 96.2005, S. 56–63; Benedikt Stuchtey (Hg.), Sciences across the European Empires, 1800–1950, Oxford 2005. 16 Osterhammel, Verwandlung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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sich schon seit dem 17. Jahrhundert im britisch-indischen Raum ergaben.17 Hier sollen jedoch weniger solche Prozesse der Ko-Konstruktion von Wissen und die an ihr beteiligten »Go-Betweens«18 in den Blick genommen werden, als vielmehr die unterschiedlichen Bereiche, aus denen insbesondere die europäischen Beteiligten an diesen Unternehmungen ihre Ressourcen zogen. Dabei lassen sich mindestens vier zentrale Kontexte unterscheiden, in denen sich wesentliche Ressourcen für die Sammlung des kolonialen Wissens im 19. Jahrhundert bündelten. Die jeweiligen Zusammenhänge, von den Geografischen Gesellschaften über die »offizielle« Wissenschaft sowie den Staat mit seinen Machtmitteln bis hin zur »civil society« und ihren Akteuren in Handel und Industrie sowie in den neu entstehenden kolonialen Siedlergesellschaften, wirkten dabei selten allein, sondern in wechselnden Konstellationen oftmals durchaus als »Ressourcen füreinander«, wie es Mitchell Ash und andere allgemeiner am Beispiel von Wissenschaft und Politik beziehungsweise Wissenschaft und Öffentlichkeit dargestellt haben.19 Nicht alle diese Ressourcenfelder waren neue Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, doch erklärt gerade ihre Vielfalt und ihr Zusammenspiel die besondere Dynamik, welche die Prozesse der Aneignung des kolonialen Wissens im 19. Jahrhundert erlebte: denn angesichts des steigenden Interesses der europäischen Gesellschaften an der außereuropäischen Welt und der wachsenden Begeisterung für ihre Ausbeutung und politische Kontrolle multiplizierten sich im Verlauf des Jahrhunderts nicht nur die Zahl der beteiligten Akteure, sondern auch die zur Verfügung gestellten und stehenden Mittel und Ressourcen.
Die Explorationskultur der geografischen Gesellschaften Das Aufkommen und die europäische Verbreitung der wissenschaftlichen Gesellschaften, welche sich der Sammlung von Wissen über die außereuropäische Welt verschrieben und die entscheidend die zeittypische Explorationskultur prägten, ist sicherlich eines der charakteristischsten Kennzeichen der euro päischen Wissenskultur des 19. Jahrhunderts. Die eingangs erwähnte African 17 Kapil Raj, Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Scientific Knowledte in South Asia and Europe. Seventeenth to Nineteenth Century, New Dehli 2006. Siehe auch mit ähnlichen Perspektiven: Patrick Harries, Butterflies & Babarians. Swiss Missionaires & Systems of Knowledge in South East Africa, Athens 2007; Barry Crosbie, Ireland, Colonial Sciences, and the Geographical Construction of British Rule in India, c. 1820–1870, in: The Historical Journal 52. 2009, S. 963–987. 18 Simon Schaffer u. a. (Hg.), The Brokered World. Go-Betweens and Global Intelligences. 1770–1820, Sagamore Beach 2009. 19 Mitchell Ash, Wissenschaft und Politik als Ressource füreinander, in: Rüdiger vom Bruch/ Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51; Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Society bildete als eine regional auf den afrikanischen Kontinent orientierte Gesellschaft in diesem Zusammenhang eigentlich eine Ausnahme, denn die Mehrzahl der sich im Laufe des Jahrhunderts gründenden Vereinigungen stellten sich wie die 1821 in Paris ins Leben gerufene Société de Géographie von Anfang an in den breiteren Rahmen der neuen Disziplin, die sich im deutschen Kontext zuweilen auch als »Erdkunde« bezeichnete.20 Zwei große Gründungswellen lassen sich für die europäische Verbreitung der Gesellschaften bestimmen, wobei die erste in die Zeit der 1820er und 1830er Jahre fällt, in denen nach dem Vorbild der Société de Géographie in zahlreichen europäischen Haupt- und Großstädten ähnliche Vereine entstanden, so 1828 die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, 1830 die Royal Geographical Society in London und 1836 die Frankfurter Geographische Gesellschaft. Diese Gesellschaften waren ähnlich wie die African Society Ausdruck einer zeitgenössischen »gentlemen science«, verband sich in ihnen doch das spätaufgeklärte Ideal einer kosmopolitischen Wissenschaft mit dem sozialen Prestige eines privaten Klubs, dessen Mitglieder sich aus der so genannten »besseren Gesellschaft« rekrutierten.21 In London beispielsweise gehörten zu den in der Royal Geographical Society engagierten Angehörigen dieser Kreise insbesondere die im Überseehandel engagierten Kaufleute der Londoner City, welche das Rückgrat des »gentlemanly capitalism« des viktorianischen Englands bildeten.22 Dank einer Vielzahl von sog. »korrespondierenden Mitgliedern« bestanden zwischen den Vereinen zudem enge Verflechtungen, ausgedrückt beispielsweise in der zentralen Rolle, die Alexander von Humboldt als Gründungsmitglied der Pariser Société de Géographie ebenso bei der Einrichtung der Berliner Gesellschaft für Erdkunde spielte.23 Der sozial exklusive Charakter der Vereine, aber auch die engen Vernetzungen ihrer Mitglieder mit Wissenschaft und Staat verdeutlicht sehr anschaulich die Figur von Sir Joseph Banks, eines der Mitbegründer und eifrigsten Mitglieder der African Association.24 Banks, der aus einer reichen adeligen Familie aus Lanca shire stammte und die für einen Gentleman in jener Zeit typische halb-akademische Ausbildung genossen hatte, gehörte zu den Teilnehmern der ersten Reise Cooks auf der Endeavour in den Jahren 1768 bis 1771, die von der britischen Royal Navy zusammen mit der Royal Society organisiert worden war.25 Vor, während und nach der Reise brachte er einen beträchtlichen Teil seines Privatvermö20 Vgl. hierzu zentral Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011. 21 Siehe etwa Robert Stafford, Scientist of Empire. Sir Roderick Murchinson. Scientific Exploration and Victorian Imperialism, Cambridge 1989. 22 Raymond E. Dumett (Hg.), Gentlemanly Capitalism and British Imperialism: The New Debate on Empire, New Work 1999. 23 Ulrich Päßler, Ein ›Diplomat aus den Wäldern des Orinoko‹: Alexander von Humboldt als Mittler zwischen Preußen und Frankreich, Stuttgart 2009. 24 Siehe zu Banks auch den Beitrag von Iris Schröder in diesem Band. 25 John Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture, Cambridge 1994. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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gens dafür auf, sich gestützt auf die Mitarbeit einer Vielzahl von Gehilfen und Malern eine breite Reputation als (Laien)Wissenschaftler und Wissenschafts organisator zu verschaffen. 1778 gelangte er so an die Spitze der Royal Society, die nicht den Status einer staatlichen Verwaltung besaß, aber durch ihre Funktion als offizielle Beratungsinstanz des Königs doch eng in den spätabsolutistischen Staat eingebunden war.26 In der African Association trat Banks jedoch weniger in dieser offiziellen Funktion in Erscheinung, als vielmehr in seiner Eigenschaft als Angehöriger jenes exklusiven Kreises von »noblemen and gentlemen«, welche sich als Mäzene der britischen Afrika-Forschung verstanden. Außerordentlich enge Beziehungen unterhielten die geografischen Gesellschaften mit den europäischen Missionaren der verschiedenen Konfessionen, zumal sich diese Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Regionen der Welt jenseits der »frontier« des europäischen Machteinflusses aufhielten und damit wichtige Informationen über die vermeintlich »weißen Flecken« der europäischen Landkarte beisteuern konnten.27 Nur selten wurden Missionare allerdings tatsächlich in die Gesellschaften aufgenommen bzw. durften als Entdecker oder Forschungsreisende vor dem erlauchten Kreis der geografischen Vereinigungen auftreten, wie das bei David Livingstone der Fall war, der sein 1857 veröffentlichtes Werk »Missionary Travels and Researches in South Africa« explizit dem Vorsitzenden der Londoner Royal Geographical Society Roderick Murchison gewidmet hatte.28 Allgemein blieb, wie die Forschung gezeigt hat, die »missionary science« in den Augen der europäischen »Lehnstuhl-Geographen« eine eher weniger anerkannte, untergeordnete Tätigkeit, so dass die Missionare mit ihren Berichten zwar in vielen Bereichen einen wichtigen Beitrag zum kolonialen Wissen leisteten,29 dafür jedoch nur selten in der europäischen Wissenschaft auch wirklich gewürdigt wurden, da sie nicht dem hier vorherrschenden Ideal des »Forschungsreisenden« entsprachen.30 Im Kontext der immer populärer werdenden Mode der Forschungsreisen und der wachsenden imperialen Begeisterung breiter Kreise der Bevölkerung kam es ab der Mitte der 1870er Jahre unter dem Vorzeichen des europäischen Hochimperalismus dann zu einer zweiten Gründungswelle von geografischen Ver 26 Ders., Science in the Service of Empire. Joseph Banks, the British State and the Uses of Science in the age of Revolution, Cambrige 1998, S. 30–33. Zur wissenschaftlichen Praxis der Royal Society in der Zeit Cooks siehe auch: Andrew S. Cook, James Cook and the Royal Society, in: Glyndwr Williams (Hg.), Captain Cook. Explorations and Reassessments, Woodbridge 2004, S. 37–55. 27 John Barker, When the Missionary Frontier Ran Ahead of Empire, in: Norman Etherington (Hg.), Mission and Empire, Oxford 2005, S. 86–106. 28 David Livingstone, Missionary Travels and Researches in South Africa 29 Siehe etwa Harries, Butterflies; ders., Anthropology, in: Etherington, Mission, S. 238–260; Norman Etherington, Education and Medicine, in: ebd., S. 261–284. 30 David N. Livingstone, Scientific Inquiry and the Missionary Enterprise, in: Ruth Finnegan (Hg.), Participating in the Knowledge Society. Researchers beyond the University Walls, London 2005, S. 50–64; Georgina Endfield, The Mission, in: John A. Agnew/David N. Livingstone (Hg.), The Sage Handbook of Geographical Knowledge, London 2011, S. 202–216. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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einen, in der sich beispielsweise 1873 in Amsterdam die Koninklijk Nederlands Aardrijkskundig Genootschap, 1875 in Lissabon die Sociedade de Geografia, 1876 die Sociedad Geográfica de Madrid und 1876 die Société Royale Belge de Géographie gründeten. Wie das Beispiel der niederländischen Gesellschaft zeigt, hatte sich dabei der Charakter der Vereinigungen gegenüber den älteren Gründungen deutlich verändert: Statt eines breiten europäischen Wissensaustauschs zwischen Gelehrten und Laien über Fragen der Geografie der nicht-europäischen Welt standen jetzt der nationale koloniale Rahmen und die praktische Anwendung des Wissens im eigenen Land und in seinen kolonialen Besitzungen im Vordergrund.31 Die Neugründungen in den verschiedenen europäischen Ländern vollzogen damit eine Entwicklung nach, die sich nach Dominique Lejeune im Kontext der älteren Pariser Société de Géographie bereits in der Mitte der 1860er Jahre abgezeichnet hatte: der Wandel der geografischen Bewegung von primär wissenschaftlich-gelehrten Vereinigungen hin zu eher politisch orientierten Stützen der kolonialen Bewegungen.32 Für die Explorationskultur des 19. Jahrhunderts stellten die geografischen Vereine eine ganze Reihe von wichtigen Ressourcen zur Verfügung: Nicht nur steuerten sie eigene finanzielle Mittel und eine allgemeine Patronage bei, die für die Vorbereitung und Ausrichtung der Forschungsreisen notwendig waren, sondern sie boten auch einen breiteren Resonanzraum für die wissenschaftlichen und politischen Anliegen der Forscher. Vor und nach den Expeditionen wurden diese ausführlich in den Gesellschaften verhandelt, ihre wissenschaftlichen Ziele und Erträge diskutiert, was einen wichtigen Publizitätseffekt für die einzelnen Unternehmen besaß, denn diese erreichten auf diese Weise auch international eine breite interessierte Öffentlichkeit. Die Vereine stellten gleichzeitig sicher, dass das auf den Reisen produzierte Wissen in den europäischen Kanon aufgenommen, anerkannt und in die aktuell laufenden intellektuellen Debatten eingeordnet wurde. Dabei stützten sie sich – wie Alexandra Przyrembel in ihrem Beitrag zeigt – auf eine ganze Kette unterschiedlicher Medien, ihre eigenen Hauszeitschriften ebenso wie auf eine wachsende Zahl von privat heraus gegebenen Publikationsorganen wie die in Gotha erscheinenden »Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt«. Die anfängliche Weigerung der Londoner Royal Geographical Society, den amerikanisch-irischen Journalisten Henry Morton Stanley nach seiner Rückkehr aus Afrika und dem Zusammentreffen mit Livingstone am Tanganyka-See zu empfangen,33 macht in diesem Zusammenhang deutlich, wie sozial exklusiv die Vereinigungen dennoch blieben – was den Kreis der begünstigten Forscher 31 Paul van der Velde, The Royal Dutch Geographical Society and the Dutch East Indies, 1873–1914: from Colonial Lobby to Colonial Hobby, in: Morag Bell/Robin Butlin/Michael Heffernan (Hg.), Geography and Imperialism 1820–1940, Manchester 1995, S. 80–92. 32 Dominique Lejeune, Les membres des Sociétés de géographie au XIXe siècle, in : Communications 54 (1992), S. 161–174, hier S. 163. 33 Tim Jeal, Stanley. The Impossible Life of Africa’s Greatest Explorer, London 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zwangsläufig einschränkte. Das Label einer öffentlichen Unterstützung durch die Vereine war ein rares Gut, um das sich die Forschungsreisenden sehr bemühen mussten, das ihnen dann aber auch wieder neue Ressourcen, etwa eine Förderung staatlicher Stellen, eröffnen konnte. Vereine wie die Koninklijk Nederlands Aardrijkskundig Genootschap wandten sich beispielsweise regelmäßig an die Verwaltung mit Forderungen, diese sollte die bereits von den Gesellschaften geförderten Forschungsreisen auch ihrerseits durch öffentliche Gelder unterstützen.34 Das wissenschaftliche Prestige, das die Vereine versprachen, sowie ihre enge Vernetzung mit den kolonialpolitischen Milieus der jeweiligen Länder hatte somit noch einen weiter gehenden Wert für die Forschungsreisenden, der sich wiederum an anderer, staatlicher Stelle in konkrete Unterstützungsleistungen eintauschen ließ.
Die europäische Wissenschaft und das koloniale Wissen Das große Engagement, welche die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert und ihre geografischen Vereinigungen für die Sammlung von Wissen über die nicht-europäische Welt an den Tag legten, darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass eine Reihe von klassischen Institutionen der europäischen Wissenschaft weiterhin zentrale Ressourcen für die Sammlung von kolonialem Wissen bereitstellten. Dies betraf neben den Akademien und Universitäten35 ebenfalls die botanischen Gärten, welche schon in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle für den globalen Austausch von Wissen über die Pflanzenwelt der verschiedenen Kontinente gespielt hatten.36 David Mackay, Marie-Noëlle Bourguet, Christophe Bonneuil und andere haben in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, welche wichtigen Funktionen die Biologen und mit ihnen die botanischen Gärten im imperialen Kontext besaßen, indem sie ein Netzwerk des Austausches von Objekten und Wissen aufrecht erhielten, das nicht nur die Verschickung nichteuropäischer Samen und Pflanzen nach Europa, sondern auch die Zirkulation von Nutzpflanzen wie den Kaffee oder Tee in die verschiedenen Regionen der europäischen Imperien organisierte.37 Die Klassifizierung und Katalogisie34 Van der Velde, The Royal Dutch, S. 85 ff. 35 John Gascoigne, Science in the Service of Empire. 36 Siehe auch: Patricia Fara, Sex, Botany, and Empire: The Story of Carl Linnaeus and Joseph Banks, New York 2004. 37 David Mackay, Agents of Empire. The Banksian Collectors and the evaluation of new lands, in: David Ph. Miller/Peter H. Reill (Hg.), Visions of Empire. Voyages, Botany and the Representation of Nature, Cambridge 1996, S. 38–57; Marie-Noelle Bourguet/Chris tophe Bonneuil, De l’inventaire du globe à la ›mise en valeur‹ du monde: botanique et colonisation (fin XVIIIe siècle – début XXe siècle), in : Revue Française d’Histoire d’OutreMer 322–323. 1999, S. 9–38; ders., Crafting and Disciplining the Tropics: Plant Science in the French Colonies, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.), Science in the Twentieth Century, Harwood 1997, S. 77–96. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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rung der Pflanzen, welche die Biologen in den außereuropäischen Ländern vor nahmen, half den europäischen Kolonialmächten, eine billige Versorgung mit Medizin, Nahrung und Luxuswaren für den heimischen Markt sicherzustellen sowie Ersatz für teure Grundstoffe und Luxusgüter zu finden.38 Ähnlich wie in den Museen, die bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vergleichbare Entwicklungen durchmachten,39 war auch in den botanischen Gärten im 19. Jahrhundert ein allgemeiner Professionalisierungsprozess sowie gleichzeitig eine verstärkte Öffnung gegenüber dem bürgerlichen Publikum zu verzeichnen:40 Kew Garden, das botanische Herz des britischen Imperiums, wurde beispielsweise erst ab Anfang der 1840er Jahre für die Öffentlichkeit zugänglich, die ein starkes Interesse an der exotischen Pflanzenwelt hegte.41 Professionalisierung und Öffnung gingen Hand in Hand mit einer stetigen Vergrößerung des Personals, das einerseits die ausgestellten Exemplare pflegen, andererseits aber auch den steten Austausch mit den zahlreichen professionellen Botanikern und Laienbotanisierern halten musste, welche als »agents of Empire« außerhalb des Mutterlandes für den steten Nachschub an neuen Samen und Pflanzen sorgten.42 Nicht nur Forschungsreisende und Entdecker, sondern auch Militärs, Ärzte, Missionare, Händler oder Kolonialbeamte waren Teil dieses breiten botanischen Netzwerkes, in dem Informationen ebenso wie konkrete Anschauungsmaterialien und Proben zirkulierten. Je mehr Europäer im Laufe des Jahrhunderts in die anfänglich noch unbekannten Regionen der Welt und später auch in die neuen Kolonien zogen, desto mehr vergrößerten sich auch dieses und andere Netzwerke der Wissenschaftler und wissenschaftlich interes sierter Laien, die das koloniale Wissen nach Europa brachten. Mit der Entwicklung der Archäologie43 und der Ethnografie44 kamen zudem weitere wissenschaftliche Disziplinen hinzu, die sich der Sammlungen von Ob38 Londa Schiebinger, Plants and Empire. Colonial Bioprospecting in the Atlantic World, Cambridge 2007, S. 11. 39 Ellinoor Bergvelt u. a. (Hg.) Napoleon’s Legacy. The Rise of National Museums in Europe 1794–1830, Berlin 2009; Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland. 1701–1815, Mainz 2006. 40 Emma C. Spary, Utopia’s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution, Chicago 2000. 41 Richard Drayton, Nature’s Government. Science, Imperial Britain and the ›Improvement‹ of the World, New Haven 2000. 42 Christophe Bonneuil, The Manufacture of Species: Kew Gardens, the Empire and the Standardisation of Taxonomic Practices in late 19th century Botany, in: Marie-Noëlle Bourguet/Christian Licoppe/Otto Sibum (Hg.), Instruments, Travel and Science. Itineraries of Precision from the 17th to the 20th century, London 2002, S. 189–215. 43 Charlotte Trümpler (Hg.), Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940), Essen 2010. 44 H. Glenn Penny, Objects of Culture: Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2001. Die weitere Entwicklung im 20. Jahrhundert analysiert Anja Laukötter, Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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jekten der außereuropäischen Welt widmeten und die ältere Kultur der frühneuzeitlichen »Wunderkammern« des europäischen Barocks unter dem Vorzeichen einer wissenschaftlichen Bearbeitung, Pflege und Präsentation der Objekte im Museum transformierten. Dies bedeutete einen regelrechten Boom für die Sammlung derartiger Objekte und damit weitere Ressourcen für die mit ihrem Transfer nach Europa befassten Agenten.45 Nicht anders als die botanischen Gärten sicherten die Museen den diversen agents of Empire nicht nur die Integration des von ihnen gesammelten Wissens in den Kanon der europäischen Wissenschaft und boten insofern Prestige und Anerkennung für ihre wissenschaft lichen Arbeiten, vielmehr hatten sie auch auf der finanziellen Ebene eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung, da sie zur Vergrößerung ihrer Sammlungen Materialien und Objekte aus der nicht-europäischen Welt aufkauften.46 Schon lange bevor im 20. Jahrhundert der offizielle Kunsthandel die Objekte der kolonialen Welt als künstlerisch wertvolle Gegenstände entdeckte,47 existierte nämlich ein breiter und sehr einträglicher internationaler Handel von archäologischen und ethnologischen Artefakten, welcher insbesondere die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in immer größerer Zahl eingerichteten Museen belieferte.48 Der Fall der Übertragung der archäologischen Ausgrabungsobjekte in die europäischen Museen macht deutlich, wie ungleich die Position der europäischen und nicht-europäischen Akteure in diesem Zusammenhang war, schreckten doch erstere nicht vor Raub und Täuschung zurück, um sich die jeweiligen Kulturgüter anzueignen.49 Im Umgang mit den Behörden und einflussreichen Personen vor Ort entwickelten die europäischen Archäologen zahlreiche Strategien, um die vorhandenen Kontrollen und Beschränkungen zu umgehen, wobei sie sich gleichzeitig die Komplizenschaft einzelner lokaler Akteure sicherten. Letztlich bestand eine wichtige Expertise der Archäologen daher auch im Wissen über den Umgang mit den jeweiligen Akteuren vor Ort, denn dies bildete die Basis für den Zugang zu den einträglichen Handels- und Austauschbeziehungen mit den europäischen Museen. Es wäre dennoch sicherlich falsch, den außerhalb Europas tätigen Archäologen allein ökonomische Gründe für den Transfer der archäologischen Artefakte in die europäischen Museen zu unterstellen, denn auch die wissenschaftliche Reputation der Ausgräber und ihr Ansehen in der nationalen wie internationa45 Vgl. hierzu zum Fall der französischen Ethnografie mit Bezug auf Afrika und ihre enge Zusammenarbeit mit der Société de Géographie de Paris: Sibeud, Une Science impériale, S. 29 ff. 46 John MacKenzie, Museums and Empire. Natural History, Human Cultures and Colonial Identities, Manchester 2010. 47 Sophie Leclercq, La Rançon du colonialisme. Les surréalistes face aux mythes de la France coloniale (1919–1962), Paris 2010. 48 Penny, Objects, S. 51–94; Jakob Vogel, Wissenschaft am Rande Europas? Osman Hamdi Bey und die Professionalisierung der osmanischen Archäologie, in: Isabella Löhr/Matthias Middell/Hannes Siegrist (Hg.), Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart 2012, S. 169–179. 49 Siehe hierzu die Beispiele in: Trümpler, Das große Spiel; Vogel, Wissenschaft. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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len Öffentlichkeit boten starke Motive zur Beteiligung an diesen Netzwerken. Die Ausgrabungsaktivitäten und Entdeckungen von deutschen Archäologen im Vorderen Orient gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie etwa Carl Humanns Grabungen im antiken Pergamon, und die hiervon in die europäischen Museen verbrachten Fundstücke, galten in diesem Sinne als wichtige nationale Prestigetaten, da sie es den jeweiligen Regierungen und Öffentlichkeiten erlaubten, die Bedeutung der »eigenen«, nationalen Wissenschaft in dem »großen Spiel« der internationalen Rivalität der europäischen Forscher und Entdecker hervorzu heben.50 Auch das nationale und internationale Ansehen war in diesem Sinne eine wichtige Ressource für die Wissenschaftler und Reisenden, die sich ihrerseits wieder in materielle und ideelle Unterstützungsleistung ummünzen ließ. Glenn Penny hat am Beispiel der Völkerkundemuseen im deutschen Kaiserreich jedoch auch gezeigt, dass in diesem Bereich nicht nur nationale, sondern auch lokale Interessen wichtige Ressourcen für das Engagement der Wissenschaftler und ihrer Förderer darstellten, denn viele der neu errichteten Museen waren am Ende des 19. Jahrhunderts keine staatlichen, sondern städtische Projekte, geradezu Prestigeobjekte der jeweiligen bürgerlich-städtischen Eliten.51 Diese sahen in den aufwändigen Museen eine Chance, ihre eigene Stadt auf zuwerten und sie auch auf einer internationalen Ebene als anerkannte Orte des kolonialen Wissens neben die hauptstädtischen Zentren mit ihren alten, meist aus königlichen Sammlungen hervorgegangenen Museen zu stellen. Nicht anders als im Bereich der geografischen Vereine sehen wir daher auch hier die spezifischen Dynamiken der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts am Werk, welche dem kolonialen Wissen in ihrem Pantheon der kulturellen Artefakte und Objekte eine besonders hohe, herausgehobene Stellung zuschrieb.52
Der koloniale Staat und seine Ressourcen: Schutz, Transport und Administration des Wissens Wenn wir auch in diesem Sinne die Vielzahl und Dynamik der Akteure in dem Feld der globalen Wissenszirkulation des 19. Jahrhunderts nicht unterschätzen dürfen, blieben doch im Rahmen des public-private partnerships einige zentrale Ressourcen nahezu ausschließlich in staatlicher Hand: hierzu zählten die klassischen Machtmittel wie militärischer und diplomatischer Schutz ebenso wie die finanziellen und organisatorischen Mittel, welche die Verwaltung insbesondere im Rahmen des Kolonialstaates zur Verfügung hatte. Staatliche Schutzbriefe oder offizielle Aufträge waren daher ein wichtiges Gut, mit dem sich die meis50 Trümpler, Das große Spiel. 51 Penny, Objects. 52 Siehe zu dieser Dynamik auch das Beispiel der Stadt Köln: Marianne Bechhaus-Gerst/ Anne-Kathrin Horstmann, Köln und der deutsche Kolonialismus. Eine Spurensuche, Köln 2013. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ten europäischen Reisenden versahen, nicht nur wenn sie in die bereits im kolo nialen Besitz befindlichen Gegenden reisten. Auch Alexander von Humboldt benötigte für seine Südamerikareise einen Schutzbrief des Consejo de Indias, den er nur durch ein intensives Antichambrieren am spanischen Hof erhielt.53 Demgegenüber verweigerte ihm der Hof in Lissabon eine solche Unterstützung und verbot dem preußischen Gelehrten unter Androhung einer Gefängnisstrafe ausdrücklich die Einreise in die portugiesischen Besitzungen in Südamerika.54 Als Gegenleistung für das Wohlwollen der spanischen Krone verpflichtete sich Humboldt, von seiner Reise Pflanzen und Mineralien für die spanischen Museen und Botanischen Gärten nach Europa zu schicken.55 Auch eines der ersten wissenschaftlichen Werke seiner Reise, die 1803 verfassten »Tablas geográficas del reino de Nueva España«, verstand er als einen Dank für die Unterstützung der spanischen Behörden für sein Unternehmen und übergab nicht nur Auszüge dem Vizekönig in Mexiko, sondern übersandte auch eine Abschrift direkt an den König in Madrid.56 In der bildlichen Inszenierung der Reise durch die preußischen Maler und ihrer Präsentation in der deutschen Öffentlichkeit verschwanden diese kolonialen Aspekte der Reise interessanter Weise allerdings vollkommen: hier erschien Humboldt ganz als Verkörperung des stereotypen Bildes des »Forschungsreisenden« in einer durch und durch exotischen Natur, der höchstens durch seinen »Gefährten« Aimé Bonpland, sonst aber nur durch seine Kleidung und Habitus sowie einige wissenschaftliche Instrumente als europäischer Wissenschaftler zu identifizieren war.57 Im Rahmen des von der romantischen Öffentlichkeit geprägten Bildes des »Forschungsreisenden«, so macht dieses Beispiel deutlich, hatten derartige Bezüge zur kolonialstaatlichen Wirklichkeit der von Humboldt bereisten Regionen ganz offensichtlich keinen Platz. Schwieriger als in den europäischen Kolonien war die Frage des Schutzes für die europäischen Reisenden in all jenen Regionen, die nicht unter der direkten Herrschaft der Kolonialmächte standen – auch wenn dieser Aspekt einen Teil des »Abenteuers« ausmachte, das die Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts allgemein mit den Entdeckungsreisen verband. Hier halfen die staatlichen Stellen in einzelnen Fällen insofern weiter, als sie Soldaten abstellten, welche die Reisenden begleiten und beschützen sollten. An James Cooks erster Reise auf der Endeavour nahmen beispielsweise dreizehn Soldaten der Royal Marines teil, die für die Sicherheit der mitreisenden Wissenschaftler sorgten. Vereinfacht wurde 53 Sandra Rebock, Alexander von Humboldt und Spanien im 19. Jahrhundert. Analyse eines wechselseitigen Wahrnehmungsprozesses, Frankfurt 2006. 54 Ebd., S. 202. 55 Dorothea Schuster, Die Rezeption des Corpus Americanum von Humboldt in spanischen Medien des 19. Jahrhunderts, Köln o.J, S. 10, online unter: http://lateinamerika.phil-fak. uni-koeln.de/fileadmin/sites/aspla/bilder/arbeitspapiere/schuster.pdf, zuletzt eingesehen am 25.4.2013. 56 Ebd., S. 11 f. 57 Zur deutschen Bildwelt um die Reisen Humboldts siehe den Ausstellungskatalog Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, Berlin 1999. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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die Beziehung zum Militär natürlich immer dann, wenn die Forscher bereits der Marine oder der Armee angehörten, wie das beispielsweise bei Cook der Fall war. Diese Zusammenarbeit von Militär und Wissenschaft sicherte, wie zuletzt James Hevia gezeigt hat, dem Staat bzw. dem Militär umgekehrt wertvolle Informationen, die auf militärisch-politischer Ebene für den Aufbau des Kolonialreichs als eines »imperial security state« von Bedeutung waren.58 Angesichts der zentralen Rolle, welche das Militär im Kontext des französischen Kolonialismus spielte, ist es insofern nicht erstaunlich, dass sich ein Großteil der französischen Expeditionen der zweiten Jahrhunderthälfte, die zur Erkundung und zum Aufbau des Kolonialreiches in West- und Zentralafrika durchgeführt wurden, in den Händen von Militärs befand. Dabei kam es geradezu zwangsläufig zu einer engen Verquickung von wissenschaftlichen und kolonialpolitischen Motiven. Besonders anschaulich zeigte sich dieses Moment etwa bei der »Mission Kongo-Nil«, der sog. »Mission Marchand«, benannt nach ihrem Anführer, dem Major Jean-Baptiste Marchand, der 1896 im offiziellen Regierungsauftrag aus Brazzaville im französischen Kongo in die Region des heutigen südlichen Sudans aufbrach.59 Vorbereitet und finanziert wurde die Expedition, an der neben 12 französischen Offizieren auch etwa 150 Schwarz afrikaner, zumeist Hilfstruppen der »tirailleurs sénégalais« teilnahmen, nicht nur vom französischen Kolonialministerium, sondern auch von der Société de Géographie de Paris, die 1903 auf der Basis der geografischen Erkundungen eine Karte Zentralafrikas herausgab.60 Bekanntermaßen endete die Reise der Franzosen im Januar 1899 vor Faschoda im Konflikt mit einer in der Region operierenden britischen Streitmacht, was die enge Verknüpfung des vorgeblich wissenschaftlichen Unternehmens mit den kolonialpolitischen Streitpunkten der europäischen Imperialmächte verdeutlicht. Doch die offizielle Unterstützung für Marchand lag am Ende nicht nur in der Mobilisierung von gewaltigen Geldmitteln (es wurden allein 450 Tonnen an Material nach Brazzaville verbracht, von denen später 90 Tonnen von der Expe dition auf ihrem Weg mitgeführt wurden), sondern auch in der Durchsetzung der Zwangsarbeit in der kongolesischen Bevölkerung, mit der der Transport dieser Unmengen überhaupt erst vor Ort durchgeführt werden konnte.61 Dass dies trotz der Gewaltmittel des kolonialen Staates kein leichtes Anliegen war, machten die Unruhen deutlich, welche die Mission im Kongogebiet hervorrief und die 58 James Hevia, The Imperial Security State. British Colonial Knowledge and Empire- Building in Asia, Cambridge 2012. 59 Pierre Pellessier, Fachoda et la Mission Marchand 1896–1899, Paris 2011. 60 Mission Marchand. Haut-Oubangui, Bahr-el-Ghazal, Nil, Ethiopie, Djibouti. Carte dressée et dessinée par le commandant Baratier, d’après les travaux topographiques et astronomiques de la Mission Marchand et d’après les itinéraires des officiers du Haut Oubangui, de mr Faivre… de la Mission de Bonchamp, de la Mission Bottégo et des anciens voyageurs; carte publiée sous les auspices de la Société de Géographie de Paris, Paris 1903. 61 Marc Michel, Autour de la Mission Marchand: le rappel de Brazza en 1897, in: Cahiers d’Etudes africaines 7 (1967), S. 152–185, insb. S. 157–162. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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1897 gar zur Abberufung des Gouverneurs de Brazza führten. In diesem Zusammenhang zeigte sich aber auch, welch wichtige Ressource in einer solchen Konstellation die politische Unterstützung durch einflussreiche Persönlichkeiten der Zentraladministration und Politiker darstellte, denn Marchand konnte vor allem dank ihrer tatkräftigen Hilfe seine Position in dem lokalen Konflikt um die Rekrutierung der Träger durchsetzen.62 In dem Maße, in dem die europäischen Kolonialmächte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen des Hochimperialismus in weiten Teilen der Welt ihre koloniale Herrschaft auf- und ausbauten, bzw. ihre zunächst gegenüber den anderen europäischen Mächten geäußerten Herrschaftsansprüche überhaupt erst durchzusetzen begannen,63 wurden derartige Unterstützungs leistungen durch die lokalen Kolonialbehörden für die Forscher und Wissenschaftler tatsächlich immer wichtiger. In weiten Teilen der Welt, aber vor allem in Afrika veränderte sich hierdurch der Kontext ihrer Forschungen tiefgehend und näherte die Arbeitsbedingungen der Forschungsreisenden mehr und mehr jenen Umständen an, in denen Alexander von Humboldt zu Beginn des Jahrhunderts seine Reise in Lateinamerika unternommen hatte. Der Ausbau des imperialen Verwaltungsapparats am Ende des 19. Jahr hunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Jürgen Osterhammel spricht in diesem Zusammenhang von der Entwicklung eines »bürokratischen Interventionsstaates« in den Kolonien64 – bedeutete aber auch in anderer Hinsicht eine markante Veränderung, denn die neu eingerichteten Zentralverwaltungen der Kolonien im Mutterland entwickelten sich zu zentralen Geldgebern und Initiatoren für eine Vielzahl von Unternehmungen, die sich der Sammlung von Wissen für den Kolonialstaat widmeten.65 Frankreich beispielsweise errichtete 1894 ein eigenständiges Kolonialministerium, um die bislang in den Händen der Marine liegende Verwaltung der Kolonien aus- und umzubauen, während Großbritannien, das bereits seit 1854 über ein eigenständiges Staatssekretariat für die Kolonien verfügte, in den 1890er Jahren unter dem »colonial secretary« Joseph Chamberlain seine Verwaltung in der Metropole massiv ausbaute. In Deutschland gründete die Regierung dagegen erst 1907 ein »Reichskolonialamt«, dessen Aktivitäten von Anfang an unter starkem Einfluss der Koloniallobby standen.66 62 Ebd., S. 163 ff. 63 Siehe mit weiteren Angaben: Gregor Schöllgen/Friedrich Kiessling, Das Zeitalter des Imperialismus (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 15), München 2009. 64 Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, 4. Auflage 2003, S. 67. 65 Siehe etwa die Rolle des deutschen Reichskolonialamtes bei der Finanzierung der Schriftenreihe »Die Fauna der Deutschen Kolonien«, die zusammen mit dem Berliner Museum für Naturkunde herausgegeben wurde: Carsten Kretschmann, Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 244. 66 Andreas Eckert/Michael Pesek, Bürokratische Ordnung und koloniale Praxis. Herrschaft und Verwaltung in Preußen und Afrika, in: Jürgen Osterhammel/Sebastian Conrad (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 87– 106, hier S. 92–96. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Tatsächlich hatte der 1891 eingerichtete »Deutsche Kolonialrat« bereits vorher die koloniale Ausgabenpolitik im Kaiserreich ganz entscheidend bestimmt, da er alljährlich die Budgetentwürfe der Regierung vorbereitete und hierbei wesentliche Entscheidungen über die Finanzierung etwa von wissenschaftlichen Expeditionen und anderen Forschungsprojekten traf.67 Wie Andreas Eckert und Michael Pesek gezeigt haben, bedeutete die Gründung eines eigenständigen Ministeriums am Ende aber eher eine Stärkung der parlamentarischen Kontrolle, da der Reichstag auf diese Weise die Möglichkeit erhielt, das Budget für die Kolonien abzulehnen und insofern eine negative Kontrolle ausüben konnte.68 Der Auf- und Ausbau der kolonialstaatlichen Strukturen hatte aber nicht nur eine stetige Vergrößerung der kolonialen Budgets zur Folge, sondern führte auch zum Aufblühen von wissenschaftlichen Bildungs- und Forschungsinstitutionen, die sich ganz der Ausbildung der kolonialen Verwaltungskräfte widmeten. In gewisser Hinsicht lässt sich in diesem Kontext gar von einer zweiten »Sattel zeit« des kolonialen Wissens um 1900 sprechen, denn die neuen Institutionen des kolonialen Wissens brachten nicht nur eine immense Vermehrung des wissenschaftlichen Personals, das sich mit dem außereuropäischen Wissen beschäftigte, mit sich, sondern vergrößerten auch die finanziellen Ressourcen, auf die sich der koloniale Wissensaustausch stützen konnte. Es ist kein Wunder, dass sich in dieser Zeit mit dem 1894 gegründeten Institut colonial international in Brüssel auch eine internationale Institution herausbildete, die den Wissensaustausch zwischen den Kolonialadministratoren der europäischen Imperien zu fördern suchte,69 wie auch allgemein ein nicht zu unterschätzender Transfer von Wissen und Wissenschaftlern zwischen den europäischen Kolonialmächten existierte.70 In den einzelnen europäischen Ländern war die Etablierung der verschiedenen Institutionen abhängig von den jeweiligen institutionellen und politischen Gegebenheiten. In Belgien etwa, wo bereits seit Mitte der 1890er Jahre kolonialwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität in Brüssel abgehalten wurden, kam es erst mit der formellen Übernahme des Kongo in den Besitz des belgischen Staates zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer breiteren universitären Ausbildung in den »Kolonialfächern« an den verschiedenen Universitäten des Landes,71 während sich im deutschen Kaiserreich72 oder in Frank67 Jan-Georg Deutsch, Emancipation Without Abolition in German East Africa, c.1884– 1914, Athens/Ohio 2006, S. 132. 68 Eckert/Pesek, Bürokratische Ordnung, S. 93. 69 Marc Poncelet, L’invention des sciences coloniales belges, Paris 2008, S. 127 ff. 70 Hierauf hat nicht zuletzt Ulrike Lindner mit ihrer wichtigen Arbeit hingewiesen: Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt 2011. 71 Poncelet, L’invention, S. 166–179. 72 Lothar Burchardt, The School of Oriental Languages at the University of Berlin – Forging the Cadres of German Imperialism? in: Stuchtey, Sciences, S. 63–105; Jens Ruppenthal, Kolonialismus als »Wissenschaft und Technik«. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908 bis 1919, Stuttgart 2007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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reich73 schon früher vergleichbare Initiativen entwickelten. In Berlin beispielsweise wurde bereits 1887 mit dem Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Humboldt-Universität eine vom Deutschen Reich und Preußen gemeinsam verwaltete, später vom Reichskolonialamt und dem Auswärtigen Amt finanzierte Hochschulinstitution gegründet, die den Auftrag hatte, Kolonialbeamte, Angehörige der so genannten »Schutztruppe« oder auch Handelsreisende auf den Einsatz in den Kolonien vorzubereiten. Vermittelt wurden neben dem Sprachunterricht auch praktische Kenntnisse in Feldern wie dem Kolonialrecht, der Tropenhygiene oder auch der Wirtschaft, Geografie, Ethnologie und Geschichte der betreffenden Kolonien.74 In Frankreich kam es nahezu zur gleichen Zeit, nämlich im November 1889 zu einer staatlichen Neugründung, der so genannten Ecole coloniale, die eine Reihe von lokalen Initiativen der verschiedenen Universitäten und Bildungseinrichtungen ersetzte und ab Mitte der 1890er Jahre sogar das Vorrecht erhielt, einen wesentlichen Teil der zukünftigen franzö sischen Kolonialbeamten auszubilden.75 Neben diesen zentralen Ausbildungsinstitutionen entstanden um 1900 noch andere Einrichtungen, die sich der kolonialen Forschung und der Ausbildung von kolonialen Beamten widmeten. Das zentrale Datum für die Institutiona lisierung der Kolonialmedizin im Deutschen Kaiserreich stellt beispielsweise die Gründung des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg im Herbst 1900 dar. Die Einrichtung des Instituts war zwischen den Städten Berlin und Hamburg äußerst umstritten gewesen, da sich auch der Bakteriologe Robert Koch um den Aufbau einer vergleichbaren Forschungseinrichtung in der preußischen Hauptstadt bemüht hatte.76 Letztlich konnte sich aber die Hafenstadt Hamburg unter Verweis auf die besonders exponierte Lage der Stadt gegen Berlin durchsetzen, denn immerhin war hier von allen deutschen Städten noch am ehesten mit der Ankunft von Kranken zu rechnen. In einem breiteren europäischen Kontext stellte das Hamburger Institut durch seine direkte Anbindung an den Überseehafen keineswegs einen Einzelfall dar, denn diese Beziehung kennzeichnete die meisten vergleichbaren Institutionen in Europa. Die Hamburger Ärzte verwiesen bei der Gründung des Instituts wie auch später daher regel mäßig auf die Vorbildfunktion der 1899 in London und Liverpool eingerichteten englischen Schools of Tropical Medicine, die wiederum ihrerseits an die 1890 in Bordeaux gegründeten tropenmedizinischen Kurse der Ecole de santé n avale anknüpften.77 Doch nicht nur in den europäischen Mutterländern, sondern 73 Singaravelou, Professer l’Empire. 74 Burchardt, School. Siehe den Beitrag von Holger Stoecker in diesem Band. 75 Singaravelou, Professer l’Empire, S. 50–55. 76 Zu den Hintergründen siehe Wolfgang Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945, Stuttgart 1997, S. 73–90. 77 Vgl. hierzu ausführlicher Deborah J. Neill, Networks in Tropical Medicine. Internationalism, Colonialism, and the Rise of a Medical Speciality. 1890–1930, Stanford 2012; Jakob Vogel, Die europäische Kolonialmedizin und die Globalisierung der Seuchenvorsorge. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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auch in den Kolonien selbst wurden am Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr eigene Institutionen gegründet, welche Wissen im Sinne des Kolonialstaates sammeln, aufbereiten und ordnen, präsentieren und zirkulieren lassen sollten.78 Diese spielten im 20. Jahrhundert eine immer größere Rolle für die Politik der »mise en valeur« der Kolonien und bildeten vielfach sogar die Kerne der Forschungslandschaften der späteren postkolonialen Staaten.79 Fasst man diese wichtigen Entwicklungen zusammen, welche die Art und Weise der Beschaffung, Einordnung und Zirkulation des kolonialen Wissens um die Wende zum 20. Jahrhundert entscheidend prägten und seine Verbreitung und Bedeutung für die europäischen Gesellschaften deutlich vergrößerten, so kann man sicherlich von einem neuen Zeitalter des kolonialen Wissens um 1900 sprechen, das maßgeblich von der Ausweitung des Kolonialstaats geprägt war. Denn auch wenn bereits im spanischen Kolonialreich in Lateinamerika um 1800 etwa mit dem von Alexander von Humboldt besuchten Bergbaukollegium in Mexiko ähnliche Institutionen des kolonialen Wissens existierten, stellten diese nur einen Bruchteil der Wissenslandschaften dar, wie sie in den anderen europäischen Kolonialreichen in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgebaut wurden. Wie wichtig aus der Sicht des Staates die Arbeit der Wissenschaftler für die Herrschaftsausübung in den Kolonien war, unterstreicht beispielsweise die Initiative des französischen Militärgouverneurs Louis Archinard, der kurz nach der Gründung der Kolonie Sudan 1892 die französischen Botaniker, Anthro pologen, Geologen und Linguisten aufrief, Forschungen über die Region durchzuführen.80 Auch in Algerien wie in anderen Kolonien sammelte die Verwaltung von Anfang an ethnografische Daten über die lokalen Gebräuche des Islams und unterstützte die entsprechenden Forschungen, um damit wichtiges Herrschaftswissen für die junge Verwaltung zur Verfügung zu stellen.81 Es ist daher auch kein Wunder, dass sich die europäischen Regionalwissenschaften etwa zu Afrika, die deutsche »Afrikanistik« und ihre europäischen Pendants, aus diesem ursprünglichen Herrschaftsinteresse der Kolonialstaaten heraus entwickelten.82
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Imperialer Wettlauf und transnationale Zusammenarbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jean-François Eck/Dietmar Hüser (Hg.), Deutschland und Frankreich in der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 113–125. Vgl. etwa Pierre Singaravélou, L’Ecole française d’Extrême-Orient ou l’institution des marges (1898–1956). Essai d’Histoire sociale et politique de la science coloniale, Paris 1999 ; Florence Deprest, Géographes en Algérie (1880–1950). Savoirs universitaires en situation coloniale, Paris 2009. Siehe etwa am Beispiel der Geschichte der niederländisch-indonesischen Archäologie: Marieke Bloembergen/Martijn Eickhoff, Conserving the Past, Mobilizing the Indonesian Future. Archaeological Sites, Regime Change and Heritage Politics in Indonesia in the 1950s, in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde (BKI), 167. 2011, S. 405–436. Sibeud, Une science impériale, S. 31 George R. Trumbull IV, An Empire of Facts. Colonial Power, Cultural Knowledge, and Islam in Algeria, 1870–1914, Cambridge 2009. Sibeud, Une science impériale. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Private Akteure der Wissensglobalisierung: Handel, Industrie und Siedlergesellschaften in der Zirkulation des kolonialen Wissens Angesichts der maßgeblichen Rolle des Kolonialstaates für die Finanzierung und Institutionalisierung des kolonialen Wissens gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellt sich die Frage nach der Bedeutung der privaten, nicht-staatlichen Ressourcen in diesem Bereich. Zugespitzt gefragt: Lässt sich für die Zeit um 1900 ein Ende der public-private-partnership beobachten, welche die Explorationskultur des 19. Jahrhunderts getragen hatte? Trat mit dem Ende der großen frühneuzeitlichen »chartered companies«, der British East India Company und der niederländischen Vereenigde Oost-Indische Compagnie (VOC) im 19. Jahrhundert der Staat mit seinen kolonialen Bildungs- und Forschungseinrichtungen an die Stelle der privaten Akteure, welche vielfach die erste Phase der Kolonisation getragen hatten? Diese Fragen können getrost mit nein beantwortet werden, denn tatsächlich operierte auch um 1900 eine Vielzahl von privaten Akteuren als agents of empire in der außereuropäischen Welt, die keinen offiziellen Status als Re präsentanten des Kolonialstaates besaßen und eigene Interessen verfolgten. Drei Gruppen scheinen dabei insbesondere von Bedeutung: Händler und Industrielle sowie die europäischen Siedler, die alle auf unterschiedliche Weise an der Sammlung von Wissen über die koloniale Umwelt beteiligt waren und damit gleichzeitig auch wichtige Ressourcen für die Wissenszirkulation mit der außereuropäischen Welt zur Verfügung stellten. Ihr Beitrag zur Globalisierung von Wissen ist in der Forschung im Vergleich zu den zahlreichen Studien über die wissenschaftlichen und staatlichen Akteure bislang allerdings noch relativ wenig berücksichtigt worden. Dies mag zum einen an der Vorliebe der Historiker und Historikerinnen für staatliche Quellen und für die Geschichte der institutionalisierten Wissenschaften liegen, hängt aber sicherlich auch daran, dass ein Teil dieser Akteure und Akteurinnen nur ein sehr eingeschränktes Interesse an der Publizität des von ihnen gesammelten Wissens besaß, da es durchaus ein wichtiges Element ihrer persönlichen Ressourcen darstellte. Anders als der deutsche Afrikaforscher Carl Mauch, der in den 1860er Jahren die Regionen am Sambesi im südlichen Afrika bereist und von den hier befindlichen Goldfeldern in seinen Korrespondenzen an die in Gotha erscheinenden »Petermann’s Geographische Mitteilungen« berichtet hatte,83 veröffentlichte beispielsweise die 1889 von dem britischen Unternehmer und südafrikanischen 83 Eva Maria Verst, Karl Mauch (1837–1875) als Forschungsreisender. Wissenschaft und Karriere zwischen Deutschland und Südafrika, St. Ingbert 2012; Ulrich van der Heyden, Carl Mauchs Aufenthalt im südlichen Afrika, i: Hannelore van Ryneveld/Jania Wozniak (Hg.), Einzelgang und Rückkehr im Wandel der Zeit. Unknown Passages – New Beginnings, Stellenbosch 2010, S. 35–64. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Staatsmann Cecil Rhodes gegründete British South Africa Company das kartografische und geologische Wissen, das ihre Mitarbeiter im Rahmen der Bergwerksunternehmungen in dem Gebiet der späteren Kolonie Rhodesien zusammengestellt hatten, nur insoweit, als es ihr auf der politischen Bühne bei ihren Konflikten mit der ebenfalls in der Gegend operierenden portugiesischen Handelsgesellschaft behilflich sein konnte.84 In ähnlicher Weise nutzte auch der belgische König Leopold II. im Rahmen seiner Versuche der Gründung einer Privatkolonie im Kongo die Ressourcen seines Einflusses auf die internationale Öffentlichkeit und seiner Kontakte im Umfeld der geografischen Gesellschaften nur so lange, als er sich davon einen handfesten Vorteil bei der Durchsetzung seiner Pläne versprach.85 Dabei finanzierte er nicht nur verdeckt eine Reihe von Expeditionen Henry Morton Stanleys in der Kongo-Region, sondern bezahlte auch dessen public relation-Aktivitäten im Umfeld der internationalen Berliner Kongo-Konferenz der Jahre 1884/85, die schließlich zur Gründung des in der Privathand Leopolds befindlichen »Kongo-Freistaates« führten.86 Nach der Gründung der Kolonie versuchte der belgische König dagegen bewusst jegliche Publizität in der europäischen und internationalen Öffentlichkeit über die Region und die in seinem Namen betriebene Ausbeutung der natürlichen Kautschuk-Reserven zu verhindern87 – ein anschauliches Beispiel dafür, wie bereits in jener Zeit die in der außereuropäischen Welt aktive Privatindustrie neben der Wissenssammlung auch eine aktive Politik der Verschleierung von Tatsachen und damit einer Behinderung der Zirkulation von Wissen über die kolonialen Zustände unternahm.88 84 Vergleiche hierzu die rückschauende Darstellung dieser Unternehmungen in einer Publikation der BSAC anlässlich der Kolonialausstellung in Johannesburg 1937: British South Africa Company, The Story of Rhodesia Told in a Series of Historical Pictures Exhibited at the Empire Exhibition Johannesburg 1936–1937, Johannesburg 1936, insb. S. 8–14, online unter: http://bsac.greatnorthroad.org/bsac.pdf, zuletzt eingesehen am 12.5.2013. Zum regionalen Hintergrund siehe: L. H. Gann, The Birth of a Plural Society. The Development of Northern Rhodesia Under the British South Africa Company 1894–1914, Manchester 1958, S. 117–126; Peter Richardson/Jean-Jacques van Helten, The Development of the South African Gold-Mining Industry, 1895–1918, in: The Economic History Review 37.1984, S. 319–340. Zur Geschichte der Company und Rhodes Rolle bei seiner Gründung siehe u. a. Robert Rotberg/Miles Shore, The Founder. Cecile Rhodes and the Pursuit of Power, Oxford 1988. 85 R. C. Bridges, The R. G. S. and the African Exploration Fund 1876–1880, in The Geographical Journal 129. 1963, S. 25–35. 86 Henry M. Stanley, The Congo and the founding of its free state: a story of work and exploration, London 1885. Siehe auch Jean Stenghers, Leopold II et la rivalité franco-anglaise en Afrique, 1882–1884, in : Revue belge de Philologie et d’Histoire 47. 1967, S. 425–479. 87 Martin Ewans, European Atrocity, African Catastrophe. Leopold II, the Congo Free State and its Aftermath. New York 2002; Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa, Boston 1998. 88 Siehe zur Theorie des Nicht-Wissens insbesondere: Robert Proctor/Londa Schiebinger (Hg.), Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford 2008. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Doch nicht nur die in den Kolonien engagierten industriellen Unternehmungen, auch die in Übersee operierenden Handelskompanien benötigten für ihre Aktivitäten ein möglichst präzises Wissen über die außerhalb Europas verfügbaren Güter sowie die zu ihrer Beschaffung wichtigen lokalen Marktsituationen. Die unter anderem im internationalen Baumwollhandel aktive, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch expandierende schweizerische Handelsfirma Volkart etwa musste sich in diesem Sinne nicht nur genaue Informationen über die verschiedenen Baumwollqualitäten der indischen Produzenten beschaffen, sondern auch das in der britischen Kolonie geltende Recht und weitere Elemente der kolonialen Baumwollökonomie kennenlernen.89 Das sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge des Globalisierungsprozesses der Weltwirtschaft90 immer engmaschiger um den Globus ziehende Netz des Handels91 hatte somit ebenfalls einen wichtigen Anteil an der weltweiten Zirkulation des kolonialen Wissens. Dabei wäre es natürlich falsch, das in den so genannten »Kolonialwaren« inkorporierte und damit in der europäischen Öffentlichkeit präsente Wissen mit einer vertieften Kenntnis der kolonialen Produktionswelten gleichzusetzen, denn die mit diesen Waren verbundenen Marketingbilder ließen doch eher eine Klischee- und Phantasiewelt der kolonialen Lebens- und Arbeitsumstände sowie der dortigen Umwelt entstehen,92 wie sie auch in den europaweit in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts florierenden Kolonialausstellungen pro pagiert wurden.93 Das spezifischere Wissen um die kolonialen Handelsgüter wie Tee, Kaffee oder Schokolade, aber auch Guano oder Kautschuk zirkulierte insofern eher in den vergleichsweise engen Kreisen der Fach- und Kaufleute, die direkt an der Herstellung, dem Handel und dem Vertrieb der Kolonialwaren
89 Vgl. Christof Dejungs Beitrag in diesem Band und ders., Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2012, S. 47–112. 90 Zur Geschichte dieses umfassenden globalen Entwicklungsprozesses vgl. Steven Topic/ Allen Wells, Warenketten in einer globalen Wirtschaft, in: Emily Rosenberg (Hg.), 1870– 1945. Weltmärkte und Weltkriege, (= Geschichte der Welt, hg. v. Akira Iriye/Jürgen Oster hammel, Bd. 5), München 2012, S. 509–814. Siehe dazu auch mit Blick auf die Rückwirkungen dieses Prozesses auf die deutsche Gesellschaft: Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006. 91 Für die deutsche Perspektive dieses Wandels siehe Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005. 92 Stefanie Wolter, Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt 2005. 93 Aus der zahlreichen Literatur zu diesem Thema siehe zum Beispiel: Alexander C. T. Geppert, Fleeting Cities. Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe, Basingstoke 2010. Marieke Bloembergen, Colonial Spectacles. The Netherlands and the Dutch East Indies at the World Exhibitions, 1880–1931, Singapore 2006; Birthe Kundrus (Hg.), Phantasie reiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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beteiligt waren.94 Die Mechanismen der Aneignung und der Zirkulation des Wissens unterschieden sich dabei sicherlich kaum von den bereits in der frühen Neuzeit herrschenden Umständen. Unter dem Einfluss der europäischen Industrialisierung mit den zahlreichen neu von den Europäern erschlossenen Gebieten und der Vervielfältigung der außerhalb Europas aktiven agents of Empire vergrößerte sich im 19. Jahrhundert aber das schiere Ausmaß der in diesem Sinne von den europäischen Händlern und der Industrie in ihrem potentiellen wirtschaftlichen Nutzen wahrgenommenen kolonialen Gegenstände – ein Prozess, den beispielsweise Alexander Engel anschaulich anhand der globalen Farbstoffwirtschaft und des Indigos dargestellt hat.95 Neben diesen weltweit operierenden Wissensnetzwerken, die wichtige Ressourcen für die globale Zirkulation des kolonialen Wissens bereitstellten, entstanden im Rahmen des sich im 19. Jahrhundert herausbildenden »settler colonialism«96 in vielen Kolonien aber auch andere, stärker regional verankerte Wissenssysteme, die lokale Ressourcen für das koloniale Wissen bereitstellten. Libby Robin und William Beinart haben in diesem Sinne dargestellt, wie sich im Laufe des Jahrhunderts sowohl im südlichen Afrika als auch in Australien gestützt auf die Erfahrungen der Siedler eine »science of settling« mit neuen Experten und einem »local knowledge« über die spezifischen Umweltbedingungen und die Umstände der Land- und Viehwirtschaft herausbildete, die im 20. Jahrhundert einen zentralen Einfluss auf die Vorstellungen, politischen Programme und Praktiken der regionalen Entwicklung entwickelte.97 Dem Historiker Saul Dubow zufolge, dienten schon seit den 1820er Jahren das von den Siedlern gesammelte Wissen und die von ihnen in der Kap-Kolonie eingerichteten Wissensinstitutionen dazu, die politische Vorherrschaft der weißen Kolonisten und Kolonistinnen und ihren Anspruch auf Gründung eines eigenständigen Nationalstaates zu legitimieren.98 Auf dem Gebiet des geografischen Wissens hatte diese Entwicklung etwa zur Folge, dass neben den Landkarten des britischen Kolonialstaates in der zweiten Jahrhunderthälfte eine alternative, auf das Siedlerwissen gestützte Kartografie entstand, die im Gegensatz zu den offiziellen britischen Ansichten eigenständige 94 Siehe am Beispiel der Kolonialwaren Schokolade und Kaffee: Angelika Epple, Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt 2010, insb. S. 74–97; Julia Laura Rischbieter, Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870–1914, Köln 2011, insb. S. 32–50. 95 Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500 bis 1900, Frankfurt 2009, S. 58, 68–79 96 Vgl. etwa: Fiona Bateman/Lionel Pilkington (Hg.), Studies in Settler Colonialism. Politics, Identity and Culture, Basingstoke 2011. 97 Libby Robin, Ecology : A Science of Empire ?, in: Tom Griffiths, Libby robin, Ecology & Empire. Environmental History of Settler Societies, Edinburgh 1997, S. 63–75; William Beinart, Vets, Viruses and Environmentalism at the Cape, in: ebd., S. 87–101. 98 Saul Dubow, A Commonwealth of Knowledge. Sciences, Sensibility, and White South A frica 1820–2000, Oxford 2006, S. 297. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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lokale Perspektiven auf die regionale Landschaft und ihre politische Ordnung entwarf. Dabei bediente sich der deutschstämmige Postmeister und Geograf Friedrich Jeppe bei der Veröffentlichung seiner »Die Transvaal’sche oder SüdAfrikanische Republik« betitelten Karte im Jahr 1868 der wissenschaftlichen Netzwerke der deutschen Geografie, die er wie Mauch in »Petermann’s Geographische Mittheilungen« publizierte.99 Jeppes Karte zeigte nicht nur eine ganze Reihe von bisher unbekannten Details, sondern suggerierte auch eine klare Grenze der unabhängigen Burenrepublik zu einem Zeitpunkt, an dem auf der politischen Ebene deren Stellung gegenüber dem britischen Kolonialstaat sowie den portugiesischen Ansprüchen in der Region noch in keiner Weise abschließend entschieden war. In den Konflikten um die Unabhängigkeit der Siedlerkolonie besaß das von Jeppe zusammengetragene Wissen damit umgekehrt wiederum den Status einer wichtigen Ressource, um dem Anliegen der burischen settler auch auf der internationalen Ebene Gehör zu verschaffen.
Schlussbetrachtung Die angeführten Beispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, die Entwicklung des kolonialen Wissens und seiner Ressourcen im langen 19. Jahrhundert nicht nur aus der Perspektive der dominierenden Explorationskultur der geografischen Vereinigungen oder aus den Augen des Kolonialstaates sowie seiner offiziellen wissenschaftlichen Institutionen zu betrachten, sondern auch andere, zivilgesellschaftliche Akteure in das breitere Bild der Beziehung von »science« und »Empire« einzuführen. Ebenso wichtig wäre, noch stärker als das die bisherige Forschung getan hat, lokale Ressourcen mit in den Blick zu nehmen, die ebenfalls eine wichtige Rolle für die Entfaltung des kolonialen Wissens besassen. Eine solche Dezentrierung des Blickes würde noch stärker die Vielfalt der Akteure und Perspektiven beleuchten, die entscheidend zur Entstehung der kolonialen Wissenswelten beitrugen. Tatsächlich bestand die koloniale Praxis und Ideologie, wie es Marieke Bloembergen am Beispiel der Niederlande gezeigt hat, auf allen Ebenen stets aus einem Zusammenspiel von »public policy and private enterprise«,100 wobei die Motive und Interessen der Beteiligten wie auch ihre konkreten Visionen der kolonialen Hierarchien und Herrschaftsbeziehungen durchaus weit auseinanderklaffen konnten. Zudem existierten in den verschiedenen kolonialen Imperien genügend interne Spannungen, welche durch die Rivalitäten zwischen den einzelnen Kolonialmächten und ihren Wissensinstitutionen und der lokalen Bevölkerung noch weiter verstärkt wurden, so dass – wie etwa das Beispiel der burischen Republik Transvaal deutlich macht – am Ende die Netzwerke und Kontakte außerhalb des eigenen Kolonialstaats im 99 Jane Carruthers/Friedrich Jeppe: Mapping the Transvaal c. 1850–1899, in: Journal of Southern African Studies, 29. 2003, S. 955–975. 100 Bloembergen, Colonial Spectacles, S. 27. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Einzelfall wichtige Ressourcen darstellen konnten, um abweichenden Positionen und Anschauungen auch auf einer breiteren internationalen Bühne Gehör zu verschaffen. In der Gesamtschau über das Jahrhundert offenbaren sich aber auch sehr deutlich die langfristigen Entwicklungstendenzen, die sich nicht allein in der Vergrößerung der staatlichen Ressourcen für das koloniale Wissen unter dem Vorzeichen des Hochimperialismus und der Einrichtung von neuen Institu tionen und Disziplinen der Kolonialwissenschaft in den Metropolen zusammenfassen lassen. Denn mit der fortschreitenden Vernetzung der Weltwirtschaft und der zunehmenden europäischen Migration in die außereuropäische Welt ver größerte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch die Zahl der privaten agents of Empire, die ihrerseits an der globalen Zirkulation des Wissens beteiligt waren. In diesem Prozess einer wachsenden Globalisierung des Wissens multiplizierten sich darüber hinaus auch in den kolonialen Gebieten die Zentren und Institutionen, die mit der Produktion, Einordnung und Verbreitung des kolonialen Wissens beschäftigt waren. Die oftmals staatlichen Einrichtungen sollten quasi vor Ort das notwendige Herrschaftswissen produzieren und im engen hierarchischen Rahmen der kolonialen Gesellschaft gleichzeitig auch lokale Wissens eliten heranbilden, die als »Hilfspersonal« den europäischen Wissenschaftlern bei der Wissensbeschaffung dienen sollten. Insbesondere in den europäischen Siedlungskolonien entsprangen überdies aus der settler society wichtige lokale Initiativen, die anfänglich eher mit begrenzten Ressourcen, langfristig aber mit einem nicht zu unterschätzenden Einfluss die Entstehung einer stärker regional orientierten kolonialen Wissensordnung prägten. Weit entfernt davon ein statisches, allein von den europäischen Kolonialstaaten beherrschtes System zu sein, das seine Ressourcen allein aus den macht- und herrschaftspolitischen Impulsen zog, verweisen die hier skizzierten Entwicklungen damit auf die spezifischen Dynamiken des 19. Jahrhunderts, die auch im kolonialen Rahmen stark durch die Bedingungen einer zunehmend global vernetzten bürgerlich-industriellen Gesellschaft geprägt waren.
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Ernst-Christian Steinecke
Die Ausgrabung von Babylon Wissenschaftsförderung im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Archäologie
Gerade mit Blick auf die Ressourcen, auf welche sich Prozesse der Globali sierung von Wissen stützen, kommt der Wissenschaftsförderung eine besondere Bedeutung zu. Ich möchte diese Ressourcen deshalb in den Mittelpunkt meiner Fragestellung rücken: Was ist Wissenschaftsförderung? Welche Merkmale, Praktiken und Institutionen kennzeichneten die Wissenschaftsförderung im ausgehenden 19. Jahrhundert? Und in welchem Verhältnis standen sie zum Imperialismus? Antworten auf diese Fragen werde ich exemplarisch anhand eines Projekts der Jahre 1898 bis 1917 entwickeln. Es handelt sich um die Ausgrabung der altertümlichen Stadt Babylon im heutigen Irak – ein Unternehmen, dessen Durchführung sowohl mit der Wissenschafts- als auch mit der so genannten Weltpolitik des Deutschen Kaiserreichs unter Wilhelm II. (1859–1941) eng verflochten war. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es in doppelter Hinsicht aufschlussreich erscheint: Erstens stellt die Ausgrabung ein Forschungsprojekt dar, das in globalem Kontext betrieben wurde. Und zweitens lässt sich an ihr aufzeigen, inwieweit die politischen Rahmenbedingungen des Imperialismus Entscheidungen über die Förderungswürdigkeit von Forschung beeinflussten. Meine Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte, in denen ich jeweils allgemeine Überlegungen und das Fallbeispiel aufeinander beziehe: Zunächst möchte ich den Begriff der Wissenschaftsförderung bestimmen und darlegen, welche Akteure die Ausgrabung in Babylon maßgeblich unterstützt haben. Danach werde ich die Situation der Wissenschaftsförderung im 19. Jahrhundert, insbesondere im Deutschen Kaiserreich umreißen und die Expedition nach Babylon in diesem Kontext verorten. Abschließend gehe ich auf die politischen Implikationen ein und formuliere einige Thesen zum Verhältnis von Wissenschaftsförderung und Globalisierung von Wissen im 19. Jahrhundert.
Wissenschaftsförderung und die Babylon-Expedition Unter Wissenschaftsförderung ist jede organisierte Form der Unterstützung von Forschung zu verstehen. Das heißt: Wissenschaftsförderung schließt Wissenschaftsfinanzierung mit ein, erschöpft sich aber nicht darin. Denn neben der finanziellen Unterstützung kann beispielsweise auch die Bereitstellung orga© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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nisatorischer Ressourcen zu ihren Instrumenten gehören. Die deutsche BabylonExpedition belegt dies: Sowohl bei der Vorbereitung der Ausgrabung als auch bei deren Durchführung vor Ort war neben der finanziellen vor allem die diplomatische Unterstützung der Expedition unverzichtbar. Schließlich lag das antike Babylon auf dem Hoheitsgebiet des Osmanischen Reichs. Die deutschen Archäologen waren daher auf die Erteilung einer Grabungserlaubnis und auf Genehmigungen zur Ausfuhr von Fundobjekten angewiesen.1 Grundsätzlich entschied Sultan Abdul Hamid II. (1842–1918) darüber, ob Grabungen stattfinden konnten und wie mit den Funden umzugehen war. Direkte Verhandlungen allerdings fanden meist nicht auf offizieller politischer Ebene, sondern auf der Ebene persönlicher Kontakte statt. Osman Hamdi Bey (1842–1910), der Antikendirektor des Osmanischen Reichs, und Theodor Wiegand (1864–1936),2 der auswärtige Direktor der Berliner Museen in Konstantinopel, spielten hierbei wichtige Rollen. Beispielsweise bemühten sich die Leiter der Ausgrabungen seit 1899 darum, Ausfuhrgenehmigungen für zahlreiche Bruchstücke eines Ziegelreliefs zu erhalten. Von allen Funden seit Beginn der Expedition hatten diese Bruchstücke, bei denen es sich um Teile des so genannten Ischtar-Tores handelte, das mit Abstand größte Aufsehen erregt. Nach wiederholten Bemühungen gelang es im März 1903 schließlich, das Einverständnis des Sultans für den Transport der Stücke nach Berlin einzuholen.3 Wiegand hatte zuvor Hamdi Bey davon überzeugt, dass eine wissenschaftlich fundierte Rekonstruktion des Torreliefs sich in Berlin besser realisieren ließe als vor Ort. Außerdem stellte er in Aussicht, dass weitere Reliefs zunächst in Berlin rekonstruiert und dann dem Archäologischen Museum in Konstantinopel4 zurückgegeben werden könnten. Vor dem Hintergrund dieser Verhandlungsergebnisse machte Hamdi Bey sich beim Sultan persönlich für die Ausfuhr der Funde nach Berlin stark. Die Wissenschaftsförderung vor Ort, in deren Mittelpunkt Genehmigungen und Fundregelungen standen, wurde also von verschiedenen Akteuren auf ganz unterschiedlichen Ebenen betrieben. Das Auswärtige Amt in Berlin und das 1894 eingerichtete Konsulat in Bagdad leisteten wertvolle Vermittlungsdienste und waren wichtige Ansprechpartner für die 1 Vgl. Beate Salje, Robert Koldewey und das Vorderasiatische Museum Berlin, in: Ralf-B. Wartke (Hg.), Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey – Ein Archäologenleben, Mainz 2008, S. 125–143, hier S. 126 ff., sowie ausführlich Nicola Crüsemann, Vom Zweistromland zum Kupfergraben. Vorgeschichte und Entstehungsjahre (1899–1918) der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen vor fach- und kulturpolitischen Hinter gründen, Berlin 2001. 2 Vgl. zur Bedeutung der Person in diesem Zusammenhang z. B. Justus Cobet, Theodor Wiegand – Das Osmanische Reich und die Berliner Museen, in: Charlotte Trümpler (Hg.), Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus, Köln 2008, S. 347–353. 3 Vgl. zum Folgenden Nicola Crüsemann, Das große Puzzle. Von Ziegelbruchstücken aus Babylon zum Berliner Ischtar-Tor, in: Trümpler, Das große Spiel, S. 337–345, hier S. 339 ff. 4 Hamdi Bey war an der Gründung dieses Museums, das 1891 eröffnet wurde, wesentlich beteiligt und zugleich dessen erster Direktor. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Die Ausgrabung von Babylon
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Archäologen. Außerdem konnten persönliche Bekanntschaften und Vertrauensverhältnisse wie zwischen Wiegand und Hamid Bey in schwierigen Verhandlungssituationen von großem Wert sein. Für die Ausgrabung war die finanzielle Unterstützung zwar eine tragende Säule aller Fördermaßnahmen. Ohne den Einfluss entsprechender diplomatischer Elemente wäre diese Unterstützung jedoch vergebens gewesen. Wie aber sah die finanzielle Unterstützung der Expedition konkret aus? Allgemein sind seit dem 19. Jahrhundert neben staatlichen Behörden oftmals Wirtschaftsunternehmen, Industrieverbände, Stiftungen, Vereine oder auch Privatpersonen an der Förderung von Wissenschaft beteiligt.5 Für diesen Sachverhalt ist die Ausgrabung von Babylon paradigmatisch: Hier war neben einer staat lichen Institution – den Königlichen Museen zu Berlin – ein Verein von Privatleuten an der Finanzierung beteiligt. Dabei handelte es sich um die 1898 gegründete Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG)6, die in der Ausgrabung ein erstes bedeutendes Ziel ihres Engagements fand. Unter ihren Mitgliedern kann dem Textilgroßhändler James Simon (1851–1932) eine besondere Rolle zugesprochen werden.7 Er hatte 1897 mit 25.000 Mark bereits die Vorexpedition finanziert, auf welcher der Orientalist Eduard Sachau (1845–1930) sowie der Architekt und Archäologe Robert Koldewey (1855–1925) im Auftrag der Königlichen Museen nach geeigneten Orten für eine große Grabung suchten.8 Koldewey setzte sich mit seiner Empfehlung von Babylon durch. Zudem wurde ihm die Leitung des Unternehmens übertragen. Simon wiederum war nicht nur bei der Vor expedition als Förderer beteiligt. Er blieb nach dem Beginn der Ausgrabung unter den zahlreichen Mäzenen mit unternehmerischem Hintergrund in den Reihen der DOG weiterhin derjenige, der das Projekt sowie andere Ausgrabungen im Vorderen Orient mit den größten Zuwendungen bedachte. Insgesamt stellte Simon in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg 562.000 Mark für Grabungen bereit, die auf Initiative oder unter Beteiligung der DOG durchgeführt wurden. Zudem verfügte er über gute Kontakte zum Kaiserhaus. So sorgte er nicht nur dafür, dass Wilhelm II. 1902 Schirmherr der DOG wurde, sondern er war den Ausgräbern von Babylon darüber hinaus bei der Einwerbung von Fördergeldern
5 Vgl. dazu etwa die Beiträge im Sammelband von Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hg.), Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Stuttgart 1990. 6 Vgl. zu deren Geschichte Gernot Wilhelm (Hg.), Zwischen Tigris und Nil. 100 Jahre Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Vorderasien und Ägypten, Mainz 1998. 7 Vgl. zu dessen Leben und Wirken Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000. 8 Vgl. dazu Walter Andrae, Babylon. Die versunkene Weltstadt und ihr Ausgräber Robert Koldewey, Berlin 1952, S. 82–95; Nicole Leurpendeur, Babylon wird ausgegraben. Robert Koldeweys Expedition nach Mesopotamien 1898–1917, Abensberg 2006, S. 9–13; Joachim Marzahn, Robert Koldewey. Ein Lebensbild, in: Ralf-B. Wartke (Hg.), Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey – Ein Archäologenleben, Mainz 2008, S. 8–27, hier S. 17. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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aus dem kaiserlichen Allerhöchsten Dispositionsfonds,9 die ab 1901 flossen, eine wichtige Hilfe. Überhaupt standen für das Projekt beachtliche Mittel bereit. Koldewey hatte zunächst 500.000 Mark – verteilt auf die ersten fünf Jahre – beantragt.10 Diese Summe war bewilligt worden. Und mit der Fortdauer der Ausgrabung wuchsen die Zuwendungen sogar. Damit folgten sie einem Gesamttrend: Die öffentlichen Ausgaben für Wissenschaft und Forschung stiegen zwischen 1895 und 1905 von knapp 38 auf über 70 Millionen Mark.11 Sie verdoppelten sich innerhalb eines Jahrzehnts also annähernd. Entsprechend verfügte auch Koldewey allein im Jahr 1907 über Projektmittel von 350.000 Mark, eine Summe, die selbst inflationsbereinigt deutlich über dem Durchschnittsetat der Anfangsjahre lag. Vergleicht man die Beträge mit dem Lohnniveau der Zeit, wird deutlich, in welchen Dimensionen sich die Förderung bewegte. Das durchschnittliche Bruttojahres einkommen von Beschäftigten aus Industrie und Handwerk stieg zwischen 1898 und 1902 von 835 auf 891 Mark und wird für das Jahr 1907 mit 1.059 Mark beziffert.12 Neben den Gehaltszahlungen für die Expeditionsmitglieder wurden diese Gelder vor allem verwendet, um die Grabungsmannschaft zu entlohnen und technisches Gerät zu erwerben: Die Mannschaft rekrutierte man dabei kostengünstig aus der regionalen Bevölkerung. Die Arbeiter wurden als Tage- oder Wochenlöhner beschäftigt. Und ihre Zahl wuchs im Laufe der Zeit spürbar. Waren es zu Beginn der Ausgrabung 66 Männer,13 so trug Koldewey später die Ver-
9 Dieser Begriff bezeichnete Gelder, die nicht zum allgemeinen Hofetat gehörten, sondern der Person des Kaisers noch zusätzlich zur Verfügung standen. Der Dispositionsfonds war dem Kaiser vom Reichstag erstmals 1874 bewilligt worden. Von 1889 bis 1918 handelte es sich hierbei um eine jährliche Summe von rund 3 Millionen Mark. Vgl. dazu John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 19954, hier S. 81 f. 10 Vgl. Robert Koldewey, Heitere und ernste Briefe aus einem deutschen Archäologenleben, hg. von Carl Schuchhardt, Berlin 1925, hier S. 129. 11 Vgl. Frank R. Pfetsch, Staatliche Wissenschaftsförderung in Deutschland 1870–1975, in: vom Bruch/Müller, Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung, S. 113–139, hier S. 117–122. 12 Vgl. zu diesen Angaben Walther G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 492 ff. Vergleichbare Daten liefert u. a. auch Ashok Valji Desai, Real Wages in Germany, Oxford 1968, hier z. B. S. 112. 13 Walter Andrae, der selbst von 1898 bis 1903 an der Ausgrabung teilnahm, weist in seinem späteren Bericht mehrfach darauf hin, dass Koldewey der Anwesenheit von Frauen auf dem Grabungsgelände skeptisch gegenüberstand. Das Team von Wissenschaftlern bestand daher ebenso wie das Grabungsteam ausschließlich aus Männern. In den Zelten, in denen die Arbeiter während der Kampagne wohnten, waren allerdings oft auch deren Ehefrauen und Kinder untergebracht. Einige dieser Frauen scheinen zudem Aufgaben im Expeditionshaus übernommen zu haben. Andrae berichtet beispielsweise von der Ehefrau eines Aufsehers, die für die Archäologen als Wäscherin arbeitete. Vgl. Andrae, Babylon, z. B. S. 60, 165, 180, 218 f., 237. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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antwortung für ein Team von rund 200, zeitweise sogar über 250 Personen. Ein Grabungsunternehmen dieser Größe hatte es zuvor noch nicht gegeben.14 Auch beim Einsatz von technischem Gerät bewegte die Expedition sich auf der Höhe der Zeit: Fotokameras ergänzten das bewährte Verfahren der zeichnerischen Dokumentation.15 Ein Telegraf beschleunigte den Nachrichtenfluss zwischen dem Grabungsort und dem Konsulat in Bagdad. Und die Arbeitsabläufe auf dem Grabungsgelände wurden durch den Einsatz von Fahrzeugen erleichtert: Es gab ein Motorrad, mit dessen Hilfe Koldewey das Areal zügig abfahren konnte. Eine Feldbahn leistete bei der Beseitigung von Schutt wertvolle Dienste. Und mit einem Dampfboot konnten Fundobjekte wie die Reliefbruchstücke des Ischar-Tores abtransportiert und für den Versand nach Berlin vorbereitet werden, wo 1903 die ersten 399 Kisten mit Ausgrabungsstücken eintrafen.16 Im Fall der Ausgrabung Babylons handelte es sich mithin um Mechanismen der Wissenschaftsförderung, die erstens der Deckung von Kosten für Arbeitskräfte und Gerätschaften dienten, bei denen zweitens neben finanziellen auch diplomatische Ressourcen mobilisiert werden mussten und an denen sich drittens staatliche wie private Akteure beteiligten. Wie dieser Typ von Wissenschaftsförderung sich in den Kontext des späten 19. Jahrhunderts einfügt und inwieweit politische Rahmenbedingungen die Unterstützung der Ausgrabung prägten, möchte ich in den folgenden Abschnitten klären.
Die Expedition im Rahmen der Forschungsförderung des 19. Jahrhunderts Im langen 19. Jahrhundert entwickelte sich die Wissenschaftsförderung mehr und mehr zu einem Objekt systematischer wissenschaftspolitischer Intervention. Ausschlaggebend dafür war die wechselseitige Durchdringung von drei historischen Prozessen: Erstens entstanden im Zeitraum zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg in großer Zahl moderne Nationalstaaten mit einem ausdifferenzierten Apparat bürokratischer Institutionen.17 Wissenschaftspolitische Zielvorgaben wurden somit stärker als zuvor zu einer Angelegenheit staatlicher Planung und behördlicher Verwaltung. Zweitens veränderte die Industrialisierung die Strukturen der gewerblichen Produktion nachhaltig. 14 Vgl. Joachim Marzahn, Die deutschen Ausgrabungen in Babylon, in: Ders./Günther Schauerte (Hg.), Babylon – Mythos und Wahrheit. Eine Ausstellung des Vorderasiatischen Museums Berlin, Berlin 2008, Bd. 2, S. 67–78, hier S. 68. 15 Vgl. zur Entwicklung der fotografischen Dokumentationstechnik etwa Annetta Alexandridis, Die großen Grabungen. Photographie als Dokumentation, in: dies./Wolf-Dieter Heilmeyer, Archäologie der Fotographie. Bilder aus der Fotothek der Antikensammlung Berlin, Mainz 2004, S. 17–42. 16 Vgl. Salje, Koldewey und das Vorderasiatische Museum, hier S. 129. 17 Vgl. dazu überblickshaft die Darstellung bei Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 818–906. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Mit ihr setzten sich parallel zur Etablierung nationalstaatlicher politischer Ordnungen kapitalistische Wirtschaftsordnungen nach und nach durch.18 Im Zuge dieser Entwicklung gewannen anwendungsorientierte Forschungen inner- wie außerhalb der Universitäten an Bedeutung und stieg das industrielle Bürgertum zur wichtigsten Gruppe privater Wissenschaftsförderer auf. Außerdem nahm aufgrund der verhältnismäßig hohen Material- und Kostenintensität angewandter Forschung das Gesamtvolumen der Wissenschaftsförderung stark zu. Drittens unterlag das Wissenschaftssystem starken internen Veränderungen. Die Fächer differenzierten sich zunehmend aus. Bei den Forschern handelte es sich kaum mehr um Universalgelehrte, sondern um ausgewiesene Spezialisten für präzise umgrenzte Gegenstandsbereiche.19 Ein Effekt dieser drei korrelativen Entwicklungen bestand darin, dass sich wissenschaftliche Forschung, die in der Frühen Neuzeit vorzugsweise in höfische Patronagesysteme verflochten gewesen und an Akademien betrieben worden war, an die staatlichen Universitäten, außeruniversitäre Einrichtungen und in die Industrie verlagerte.20 Stand an den Universitäten eher die Grundlagen forschung im Fokus, so war es in der Industrie eindeutig die angewandte Forschung. Eine Mittelposition nahmen in Deutschland die staatlichen Forschungsinstitute und Versuchsanstalten ein. Vor allem nach der Reichsgründung 1871 entstanden viele solcher Behörden entweder neu oder wurden aus dem Zuständigkeitsbereich einzelner Bundesstaaten herausgelöst und der Aufsicht durch das Reich unterstellt. Dazu gehörten beispielsweise die Reichsanstalt für Materialprüfung, die Monumenta Germaniae Historica, die Mechanisch-Technische Versuchsanstalt, das Technische Institut der Artillerie (alle 1871), das Statistische Amt (1872), das Deutsche Archäologische Institut (1874), die Chemisch-Technische Versuchsanstalt, das Kaiserliche Gesundheitsamt (beide 1876), die Physi kalisch-Technische Reichsanstalt (1887) und das Militärversuchsamt (1888).21 Um 1900 hatte sich im Deutschen Kaiserreich somit die Universität als Kerninstitution des Wissenschaftssystems fest etabliert, während zugleich der außeruniversitäre Forschungssektor starke Wachstumstendenzen aufwies.22 Zusammenfassend lässt sich jene Konstellation, die die Struktur der Forschungsförderung im späten 19. und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts prägte, als
18 Vgl. ebd., S. 909–957. 19 Vgl. zu diesen Prozessen in Deutschland insbesondere Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt 1984, und ders., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Ana lysen, Frankfurt 1994. 20 Vgl. Stefan Böschen, Wissenschaft und Gesellschaft, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 751–763, hier S. 754 f. 21 Vgl. dazu etwa Pfetsch, Staatliche Wissenschaftsförderung, hier v. a. S. 113 ff. sowie Felix Steiner, Wissenschaftsförderung durch Mittlerorganisationen, Bonn 2008, hier S. 23 ff. 22 Vgl. Frank Meier, Organisationen der wissenschaftlichen Wissensproduktion, in: Schützeichel, Handbuch, S. 783–793, hier S. 784 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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ein Dreieck aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft beschreiben.23 Denn Wissenschaft und Politik fungierten in diesem Kontext ebenso als Ressourcen füreinander24 wie Wissenschaft und Wirtschaft oder Wirtschaft und Politik. Dem Know-how und den Innovationen, die aus dem Wissenschaftssystem heraus den staatsbürokratischen Apparaten sowie der industriekapitalistischen Produk tionsökonomie zuflossen, standen Finanzmittel und Infrastruktur gegenüber, mit denen Politik und Wirtschaft das Wissenschaftssystem unterstützten. Die Förderung der Babylon-Archäologie fügt sich einerseits gut in dieses Bild, steht andererseits aber quer dazu: Mit Blick auf die beteiligten Akteure ist die Dreiecksstruktur auch hier erkennbar. Die Universitäten waren an dem Unternehmen etwa durch den Berliner Assyriologen Friedrich Delitzsch (1850– 1922) beteiligt, der für die Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle spielte. Delitzsch wurde 1899 erster Direktor der neu gegründeten Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen25 und versuchte in Vorträgen und Publikationen die Resultate der Grabungen für ein breites Publikum in verständlicher Form zusammenzufassen. Der Staat trug auf mehreren Ebenen zum Projekt bei. Neben der diploma tischen Unterstützung war er in die Finanzierung der Ausgrabung gleich zweifach eingebunden. Zum einen stellte mit den Königlichen Museen eine öffentliche Institution Gelder zur Verfügung. Zum anderen erhielten die Ausgräber Zuwendungen aus dem kaiserlichen Dispositionsfonds. Von Seiten der Politik wurde die Expedition also indirekt über den Etat der Museumsverwaltung und sehr direkt über private Mittel des Herrscherhauses unterstützt. Die Wirtschaft wiederum war durch die vielen in der DOG organisierten Industriellen vertreten, die sich für die Ausgrabung finanziell engagierten. Betrachtet man die Seite der Unterstützer als solche, so ist ihre Zusammensetzung für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert keineswegs untypisch. Das Modell einer Kofinanzierung wissenschaftlicher Forschung durch Staat und industrielles Großbürgertum lag beispielsweise auch der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Jahre 1911 z ugrunde.26 23 Vgl. Ulrike Felt u. a., Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt 1995, S. 208– 243, hier v. a. S. 211–218. 24 Vgl. zu diesem Konzept Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen fürein ander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands, in: Jürgen Büschenfeld (Hg.), Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 117–134. 25 Vgl. zur Geschichte dieser Abteilung die Beiträge im Jubiläumsband von Nicola Crüsemann (Hg.), Vorderasiatisches Museum Berlin. Geschichte und Geschichten zum hundertjährigen Bestehen, Berlin 2000. 26 Vgl. zur Gründung und Frühzeit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft u. a. Günter Wendel, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911–1914. Zur Anatomie einer imperialistischen Forschungsgesellschaft, Berlin 1975; Lothar Burchardt, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen 1975; ders., Zwischen Staat und Wissenschaft. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Außergewöhnlich an der großzügigen Unterstützung der Expedition ist eher die Art von Wissenschaft, die in diesem Fall gefördert wurde. Schließlich handelte es sich um keine angewandte, militär- oder industrieaffine Forschung, die Berührungen mit staatlichen Handels-, Verkehrs-, Gesundheits- und Sicherheitsinteressen oder mit den Metiers von Unternehmern aufgewiesen hätte. Wissenschaften wie die Archäologie konnten für Politik und Wirtschaft kaum als Ressource von Innovation, wohl aber als Ressource sozialen und nationalen Renommees fungieren. Die Überzeugung, es handle sich bei der Ausgrabung um ein förderungswürdiges Projekt, war also nicht materiell, sondern kulturell bestimmt.27 An die Aktivitäten der Archäologen vor Ort knüpfte sich keine Erwartung der Verwertbarkeit von Ergebnissen. Die Motive für die Unterstützung der Expedition waren vielmehr gemischt: Auf Seiten der privaten Förderer spielte neben dem Interesse an den wissenschaftlichen Zielen des Unternehmens, das oft durch eine gewisse Faszination für die Kulturen des (antiken) Orients28 und für die Pionierarbeit zeitgenös sischer Feldarchäologen befeuert wurde, und neben philanthropischen Neigungen29 sicherlich auch die Aussicht auf öffentliche Anerkennung und damit auf die Mehrung ihres sozialen Kapitals eine nicht zu unterschätzende Rolle. Von Seiten der staatlichen Institutionen wurde die Ausgrabung hingegen als nationales Prestigeprojekt behandelt und einer weitreichenden kulturpolitischen Agenda unterstellt. Die Direktion der Museen versprach sich von der Expedition spektakuläre Zuwächse für ihre Sammlungen und hatte dabei insbesondere die vom Bruch/Müller, Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung, S. 63–86; Jeffrey Allan Johnson, The Kaiser’s Chemists. Science and Modernization in Imperial Germany, Chapel Hill 1990, hier v. a. 107–158; Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, Stuttgart 1990; Bernhard vom Brocke/Hubert Laitko (Hg.), Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zur ihrer Geschichte. Das Harnack-Prinzip, Berlin 1996, und Kurt Nowak, Die KaiserWilhelm-Gesellschaft, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 55–71. 27 Vgl. zur Unterscheidung zwischen materiell und kulturell bestimmten Überzeugungen der Förderungswürdigkeit von Wissenschaft z. B. Felt u. a., Wissenschaftsforschung, S. 208 ff. 28 Vgl. dazu Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. 29 Vgl. dazu Olaf Matthes, Die Kunst des sinnvollen Gebens. James Simon als Philan throp/The Art of Worthwile Giving. James Simon as philanthropist, in: Bernd Schultz (Hg.), James Simon. Philanthrop und Kunstmäzen/James Simon. Philanthropist and Patron of the Arts, München 2006, S. 140–150. Zu den möglichen Motiven der Wissenschaftsförderung durch Industrielle und Unternehmer vgl. auch Peter Alter, Industrielles Mäzenatentum in England 1870–1914, in: vom Bruch/Müller, Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung, S. 241–258, hier S. 252–257; und Gabriele Lingelbach, Private Wissenschaftsförderung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Stiften, Schenken, Prägen. Zivilgesellschaftliche Wissenschaftsförderung im Wandel, Frankfurt 2011, S. 43–57, hier S. 46 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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kontinentale Konkurrenz aus Paris und London vor Augen.30 Von den Archäologen wurde natürlich erwartet, die Kenntnisse des antiken Babylon zu erweitern. Vor allem aber sollten sie dem Kaiserreich wichtige Kulturgüter sichern, ehe andere Nationen Zugriff darauf hätten.31 Es ging in Delitzsch’ Worten darum, »das Panier deutsch-wissenschaftlicher Forschung auf den Trümmerhügeln von Babylon aufzupflanzen« und dadurch im »Wettkampf der Nationen um die idealen Güter der Menschheit«32 gleichsam einen »Etappensieg« zu erringen. Gerade weil es sich bei der Expedition um ein Vorzeigeprojekt mit internationaler Ausstrahlung handelte, eignete sie sich für Vereinnahmungen durch die weltpoli tischen Ambitionen des Wilhelminismus.
Globalisiertes Wissen und nationales Prestige um 1900 Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg besaßen archäolo gische Forschungen für das nationale Prestige ein Bedeutungsniveau, das sie zu keinem späteren Zeitpunkt mehr erreichen sollten. Dies wird an zwei entgegengesetzten Bewegungen deutlich. Einerseits erlebte die archäologische Erforschung der eigenen kulturellen Vergangenheit einen rapiden Aufschwung. Andererseits verschärfte sich ab der zweiten Jahrhunderthälfte jener globale Wettlauf um Kulturgüter, der 2010 unter dem Titel »Das große Spiel« zum Gegenstand einer Ausstellung des Essener Ruhr Museums gemacht wurde.33 Nicht nur das Deutsche Kaiserreich, auch das britische Empire, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Schweden, Italien, Russland und weitere Nationen gehörten zum Teilnehmerfeld dieses Spiels, bei dem es galt, Grabungsplätze zu gewinnen und Fundstücke zu sammeln, um die großen Nationalmuseen damit zu füllen.34 Je prestigeträchtiger die Grabungsplätze und je spektakulärer die Funde, desto höher der Einsatz. Sprich: Projekte mit erheblicher Außenwirkung, wie sie die Babylon-Expedition oder die deutschen Ausgrabungen in Olympia (ab 1874) und die französischen in Delphi (ab 1892) darstellten, wurden großzügig gefördert und von Öffentlichkeit und Regierungsbehörden mit regem Interesse verfolgt. 30 Vgl. hierzu Margarete van Ess, Koldewey – Pionier systematischer Ausgrabungen im Orient, in: Ralf-B. Wartke (Hg.), Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey – Ein Archäologenleben, Mainz 2008, S. 91–103, hier S. 91. »Als Deutschland aus kulturpolitischen Erwägungen beschloss, in Mesopotamien mit den Franzosen, Engländern und Amerikanern gleichzuziehen und ein Grabungsprojekt zu beginnen, war es selbstverständlich, dass man einen öffentlichkeitswirksamen und gleichzeitig wissenschaftlich wichtigen Ort auszuwählen hatte. Die Ausgrabungen mussten spektakuläre Befunde und vor allem Funde versprechen, mit denen die Bedeutung des Ortes einleuchtend vor Augen zu führen sowie die Berliner Museen um wertvolle Gegenstände zu bereichern wären.« 31 Vgl. Marzahn, Die deutschen Ausgrabungen, a. a. O., hier S. 70. 32 Friedrich Delitzsch, Babylon, Leipzig 1899, S. 4 und 19 f. 33 Vgl. hierzu den Ausstellungskatalog von Trümpler (Hg.), Das große Spiel. 34 Vgl. zu diesem Thema Hermann Parzinger, Archäologie und Politik. Eine Wissenschaft und ihr Weg zum kulturpolitischen Global Player, Münster 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Die Ausgrabung Babylons kann daher nicht isoliert betrachtet werden. Denn zum einen steht sie in einer Reihe vergleichbarer Expeditionen. Und zum anderen wäre sie – wie das Konkurrieren um Grabungsplätze insgesamt – nicht denkbar gewesen ohne den Einfluss nationalistischen Gedankenguts und den poli tischen Rahmen des modernen Imperialismus.35 Die Weltpolitik Wilhelms II., die im Fall des Kaiserreichs das einigende Band für die verschiedenen Praktiken der imperialen Intervention darstellte, spielte als ideologisches Rückgrat für die Orientalistik um 1900 grundsätzlich eine Rolle.36 Für die Ausgrabung von Babylon aber war sie mehr als nur ideologisches Beiwerk. Immerhin fielen deren Anfänge zeitlich mit einer Intensivierung der Beziehungen zwischen Deutschem und Osmanischem Reich zusammen. Wilhelm II. hatte 1898 eine ausgedehnte und medienwirksam inszenierte Palästinareise unternommen und war dabei mit Abdul Hamid II. zusammengetroffen.37 Im Anschluss an diese Kontaktaufnahme wurde mit dem Bau der Bagdadbahn eines der ambitioniertesten Prestigeprojekte der wilhelminischen Weltpolitik in Angriff genommen.38 Anfänglichen Planungen zufolge sollte die Eisenbahn linie Berlin und Bagdad miteinander verbinden und die Einflusssphäre des Kaiserreichs in neue Dimensionen vorstoßen lassen. Aufgrund seiner reichen Bodenschätze und aufgrund des durch die damalige Schwäche des Osmanischen Reichs sich abzeichnenden Machtvakuums erschien der Vordere Orient besonders geeignet für diesen territorialen Ausgriff. Die lange kulturelle Tradition des Gebiets weckte zudem die Erwartung, gleichsam im Austausch für infrastrukturelle Hilfsdienste neben Aufträgen für die deutsche Industrie wertvolle Kulturschätze für deutsche Museen sichern zu können. Begünstigt durch die Inten sivierung der bilateralen Beziehungen und flankiert von einem Projekt wie dem Bau der Bagdadbahn, fungierte die Babylon-Expedition insofern auch als eine Art »kulturimperialistische Speerspitze im Zweistromland.«39 35 In gewisser Weise gilt diese Bemerkung für die Entwicklung der wissenschaftlichen Archäologie insgesamt. Vgl. Margarita Díaz-Andreu/Timothy Champion, Nationalism and archaeology in Europe. An introduction, in: dies. (Hg.), Nationalism and archaeology in Europe, London 1996, S. 1–23, hier S. 3: »The appearance of nationalism stimulated the very creation of archaeology as a science, and informed not only the organization of archaeological knowledge but also its very infrastructure. Without the existence of nationalism, archaeology or the study of the past might never have advanced beyond the status of a hobby or a pastime.« 36 Vgl. dazu Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009, hier v. a. S. 333–356. 37 Vgl. speziell dazu Jan Stefan Richter, Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898. Eine Studie zur Außenpolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert, Hamburg 1997, und Aleks Karmel/ Ejal Jakob Eisler, Der Kaiser reist ins Heilige Land. Die Palästinareise Wilhelms II. 1898. Eine illustrierte Dokumentation, Stuttgart 1999. 38 Vgl. Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, hier S. 99–95. 39 Olaf Matthes, Robert Koldewey im Orient, in: Ralf-B. Wartke (Hg.), Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey – Ein Archäologenleben, Mainz 2008, S. 71–85, hier S. 84. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Die Ausgrabung von Babylon
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Zwischen Deutschem und Osmanischem Reich bestanden formal zwar keine Abhängigkeitsbeziehungen. Die Expedition unter Koldeweys Leitung kann – im Unterschied zu britischen Ausgrabungen in Ägypten oder italienischen in Libyen40 – also nicht als kolonialarchäologisches Projekt im engeren Sinne bezeichnet werden. Dennoch sind die verschiedenen, miteinander vernetzten Praktiken der imperialen Intervention wie der Bau der Bagdadbahn und die Ausgrabung sicherlich als Phänomene einer quasi-kolonialen Verflechtung beider Staaten anzusehen. Bei Verhandlungen um Grabungsgenehmigungen und Fragen der Fundteilung standen sich schließlich zwei Partner gegenüber, deren Kräfteverhältnis hochgradig asymmetrisch war. Und auch die Zustände auf dem Ausgrabungsareal unterstützen den Eindruck, es mit einer quasi-kolonialen Situation zu tun zu haben: Für die beschwerliche Arbeit im Schnitt und für die Schuttbeseitigung war die aus Einheimischen bestehende Grabungsmannschaft zuständig, während der kleine Zirkel deutscher Wissenschaftler die Fortschritte überwachte, sie in Tagebüchern und Messungsjournalen protokollierte, Funde im Expeditionshaus diskutierte oder Besucher über das Gelände führte. Zusammenfassend betrachtet, ist die Ausgrabung ein Beispiel für Formen gezielter Wissenschaftsförderung in globalisiertem Kontext. Nicht nur staatliche Mittel, sondern auch Gelder von bürgerlichen Mäzenen, die in früheren Zeiten meist Einrichtungen im eigenen städtischen Umfeld unterstützt hatten, flossen in diesem Fall einem Forschungsunternehmen in einer entfernten Weltgegend zu. Die Beschleunigung und Verstärkung internationaler Verflechtungen nach 1880, die wachsende Beherrschbarkeit und Überwindbarkeit des Raums durch neue Verkehrsmittel sowie technische Fortschritte beim Empfang und bei der Übermittlung von Nachrichten bilden den Hintergrund derartiger Projekte. Koldewey und seine Mitarbeiter waren mit dem Bagdader Konsulat telegrafisch verkabelt und via Konsulat auch mit den Auftraggebern in Berlin in stetem Kontakt. Sie ließen Fundstücke mit einem Dampfboot abtransportieren, während in nicht allzu großer Entfernung gleichzeitig Schienentrassen der Bagdadbahn verlegt wurden. Prozesse der Wissenserzeugung, technische Innovation, moderne Infrastruktur und politisch-weltanschauliche Konstellationen41 waren hier in einer Weise miteinander verknüpft, die charakteristisch ist für Prozesse imperialer Intervention an der Wende zum 20. Jahrhundert. Ebenso charakteristisch aber wie die internationalen Verflechtungen und der globale Rahmen, in dem Forschungszweige wie die Archäologie sich um 1900 bewegten, ist die Inanspruchnahme besonders ambitionierter Projekte als symbolisches Kapital im Wettstreit konkurrierender Nationalstaaten. Für das Beispiel der Babylonarchäologie lässt sich daher festhalten, dass die Wissenschaftsförderung auf mehreren Ebenen ein doppeltes Gesicht zeigt: Sie wird staatlich organisiert, 40 Die Tätigkeit italienischer Ausgräber in Libyen wird umfassend geschildert bei Stefan Altkamp, Rückkehr nach Afrika. Italienische Kolonialarchäologie in Libyen 1911–1943, Köln 2000. 41 Vgl. dazu z. B. Peter Wehling, Wissensregime, in: Schützeichel, Handbuch, S. 704–712. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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aber auch in wesentlichen Teilen durch das Spendenaufkommen eines bürger lichen Vereins getragen. Sie entwickelt sich parallel zur Herausbildung des Dreiecks aus Staat, Universität und Industrie und profitiert von steigenden Zuwendungen, ohne dabei anwendungsnah und somit eigentliches Ziel expansiver wissenschaftspolitischer Strategien zu sein. Und sie erfolgt in einem sich globa lisierenden Umfeld, sie wird dabei aber kulturpolitisch als wichtige Ressource nationalstaatlichen Renommees behandelt.42
42 Vgl. allgemein zur doppelten Bewegung der Internationalisierung und Nationalisierung von Forschung im ausgehenden 19. Jahrhundert z. B. Brigitte Schroeder-Gudehus, Nationalism and Internationalism, in: R. C. Olby u. a. (Hg.), Oxford Companion to the History of Modern Science, London 1990, S. 909–919. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Russische Äthiopien-Expeditionen 1889–1896
Im Frühjahr 1894 entschloss sich der Rat der Kaiserlichen Russischen Geografischen Gesellschaft (Imperatorskoe Ruskoe Geografičeskoe Obščestvo) eine Expedition nach Abessinien, also in das Gebiet des heutigen Äthiopien auszurüsten. Ihr wissenschaftliches Ziel war es, den Sudan von Norden aus zu durchqueren und Abessinien selbst zu erforschen. Hatten die europäischen geografischen Forschungen in Afrika in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem der Frage nach den Nilquellen gegolten, so verschob sich das Interesse der Wissenschaft in den siebziger Jahren auf die Nebenflüsse des Kongo. Das äthiopische Hochland galt seit den Forschungen des Schotten James Bruce (1730– 1794) als weitgehend bekannt. Der südwestliche Teil, nördlich des Turkana (Rudolf)-Sees aber, bot europäischen und amerikanischen Abenteurern und Forschern ein geeignetes Feld im nationalen Wettbewerb um den Ruhm der ersten Entdeckung bzw. Beschreibung.1 Der Expedition der Russischen Geografischen Gesellschaft gehörten Forscher, Militärs und ein Vertreter der Geistlichkeit an. Die Verquickung zwischen politischen, militärischen und wissenschaftlichen Zielen war bei diesem Unternehmen besonders eng. Das Zusammenfallen von Expedition und territorialen Konflikten zwischen Italien und Abessinien war nicht zuletzt dafür verantwortlich, dass das Interesse der russischen Öffentlichkeit für den afrikanischen Schauplatz weit über die wissenschaftliche Neugier hinaus in den 1890er Jahren anhielt und weitere Expeditionen, zum Teil mit den gleichen Teilnehmern nach sich zog. Der Expedition von 1894 waren halboffizielle Erkundungen voraus gegangen. Ihr folgte eine weitere Unternehmung, nämlich die Entsendung einer Abteilung des Russischen Roten Kreuzes 1896, sowie weitere militärische Expeditionen in den Jahren 1896–1898.2 Auch diese Unternehmungen generierten geografisches Wissen. Politik, Religion, Wissenschaft und Humanitarismus – verstanden als unparteilicher Einsatz für Opfer von Kriegsfolgen und Katastrophen unabhängig von Religion oder Nation –, das zeigen die Expeditionen, 1 David Turton, Exploration in the Lower Omo Valley of Southwestern Ethiopia between 1890 and 1910, in: Maria Caravaglios (Hg.), L’ Africa ai Tempi di Daniele Comboni, Roma 1998; Philipp Viktor Paulitschke, Die geographische Erforschung des Afrikanischen Continents von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage: ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde, Wien 1880². 2 M. V. Rajt, Russkije ėkspedicii v Ėfiopii v seredine XIX – načale XX vv. i ich ėtnografičeskie materialy, in: Afrikanskij ėtnografičeskij sbornik 1.1956, S. 220–280. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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erweisen sich als eng miteinander verflochtene Felder.3 So diente die Institution der wissenschaftlichen Gesellschaft einerseits als ein Instrument der ( Geheim-) Politik. Zugleich ermöglichte die offizielle politische Unterstützung es den Forschern, symbolische und materielle Ressourcen zu nutzen, die privaten Reisenden vorenthalten waren. Über die typischen imperialen wissenschaftlichen Techniken – das Benennen von Landschaften und Gebirgen – fixierten sie symbolisch Besitzansprüche oder manifestierten ihr Selbstverständnis als Angehörige von so genannten Kulturnationen.4 Darüber hinaus zeigt der Fall auch, dass der Rahmen für die Eigeninitiative einzelner Forscher, unabhängig von der Institution, in deren Namen sie unterwegs waren, weit gesteckt war. Die durch die Expeditionen eingeleitete Wissensproduktion war das Ergebnis eines Zusammenspiels von politisch-militärischen Interessen der staatlichen Behörden, kirchlichen Ambitionen, zivilgesellschaftlichem Engagement und ökonomischen Interessen der Kaufmannschaft. Im Folgenden soll zunächst die Institution der Russischen Geografischen Gesellschaft vorgestellt werden, bevor in drei weiteren Schritten auf den außenund innenpolitischen Kontext, die Akteure der Expeditionen sowie die Wissens produktion und -popularisierung eingegangen wird.
Die Institution Die Kaiserliche Russische Geografische Gesellschaft (IRGO) gehörte zu einer Unzahl von gelehrten Gesellschaften, die sich im Europa des 19. Jahrhunderts auch unter Beteiligung von Amateuren der Erforschung der Erde widmeten und einen regen Austausch von Wissen und Objekten betrieben. Nach dem Vorbild der Royal Geographical Society 1845 gegründet, stellte sie eine Vereinigung von Wissenschaftlern, Militärs und Honoratioren dar, die personell mit den Ministerien und Behörden der kaiserlichen Zentrale verflochten waren.5 Gleichzeitig bot sie der im Zarenreich entstehenden Öffentlichkeit ein Forum der Geselligkeit und gehörte zu den über 10.000 Gesellschaften und Vereinen unterschiedlichster Art, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Minsk und Wladiwostok
3 Zu den unterschiedlichen Konzepten und Entstehungszusammenhängen des Humanitarismus: Michael Barnett, Empire of Humanity, Ithaca 2011. 4 Zur symbolischen Aussagekraft der Namensgebung: Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt: globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011, S. 97–102. Zum Konzept von Kultur- und Naturvölkern: Andrew Zimmerman, Ethnologie im Kaiserreich. Kultur, Natur und »Rasse« in Deutschland und seinen Kolonien, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 191–212, hier 192. 5 Joseph Bradley, Voluntary associations in Tsarist Russia, Harvard 2009, S. 86 ff.; Lev S. Berg, Vsesojuznoe geografičeskoe obščestvo za sto let, Moskva 1946, S. 35, 37, 39. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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wirkten.6 Die Nähe der Gesellschaft zum Zentrum der Macht drückte sich unter anderem darin aus, dass der jeweilige Thronfolger als ihr Ehrenvorsitzender fungierte und die wichtigsten Minister des Reiches grundsätzlich den Status von Ehrenmitgliedern genossen. Die personellen Verflechtungen und Überschneidungen zwischen Admiralität, Generalstab, Militärakademien auf der einen und der Akademie der Wissenschaften auf der anderen Seite waren, nicht anders als bei der Royal Geographical Society, eng.7 Wie das englische Vorbild, seit den 1870er Jahren die größte, global agierende und äußerst einflussreiche wissenschaftliche Gesellschaft, stellte ihr russisches Pendant eine Mischung aus imperialer Tauschbörse, einer gelehrten Gesellschaft und einem Geselligkeitsverein dar. Das Ziel der Royal Geographical Society bestand laut Statut von 1830 darin, Informationen über die Welt zu sammeln, in Übersichten darzustellen, Instruktionen für Reisende und Entdecker zu verfassen sowie sich mit anderen ähn lichen Gesellschaften auszutauschen.8 Die russische geografische Gesellschaft hatte es sich bei ihrer Gründung zur Aufgabe gemacht, »in Russland überhaupt geographische, ethnographische und statistische Kenntnisse generell und insonderheit solche über Russland selbst zu erfassen, zu bearbeiten und zu verbreiten.«9 Von diesem allgemeinen Anliegen ausgehend, unterstützte sie auch Forschungsreisen weltweit und arbeitete dabei eng mit der renommierten russischen Akademie der Wissenschaften zusammen. Von einer europaweiten Rezeption begleitet war z. B. die von Adam Johann Krusenstern (Ivan Fedorovič Krusenštern (1770–1846)) organisierte und von der Akademie unterstützte erste russische Weltumsegelung zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder die im Auftrag der Gesellschaft unternommene Erkundung des Fernen Ostens.10 Russische Wissenschaftler waren häufig auch Mitglieder entsprechender Gesellschaften im Ausland, und auch umgekehrt verzeichnete die Kaiserliche Russische Geografische Gesellschaft viele ausländische Mitglieder in ihren Reihen. Die Voraussetzungen für einen transnationalen Wissenstransfer waren damit günstig. Die Tatsache, dass die Forschungsergebnisse bis ins 20. Jahrhundert auch in westlichen Sprachen veröffentlicht wurden, trug ebenfalls dazu bei, dass die Erkenntnisse russischer Wissenschaftler auch West
6 Bradley, Voluntary, S. 94–99. Zum Assoziationswesen im Zarenreich vgl. Guido Hausmann (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreichs, Göttingen 2002. 7 Felix Driver, Geography Militant, Oxford 2001, S. 1–23, 26–34. 8 Driver, S. 27. 9 T. P. Matveeva, Die Russische Geographische Gesellschaft, in: Ludmilla Thomas (Hg.), Sibirien: Kolonie – Region, Berlin 1997, S. 179–188, hier 180. 10 Beispielhaft: Friedrich Schmidt, Reisen im Amur-Lande und auf der Insel Sachalin: im Auftrage der Kaiserlich-Russischen Geographischen Gesellschaft ausgeführt, St.-Pétersbourg 1868; Zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in der Gesellschaft: vgl. Catherine B. Clay, Russian Ethnographers in the Service of Empire 1856–1862, in: Slavic Review 54.1995, S. 45–61. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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europa schnell erreichten.11 Anders als bei der Royal Geographical Society gehörte Afrika aber nicht zum Kern der Forschungen der russischen Sozietät. Ihr Hauptinteresse galt den Gebieten im Süden sowie im äußersten Norden und Osten des eigenen Imperiums.12 Die Abessinien-Expeditionen der 1880er und 1890er Jahre stellten somit räumlich wie politisch einen besonderen Fall dar.
Afrika und Abessinien als Gegenstand von Politik und Wissenschaft Politisch gesehen bildete Abessinien eine Ausnahme im europäischen Wettlauf um die koloniale Aufteilung Afrikas. Ohne schließlich Kolonie zu werden, umfasste Abessinien ein Territorium, das für Großbritannien, Frankreich und Italien aus jeweils unterschiedlichen Gründen von Interesse war: So zielte die britische Seite darauf, ein zusammenhängendes Einflussgebiet zwischen Ägypten und dem Kap von Afrika zu etablieren. Die französische Politik war darauf ausgerichtet, in Djibouti am Roten Meer eine Zwischenstation für Handelsschiffe nach Indochina zu gründen und gleichzeitig britische Pläne für eine zusammenhängende Eisenbahnverbindung quer durch Afrika zu vereiteln.13 Das zwischen 1860 und 1870 als Nationalstaat neu entstandene Italien schließlich, engagierte sich, von Großbritannien gegen Frankreich unterstützt, in seiner späteren Kolonie Eritrea (offiziell seit 1890) und in Somalia auch mit Waffengewalt beim Wettlauf um Afrika. 1882 hatte die italienische Regierung mit Assab und Massua zwei Häfen am Roten Meer erworben bzw. besetzt und weitete anschließend ihren Besitz an der Küste aus. Ein Vertrag zwischen Italien und dem »Kaiser« (neguse negest, amharisch: König der Könige) von Äthiopien setzte den terri torialen Status Quo 1889 zunächst fest.14 1893, also ein Jahr vor Beginn der offiziellen Expedition der Russischen Geografischen Gesellschaft, kündigte die äthiopische Seite den Vertrag, weil sie den 11 Zu den internationalen Verflechtungen: Petr Semenov-Tjan-Šanskij, Istorija poluvekovoj delatel’nosti imperatorskogo russkago geografičeskago obščestva 1845–1895, St. Peterburg 1896, Bd. 1, S. 496–506, 1019. 12 Mark Bassin, The Russian Geographical Society, the Amur Epoch and the Great Siberian Expedition, 1855–63, in: Annals of the Association of American Geographers 73.1983, Nr. 2, S. 240–256. Der Arzt und Afrikareisende Wilhelm (Vasilij Vasilevič) Junker (1840–1892), der seine Forschungen nach Äquatorialafrika weitgehend privat finanzierte, wurde erst 1887 Ehrenmitglied der Russischen Geografischen Gesellschaft: A.I Sobchenko, Explorations of W. W. Junker, in: A.B Davidson, D. A. Olderogge, V. G. Solodovnikov (Hg.), Russia and Africa, Moscow 1966, S. 71–83. 13 Henri Brunschwig, Une colonie inutile: Obock (1862–1888), in: Cahiers d’études afri caines 8. 1968, Heft 29, S. 32–47. Bruce Vandervort, Wars of Imperial Contest in Africa 1830–1914, Bloomington 2009, S. 29–35. 14 I. I. Vasin, From the History of Russo-Ethiopian Relations at the End of the 19th Century, in: Apollon B. Davidson u. a. (Hg.), Russia and Africa, Moscow 1966, S. 187–193; Bahru Zewde, A history of modern Ethiopia 1855–1974, London 1991, S. 72–79; Jean-Louis Miège, L’imperialisme colonial italien de 1870 á nos jours, Paris 1968, S. 55–63. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Abb. 1: Abessinien 1891.
in der italienischen Version festgeschriebenen Protektoratsanspruch nicht akzeptieren wollte. Eine militärische Auseinandersetzung zwischen Italien, Großbritannien und Äthiopien wurde damit wahrscheinlich. Russland verhielt sich neutral. Es hatte, im Unterschied zu Großbritannien und Deutschland, das italienische Protektorat nicht anerkannt.15 In dieser Situation und im Bewusstsein eines bevorstehenden Konfliktes nahm die Kaiserliche Russische Geografische Gesellschaft die Expedition unter ihre Schirmherrschaft.16 Worin bestand nun 15 Zewde, A history, S. 75. 16 Eliseev berichtete im Mai 1894 ausführlich über die Situation im benachbarten Sudan: Aleksandr V. Eliseev, Mahdizm i soveršennoe položenije del v Sudane, in: Izvestija Russkogo Geografičeskogo Obščestva 30. 1894, S. 604–666. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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das politische Interesse des russischen Kaiserreichs am Horn von Afrika und welche wissenschaftlichen Fragen sollten mit der Expedition geklärt werden? Auch für das Zarenreich war die Neutralität des Suezkanals, der eine kürzere Seeverbindung zum Pazifik ermöglichte, von zentraler militärischer und handelspolitischer Bedeutung.17 Zugleich verfolgte das Kriegsministerium das Ziel, Großbritannien, mit dem das russische Imperium im Nahen und Mitt leren O sten rivalisierte, wo immer es möglich war, zu schwächen.18 Dieses Ziel galt auch auf dem afrikanischen Kontinent. So bemühten sich die Kriegs- und Außenminister sowie der russische Konsul in Kairo, ein Vordringen Groß britanniens, später auch Italiens, auf Kosten Äthiopiens zu verhindern. Direkte diplomatische Beziehungen mit dem Kaiser von Äthiopien herzustellen, war deshalb eines der politischen Anliegen der Expedition. Wie sich später zeigen sollte, legte der militärische Expeditionsleiter Nikolaj Stepanovič Leont’ev19 den Grundstein für die russische Unterstützung Äthiopiens im Krieg gegen Italien in den Jahren 1895–1896. Das russische Interesse an Abessinien war in den 1890er Jahren nicht nur wissenschaftlicher Natur. Bereits 1888 hatte ein selbsternannter Kosakenführer (ataman) Nikolaj I. Ašinov eigenmächtig versucht, im Golf von Aden eine rus sische Kolonie zu gründen und war dabei auf Unterstützung der orthodoxen Kirche gestoßen.20 Auch wenn der Versuch am Ende scheiterte, weil Alexander III. (1881–1894) keine außenpolitischen Verwicklungen mit Großbritannien riskieren wollte, gab es andere Institutionen, die ein russisches Engagement in Abessinien befürworteten: Die auch als wissenschaftliche Organisation kurz zuvor gegründete, staatsnahe Orthodoxe Palästinagesellschaft (Pravoslavnoe Palestinskoe Obščestvo) und die hohe Geistlichkeit.21 Die Orthodoxe Palästinagesell17 1871 standen russische Schiffe an achter Stelle aller Passagen durch den Suezkanal: Edward T. Wilson, Russia and Black Africa before World War II, New York 1974, S. 24. 18 Evgeny Sergeev, The great game 1857–1907. Myths and reality of the Russo-British relations in Central and East Asia, Baltimore 2012. 19 Lemma Leont’ev, in: Voennaja ėnciklopedia. Moskva 1911–1915, S. 58; Pascal James Imperato, Leontiev, Nikolaj Stepanovich, in: Encyclopedia Ethiopica, hg.v. Siegbert Uhlig, Bd. 3, S. 547–548; Zu Eliseev: G. N. Gechman, Vydajuščesja geografy i putešestvenniki, Tiblisi 1962, S. 139; Semenov-Tjan-Šanskij, Istorija, S. 947–950. 20 Patric J. Rollins, Imperial Russia’s African Colony, in: The Russian Review 27. 1968, Nr. 4, S. 432–451; Andrej Chrenkov, Maškov v Ėfiopii meždu podvigom i avanturoj, in: Voprosy istorii 2. 1999, S. 123–137, hier S. 124; Mittel für Ašinovs Ausrüstung und seine Mannschaft wurden von der Palästinagesellschaft gesammelt: Wilson, Russia and Black Africa, S. 32. 21 Zur Palästinagesellschaft vgl.: Derek Hopwood, The Russian Presence in Syria and Palestine 1843–1914. Church and Politics in the Near East, Oxford 1969, S. 99–113; Abdul Latif Tibawi, Russian cultural penetration of Syria-Palestine, in: Royal Central Asian Journal 52. 1966, 2.3, S. 166–182, hier S. 179–180. Die Gesellschaft unterhielt ein Schulwesen im Nahen Osten, (vor allem Palästina und Syrien) das vor Beginn des Ersten Weltkrieges 100 Schulen zählte. Zu den Unterrichtsfächern gehörten Arabisch, Arithmetik, Geografie, Geschichte und handwerkliche Ausbildung, in vielen Schulen wurde auch Russisch gelehrt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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schaft wurde kurz nach dem Herrschaftsantritt Alexanders III. 1882 mit dem Ziel gegründet, das russische Pilgerwesen in Palästina zu unterstützen, Informationen über das Heilige Land zu sammeln und ein orthodoxes Schulwesen im Nahen Osten aufzubauen.22 Ihr gehörten neben der kaiserlichen Familie die Vorsitzenden des Ministerrates und als Stellvertreter des Zaren der Oberprokuror des Heiligen Synod – eines seit 1721 bestehenden, unter staatlicher Aufsicht stehenden obersten Leitungsorgans der orthodoxen Kirche – an. Bei der Unterstützung Ašinovs ließ sich die Palästinagesellschaft von der Hoffnung leiten, eine Vereinigung zwischen der russisch-orthodoxen und der selbständigen (autokephalen) koptisch-äthiopischen Kirche zu erreichen. Politisch zunächst weitgehend folgenlos, hatte das Unternehmen der 1880er Jahre einen wissenschaftlichen Nebenertrag: Erste Informationen über das Klima und die Wegbeschaffenheit im Gebiet zwischen dem Roten Meer und dem Berg Entoto sowie 85 Objekte, vor allem Alltagsgegenstände, die sich heute im Museum für Anthropologie und Ethnologie der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg befinden, fanden über eine als privates Unternehmen deklarierte Expedition des Leutnant Maškov ihren Weg in das Zarenreich.23 Eine anschließende politischmilitärische Expedition (1891–1892), die Maškov, mittlerweile als Mitglied der IRGO, als ein wissenschaftliches Vorhaben zur Erkundung des Landes präsentierte, wurde mit 150.000 Rubel und Gewehren vom Kriegsministerium ausgestattet und vom kurz zuvor zum Priestermönch geweihten Militärarzt, mit dem geistlichen Namen Tichon geleitet.24 Ihm hatte das oberste Verwaltungsorgan der orthodoxen Kirche, der Heilige Synod, diese Aufgabe übertragen. Die in den Augen der Zeitgenossen offenbar nicht problematische Verbindung von Wissenschaft und Politik wurde auch zeitnah im Ausland registriert und fand sogar Niederschlag in Meyers Konversationslexikon: Nach Abessinien entsandte die Russische Geografische Gesellschaft in Petersburg eine Expedition unter Führung des Leutnants Maschkow. Neben dem Zweck, im Auftrag des Kaisers von Rußland dem Negus Geschenke zu über bringen, verfolgt diese Expedition, deren Dauer auf drei Jahre bemessen ist, wissenschaftliche Aufgaben.25
22 Der Name der Gesellschaft wurde 1889 um den Zusatz kaiserlich erweitert. 23 Marija P. Zabrodskaja, Russkije putešestvenniki po Afrike, Moskva 1977, S. 57; Chrenkov, Maškov v Ėfiopii, S. 128; M. V. Rajt, Russkije ėkspedicii v Ėfiopii v seredine XIX – načale XX vv. i ich etnografičeskie materialy, in: Afrikanskij ėtnografičeskij sbornik 1. 1956, S. 220– 280, hier S. 238. Die Verbindung zwischen Ašinov und Maškov gilt als ungesichert: Andrey Khrenkov, Maškov, Viktor, in: Encyclopaedia Aethiopica Bd. 3, S. 836–838, hier 837. 24 Chrenkov, Maškov v Ėfiopii, S. 130. Die Zusammensetzung und die Ziele Expedition wurden vom Kriegs-, Außen- und Finanzministerium sowie vom Heiligen Synod bestimmt: Wilson, Russia and Black Africa, 43. 25 Meyers Konversationslexikon 19. Band: Jahres-Supplement 1891–1892, Stichwort Afrika; Zu Maškov: Andrey Khrenkov, Maškov, Viktor, in: Siegbert Uhlig (Hg.), Encyclopedia Aethiopica, Bd. 3, Wiesbaden 2007, S. 836–838. Tatsächlich dauerte die Expedition etwas über ein Jahr (April 1891 – August 1892): Chrenkov, Maškov v Ėfiopii, S. 128–135. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Maškovs Reiseeindrücke, die er in der auflagenstarken Petersburger Tageszeitung Novoe Vremja (Neue Zeit) publizierte, trugen dazu bei, die ohnehin populären Vorstellungen von Abessinien als dem Land der »schwarzen Christen«, und damit eine auf die dominante Kultur reduzierte Sicht, in Russland zu aktualisieren.26 Denn bereits in den 1860er Jahren hatten Schriften des Leiters der russischen geistlichen Mission in Jerusalem Profirij Uspenskij (1804–1885) Abessinien als ein brüderlich-christliches Land gezeichnet, von dem aus ganz Afrika missioniert werden sollte.27 Maškovs Forschungsergebnisse gelangten auch nur mit einer kleinen Verzögerung nach Westeuropa.28 Die Verquickung von Interessen der Kirche, Wissenschaft und Politik spiegelt sich auch bei der Expedition, die 1894 unter der Schirmherrschaft der Kaiserlichen Russischen Geografischen Gesellschaft unternommen wurde, wider. Auch sie bediente sich unterschiedlicher finanzieller Quellen: der Akademie der Wissenschaften, des Außen- und des Kriegsministeriums und privater Mittel.29
Die Expedition von 1894 und ihre Akteure Initiator des Unternehmens war der Leutnant der Reserve Nikolaj Stepanovič Leont’ev. Leont’ev, ein Offizier und Forschungsreisender, hatte zuvor als Mitglied der Kaiserlichen Geografischen Gesellschaft Persien, Afghanistan und Indien bereist. Zu seiner Begleitung für die Expedition gehörten mit Konstantin Zvjagin ein weiterer Leutnant der Reserve, der über Kenntnisse auf den Gebieten der Astronomie und Geodäsie verfügte, sowie Aleksandr Vasilevič E liseev (1858–1895) – ein erfahrener Afrika-Reisender, Schriftsteller, Naturforscher und Anthropologe. Eliseev hatte zuvor im Auftrag der Palästinagesellschaft unter anderem das russische Pilgerwesen in Palästina erforscht und kam dort auch mit orthodoxen Christen aus Äthiopien in Berührung.30 Seine reich bebilderten Reiseschilderungen über die »weite Welt« – neben Finnland vor allem Nordafrika 26 Vasilij F. Maškov, Putešestvie v stranu černych Chrestian v 1891–1892 gg., in: Novoe vremija, 18.1.1893, S. 2; 27.1.1893, S. 2; 16.2.1893, S. 2–3; 23.2.1893, S. 2–3; Nr. 6131 (o. D.), S. 2–3. 27 Uspenskij, Profirij, Cerkovnoe i političeskoe sostojanije Abissinii s drevniejšich vremen do našich dnej, in: Trudy Imperatorskoj Kijevskoj Duchovnoj Akademii 3.1863, S. 305– 344; 4., S. 556–604; 5.1866, S.3–32; 6.1866, S. 142–167. Uspenskijs Aufruf war einerseits eine Reaktion auf die Bemühungen des Briten Samuel Gobat, eine protestantische äthiopische Kirche in Jerusalem zu errichten, andererseits auf die katholischen Missions bemühungen im Sudan: Wilson, Russia and Black Africa, S. 14–15. 28 Vasilij F. Maškov, Il secondo viaggio in Abissinia de Mashcov (1891–92), in: Bolletina della Società geografica italiana. Seria 3, 7.1894, S. 841–86. 29 Ein Teil der Mittel stammte vom Leiter der Expedition Nikolaj Stepaovič Leont’ev: Lemma Leont’ev, in: Voennaja ėnciklopedia. Moskva 1911–1915, S. 58. 30 In den 1880er Jahren besuchten ca. 3.000 Pilger jährlich das Heilige Land, um 1900 waren es drei Mal so viele: Tibawi, Russian cultural, S. 180. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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und Palästina – gehörten zur Lektüre russischer Jugendlicher.31 Sein Versuch, anthropologische Forschungen bei den Tuareg durchzuführen, war aufgrund unsicherer Verhältnisse gescheitert, ebenso wie seine Expedition in den Sudan 1893.32 Das Unternehmen der Geografischen Gesellschaft eröffnete ihm also eine weitere Möglichkeit, seinem anthropologisch-ethnografischen Interesse nachzugehen.33 Unter den Teilnehmern der Expedition befand sich neben Militärs und Wissenschaftlern mit dem Priestermönch Efrem auch diesmal ein Geistlicher, und auch diesmal ein Arzt (weltlich Doktor M. M. Cvetaev). Das Anliegen des Heiligen Synod blieb unverändert auf eine Union mit der äthiopischen orthodoxen Kirche ausgerichtet. Offiziell sollte die Expedition aber nur die theologischen und liturgischen Unterschiede zwischen beiden Glaubensrichtungen studieren. Die Moskauer Kaufmannschaft dagegen finanzierte das Unternehmen mit der Hoffnung auf Erschließung neuer Märkte.34 Das Vorhaben fand auch Unterstützer in etablierten wissenschaftlichen Kreisen: Der Vorsitzende der russischen anthropologischen Gesellschaft, der »russische Virchow« Dmitirj Anučin (1843–1923) sowie der europaweit bekannte Geograf und Meteorologe Aleksandr Voejkov (1842–1916) begrüßten das wissenschaftliche Erkundungsprogramm.35 Die Kaiserliche Russische Geografische Gesellschaft lieferte auch Instrumente sowie Empfehlungsschreiben an die französische Schwesterorganisation und nahm das Vier-Mann-Unternehmen unter ihre Fittiche.36 Das Außenministerium stellte entsprechende Papiere aus, die das Reisen auf französischem Territorium erleichtern sollten, das Kriegsministerium sorgte für Waffen.37 31 Aleksandr V. Eliseev, Po belu svetu. Očerki i kartiny putešestvij po trem častjam Starogo sveta doktora A. V. Eliseeva, Sankt-Peterburg 1899 (mit einer weiteren Auflage 1900). Das Exemplar der Bayrischen Staatsbibliothek ist mit einer Widmung für einen Schüler des Realgymnasiums ins Zarajsk versehen. 32 Aleksandr V. Eliseev, Mahdizm i soveršennoe položenije del v Sudane, in: Izvestija Russkogo Geografičeskogo Obščestva 30.1894, S. 604–666, hier 607–609. Es ist nicht klar, ob die Sudanreise im geheimen Auftrag der russischen Regierung stattfand: Wilson, Russia and Black Africa, 48. 33 Aleksandr Eliseev, Poezdka v Charar, in: Niva. Ežemesačnoe literaturnoe priloženie, 8. 1896, S. 733–770, hier 733. 34 K. V. Vinogradova, Učastie Ėsaula kubanskogo kazačego vojska N. S. Leont’eva v sobytijach italo-ėfiopskoj vojny 1895–1896 gg., unter: http://www.sworld.com.ua/index.php/ru/ history/world-history-and-the-history-of-ukraine/768-vinogradova-kv. 35 Zabrodskaja, Russkie putešestvenniki, S. 58. Zu Anučin: Marina Mogil’ner, Homo imperii. Istorija fizičeskoj antropologii v Rossii, Moskau 2008, S. 187–199; Voejkov war Mitglied der Royal Meteorogical Society, der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft sowie der geografischen Gesellschaften von Bern, Genf, Leipzig und Halle: Biografičeskij slovar’ professorov S-Peterburgskago universiteta 1869–1894, St. Peterburg 1896–1898 vgl. World Biographical Information System, unter: http://db.saur.de/WBIS/login.jsf;jsessionid=e07 1a820b76c7cb6aad9347a74bb. 36 Zum Kern der Expedition gehörten Leont’ev, Zvjagin, Eliseev und der Priestermönch Efrem. Begleitet wurden sie außerdem von einem Dolmetscher und einem Tierpräparator: Eliseev, Poezdka, Heft 8, S. 734. 37 Eliseev, Poezdka, 8. 1896, S. 734; Wilson, Russia and Black Africa, S. 49–50. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Wissensproduktion und Popularisierung Die Reiserroute der russischen Forscher war durch die Erkenntnisse Maškovs vorgezeichnet. Vom französischen Djibouti aus verlief sie über Obok, das ehemalige Kalifat Harar, das 1887 an Äthiopien angeschlossen worden war, bis zur neuen Hauptstadt Addis-Abeba, in der die Expedition, bis auf Eliseev, im März 1895 ankam.38 Die Forscher verzeichneten das Land zwischen Djibouti und Harar (910 km Länge) über das Verfahren der Triangulation mit Hilfe von astronomischen Punkten (Zvjagin) und legten Sammlungen von Objekten der Flora und Fauna an. Aus der Danakil-Wüste im Dreieck Eritrea-Äthiopien-Djibouti brachten sie 800 Insekten, 21 Vögel und weitere Tiere mit, die sie der Akademie der Wissenschaften übergaben.39 Detaillierte Aufzeichnungen von Wetterbeobachtungen der Expeditionsteilnehmer erhielt das Petersburger physikalische Hauptobservatorium (Nikolaj-Observatorium), später die Kaiserliche Geograf ische Gesellschaft.40 Das von Eliseev produzierte Wissen verbreitete sich nicht nur über die Fachorgane. Es fand auch Eingang in die von den städtischen Schichten konsumierten kostenlosen Beilagen der populären und auflagestarken Monatsschrift Niva (das Feld) und damit in die breitere Öffentlichkeit.41 Das Bild, das der Forschungsreisende dort von Afrika zeichnete, war von drei Elementen bestimmt: Der geologischen Beschaffenheit des Landes, der exotischen Flora und Fauna sowie den Landesbewohnern und ihren Sitten. Die Reisebeschreibung oszillierte zwischen den Stereotypen der »friedliebenden oder kriegerischen Wilden«, manchmal avancierten die Bewohner des Landes auch zu »malerische[n] Gruppe[n] von Wilden«.42 Doch mindestens genauso wie die Schilderung dazu geeignet war, das Interesse für Exotik zu befriedigen, erzeugte sie vor allem den Eindruck, dass eine russische Expedition auch im fernen Afrika auf Respekt bezeugungen und Ehrerweisungen43 zählen konnte und stärkte so die imperiale Identität ihrer Leser. Diese lernten Abessinien als ein Land kennen, das »seit vielen Jahrhunderten gegen die Häretiker, Heiden und den Islam« gekämpft habe und sich anschicke »eine Stütze für die Völker des Ostens zu werden, denen im Kampf gegen den Islam die Kräfte schwinden.«44 Der russische Forscher räumte 38 Zabrodskaja, Russkie, S. 57. 39 Konstantin Zvjagin, Očerk sovremennoj Abissinii, St. Petersburg 1895; Zabrodskaja, Russkie, S. 59; Rajt, Russkije, S. 240. 40 Zabrodskaja, S. 59. 41 Eliseev, Poezdka, 8.1896, S. 733–770; 9.1896, S. 39–78. Die Zeitschrift erreichte in den 1890er Jahren eine Auflage von 115 bis 170 000 Exemplaren: A.Ju. Narkevič, Niva, in: A. A. Surkov (Hg.), Kratkaja literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 5, Moskva 1968, S. 254–256. 42 Eliseev, Poezdka, 8.1896, S.762,765,770. 43 Eliseev, Poezdka, 9. 1896, S. 41–42, 45–47, 59,76. 44 Eliseev, Poezdka, Nr. 9, S. 59, 78. Bereits 1894 hatte Eliseev in seinem Vortrag vor der Russischen Geografischen Gesellschaft auf die Bedeutung der Mahdi-Bewegung für die islamischen Völker der Zarenreichs hingewiesen: Eliseev, Mahdizm, S. 605. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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den christlichen Abessiniern zugleich einen besonders hohen zivilisatorischen Einfluss auf die benachbarten »wilden Völker« ein.45
Die Rot-Kreuz-Expedition: zwischen Militär, humanitärer Hilfe und Wissenschaft Der politische Zweck der Expedition, zwischen Zar Nikolaus II. und dem äthiopischen Kaiser diplomatische Beziehungen über einen Austausch von Geschenken zu knüpfen, wurde mehr als erfüllt.46 Der Gegenbesuch einer äthiopischen Delegation und eine Audienz beim Zaren im Juni 1895 erregten großes Interesse in der Öffentlichkeit. Ja mehr noch, Menelik II., seit 1889 äthiopischer Kaiser, konnte im anschließenden italienisch-äthiopischen Krieg (1895– 1896) auf militärische Unterstützung durch Petersburg zählen. Denn der Zar schickte 30.000 Gewehre und fünf Millionen Projektile,47 und der Expeditionsteilnehmer von 1894, N. S. Leont’ev, diente dem Kaiser auch danach mit militärisch-strategischem Wissen. Sein Beitrag für den Sieg der äthiopischen Truppen bei Adua im März 1896 und sein weiteres Engagement beim Aufbau der äthio pischen Armee wurden reich belohnt: Neben Ehrentiteln erhielt er 1897 das Amt eines Generalgouverneurs der Äquatorprovinzen Äthiopiens.48 Der wissenschaftlichen Expedition des Jahres 1895 folgte eine humanitäre Aktion im darauf folgenden Jahr. Denn nach dem Sieg der äthiopischen Truppen und ihrem großen medialen Echo spendete die russische Öffentlichkeit bereitwillig für die Ausrüstung einer russischen Rot-Kreuz-Abordnung zur Unterstützung der »schwarzen Brüder im Glauben«, die schließlich 61 Personen zählte.49 Die Erfahrung der vorausgegangenen Expeditionen der Geografischen Gesellschaft kam diesem neuen Unternehmen zu Gute, auch dieses Mal waren 45 Eliseev, Poezdka, 9. 1896, S. 78; Zum Rassekonzept innerhalb der russischen Anthro pologie vgl. Mogil’ner, Homo imperii, S. 83–108. Eine solche Klassifizierung entsprach auch der allgemeinen Wahrnehmung der Abessinier, in denen die Europäer mehr Christen als Schwarze sahen: Vandervort, Wars, S. 2. 46 Die Mitglieder der äthiopischen Gesandtschaft wurden mit hohen Orden ausgezeichnet: Menelik selbst bekam den Orden des als Stifter des orthodoxen Russland geltenden Aleksandr Nevskij verliehen: Vjatkina, Rossija, S. 54–55. 47 Dieses Geschenk wurde von den Italienern allerdings vor seinem Bestimmungsort auf gehalten: Imperato, Leontiev, S. 547. 48 Imperato, Leontiev, S. 548, Wilson, Russia and Black Africa, 57. 49 Right, Russian Red Cross, S. 167; Evgenij Morozov, Russian Red Cross Mission, in: Encyclopedia Ethiopica, hg. von Siegbert Uhlig, Bd. 4, Wiesbaden 2010, S. 421–422; Wilson, Russia and Black Africa, S. 58–59. Allgemein zur Entstehung des Internationalen Roten Kreuzes: Dieter Riesenberger, Das internationale Rote Kreuz 1863–1977, Göttingen 1992. Die russländische Gesellschaft des Roten Kreuzes (Rossijskoe obščestvo Kransnogo Kresta) entstand 1879. Zu ihren Ehrenmitgliedern zählten der Zar sowie die Großfürsten und -fürstinnen, unter: http://www.redcross.ru/?pid=10; N. I. Pirogov et la croix rouge russe, in: Revue internationale de la croix rouge 39. 1957, S. 575–585. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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zum Teil ranghohe Militärs Teil der Mannschaft.50 Von Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Institutionen kann im Fall dieser Expedition also nicht gesprochen werden. Die an den Hilfsmaßnahmen des Roten Kreuzes beteiligten Ärzte leisteten nicht nur medizinische Hilfe,51 sie unternahmen auch anthropologischethnografische Forschungen.52 Die in Äthiopien gesammelten Objekte wurden 1897 einer interessierten großstädtischen Öffentlichkeit vorgestellt.53 So lockte eine medizinisch-anthropologische Ausstellung in Petersburg einen Monat lang 6.500 Besucher an. Ähnliche Ausstellungen fanden auch in Moskau und Odessa statt.54 Das Interesse an Exotik mischte sich hier mit einer städtischen, nicht staatlich organisierten Form eines neuen, als rational propagierten Freizeitvergnügens.55 Andere Mitglieder der Rot-Kreuz-Expedition hielten Vorträge vor Frauen und Männern der Geografischen Gesellschaft, in denen sie über die Völker der Danikil-Wüste berichteten, mitgebrachte Versteinerungen vorführten und »die überall sichtbare Hand des arbeitsliebenden Galla« oder die »überaus bunte Stammesstruktur in Folge von Jahrhunderte alter Mischung der Rassen« lobten.56 Informationen, die Leont’ev im Rahmen seiner militärischen Expeditionen gesammelt hatte, fanden relativ schnell Eingang in den europäischen Wissensbestand über Afrika. Den Verbindungen zwischen der Petersburger und der Pariser Geografischen Gesellschaft entsprechend erschienen sie im dortigen Publikationsorgan.57 Auch Petermanns Mitteilungen – eine in Gotha herausgegebene, 50 Nikolaj K. Švedov war Leiter der Kanzlei des kaiserlichen Hauptquartiers und seit 1885 Mitglied der Hauptverwaltung des russischen Roten Kreuzes, er bekleidete den Rang eines Generalmajors. Aleksandr K. Bulatovič, der auch nach Abschluss der Rot-Kreuz-Expedition eigene Forschungen unternahm, diente freiwillig in der zweiten Kavalleriedivision: Zu Švedov: Russisches Biographisches Archiv, Fiche 0504, S. 265 ff.; zu Bulatovič 0177, S. 206 ff. (online unter: http://worldbiographicalinformationsystem/db.saur.de). 51 Etliche Ärzte blieben auch nach Ende der Expedition in Addis Abeba, 1898 wurde dort auch ein russisches Hospital errichtet, das bis 1906 medizinische Versorgung leisten konnte: Wilson, Russia and Black Africa, S. 59. 52 M. I. Lebedinskij, Antropomeričeskija izmerenija u Gallasov, in: Russkij vrač 46. 1911, S. 1772–1773. 53 Initiator der Ausstellung war der Leutnant der Reserve Konstantin Semenovič Zvjagin. 54 M. V. Right, Russian Red Cross Expedition to Ethiopia, in: Davidson, Russia and Africa, S. 167–74, hier S. 172; Die Ausstellung dauerte vom 31.1. bis zum 3.3.1897: Rajt, Russkie ėkspedicii, S. 247. 55 Bradley, Pictures of an exhibition. Science, patriotism and civil society in Imperial Russia, in: Slavic Review 67. 2008, Heft 4, S. 934–966, hier S. 936–941; Guido Hausmann (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002. 56 Fedorov, Svedenija ob Abissinii, in: Izvestija Russkogo Geografičeskogo Obščestva 33.1897–98, Heft 5, S. 443–449, hier S. 447 und S. 449; P. V. Ščusev, Doklad g. Ščuseva, in: Izvestija Russkogo Geografičeskogo Obščestva 33. 1897, Heft 5, S. 449–452. 57 Leont’evs Darstellung betonte einerseits seinen eigenen Beitrag zur Unterwerfung der im südlichen Grenzgebiet liegenden Territorien, andererseits enthielt sie Informationen über Handelswege, Flora, Fauna und die Bevölkerung. Compte de Léontieff, Exploration © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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seit ihrer Entstehung im Jahr 1855 an Afrika besonders interessierte, zugleich Marktinteressen und zunehmend auch der Wissenschaft verpflichtete Zeitschrift – verzeichneten auf einer Karte über die Gallaländer auch eine Route von »N. de Leóntieff 1893–1899«.58 Ein weiterer Teilnehmer der Rot-Kreuz-Expedition Aleksandr K. Bulatovič konnte sich, zumindest zeitweise, mit dem Namen des russischen Zaren in die Kartografie einschreiben. »Kaiser Nikolaus II.Gebirge wird nach den Forschungen von Bulatowitsch (1896 und 1898) ein Gebirgsrücken in Äquatorialafrika genannt, der zwischen 6 und 9 nördl. Breite und östl. L. die Wasserscheide zwischen Sobat und Omo (zum Rudolfsee) bildet«, meldete Meyers Konversationslexikon.59 Dem symbolischen Besitz auf dem afrikanischen Kontinent folgte kein russischer Kolonialbesitz. Der Vorschlag des Leiters der außerordentlichen diplomatischen Mission in Abessinien, Vlasov, 1899 über die Errichtung »einer Kolonie im weiteren Sinne dieses Wortes oder nur einer befestigten Militärbasis«60 als langfristiges Ziel russischer Politik nachzudenken, blieb Makulatur. Die intensive Sammeltätigkeit der Angehörigen der Rot-Kreuz-Abteilung auch nach Abschluss der Expedition sorgte allerdings dafür, dass Artefakte aus Äthiopien heute den größten Teil der Afrika-Sammlung des Museums für Anthropologie und Ethnografie der Russischen Akademie der Wissenschaften (Kunstkamera) ausmachen.61 Wie in anderen europäischen Ländern beruhte auch im Zarenreich das Verhältnis zwischen Imperium und Wissenschaft auf Gegenseitigkeit. Wissenschaftliche Expeditionen profitierten von der Unterstützung durch Diplomatie des provinces équatoriales d’Abyssinie, in: La Géographie: Bulletin de la Société de Géo graphie 2. 1900, S. 105–118. 58 Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt, Bd. 51, 1905, Karte Beilage 17: Die Gallaländer nach den neuesten Forschungsreisen gezeichnet von Carl Schmidt. Zu Petermanns Mitteilungen: Imre Josef Demhardt, Rastlos nach dem unerforschten Innern längstgekannter Continente…– Afrika in den Anfängen von Petermanns Mitteilungen, in: Sebastian Lentz (Hg.), Die Verräumlichung des Welt-Bildes: Petermanns geographische Mitteilungen zwischen »explorativer Geographie« und der »Vermessenheit« europäischer Raumphantasien; Beiträge der Internationalen Konferenz auf Schloss Friedenstein Gotha, 9.–11. Oktober 2005, Stuttgart 2008, S. 65–74. Siehe hierzu den Beitrag von Alexandra Przyrembel in diesem Band. 59 Meyers Großes Konversationslexikon Bd. 10, Leipzig 1907, S. 437. Bulatovič berichtete auf der Sitzung der Kaiserlichen Russischen Geografischen Gesellschaft vom 13.1.1899 selbst über seine Erkundungen: Aleksandr K. Bulatovič, Iz Abissinii čerez stranu Kaffa na ozero Rudol’fa, in: Izvestija imperatorskago russkago geografičeskago obščestva 35.1899, S. 259–283. Die Namensgebung war mit Zar Nikolaus abgestimmt: Wilson, Russia and Black Africa, S. 67. Zum europäischen Wettbewerb: Pascal James Imperato, Quest for the Jade Sea. Colonial competition around the East African lake, Boulder 1998. 60 Vjatkina, Rossija i Afrika, S. 117. 61 Sie stammen von dem Arzt Nikolaj P. Brovcyn sowie dem Arzt und Archäologen A. I. Kochanovskij: G. N. Gotsko, Istorija ėfiopskich kollekcji otdela Afriki, Leningrad 1980, S. 59–60; D. A. Olderogge, Vystavka abissinskich kollekcji: Kratkij putevoditel’, Moskva 1935. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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und Militär. Umgekehrt konnten imperiale Interessen unter dem Mantel wissenschaftlicher oder humanitärer Expeditionen verfolgt werden. Der hier dargestellte Fall zeigt aber auch, dass selbst in der Hochphase des Kolonialismus auf wissenschaftliche Erkundung nicht immer eine territoriale Expansion folgte. Er verdeutlicht zugleich, wie dynamisch sich Wissen im 19. Jahrhundert verbreitete und wie eng die Verbindungen zwischen den europäischen Wissensproduzenten waren.
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Abbildungsverzeichnis Beitrag Charlotte Trümpler Abb. 1: Das Stadttor von Hail, Saudi-Arabien. (Foto: Gertrude Bell 1914). Beitrag Kathrin Reinert Abb. 1: Gruppe um Inakayal in El Tigre, 1884 (Datei: Samuel Boote, aus: Giordano, Mariana (2012): Indígenas en la Argentina. Fotografías 1860–1970. Buenos Aires: El Artenauta, S. 33). Abb. 2: Bildpostkarte Cacique Pincén (Datei: Cacique Pincén, aus: Masotta, Carlos (2008): Álbum postal. Buenos Aires: La Marca Editora (Colección Registro gráfico), S. 140). Beitrag Andrew Zimmerman Abb. 1: Das Museum für Völkerkunde. (S. Sigrid Westphal-Hellbusch, Zur Geschichte des Museums, in: Hundert Jahre Museum für Völkerkunde Berlin, BaesslerArchiv 21 (1973), 1–99, hier S. 14. Original im Archiv des Museums für Völkerkunde (MfV)). Abb. 2: Eiserne Museumsschränke im Museum für Völkerkunde. (Anzeigen zu der Museumskunde 10 (1914), H. 3.). Beitrag Maria Rhode Abb. 1: Abessinien 1891. (https://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserreich_Abessinien, zuletzt eingesehen am 21.5.2013).
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Literatur Eine Auswahl
Bade, Klaus J. (Hg.), Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, Wiesbaden 1982. Ballantyne, Tony, Orientalism and Race: Aryanism in the British Empire, Basingstoke 2002. –, Colonial Knowledge, in: Sarah Stockwell (Hg.), The British Empire. Themes and Perspectives, Malden, Mass. u. a. 2008, S. 177–197. Barnett, Michael, Empire of Humanity: A History of Humanitarianism, Ithaca 2011. Bayly, Christopher A., Empire and Information: Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780–1880, Cambridge 1996. –, Rulers, Townsmen and Bazaars. North Indian Society in the Age of British Expansion, 1770–1870, Cambridge 1983. –, The Birth of the Modern World, 1780–1914: Global Connections and Comparisons. Malden 2004. Bies, Michael/Michael Gamper (Hg.), Literatur und Nicht-Wissen: Historische Konstellationen 1730 –1930, Zürich 2012. Breckenridge, Carol A./Peter van der Veer (Hg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993. Burke, Peter, A social history of the media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2005². Carr, Helen, Inventing the American Primitive: Politics, Gender and the Representation of Native American Literary Traditions, 1789–1936, New York 1996. Cohn, Bernard, Colonialism and its forms of knowledge. The British in India, Princeton, NJ 1996. Conrad, Sebastian/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002. Conrad, Sebastian/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004. Cooper, Frederick, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005. –/ Ann Laura Stoler (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley u. a. 1997. Daston, Lorraine/Elizabeth Lunbeck (Hg.), Histories of scientific observation, Chicago, London 2011. Deutsch, Jan-Georg/Albert Wirz (Hg.), Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997. Díaz-Andreu, Margarita/Timothy Champion (Hg.), Nationalism and archaeology in Europe, London 1996. Fassin, Didier, Humanitarian Reason: A Moral History of the Present. Berkeley 2011. Flint, Kate, The Transatlantic Indian, 1776–1930, Princeton 2009. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Literatur
Flitner, Michael (Hg.), Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, Frankfurt 2000. Gann, Lewis H./Peter Duignan (Hg.), African Proconsuls. European Governors in Africa, New York 1978. Gibson, John u. a. (Hg.), A Sense of the World. Essays on Fiction, Narrative, and Knowledge, New York 2007. Gouaffo, Albert, Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun-Deutschland (1884–1919), Würzburg 2007. Habermas, Rebekka, Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: GG 36. 2010, S. 257–284. –/ Richard Hölzl (Hg.), Mission entangled. Religion und globale Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln 2013. Hanisch, Ludmilla, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003. Harries, Patrick, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford u. a. 2007 –/ David Maxwell (Hg.), The Spiritual in the Secular. Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids 2012. Hastings, Adrian, The Church in Africa, 1450–1950, Oxford 1994. Heyden, Ulrich van der/Andreas Feldtkeller, Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert (= Missionsgeschichtliches Archiv, Bd. 19), Stuttgart 2012. Jung, Dietrich, Orientalists, Islamists, and the Global Public Sphere. A Genealogy of the Modern Essentialist Image of Islam, Sheffield 2011. Kohl, Karl-Heinz, Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie, Frankfurt 1987. Laak, Dirk van, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. Lambert, David/Alan Lester (Hg.), Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge u. a. 2006. Lindner, Ulrike, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt 2011. Mangold, Sabine, Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. Marchand, Suzanne L., German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. Marshall, P. J./Glyndwr Williams, The Great Map of Mankind: British Perceptions of the World in the Age of Enlightenment, London 1992. Marx, Christoph, Völker ohne Schrift und Geschichte. Zur historischen Erfassung des vorkolonialen Schwarzafrika in der deutschen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. Murray, Tim/Christopher Evans (Hg.), Histories of Archaeology. A Reader in the History of Archaeology, Oxford 2008. Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2013². –, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009². © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Parthasarathi, Prasannan/Giorgio Riello (Hg.), The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles, 1200–1850, Oxford 2009. Pesek, Michael, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt 2005. Pratt, Mary Louise, Imperial Eyes. Travel writing and transculturation, Neuauflage, London 2010. Proctor, Robert N./Londa Schiebinger (Hg.), Agnotology: the making and unmaking of ignorance, Stanford 2008. Przyrembel, Alexandra, Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, Frankfurt 2011. –, »Wissen auf Wanderschaft«. Britische Missionare, ethnologisches Wissen und die Thematisierung religiöser Selbstgefühle um 1830, in: Historische Anthropologie, H. 1. 2001, S. 31–53. Pugach, Sara, Africa in Translation. A History of Colonial Linguistics in Germany and Beyond, 1814–1945, Ann Arbor 2012. Raj, Kapil, Relocating modern science. Circulation and the construction of knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900, Houndmills u. a. 2007. Ranger, Terence (Hg.), Evangelical Christianity and Democracy in Africa, Oxford 2008. Renn, Ludwig (Hg.), The Globalization of Knowledge in History. Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge 1 (= http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/). Samida, Stefanie (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011. Schnepel, Burkhard u. a. (Hg.), Orient-Orientalistik-Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011. Schröder, Iris, Das Wissen von der ganzen Welt: globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011. Schwab, Raymond, The Oriental Renaissance: Europe’s rediscovery of India and the East, 1680–1880, New York 1984. Sivasundaram, Sujit, Nature and the godly empire. Science and evangelical mission in the Pacific, 1795–1850 (= Cambridge social and cultural histories), Cambridge 2005. Stagl, Justin, Eine Geschichte der Neugier: die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien u. a. 2002. Stoler, Ann Laura, Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2009. Stuchtey, Benedikt (Hg.), Science across the European Empires, 1800–1950, Oxford u. a. 2005. Te Heesen, Anke/Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen: das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. Tilley, Helen/Robert Gordon (Hg.), Ordering Africa: Anthropology, Imperialism and the Production of Knowledge, Manchester 2005. Torp, Cornelius, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg. Die erste Welle der ökonomischen Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279. 2004, S. 561–609. Ward, Kevin/Brian Stanley (Hg.), The Church Mission Society and world Christianity, 1799–1999, Grand Rapids 2000. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Literatur
Wendt, Reinhard (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht (=Script Oralia, Bd. 123), Tübingen 2001. Yannakakis, Yanna, The Art of Being In-between. Native Intermediaries, Indian Identity, and Local Rule in Colonial Oaxaca, 1660–1810, Durham 2008. Zimmerman, Andrew, Anthropology and antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001.
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Autorinnen und Autoren Tony Ballantyne ist Leiter des Department of History and Art History an der Universität von Otago in Dunedin, Neuseeland und Direktor des Centre for Research on Colonial Culture. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Koloniales Wissen, Imperiale Netzwerke. Ausgewählte Publikationen: Orientalism and Race: Aryanism in the British Empire, Basingstoke 2002; Between Colonialism and Diaspora: Sikh Cultural Formations in an Imperial World, Durham 2006; Webs of Empire: Locating New Zealand’s Colonial Past, Wellington 2012.
Bettina Brockmeyer ist Akademische Rätin auf Zeit an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Biografien zur deutschen Kolonialgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Beziehungsweise Ich. Zur Frage nach Subjektivitäten im frühen 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 15 (2007), 422–431; Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2009.
Barbara Buchenau ist Professorin für Nordamerikastudien: Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Amerikanische und kanadische Literatur- und Kulturgeschichte der Kolonialzeit. Ausgewählte Publikationen: Der frühe amerikanische historische Roman im transatlantischen Vergleich, Frankfurt 2002; hg. mit Annette Paatz u. a., Do the Americas Have a Common Literary History, Frankfurt 2002; hg. mit Virginia Richter und Marijke Denger, Post-Empire Imaginairies? Anglophone Literature, History and the Demise of Empires, [2014].
Christof Dejung ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Europäische Sozial- und Kulturgeschichte, Kolonial- und Globalgeschichte, Unternehmensgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851– 1999, Köln 2013; hg. mit Niels P. Petersson, Foundations of World-Wide Economic Integration. Power, Institutions and Global Markets, 1850–1930, New York 2013.
Stefanie Gänger ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle des Leibnizpreises »Globale Prozesse« im Arbeitsbereich von Prof. Dr. Jürgen Osterhammel an der Universität Konstanz. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Autorinnen und Autoren
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Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Globalgeschichte des Wissens in Lateinamerika. Ausgewählte Publikationen: Disjunctive Circles. Global Intellectual Culture and the Circulation of Incan Antiquities, c. 1877–1921, in: Modern Intellectual History 10 (2013), Nr. 2; Relics of the Past. The Collecting and Study of pre-Columbian Antiquities in Chile and Peru, c. 1837–1911, Oxford [2014].
Rebekka Habermas ist Professorin für Geschichte an der Georg-August Universität Göttingen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kolonialgeschichte, Missions- und Religionsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2008; Piety, Power, and Powerless ness: Religion and Religious Groups in Germany, 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford/New York 2011, S. 453–480; hg. mit Richard Hölzl, Mission entangled. Religion und globale Verflechtungsgeschichte, Wien/Köln/Weimar 2013.
Patrick Harries ist Professor für Afrikanische Geschichte an der Universität Basel. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Afrikanische Wissensgeschichte und Geschichte des Sklavenhandels. Ausgewählte Publikationen: Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford u. a. 2007; Negotiating Abolition: Cape Town and the Trans-Atlantic Slave Trade, in: Slavery & Abolition 34 (2013), S. 85–104; hg. mit David Maxwell, The Spiritual in the Secular: Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids 2012.
Richard Hölzl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Umweltgeschichte, Geschichte der Naturschutzbewegung und Missionsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland, 1760–1860, Frankfurt/New York 2010; hg., Soziale Mission. Themenheft der Zeitschrift WerkstattGeschichte (57); hg. mit Rebekka Habermas, Mission entangled. Religion und globale Verflechtungsgeschichte, Wien/Köln/Weimar, 2013.
Sabine Mangold-Will ist Juniorprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Juden in der europäischen Islamkunde, Frauen in der europäischen Diplomatie und Bildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft. Ausgewählte Publikationen: Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Entre diplomatie et érudition – Joseph von Hammer-Purgstall et son réseau en europe et dans l’empire ottoman, in: Sophie Basch u. a. (Hg.), L’Orientalisme, les Orientalistes et l’Empire ottoman de la fin du XVIIIe à la fin du XXe siècle, Paris 2011, 205–217; Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Autorinnen und Autoren
Alexandra Przyrembel ist Privatdozentin an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiterin des Forschungsbereichs »Globale Kulturkonflikte und transkulturelle Kooperation« am Käte Hamburger Kolleg »Politische Kulturen der Weltgesellschaft« der Universität Duisburg-Essen und Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte, Kolonialgeschichte, Geschichte des Humanitarismus (1850–1950). Ausgewählte Publikationen: Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne, Frankfurt 2011; The Emotional Bond of Brotherliness: Religion, Emotions and the Global Networks of Protestants in the Nineteenth Century, in: German History 2013, H.2.
Kathrin Reinert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Visionen und Visualisierungen. Südamerika in Bildmedien des 19. und 20. Jahrhunderts« (2010–2013). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte Südamerikas und Fotografie geschichte. Ausgewählte Publikationen: Vernetzung durch Visualisierung? Wissenschaftliche Fotografie bei Max Uhle und Robert Lehmann-Nitsche (1892–1933), in: Thomas Bremer/ Susanne Schütz/Martina Bender (Hg.), GILCAL-Arbeitspapiere zur Iberoromanischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 8, Halle 2011, S. 7–28; mit Barbara Potthast, Visiones y Visualizaciones de América del Sur, in: Gloria Beatriz Chicote/Barbara Göbel (Hg.), Ideas viajeras y sus objetos. El intercambio científico entre Alemania y América austral, Frankfurt 2011, S. 267–280.
Maria Rhode ist akademische Rätin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Transfer- und Wissenschaftsgeschichte und Osteuropäische Geschichte. Ausgewählte Publikationen: Alexander Brückner und Jan Baudouain de Courtenay. Wissenschaft, Nation und Loyalitäten polnischer Gelehrter in Berlin und St. Petersburg, in: Trude Maurer (Hg.), Kollegen, Kommilitonen, Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 2006, S. 329–340; Wahlkönigtum und Ständepolitik, in: Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, Bd. 2: Frühe Neuzeit, Stuttgart 2011, S. 239–249; Zivilisierungsmissionen und Wissenschaft. Polen kolonial?, in: GG 39 (2013), H. 1, S. 5–34;
Kirsten Rüther ist Professorin für Geschichte und Gesellschaften Afrikas am Institut für Afrikawissenschaften an der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Eine generationenübergreifende Familiengeschichte aus dem ›neuen‹ und ›alten‹ Südafrika. Ausgewählte Publikationen: Representations of African Healers in the Popular Print Media: Inquiries into South African Understandings of Health and Popular Culture © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
Autorinnen und Autoren
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in the 1970s and 1980s, in: Toyin Falola/Matthew M. Heaton (Hg.), Health Knowledge and Belief Systems in Africa. Durham 2008, S. 385–410; Through the Eyes of Missionaries and the Archives They Created: The Interwoven Histories of Power and Authority in the Nineteenth-Century Transvaal, in: Journal of Southern African Studies 38, 2 (2012), S. 369–384
Iris Schröder ist Professorin für Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts an der Universität Erfurt bzw. dem Forschungszentrum Gotha. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Globalgeschichte, Wissensgeschichte und Geografie- und Kartografiegeschichte. Ausgewählte Publikationen: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas, 1790–1870, Paderborn 2011; hg. mit Sabine Höhler, Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt 2005.
Ernst-Christian Steinecke ist Wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit und Alltagsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Evidenz(an)ordnungen. Zum Verhältnis von Phänomenologie, Phänomenotechnik und epistemischen Systemen, in: Nach Feierabend 6 (2010), S. 119–137; Formen ordnen. Friedrich Thierschs Griechische Grammatik oder Arbeitstechniken eines Philologen um 1810, in: Zeitschrift für Germanistik 33 (2013), H. 2, S. 7–24.
Holger Stoecker ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Charité Human Remains Project. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Afrikanisch-deutsche Wissenschafts-, Missionsund Kolonialgeschichte. Ausgewählte Publikationen: The Advancement of African studies in Berlin by the ›Deutsche Forschungsgemeinschaft‹, 1920–1945, in: Helen Tilley/Robert Gordon (Hg.), Ordering Africa. Anthropology, European Imperialism and the Politics of Knowledge, Manchester 2007, S. 67–94; Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Geschichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes, Stuttgart 2008.
Charlotte Trümpler ist Leiterin der Jubiläumsausstellung – 100 Jahre GoetheUniversität Frankfurt am Main. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Museologie, Rezeptionsgeschichte der Archäologie und Geschichte der Fotografie. Ausgewählte Publikationen: Flug in die Vergangenheit – Archäologische Stätten in Flugbildern von Georg Gerster, München 2003 (englisch 2005, spanisch 2005, französisch 2007); Das Große Spiel – Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940), Köln 2010. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191
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Autorinnen und Autoren
Ulrich van der Heyden ist als Privatdozent am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Missions- und Religionswissenschaft sowie Ökumenik der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Transkulturelle Wissens- und Missionsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Martinus Sewushan – Nationalhelfer, Missionar und Widersacher der Berliner Missionsgesellschaft im Süden Afrikas, Neuendettelsau 2004; hg. mit Holger Stoecker, Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften und ihre Tätigkeit in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 in politischen Spannungsfeldern, Stuttgart 2005; hg. mit Andreas Feldtkeller, Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012.
Jakob Vogel ist Professor für die Geschichte Europas (19. und 20. Jahrhundert) am Département d’Histoire von Sciences Po/Paris. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wissenszirkulation in imperialen Kontexten, Transnationale Geschichte Europas und Kolonialgeschichte, Geschichte der Nationen und des Nationalismus. Ausgewählte Publikationen: Ein schillerndes Kristall. Das Salz im Wissenswandel zwischen Frühneuzeit und Moderne, Köln 2008; Europäische Kolonialmedizin und die Globalisierung der Seuchenvorsorge: imperialer Wettlauf und transnationale Zusammenarbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jean-François Eck/Dietmar Hüser (Hg.), Deutschland und Frankreich in der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 113–125.
Andrew Zimmerman ist Professor für Geschichte an der George Washington University Washington. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Transnationale Gechichte des amerikanischen Bürgerkriegs. Ausgewählte Publikationen: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago, 2001; Alabama in Africa: Booker T. Washington, the German Empire, and the Globalization of the New South, Princeton 2010.
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300190 — ISBN E-Book: 9783647300191