Von den »Wandlungen« zur »Restrukturierung« des Deliktsrechts? [1 ed.] 9783428475926, 9783428075928


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Von den »Wandlungen« zur »Restrukturierung« des Deliktsrechts? [1 ed.]
 9783428475926, 9783428075928

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MICHAEL BÖRGERS

Von den "Wandlungen" zur "Restrukturierung" des Deliktsrechts?

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 161

Von den "Wandlungen" zur "Restrukturierung" des Deliktsrechts?

Von

Michael Börgers

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Börgers, Michael: Von den "Wandlungen" zur "Restrukturierung" des Deliktsrechts? / von Michael Börgers. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zum bürgerlichen Recht; Bd. 161) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07592-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-07592-7

Irmgard und Elisabeth

Vorwort Die Arbeit wurde, abgesehen von geringfügigen Änderungen, Ende 1990 fertig gestellt. Literatur und Rechtsprechung sind bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt worden. Im Wintersemester 1991/92 hat die Arbeit der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation vorgelegen. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Battes, danke ich herzlich für Betreuung und Unterstützung. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Horst-Heinrich Jakobs für die engagierte und kritische Zweitkorrektur sowie der Studienstiftung des Deutschen Volkes für die gewährte materielle Hilfe. Meine Frau, Dr. Irrngard Reihlen, hat mir durch Trost und tatkräftige Unterstützung aus allen Krisen und Selbstzweifeln herausgeholfen. Was ich ihr verdanke, wissen nur sie und ich. Unsere gemeinsame mündliche Prüfung am 6. Januar 1992 fand schon in Anwesenheit unserer Tochter Elisabeth statt. Sie wurde am 8. April 1992 in Berlin geboren. Berlin, im August 1992 Michael Börgers

Inhalt Einleitung ........ . .......... .... ........ ..... . . . . . . . . . . . . . .

15

Erstes Kapitel Von den "Wandlungen" zur REStrukturlerung des DelIktsrechts? Zur Entstehungsgeschichte der modernen Richtung der delIktsrechtlichen Theorie

A. "Wandlungen des DelIktsrechts" ... . .. .. ....... . . . . . ..... . . . . . . ..

19

I . "Wandlungsbedürftigkeit" und "Wandlungen" des Deliktsrechts . ... . . . ... . .

19

II . Beschreibung der "Wandlungen des Deliktsrechts" durch v. Caemmerer . . . . . ..

20

III . V. Caemmerers Schlußfolgerung: Systemsprengende Rechtsfortbildung . . . . . . ..

21

IV. V. Caemmerer und die unbeantwortete Frage nach den Grenzen der Zulässigkeit richterlicher "Rechtsfortbildung " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

22

I. Die Frage der "Rechtsfortbildung" contra legern . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

22

2. Unzulängliche Antworten v. Caemmerers auf diese Frage . . . . . . . . . . . . ..

23

B. Von der Wandlungsthese zur "modernen" Richtung der deliktsrechtlichen Theorie 24 I . Die Wandlungsthese v. Caemmerers als Prämisse der modemen deliktsrechtlichen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 24 II . Der Redogmatisierungsvorschlag von Gieseke . . . . . . . . .... ... . . . ..... 25 III . Die Rechtswidrigkeitsdiskussion im Anschluß an BGHZ 24, 21 als Ausgangspunkt der modemen Richtung der delikts rechtlichen Theorie . . . . . . . . . . . . ..

25

I. Rechtswidrigkeit verkehrsrichtigen Verhaltens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

2. Versagen der Erfolgsunrechtslehre in Fällen wie BGHZ 24, 21 . .... . .. ..

27

3. Die "Lehre von der Erheblichkeit der Eingriffsqualität" als Kompromißformel zur Rettung der Erfolgsunrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

28

IV. Redogmatisierung der Verkehrs pflichten in § 823 Abs. 2 BGB (Larenz) .. . ...

29

V. Überschreitung des Rubicon durch die modeme Verkehrspflichtenlehre (K. Huber und v. Bar) .. . . . . . . . . .. . ... .... .. . . . . . . . . .... .. .. . .. .. .

30

I. Das formale Problem: Zur Auslegung des Gesetzesbegriffs in § 823 Abs. 2 BGB .. . .. .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .....

31

2. Der inhaltliche Kern des Problems : Redogmatisierung der "quasi-vertraglichen" Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Beschränkte Zielsetzung der Verkehrspflichtenlehre K. Hubers und v. Bars; zur modemen "Tendenz zum Deliktsrecht" ... . . . .. .. .... . . . ... .

32 32

10

Inhalt b) Konsequenzen des Redogmatisierungsvorschlags K. Hubers und v. Bars für das gesamte System des Deliktsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

VI. Abschließende Bewertung der "Redogmatisierungs-Bemühungen" in der neueren Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

35

C. Von der modemen Verkehrspßichtenlehre zur "Restrukturierungsthese" Brüggemeiers ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I . Restriktive (Rand-) Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. II . Zur Lehre von Mertens: Nebeneinander von "legislativer" und "judizieller" Deliktsrechtskonzeption? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 36 37

1. Die Unterscheidung und strikte Trennung der beiden "Konzeptionen" bei M ertens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

37

2. Abgrenzung des Anwendungsbereichs von legislativer und judizieller Deliktsrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

a) Loslösung der "Verkehrspflichtenkonzeption" von dem Rechtsgüterkatalog des § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

b) Verbleibender Anwendungsbereich für die "legislative Deliktsrechtskonzeption .. ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

3. Abschließende Bewertung der Lehre von Mertens im Hinblick auf den Versuch einer dogmatischen Bewältigung der "Wandlungen des Deliktsrechts" ..

40

III . Zur Lehre von Brüggemeier: "Restrukturierung" des BGB - Deliktsrechts? . . ..

41

1. Die Verkehrspflichten als das "konstitutive Element" des "geltenden Deliktsrechts" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

2. Abrücken Brüggemeiers vom Verschuldensgrundsatz und vom Prinzip der Unrechtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

3. Ersetzung der Unrechtshaftung durch "judizielle Schutzpolitik"

43

IV. Rückschauende Betrachtung: Von der Wandlungsthese v. Caemmerers zur "Restrukturienmgsthese" Brüggemeiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

V. Brüggemeier und die unbeantwortete Frage nach den Grenzen der Zulässigkeit richterlicher "Rechts fortbildung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

VI. Zur weiteren Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Zweites Kapitel Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen "DeliktsrechtsmodeU"

A. Das Deliktsrecht des BGB als "mittlerer Weg" zwischen Generalklausel und Enumeration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

I . Das Schlagwort vom "Mittelweg" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

1I . Die Ungenauigkeit der Gegenüberstellung von Generalklausel- und Enumerationsprinzip . . . . .. .. . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1. Theoretische Ungenauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

48

Inhalt

11

2. Historische Ungenauigkeit; das Beispiel des Römischen und des Gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. TeJminologische Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 49

III . Schlußfolgerung: Die begrenzte Aussagekraft des Schlagwortes vom "Mittelweg"

50

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enumerationssystem? Zur Entstehungsgeschichte des traditionellen Verständnisses des gesetzlichen Systems . . . . . . . . . . . . . . . .

52

I . Der erste Eindruck: Entscheidung des BGB für ein Enumerationssystem; Anhaltspunkte für Zweifel an dieser Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

11 . Der (dogmatisch verunglückte) Versuch v. Liszts und Endemanns, das allgemeine Haftungsprinzip in das 8GB hinüberzuretten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

III . Entstehung des traditionellen Verständnisses des gesetzlichen Deliktsrechtssystems aus der Auseinandersetzung mit der Lehre v. Liszts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

1. Die Deliktstatbestände als "vertyptes Unrecht"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

a) Übernahme der Unrechtslehre Windscheids in die traditionelle Interpretation des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

55

b) Übernahme der Lehre vom subjektiven Recht in die traditionelle Interpretation des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

56

aa) Ausschluß der immateriellen Rechtsgüter aus dem Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

bb) Übernahme der gemeinrechtlichen Lehre vom Erfolgsverursachungsver-

...........................................

57

2. Das Deliktsrecht des BGB als gestraffte und vereinfachte Kodifizierung des Gemeinen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

bot

58

IV. Lückenhaftigkeit des gesetzlichen Systems oder bloß seiner traditionellen Interpretation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

59

1. Zweifelhaftigkeit der traditionellen Interpretation

...................

60

a) Die Schwierigkeit der Erfassung reiner Gefährdungshandlungen in § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

60

b) Die Schwierigkeit einer dogmatisch befriedigenden Erklärung des § 823 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

c) Die Schwierigkeit einer dogmatisch befriedigenden Erklärung des § 826 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

2. Die angebliche Lückenhaftigkeit des gesetzlichen Systems als Voraussetzung für die "Wandlungen des Deliktsrechts" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 V. Schlußfolgerung; weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Drittes Kapitel

Das "gesetzJlche Deliktsrechtsmodell" Versuch einer Neubewerung Im Lichte der Entstehungsgeschichte A. Vorbemerkung: Zur Bedeutung der Unterscheidung von politischem und technischem Element des Rechts für die Auslegung des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

I . Haltung der Historischen Rechtsschule zur Kodifikationsfrage . . . . . . . . . . . ..

64

12

Inhalt 1. Die Volksgeistlehre v. Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

2. Die Lehre von den "Organen" des Volksgeistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

66

II . Fortwirken der Grundansicht der Historischen Rechtsschule von der Entstehung des Rechts im BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III . Konsequenzen für die Auslegung des BGB

67 68

B. Der Vorentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 I . Die Entscheidung des Vorentwudes für ein allgemeines Haftungsprinzip; tatbestandliehe Voraussetzungen der Grundnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II . Die Bedeutung des Merkmals der Widerrechtlichkeit in § 1 Abs. 1 TE

c.

70 71

1. Unergiebigkeit des Wortlauts und der Motive v. Kübels . . . . . . . . . . . . . ..

71

2. Kodifizierung der Unrechtslehre des Gemeinen Rechts durch § 1 Abs. 1 TE? .

71

a) Die wissenschaftliche Ansicht v. Kübels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

72

b) Die rechtspolitische Absicht v. Kübels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

73

3. Generalklauselartige Weite des Merkmals der Widerrechtlichkeit? . . . . . . . ..

73

a) Bindung des Richters durch Vorgabe eines (außerdelikts)rechtlichen Wertungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

b) Zur Gegenansicht Schwilanskis

............................

74

III . Das Verschuldensedordemis in § 1 Abs. 1 TE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

IV. Zusammenfassung: Zwei stufiger Deliktsaufbau (HaftungsbeglÜndung und Haftungsbegrenzung) nach dem Vorentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

76

Die Beratungen der Enten Kommission ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

77

I . Die Erörterungen der Kommission zum Merkmal der Widerrechtlichkeit in § 1 Abs. 1 TE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

1. Das Festhalten der Kommission arn allgemeinen Grundprinzip der Haftung . ..

78

............

78

a) Vorabentscheidung gegen denkbare Extrempositionen . . . . . . . . . . . . . ..

79

b) Die verbleibenden Problemfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3. Stellungnahme der Kommission in dieser Streitfrage . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

a) Ablehnung des Prinzips des Vorentwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

80

b) Ablehnung der Abänderungsanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

81

2. Klärung der Streitfrage in den Beratungen der Kommission

c) Das "sachgemäße Prinzip" in den Augen der Ersten Kommission . . . . . ..

81

4. DalÜber hinausgehender Regelungsgehalt des Ersten Entwudes? . . . . . . . . ..

82

a) Auflösung der Generalklausei zugunsten der Präzisierung des Begriffs der Widerrechtlichkeit in "Grundtatbeständen "? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

b) Zur Normierung des allgemeinen Haftungsprinzips in § 704 Abs. 1 EI. ..

83

aa) WidersplÜchlichkeit der Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

83

bb) Vermutung zugunsten der Widerspruchsfreiheit des Entwurfes . . . . . .

85

cc) Widerlegung dieser Vermutung durch die Protokolle

85

............

Inhalt

13

5. Abschließende Bemerkungen zum politischen Inhalt des Ersten Entwurfes auf der Ebene der HaftungsbeglÜndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

86

11 . Die Erörterungen der Ersten Kommission zum Merkmal des Verschuldens in § I Abs. I TE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

111 . Zusammenfassung: HaftungsbeglÜndung und Haftungsbegrenzung nach dem Ersten Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission

..........................

I . Übernahme des Prinzips des § 704 Abs. 2 E I in den Zweiten Entwurf . . . . . . 11 . Die Umformung des § 704 Abs. 1 E I nach dem Vorbild des § 704 Abs. 2 E I

89 89 90

1. Die der Beratung der Zweiten Kommission zugrundegelegte Interpretation des § 704 Abs. 1 EI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

90

2. Ablehnung des Standpunktes des Ersten Entwurfes ...... . . . . . . . . . . ..

92

3. Die Entscheidung zugunsten einer Übernahme des in § 704 Abs. 2 enthaltenen Unmittelbarkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

111 . Der Inhalt des haftungsbegrenzenden Prinzips im Zweiten Entwurf . . . . . . . . ..

94

IV. Zusammenfassung: Die deliktischen Tatbestände als Konkretisierung des Unmittelbarkeitsprinzips und die Zugehörigkeit dieser Konkretisierung zum technischen Teil des Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

95

E. Vom Zweiten Entwurf zur endgültigen Fassung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . ..

%

I . Weitgehende Übereinstimmung der §§ 823 ff. BGB mit dem Zweiten Entwurf

%

11 . Politische und technische Elemente der gesetzlichen Regelung des Deliktsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

%

111 . Konsequenzen für die Methodik der Bearbeitung deliktsrechtlicher Fälle nach dem gesetzlichen System des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

99

F. Exkurs: Abgrenzung der eigenen Auffasmng von der Lehre Plckers . . . . . . . . . 100 I . Der wesentliche Inhalt der Lehre Pickers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Das "neminem laedere" - Prinzip als der "tiefere Rechtsgrund" aller Restitutionspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

2. Die praktische Notwendigkeit der Haftungsbegrenzung und ihre gesetzestechnische Verwirklichung durch die deliktischen Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Neubewertung der "quasi - vertraglichen" Anspruchsgrundlagen durch Pick er

. 102

11 . Abgen:rung der eigenen Auffassung von der Lehre Pickers . . . . . . . . . . . . . . . 103 I. Übereinstimmung: Haftungsbegrenzende Funktion der deliktischen Tatbestände

103

2. Unterschiede: Herleitung und Inhalt des haftungsbegründenden Prinzips

103

Viertel Kapitel Schlußfolgerungen

A. Politische Funktion und RIchteramt. Zum Verstoß der "Restrukturlerun~the­ se" BriJggemeiers sowie der modernen Verkehrspftichtentheorle gegen die ver· blndllchen politischen Grundentscheidungen des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . 106

14

Inhalt

I . Unvereinbarkeit der modemen Lehren mit den politischen Grundentscheidungen des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Die Lehre Brüggemeiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . 106 2. Die modemen Verkehrspflichtenlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 11 . Die Verbindlichkeit der politischen Grundentscheidungen des Gesetzes . . . . . . . 107 1. Strikte Bindung als Grundsatz ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Ausnahmen, aber keine Auflösung des Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

B. Noch einmal: "Wandlungen des Deliktsrechts"? Die Brüchigkeit des Fundaments der modernen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I . Wandlungen des Deliktsrechts im politischen Teil des Gesetzes? . . . . . . . . . . . 110 11 . Wandlungen des Deliktsrechts im technischen Teil des Gesetzes? . . . . . . . . . . . 111

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Einleitung Ausgangs- und Endpunkt der folgenden Untersuchung ist die deliktsrechtliche Theorie Brüggemeiers, in deren Mittelpunkt das generalklauselartig weite, alle besonderen Haftungstatbestände in sich einschließende, allgemeine Grundprinzip der Haftung für (verlcehrs)pflichtwidriges Verhalten steht. Auf dieses eine Prinzip soll sich nach Brüggemeier das komplizierte System der Deliktstatbestände und der innerhalb dieser Tatbestände weiter vorzunehmenden Differenzierungen, insbesondere derjenigen zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld, zurückführen lassen ' . Womöglich noch radikaler als Brüggemeier stellt auch eine andere, ebenfalls aus jüngster Zeit datierende, von Picker entwickelte Lehre die herkömmliche Dogmatik auf dem Gebiet des Rechts der unerlaubten Handlungen in Frage. Denn auch Picker geht für das gesamte Haftungsrecht von der Geltung eines einheitlichen Grundprinzips: des allgemeinen Schädigungsverbotes des "neminem laedere" aus2• (Nur daß dieses im Vergleich zu der Theorie Brüggemeiers noch allgemeiner ist und einen noch weiteren, auch das "vertragliche" Schadensersatzrecht einschließenden Anwendungsbereich für sich in Anspruch nehmen können soll.) Das Aufkommen dieser beiden Lehren und die etwas hilflose Reaktion der traditionellen Dogmatik auf sie sind symptomatisch für die bis heute fortbestehende, erstaunliche Unsicherheit selbst über grundlegende Prinzipien des geltenden Rechts der unerlaubten Handlungen. Mit dieser Unsicherheit wäre jede Detailuntersuchung einer deliktsrechtlichen Einzelfrage unvermeidlich belastet. Sollte eine solche Untersuchung wissenschaftlich fundiert sein, müßte sie daher (zumindest auch) eine Auseinandersetzung mit den "Gegenentwürfen" von Brüggemeier und Picker enthalten. Um diese Auseinandersetzung ihrerseits auf ein tragfähiges Fundament zu stellen, wäre es nötig, zuallererst eine eigene Auffassung zu den von Brüggemeier und Picker berührten Grundfragen zu entwickeln. Hierauf aufbauend könnten dann zunächst Konsequenzen für die Auslegung der einzelnen Merk-

I 2

Zur Lehre Brüggemeiers siehe unten 1. Kap., C. III. Zur Lehre Pickers siehe unten 3. Kap., F. I.

16

EinleitWlg

male der einschlägigen deliktischen (Grund) Tatbestände gezogen werden; und erst im Anschluß daran wäre an die Anwendung der gefundenen theoretischen Erkenntnisse auf die ausgewählte Einzelfrage zu denken. Der Versuch, all dies in einer Arbeit zu leisten, hätte zwar wohl nicht notwendigerweise eine Überschreitung des heute üblichen Umfanges juristischer Dissertationen (gemessen in Seitenzahlen), wohl aber eine Überforderung der eigenen Kräfte des Verfassers bedeutet. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich daher ganz auf den ersten und allgemeinsten der genannten Untersuchungsschritte, um damit gewissermaßen erst die theoretischen Voraussetzungen für die Bearbeitung weiterer, konkreterer deliktsrechtlicher Themen zu schaffen. Sie verfolgt dementsprechend im wesentlichen nur die folgenden Anliegen: Erstens: Sie will die Theorie Brüggemeiers als (einzig) konsequente Fortsetzung einer modemen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie darstellen, die ihrerseits wiederum auf der grundlegenden These v. Caemmerers von den "Wandlungen des Deliktsrechts" aufbaue. Zweitens: Sie will den Nachweis führen, daß das der "Wandlungsthese" v. Caemmerers, damit der gesamten modemen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie, und letztlich auch der Lehre Brüggemeiers zugrundeliegende traditionelle Verständnis des gesetzlichen Deliktsrechts"systems" einer kritischen Nachprüfung nicht standhält. Die dem traditionellen Verständnis entgegenzusetzende eigene Interpretation gründet sich vor allem auf zwei Einsichten:

a) Die Einsicht, daß die Aussagen des BGB zum Deliktsrecht nur zum geringeren Teil eine verbindliche ("gesetzliche"), überwiegend dagegen bloß eine wissenschaftliche Autorität für sich in Anspruch nehmen4 • b) Die Einsicht, daß sieht man nur auf die (nach seinem eigenen Selbstverständnis) allein verbindlichen politischen Grundentscheidungen des Gesetzes das BGB den naturrechtlichen Kodifikationen viel näher steht, und sich entsprechend viel weiter von dem Vorbild des römischen und des Gemeinen Rechts entfernt hat, als dies üblicherweise angenommen wirds• Drittens: Sie will in einem Exkurs Gemeinsamkeiten und Unterschiede der eigenen Auffassung im Vergleich mit der Lehre Pickers herausarbeiten 6 •

) Siehe dazu das 1. Kap., A. • Siehe unten das 3. Kap. , Siehe unten das 3. Kap., B und insbesondere E. 6 Siehe unten 3. Kap., F. I. 3.

Einleiumg

17

Viertens: Schließlich wird sie aus allem die Schlußfolgerung ziehen, daß legt man das zuvor entwickelte Verständnis von der gesetzlichen Deliktsrechts"konzeption" zugrunde die gesamte modeme Richtung der Theorie, einschließlich ihrer Zuspitzung durch Brüggemeier keinen Bestand haben kann, und zwar aus zwei Gründen: a) Weil sie sich gegen die politischen, bei jeder Rechtsanwendung heute ebenso wie vor neunzig Jahren zu respektierenden Grundentscheidungen des Gesetzes stellt'. b) Weil sich auch ihr Fundament, die "Wandlungsthese" v. Caemmerers, als brüchig erweist: Die von v. Caemmerer beschriebenen "Wandlungen des Deliktsrechts" betreffen nämlich ausschließlich jene Teile des Gesetzes, in denen die Schöpfer des BGB nicht als Gesetzgeber, sondern als Wissenschaftler gesprochen habenS. Die von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus zu beurteilende "Berechtigung" dieser "Rechtsfortbildungen" gehört dagegen nicht mehr zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit.

7 Siehe unten 4. Kap., A. 11. 1. • Siehe unten 4. Kap,. B. 11.

2 Börgers

Erstes Kapitel:

Von den "Wandlungen" zur Restrukturierung des Deliktsrechts? Zur Entstehungsgeschichte der modernen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie A. "Wandlungen des Deliktsrechts" I. "Wandlungsbedürftigkeit" und "Wandlungen"

des Deliktsrechts

Keine Rechtsordnung der Welt ist unveränderlich; keine kann sich auf Dauer dem Veränderungsdruck. der vom Wandel der sozialen Lebensverhältnisse wie auch der Anschauungen der in ihr lebenden Menschen erzeugt wird. vollständig entziehen. Auf der anderen Seite wohnt aber auch jeder Rechtsordnung die Tendenz inne. dem sozialen Wandel einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen. Nur innerhalb dieses Spannungsverhältnisses kann das Recht seiner "sozialen Aufgabe" gerecht werden. In kaum einem anderen Rechtsgebiet ist der Widerspruch zwischen dem kodifizierten Recht und einer grundlegend veränderten Lebenswirklichkeit ähnlich scharf empfunden worden wie im Deliktsrecht' . Nirgendwo sonst ergab sich dringender die Notwendigkeit einer "Fortschreibung und Anpassung"2 des geschriebenen Rechts. Daß es - angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers 3 - die Rechtsprechung war. die diesem Veränderungsbedürfnis in beispielloser Weise Rechnung getra-

I Brüggemeier. Schutzpolitik. S. 7 (= JZ 1986, 969, S. 969) spricht von einer "weitreichenden und tiefgreifenden Umbruchsituation" des Deliktsrechts. 2 V. Bar, Bewegliches System, S. 64.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

gen hat: Dieser Satz dürfte spätestens seit 1960, dem Erscheinungsjahr von v. Caemmerers berühmter Abhandlung über die "Wandlungen des Deliktsrechts"4 als feststehende Prämisse und Ausgangspunkt jeder modernen deliktsrechtlichen Theorie anzusehen sein5 •

11. Beschreibung der "Wandlungen des Deliktsrechts" durch v. Caemmerer Als die hervorstechenden Merkmale dieses Wandlungsprozesses hat v. Caemmerer die Erweiterung des Rechtsschutzes durch Ausbildung der allgemeinen vorbeugenden Unterlassungsklage6 , die Anwendung vertragsrechtlicher Haftungsgrundsätze auf "zahlreiche typische Deliktstatbestände", insbesondere "durch die Institute der culpa in contrahendo und des Vertrages zugunsten Dritter"', sowie den Aufbau der Gefährdungshaftung als "zweiter Spur"8 des Haftungsrechts· benannt. "Dogmatisch am interessantesten" aber schienen ihm "die das System der Deliktstatbestände betreffenden Wandlungen" zu sein 10: Die Entwicklung der allgemeinen VerkehrspflichtenIl sowie die Anerkennung der beiden sogenannten Rahmenrechte (Recht am eingerichteten und ausgeüb-

3 Zwar hat es nicht an - zum Teil großangelegten - Reformvorhaben gefehlt, diese sind aber bis heute sämtlich folgenlos geblieben. Zu nennen sind insbesondere: - Der Reformvorschlag der Akademie für Deutsches Recht aus dem Jahre 1940, vgl. Nipperdey, Grundfragen; vgl. außerdem noch v. Bar, Gutachten, S. 1750 ff.; - Der Referentenentwurf im Bundesministerium der Justiz von 1967; vgl. BMJ, Referentenentwurf 1967; vgl. außerdem ScMfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 149 ff.; - Der seit 1981 im BMJ bestehende Plan zur Überarbeitung des Schuldrechts, vgl. die "Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts" , herausgegeben vom BMJ, insbesondere das das Deliktsrecht betreffende Gutachten v. Bars, v. Bar, Gutachten. Zusammenfassend zu diesem Reformvorhaben Schlechtriem, Schuldrechtsreform, sowie zum aktuellen Stand Medicus, AcP 188 (1988), 168 ff. Nach dem Bericht von Medicus zu urteilen, ist eine Reform des Deliktsrechts auf absehbare Zeit wohl nicht zu erwarten. • V. Caemmerer, Wandlungen, S. 65. , Vgl. zum Ganzen außer v. Caemmerer, Wandlungen, noch die zusammenfassenden Darstellungen von Hauss, ZVersWiss 1967, 151 ff.; Deutsch, JuS 1967, 152 ff.; v. Bar, Gutachten, S. 1712 ff.; Zeuner, 25 Jahre KF, 196 ff.; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 64 ff.; ders., Schutzpolitik, S. 7 ff.(= JZ 1986, 969, S. 969 f.); ders., AcP 182 (1982), 385, S. 418 ff.; Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 42. • V. Caemmerer, Wandlungen, S. 52 ff., vgl. dazu auch v. Bar, Gutachten, S. 1722 f., Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 46. 7 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 56 ff., vgl. dazu auch v. Bar, Gutachten, S. 1716 f., Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 11 f. (= JZ 1986, 969, S. 970); ders., Deliktsrecht, Rn. 67 ff. • Esser, JZ 1953, 129 ff. • V. Caemmerer, Wandlungen, S. 62 ff. 10 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 64.

A. "Wandlungen" des Deliktsrechts

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ten Gewerbebetrieb l2 und allgemeines Persönlichkeitsrecht)13 als sonstige Rechte im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB) Auf diese Weise sei es der Rechtsprechung gelungen, die "Lücken" des gesetzlichen Systems - "für den Augenblick jedenfalls" - zu schließen l4 .

ill. V. Caemmerers Schlußfolgerung:

Systemsprengende Rechtsfortbildung

Hätte sich v. Caemmerer mit der bloßen Aufzählung dieser rechtsschöpferischen "Erfindungen" der Rechtsprechung begnügt, seine These wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, und sie hätte dann kaum einen so bestimmenden Einfluß auf die weitere deliktsrechtsdogmatische Entwicklung gewinnen können, wie dies tatsächlich der Fall gewesen ist. V. Caemmerer ist aber über die bloße Beschreibung ein entscheidendes Stück hinausgegangen, indem er die Resultate des Wandlungsprozesses folgendennaßen resümierte: Mit den Verkehrspflichten, dem Recht am Gewerbebetrieb und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht seien dem deutschen Deliktsrecht nunmehr drei große Generalklauseln eingefügt worden. Zwar nicht der Fonn, wohl aber der Sache nach sei die Rechtsentwicklung damit "doch wohl" bei dem allgemeinen Deliktstatbestand angelangt, daß derjenige, der einem anderen rechtswidrig und schuldhaft einen Schaden zufüge, zum Ersatz verpflichtet seilS.

" V. Caemmerer, Wandlungen, S. 71 ff.; vgl. dazu auch Deutsch, JuS 1967, 152, S. 157 f., v. Bar, Gutachten, S. 1714 ff.; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 94 ff.; Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 43; Zeuner, 25 Jahre KF, 196, S. 197 ff. 12 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 83 ff.; vgl. dazu auch v. Bar, Gutachten, S. 1719; Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 44; Zeuner, 25 Jahre KF, 196, S. 196 f. II V. Caemmerer, Wandlungen, S. 102 ff.; vgl. dazu auch v. Bar, Gutachten, S. 1712 ff.; Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 45; Zeuner, 25 Jahre KF, 196, S. 197. ,. V. Caemmerer, Wandlungen, S. 65 ff., 113. U V. Caemmerer, Wandlungen, S. 113; ähnlich S. 76. Im gleichen Sinne etwa Deutsch, JuS 1967, 152, S. 153; Hauss, ZVersWiss 1967, 151, S. 154 f.; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 81; ders., Schut:q>litik, S. 13, sowie besonders ausgeprägt v. Bar, Gutachten, S. 1693: Man könne ohne Übertreibung sagen, daß kaum ein Gericht heute die gesetzlichen Vorschriften so anwende und verstehe, wie der Geset:1!leber sie ursprünglich konzipiert habe; eine gesetzestreue Rechtsanwendung konune "daher" (!) "schon fast einer Rechtsverweigerung gleich". Eine jedenfalls ungewöhnliche Schlußfolgerung! Vgl. auch Mertens, AcP 178 (1978), 227, S. 229: "... daß Richterrecht aus § 823 I BGB eine Norm gemacht hat, die der historische Gesetzgeber des BGB kaum wiedererkennen würde", sowie S. 235: Das von der Rechtsprechung geschaffene Deliktsrechtssystem sei "aus den Vorschriften des BGB ... nicht mehr ablesbar". Vgl. aber auch Zeuner, 25 Jahre KF, 196, S. 199, der zwar ebenfalls "ausgreifende Schritte der Rechtsfortentwicklung"

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

Und wenn v. Caemmerer auf der anderen Seite die Entscheidung gegen einen solchen allgemeinen Deliktstatbestand als zentrales Anliegen des Gesetzgebers des BGB darstellt!·, dann bleibt in der Tat nur die Schlußfolgerung übrig, die Entwicklung der Praxis in der Zeit der Geltung des BGB habe das gesetzliche System "im Grunde gesprengt"l7.

IV. V. Caemmerer und die unbeantwortete Frage nach den Grenzen der Zulässigkeit richterlicher" Rechtsfortbildung" Daß etwas Derartiges mit bloßer Gesetzesauslegung nichts mehr zu tun hat, ist nicht zu übersehen, braucht uns aber, da die Legitimität selbst "gesetzesübersteigender" richterlicher Rechtsfortbildung heute weitgehend anerkannt sein dürfte!8, an sich nicht weiter zu beunruhigen.

1. Die Frage der "Rechtsfortbildung" contra legem Wenn aber die Prämisse v. Caemmerers richtig ist: daß durch die Wandlungen des Deliktsrechts die gesetzgeberische Entscheidung gegen einen allgemeinen Deliktstatbestand in ihr genaues Gegenteil verwandelt worden ist, dann reicht es doch wohl nicht aus zu sagen, dies gehe "über den Plan des Gesetzgebers hinaus"!9. Es stünde dann diesem Plan diametral entgegen, wäre also Rechtsfortbildung nicht praeter, sondern contra legern. Und genau hier endet jedenfalls nach allen traditionellen methodologischen Ansichten - grundsätzlich die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung 20 • Man sollte daher erwarten, daß v. Caemmerer entweder die Einfügung dreier Generalklauseln in einen nicht generalldauselartig weit konzipierten Deliktstathestand nicht nur

konstatiert, aber doch meint, diese hätten "den allgemeinen Boden der Gesetzeskonzeption im Ansatz nicht verlassen". '6 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 65; siehe dazu noch ausführlich unten im 3. Kap. A. 17 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 69; älmlich auch S. 83. 11 Vgl. statt aller nur Larenz, Methodenlehre, Kapitel 5, S. 351 ff., und speziell zur "gesetzesübersteigenden" Rechtsfortbildung Kapitel 5, 4., S. 397 ff.; Buchner, S. 40 ff., insbesondere S. 42, Fn. 56 m.w.N. '9 So beschreibt Larenz, Methodenlehre, Kapitel 5, 4., S. 397 ff. die "gesetzesübersteigende" Rechtsfortbildung. '" Vgl. nur Larenz, Methodenlehre, S. 410 ff.; Buchner, S. 47 ff.

A. "Wandlungen" des Deliktsrechts

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als "nicht geglückte"21, sondern als unzulässige Rechtsfortbildung bezeichnen, oder aber ihre ausnahmsweise Legitimität eingehend begründen würde.

2. Unzulängliche Antworten v. Caemmerers auf diese Frage Die Antworten, die v. Caemmerer in den "Wandlungen des Deliktsrechts" auf die hiermit aufgeworfene Frage gibt, erfüllen diese Erwartungen jedoch in keiner Weise. Sieht man einmal von ausschließlich rechtspolitischen 22 bzw. in sich widersprüchlichen23 Erwägungen ab, dann bleibt als Argumentation nicht viel mehr übrig als der Hinweis auf die "inzwischen gefestigte Rechtsprechung des BGH"1A, die sich "endgültig durchgesetzt, ja vielleicht sogar schon fast gewotmheitsrechtliche Kraft erlangt" habe2S • Zumindest müsse man sie als eine "richterliche Rechtsfortbildung ansehen ... , durch die das geltende Recht geändert" worden sei 26 • Wie aber allein aus dem rein faktischen Umsiand einer Rechtsprechung, die sich "endgültig durchgesetzt" hat, auf eine Veränderung des geltenden Rechts soll geschlossen werden können, bleibt bei v. Caemmerer völlig im Dunkeln. In diesem Zusammenhang ist die Erwägung, die Rechtprechung habe "vielleicht sogar schon fast" (!) "gewohnheitsrechtliche Kraft erlangt", nicht nur wegen ihrer auffälligen Unbestimmtheit irrelevant. Die entscheidende Schwäche dieses Argumentes ist vielmehr, daß v. Caemmerer die Kategorie des Gewohnheitsrechts für "die Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB"27, und das bedeutet: für die Beantwortung einer Frage, die ganz ausschließlich im Bereich der Dogmatik angesiedelt ist, ins Treffen führen will. Solche Fragen sind aber niemals der wissenschaftlichen Diskussion entzogen. Auf sie ist die Kategorie des Gewohnheitsrechts nicht anwend-

21 V gl. Larenz, Rechtsfortbildung, S. 13, nach dem eine Rechtsfortbildung nur dann als geglückt zu bezeichnen ist, wenn sie sich "in das gegebene Ganze bruchlos einfügen" läßt. %l VgL etwa v. Caemmerer, Wandlungen, S. 57 Die Rechtsprechung zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sei "nur ein Mittel, um wenigstens auf einem Teilgebiet zu einer angemessenen Haftung des Unternehmers für das Verschulden seiner Angestellten zu gelangen". Auf S. 58 stellt der Autor fest, bei der derzeitigen Rechtslage sei man "gezwungen" (!), "sich auf cic oder vertragliche Nebenpflichten zu stützen, um zu einer unbedingten Haftung für Gehilfen zu gelangen." %l Widersprüchlich ist es etwa, wenn v. Caemmerer einerseits feststellt, die Entwicklung der Praxis - womit auch die Rechtsprechung zu den Verkehrs(sicherungs)pflichten gemeint ist, habe das gesetzliche System "im Grunde gesprengt" (Wandlungen, S. 69), andererseits aber behauptet, die deutsche Rechtsprechung habe mit der Einfügung der "GeneralklauseI" der Verkehrs(sicherungs)pflichten das gesetzliche System nur "abgerundet" (Wandlungen, S. 80 f.). '" V. Caemmerer, Wandlungen, S. 106. 2> V. Caemmerer, Wandlungen, S. 89. '" V. Caemmerer, Wandlungen, S. 106. 27 V. Caemmerer, Wandlungen, S. 89.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

bar. Ja, es ist schon eine geradezu absurde Vorstellung, die Diskussion einer wissenschaftlichen Frage könne dadurch autoritativ beendet werden, daß sich eine Auffassung "endgültig durchsetzt". Gewohnheitsrechtliche Kraft können dies sollte außer Streit sein - allenfalls die Ergebnisse des Wandlungsprozesses, also insbesondere der deliktsrechtliche Schutz des Unternehmensvermögens und der "immateriellen" Persönlichkeitsgüter in einem bestimmten - hier allerdings nur schwer bestimmbaren21 - Umfange erlangen. Dagegen können die von v. Caemmerer gebrauchten Floskeln von der "richterlichen Rechtsfortbildung" und der "gewohnheitsrechtlichen Kraft" nicht über den Grundwiderspruch seiner gesamten These hinwegtäuschen, der darin besteht, daß er einerseits den Kern der "Wandlungen des Deliktsrechts" in der systemwidrigen Umwandlung des § 823 Abs. 1 BGB in den vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewollten allgemeinen Haftungstatbestand erblickte; andererseits aber diese (angebliche) Rechtsfortbildung contra legern allein deshalb hinzunehmen bereit war, weil er die Aufgabe der sachlichen Ergebnisse der Rechtsprechung aus rechtspolitischen Gründen als einen zu hohen Preis für die Reinhaltung des gesetzlichen Systems ansah.

B. Von der Wandlungsthese zur "modernen" Richtung der deliktsrechtlichen Theorie I. Die Wandlungsthese v. Caemmerers als Prämisse der modernen deliktsrechtlichen Theorie Die Richtigkeit der im vorigen Abschnitt dargestellten Analyse v. Caemmerers wird im neueren deliktsrechtlichen Schrifttum geradezu axiomatisch vorausgesetzt29 • Nach dem zuvor zu dem Grundwiderspruch der Position v. Caemmerers Gesagten folgt daraus aber zwingend, daß diese Theorie sich in der einen oder der anderen Weise gegen die Rechtsprechung stellen muß, wenn sie sich nicht ebenfalls in inneren Widersprüchen verfangen will. Eine immer mehr an Boden gewinnende neuere Richtung der Theorie, die wir im folgenden die "modeme" nennen wollen, ist durch das Bestreben gekennzeichnet, diesen Konflikt durch die, wie man meint, system gerechte(re), das heißt die "mit dem geringsten dogmatischen Bruch" verbundene30,

21 Und genau in diesem Umstand liegt auch die Problematik einer gewohnheitsrechtlichen Begriindung der Ergebnisse der Rechtsprechung . ., Vgl. nur die Nachweise oben in Pn. 5 ff.• insb. in Pn. 15. '" V. Bar, VeIkehrspflichten, S. 145.

B. Von den Wandlungen :rur "modemen" Richtung des Deliktsrechts

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Zuordnung der Ergebnisse des Prozesses richterlicher Rechtsfortbildung zu Absatz 2 statt zu Absatz 1 des § 823 BGB zu lösen.

D. Der Redogmatisierungsvorschlag von Gieseke Einen ersten, zunächst allerdings kaum beachteten Vorstoß in diese Richtung hat Gieseke bereits im Jahre 1950 unternommen. Sein Vorschlag, in die Auslegung des Begriffs des Schutzgesetzes in § 823 Abs. 2 BGB auch die "allgemeine(n) Grundsätze, die unser soziales Leben beherrschen" miteinzubeziehen3), zielte auf eine "Redogmatisierung"32 des deliktischen Unternehmensschutzes in § 823 Abs. 2 BGB ab33 •

ill. Die Rechtswidrigkeitsdiskussion im Anschluß an BGHZ 24, 21 als Ausgangspunkt der modernen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie Ihren eigentlichen Anfang jedoch nahm die modeme Richtung der deliktsrechtlichen Theorie erst mit dem im Anschluß an den berühmten Beschluß des Großen Zivilsenats beim BGH vom 4. 3. 195734 entbrannten Streit um den in § 823 Abs. 1 BGB anzuwendenden "Rechtswidrigkeitsbegriff' . Angesichts der zahlreichen umfassenden Darstellungen dieses StreiteslS können wir uns im folgenden auf einige wenige, für das Verständnis der weiteren Entwicklung der deliktsrechtlichen Theorie unerläßliche Anmerkungen beschränken.

" Gieseu, GRUR 1950,298, S. 310. Zustinunende bzw. wohlwollende Stellungnahmen zu diesem Vorschlag: Rödig, S. 64, Fn. 163; Schmiedei, S. 38. " Ausdruck von Brüggemeier, AcP 182 (1982), 385, S. 424. )) Für eine solche Redogmatisierung haben sich außerdem u.a. ausgesprochen: Deutsch, JZ 1963, 385, S. 391, Fn. 109; Larenz, Schuldrecht 11, S. 632, Fn. 7; Löwisch, S. 130; Medicus, Bürgerliches Recht, Rn. 614; Raiser, JZ 1961, 465, S. 472; Steindoif, JZ 1960, 582, S. 583; UUllU, JZ 1961,41, S. 45. 1m Ergebnis ähnlich auch Mertens, z. 8. in VersR 1980, 397, S. 400, wobei Mertens allerdings - seinem theoretischen Ansatz (siehe :ru diesem weiter unten S. 38 ff.) entsprechend - eine Zuordnung zu der "judiziellen Verkehrspflichtverlet:rungskonzeption" als dem "ungeschriebene(n) § 823 Abs. 3 BGB" bevorzugt. ,. - GSZ 1/56 -, BGHZ 24, 21. )$ Aus letzter Zeit vgl. nur etwa Hager, S. 133 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen in Fn. 2; Schwitanski, S. 145 ff. m.w.N., in sb. in Fn. 90 und 99; vg!. im übrigen aber auch die älteren Darstellungen, etwa v. Caemmerer, Wandlungen, S. 115 ff. m.w.N., insb. in Fn. 293; Wiethölter, S. 13 f. m.w.N. in Fn. 32 ff.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

1. Rechtswidrigkeit verkehrsrichtigen Verhaltens? Zunächst erscheint es angebracht, sich noch einmal kurz den Ausgangspunkt der ganzen Diskussion zu vergegenwärtigen: Bekanntlich ist dies die dem Großen Senat vorgelegte Frage, ob die einen Unfall verursachende, aber verkehrsrichtige Teilnahme eines Verrichtungsgehilfen am Straßenverkehr eine rechtswidrige Handlung darstellt, für die der Geschäftsherr, falls ihm die Exkulpation nicht gelingt, nach § 831 BGB einzustehen haf6. Geht man an diese Frage allerdings ohne die "professionelle Präformation des Juristen"37 heran, wird man vielleicht die vom BGH auf diese Frage gegebene Antwort geradezu als eine Trivialität empfmden. Denn wer für einen Augenblick die tatbestandliche Struktur des gesetzlichen Deliktsrechts ganz außer Betracht läßt und sich stattdessen unvoreingenommen nur dem konkreten Fallproblem zuwendet, wird kaum die Richtigkeit der Feststellung in Frage stellen können, daß ein verkehrsrichtiges Verhalten - gewissermaßen per definitionem - erlaubt, also rechtmäßig ist. Und wenn man fortfährt, die Dinge sozusagen "naiv" zu betrachten, wird man wohl kaum auf den Gedanken verfallen, es könnte sich an dieser Beurteilung rückwirkend und allein deshalb etwas ändern, weil dieses Verhalten "zufällig" zur canditia sine qua non eines Schadens geworden ist. Denn wenn die Rechtsordnung die mit der verkehrsrichtigen Teilnahme am Straßenverkehr unvermeidlich verbundene Gefahrdung fremder Rechtsgüter zuläßt (wie sie es tatsächlich ja auch immer noch turs): Wäre es dann nicht ein unbegreiflicher innerer Widerspruch, wenn diese Wertung plötzlich in ihr

)6 Es ist allerdings schon frühzeitig bemerkt worden, daß eine Beantwortung dieser Frage zur Lösung des zugrundeliegenden Fallproblems an sich gar nicht erforderlich gewesen wäre, da ein Rückzug auf den schon vom RG (JW 1936, 2394, S. 2396) aufgestellten Satz genügt hätte, nach dem eine Haftung des Geschäftsherrn dann ausgeschlossen ist, wenn ihn, falls er sich ebenso wie der Gehilfe verhalten hätte, mangels Verschuldens keine Haftung träfe, vgl. StoII, JZ 1958, 137, S. 137 ff.; v. Caemmerer, Wandlungen, S. 115 ff. m.w.N. in Fn. 294. )7 Ausdruck von Picker, JZ 1987, 1041, S. 1048. )I Trotz aller hiergegen mit gutem Grund zu richtenden rechtspolitischen Vorbehalte; vgl. hierzu jüngst Jörns, Evangelische Kommentare 1990, 401 ff., dessen Überlegungen in die Schlußfolgerung münden: "Angesichts der Tatsache, daß uns der Straßenverkehr, wie er sich entwickelt hat, blutig überfordert, kann es keinen Rechtsanspruch mehr auf eine unbeschränkte Beteiligung der Bürger am motorisierten Straßenverkehr geben. Wo andere Verkehrsmittel, und das heißt öffentliche, zur Verfügung stehen, wird der Individualverkehr keine freie Wahlmöglichkeit mehr bleiben können" (S. 404). Auch wenn man eine so radikale Konsequenz nicht zu ziehen bereit ist, wird man - angesichts von 620.000 (!) Verkehrstoten auf bundesdeutschen Straßen seit 1951 (vgl. hierzu Jörns, S. 403) - doch jedenfalls zu fragen haben, ob sich die gegenwärtige Privilegierung des privaten gegenüber dem öffentlichen Verkehr durch den Staat verfassungsrechtlich noch rechtfertigen läßt.

B. Von den Wandlungen zur "modemen" Richtung des Deliktsrechts

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Gegenteil verkehrt würde, sobald sich die rechtmäßig geschaffene, das heißt die erlaubte Gefahr realisiert haf9? Sachlich beruht die Entscheidung des Großen Senats offensichtlich auf genau diesen Erwägungen, wie der folgende Auszug aus den Entscheidungsgründen belegt: "Indem die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zuläßt und den Teilnehmern an diesem Verkehr im einzelnen vorschreibt, wie sie ihr Verhalten einzurichten haben, spricht sie auch aus, daß sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften im Rahmen des Rechts hält. Es ist daher der Satz aufzustellen, daß bei verkehrsrichtigem (ordnungsgemäßem) Verhalten eines Teilnehmers am Straßen- oder Eisenbahnverkehr eine rechtswidrige Schädigung nicht vorliegt'>4O.

2. Versagen der Eifolgsunrechtslehre in Fällen wie BGHZ 24, 21 Nicht hier hat deshalb die notwendige Kritik an der Argumentation des BGH anzusetzen, sondern bei dem Versuch, die (sachlich zutreffende) Lösung des Fallproblems in Übereinstimmung zu bringen mit der vorlIerrschenden deliktsrechtlichen Doktrin. Denn vom Standpunkt der Erfolgsunrechtslehre41 , die § 823 Abs. 1 BGB als Erfolgsverursachungsverbot interpretiert'2, aber auch nur von diesem Standpunkt, stellt sich das Problem nun tatsächlich genau umgekehrt dar: Nämlich als ein Problem "zu begründen, warum objektiv ordnungsmäßige Handlungen trotz der durch sie adäquat kausal verursachten Rechts(guts)verletzungen rechtmäßig" sein können 43 • Zu lösen ist dieses Problem für die Vertreter der Erfolgsunrechtslehre aber nur rein formal, unter Zuhilfenahme der Kunstfigur eines "Rechtfertigungsgrundes des verkehrsrichtigen Verhaltens"44; angesichts der augenfälligen Künstlichkeit einer solchen

,. Anders aber ausdrücklich - und vom Standpunkt des traditionellen Verständnisses des gesetzlichen Deliktsrechtssystems aus auch konsequent Banes, in Erman, BGB, § 276, Rn. 12. Den Gesichtspunkt der erlaubten Gefahr hat dagegen besonders v. Caemmerer hervorgehoben, z.B. Wandlungen, S. 62 f., 77 f., 127 f.; ders., KF 1961, 19, S. 20. .. BGHZ 24, 21, S. 26. •, Vgl. nur Thomas, in Palandt, BGB, § 823, Anm. 6 A a, b; Teichmann, in Jauernig, BGB, § 823, Anm. IV 1 b cc; Steffen, in RGRK, BGB, § 823, Rn. 114; Banes, in Erman, BGB, § 276, Rn. 10 ff. 42 Dazu ausführlich Fraenkel, S. 15 ff. .. V. Bar, Verkehrspflichten, S. 145 m.w.N. in Fn. 3; Hervorhebungen vom Verf. .. So in der Tat BGHZ 24, 21.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

Konstruktion4s jedoch ein reiner Pyrrhussieg. durch den das eigentliche Versagen der Erfolgsunrechtslehre in derartigen Fallkonstellationen nicht zu kaschieren ist.

3. Die "Lehre von der Erheblichkeit der Eingrijfsqualität"als Kompromißformel zur Rettung der Erjolgsunrechtslehre Umso überraschender erscheint es. daß sich diese Lehre in der Folgezeit gegen alle Angriffe der Handlungsunrechtslehre46 im Kern hat behaupten können - wenn auch nur in der stark modifizierten Form einer Theorie. für die Steffen47 die Bezeichnung "Lehre von der Erheblichkeit der Eingriffsqualität" geprägt hat48 . Kernstück dieser Lehre ist bekanntlich die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Rechts(guts)verletzungen: Für die unmittelbaren Eingriffe soll nach wie vor die Erfolgs-. für die mittelbaren Eingriffe die Handlungsunrechtslehre gelten49 . Der "Erfinder" dieser Theorie. v. Caemmerer. vertrat allerdings einen eigentümlichen. stark von bereicherungsrechtlichen Vorstellungen geprägten UnmittelbarkeitsbegriffO. der sich nicht durchsetztesI. sondern schon bald durch einen völlig anderen. heute vomerrschenden Begriff ersetzt wurde: Danach sind unter unmittelbaren Verletzungshandlungen zum einen vorsätzliche. zum anderen solche fahrlässigen

4S Die h.M. erkennt einen solchen Rechtfertigungsgrund zu Recht nicht an, vgl. nur Bat/es, in Erman, BGB, § 276, Rn. 14; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 199; StolI, JZ 1958, 137, S. 140; v. Caemmerer, Wandlungen, S. 125 f. Wiethölter, S. 13; Matens, VersR 1980,397, S. 399. 46 Nipperdey, NJW 1957, 1777; Wiethölter, S. 15 ff.; Münzberg, S. 176 ff. und öfter, Kötz, Rn. 103; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 101; ähnlich auch Stathopoulos, S. 631, 636 f. • 7 Steffen, in RGRK, BGB, § 823, Rn. 109 . .. Vgl. als Hauptvertreter dieser Lehre, die Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 26 (= JZ 1986, 969, S. 974) recht drastisch als den Versuch der "Galvanisierung des dogmatischen Leichnams des Erfolgsunrechts" charakterisiert und verworfen hat: V. Caemmerer, Wandlungen, S. 126 ff., insbesondere S. 131 ff.; ders., KF 1961, 19; Larenz, FS Dölle I, 169, insb. S. 187 ff.; StolI, AcP 162 (1962),203; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 197; U. Huber, in FS ER. Huber, 253, S. 274 ff.; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 154 ff.; Schwitanski, S. 175 f. Vgl. zusanunenfassend zu dem Streit zwischen den verschiedenen Unrechtslehren aus der Sicht des öffentlichen Rechts neuerdings auch Olivet, Erfolgsunrechtslehre und Handlungsunrechtslehre. .. Vgl. die in der vorigen Fn. Genannten. 50 Danach sollten nur solche Handlungen zu den unmittelbaren Eingriffen zählen, deren Vornahme durch das verletzte Herrschaftsrecht ausschließlich dem Berechtigten vorbehalten ist, vgl. v. Caemmerer, Wandlungen, S. 126 ff.; das., KF 1961, 19, S. 19 ff. Da den Rechtsgütern ein solcher Zuweisungsgehalt ausschließlicher Handlungsbefugnisse fehlt, folgt daraus, daß sie nach der Lehre v. Caemmerers ausschließlich mittelbar verletzbar sind, vgl. hierzu Steifen, in RGRK, BGB, § 823, Rn. 109. " Trotz eines kürzlich von Schwitanski, S. 160 ff., insbesondere S. 175 f. unternommenen Rehabilitierungsversuches.

B. Von den WandlWlgen zur "modemen" Richtung des Deliktsrechts

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Handlungen zu verstehen, bei denen der Verletzungserfolg bei objektiver, natürlicher Wertung ein unabtrennbarer Teil der Handlung ist, also in ihrem "Rahmen" liegtS2 • Da zu den mittelbaren Rechts(guts)verletzungen demnach hauptsächlich die bloßen Gefährdungshandlungen, insbesondere also ein Großteil der Fälle der Verkehrspflichtverletzungen gerechnet werden, bedeutet dies im Ergebnis nichts anderes, als daß in diesen Fällen entgegen ihrer traditionellen Subsumtion unter § 823 Abs. 1 BGB nicht der dieser Vorschrift unterstellte Rechtswidrigkeitsbegriff (des Erfolgsunrechts), sondern der § 823 Abs. 2 BGB unterstellte Rechtswidrigkeitsbegriff (des Handlungsunrechts) zur Anwendung kommt.

IV. Redogmatisierung der Verkehrspflichten in § 823 Abs. 2 BGB (Larenz) Dies hat bereits v. Caemmerer klar erkanntS3 , aber erst Larenz hat aus der Erkenntnis ohne Umschweife die naheliegende Schlußfolgerung gezogen, die Verkehrspflichten nunmehr auch dogmatisch dem Absatz 2 des § 823 BGB zuzuordnen S4 • Zwar hat sich Larenz noch zu der Einschränkung veraniaßt gesehen, der Schutzbereich der Verkehrspflichten sei auf die Rechte und Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB zu beschränken ss • Aber es läßt sich doch mit gutem Grund fragen, ob diese von Larenz für erforderlich gehaltene Einschränkung mehr ist als eine eigenartige Inkonsequenz des Autors. Wenn die Verkehrspflichten wirklich dogmatisch zu § 823 Abs. 2 BGB gehören, warum dann gewissermaßen auf halbem Wege stehenbleiben? Warum nicht, wie bei anderen Schutzgesetzverstößen auch, den Schutzzweck der jeweils verletzten Norm (Verkehrspflicht) über den Umfang der ersatzfähigen Schäden

12 Larenz, FS Dölle I, 168, S. 195; ders., Schuldrecht 11, S. 611; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 156; ders., Gutachten, S. 1703; Stall, AcP 162 (1963), 203, S. 226; UHuber, FS E.R. Huber, 253, S. 274 ff. " V. Caemmerer, KF 1961, 19, S. 22: Die RechtsprechWlg habe die allgemeinen Verkehrspflichten "ganz in die Nähe der Schutzgesetze nach § 823 II BGB gerückt"; ähnlich ders., WandlWlgen, S. 76, Fn. 114. 54 Larenz, FS Dölle I, 168, S. 187 ff., insbesondere S. 189; dem folgend etwa Deutsch, JuS 1967, 152, S. 157; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 157 ff.; K. Huber, FS v. Caemmerer, 359, S. 359 ff.; Köndgen, S. 365 ff. Vgl. im übrigen die zahlreichen weiteren Nachweise bei Schwitanslcj, S. 245, Fn. 1; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 159, Fn. 99; Götz, S. 175, Fn. 16. Unklar Medicus, Bürgerliches Recht, Rn. 655. Zum Verhältnis v. Caemmerers zu der modemen Verkehrspflichtenlehre vgl. außerdem noch K. Huber, FS v. Caemmerer, 359, S. 379, Fn. 90: "Bei v. Caemmerer findet sich die These nicht, doch haben seine Beobachtungen den Weg gewiesen". " Larenz, FS Dölle I, 168, S. 189. Ausdrücklich oder stillschweigend wird dies auch von Deutsch, JuS 1967, 152, S. 157; ders., Haftungsrecht I, S. 130, sowie von U. Huber, FS Wahl, 301, S. 303 vorausgesetzt.

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I. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

(bzw. über den Kreis der anspruchsberechtigten Personen) entscheiden lassen? Die Zurückhaltung von Larenz in dieser Frage wird erst dann verständlich, wenn man sich vor Augen hält. daß durch die vollständige Loslösung der Verkehrspflichten von der Enumeration des § 823 Abs. 1 BGB das letzte und entscheidende Hindernis auf dem Wege zur Erhebung von Verkehrspflichten zum Schutze bloßer ("reiner") Vermögensinteressen zu Schutzgesetzen im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB entfallen würde. Man spürt sofort. daß ein solcher Schritt nicht weniger als den endgültigen Übergang zu einer grundlegend anderen Konzeption des Deliktsrechts bedeuten würde.

V. Überschreitung des Rubicon durch die moderne Verkehrspflichtenlehre (K. Huber und v. Bar) Trotz allem konnte es aber auf Dauer wohl nicht ausbleiben, daß auch diese äußerste Konsequenz aus der "Redogmatisierung" der Verkehrspflichten in § 823 Abs. 2 BGB gezogen werden würde. Erstaunlich ist eigentlich nur, daß der Rubicon erst verhältnismäßig spät überschritten wurde. nämlich Ende der Siebziger Jahre durch die bekannten und viel diskutierten Arbeiten von K. Hube,-56 und v. Bar'. Seither ist die Frage der Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens gewissermaßen zur Gretchenfrage der aktuellen theoretischen Diskussion des außervertraglichen Haftungsrechts avanciert. Dabei steht die große Mehrheit der Autoren nach wie vor in Opposition zu K. Huber und v. Bar'.

,. K. Huber, FS v. Caemmerer. 359. insbesondere S. 377 ff. H V. Bar. JZ 1979. 728, S. 729 f.; dus., Verlcehrspflichten, S. 204 ff., insbesondere S. 233 ff. Vgl. auch die zustimmende Stellungnahme bei Assmann, S. 46 f. Vgl. aus dem älteren Schrifttum aber auch schon Michaelis, S. 185, 338: " ... denn es ist ... letztlich nicht abrusehen, warum ein grundlegender Unterschied bestehen soll, je nachdem die Verletzung der Sorgfaltspflicht rum Verlust des Eigentums i.S. des § 823, I führt oder andere Nachteile entstehen." Die Konzeption der Verlcehrspflichten zum Schutze fremden Vermögens wird im übrigen auch von Mertens unterstützt, vgl. Mertens, VersR 1980, 397, S. 397 ff.; tiers., AcP 178 (1978), 227, S. 240 f.; ders., in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 469. Zu der Auffassung von Mertens, die aus einem anderen Ansatzpunkt entwickelt worden ist als die hier besprochenen Lehren, siehe noch ausführlich weiter unten C. 11. " Schwitanski, S. 277 ff.; Canaris, FS Larenz 11, 27, S. 80 ff., insbesondere S. 83; Larenz, Schuldrecht 11, S. 617; Kreuzer, AcP 184 (1984), 81, S. 86 f.; Picker, JZ 1987, 1041, S. 1047; Götz, S. 175 f.; Steifen, VersR 1980, 409, S. 409; tiers., in RGRK, BGB, § 823, Rn. 140; Schii/er, in Staudinger, BGB, § 823, Rn. 320; Zeuner, in Soergel, BGB, § 823, Rn. 4, 42, 251; Schiemann, in Erman, BGB, § 823, Rn. 76.

B. Von den Wandlungen rur "modemen" Richtung des Deliktsrechts

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1. Das formale Problem: Zur Auslegung des Gesetzesbegrijfs in § 823 Abs. 2 BGB Nun liegt die Versuchung nahe, sich damit zufriedenzugeben, in den "Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens" nichts anderes zu sehen als die letzten Endes unvermeidliche dogmatische Konsequenz aus ihrer Subsumtion unter § 823 Abs. 2 BGB) Jedoch würde dies zu einer erheblichen Verengung des Blickwinkels führen. Die Diskussion würde sich dann ebenso schneU wie oberflächlich auf die Auslegung des Gesetzesbegriffs in § 823 Abs. 2 BGB, beziehungsweise, wenn man die in Art. 2 EGBGB enthaltene Begriffsumschreibung zugrundelegt, auf die Auslegung des Begriffs der Rechtsnorm reduzieren. Sind das nur Normen des geschriebenen Rechts, oder etwa auch solche des "Richterrechts"? Die Unergiebigkeit einer rein begrifflichen Argumentation in dieser Frage ist unverkennbar. Denn der Begriff der Rechtsnorm ist nicht klarer als der des Gesetzes59 . Aber auch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 2 EGBGB 60 hilft uns in dieser Sache kaum weite~': Das Äußerste, was man als Quintessenz aus den verschiedenen, zum Teil einander widersprechenden Aussagen der Materialien62 zu diesem Punkt ableiten kann, ist, "daß der historische Wille des Gesetzgebers einer Gleichstellung von Verkehrspflichten und Schutzgesetzen nicht prinzipiell zuwiderläuft"63. Dies aber auch nur deshalb, weil der Gesetzgeber die Frage, was aUes unter den Begriff der Rechtsnorm subsumiert werden könne, insgesamt "mit Stillschweigen ... übergehen" wollte64 , da diese Frage "der Macht des Gesetzgebers entrückt sei und nur von der Theorie beantwortet werden könne"65. Damit führen alle entstehungsgeschichtlichen Argumentationen doch nur wieder zu derselben rechtstheoretischen Grundfrage zurück, vor der wir schon als Ergebnis unserer Überlegungen zu der Wandlungsthese v. Caemmerers gestanden hatten: der Frage nach der Rechtsnormqualität gerichtlicher Entscheidungen. Bemerkenswerterweise übergehen auch K. Huber und v. Bar diese Frage

$9 So auch K. Huber, PS v. Caemmerer, 359, S. 381. Auch der Versuch K. Hubers, aus dem Wort "jede" in Art. 2 EGBGB Schlußfolgerungen abzuleiten, überzeugt nicht. 60 Vgl. dazu vor allem v. Bar, Verkehrspflichten, S. 163 ff. 61 Auch K. Huber, S. 359, 382, Fn. 100 räumt ein, die Entstehungsgeschichte sollte "im Fall des Art. 2 EGBGB nicht überbewertet" werden. ., Daru v. Bar, Verkehrspflichten, S. 163. 6) V. Bar, Verkehrspflichten, S. 164. .. Prol. VI, S. 361. ., Prol. VI, S. 362.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

ebenso wie vor ihnen v. Caemmerer ihrerseits mehr oder weniger "mit Stillschweigen "66.

2. Der inhaltliche Kern des Problems: Redogmatisierung der "quasi-vertraglichen" Haftung a) Beschränkte Zielsetzung der Verkehrspflichtenlehre K. Hubers und v. Bars; zur modemen "Tendenz zum Deliktsrecht" Wie gesagt, ist damit erst die eine, eher fonnale Seite des Problems angesprochen. Es versteht sich aber, daß die Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vennögens für ihre "Erfmder" kein bloßer Selbstzweck sind, sondern eine ganz bestimmte Funktion erfüllen sollen: In der Sache geht es K. Huber und v. Bar allein um die Behandlung der seit langem besonders kontrovers diskutierten Haftungsfälle "zwischen" Vertrag und Delikt, jener Fallgruppe mithin, als deren kennzeichnendes Merkmal v. Caemmerer die Anwendung vertragsrechtlicher Haftungsgrundsätze auf "zahlreiche typische Deliktstatbestände" bezeichnd7 , und für die v. Bar das einprägsame Schlagwort von den "vertraglichen Schadensersatzansprüchen ohne Vertrag" erfunden hatM • Schon diese Bezeichnungen verdeutlichen unmißverständlich den Standpunkt sowohl v. Caemmerers als auch der modemen deliktsrechtlichen Theorie: Beide sehen in der Entwicklung der Rechtsprechung, insbesondere in der Erfindung der "quasi - vertraglichen Haftungsgrundlagen 69 , ein system widriges Ausweichen in das Vertragsrecht, das ausschließlich der Überwindung von Haftungslücken des gesetzlichen Deliktsrechtssystems diene70 • Mit dieser Feststellung ist bereits die Zielrichtung der weiteren dogmatischen Arbeit vorgegeben: Es kann dann

.. Bemerkenswert v. Bar. Verkehrspflichten. S. 246: Bei den Verkehrspflichten sei "maßgebliche Rechtsquelle" "nicht das Gesetz ...• sondern die Rechtsprechungswirklichkeit" . Auch hier also wieder derselbe. überraschend unreflektierte Schluß von den rein faktischen Verhältnissen auf die rechtliche Beurteilung dieser Verhältnisse. den wir weiter oben (S. 12 ff.) schon bei v. Caemmerer konstatieren mußten. ti1 V. Caemmerer. Wandlungen. S. 56 ff. Zustimmend Deutsch. FS Michaelis. 26. S. 30. .. V. Bar. JuS 1982. 637 ff. '" Insbesondere also des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. der cic und der Schutzpflichtverletzungen im Bereich der positiven Forderungsverletzungen. vgl. dazu nur zusammenfassend v. Bar. JuS 1982. 637 ff. 10 Vgl. v. Bar. JuS 1982.637. S. 637 ff.; ders .• Verkehrspflichten. S. 204 f. und S. 220 ff.; v. Caemmerer. Wandlungen. S. 56 ff.; Brüggemeier. AcP 182 (1982).385, S. 420 ff.; Löwisch, in Sraudinger, BGB. Vorbemerkungen zu §§ 275 - 283. Rn. 19 ff. Gegen die "Hypertrophie der allgemeinen Vertragshaftung" (Schlechtriem. Gutachten. S. 1600) auch Mertens, AcP 178 (1978), 227, S. 237 f.; Picker, JZ 1987, 1041. S. 1042; das., AcP 183 (1983) 369, S. 393 ff.; Kreuzer, JZ 1976,778, insb. S. 780; StoII. AcP 176 (1976),145. S. 151. Fn. 21.

B. Von den Wandlungen zur "modemen" Richtung des Deliktsrechts

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fast nur noch darum gehen, durch eine entsprechende Fortentwicklung des Deliktsrechts die Voraussetzungen für eine "Rückeingliederung"'l dieser Fallgruppe in das außervertragliche Haftungsrecht zu schaffen72 • Nun ist in letzter Zeit verschiedentlich darauf hingewiesen worden, daß die ursprünglichen, noch für v. Caemmerer ganz im Vordergrund stehenden Gründe für die "Flucht" in das Vertragsrecht, das heißt vor allem die im Vertragsrecht (§ 278 BGB) gegenüber dem Deliktsrecht (§ 831 BGB) erweiterte Haftung für das Fehlverhalten Dritter73 , durch die weiteren Entwicklungen im Deliktsrecht selber, insbesondere durch die Rechtsprechung zu den (nicht deligierbaren) eigenen Aufsichts- und Organisationspflichten des Geschäftsherrn'·, sehr stark an Bedeutung verloren haben'5. Im Grunde genommen steht der Rückführung dieser Fälle in das Deliktsrecht heute praktisch nur noch ein Vorteil der vertraglichen gegenüber der deliktischen Haftung entgegen, um den es ursprünglich bei der Schaffung der "quasi - vertraglichen" Haftungsgrundlagen noch gar nicht gegangen war'6, und den v. Caemmerer selbst im Jahre 1960 noch gar nicht für erwähnenswert gehalten hatte: Bekanntlich kann im Vertragsrecht generell, im Deliktsrecht dagegen nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen Ersatz "primärer" Vermögensschäden verlangt werdenTI. Behält man diesen Umstand im Auge, wird erkennbar, warum gerade die Figur der Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens der modemen Theorie in geradezu idealer Weise zur Verwirklichung ihres hauptsächlichen Zieles, der Rückführung der "quasi - vertraglichen" Haftungsfälle in das allgemeine Deliktsrecht, geeignet erscheinen mußte.

V. Bar, Verkehrspflichten, S. 212. Hauptsächlich dies ist mit dem Schlagwort von der modemen "Tendenz zum Deliktsrecht" gemeint, vgl. dazu nur Pickl!r, AcP 183 (1983), S. 376 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 17. 7J Vgl. v. Caemmerer, Wandlungen, S. 56 ff. 14 Brüggemeier, Schut:zpolitik, S. 11, 38 (= JZ 1986, %9, S. 970, 978); ders., Deliktsrecht, Rn. 108 ff.; ders., AcP 182 (1982), 385, S. 419, unter Hinweis auf RGZ 53, 53; 53,276; 54, 53; 89, 136; Merlens, AcP 178 (1978), 227, S. 235; Kreuzer, JZ 1976, 778, S. 780. 71 V. Bar, JuS 1982, 637, S. 644 f.; ders., Verkehrspflichten, S. 246 ff.; K. Huber, S. 359, 377, Fn. 87; Kreuzer, JZ 1976, 778, S. 780. Auch U. Huber, Gutachten, S. 737 spricht von einem "überschätzten Problem". Aufgrund ganz anderer Überlegungen kommt schließlich auch Picker, AcP 183 (1983), 369, S. 486 ff. zu dem Ergebnis, die Erfmdung von Haftungsnormen "zwischen" Vertrag und Delikt zum Zwecke der Umgehung des § 831 BGB sei überflüssig. Vielmehr werde in diesen Fällen die unbedingte Haftung für das Fehlverhalten von "Erfüllungsgehilfen" "vom geltenden Recht gefordert", und stelle "nichts anderes als die korrekte Anwendung des § 278 BGB" dar, "wie diese durch die ratio der Bestimmung festgelegt wird" (Pickl!r, S. 487). 16 Vgl. v. Bar, Verkehrspflichten, S. 221. 77 Dazu ausführlich v. Bar, JuS 1982,637, insbesondere S. 639 f., 641, 645. 11

7Z

3 Börgers

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

b) Konsequenzen des Redogmatisierungsvorschlags K. Hubers und v. Bars für das gesamte System des Deliktsrechts Die Frage ist nur, welchen Preis man gerade für diesen Teil der Redogmatisierungsbemühungen in der modemen deliktsrechtlichen Theorie zu zahlen bereit ist. Genau an diesem Punkt setzt daher auch der schwerste Vorwurf gegen die Theorie K. Hubers und v. Bars ein: Durch sie degeneriere der § 823 Abs. 2 BGB zur systemwidrigen GeneralklauseI'8. Eine solche Umdeutung des § 823 Abs. 2 BGB in eine allgemeine Generalklausel ist allerdings alles andere als die erklärte Absicht von K. Huber und v. Bar. Im Gegenteil erkennen sie ausdrücklich an, für einen solchen allgemeinen Haftungstatbestand sei de lege lata "kein Raum"79; auf dem Gebiet der Haftung für reine Vermögensschäden sei daher "grundsätzlich Zurückhaltung angebracht"80. Und es ist weder v. Bar noch K. Huber abzusprechen, daß sie sich bei der praktischen Handhabung ihres Konzeptes um diese Zurückhaltung auch bemüht haben. Sie wollen den Gedanken der Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens deshalb nur in den Fallgruppen anwenden, in denen die Rechtsprechung schon jetzt eine Haftung für bloße Vermögensschäden auch außerhalb (eigener) vertraglicher Beziehungen bejaht, und in denen die Heranziehung der neuen Lehre daher überhaupt keine Haftungserweiterung bedeuten würde81 . Aber ist das nicht eine mehr oder weniger willkürliche Selbstbeschränkung, einzig und allein begründet aus der rein pragmatischen Einsicht in die Notwendigkeit irgendwelcher Haftungsgrenzen? Und gibt es bessere. objektivere Gründe als den guten Willen der Begründer der neuen Verkehrspflichtenlehre, die uns davon überzeugen könnten, daß die Anwendung dieser Lehre nicht auf Dauer doch in die Gefahr einer prinzipiell nicht mehr kontroIIier- und begrenzbaren Haftung führen würde? So sehr man auch suchen mag, man wird solche Gründe nicht finden; es gibt sie nicht. Wollte man dem Richter gestatten, ad hoc bestimmte Verhaltenspflichten erstmalig zu begründen und zugleich über ihren Schutzbereich zu bestimmen - denn wer sonst sollte das tun, wenn nicht der "Normsetzer" richterlicher VerhaItensgebote selber - dann verlören nicht nur die beiden anderen delikti71 Canaris. FS Larenz II, 27, S. 80, 83; Schwi/anski, S. 277. Auf genau dasselbe läuft im Ergebnis auch das Argument hinaus, die modeme Verkehrspflichtentheorie bedeute eine unzulässige Kompetenzverschiebung zwischen Legislative und Judikative, vgl. hierzu hauptsächlich Picker, AcP 1&3 (1983),369, S. 495 ff.; ders., JZ 1987, 1041, S. 1047, jeweils m.w.N. ,. V. Bar, Verkehrspflichten, S. 150. 10 V. Bar, Verkehrspflichten, S. 204 ff. Auch K. Huber, S. 359, 385 betont, es gebe "keine allgemeine Verpflichtung, fremde Vermögensinteressen zu wahren". Ähnlich auch schon Michaelis, S. 185, 338. 11 V. Bar, Verkehrspflichten, S. 230 ff.; K. Huber, S. 359, 383 ff., insb. S. 385 f.

B. Von den WancfiWlgen zur "modemen" Richnmg des Deliktsrechts

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sehen Grundtatbestände (§§ 823 Abs. 1 und 826 BGB ihren Sinn82 , sondern durch das Gesetz wären der richterlichen Gestaltungsfreiheit dann überhaupt keine Grenzen mehr gezogen. Auf Dauer wäre wohl nicht zu verhindern, daß die Verkehrspflichten zu einem bloßen Wundermittel der modemen Rechtswissenschaf~3 herabsinken würden, mit dem sich jedes beliebige haftungsrechtliche Ergebnis ebensogut vertreten ließe wie sein genaues Gegenteil. Auf jeden Fall wären wir dann doch wieder - "der Sache nach" - bei dem allgemeinen Haftungstatbestand angelangt, der vom Gesetzgeber nach der Prämisse der Wandlungsthese v. Caemmerers gerade nicht gewollt war"'.

VI. Abschließende Bewertung der "RedogmatisierungsBemühungen" in der neueren Lehre Die von der modemen Theorie betriebene "Redogmatisierung" der als Ergebnis der "Wandlungen des Deliktsrechts" geschaffenen Rechtsfortbildungsinstitute in § 823 Abs. 2 BGB erweist sich somit letzten Endes als bloßer juristischer Trick; ihre damit auf den ersten Blick so verblüffend einfach wirkende Reintegration in das gesetzliche System als schiere Illusion. Hebt man den Schleier und dringt zu dem sachlichen Kern der Theorie vor, dann zeigt sich, daß durch sie das gesetzliche System erst recht gesprengt wird. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man vorläufig ohne weiteres die Richtigkeit der Annahme unterstellt, daß dieses System durch die Entscheidung gegen einen allgemeinen Haftungstatbestand gekennzeichnet ist'5. Sehen wir den Zweck der modemen Theorie also in dem Versuch der Redogmatisierung, das heißt der Einfügung in das gesetzliche System, dann werden wir nicht umhin kommen, diesen Versuch als gescheitert anzusehen. Sehen wir etwas genauer hin, werden wir sagen müssen: Wenn die Kemaussage der Wandlungsthese v. Caemmerers richtig ist, daß die Rechtsprechung den § 823 Abs. 1 BGB "im Grunde gesprengt" ha~, dann konnte es gar nicht anders kommen. Angesichts der Einheitlichkeit des gesetzlichen Systems muß die Sprengung einer seiner tragenden Säulen (und dies ist § 823 Abs. 1 BGB zweifellos) zwangsläufig den Einsturz dieses Systems selber nach sich ziehen. Und wie sollte

" Sie könnten dann bestenfalls noch als spezialgesetzlich geregelte besondere Anwendungsfille der "Grundnorm" des § 823 Abs. 2 BGB verstanden werden, so in der Tat Rödig, S. 56 ff.; vgl. hierzu auch Assmann, S. 43. " Picker, Kommentar, S. 55. .. Siehe oben in und zu Fn. 16. " Siehe dazu ausführlich weiter unten das 3. Kap., A., E., dort insbesondere 11. .. Siehe oben IV., in W1d zu Fn. 17.

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

dann dieser "Schaden" durch eine bloße Neusystematisierung zu beheben sein? Die Frage, mit der sich die modeme Richtung der deliktsrechtlichen Theorie so ausführlich beschäftigt hat, wäre dann nur die gewesen, an welchen Absatz des § 823 BGB die Sprengladung am besten angelegt werden sollte, und man kann nicht gerade behaupten, daß dies eine Frage von besonderer Bedeutung wäre.

c. Von der modemen Verkehrspflichtenlehre zur "Restrukturierungsthese" BTÜggemeiers

Unsere Überlegungen im vorigen Abschnitt haben also ergeben, daß die "modeme Richtung" der deliktsrechtlichen Theorie in eine Sackgasse führt und auch führen muß, solange die theoretische Grundlage dieser Theorie die Wandlungsthese v. Caemmerers ist. Diese Erkenntnis hat sich in den letzten Jahren bei einigen Deliktsrechts - Theoretikern durchzusetzen begonnen, und zu einer verstärkten Suche nach neuen Wegen für die Dogmatik des Deliktsrechts geführt.

I. Restriktive (Rand-) Tendenzen Nur am Rande ist hier auf den, nicht zu unserem Untersuchungsgegenstand gehörenden, Versuch hinzuweisen, dem gesetzlichen System gewissermaßen gegen seine "generalklauselartige Ausweitung" wieder zur Geltung zu verhelfen: Für diese restriktive Tendenz steht beispielhaft die Konzeption Fraenkelsff7 , die darauf abzielt, den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB auf unmittelbare Verletzungshandlungen im Sinne der zeitlich jeweils letzten, den Eintritt eines tatbestandmäßigen Erfolges bedingenden Handlungen zu beschränken 88 • Diese Ansicht ist aber auf fast allgemeine Ablehnung gestoßen89, weil sie in ihrer "archaisierenden Radikalität (damnum corpore corpori datum!)"90 zu

'7 Vgl. hierzu Brüggemeier, ZVgIRWiss 82 (1983), 62, S. 84, Fn. 112: Fraenkels Arbeit sei "wohl als ein Versuch zu verstehen, das legislative Konzept des § 823 Abs. 1 gegen die Verfremdung durch die oben skizzierte Entwicklung zu behaupten" . .. Fraenkel, S. 26, 52 f . .. Kramer, AcP 180 (1980), 523, insbesondere S. 526; Schwitanski, S. 210 ff.; v. Bar, Gutachten, S. 1703; Schäfer, in Slaudinger, BGB, § 823, Rn. 8; Merlens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 22, Fn. 2; Sleffen, VersR 1980, 409, S. 410. .. Kramer, AcP 180 (1980), 523, S. 526.

C. Von den Verkehrspflichten zur Restrukturierung Briiggemeiers

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Ergebnissen führe, die unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung unhaltbar"91 seien.

ll. Zur Lehre von Merlens: Nebeneinander von "legislativer" und "j udizieller" Deliktsrechtskonzeption ? Wer aber, in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Ansicht, alle Lösungswege aus seinen weiteren Überlegungen ausschließt, die hinter den von der Rechtsprechung im Ergebnis erreichten Haftungsstandard zurückführen, der wird wohl - die Richtigkeit der Wandlungsthese v. Caemmerers immer vorausgesetzt - nicht umhin kommen, einer These von Mertens beizupflichten, mit der wir uns im folgenden etwas ausführlicher beschäftigen wollen.

1. Die Unterscheidung und strikte Trennung der beiden "Konzeptionen" bei Mertens Nach Mertens haben wir es im gegenwärtigen deutschen Deliktsrecht mit zwei unterschiedlichen, teilweise einander entgegengesetzten und miteinander konkurrierenden "Konzeptionen" des Deliktsrechts zu tun: Neben die legislative "Eingriffs" - Konzeption habe sich - diese überlagernd und erweiternd eine "judizielle Konzeption" des Delikts als Verkehrspflichtverletzung herausgebildet92 • Beide Konzeptionen seien strikt auseinanderzuhalten; die fehlende Einsicht in ihr Nebeneinander habe entweder zu ihrer - durch die Einordnung der Verlcehrspflichten in § 823 Abs. 1 BGB begünstigten - Vermischung, oder aber zu der einseitigen Inanspruchnahme des gesamten Deliktsrechts in seiner heutigen Ausprägung durch die eine oder die andere Konzeption geführt93 . Was Mertens gegen die Einordnung der Verkehrspflichten in § 823 Abs. 1 BGB sagt, gilt natürlich in gleicher Weise auch für eine Zuordnung zu § 823 Abs. 2 BGB, gilt überhaupt für jeden Versuch der Eingliederung in das gesetzliche System; und nur so ist die - andernfalls doch recht dunkle Bemerkung zu verstehen, die Verlcehrspflichten bildeten gewissermaßen einen

V. Bar, Gutachten, S. 1703. Mertens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 2; ders., VersR 1980,397, S. 397 ff., insbesondere S. 398. '" Mertens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 3; ders, VersR 1980, 397, S. 398. 91

In

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

"ungeschriebenen Absatz 3" des § 823 BGB 94 • Das Problem der grundsätzlichen Legitimität einer solchen Entwicklung stellt sich für Mertens offensichtlich nicht - er scheint sie, in demselben Vertrauen in die nonnative Kraft des Faktischen, dem wir schon bei v. Caemmerer und bei v. Bar begegnet waren, ganz einfach als gegebene und unerschütterlich feststehende Realität hinzunehmen. 2. Abgrenzung des Anwendungsbereichs von legislativer und judizieller Deliktsrechtskonzeption Stattdessen geht es ihm - "nachdem nun einmal die judizielle Version des Deliktsrechts als Verlcehrspflichtverletzung bereitsteht"95 - nur noch um die Frage, wie der Anwendungsbereich der beiden Konzeptionen voneinander abzugrenzen sei96 • a) Loslösung der "Verkehrspflichtenkonzeption" von dem Rechtsgüterkatalog des § 823 Abs. 1 BGB Der erste Teil der Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der gedanklichen Loslösung des judiziellen Konzepts vom gesetzlichen System. In Konsequenz dieser Prämisse entfällt rur Mertens, ebenso wie für die modeme deliktsrechtliche Theorie, die Notwendigkeit einer Beschränkung des Kreises der durch die Verlcehrspflichten geschützten Interessen auf die Rechte und Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB) Von einem grundsätzlich anderen theoretischen Ansatzpunkt als K. Huber und v. Bar aus kommt Mertens somit zu der selben Schlußfolgerung: daß aus der Verletzung von Verkehrspflichten unter bestimmten Voraussetzungen auch Ersatz reiner Vennögensschäden verlangt werden könne97 • Ganz folgerichtig bezieht Mertens in das Verkehrspflichtkonzept daher auch die Rechtsprechung zu den sogenannten Rahmenrechten98 sowie zu der

.. Mertens, AcP 178 (1978), 227, s. 231 ff., 251. Auf S. 232 fragt Mertens: "Sollen wir uns einen solchen ungeschriebenen Abs. 3 wünschen?", gibt auf diese Frage dann aber leider keine eindeutige Antwort. Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 22, Fn. 60 (= JZ 1986, 969, S. 973, Fn. 57) mutmaßt hinter der von Mertens gewählten Formulierung dagegen eine "karikierende Absicht". Dies scheint uns den Kern des Anliegens von Mertens nicht zu treffen. 9S Matens, VersR 1980, 397, S. 400. .. Mertens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 3. '" Matens, AcP 178, (1978), 227, S. 240 f . .. Matens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 9; ders., VersR 1980, 397, S. 400.

C. Von den Verkehrspflichten zur Restrulcturierung BlÜggemeiers

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(quasi) - "vertraglichen" Haftung für reine Vennögensschäden in außervertraglichen Sachverhalten mit ein99 • b) Verbleibender Anwendungsbereich für die "legislative Deliktsrechtskonzeption"? Bis hierhin ist in sich alles ganz stimmig. Nun aber drängt sich die Frage auf, ob überhaupt, und wenn ja: welcher Anwendungsbereich bei einem so weit verstandenen Verkehrspflichtkonzept für das gesetzliche Deliktsrechtssystem noch verbleiben soll. Dieser Teil der Abgrenzungsbemühungen von Merlens fällt weitaus weniger überzeugend aus als der erste, weil auch Merlens keinen zwingenden Grund für das, jedenfalls doch außergewöhnliche, Nebeneinander zweier so grundverschiedener Deliktsrechtssysteme benennt. Vor allem läßt er mit keinem Wort erkennen, daß er hier eine vom Gesetz zwingend vorgegebene äußerste Grenze der richterlichen Rechtsfortbildungsbefugnis anerkennen möchte. Ganz im Gegenteil stellt er ausdrücklich fest, an sich sei es durchaus möglich, § 823 Abs. 1 BGB "ganz von dem judiziellen Ansatz der Verkehrspflichtverletzung her zu erfassen"IOO. Für § 823 Abs. 2 BGB gilt dies natürlich ohnehin, da Verkehrspflichtverletzung und Schutzgesetzverstoß bekanntlich eine ganz analoge Struktur aufweisen; und auch die Rechtsprechung zu § 826 BGB ließe sich ohne große Mühe in das Verkehrspflichtkonzept einfügen 101. Das bedeutet aber, daß es für Merlens überhaupt keine zwingenden Gründe gibt, die gegen eine vollständige Verdrängung des "legislativen" durch das "judizielle" Deliktsrechtssystem sprechen würden. Und so ist es letzten Endes einzig und allein eine Erwägung der juristischen Opportunität, die ihn vor dieser Konsequenz zurückschrecken läßt: "Für den Bereich der unmittelbaren Eingriffe"I()2, meint Merlens nämlich, erscheine der "gefährdungsbezogene Rechtswidrigkeitsbegriff nach wie vor als angemessen", "zumal er den Anwendungsbereich des Notwehrrechts und der negatorischen Ansprüche sachgerecht abgrenzt"lm. Und selbst dieses Argument wird gleich im folgenden Absatz wieder erheblich abgeschwächt, wenn nämlich nur noch davon die Rede ist, "sachliche Gesichtspunkte, die zwingend dafür sprächen, Merlens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 10. Merlens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 4; ders., VersR 1980, 397, S. 400. 10. Vgi. in diesem Zusammenhang Merlens, AcP 178 (1978), 227, S. 238: "Der Satz, § 826 sei nicht geeignet, die Verletzung von Verkehrspflichten zu sanktionieren, ist insofern längst nicht mehr haltbar" . •02 Diesen Begriff im Sinne der Theorie von Fraenkel verstanden, vgl. Merlens, in Münch· Komm, BGB, vor § 823, Rn. 13. 103 Merlens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 4; ders., VersR 1980, 397, S. 400. 99

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I. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

bei unmittelbaren Eingriffen ... vom gefährdungsbezoenen Rechtswidrigkeitsurteil abzugehen, (seien) nicht gegeben"I04. Sehr überzeugend ist dies alles nicht. Vor allem beruht es auf bloßen, noch dazu durchaus zweifelhaften Behauptungen. Denn auch unmittelbare Eingriffe in die Rechte und Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB können ja ohne weiteres auf verkehrsrichtigern Verhalten beruhen. Auf die naheliegende Frage, warum das jetzt plötzlich für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Verhaltens ebenso irrelevant wie bei mittelbaren Eingriffen entscheidend sein soll, gibt Mertens keine Antwort. Auch der Hinweis auf die Defensivrechte hat, ganz abgesehen davon, daß nicht recht zu sehen ist, welche praktische Bedeutung die Frage negatorischer Ansprüche bei unmittelbaren Verletzungen haben soll, ohne nähere Begründung keine große Aussagekraft. Sinnvollerweise kann es hier wohl allenfalls um das Notwehrrecht gehen. Nun läßt sich ja in der Tat schwerlich bestreiten, daß auch bei verkehrsrichtigern Verhalten des "Angreifers" der "Angegriffene" nicht zur Duldung verpflichtet sein kann 105 • In weIcher Weise dieser Satz aber von präjudizieller Bedeutung für unser allgemeines Deliktsrechtsverständnis sein sollte, ist alles andere als ohne weiteres einsichtig.

3. Abschließende Bewertung der Lehre von Mertens im Hinblick auf den Versuch einer dogmatischen Bewältigung der "Wandlungen des Deliktsrechts" Alles in allem sind die von Mertens angegebenen Gründe für das Nebeneinander von gesetzlichem und richterlich "geschaffenem" Deliktsrecht nicht stichhaltig. Aber gerade dies läßt uns vermuten, daß es noch einen anderen und "eigentlichen", wenn auch unausgesprochenen Grund für diese Koexistenz geben könnte: Läßt man nämlich einen Restbestand des gesetzlichen Systems unberührt bestehen und sieht dieses nur als durch ein "bewegliches System" von Verkehrspflichten "überlagert" an, dann kann man diese "Überlagerung" möglicherweise noch als eine bloß gesetzesübersteigende und damit nach der in der Methodologie herrschenden Ansicht grundsätzlich legitime Rechtsfortbildung "praeter" legern interpretieren, während man andernfalls dem Problem der gesetzesverdrängenden Rechts"fortbildung" contra legern nicht mehr ausweichen könnte. An dieser Stelle ist aber uneingeschränkt das zu wiederho-

101 Mertens, in MünchKomm, BGB, § 823, Rn. 5; Hervorhebungen vorn Verfasser. Im übrigen ist bemerkenswert, daß sich MaIens selbst bei den unmittelharen Rechts(guts)verletzungen zu Ausnahmen von dem gesetzlichen "Rechtswidrigkeitsbegriff' veranlaßt sieht, und zwar in den Fällen der Sportverletzungen und des ärztlichen Heileingriffs. 105 Vgl. nur Jauernig, in Jauernig, BGB, § 227, Anrn. 2 d.

C. Von den Verkehrspflichten zur Restrukturierung BJÜggemeiers

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len, was weiter oben zu den "Redogmatisierungs" - Bemühungen der modernen deliktsrechtlichen Theorie gesagt worden ist: Hier wie dort handelt es sich um eine reine Illusion. Auch in Mertens "judizieller Deliktsrechtskonzeption" gibt es für das richterliche Ennessen keine objektiven Grenzen mehr; auch durch dieses Konzept wird das gesetzliche System also nicht etwa bloß ergänzt, sondern letzten Endes abgeschafft. Es bestätigt sich damit nur ein weiteres Mal, was wir bereits weiter oben festgestellt haben: Daß der Widerspruch, der v. Caemmerer und den auf seiner These aufbauenden Autoren zufolge zwischen der gesetzlichen Nonnierung des Deliktsrechts, oder genauer: ihrer traditionellen Interpretation, und dem, was die Rechtsprechung daraus gemacht hat, unüberbrückbar ist.

ill. Zur Lehre von BrUggemeier: "Restrukturierung" des BG B-Deliktsrechts? Es ist das unbestreitbare Verdienst von Brüggemeier, diese Antinomie zwischen "gesetzlichem" und "richterrechtlichem" Deliktsrecht so klar ausgesprochen zu haben wie vor ihm wohl noch niemand. Zugleich hat er - wiederum in begrüßenswerter Eindeutigkeit - seine eigene Stellung deutlich gemacht: Ausgangspunkt seiner Konzeption ist nämlich die apodiktische Feststellung, "ein zeitgemäßes Deliktsrecht" könne hinter den in der Rechtswirldichkeit heute erreichten "Stand sozialer und rechtlicher Komplexität nicht mehr zurückfallen", und daher müsse es "gegen das historisch bedingte legislative Konzept, zum Teil gegen den Wortlaut des Gesetzes," (!) "das Prinzip des geltenden Deliktsrechts" (!) "zur Geltung bringen"'06. Dies ist es, was Brüggemeier selbst als "Restrukturierung des BGB - Deliktsrechts" bezeichnet, und was sich wie ein roter Faden durch alle seine Arbeiten zur Dogmatik des Deliktsrechts zieht. 1. Die Verkehrspflichten als das "konstitutive Element" des "geltenden Deliktsrechts" Als das "konstitutive Prinzip" des "geltenden Deliktsrechts", das er in so verblüffender Direktheit dem "Wortlaut des Gesetzes" entgegenstellt, bezeichnet Brüggemeier die Verkehrspflich ten 100. Das gesamte Deliktsrecht soll sich

106 107

Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 174; ähnlich auch ders., AcP 182 (1982), 385, S. 446. Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 178; ders., Schut~litik, S. 25 (= JZ 1986,969, S. 974).

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

also gewissennaßen auf dieses eine Grundprinzip reduziert haben. Insofern könne man "auch für das deutsche Zivilrecht von einem deliktischen Generaltatbestand der Haftung für verkehrswidrige Verletzung rechtlich geschützter Interessen ausgehen"I08. In diesem Generaltatbestand ist für Brüggemeier die tatbestandliche Differenzierung des Gesetzes "aufgehoben", ohne daß er sie deshalb völlig aufgeben würde. Aber er vennag in den gesetzlichen Tatbeständen eben nur noch "bereichsspezifische Varianten dieses delikts- und zivilrechtlichen Einheits - Haftungstatbestandes" zu erkennen lO9 . 2. Abrücken Brüggemeiers vom Verschuldensgrundsatz und vom Prinzip der Unrechtshaftung

Auch für die gesetzliche Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld ist in Brüggemeiers "restrukturiertem" Deliktsrecht kein Platz mehr llo • Das alles bedeutet weit mehr als nur die Aufgabe des Verschuldensprinzips: Auch von dem Prinzip der allgemeinen Unrechtshaftung ist Brüggemeier abgerückt. Dies erhellt bereits aus dem folgenden Satz, in dem er selber seine Theorie in epigrammatischer Kürze zusammengefaßt hat: "Nicht der Schaden oder die Schuld, sondern die Pflichtwidrigkeit (Verkehrswidrigkeit) begründet die Schadensersatzpflicht"lIl. Denn hier wird ja, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, ganz generell Pflichtwidrigkeit und Verkehrswidrigkeit in eins gesetzt, obwohl doch der Maßstab für die Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht offensichtlich nur der Rechtsordnung und nicht der Verkehrsanschauung entnommen werden kann. Noch augenscheinlicher wird die Durchbrechung des Prinzips der Unrechtshaftung, wenn Brüggemeier an anderer Stelle ausfUhrt, "... daß die Rechtswidrigkeit ausnahmslos in der positiven Feststellung der Verletzung einer konkreten deliktischen VerhaItenspflicht besteht. Diese Verletzung ist ihrerseits nichts anderes als die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Mit anderen Worten: Pflichtwidrigkeit und Fahrlässigkeit sind identisch"lI2. Womöglich noch zugespitzter hat Brüggemeier seine Haltung in dem Satz zum Ausdruck gebracht:

Brüggemeier, AcP 182 (1982), 385, S. 450. I'" Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 176. 110 Gegen eine so weitgehende Konversion von Rechtswidrigkeit und Schuld und die damit einhergehende Aufgabe des Verschuldensgrundsatzes etwa Assmann, S. 48. 111 Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 176. 112 Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 26 (= JZ 1986, 969. S. 974). 100

C. Von den Verkehrspflichten zur Restrukturierung BlÜggemeiers

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"Haftung für Verkehrswidrigkeit/Fahrlässigkeit nach § 823 Abs. 1 ist objektive Unrechtshaftung" 113. 3. Ersetzung der Unrechtshaftung durch ''iudizielle Schutzpolitik" Nun mag man einwenden, Brüggemeier wolle in Wirklichkeit gar nicht die Verkehrsanschauung in Bezug nehmen. Er meine vielmehr, die Präzisierung und Formulierung der deliktischen Verhaltenspflichten sei primär die Aufgabe der Rechtsprechung ll4 • Aber auch das läuft der Sache nach auf nichts anderes als auf die Beseitigung der Unrechtshaftung hinaus; mit dem Unterschied nur, daß an ihre Stelle in Wahrheit eben nicht das Prinzip der VerkehrSWIdrigkeit, sondern "judizielle Schutzpolitik"I15 tritt.

IV. Rückschauende Betrachtung: Von der Wandlungsthese v. Caemmerers zur "Restrukturierungsthese" Brüggemeiers Wir haben in diesem Kapitel die Grundlinien der deliktsrechtstheoretischen Entwicklung von der Wandlungsthese v. Caemmerers (1960) bis zur Restrukturierungsthese Brüggemeiers (1986) nachzuzeichnen versucht. Vergleichen wir jetzt noch einmal die beiden Endpunkte dieser Entwicklung, so werden wir feststellen, daß sie viel näher beieinander liegen, als man zunächst vielleicht denken sollte. Denn Brüggemeiers Restrukturierungsthese baut, ebenso wie die "modeme" deliktsrechtliche Theorie, auf dem Fundament der Arbeiten v. Caemmerers auf ll6 ; sie hat nur die äußerste Konsequenz dessen aufgezeigt, was schon in der Wandlungsthese angelegt, dort aber noch floskel haft verdeckt worden war. Und wir wollen unumwunden eingestehen, daß dies die einzig mögliche Schlußfolgerung ist, wenn man die Prämisse der Wandlungsthese akzeptiert 111. Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 33 (= JZ 1986, 969, S. 976). Vgl. hierzu Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 180. m Siehe etwa Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 23, 25 (= JZ 1986, 969, S. 972, 974). 116 Vgl. in diesem Zusammenhang noch Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 81: Der "deliktsrechtliche Einheitsgedanke" habe noch die ersten Entwürfe zum BGB bestimmt, "um dann im weiteren Verlauf der Beratungen ersetzt zu werden durch das bekannte System von deliktischen Einzeltatbeständen - ein Ergebnis, das durch einen mühsamen Prozeß richterrechtlicher Rechtsfortbildung heute weitgehend wieder auf den Ausgangspunkt zulÜckgeführt worden ist". 117 Gewandelt hat sich im übrigen nur die Einstellung zu dem Wandiungsprozeß: Aus dem anfänglichen "fast paralysierenden Erstaunen" über das, was die Rechtsprechung aus und mit dem Gesetz gemacht hat (vgl. Assmann, S. 42), ist die rechtspolitische Entschlossenheit geworden, die Ergebnisse der Rechtsprechung im Sinne der gerechten Sozialgestaltung, des "wise social engeneering", einzusetzen. 113

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1. Kap.: Entstehungsgeschichte der modemen Richtung

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v. BTÜggemeier und die unbeantwortete Frage nach den Grenzen der Zulässigkeit richterlicher" Rechtsfortbildung"

Tut man dies, dann liegt das weitere und entscheidende Begründungsproblem "nur noch" in der Rechtfertigung einer so weitgehenden Rechtsfortbildungsbefugnis der Rechtsprechung. Dabei reicht es nicht aus, mit Brüggemeier auf den Soraya - Beschluß des BVerfG II8 zu verweisen, durch den die Ersetzung des legislatorischen durch das judizieUe Deliktsrechtskonzept der "judizieHen Schutzpolitik" "legitimiert" worden sei ll9 • Denn die autoritative, jede weitere wissenschaftliche Diskussion beendende Entscheidung einer so allgemeinen Frage geht über die Kompetenz jedes Gerichts, auch des Bundesverfassungsgerichts, hinaus. Im übrigen ist der Soraya-Beschluß aber auch inhaltlich nicht als Unterstützung der Auffassung Brüggemeiers heranzuziehen. Denn zwar begründet das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen in der Tat mit der grundsätzlichen Legitimität richterlicher Rechtsfortbildung. Das entscheidende, von Brüggemeier unterschlagene zusätzliche Argument, mit dem zugleich die nach Auffassung des BVerfG äußersten Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung markiert werden, lautet jedoch: "Der BGH und die ihm folgenden Gerichte" hätten "nicht das System der Rechtsordnung verlassen und keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht, sondern lediglich Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln weiterentwickelt"'20. Diesen Kriterien hält die Restrukturierungsthese Brüggemeiers aber schon nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht stand, beruht sie doch auf der Annahme, die Rechtsprechung habe die Fortbildung des Deliktsrechts nicht auf systemimmanente, sondern auf systemsprengende Weise zustandegebracht. Und in der Zuweisung einer (rechts)"politischen Funktion an die Rechtsprechung sieht Brüggemeier "nachgerade ein konstitutives Prinzip" des in seinem Sinne restrukturierten Deliktsrechts '21 .

BVerfG, Beschluß vom 14. 2. 1973 - 1 BvR 112/65 - BVerfGE 34, 269, S. 292 f. Brüggemeier, De\iktsrecht, Rn. 180. 120 BVerfGE 34, 269, S. 292 unter Berufung auf v. Caemmerer (!) in einem Diskussionsbeitrag, vgl. PehlelSlimpel, S. 38. 121 Brüggemeier, Schutzpolitik, S. 17 (= JZ 1986, 969, S. 972). IIA

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C. Von den Verkehrspflichten zur Restrukturierung BJÜggemeiers

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VI. Zur weiteren Vorgehensweise Das zentrale Problem der gesamten modernen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie scheint demnach die - bei allen Vertretern dieser Richtung unterstellte, aber bei keinem auch nur ansatzweise überzeugend begründete Legitimität von (nicht nur gesetzesübersteigender, sondern) gesetzesdurchbrechender Rechts"fortbildung" contra legern zu sein. Es liegt nahe, genau an dieser Stelle dann auch mit der Kritik an den genannten Lehren anzusetzen. Doch wäre auf diese Weise dem Problem noch nicht wirklich auf den Grund zu kommen, weil selbst bei dieser Kritik noch die Richtigkeit der Wandlungsthese v. Caemmerers mehr oder weniger diskussions los unterstellt wäre. Aus dieser Überlegung ergibt sich: Eine wirklich fundamentale Kritik der modernen Richtung der deliktsrechtlichen Theorie muß bei der These von den Wandlungen des Deliktsrechts ansetzen, als deren konsequente Weiterentwicklung wir die modemen Lehren im Vorigen begriffen haben. Indem wir den damit vorgegebenen Weg zu gehen versuchen, wenden wir uns im folgenden zunächst ganz v. Caemmerer zu. Wenn wir uns hier ein eigenes Bild machen wollen, wird es nötig sein, daß wir uns vorab Klarheit über den Inhalt der gesetzlichen Regelung des Deliktsrechts verschaffen, weil wir nur so einen festen Bezugspunkt für die Bewertung der richterlichen Rechtsfortbildung gewinnen können. Dabei werden wir zweckmäßiger Weise in zwei Schritten vorgehen: Zunächst soll das traditionelle Verständnis des gesetzlichen Systems unser Thema sein 122 , weil wir - mangels entgegenstehender Anhaltspunkte - davon ausgehen müssen, daß dieses mit dem Verständnis v. Caemmerers übereinstimmt. Erst danach wollen wir uns aufgrund einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der §§ 823 ff. BGB um eine eigenständig Beurteilung bemühen 123 •

'22 Dazu das 2. Kapitel. .23 Dazu das 3. Kapitel.

Zweites Kapitel:

Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen "Deliktsrechtsmodell " A. Das Deliktsrecht des BGB als "mittlerer Weg" zwischen Generalklausel und Enumeration? I. Das Schlagwort vom "Mittelweg" Es ist üblich, die Deliktsrechtssysteme der Welt rechtsvergleichend danach einzuteilen, ob sie auf einer umfassenden Generalklausei oder auf der Enumeration einzelner Deliktstatbestände beruheni. Es liegt daher nahe, wenn wir uns einen ersten Zugang zu dem "gesetzlichen Deliktsrechtsmodell" des BGB verschaffen wollen, diese Klassifizierung, die sich in den meisten Fällen als tauglich erweise, auch auf das deutsche Recht zu übertragen. Wir werden jedoch schon bald erkennen müssen, daß die §§ 823 ff. BGB sich nicht so ohne weiteres in das simple Schema einfügen lassen. Eindeutig und unbestreitbar ist nur, daß sich der Gesetzgeber jedenfalls gegen ein (reines) Generalklauselsystem entschieden hae. Auf der anderen Seite findet die im Vordringen befindliche Erkenntnis, daß die pauschale Qualifizierung des BGB-Deliktsrechts als Enumerationssystem4 den Regelungsabsichten des Gesetzgebers

I Vgl. nur ZweigertlKötz, § 17, S. 332 - 371; v. Caemmerer, Wandlungen, S. 65; Rabe{, S. 103; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 80; Schwitanski, S. 96 ff. 2 Die modemen Kodifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts folgen überwiegend dem Generalklauselprinzip, während die Rechtsordnungen des Common Law-Rechtskreises am Enumerationsprinzip festgehalten haben: Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 80; ZweigertlKötz, S. 342 - 356 für das Common Law; S. 356 - 371 für das französiche, sowie die dem französischen Voroild folgenden Rechte. J Schwitanski, S. 97; ZweigertlKötz, S. 335; v. Caemmerer, Wandlungen, S. 65; Schäfer, in Staudinger, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 13; Mertens, in MünchKomm, BGB, vor §§ 823 ff., Rn. 2. Zur rechtspolitischen Bewertung dieser Entscheidung vgl. unten Fn. 30. • Aus dem älteren Schrifttum sei hier nur hingewiesen auf Leonhard, S. 543; Crome, S. 1014; Enneccerus, S. 590. Die undifferenzierte Bezeichnung "Enumerationsprinzip" zur Kennzeichnung des Deliktsrechtssystems des BGB wird aber bis heute noch von einer Reihe von Autoren beibehalten, vgl. etwa Fikentscher, S. 655; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 81; KupischlKrüger,

A. Das BGB als "mittlerer Weg"

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ebensowenig gerecht wirds• ihren Ausdruck in der gebräuchlich gewordenen Verwendung des Schlagwortes vom "Mittelweg"6, mit dem eine Sonderstellung des deutschen gegenüber den meisten anderen Deliktsrechtssystemen der Welt allerdings nur angedeutet, in ihrer Eigenart aber nicht erfaßt werden kann'.

11. Die Ungenauigkeit der Gegenüberstellung von Generalklausel- und Enumerationsprinzip Nähere Aufklärung über das traditionelle Verständnis vom grundsätzlichen "Charakter" der legislatorischen Konzeption des geltenden Deliktsrechts ist nur zu gewinnen, wenn wir erkennen, daß die Gegenüberstellung von Enumerations- und Generalklauselsystem nicht das Ergebnis einer theoretischen Analyse der "extremen gesetzgeberischen Möglichkeiten"S darstellt, sondern nur die Endpunkte einer historischen Entwicklung bezeichnet, für die prototypisch einerseits die Frühzeit des römischen Rechts, andererseits Art. 1382 des französischen Code civil steht9•1O •

S. 12; v. Bar, Vericehrspflichten, S. 146, sowie die weiteren Nachweise bei Schwitanski, S. 98, Fn.24. , Kritisch auch Schwitanski, S. 98, Fn. 24. • Deutsch, Haftungsrecht I, S. 107; ders., JZ 1963,385; Reinhardt, JZ 1961,713; Zweigen/ Kötz, S. 335; Esser/Weyers, S. 450; Schwitanski, S. 98; Fezer, S. 492. Aus dem älteren Schrifttum vgl. etwa Oertmann, Vorbemericungen "Unerlaubte Handlungen", Anm. 2; Flad, in Planck, BGB, vor § 823, Anm. la); Knod, S. 4. 7 Die insoweit fortbestehende Unklarheit kommt z.B. in der Diskussion um eine neuere Theorie zu den Grundlagen des geltenden Haftungsrechts zum Ausdruck, die die bisherigen hierzu vertretenen Auffassungen insofern auf den Kopf stellt, als sie von der Annahme ausgeht, das Haftungsrecht des BGB fuße - ebenso wie die sogenannten Generalklauselsysteme - auf einem einheitlichen Grundprinzip, nämlich dem allgemeinen Schädigungsverbot des "neminem laedere": Picker, AcP 183 (1983), 369, S. 460 ff.; ders., JZ 1987, 1041, S. 1047 ff. Diese Auffassung ist in der Literatur überwiegend auf Ablehnung gestoßen, vgl. an dieser Stelle nur etwa Schwitanski, S. 292 ff.; StoII, Richterliche Fortbildung, S. 43, Fn. 75. Siehe zum Ganzen ausführlich noch unten 3. Kap. Allgemein zum neminem-Iaedere-Prinzip zuletzt Schiemann, JuS 1989, 345. I Esser/Weyers, S. 450; Schwitanski, S. 96. 9 Vgl. nur die Darstellungen von v. Caemmerer, Wandlungen, S. 65; Zweigert/Kötz, S. 333, die alle auf der Gegenüberstellung der genannten historischen Beispiele basieren. Auch der Gesetzgeber des BGB hat sich nicht so sehr an theoretischen Deliktsrechtsmodellen, als vielmehr an konkreten historischen Vorbildern orientiert; vgl. Mot. VE, S. 2 ff. = Schubert, Vorlagen, S. 658 ff. (zum römischen Recht), S. 5 ff. Schubert, Vorlagen, S. 661 ff. (zur "modernen Gesetzgebung", insbesondere zu Art. 1382 C.c.); Mot., S. 724 ff.; Denkschrift, S. 100. 10 Art. 1382 C.c. lautet: "Tout fait quelconque de l'homme, qui eause a autrui un dommage, oblige eelui par la faute duquel il est arrive, a le reparer." Ergänzend bestimmt Art. 1383 c.e.: "Chaeun est responsable du domrnage qu'il a eause non seulement par son fait, mais encore par sa negligenee ou par son imprudenee."

=

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2. Kap.: Das traditionelle Veßtändnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

1. Theoretische Ungenauigkeit Bei näherem Hinsehen unverkennbar ist dagegen die theoretische Schwäche dieser Gegenüberstellung. Denn wenn wir unter einer Generalklausei eine Norm verstehen, deren Tatbestand so geringe gegenständliche Beschränkungen aufweistlI, daß durch sie die Aufgabe der wertenden Tätigkeit insgesamt von dem Normsetzer auf den Normanwender übertragen wird l2 , dann wird deutlich, daß ihr begrifflich kontradiktorisches Gegenteil nicht das Enumerationsprinzip, sonderen ein bloß auf deskriptive Tatbestandsmerkmale 13 gegründetes System ist. Das Entscheidende am Enumerationsprinzip ist demgegenüber nicht das Fehlen normativer Tatbestandsmerkmale l \ sondern das Fehlen eines allgemeinen Prinzips.

2. Historische Ungenauigkeit; das Beispiel des Römischen und des Gemeinen Rechts Davon, daß beides keineswegs notwendigerweise in eins fällt, kann uns bereits ein nur flüchtiger Blick auf die Entwicklung des römischen Deliktsrechts, insbesondere ihres Kernstücks, der lex Aquilia lS , überzeugen: Nur für seine ersten Anfänge läßt sich ja ungeteilt die Behauptung aufstellen, daß es nicht nur durch das Fehlen eines allgemeinen Prinzips l6, sondern ebenso durch die deskriptiv genaue Festlegung der Haftungsvoraussetzungen charakterisiert

Deutsch, Haftungsrecht I, S. 106. Schwitanski, S. 96, 98, 111; ähnlich auch ZweigertlKötz, S. 357: Es sei selbstveßtändlich, daß ein Gesetzgeber, der sich darauf beschränke, mit feierlichem Pathos Programmsätze vom Typ der Artt. 1382 f. C.c. III formulieren, die eigentliche Aufgabe vollen Umfangs der Rechtsprechung überlasse. Vgl. als weiteren Veßuch der Umschreibung des Begriffs der Generalklausel noch Teubner, Standards und Direktiven, der neben die Delegationsfunktion (S. 106 ff.) noch weitere Funktionen stellt, nämlich die Rezeptionsfunktion (S. 65 ff.) und die Transformationsfunktion (S. 99 ff.). I' Vgl. Münchener Rechts - Lexikon, Stichwort "Deskriptives Tatbestandsmerkmal": "Deskriptives Tatbestandsmerkmal ist ein Tatbestandsmerkmal, dessen Inhalt ohne weiteres durch sinnliche Wahrnehmung bestimmt werden kann. Das d.T. steht im Gegensatz zum normativen Tatbestandmerkmal, dessen Inhalt nur mit Hilfe einer Wertung III ermitteln ist..... 14 Zum Begriff des normativen Tatbestandsmerkmals s.o. 1. Kap., Fn. 4. ., Vgl. für einen allgemeinen Überblick Kaser, S. 228 ff., 232 ff.; HausmaningerlSelb, S. 330 ff.; WinJscheidJKipp, S. 959 ff. I. Die wichtigsten Deliktstatbestände des römischen Rechts waren Sachentziehung (furtum), Sachbeschädigung (damnum iniuria datwn, geregelt in der lex Aquilia aus dem Jahre 286 v. Chr.) und Personenverletzung (iniuria): Kaser, S. 232 ff.; HausmaningerlSelb, S. 330 ff. 11

12

A. Das BGB als "mittlerer Weg"

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war, weil nicht nur die Haftung auf vorsätzliche Delikte beschränke', sondern zugleich auch die Art und Weise der Erfolgsherbeiführung im einzelnen beschrieben war, ohne daß ein Wertungsspielraum für die Berücksichtigung des Einzelfalls bestanden hättei'. Jedoch schon in der römischen Zeit selber und mehr noch im Verlaufe der Weiterentwicklung der alten Klageformen im Gemeinen Recht - wurden die deliktischen Tatbestände durch mehrere wertausfüllungsbedürftige Elemente angereichert. Zur knappen Skizzierung dieser Entwicklung sei auf die verschiedentlichen Erweiterungen der Haftung ex lege Aquilia hingewiesen: Einerseits auf die Einbeziehung der Fälle bloßer Fahrlässigkeit (culpa)19; andererseits auf die fallweise wertende Ausweitung der Haftung auf andere als die in der lex Aquilia benannten Arten der Erfolgsherbeiführung20 • Dieser Entwicklung, welche in der Interpretation der lex Aquilia als "Erfolgsverursachungsverbot" durch die späte gemeinrechtliche Lehre kulminierte21 , entsprach jedoch keineswegs eine vergleichbare Durchbrechung oder auch nur Aufweichung des Enumerationsprinzips. Weder das spätere Römische noch das Gemeine Recht haben sich zu irgendeiner Zeit von ihrem Ausgangspunkt fortentwickelt, daß sie keinen allgemeinen Begriff der unerlaubten Handlung, sondern nur einzelne deliktische Tatbestände anerkannten 22 •

3. Terminologische Klärung Wir müssen somit feststellen, daß schon zu der richtigen Erfassung der genannten historischen Beispiele die schlichte, undifferenzierte Gegenüberstellung von Enumerationsprinzip und Generalklauselsystem ungenügend ist, da Enumerationssysteme - wie gesehen - nicht notwendig tatbestand!ich eng und "deskriptiv" sein müssen. Die Existenz wertausfüllungsbedürftiger Tatbestandselemente ist mit dem Enumerationsprinzip durchaus vereinbar. Ja, man geht 11 Furtum und iniuria setzen schon begrifflich Vorsatz im Sinne des wissentlichen Eingriffs in die fremde Rechtssphäre voraus: Koser, S. 232 und 235. Aber auch die Haftung aus der lex Aquilia war in altrömischer Zeit auf Vorsatz (dolus) beschränkt: Koser, S. 234. .. Auch die lex Aquilia wurde ursprünglich nicht als Erfolgsdelikt verstanden; die Auslegung der im ersten und dritten Kapitel der lex Aquilia verwendeten Begriffe urere, frangere und rumpere im Sinne exakt festgelegter Handlungsweisen (Fraenke/, S. 72) folgte ganz dem herrschenden "interpretativen Formalismus" (v. Lübtow, S. 139) der Zeit. '9 Dies geschah bereits in der vorklassischen Zeit: Koser, S. 234. '" Siehe dazu nur Fraenkel, S. 72 ff. mwN. sowie Schulz-SchaeJfer, S. 7. " Dazu Fraenkel, S. 80 ff. mwN. 22 Das ist offensichtlich völlig unbestritten; vgl. nur Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn.. 80; ZweigertKötz, S. 333 f; Fezer, S. 469; ausführlich Keppmann, S.46 ff. Vgl. außerdem noch v. Liszt, S. 5 f.; v. Savigny, Obligationenrecht I, S. 293; Dernburg, Pandekten, S. 432; ders., Schuldverhältnisse, S. 610; Schulz-SchaeJfer, S. 6; sowie Mot. VE, S. 4 = Schubert, Vorlagen, S. 660 mwN.

4 Börgers

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

wohl mit der Behauptung nicht zu weit, daß uns mit der Umdeutung der Iex Aquilia in ein Erfolgsverursachungsverbot durch die späte gemeinrechtliche Doktrin ein Beispiel für die Integration eines generalklauselartig weiten Elements in ein weiterhin enumeratives Deliktsrechtssystem begegnet ist. Die "extremen gesetzgeberischen Möglichk:eiten"23 sind daher terminologisch genauer durch die Entgegensetzung von Enumeration deskriptiv festgelegter Tatbestände einerseits und allgemeiner deliktsrechtlicher GeneralkIausel andererseits zu umschreiben. Das ermöglicht es uns, genauer zu bezeichnen, was die geradezu revolutionäre24 Fortschrittlichkeit der großen, aus dem Geist der Aufklärung geborenen NaturrechtsgesetzbüchefS des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts 26 gerade in ihrer deliktsrechtlichen Regelung ausmacht: Nicht der Übergang zur GeneralkIausel, sondern die Schaffung eines allgemeinen Prinzips und die Ableitung der Lösung aller besonderen Deliktsfälle aus diesem einen Prinzip27.

111. Schlußfolgerung: Die begrenzte Aussagekraft des Schlagwortes vom "Mittelweg" Wir kehren nun zu dem Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Die begriffliche Klärung hatte ja den Sinn gehabt, den Weg für eine inhaltliche Präzisierung der Einordnung des legislatorischen Konzepts des BGB - Deliktsrechts als "Mittelweg" durch die herrschende Meinung28 frei zu machen. Wir können nunmehr feststellen, daß diese Qualifizierung nur dann unmittelbar einleuchtend ist, wenn sie ausschließlich als Kennzeichnung der Stellung des BGB zu der Alternative "deskriptive oder generalklauselartig weite Tatbestandsmerkmale" verstanden wird. Denn in der Tat ist es insoweit evident, daß sich der Gesetzgeber weder für das "altrömische", noch für das entgegengesetzte Extrem der "Naturrechtsgesetze", sondern ftir eine Kombination deskriptiver mit "gattungsmäßig" (wenn auch nicht generalklauselartig) weiten Tatbe-

s.o. Fn. 8. " Zu Recht spricht WieQcker. S. 324, von Akten "revolutionärer Umgestaltung". 2J Ausdruck von WieQcker, S. 322 ff . .. Das sind, in der Reihenfolge ihrer Entstehung, hauptsächlich §§ I, 8 und 10 des 6. Titels des I. Buches des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794; Art. 1382 des französischen Code civil von 1804; § 1295 des österreichischen ABGB von 1811. Zu ihnen, sowie weiteren Beispielen aus dem 18 .. 20. Jahrhundert vgl. ZweigerllKötz, S. 357 ff.; WieQcker, S. 322 ff.; Feur, S. 470 ff.; Keppnumn, S. 25 ff. Dort auch zu der Herkunft dieser Idee aus dem Naturrecht. Z7 So auch JenIsch, S. 7, 25; Schulz·Schaeffer, S. 27. ,. Siehe oben in und zu Fn. 6. 2J

A. Das BGB als "mittlerer Weg"

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standsmerkmalen entschieden hat29 • Zu der Kontroverse um die rechtspolitischen Vor- und Nachteile dieser Entscheidung JO soll hier nicht Stellung genommen werden; jedenfalls handelt es sich um eine verbindliche "politische"31 Entscheidung des Gesetzgebers, die nicht zur Disposition des jeweiligen Rechtsanwenders steht. Kaum weniger evident ist umgekehrt aber auch, daß die Aussagekraft der Bezeichnung "Mittelweg" nicht weiter reicht, als bis hierher beschrieben. Vor allem verdeckt diese Vokabel den Standpunkt der herrschenden Meinung hinsichtlich der Haltung des Gesetzgebers zu der anderen Alternative: "Tatbestandsenumeration oder allgemeines Prinzip" mehr, als daß sie ihn verdeutlicht. Denn daß es in dieser Frage Zwischenlösungen wie die zwischen deskriptiven und generalklauselartigen Merkmalen nicht gibt, folgt bereits unmittelbar aus dem Begriff der Enumeration selber: Soll diese Bezeichnung überhaupt einen Sinn haben, dann darf sie nur auf ein solches Deliktsrechtssystem angewendet werden, das mehrere, voneinander unabhängige Haftungsgründe in sich vereinigt, dem mit anderen Worten ein einheitliches Grundprinzip abgeht. Daraus folgt: Zwischen einem Enumerationssystem und einem auf der Grundlage eines allgemeinen Prinzips stehenden Deliktsrechtssystem gibt es keinen Komprorniß; vielmehr ist der Gesetzgeber unausweichlich vor die Wahl gestellt, sich entweder für das eine oder für das andere Prinzip zu entscheiden32.

,. Deutsch, Haftungsrecht I, S. 107, spricht von einem "kombinierten System, wonach auf drei gattungsmäßig ausgestaltete Haftungsgriinde eine Vielzahl besonderer Haftungsfälle folgt". Sachlich stimmt das mit der weiter verbreiteten Unterscheidung von Grund- und Sondertatbeständen des BGB-Deliktsrechts vollkommen überein. Vgl. zu den verschiedenen Bezeichnungen ein und derselben Sache Fezer, S. 492, Fn. 6 m.w.N. JO Vgl. hierzu nur einerseits (zustimmend) Canaris, FS lArenz H, S. 35 Cf. ("vernünftige Mitte"), andererseits Fikentscher, S. 655, der das Deliktsrechtssystem des BGB als "Denaturierung" des "idealen" Systems bezeichnet. Für eine mittlere Position in diesem Streit siehe Rabel, S. 119: Einerseits sei "die gegenwärtige deutsche Regelung recht verwickelt"; andererseits sei es "von unvericennbarem Vorteil, daß die Gesetzgebung die deutsche Rechtsanwendung zu einer sehr gen auen Analyse und Differenzierung der einzelnen Fälle des Unrechts zwang". Vgl. aber auch die polemische Kritik an dem Generalklauselprinzip als "teils dunkel, teils ungenügend" de Page, Nr. 901 ("Obscurite d'une part, insuffisance de l'autre"). Vgl. schließlich noch die zusammenfassende Darstellung der rechtspolitischen Diskussion mit zahlreichen weiteren Nachweisen bei lArenz, Schuld recht H, S. 591, Fn 3. )I Zu der von Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, übernommenen Unterscheidung von "politischen" und "wissenschaftlichen" ("technischen") Teilen des Gesetzes vgl. näher unten S. 86 ff. 32 Es ist daher in sich widersprüchlich, wenn beispielsweise F ezer, S. 476, davon spricht, der Gesetzgeber des BGB habe sich für einen Kompromiß entschieden, der darin bestanden haben soll, "das Prinzip der deliktischen Generalklausel" (gemeint ist hier: der allgemeinen Generalklausei) "anhand der Normierung einzelner Aufgreifkriterien(?) zu verwiriclichen".

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enumerationssystem? Zur Entstehungsgeschichte des traditionellen Verständnisses des gesetzlichen Systems Welchem Vorbild der Gesetzgeber des BGB insoweit gefolgt ist: dem des Römischen sowie des Gemeinen, oder dem des französischen Rechts, ist somit die verbleibende, zugleich aber auch die entscheidende Frage, zu deren Beantwortung das Schlagwort vom "Mittelweg" buchstäblich nichts beiträgt.

I. Der erste Eindruck: Entscheidung des BGB für ein Enumerationssystem; Anhaltspunkte für Zweifel an dieser Sichtweise Der berühmte "unbefangene Blick in das Gesetz" legt es allerdings nahe, die Schlußfolgerung als zwingend anzusehen, das BGB habe sich für das Enumerationssystem und damit für die Kontinuität zum Gemeinen Recht und gegen den historischen Bruch entschieden. Denn augenscheinlich enthält das Gesetz in den §§ 823 ff. BGB ja nur verschiedene Einzeltatbestände, an keiner Stelle aber die Formulierung eines allgemeinen haftungsrechtIichen Prinzips. Rufen wir uns jedoch in Erinnerung, daß gerade die Überwindung des Enumerationssystems zu Recht als die eigentliche historische Leistung der naturrechtIichen Haftungslehren angesehen wird 33 , dann wird sofort einsichtig, warum sich bald nach Inkrafttreten des BGB gewichtige Stimmen zu Wort meldeten, die sich mit einer solchen oberflächlich-positivistischen Sichtweise nicht zufrieden geben wollten34 • Das gemeinsame Anliegen aller dieser Autoren war es das Beste aus den naturrechtlichen Kodifikationen des Deliktsrechts: die ZUJÜckführung der Lösung aller außervertraglichen Haftungsfälle auf ein einziges Grundprinzip, in das BGB "hinüberzuretten". Die Berechtigung dieses Anliegens wird selbst von der Denkschrift zum BGB noch ausdrücklich bestätigt: "Nach dem Vorbilde der meisten neueren Gesetzgebungen ... erkennt der Entwurf nicht, wie das Römische Recht, eine Schadensersatzpflicht nur für be-

" Siehe oben A. 11. 3., insbesondere Fn. 24. ,. V. Liszt, S. 27; Dernburg, Schuldverhältnisse II!2, S. 610 ff.; Eru:knumn, S. 907 ff.

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enwnerationssystem?

S3

stimmte unerlaubte Handlungen an, sondern er regelt die Voraussetzungen der Haftung aus solchen Handlungen auf allgemeiner Grundlage,,3s.

ll. Der (dogmatisch verunglückte) Versuch v. Liszts

und Endemanns, das allgemeine Haftungsprinzip in das BGB hinüberzuretten

Als dogmatischen Weg zur Verwirklichung dieses an sich begrüßenswerten Ziels wählte vor allem v. Liszt unglücklicherweise eine extrem extensive Auslegung des Begriffs des "sonstigen Rechts" in § 823 Abs. 1 BGB. V. Uszt lehrte nämlich, unter dieses Tatbestandsmerkmal könne "jedes rechtlich geschützte Interesse" subsumiert werden36 • Die hinter dieser Auslegung stehende Absicht ist klar: Wenn es richtig ist, daß § 823 Abs. 1 BGB die Verletzung jedes rechtlich geschützten Interesses erfaßt, dann enthält die Vorschrift nichts anderes als den allgemeinen Grundsatz der Haftung für jede widerrechtliche Handlung. Dann hatte v. Liszt Recht behalten mit seiner Behauptung, das BGB habe den allgemeinen Grundsatz des Art. 1382 C.c., nach dem zum Schadensersatz verpflichtet ist, wer widerrechtlich aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit einem anderen Schaden zufügt, in § 823 Abs. 1 BGB unverändert übernommen37 • Aber gerade, wenn man sich diese Konsequenz deutlich vergegenwärtigt, muß sich die Frage aufdrängen, welchen Sinn bei einer solchen Auslegung des § 823 Abs. 1 BGB die beiden anderen deliktischen Grundtatbestände (§§ 823 Abs. 2 und 826 BGB) noch haben sollen. Sind dann nicht z.B. Schutzgesetzverletzungen immer schon notwendig auch durch § 823 Abs. 1 BGB erfaßt? Auf diese Fragen wußten weder v. Liszt noch Endemann eine de lege lata befriedigende Antwort38 • Insbesondere die von v. Liszt empfohlene Gewaltlösung: Streichung der §§ 823 Abs. 2, 826 BGB3\ konnte nur als

Denkschrift, S. 100. V. üszt, S. 26; ähnlich Dernburg, Schuldverhältnisse II/2: "Rechte jeder Art"; etwas anders Endemann, S. 907, der durch § 823 Abs. I BGB die "befriedete Rechtssphäre" des Einzelnen als geschützt ansah, diese verstanden als" Inbegriff der einem Rechtssubjekte zivilrechtlich zustehenden und ihm bereits erworbenen Rechtsgüter" (S. 9(8). Darunter rechnete Endemann S. 908, Fn. 7 und 8) im Gegensatz zu v. üszt nicht die obligatorischen Rechte. 37 V. üszt, S. 7. Auch Dernburg, Schuldverhältnisse 11/2, S. 615 Fn. 16 und S. 617 stellte fest, der Umfang der nach § 823 Abs. 1 BGB gegen Verletzung geschützten Rechte sei kawn minder weit als nach französischem Recht. Ebenso ging Endemann, S. 907 von der Geltung einer allgemeinen Haftungsgrundlage im BGB aus. 31 Ausgesprochen dunkel blieb z.B. der Hinweis von Endemann, S. 907, der Gesetzgeber habe mit den deliktischen Tatbeständen nur "gewisse Gruppierungen als Anhaltspunkt" aufstellen wollen . .. V. Liszt, S. 7. 3'

J6

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

rechtspolitischer Vorschlag verstanden werden. Denn daß diese "Lösung" mit den Absichten des Gesetzgebers schlechterdings nicht zu vereinbaren war, ergab sich unzweifelhaft bereits aus dem folgenden, ebenfalls in der Denkschrift enthaltenen Satz: "Andererseits begnügt ... sich (der Entwurf) aber auch nicht nach dem Vorgange des Französischen Rechtes mit der Aufstellung des unbestimmten Grundsatzes, daß, wer widerrechtlich aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit einem Anderen Schaden zufligt, diesem zum Ersatze des Schadens verpflichtet ist. Vielmehr begrenzt er die Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht schärfer, um dadurch eine feste gesetzliche Grundlage flir die richterliche Entscheidung zu schaffen"40.

ill. Entstehung des traditionellen Verständnisses des gesetzlichen Deliktsrechtssystems aus der Auseinandersetzung mit der Lehre v. Liszts Es ist daher nicht verwunderlich, daß der sich alsbald gegen v. Liszt und die ihm folgenden Schriftsteller regende Widerstand, einseitig auf die zuletzt zitierte Bemerkung in der Denkschrift sich stützend, seinen Ausgangspunkt in der Feststellung nahm, das Gesetz habe sich mit der bloßen Aufstellung eines haftungsrechtlichen Grundprinzips nicht begnügen wollen 41 • So unangreifbar diese Grundannahme, für sich gesehen, ist, so weittragend sind auf der anderen Seite aber auch die Schlußfolgerungen, die aus ihr abgeleitet wurden. Der sich hieran entzündende Streir'2 ist, obwohl er formal nur um die Auslegung des Begriffs des sonstigen Rechts in § 823 Abs. 1 BGB geführt wurde, für das gesamte Verständnis der Entwicklung der Deliktsrechts - Dogmatik von großer Bedeutung. Denn aus ihm ging das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell hervor, das bis heute ganz überwiegend unkritisch mit den tatsächlichen Regelungsabsichten des Gesetzgebers identifiziert wird. "Weitgehend bekannt" ist also in Wahrheit nicht das gesetzliche Regelungsmodell als solches4l, sondern allenfalls das - später nie mehr ernsthaft in Frage gestellte - Resultat einer lang zurückliegenden dogmatischen Diskussion. Wir können uns im folgenden darauf beschränken, die Entwicklung der herrschenden Meinung zu den gesetzlichen Grundlagen des geltenden Deliktsrechts in groben Umrissen und nur in dem Maße zu skizzieren, wie

.. Denkschrift, S. 100. 4' Vgl. nur Oertmann, VorbemeIlcungen Unerlaubte Handlungen, Anm. 2; Cosack, S. 589. Darin sahen die genannten Autoren zugleich auch schon den "Minelweg" des BGB. 42 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Schwitanski, S. 125 ff. 4) So aber Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 14.

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enumerationssystem?

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dies für unsere Zwecke, die Beantwortung der eingangs dieses Abschnitts gestellten Frage, erforderlich ist. 1. Die Deliktstatbestände als "vertyptes Unrecht"? Weit weniger selbstverständlich als die Feststellung des gesetzgeberischen Zieles einer schärferen Begrenzung der Haftung schon durch das Gesetz selber war bereits die weitergehende Annahme, der Gesetzgeber habe dieses Ziel auf dem Wege einer abschließenden gesetzlichen Normierung der Fälle widerrechtlichen Handelns zu erreichen versucht'. Denn jedenfalls theoretisch sind ja durchaus noch andere Techniken de: Haftungsbegrenzung denkbar, z.B. die Einschränkung des Kreises der als Ersatzgläubiger in Betracht kommenden Personen4~ . a) Übernahme der Unrechtslehre Windscheids in die traditionelle Interpretation des Gesetzes Daß sich dessen ungeachtet die Vorstellung, dem Gesetzgeber sei es (ausschließlich) um eine "Vertypung des Unrechts"46 gegangen, durchsetzen konnte, ohne daß dagegen in der Folgezeit noch in nennenswertem Umfange Einwände erhoben worden wären, ist wohl nur mit der Übereinstimmung dieser Interpretation des Gesetzes mit der damals vorherrschenden gemeinrechtlichen Doktrin zu erklären. Diese Lehre, die vor allem von einem der maßgeblichen Mitglieder der Ersten Kommission: Bernhard Windscheid, vertreten worden war, kannte nur zwei Arten widerrechtlicher Handlungen: Solche, durch die das subjektive Recht eines anderen verletzt wurde, und solche, die gegen ein gesetzliches Verbot verstießen47 .

.. Heck, S. 449; Zilelmann, AcP 99 (1906), I, S. 2, Fn. I; Schulz·Schaeffer, S. 45 (mit der bemerkenswerten Einschränkung, daß in der Normierung "eine{r) besonderen Form der Widerrechtlichkeit" nicht die einzige und nicht einmal die hauptsächliche Funktion des § 823 Abs. I BGB gesehen wird; vielmehr sei der Begriff des subjektiven Rechts "in den allgemeinen Deliktstatbestand des BGB in erster Linie zu dem Zwecke eingeführt, um die Haftung des Delinquenten für die schädlichen Folgen seiner widerrechtlichen Handlungen zu beschränlcen", Schulz·Schae/fer, S. 44; (Hervorhebung vom Verfasser). Aus der neueren Literatur vgl. etwa Larenz, Schuld recht 11, S. 591 und S. 607; v. Caemmerer, Wandlungen, S. 66; v. Bar, Gutachten, S. 1694. ., Dies ist der Kern der neueren Lehre von Picker. Siehe dazu schon oben S. 56, Fn. 139, sowie ausführlich weiter unten im 3. Kap . .. Diesen Ausdruck velWendet Larenz, Schuldrecht 11, § 71 I b, S. 591. .7 WindscheidlKipp, S. 519 ff.; vgl. dazu auch Fraenlcel, S. 99, sowie JenIsch, S. 15.

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

b) Übernahme der Lehre vom subjektiven Recht in die traditionelle Interpretation des Gesetzes Diese erste, widerstandslos vollbrachte Übernahme einer gemeinrechtlichen Lehre in die Auslegung der §§ 823 ff. BGB zog weitere Parallelisierungen zum Gemeinen Recht fast zwangsläufig nach sich. Dies betraf in erster Linie die Auslegung des Begriffs des sonstigen Rechts in § 823 Abs. 1 BGB. Dieser Begriff wurde nun - wiederum nahezu diskussionslos - mit dem Begriff des subjektiven Rechts, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Zentralbegriff der pandektenrechtlichen Wissenschaft aufgestiegen W~8, identifiziert49 • Die Feststellung dieses "zweifellos schwierigsten Begriff(s) der allgemeinen Rechtslehre"so galt von nun an als notwendige Voraussetzung dafür, "die Grundlage für die Auslegung des Begriffs 'Recht eines anderen'" zu gewinnen51 • Und nur daraus - nicht aber aus dem rein äußerlichen Umstand der Aneinanderreihung der Tatbestände im Gesetz - ist letzten Endes zu erklären, daß § 823 Abs. 1 BGB lange Zeit so unangefochten als die deliktische Grundnonn des BGB angesehen werden konnte. aa) Ausschluß der immateriellen Rechtsgüter aus dem Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB Die erste Konsequenz dieser Sichtweise war der Ausschluß der sogenannten immateriellen Rechtsgüter (z.B. der Ehre) aus dem Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGß52• Denn die Rechtsgüter (einschließlich der vier im Gesetz genannten Lebensgüter: Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit) wurden nach der damals vorherrschenden Lehres3 nicht zu den subjektiven Rechten gezählt,

.. Dazu Feur, S. 215 ff. mit einer Übersicht über die in3 19. Jahrhundert zum subjektiven Recht entwickelten Theorien: Willenstheorie, Interessentheorie, Imperativentheorie, Kombinationstheorie. Diese zentrale Bedeutung war dem Begriff des subjektiven Rechts weder in3 römischen Recht noch in der frühen gemeinrechtlichen Literatur (bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts) zugestanden worden, Schulz-Schaejfer, S. 83 f. 49 Vgl. nur Schulz-Schaejfer, S. 45. '" Schulz-Schaejfer, S. 45. " Schulz-Schaejfer, S. 81. " P/anck, § 823, Anm. I1I, I f.; Enneccerus, S. 624; Cosack, S. 676; Oertnumn, § 823, Anm. 1; dagegen etwa Schulz·Schaejfer, S. 114 ff., insb. S. 116. " Trotz aller Anfechtungen, der die Willenstheorie - insbesondere durch [hering - ausgesetzt war, behielt sie doch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Oberhand; siehe nur Schulz Schaeffer, S. 104 m.w.N. Daran änderte auch das lnkrafttreten des BGB nichts, vgl. Endemann, S. 59 ff.; Enneccerus, S. 155 ff.; Cosack, S. 56 ff.

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enwnerationssystem?

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da im Hinblick auf sie von einer "Willensmacht" des Trägers dieser Güter nicht die Rede sein konnteS4 • Zu einer weiteren Verengung des traditionellen Verständnisses vom gesetzlichen Deliktsrechtskonzept kam es durch die Übernahme der gemeinrechtlichen Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Rechten ss • Der Begriff des sonstigen Rechts wurde jetzt nur noch auf das (absolute) Eigentumsrecht bezogenS6 , und daraus die Schlußfolgerung abgeleitet, die (relativen) Forderungsrechte seien durch § 823 Abs. 1 BGB nicht geschützt, und zwar weder gegen Verletzungshandlungen seitens des Schuldnerss7 noch eines Dritten S8 •

bb) Übernahme der gemeinrechtlichen Lehre vom Erfolgsverursachungsverbot Der Rückgriff auf gemeinrechtliche Lehren setzte sich ganz folgerichtig auch in der Auslegung des Begriffs der Verletzung fort. Als Verletzung eines Rechts im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB wurde in Übernahme der gemein-

,.. Die Subswntion wurde dadurch tatsächlich oft zu einem "Kinderspiel'·. die Argwnentation ging dabei allerdings auch allzu häufig an den eigentlichen Sachproblemen vorbei. Vgl. als Beispiel die erschreckend oberflächliche Begründung des RG (RGZ 51, 369 und 60, 4) zur Versagung des zivilrechtlichen Ehrenschutzes durch § 823 Abs. I BGB: "Die Ehre ist nicht ein Privatrecht im eigentlichen Sinne, sondern ein Rechtsgut. Unter den in Abs. I aufgeführten Gütern ist sie aber nicht genannt." Bezeichnend für die Denkungsart der Zeit wohl auch Oertmann, BGB, § 823 BGB, Anrn. I, dem schon der Hinweis darauf, daß "der Beweis" (!), daß jene Lebensgüter wahre Rechte ... seien", "dessen Möglichkeit" man zugeben müsse, "bis heute noch von Niemandem geführt" worden sei, zu der überraschenden Schlußfolgerung genügte: "Damit dürfte ... erwiesen (!) sein, daß jedenfalls im Sinn des BGB nicht alle Lebensgüter Rechte sind, sondern nur die in Abs. I besonders angeführten im Falle der Verletzung den Rechten gleich behandelt werden. Nach [hering, S. 340, stellt dagegen die Vemeinung der Möglichkeit von "subjektiven Rechten an der eigenen Person" .. , "eine der ärgsten Verinungen der modemen Jurisprudenz" dar. " Vgl. den kritischen Überblick über Inhalt und Entstehung dieser Lehre im Gemeinen Recht DubiscluJr, Absolute und relative Rechte . .. Wobei in den Begriff des absoluten Rechtes wie selbstverständlich auch das Merkmal des generellen Schutzes hineininterpretiert wurde, obwohl sich dies, wie Schulz-ScluJeffer, S. 117 gezeigt hat, keineswegs zwingend aus dem Begriff des absoluten Rechts ableiten läßt. " Dies wurde unmittelbar aus dem - gemeinrechtlichen -Begriff des Deliktes abgeleitet, aus dem hervorgehe, daß "die Verletzung eines obligatorischen Rechtes als solche" niemals deliktischer Natur sei, vgl. Oertmann, § 823, Anrn. 3 d a. " Hierzu wiederum bemerkenswert Oer/mann, § 823, Anrn. 3 d b, für den es bereits ein Argwnent darzustellen scheint, daß "die Verletzbarkeit des Forderungsrechts durch Dritte ... sowohl dem Römischen Recht wie der bisherigen Praxis" widerspreche. hn übrigen müsse "entschieden bestritten werden, das (sie) ein Dritter überhaupt imstande sei, das lediglich zwischen Schuldner und Gläubiger bestehende Rechtsband der Obligation zu verletzen".

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

rechtlichen Lehre vom Erfolgsverursachungsverbof9 die Herbeiführung (Verursachung) eines dem Recht nicht entsprechenden Zustandes definiert60 • 2. Das Deliktsrecht des BGB als gestraffte und vereinfachte Kodifizierung des Gemeinen Rechts? Wir wollen unseren kurzen Streifzug durch die Entstehungsgeschichte des traditionellen Verständnisses vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell an dieser Stelle bereits beenden. Denn das im Hinblick auf unsere Fragestellung eigentlich Bedeutsame an dieser Geschichte haben wir gesehen: Wir haben gesehen, wie Schritt für Schritt eine gemeinrechtliche Lehre nach der anderen dem Gesetz übergestülpt wurde, bis am Ende in § 823 Abs. 1 BGB nur noch "die Vorschriften der lex Aquilia mit ihren Erweiterungen, ... dann die Fälle der iniuria und metus, ... ferner das furtum in seinen verschiedenen Anwendungen" erkannt wurden61 . Und überall dort, wo die Suche nach solchen Übereinstimmungen fortgesetzt wurde, wurde man rasch fÜßdit 2• Nur die Vorschrift des § 823 Abs. 2 BGB ließ sich auf diese Weise nicht "erklären", und entsprechend stiefmütterlich wurde dieser "Fremdkörper" im gesetzlichen System lange Zeit auch behandelt. Dies genügt, um auf die Frage, die den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu diesem Abschnitt darstellte, eine eindeutige Antwort zu geben: Nach der herkömmlichen Auffassung hat sich im Gesetzgebungsverfahren letzten Endes "die individuellem und nicht sozialem Denken zugeneigte gemeinrechtliche Wissenschaft ... nahezu vollständig durchzusetzen vermocht"63, und stimmt die vom Gesetzgeber beabsichtigte Regelung des Deliktsrechts in allen wesentlichen Grundzügen mit dem Gemeinen Recht überein 64 • Die traditionelle Lehre erkennt im Deliktsrecht des BGB

Vgl. zur gemeinrechtlichen HerkwUt dieser Lehre kritisch Fraenke/, S. 88 ff. V. Tuhr, S. 457; Zitelmann, AcP 99 (1906), I, S. 4; lArenz, Schuldrecht H, S. ~7. 6' Knod, S. 35; Leonhard, S. 543. fi2 Die aClio doli, um nur dieses Beispiel zu nennen, war in § 826 BGB aufgegangen, Knod, Tatbestände, S. 44; Schulz-Schaeffer, S. 14; Windscheid/Kipp, S. 962. Weitere Beispiele ergeben sich aus der vergleichenden Übersicht bei Windscheid/Kipp, S. 959 ff. ., V. Bar, Gutachten, S. 1699 . .. Nur selten ist dies allerdings so klar und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht worden wie bei Leonhard, S. 453: "Unser Gesetz folgt mithin durchaus dem römischen Recht"; ebenso deutlich auch JenIsch, S. 19 und 25; vgl. außerdem noch v. Bar, Gutachten, S. 1712 ..... daß das Deliktsrecht des BGB im Grunde nicht viel mehr enthält als das, was seit den Tagen der lex Aquilia zum gesicherten Bestand des Haftungsrechts gehört." Verbreiteter ist es dagegen, diesen Sachverhalt hinter der Vokabel vom "mittleren Weg" des BGB zu verbergen. Vgl. als Beispiel für diese Tendenz Enneccerus, S. 919: Das BGB "hat auf die Aufstellung eines einheitlichen allgemeinen Deliktsbegriffs verzichtet. Auf der anderen Seite ist es auch nicht dem römischen Recht gefolgt". '9 60

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enwnerationssystem?

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also gewissermaßen nur eine wesentlich vereinfachte und übersichtlicher gemachte Kodifikation der entsprechenden Regeln des Gemeinen Rechts. Damit steht außer Zweifel, daß nach diesem Verständnis sich der Gesetzgeber für ein (reines) Enumerationssystem entschieden hat6s • Zusammenfassend läßt sich das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell umschreiben als die Vorstellung von einem Enumerationssystem, in dem (normativ - weite) Gattungs- und (deskriptiv - enge) Sondertatbestände nebeneinander stehen.

IV. Lückenhaftigkeit des gesetzlichen Systems oder bloß seiner traditionellen Interpretation? Aber hatten damit die Kritiker v. Liszts in ihrer an sich begründeten Zurückweisung von dessen überdehnter Auslegung des § 823 Abs. 1 BGB nicht über ihr Ziel hinausgeschossen? Statt sich mit dem Nachweis zu begnügen, daß es falsch gewesen war, das allgemeine Haftungsprinzip gewaltsam in den § 823 Abs. 1 BGB hineinzulesen, waren sie von einem Extrem ins andere gefallen und hatten geglaubt, von diesem Prinzip insgesamt Abschied nehmen zu müssen. Gab es wirklich genügend Gründe dafür, dem BGB solche Rückschrittlichkeit66 zu unterstellen, obwohl sich selbst noch die Denkschrift67 gerade in dieser Frage ausdrücklich zu der fortschrittlicheren (französischrechtlichen) Lösung bekannt hatte68 ?

., vgl. nur Leonhard. S. 543. Auch nachdem sich diese Sichtweise der gesetzlichen Konzeption bereits durchgesetzt hatte, wurde zwar gelegentlich noch die Auffassung vertreten, auch dem BGB liege ein einheitlicher Deliktsbegriff zugrunde: Keppmann, S. 126; Böhme, S. 6 m.w.N.; der hierüber geführte Streit (für die Gegenauffassung vgl. Jacob, S. 6) war aber insofern irrelevant, als auch die Vertreter dieser Auffassung nicht so weit gingen, auf einen unter den Tatbeständen der § 823 ff. BGB gleichsam nur "verborgenen" allgemeinen Deliktstatbestand schließen zu wollen: Keppmann, S. 126. Dem traditionellen Verständnis folgen auch die neueren Auffassungen, die den Unterschied des deutschen zum französischen Deliktsrecht nur noch darin sehen wollen, daß "die eine 'große'durch drei 'kleine' Generalklauseln ersetzt worden" sei: Canaris, FS Larenz 11, 27, S. 35; im Ergebnis ebenso Schwilanski, S. 306. Zwar vertritt Schwitanski, S. 220 ff. eine von ihm sog. "deliktsrechtliche Einheitstheorie" , verläßt damit aber ebensowenig den Boden der h.M., da er (S. 221) hervorhebt, aus dieser "Einheitsforrnel" sollten keine konkreten Rechtsfolgen abgeleitet werden; ihr Ziel sei vielmehr ausschließlich "die möglichst einheitliche Erfassung und Darlegung des Zwecks aller Deliktsansprüche. " 66 Das ist hier durchaus nicht nur neutral in einern historischen Sinne, sondern auch wertend gemeint. Die Feststellung von Jentsch, S. 25 daß allein ein allgemeines Grundprinzip der "gegebene Ausgangspunkt" [... ) "für jede Regelung des Rechts der unerlaubten Handlung" sei, erscheint uns auch heute noch richtig. li1 Denkschrift, S. 100. .. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schulz-Schaeffer, S. 27, nach dem die "Naturrechtsgesetzooeher ... in gedanklicher Beziehung als Vorgänger" des BGB anzusehen sind.

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2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

1. Zweifelhaftigkeit der traditionellen Interpretation Anlaß zu Zweifeln an dem so verstandenen "gesetzlichen" Deliktsrecht ergab sich sehr bald, als sich nämlich zeigte, wie lückenhaft dieses System war, wie wenig mit ihm insbesondere das Zentralproblern jeden modemen Deliktsrechts: die Bestimmung der Grenze zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten, zu bewältigen war. Dieser Mißstand trat in aUen drei Grundtatbeständen zutage: a) Die Schwierigkeit der Erfassung reiner Gefährdungshandlungen in § 823 Abs. 1 BGB § 823 Abs. 1 BGB erfaßt seinem Wortlaut nach scheinbar nur Verletzungshandlungen, keine bloßen Gefährdungen. Diese angesichts der überragenden Bedeutung der Gefährdungsdelikte in jeder industrialisierten Gesellschaft völlig unerträgliche Konsequenz wurde zwar durch die Übernahme der Lehre vom Erfolgsverursachungsverbot69 vermieden. Aber diese Lehre führt nicht nur in die Ungereimtheit, daß sie das in § 823 Abs. 1 BGB ausdrücklich enthaltene Merkmal der Widerrechtlichkeit für "im Grunde" überflüssig erklären70 und in ein (im Gesetz aber gerade nicht enthaltenes) Merkmal des Fehlens von Ausschlußgründen uminterpretieren mußte7l , sie ist auch theoretisch längst mehr als fragwürdig geworden72 • Wir sollten heute nicht mehr darüber diskutieren müssen, daß die Rechtswidrigkeit einer Gefährdungshandlung schlichtweg unabhängig davon sein muß, ob sich die geschaffene Gefahr später irgendwann einmal realisiert oder nicht. Das rechtliche Verbot kann sich in diesen Fällen nur auf die Gefährdung als solche, und nicht auf die - für sich genommen rechtlich neutrale - Verursachung eines Schadens beziehen.

Siehe oben B. III. 1. b. bb. So tatsächlich Zilelmann, AcP 99 (1906), I, S. 2, FD. 1. " Vgl. nur Zilelmann a.a.O. (vorige Fn.). 11 Siehe dazu nur Fraenkel, S. 15 ff.

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B. Das Deliktsrecht des BGB als Enwnerationssystem?

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b) Die Schwierigkeit einer dogmatisch befriedigenden Erklärung des § 823 Abs. 2 BGB Liest man § 823 Abs. 2 BGB unter der Prämisse, daß darin "vertyptes Unrecht'073 enthalten sei, dann erscheint die in dieser Vorschrift gemachte Beschränkung in doppelter Hinsicht geradezu als willkürlich: Warum sollte nicht allgemein die Verletzung jedes Gesetzes, sondern nur ausgerechnet der Verstoß gegen ein Schutzgesetz rechtswidrig sein? Und welchen Sinn soll es machen, den Verstoß gegen nicht - gesetzliche (etwa richterrechtliche) Normen von vornherein auszuschließen? c) Die Schwierigkeit einer dogmatisch befriedigenden Erklärung des § 826 BGB Schließlich erscheint vom Standpunkt des traditionellen Verständnisses aus auch die in § 826 BGB enthaltene Beschränkung auf vorsätzliche Schadenszufügungen als unangemessen, denn es ist ja nicht von vornherein auszuschließen, daß im Einzelfall auch eine fahrlässige Schädigung einmal als sittenwidrig zu beurteilen sein könnte.

2. Die angebliche Lückenhaftigkeit des gesetzlichen Systems als Voraussetzung für die "Wandlungen des Deliktsrechts"

So berechtigt demnach die bald artikulierte Unzufriedenheit mit dem Zustand des deutschen Deliktsrechts war, so verwunderlich ist auf der anderen Seite aber auch, mit welcher Ausschließlichkeit sie sich von Anfang an gegen das Gesetz, und nicht gegen seine traditionelle Interpretation richtete. Folgerichtig wurde die Überwindung der Lücken im "gesetzlichen" System nicht im Wege einer grundsätzlichen Korrektur der Auslegung des Gesetzes, sondern, da die richtige Auslegung als in den Grundzügen feststehend angesehen wurde, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung versucht. Das aus diesem Wandlungsprozeß des Deliktsrechts hervorgegangene Konglomerat verschieden-

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Siehe oben B. lll. 1.

62

2. Kap.: Das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtsmodell

er "Figuren"74 wurde zwar zusammenfassend als "judizielle Konzeption" des Deliktsrechts bezeichnet und dem gesetzlichen Modell gegenübergesteUCS, aber ein in sich geschlossenes System ergab sich daraus noch nichC6 • Da aber andererseits auch die als Hauptresultat der "Wandlungen des Deliktsrechts" angesehenen drei beschränkten Generalklauseln: allgemeine Verkehrs(sicherungs)pflichten, Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, sowie allgemeines Persönlichkeitsrecht, sich nicht bruchlos in das gesetzliche System einfügen ließen77 , entstand jene äußerst unbefriedigende Situation, von deren Auswirkungen auf die deliktsrechtliche Theorie bereits im vorigen Kapitel die Rede gewesen ist.

V. Schlußfolgerung; weiteres Vorgehen Damit stehen wir jetzt vor der Aufgabe, uns von der traditionellen Interpretation des gesetzlichen Systems noch einmal freizumachen und völlig unbefangen, einzig und allein auf der Grundlage der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, an den Versuch einer eigenen Rekonstruktion zu gehen. Als Ausgangspunkt wählen wir die beiden schon weiter oben zitierten Sätze der Denkschrift: "Nach dem Vorbilde der meisten neueren Gesetzgebungen '" erkennt der Entwurf nicht, wie das Römische Recht, eine Schadensersatzpflicht nur für bestimmte unerlaubte Handlungen an, sondern er regelt die Voraussetzungen

,. Vgl. Picker, AcP 183 (1983). 369. S. 461. der mit Blick auf die verschiedenen Haftungsgrundlagen "zwischen" Vertrag und Delikt von einem "amorphe(n) Rechtskomplex ...• der eben statt von Prinzipien von einem Konglomerat von 'Figuren' beherrscht wird". spricht. Diese Kritik ist aber auch auf andere der hier besprochenen Rechtsentwicklungen zu erstrecken. " Siehe oben 1. Kap .• C. 1I. und III. 16 An diesem Befund ändert sich auch dann nichts (dieser wird vielmehr nur mit anderen Worten bestätigt), wenn man mit Mertens feststellt. das Deliktsrecht des BGB befinde sich "längst auf dem Wege zu einem beweglichen System. in das eine Vielzahl vom Gesetz nicht genannter Kriterien und Abwägungsmomente eingeh(e)" (Mertens. AcP 178 (1978). 227. S. 235; ähnlich auch Hauß. ZVersWiss 1967. 151. S. 165; Assmann. S. 47). Und es ist mehr als nur beschönigend. wenn Mertens. AcP 178 (1978). 227. S. 239 konzediert. dieses "sich andeutende bewegliche System des Deliktsrechts" enthalte "sicher noch Unausgewogenheiten. Brüche und Wertungswidersprüche". 17 Siehe oben 1. Kap .• A. III.

B. Das Deliktsrecht des BGB als Enumerationssystem?

63

der Haftung aus solchen Handlungen auf allgemeiner Grundlage. Andererseits begnügt ... sich (der Entwurf) aber auch nicht nach dem Vorgange des Französischen Rechtes mit der Aufstellung des unbestimmten Grundsatzes, daß, wer widerrechtlich aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit einem Anderen Schaden zufügt, diesem zum Ersatze des Schadens verpflichtet ist. Vielmehr begrenzt er die Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht schärfer, um dadurch eine feste gesetzliche Grundlage für die richterliche Entscheidung zu schaffen"".

Wenn es gelingt, diese beiden - so widersplÜchlich erscheinenden - Sätze in Übereinstimmung miteinander zu bringen, dann haben wir möglicherweise den Schlüssel für ein besseres Verständnis der hinter der Regelung der §§ 823 Cf. BGB stehenden gesetzgeberischen Absicht gefunden. Dabei muß allerdings von Anfang an klar sein, daß der naheliegende Gedanke an einen bloßen Kompromiß zwischen (allgemeinem) Deliktsprinzip und Enumerationssystem wie wir gesehen haben79 - ausscheidet.

" Denk.schrift, S. 100.

,. Siehe oben A. 11. und III.

Drittes Kapitel:

Das "gesetzliche Deliktsrechtsmodell" Versuch einer Neubewertung im Lichte der Entstehungsgeschichte A. Vorbemerkung: Zur Bedeutung der Unterscheidung von politischem und technischem Element des Rechts für die Auslegung des BGB Bevor wir im folgenden anhand einer eigenen Auswertung der Entstehungsgeschichte den Versuch einer Neubestimmung des gesetzlichen Deliktsrechtssystems unternehmen woUen, erscheint es ratsam, daß wir uns zunächst Klarheit über eine Besonderheit des BGB verschaffen, die diese "verspätete" Kodifikation gegenüber den rund einhundert Jahre älteren naturrechtlichen Gesetzbüchern auszeichnet. Gemeint ist die paradox anmutende Tatsache, daß das BGB "aus dem Geist der historischen Rechtsschule'" entstanden und damit durch eine Lehre bestimmt ist, die grundsätzlich gegen die (naturrechtliche) Kodifikationsidee gerichtet war. Wir stützen uns hier ganz auf eine umfangreiche Studie von Jakobi'", und beschränken uns auf die sinngemäße Wiedergabe ihrer wichtigsten Ergebnisse.

I. Haltung der Historischen Rechtsschule zur Kodifikationsfrage Jakobs hat eingehend dargelegt, daß die Ablehnung der Kodifikation durch den Begründer der Historischen Rechtsschule, v. Savigny, entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht allein auf der rein pragmatischen Überlegung, die Zeit sei hierfür noch nicht reif, und auch nicht allein auf der politisch konser-

I

2

Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 24. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung.

A. Unterscheidung von politischem und technischem Element

65

vativen, "fortschrittsfeindlichen" Grundeinstellung v. Savignys, sondern auf der rein wissenschaftlich begründeten Annahme beruhte, dem Gesetzgeber fehle für die Erfüllung einer solchen Aufgabe der "Beruf', das heißt die Befugnis3 • J. Die Volksgeistlehre v. Savignys

Diese Haltung v. Savignys zur Kodifikationsfrage ergab sich zwingend aus der von ihm entwickelten "geschichtliche(n) Ansicht von der Entstehung des Rechts"\ der sogenannten "Volksgeistlehre"s. Die von v. Savigny selbst stammende Bezeichnung legt es allerdings nahe, in der gesamten Lehre nichts weiter als eine romantische Spekulation zu erblicken, und tatsächlich entspricht dies - spätestens seit den Polemiken von Kantorowicz gegen die Historische Rechtsschule6 - einer gängigen Einschätzung, die aber, wie wiederum Jakobs überzeugend dargelegt hat, nur als Fehlinterpretation zu bezeichnen ist. Denn in Wirklichkeit hat die Volksgeistlehre ihr Fundament allein in der genauen Beobachtung der Entstehung des Rechts als einer historischen RealitäC. (Und in der Tat wird keine empirische Untersuchung, sie sei historisch, vergleichend, soziologisch oder wie auch immer angelegt, die Ansicht der Gesetzespositivisten erhärten, das Recht entstehe ausschließlich oder auch nur in erster Linie durch Gesetzgebung. Niemals und nirgendwo hat dieser Satz in Wahrheit gegolten.) Der positivistischen Ideologie stellte v. Savigny nunmehr aufgrund seiner Beobachtungen die These entgegen, Recht entstehe in jeder menschlichen Gemeinschaft, und zwar gewissermaßen von selbst, nämlich durch "innere stillwirkende Kräfte"8. Dabei ging es v. Savigny keineswegs um irgendwelche spekulativen Erwägungen über Natur und Herkunft dieser Kräfte, und insbesondere ist ihre Bezeichnung als "Volksgeist", auf die er, dem romantischen Geist der Zeit folgend, verfiel9 , nicht im Sinne einer solchen Spekulation zu verstehen. Die Vorgänge, durch die das Recht im einzelnen hervorgebracht

3 Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 45 ff., insb. S. 55. • Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 25. , Zur VoIksgeistiehre Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 25 ff.; zur notwendigen Verbindung zwischen dieser Lehre und der Ablehnung der Kodiftkationsidee: S. 45 ff. 6 Vgl. insbesondere Kantorowicz, Savigny. 7 Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 25 ff., insbesondere S. 27. • v. Savigny, Beruf, S. 79. • Vgl. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 30: "Nicht die Sache also, wohl allerdings die Sprache, in der sie zum Ausdruck gelangt, hat mit Romantik zu tun."

5 Börgers

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

66

wird, hielt v. Savigny für "unsichtbar"IO, und er glaubte nicht an die Möglichkeit, sie durch irgendeine wissenschaftlich exakte Aussage aufzuhellen 11. 2. Die Lehre von den "Organen" des Volksgeistes Demgemäß können alle weiteren Bestandteile der Historischen Rechtsschule, soweit sie auf dieser Rechtsquellenlehre aufbauen, nur so verstanden werden, daß durch sie die ganz andere Frage nach den Formen beantwortet werden soll, in denen das Recht, wenn es entstanden ist, nach außen in Erscheinung tritt und dadurch sichtbar wird. Hierzu lehrte v. Savigny, dies geschehe zum einen unmittelbar, nämlich in der Gestalt von Gewohnheiten, zum anderen mittelbar durch das Wirken bestimmter "Organe" des "Volksgeistes" , die sich zu diesem Zwecke herausbildeten, sobald ein bestimmter Grad der Entwicklung und Spezialisierung des Rechts erreicht sei. Als diese Organe benannte v. Savigny einerseits die Gesetzgebung, andererseits die Rechtswissenschaft '2 • Das damit aufgeworfene Abgrenzungsproblem hat v. Savigny durch seine Unterscheidung zwischen politischem und technischem Element des Rechts zu lösen versucht 13 • Die Rechtswissenschaft sollte ganz auf die Ausbildung des technischen Elements, die Gesetzgebung ebenso ausschließlich auf die Ausbildung des politischen Elements beschränkt bleiben. Anders gewendet: Die alleinige Aufgabe der Wissenschaft erkannte v. Savigny darin, der im Bewußtsein des Volkes nur unklar und undifferenziert vorhandenen Rechtsüberzeugung einen exakten, "technischen" Ausdruck zu geben, und so erst aus dem allgemeinen Empfmden eine auf den Einzelfall anwendbare präzise Rechtsregel zu formen. Dagegen sollte die Tätigkeit des Gesetzgebers auf den Versuch '4 beschränkt bleiben, durch aktives, "politisches" Handeln Einfluß auf die Entwicklung des Rechts zu nehmen, und zwar im Sinne der "ergänzende(n) Nachhülfe" und "Unterstützung" des "allmäligen Fortschreitens" der Rechtsüberzeugung des Volkes '5 , bzw. auch der "Abänderung des geltenden

v. Savigny, System I, S. 14. Vgl. v. Savigny, Beruf, S. 76: "Wie diese eigenthümlichen Funktionen der Völker, wodurch sie selbst erst zu Individuen werden, entstanden sind, diese Frage ist auf geschichtlichem Wege nicht zu beantworten." Vgl. auch Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 28 f., Fn. 46: "Die Antwort auf diese Frage gehört der Spekulation an, und wenn Savigny nur den Volksgeist als Quelle des Rechts bezeichnet, so läßt er sich eben auf diese Frage nicht ein." 12 Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 33 ff. l) Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 35 ff.. insbesondere S. 41 ff. '4 Zu dem "experimentellen Charakter" der Gesetzgebung nach der Rechtsquellenlehre v. Savignys vgl. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 37 f. " v. Savigny, System I, S. 40. 10 11

A. UnterscheidWlg von politischem Wld technischem Element

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Rechts"'6. Nun liegt es ja auf der Hand, daß der Gesetzgeber durch Schaffung einer allgemeinen Kodifikation im Stile der "Naturrechtsgesetzbücher" , die ja schon ihrem Begriffe nach das gesamte Recht, also auch dessen "technisches Element" umfaßt, weit über den ihm von v. Savigny zugebilligten Kompetenzrahmen hinausgeht; und genau hieraus ergibt sich auch zwingend die Haltung v. Savignys zur Kodiftkationsfrage.

ll. Fortwirken der Grundansicht der Historischen Rechtsschule von der Entstehung des Rechts im BGB Es kommt im Hinblick auf die Fragestellung dieses Abschnitts nicht auf ein Bekenntnis für oder gegen die "geschichtliche Ansicht von der Entstehung des Rechts" bzw. die Konsequenzen dieser Ansicht hinsichtlich der Frage der Berechtigung einer umfassenden gesetzlichen Kodifizierung des geltenden Rechts an. Uns geht es ja nur um die Bedeutung der Historischen Rechtsschule, und insbesondere der von ihr eingeführten Unterscheidung von politischem und technischem Element des Rechts, für die Auslegung des BGB. Dafür aber ist es allein notwendig festzustellen, ob und in welcher Weise die Anschauungen v. Savignys bei der Abfassung des BGB noch eine Rolle gespielt haben. Wir verdanken wiederum der Untersuchung von Jakobs die Erkenntnis, daß weder die Pandektenwissenschaft insgesamt, noch die ihr zuzurechnenden Verfasser des BGB zu irgend einem Zeitpunkt die theoretische Grundlage der Historischen Rechtsschule, eben die Rechtsquellenlehre v. Savignys, verlassen haben '7 ; daß, mit anderen Worten, "diese Kodifikation, indem sie von der Pandektenwissenschaft gemacht wurde, von dem Geist der historischen Rechtsschule geprägt ist"'8. Nur waren die Gesetzesverfasser schließlich aus politischen (deutsch-nationalen) Gründen '9 nicht mehr bereit, die an sich einzig

16 v. Savigny, Beruf, S. 80. Vgl. zu dem -zumindest scheinbaren - Widerspruch zwischen den beiden zitierten Fonnulierungen v. Savignys: Jakobs, Wissenschaft Wld GesetzgebWlg, S. 37. 17 Zur Entwicklung der Pandektenwissenschaft von v. Savigny bis Windscheid - insbesondere im Hinblick auf die Kodifikationsfrage - vgl. Jakobs, Wissenschaft Wld Gesetzgebung, S. 57 ff. Das Resultat der Untersuchungen von Jakobs ist, daß die Pandektenwissenschaft in der Zeit der SchaffWlg des BGB "in zweifacher Hinsicht von der reinen Lehre Savignys abgerückt (war), ohne die geschichtliche Ansicht von der Entstehung des Rechts als der Grundlage von allem weiteren aufzugeben" (Wissenschaft Wld GesetzgebWlg, S. 58). 11 Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 56. 19 Zu diesen Gründen, Wld vor allem zu ihrem politischen, d.h. vor allem nationalistischen HintergrWld, vgl. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 76 ff. Dort (S. 79 ff.) insbesondere zu der BedeutWlg des Hauptwerkes von Beseler: "Volksrecht und luristenrecht" (1843) in diesem Zusammenhang. Auf der Grundlage seines Wleingeschränkten Bekenntnisses zur historischen Rechtsschule gelangt Jakobs (S. 86 ff.) zu einer vernichtenden Kritik dieser "nationalistische(n)

68

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

mögliche Konsequenz aus dieser Lehre, den Widerstand gegen die Kodifikationsidee, aufrechtzuerhalten. Aus diesem inneren Widerspruch in den Auffassungen der Gesetzesverfasser, den vor allem Windscheid als führender Vertreter der Pandektenwissenschaft seiner Zeit sehr bewußt empfunden und zum Ausdruck gebracht hallO, konnte nur ein in sich widersprüchliches Gesetzbuch entstehen. Dies ist die bei jeder Auslegung zu berücksichtigende Besonderheit des BGB; am besten ist sie wohl mit einem Paradoxon, mit der Bezeichnung des BGB als ein "wissenschaftliches Gesetzbuch", wiederzugeben.

III. Konsequenzen für die Auslegung des BG B Es wäre nun äußerst müßig, darauf lange herumzureiten, daß es so etwas wie ein "wissenschaftliches Gesetzbuch" nach der Historischen Rechtsschule an sich gar nicht geben kann, weil für sie Wissenschaft und Gesetz, technisches und politisches Element des Rechts, einander ausschließende Gegensätze sind. Entscheidend ist vielmehr das Selbstverständnis der Gesetzesverfasser und die Prägung, die ihr Werk aufgrund dessen erhalten hat. Uns kommt es deshalb einzig und allein auf die Feststellung an, daß das BGB nur zum geringeren Teil als politische Tat, in der Hauptsache dagegen als wissenschaftliche Leistung gemeint ise l • Wir sollten nicht anstehen, das Gesetz genau so zu verstehen, wie es gemeint ist. Für die Auslegung des BGB folgt aus dem Gesagten die Notwendigkeit einer Trennung von "politischen" und "wissenschaftlichen" Teilen anhand des in den Materialien zum Ausdruck gebrachten wirklichen Willens des Gesetzgebers. Denn eine ("höhere") "gesetzliche", der wissenschaftlichen Diskussion unüberschreitbare Schranken setzende Autorität ist dem Gesetz allenfalls insoweit zuzubilligen, als es diese Autorität für sich in Anspruch nimmt; wo dagegen der Gesetzgeber nur mit der Autorität des Juristen spricht, kann seine Äußerung im Grundsatz auch nicht anders zu behandeln sein als jede andere wissenschaftliche Äußerung auch, und es hieße

Kampfschrift" (S. 91): "In der Sache ist die politisch ... beglÜndete Forderung nach der Kodifikation durch Bes{!ler nur in das Gewand der Wissenschaftlichkeit gekleidet worden" (S. 92). "So sehen wir in Beselers 'Volks recht und luristenrecht' die wissenschaftliche Einsicht der historischen Schule mit der nationalen Politik sich vermengen" (S. 93). lJ) Zur Position Windscheids, der sich zu Beseler in gleicher Weise wie zu v. Savigny hingezogen fühlte, siehe Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 101 ff., insb. S. 118. " Vgl. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung, S. 120 ff., insbesondere S. 160: " ... so daß auch die Kodifikation in der Hauptsache der Wissenschaft und nicht der Gesetzgebung angehört."

B. Der Vorentwurf

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ja sogar am Willen des Gesetzgebers vorbeizugehen, wollte man solche Teile des Gesetzes als der wissenschaftlichen Infragestellung enthoben betrachten22 •

B. Der Vorentwurf Es ist überraschend, wie wenig Beachtung in den bisherigen Darstellungen der Entstehungsgeschichte der §§ 823 ff. BGB 23 der von dem Redaktor v. Kübel erstellte Teilentwurf "Unerlaubte Handlungen" aus dem Vorentwurf zum BGB24 gefunden hat23 • Dabei geht aus den Protokollen der Beratungen der ersten Kommission klar hervor, daß dieser Entwurf die Grundlage der dort geführten deliktsrechtlichen Diskussion darstellte26 • Man kann daher ohne Übertreibung sagen, daß die sorgfältige Analyse des Vorentwurfs, einschließlich der von v. Kübel in den "Motiven" gegebenen ausführlichen Begründung, für das Verständnis des ersten und damit auch des zweiten Entwurfs, letzten Endes aber auch des geltenden Rechts unerläßlich istZ7 •

Z2 So auch Jakobs, Wissenschaft Wld Gesetzgebung, S. 116: "Demgemäß ist das Prinzip der Gesetzesauslegung ... in Hinsicht auf alles, was zum Technischen gehört, ... die Unmaßgeblichkeit dieses Willens [i.e. des Willens des Gesetzgebers], die Freiheit." Zur "strikte(n) BindWlg der Auslegung an den Willen des Gesetzgebers" "in Hinsicht auf die politischen Bestandteile eines Gesetzbuches oder Gesetzes" (Jakobs, S. 116) dagegen siehe weiter unten S. 162 ff. 2J Vgl. Schwi/anski, S. 98 ff.; Fraenkel, S. 97 ff.; Schmiedei, S. 12 ff.; Fezer, S. 473 ff.; Westhoff, S. 97 ff.; Schulz-SchaeJfer, S. 39 ff.; Spillmann, S. 13 ff.; Jentsch, S. 15 ff.; Keppmann, S. 99. Vgl. allgemein zur Entstehungsgeschichte des 8GB auch Schubert, in Schubert, Materialien, S. 27 ff. ;oe Er findet sich als Teilentwurf Nr. 15 des Obligationenrechts, dort unter Abschnitt I, Titel 2 111; mit BegJÜndung ("Motive(n)") abgedruckt bei Schubert, Vorlagen, S. 653 ff. Z< In den älteren Darstellungen findet der Vorentwurf überwiegend gar keine Erwähnung, vgl. Schulz-Schaeffer, Spillmann, Jentsch, Schmiedei und Keppmann jeweils aaO. (oben Fn. 23). Aber auch von den hier genannten neueren Abhandlungen setzen sich nur Fraenkel und Schwitanski, jeweils aaO. (oben Fn. 23), ausführlich mit dem Vorentwurf auseinander. ,. Prot. I, S. 962 = Jakobs/Schubert, BeratWlg, S. 872. r7 Vgl. allgemein zur Rolle v. Kübels bei der Entstehung des BGB Schubert, in Schubert, Materialien, 27, S. 43 ff., der zu dem Ergebnis kommt, daß "Kübels EinfhJß auf das heutige Rechtsleben noch nicht erloschen" sei.

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

I. Die Entscheidung des Vorentwurfes für ein allgemeines Haftungsprinzip; tatbestandliehe Voraussetzungen der Grundnorm Dabei fällt die Feststellung noch leicht, der Entwurf habe sich in bewußter (rechts)politisch motivierter Abkehr vom Römischen und Gemeinen Recht28 dafür ausgesprochen, das aus einer Vielzahl besonderer Delikte bestehende bisherige Enumerationssystem abzuschaffen und stattdessen eine allgemeine Haftungsnorm an die Spitze des gesamten Deliktsrechts zu stellen 29 • Um sich hiervon zu überzeugen, genügt es schon, sich den Wortlaut des § lAbs. 1 TeilentwurflO vor Augen zu halten, der folgendermaßen lautet: "Hat Jemand durch eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung aus Absicht oder aus Fahrlässigkeit einem Anderen Schaden zugefügt, so ist er diesem zum Schadensersatz verpflichtet."

So unbezweifelbar richtig also diese Feststellung ist, so unzureichend ist sie auf der anderen Seite aber auch, wenn durch sie der Regelungsgehalt des Vorentwurfs vollständig beschrieben werden soll. Denn sie läßt die entscheidende Frage unbeantwortet, von welchen inhaltlichen Haftungsvoraussetzungen § 1 Abs. I TE den Eintritt der Schadensersatzpflicht abhängig macht. Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal den Wortlaut der Vorschrift, so stellen wir fest, daß es danach offensichtlich zwei Voraussetzungen sind, die erfüllt sein müssen, damit die Schadensersatzpflicht eintreten kann: Zum einen: Es muß Jemand (der Anspruchsgegner) einem Anderen (dem Anspruchsteller) durch eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung einen Schaden zugefügt haben J1 • Zum anderen: Der In-An spruch-Genommene muß dabei schuldhaft, nämlich aus Absicht oder aus Fahrlässigkeit gehandelt haben J2 •

21 Fraenke/, S. 98; Schwitanski, S. 99. Dies ist auch in den Motiven wiederholt ausgesprochen, besonders deutlich in Mol. VE, S. 4 =Schuberl, Vorlagen, S. 660, wo von dem "beschränkten Standpunkt des römischen Rechts" die Rede ist. '" Fraenkel, S. 98; Schwilanski, S. 99. In den Motiven ist von dem in § I Abs. I TE ausgesprochenen "allgemeinen Rechtsgebot" die Rede, Mol. VE, S. I = Schuberl, Vorlagen, S. 657. '" Im folgenden "TE" abgekürzt. 11 Hierfür trägt der Anspruchsteller die Beweislast, argumentum e contrario § 1 Abs. 2 TE. )2 Hierfür trägt der Anspruchsgegner die Beweislast, § 1 Abs. 2 TE.

B. Der Vorentwurf

71

11. Die Bedeutung des Merkmals der Widerrechtlichkeit in § 1 Abs. 1 TE Im folgenden wollen wir jetzt die erste dieser beiden Voraussetzungen betrachten und uns dabei gleich dem offensichtlichen Kernproblem der Auslegung zuwenden, nämlich der Bestimmung der Widerrechtlichkeit der Handlung.

1. Unergiebigkeit des Wortlauts und der Motive v. Kübels Es erweist sich jedoch schnell, daß ftir diese Bestimmung nicht nur der Wortlaut des Vorentwurfs selber, sondern auch die ihn begründenden Motive unergiebig sind. Denn wenn wir nicht den Fehler begehen wollen, den erst zu definierenden Begriff durch sich selber zu "definieren", dann kann keine der in den Motiven anzutreffenden Umschreibungen der Widerrechtlichkeit auch nur als der Versuch einer Begriffsbestimmung zu werten sein. Ob nun, statt von einer "widerrechtlichen", von einer Handlung die Rede ist, "durch welche Jemand widerrechtlich, unbefugter Weise in eine fremde Rechtssphäre verletzend eingreiff3; oder von einer Handlung, durch welche die berechtigten Interessen eines anderen verletzt werden34 ; oder von einer Handlung, "zu welcher dem Handelnden Recht und Befugnis gefehlt haben"3s: In allen diesen Fällen ist das grundlegende Haftungsprinzip nur in synonymen Ausdrücken wiederholt, nicht aber inhaltlich präzisiert. Es bleibt also bei der Feststellung, daß die Motive zum Vorentwurf auch bei äußerster interpretatorischer Anstrengung über die Bedeutung des zentralen Begriffs der Widerrechtlichkeit in der Grundnorm des § 1 TE keinen Aufschluß geben.

2. Kodifizierung der Unrechtslehre des Gemeinen Rechts durch § 1 Abs. 1 TE? Daraus ist nun gefolgert worden, es bestehe keinerlei Grund für die Annahme, v. Kübel habe bei der Abfassung des Entwurfes von dem im Gemeinen Recht gebräuchlichen Verständnis des Begriffs der Widerrechtlichkeit abwei)) Mot. VE, S. 1 = Schuhen, Vorlagen, S. 657. Hervomebung vom Verfasser. ,. Mot. VE, S. 12 = Schubert, Vorlagen, S. 668. Hervomebung vom Verfasser. " Mot. VE, S. 13 = Schubert, Vorlagen, S. 669. Hervomebung vom Verfasser.

72

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

chen wollen36 • Da dem Gemeinen Recht als widerrechtlich nur die gesetzesund die rechtsverletzenden Handlungen bekannt gewesen seien37 , sei davon auszugehen, daß nach dem Vorentwurf die Haftung "niemals schon im Hinblick auf die Herbeiführung eines Schadens eintrete3l ; vielmehr werde durch den Entwurf eine Haftung lediglich für gesetzes- und für rechts(-guts)verletzendes Handeln statuierf9 , Diese Auffassung findet eine starke Stütze in der folgenden Deutung des Vorentwurfes, die in den Protokollen der Beratungen der Ersten Kommission festgehalten ist: "Wird in dem Entwurfe die Widerrechtlichkeit der Handlung flir nöthig erachtet, so muß die letztere, damit die Verpflichtung zum Schadensersatz begründet werde, entweder durch eine Rechtsnorm verboten oder es muß durch die Handlung ein von dem Handelnden nach den Vorschriften der Rechtsordnung zu respektierendes Recht des Beschädigten verletzt und hieraus der Schaden erwachsen sein. Demzufolge kann Haftung nicht eintreten, wenn die Handlung weder verboten noch durch dieselbe ein unter absolutem Schutze stehendes oder ein solches Rechtsgut verletzt ist, in welches der Handelnde in Gemäßheit eines obligatorischen Verhältnisses nicht eingreifen darf'«),

a) Die wissenschaftliche Ansicht v. Kübels Nun ist sicherlich nicht zu bezweifeln, daß v. Kübel, wäre ihm die Frage vorgelegt worden, was unter einer widerrechtlichen Handlung zu verstehen sei, als ein im Gemeinen Recht geschulter Jurist gar nicht anders hätte antworten können, als es die Erste Kommission getan hat. Aber darum geht es ja gar nicht, wenn wir nach den politischen, das heißt nach den für die Auslegung als verbindlich gedachten Elementen des Entwurfes fragen. Entscheidend ist dann vielmehr nur, welche rechtspolitischen Regelungsabsichten v. Kübel als potentieller Normsetzer verfolgt hat. Damit ist nach zwei wohl von einander zu trennenden Dingen gefragt: Zum einen nach dem Regelungsprogramm, zum anderen nach dem Regelungsinhalt.

36 Fraenkel, S. 99. " Fraenke/, S. 99, unter Hinweis auf Windscheid/Kipp, S. 519. n Fraenkel, S. 98. ,. Fraenkel, S. 99 . .. Prol. I, S. 965 Jakobs/Schuberl, Beratungen, S. 874. Dieser Deutung wurde offensichtlich von keiner Seite widersprochen, auch nicht von dem anwesenden Kommissionsmitglied v. Kübel!

=

B. Der Vorentwurf

73

b) Die rechtspolitische Absicht v. Kübels Wir hatten bereits gesehen, daß an erster Stelle in dem Regelungsprogramm des Vorentwurfes die Frage stand, für die die Alternative "Enumerationssystem oder allgemeines Prinzip" eine prägnante Formel darstellt, und daß der Entwurf diese Frage ohne Wenn und Aber zugunsten des allgemeinen Haftungsprinzips entschieden hat. Hätte v. Kübel gleichzeitig auch die Voraussetzungen der Widerrechtlichkeit festlegen wollen, wäre damit die uneingeschränkte Entscheidung gegen eine gesetzliche Bestimmung einzelner deliktischer Handlungen wieder rückgängig gemacht worden. Denn das Prinzip hätte dann nicht mehr geheißen: Haftung für jede widerrechtliche Handlung, sondern: Haftung erstens für gesetzes-, und zweitens für rechts( -guts)verletzendes Handeln. Und da es, wie gesehen4 !, eine Verbindung von Enumerationssystem und allgemeinem Haftungsprinzip in einem - wie auch immer gearteten "Komprorniß" nicht geben kann, hätte das bedeutet: V. Kübel hätte sich in einem Atemzug für zwei einander ausschließende Haftungsprinzipien entschieden. Wenn wir also dem Entwurf nicht innerliche Konfusion unterstellen wollen (und nichts berechtigt uns zu einer solchen Unterstellung), dann ist nur noch der Schluß möglich, daß das Schweigen des Vorentwurfes zu den Voraussetzungen der Widerrechtlichkeit bewußt und gewollt war, weil eine gesetzliche Präjudizierung dieser Frage die vorrangige Entscheidung zugunsten des allgemeinen Prinzips konterkariert hätte. 3. Generalklauselartige Weite des Merkmals der Widerrechtlichkeit? Das alles bedeutet aber keineswegs, daß wir uns mit der Auskunft zufrieden geben müßten, die durch v. Kübel vorgeschlagene Grundnorm stelle eben eine Generalklausei dar, die so weit gefaßt sei, daß ihr "keine inhaltlichen Bestimmungen hinsichtlich der schädigenden Verhaltensweisen zu entnehmen" seien 42 •

Siehe oben 2. Kap., A. II. und B. So aber Schwitanski, S. 102 f.; als Generalklausei wird § I Abs. I TE auch von Fraenkel, S. 99, und von Fezer, S. 475 bezeichnet. 41

42

74

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

a) Bindung des Richters durch Vorgabe eines (außerdelikts)rechtlichen Wertungsmaßstabes Denn mit dieser Qualifizierung des Vorentwurfes wird übersehen, daß dem Rechtsanwender durch das Erfordernis der Widerrechtlichkeit sehr wohl verbindliche Wertungsmaßstäbe vorgegeben werden sollten, mit der Besonderheit allerdings, daß diese Maßstäbe außerdeliktsrechtliche waren. Unter welchen Voraussetzungen eine Handlung widerrechtlich ist, kann sich, wenn nicht aus dem Deliktsrecht, nur aus der gesamten übrigen Rechtsordnung ergeben. Aber damit ist noch lange nicht der Weg für die uneingeschränkte Herrschaft wertender Einzelfallgerechtigkeit durch den Richter geebnet! b) Zur Gegenansicht Schwitanskis Dieser Sicht ist allerdings kürzlich Schwitanski entgegengetreten, indem er versucht hat, die Bedeutung des Erfordernisses der Widerrechtlichkeit gleichsam von innen heraus auszuhöhlen. Seine These lautet: Nach dem Vorentwurf sei widerrechtlich bereits die Schadenszufügung als solche gewesen, sofern sie nicht durch einen besonderen Rechtfertigungsgrund legitimiert gewesen sei43. Die dieser Deutung zugrundeliegende Schlußfolgerung beruht hauptsächlich auf zwei Prämissen, nämlich erstens: Der Vorentwurf habe selber das allgemeine Rechtsgebot aufgestellt, die Rechtssphäre einer anderen Person zu achten und nicht zu verletzen44 • Und zweitens: Da die "Rechtssphäre einer anderen Person" durch die allgemeinen Rechtsgüter Vermögen und Person konstituiert werde, habe im Vorentwurf jede Schädigung bereits eine "objektive Rechtsverletzung" dargestellt s• Die eigentliche innere Schwäche dieser Argumentation liegt in der Unvollständigkeit ihrer ersten Prämisse begründet: Der Vorentwurf bezeichnet als "allgemeines Rechtsgebot" nur, "daß Jedermann die Rechtssphäre Anderer zu achten und sich jedes widerrechtlichen Eingriffs in dieselbe zu enthalten habe"46. Selbst wenn wir daher bereit sind, der zweiten Prämisse47 folgend, zuzugestehen, daß jede Schadenszufügung nach dem Vorentwurf auf einer "objektiven Rechtsverletzung", das heißt auf der Verletzung der "Rechts-

., .. ., ..

Schwitanski, S. 100 ff. Schwitanski, S. 100. Schwitanski, S. 100. Mol. VE, S. 5 = Schuben, Vorlagen, S. 661. Hervorhebung vom Verfasser. • 7 Für die immerhin die auch von Schwimnski, S. 100, hervorgehobene Gleichsetzung der Begriffe "objektive Rechtsverletzung" , "rechtsverletzender Erfolg" und "eingetretener Schaden" in den Motiven (Mol. VE, S. 12 = Schubert, Vorlagen, S. 668) spricht.

B. Der Vorentwun

75

sphäre" einer anderen Person beruht, bedeutet dies noch nicht, daß jede Schadenszufügung zugleich auch gegen das genannte "allgemeine Rechtsgebot" verstößt. Denn die darin ausgesprochene Rechtspflicht zur Achtung der Rechtssphäre Anderer ist eben nur dann verletzt, wenn der Schädiger widerrechtlich, d.h. "ohne Recht und Befugnis"48 gehandelt hat49 . Wir sehen also auch hier wieder, wie jeder Versuch, die BedeutWlg des Begriffs der Widerrechtlichkeit aus den Motiven zum Vorentwurf und dem dort aufgestellten "allgemeinen Rechtsgebot" zu erklären, unweigerlich auf den erst zu definierenden Begriff selber zurückführt und uns damit in jenen logischen Zirkel geraten läßt, von dem bereits weiter oben die Rede gewesen ist.

ill. Das Verschuldenserfordernis in § 1 Abs.l TE Wir kommen nun zu der zweiten der beiden Hauptvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 TE: dem Verschulden. Als Gründe dafür, daß sich der Vorentwurf in diesem Punkt, anders als in der Frage des deliktischen Grundprinzips, aber ebenso wie dort in bewußter (rechts)politischer Entscheidung gegen das Vorbild des "ältere(n) deutsche(n) Recht(es)"50 und fUT den im römischen Recht verwurzelten Verschuldensgrundsatz entschieden hat, lassen sich aus den Motiven in wesentlichen das Folgende ablesen: Der Verzicht auf dieses Erfordernis führe "zu dem Gegentheil dessen, was damit bezweckt wird, zur Unbilligkeit"s,. Und außerdem könne man "Niemandem übergroße Aengstlichkeit und Pedanterie oder mehr als gewöhnliche Voraussicht und Einsicht in den Zusammenhang der Dinge zum uthen , wenn nicht jeder Verkehr unmöglich gemacht werden SOU"S2. Es ging v. Kübel also neben der Verwirklichung eines Gerechtigkeitspostulates auch, vielleicht sogar in erster Linie, um die "rechtspraktische Notwendigkeit der Verhinderung unbegrenzter Einstandspflichten"s3. In der Tat kann ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das wesentlich auf der allgemeinen

.. Mol. VE, S. 13 = Schuberl, Vorlagen, S. 669. 49 Daraus erklärt sich auch der Umstand, daß die erwähnte Stelle der Motive, durch die die Begriffe objektive RechtsverletZWIg, rechtsverletzender Enolg und eingetretener Schaden in eins gesetzt werden, ausschließlich das Problem des Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Schaden zum Gegenstand hat, während erst auf der folgenden Seite (MOl. VE. S. 13 = Schuberl, Vorlagen, S. 669) von der Widerrechtlichkeit der Handlung die Rede ist. Auf diesen Sachverhalt hat bereits Fraenke/, S. 101 hingewiesen. '" Mol. VE, S. 6 = Schuben, Vorlagen. S. 662. " Mol. VE, S. 8 = Schuben, Vorlagen, S. 664); Hervorhebung vom Venasser. 52 Mol. VE, S. 14 = Schuberl, Vorlagen, S. 670; Hervorhebung vom Venasser. " Ausdruck von Pick.er. JZ 1987. 1041, S. 1052.

76

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Handlungsfreiheit aller in ihm lebenden und wirtschaftenden Bürger beruht, nur funktionieren, wenn die aus der Ausübung dieser Freiheit resultierenden Haftungsrisiken auf ein erträgliches Ausmaß reduziert werden. Zum Begriff der Fahrlässigkeit bestimmt der Teilentwurf in § 3: "Eine Fahrlässigkeit ist dann nicht anzunehmen, wenn die Möglichkeit der Schadenszufügung so fern lag, daß sie auch von einem vorsichtigen Manne nicht berücksichtigt worden wäre"SoI.

Dieser Begriff ist so unbestimmt, daß durch ihn kein die Entscheidung des Einzelfalls präjudizierender Wertungsmaßstab vorgegeben wird. Es handelt sich somit um eine reine Generalklauseiss.

IV. Zusammenfassung: Zweistufiger Deliktsautbau (Haftungsbegründung und Haftungsbegrenzung) nach dem Vorentwurf Den beiden hier behandelten Haftungsvoraussetzungen in § 1 Abs. 1 TE entspricht ein zweistufiger Deliktsaufbau: Die erste Stufe ist die der Ha[tungsbegründung. Hierzu stellt der Entwurf in einer politisch begründeten Abkehr vom bis dahin bestehenden Rechtszustand das allgemeine Prinzip auf, daß die Haftung als Folge jeder widerrechtlichen Handlung eintreten könne. Mit dem Begriff der Widerrechtlichkeit wurde dem Normanwender ein außerdeliktsrechtlicher Wertungsmaßstab vorgegeben (Sanktionsnorm ). Die zweite Stufe ist die der Ha[tungsbegrenzung. Der Entwurf verlangte, aufgrund seiner ebenfalls (rechts)politisch motivierten Option zugunsten des Verschuldensprinzips, daß der Handelnde die Entstehung des geltend gemachten Schadens entweder vorhergesehen oder aber infolge von Fahrlässigkeit nicht vorhergesehen haben müsse. Mit dem Begriff der Fahrlässigkeit (§ 3 TE) entschied sich v. Kübel auf der Ebene der Haftungsbegrenzung für die GeneralklauseI.

S4 Die negative Ausdrucksweise ist eine Folge der in § lAbs. 2 TE angeordneten Beweislastumkehr ZIlgunsten des Geschädigten. " Vgl. zu der generalklauselartigen Weite der Fahrlässigkeit allgemein Deutsch, Haftungsrecht I, S. 106.

c.

Die Beratungen der Ersten Kommission

77

C. Die Beratungen der Ersten Kommission Wir wenden uns nun der nächsten Etappe auf dem Wege der Entstehung des BGB zu: dem Ersten Entwurf, dessen wichtigste deliktsrechtliche Vorschriften in den §§ 704, 705 enthalten sind: § 704: Hat jemand durch eine aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit begangene widerrechtliche Handlung - Thun oder Unterlassen - einem Anderen einen Schaden zugefügt, dessen Entstehung er vorausgesehen hat oder voraussehen mußte, so ist er dem Anderen zum Ersatze des durch die Handlung verursachten Schadens verpflichtet, ohne Unterschied, ob der Umfang des Schadens vorauszusehen war oder nicht. Hat Jemand aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit durch eine widerrechtliche Handlung das Recht eines Anderen verletzt, so ist er den durch die Rechtsverletzung dem Anderen verursachten Schaden diesem zu ersetzen verpflichtet, auch wenn die Entstehung eines Schadens nicht vorauszusehen war. Als Verletzung eines Rechtes im Sinne der vorstehenden Vorschrift ist auch die Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit und der Ehre anzusehen. § 705: Als widerrechtlich gilt auch die kraft der allgemeinen Freiheit an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem anderen zum Schaden gereicht und ihre Vornahme gegen die guten Sitten verstößt.

Wenn wir den Inhalt dieser Regelung, sowie ihr Verhältnis zum Vorentwurf, richtig verstehen wollen, wird es unumgänglich sein, ihre allmähliche Herausbildung im Verlauf der Beratungen der Ersten Kommission Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Hierfür sind die von Jakobs und Schubert veröffentlichten Protokolle von größerer Bedeutung als die in den Motiven enthaltene amtliche Begründung. Den Protokollen ist zu entnehmen, daß sich die Erste Kommission in fünf Sitzungen, von Juli bis September 1882, mit dem Deliktsrecht befaßt und dabei den Vorentwurf v. Kübels zugrundegelegt hafli.

I. Die Erörterungen der Kommission zum Merkmal der Widerrechtlichkeit in § 1 Abs. 1 TE Die erste dieser Sitzungen war der Diskussion des haftungsbegründenden Hauptprinzips des Vorentwurfes, das heißt dem Merkmal der "Widerrechtlichkeit" in § 1 Abs. 1 TE gewidmet. Hierzu waren drei Abänderungsanträge

,. Prol. I, S. 962 = JalwbslSchuberl, Beratung, S. 872: "Man ging zur Berathung des die Ueberschrift 'Unerlaubte Handlungen' tragenden Theilentwurfes (No. 15) über".

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

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gestellt wordenS7 , denen allen die Forderung gemeinsam war, das Merlanal der Widerrechtlichkeit zu streichen und stattdessen die pure Schadensverursachung zur Haftungsbegründung genügen zu lassen.

1. Das Festhalten der Kommission am allgemeinen Grundprinzip der Haftung Bevor wir diesen Gegensatz und seine Auflösung durch die Kommission genauer in Augenschein nehmen, gilt es jedoch zunächst hervorzuheben, daß durch keinen dieser Anträge die grundlegende Entscheidung des Vorentwurfes für ein allgemeines deliktsrechtliches Prinzip, und damit gegen das Enumerationssystem römisch - rechtlichen Vorbildes berührt war. Weder dann, noch zu irgend einem anderen Zeitpunkt der Kommissionsberatungen wurde von irgendeiner Seite diese Entscheidung v.Kübels erneut zur Diskussion gestellt. Worum es vielmehr ging, war von Anfang an ausschließlich der Inhalt dieses allgemeinen Prinzips, oder anders - in den Worten der Protokolle - ausgedrückt: "die objektive Beschaffenheit der zum Schadensersatz verpflichtenden Handlung"~.

2. Klärung der Streitfrage in den Beratungen der Kommission Die Kommission bemühte sich zunächst um eine "nähere Aufklärung über den Umfang und die Tragweite der Verschiedenheit der sich entgegenstehenden Ansichten"39. Dies führte sie sehr bald zu der Erkenntnis, daß die inhaltliche Divergenz sich auf die Frage beschränkte, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen die Haftung auch als Folge einer Handlung eintreten könne, "die nicht in einem besonderen subjektiven Rechte, sondern nur in der natürlichen Freiheit sich (gründe) "60.

>1

Anträge der Kommissionsmitglieder Windscheid, Kur/baum und P/anck, Prot. 1 S. 963 f.

= Jakobs/Schubert, Beratung, S. 873 f.

" Prol. 1 S. 965 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 874. ,. Prol. I, S. 966 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 874. .. Prol. I, S. 966 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 874.

C. Die Beratungen der Ersten Kommission

79

a) Vorabentscheidung gegen denkbare Extrempositionen Daß dagegen nach allen vertretenen Auffassungen (zumindest auch) für die schädlichen Folgen widerrechtlichen Handelns gehaftet werden sollte, erhellt schon daraus, daß die Abänderungsanträge ja nicht etwa hinter dem Vorentwurf zwiickbleiben, sondern über ihn hinausgehen wollten. Die Erörterung des Antrags von Planek ergab nun aber des weiteren Übereinstimmung darüber, daß ein besonderes (subjektives) Recht des Schädigers zur Vornahme der schädigenden Handlung die Haftung in jedem Fall ausschließen müsse, und zwar selbst dann (wie es - aus heutiger Sicht befremdlicherweise - heißt), wenn der Täter aus Schikane gehandelt habe. Werde diese Grenze der Haftung überschritten (so wie dies nach dem Planek'schen Abänderungsantrag der Fall war), sei darin "einleuchtend eine ungebührliche Verneinung oder Abschwächung des Rechts selbst zu finden"61. b) Die verbleibenden Problemfälle Nach Ausscheidung dieser bei den als unproblematisch angesehenen "extremen" Konstellationen blieb also nur noch die Lösung der Fälle übrig, in denen die Handlung weder besonders verboten noch besonders erlaubt war, der Täter sich zu seiner Rechtfertigung vielmehr nur auf die "natürliche Freiheit" (wir würden heute eher sagen: auf die allgemeine Handlungsfreiheit) berufen konnte. Der Vorentwurf hatte hierzu auf dem Standpunkt gestanden: Was nicht verboten sei, das sei erlaubt. Und da es, nach dem Erkenntnisstand der Zeit, nur zwei Fallgruppen der Widerrechtlichkeit gab, konnte "Haftung nicht eintreten, wenn die Handlung weder verboten noch durch dieselbe ein unter absolutem Schutze stehendes oder ein solches Rechtsgut verletzt ist, in weIches der Handelnde in Gemäßheit eines obligatorischen Verhältnisses nicht eingreifen darf. (Z.B. es ist durch Verbreitung von Nachrichten oder durch anderweites an sich erlaubtes Verhalten die Kundschaft entzogen, der Kaufwerth einer Sache herabgedrückt, der Kredit geschmälert.)"62.

Genau entgegengesetzt der Standpunkt Windseheids, Kurlbaums und Planeks, der sich folgendermaßen kurz zusammenfassen läßt: Eine Schadenszufügung, die nicht aus der Wahrnehmung eines besonderen, subjektiven

6' 62

Prol. I, S. 966 Prol. I, S. 965

= Jakobs/Schuberl, = Jakobs/Schuberl,

Beratung, S. 875. Beratung, S. 874.

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Rechts sich rechtfertige, begründe schon deshalb die Haftung auf Ersatz des zugefügten Schadens63 • 3. Stellungnahme der Kommission in dieser Streitfrage Dazu, welche Stellung die Kommission in dieser Streitfrage bezog, stehen sich in der Literatur zwei unterschiedliche Beurteilungen gegenüber. Nach der einen soll dem Vorentwurf in dieser Frage nur ein "äußerer", "formaler" Erfolg beschieden gewesen sein. Der Sache nach hätten sich dagegen die Antragsteller durchgesetzt64 • Demgegenüber kommt die andere Auffassung zu dem Ergebnis, die Kommission habe sich im Grundsatz für das Erfordernis der Widerrechtlichkeit entschieden, und nur den beiden zuvor genannten Kategorien der Widerrechtlichkeit noch eine dritte, nämlich die der sittenwidrigen Handlungen, hinzugefügt6s • Die Materialien, insbesondere die Protokolle, bestätigen jedoch weder die eine noch die andere Auffassung. Sie beweisen vielmehr, daß die Kommission zu einer eigenständigen Position gefunden hat, die gleiche Distanz zum Vorentwurf, dem "zu große Enge" vorgeworfen wurde, wie zu den als zu weitgehend kritisierten Gegenanträgen hält. a) Ablehnung des Prinzips des Vorentwurfes Zum Vorentwurf heißt es: "In der neueren Zeit sei vielfach geklagt, das geltende materielle Recht sei, von dem französischen Rechte abgesehen, zum Schutze der Beschädigten unzureichend. Obschon diese Klagen zu nicht geringem Theile unbegründet seien und auf irrthümlichen Voraussetzungen oder Anschauungen beruhen mögen, so lasse sich ihnen doch nicht jede Berechtigung absprechen. Das Prinzip des Entwurfs bringe aber keine Abhülfe. Es gestatte allerdings, das Ziel einer ausgedehnteren Haftung auf einem anderen Wege, nämlich dadurch zu erreichen, daß im speziellen Theile des Obligationenrechts diese und jene Handlung besonders verboten, die Zahl der speziellen Delikte vermehrt oder an besonder Thatumstände (dolus, Nachrede usw.) die Verpflichtung zum Schadensersatze geknüpft werde. Ein solches Verfahren beweise aber die Unzulänglichkeit und zu große Enge des Hauptprinzips"66.

6J Prot. I, S. %5 f. = Jakobs/Schubert, BeratWlg, S. 874 . .. Schmiede I, S. 21 ff.; Deutsch, Haftungsrecht I, S. 107; Löwisch, S. 7, Fn. 33 und S. 59. os Schwitanski, S. 106 Cf., insbesondere S. 108 Cf.; Fezer, S. 476 f. 66 Prot. I, S. %7 = Jakobs/Schubert, BeratWlg, S. 875; Hervorhebungen vom Verfasser.

C. Die Beratungen der Ersten Konunission

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b) Ablehnung der Abänderungsanträge Ebenso ungünstig fällt jedoch die Beurteilung der Gegenanträge aus: "Bei einer solchen Bestimmung würde aber die Ersatzpflicht auch in solchen Fällen eintreten, in weIchen der Handelnde nicht allein kein Gesetz verletzt, sondern in Ausübung seiner natürlichen Freiheit sowohl vom Standpunkt des Rechts als der Moral vorwurfsfrei oder sogar löblich gehandelt hat, z.B. ein Freund unterrichtet den Freund von dem Vermögensverfalle des Schuldners des letzteren "67 •

c) Das "sachgemäße Prinzip" in den Augen der Ersten Kommission Erst diese in beide Richtungen gehende Kritik eröffnete der Kommission den Zugang zu dem "sachgemäßen Prinzip", das "auf dem den modernen Rechtsanschauungen entgegenkommenden Gedanken (beruhe): Wer ein besonderes Recht ausübe, müsse immer haftfrei sein, auch wenn er aus Schikane handele; wer aber nur kraft seiner natürlichen Freiheit handele, dürfe diese nicht zum Schaden anderer mißbrauchen, und ein Mißbrauch sei es, wenn seine Handlungsweise den in den guten Sitten sich ausprägenden Auffassungen und dem Antstandsgefühle aller billig und gerecht Denkenden widerspreche"".

Dementsprechend wurde die folgende Fassung der deliktischen Grundnorm beschlossen: "Wer ... einem Anderen Schaden zufügt, ist diesem zum Schadensersatz verpflichtet, es sei denn, daß er in Ausübung eines besonderen Rechtes oder in einer mit den guten Sitten übereinstimmenden Ausübung der natürlichen Freiheit gehandelt habe"6'/.

Sachlich stimmt die schließlich beschlossene Fassung der § 704 Abs. I, 705 des Ersten Entwurfes70 mit dem früheren Beschluß vollkommen überein: § 704 Abs. I E I: "Hat Jemand durch eine ... widerrechtliche Handlung -Thun oder Unterlassung - einem anderen einen Schaden zugefügt ... so ist er dem Anderen zum Ersatze des durch die Handlung verursachten Schadens verpflichtet. .. "

61 Prol. I, S. 966 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 874 f . .. Prol. I, S. 967 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 875. '" Prol. I, S. 966 f. = Jakobs/Schuberl, Beratung. S. 875. 10 Im folgenden: "E I" abgekürzt.

6 Börgers

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

§ 705 E I: Als widerrechtlich gilt auch die kraft der allgemeinen Freiheit an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem Anderen zum Schaden gereicht und ihre Vomalune gegen die guten Sitten verstößt."

Der Unterschied zwischen diesen beiden Fassungen ist rein sprachlicher Natur: Die ursprüngliche Aufzählung der Fälle haftungsfreier Schadenszufügung war durch die positive Benennung des Haftungsprinzips selber ersetzt worden. Es hieße daher rein fonnal zu argumentieren, wollte man aus der ersten Version schließen, die Kommission habe sich der Auffassung angeschlossen, schon die Schadenszufügung als solche stelle ein Delikt dar'·, oder aus der zweiten Fonnulierung, die Kommission habe im Gegenteil an der Beschränkung der Haftung auf widerrechtliche Handlungen "im Prinzip" uneingeschränkt festgehalten72 • Vielmehr hat der Erste Entwurf das in dem gleich zu Beginn der Kommissionsberatungen gefaßten Beschluß enthaltene eigenständige Grundprinzip unverändert übernommen.

4. Darüber hinausgehender Regelungsgehalt des Ersten Entwuifes? Die entscheidende, bis jetzt noch offen gebliebene Frage ist nun aber die folgende: Erschöpfen sich die sachlichen Veränderungen im politischen Teil des Entwurfes, die die Erste Kommission am Vorentwurf vorgenommen hat, auf das bis hierher Gesagte, also - schlagwortartig zusammengefaßt - auf die Ergänzung der Haftung für rechtsnonnwidriges um eine Haftung für sozialnonnwidriges Verhalten, oder gehen sie darüber hinaus? a) Auflösung der Generalklausel zugunsten der Präzisierung des Begriffs der Widerrechtlichkeit in "Grundtatbeständen"? Letzteres liegt ersichtlich der verbreiteten Auffassung zugrunde, der Ersten Kommission sei es auch, ja in erster Linie, darum zu tun gewesen, den Begriff der Widerrechtlichkeit zu präzisieren und damit "zumindest in Ansätzen ... die maßgeblichen Kriterien der Haftung selber herauszuarbeiten,m. Sie habe daher als Kategorien der Widerrechtlichkeit (und damit der Haftungsbe-

71 So aber die Schlußfolgerung von Schmiedet und anderen, vgl. oben in und :ru Fn. 64. n So aber die Schlußfolgerung von Schwitanski und anderen, vgl. oben in und :ru Fn. 65. 7l Schwitanski, S. 110 ff., insbesondere S. 112. Im gleichen Sinne auch Fezer, S. 476 ff.: Die Kübet'sche Generalklausei sei "von einer die Widerrechtlichkeit zivilrechtlichen Handelns präzisierenden Fassung abgelöst" worden (S. 476). Vgl. auch Wes/hoff, S. 34, der ebenfalls von einer "schrittweise(n) Auflösung der Generalklausel des § 1 TE in ... drei Grundtatbestände" spricht.

C. Die Beratungen der Ersten Kommission

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gründung) nur das gesetzes- sowie das rechtsverletzende Verhalten anerkannt, und diese beiden nur um die dritte Kategorie sittenwidrigen Verhaltens ergänzf4 • Der hieraus abgeleiteten Feststellung, schon der Erste Entwurf lasse "die heutige Aufgliederung des Deliktsrechts in die drei Grundtatbestände der Anlage nach erkennen"75, kann zwar insoweit eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden, als sie auf die Parallelen zwischen § 823 Abs. 1 BGB und § 704 Abs. 2 E I, sowie zwischen § 826 BGB und § 705 E I hinweist. b) Zur Normierung des allgemeinen Haftungsprinzips in § 704 Abs. 1 E I Ernste Zweifel sind jedoch spätestens dann angebracht, wenn in die ParalleIisierung auch § 704 Abs. 1 E I (der dem § 823 Abs. 2 BGB entsprechen soll) einbezogen wird76. Denn weder im Wortlaut" noch in den Protokollen der Beratungen der Ersten Kommission. soweit diese den § 704 E I betreffen, findet sich ein ausdrücklicher Hinweis auf eine einschränkende Interpretation des § 704 Abs. 1 E I in dem Sinne. daß diese Vorschrift nur die gesetzeswidrigen Handlungen betreffen sollte. aa) Widersprüchlichkeit der Motive Nur in den Motiven findet die dargelegte Interpretation Unterstützung, wenn dort der wesentliche Regelungsinhalt des Ersten Entwurfes folgendermaßen zusammengefaßt wird: Der Entwurf bezeichnet als unerlaubte Handlung ... die widerrechtliche Handlung. Der Mangel einer gesetzlichen Erlaubnis hat keine Bedeutung; was nicht widerrechtlich ist, ist erlaubt. Widerrechtlich ist vor Allem das Handeln gegen ein absolutes Verbotsgesetz ... (§ 704 Abs. 1). Ebenso zweifellos widerrechtlich ist die Verletzung des einem anderen zustehenden absoluten Rechtes (§ 704 Abs. 2) ...

1. Schwilanski, S. 113 f. " Schwitanski, S. 116. 76 Schmiedet, S. 13 f.; Schwitanski, S. 112; Fezer, S. 478. 11 Dies ist auch noch von der Zweiten Kommission zugestanden worden, vgl. Prol. 11, S. 2716 = Mugdan, S. 1075: "Denn daß sich der Inhalt dieser Vorschrift in dem Verbote des Zuwidedelns, das vorsätzlich oder fahrlässig gegen ein gebietendes oder verbietendes Gesetz gerichtet werde, erschöpfe, lasse sich wenigstens aus dem Wortlaute der Bestimmung nicht unzweideutig entnehmen."

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Der Entwurf stellt in § 705 noch eine fernere Kategorie widerrechtlicher Handlungen auf. Mit gewisser Beschränkung sollen nämlich als widerrechtlich auch solche Handlungen gelten, deren Vornahme gegen die guten Sitten verstößt.. ...18 •

Muß man damit die hier aufgeworfene Frage nach dem Regelungsinhalt des Ersten Entwurfes nicht für erledigt halten? Erste Bedenken gegen eine solche Schlußfolgerung ergeben sich aus den Motiven selbst. Nicht nur wird auch dort das Ziel betont, das Deliktsrecht "auf einheitlicher, allgemeiner Grundlage" zu regeln79 • Vor allem wird in den Motiven aus dem Prinzip des § 704 Abs. I E I die Antwort auf die Frage nach der Ersatzfähigkeit der aus einer Rechts(guts)verletzung resultierenden (mittelbaren) Vermögensschäden Dritter abgeleitet. Es ist aufschlußreich, sich die entsprechende Stelle im Wortlaut zu vergegenwärtigen: "Nicht ausgeschlossen ist, daß eine nach der Vorschrift des § 704 Abs. 2 zum Schadensersatze gegen den Berechtigten verpflichtende Rechtsverletzung gleichzeitig zum Ersatze des Schadens verpflichtet, welcher einem Anderen entstanden ist. Hierfür kommt aber lediglich die Vorschrift des § 704 Abs. 1 in Verbindung mit § 705 in Betracht. Hiernach ist z.B. die in der Gesetzgebung wie in der gemeinrechtlichen Theorie und Praxis meist verneinte Frage zu entscheiden, ob der Versicherer, bei welchem der Getödtete versichert war, von dem Thäter ... den Ersatz des Schadens zu fordern berechtigt ist, welcher ihm dadurch erwächst, daß er die Versicherungssumme früher als nach der muthmaßlichen Lebensdauer unter Verlust der hiernach berechneten Prämie bezahlen muß. Dieser Anspruch steht dem Versicherer gegen den Thäter nach Maßgabe des § 704 Abs. I zu, wenn der letztere jenen Erfolg seiner Handlung vorausgesehen hat oder voraussehen mußte, wenn er also vor Allem wußte oder wissen mußte, daß der Getödtete sein Leben versichert hatte (... )"80.

Mit der restriktiven Auslegung des § 704 Abs. 1 E I sind diese Sätze schwerlich in Übereinstimmung zu bringen. Diese Auslegung zugrundegelegt, hätten die Motive doch die das Absurde streifende Konsequenz ziehen müssen, den Ersatzanspruch des unmittelbar Verletzten aus einer Rechtsverletzung, den des mittelbar Geschädigten dagegen aus einer Gesetzesverletzung (§ 704 Abs. 1 E I) zu begründen. Dabei steht unbezweifelbar nur eine einzige, einheitlich zu beurteilende unerlaubte Handlung in Frage, und genau so wird der Fall in den Motiven zurecht auch behandelt.

71 Mol., S. 725 f. ,. MOl., S. 724; vgl. dort auch S. 725: "Soll ein in allen Fällen ausreichender Schutz gegen

unerlaubte Handlungen gewährt werden, so ist die Schadensersatzpflicht nicht an einzelne, bestimmte, möglicherweise nicht erschöpfend gestaltete Delikte zu knüpfen, sondern allgemein als die Folge einer jeden unerlaubten Handlung hinzustellen." 10 Mol., S. 728.

C. Die Beratungen der Ersten Konunissioo

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bb) Vennutung zugunsten der Widerspruchsfreiheit des Entwurfes Noch schwerer wiegt indessen ein anderes Argument: Nach allem, was wir in den beiden vorangehenden Paragraphen festgestellt haben, impliziert die Behauptung, schon die Erste Kommission habe "der Anlage nach" (?) die drei Grundtatbestände geschaffen, notwendig die weitergehende Aussage, schon der Erste Entwurf habe die Abkehr vom allgemeinen Prinzip und damit die Rückkehr zum Enumerationssystem vollzogen. Spätestens der Erste Entwurf wäre damit von jener inneren Konfusion geprägt gewesen, die dem Vorentwurf zu unterstellen, wir uns weiter obenSI geweigert haben. Daß tatsächlich die Motive - wie gezeigt - geeignet sind, diesen Eindruck zu bestätigen, reicht für eine solche Unterstellung noch nicht aus. Denn darüber, inwieweit der in ihnen greifbare innere Widerspruch dem Entwurf als solchen oder lediglich einem Mißverständnis des Verfassers der Motive anzulasten ist, können wiederum nur die Protokolle Aufschluß geben. Dabei ist, soweit sich aus den Protokollen nichts Gegenteiliges ergibt, von der Widerspruchsfreiheit des Entwurfes auszugehen. cc) Widerlegung dieser Vennutung durch die Protokolle Im Zentrum jedes Versuches einer Widerlegung dieser Vennutung müßte die schon zuvor zitierte Protokollstelle stehen: "Wird in dem Entwurfe die Widerrechtlichkeit der Handlung für nöthig erachtet, so muß die letztere, damit die Verpflichtung zum Schadensersatz begründet werde, entweder durch eine Rechtsnorm verboten oder es muß durch die Handlung ein von dem Handelnden nach den Vorschriften der Rechtsordnung zu respektierendes Recht des Beschädigten verletzt und hieraus der Schaden erwachsen sein. Demzufolge kann Haftung nicht eintreten, wenn die Handlung weder verboten noch durch dieselbe ein unter absolutem Schutze stehendes oder ein solches Rechtsgut verletzt ist, in welches der Handelnde in Gemäßheit eines obligatorischen Verhältnisses nicht eingreifen darf'82.

Allein, wie sich aus dem Zusammenhang, in dem das Zitat steht, unmißverständlich ergibt, war diese Feststellung nur deshalb zu treffen, um sich "nähere Aufklärung über den Umfang und die Tragweite der Verschiedenheit der sich entgegenstehenden Ansichten zu verschaffen"s3, und es drückt sich

11. 2. b. Prol. I, S. 965 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 874. ., Prol. I, S. 965 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 874. 11

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

daher in diesem Satze kein rechtspolitischer Wille, sondern einfach eine wissenschaftliche Erkenntnis aus.

5. Abschließende Bemerkungen zum politischen Inhalt des Ersten Entwurfes auf der Ebene der Haftungsbegründung Letzten Endes gilt daher für den Ersten Entwurf das weiter oben zu Regelungsprogramm und Regelungsinhalt des Vorentwurfs Gesagte entsprechend: Auch die Erste Kommission hatte nicht die Absicht, den Begriff der Widerrechtlichkeit mit der Verbindlichkeit einer "politischen" Entscheidung gesetzlich zu konkretisieren 84 ; und - ebenso wie v. Kübel - konnte sie diese Absicht auch gar nicht haben, weil sie sonst ihrer eigenen vorrangigen Entscheidung zugunsten des allgemeinen Prinzips zuwider gehandelt hätte8s • Was den eigentlichen Regelungsinhalt, und wir könnten stattdessen ebensogut sagen: den politischen Teil des Entwurfes, anbetrifft, so hat die Kommission das haftungsbegründende Prinzip allerdings durch den generalklauselartigen Begriff der Sittenwidrigkeit erheblich ausgeweitet, im übrigen aber den Übergang zur reinen Generalklausei abgelehnt, und statt dessen das System der Vorgabe eines außerdeliktsrechtlichen Wertungsmaßstabes (Widerrechtlichkeit) aus dem Vorentwurf übernommen. Auch die ausdrückliche Normierung von zwei der angenommeIlen drei Haftungsfälle steht dem hier gefundenen Ergebnis nicht entgegen: Für § 705 E I egibt sich das bereits aus der Erwägung, daß es bei Schaffung dieser Vorschrift nicht um eine Präzisierung, sondern um eine inhaltliche Erweiterung des Grundprinzips ging. Der Fall der an sich erlaubten, aber "illoyalen" (d.h. sittenwidrigen) Handlung war vom Vorentwurf ja noch gar nicht erfaßt. Mit

.. Dezidiert a.A. Schwitanski, S. 114, dem zufolge sich der Erste Entwurf "vom Vorentwurf grundlegend durch den Versuch, die Voraussetzungen einer delikts rechtlichen Haftung präziser und damit eingrenzender zu fassen", unterscheidet. Bemerkenswert ist bereits die von Schwitanski im darauf folgenden Satz gemachte Einschränkung: "Allerdings wird die Ursache für diese anders geartete Regelung des I. Entwurfes in den Materialien nicht unmittelbar deutlich. Die I. Kommission hat das Ausmaß der von ihr vollzogenen Abkehr vom Regelungsgehalt des Vorentwurfs wohl selber nicht vollständig erkannt, da sie sich zu sehr am Wortlaut des § I TE und an dem dort aufgestellten Erfordernis der Widerrechtlichkeit der Handlung" orientiert hat". Diese Erklärung überzeugt aber schon deshalb nicht, weil v. Kübel selbst Mitglied der Ersten Kommission gewesen ist. Jedenfalls ihm müßte eine so fundamentale Abkehr von seinem eigenen Entwurf doch wohl aufgegangen sein! " Siehe oben B. Il. 3. Deshalb ist es ein glatter Widerspruch, wenn Schwitanski, S. 115, einerseits feststellt, auch der E I habe die "Abkehr vom Einzeltatbestandssystem des Römischen Rechts" beibehalten; andererseits, er habe auf dem Standpunkt gestanden, es müßten "die widerrechtlichen schadenszufügenden Handlungen positiv ... vom Gesetzgeber bestimmt werden."

C. Die Beratungen der Ersten Kommission

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der Inbezugnahme des generalldauselartig weiten Begriffs der guten Sitten ist zudem eine inhaltliche Präzisierung auch schwerlich zu bewerkstelligen. Hinsichtlich des § 704 Abs. 2 E I schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Grundlage für die Einführung dieser Norm erst in der zweiten der dem Deliktsrecht gewidmeten Sitzungen86 gelegt worden ist. Und da hatte sich die Diskussion bereits der Erörterung der "fernere(n) prinzipielle(n) Frage" zugewandt, "wie das Erforderniß des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit zu bestimmen sei"87. Der Sinn dieser Vorschrift ist mit anderen Worten nur zu erschließen, wenn man erkennt, daß sie nichts mit der Haftungsbegrundung, sondern ausschließlich mit der Haftungsbegrenzung etwas zu tun hat.

11. Die Erörterungen der Ersten Kommission zum Merkmal des Verschuldens in § 1 Abs. 1 TE Von der 109. Sitzung der Kommission an stand das haftungsbegrenzende, zweite Tatbestandsmerkmal des § 1 Abs. 1 TE, das Verschulden, auf der Tagesordnung88 • Überraschenderweise erwies sich gerade dieser Punkt als das schwierigste, jedenfalls das am meisten Zeit in Anspruch nehmende Kernproblem der gesamten Beratungen. Dabei war die Fragestellung gleich zu Beginn auf die "fernere prinzipielle Frage, wie das Erforderniß des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit zu bestimmen sei"89, beschränkt worden. Das Verschuldenserfordernis als solches stand also gar nicht mehr zur Diskussion; es ging nur darum, auf was sich das Verschulden zu beziehen habe: auf den Schaden, oder auf die das Rechtswidrigkeitsurteil tragenden objektiven Merlanale der Handlung. Die Motive zum Vorentwurf enthalten hierzu kein Wort, und es ist durchaus zweifelhaft, ob v. Kübel diese, nunmehr für so zentral angesehene Frage überhaupt bedacht hatte. Wie auch immer: Die Kommission jedenfalls entschied nach einer, über mehrere Sitzungstage sich hinziehenden, äußerst wechselvollen Beratung90 mit knapper Mehrheit, grundsätzlich müsse sich das .. 109. Sitzung vom 5. 7. 1882. Prot. I, S. %9 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 875 Cf. 17 Prot. I, S. %9 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 876. U Prol. I, S. %9 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 876 . .. Prot. I, S. %9 = Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 876. '" In der 109. Sitzung (Prol. I, S. %9 ff. = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 876 ff.) war die Grundregel zunächst noch genau entgegengesetzt fonnuliert worden: Das Verschuldenserfordernis "sei nicht zu beziehen auf den Schaden selbst, sondern auf die objektive Rechtswidrigkeit, so daß es genügt, wenn die letztere gewollt oder vorausgesehen gewesen sei". Ausnahmen wurden aber gemacht für "solche Handlung(en), die an sich keine Rechtsverletzung enthalte(n)", sowie für die an sich erlaubten. aber gegen die guten Sitten verstoßenden Handlungen. In der 110. Sitzung (Prot. I, S. 979 ff. = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 879 ff. wurde nach ausgiebiger Diskussion die Grundregel bestätigt; die Ausnahmen dagegen wurden aufgehoben. Zur Begründung hieß es

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Verschulden auf den Schaden beziehen91 • Eine Modifikation dieses Grundsatzes hielt man aber in den Fällen der Rechtsverletzung für angebracht92 , und es war diese Modiftkation, die die Aufnahme des § 704 Abs. 2 in den Entwurf erforderlich machte93 • Bei den Rechtsverletzungen sollte nach der Person des Geschädigten differenziert werden. Soweit es um die Ersatzansprüche des unmittelbar Verletzten ging, sollte es allein auf die Vorhersehbarkeit der Rechtsverletzung als solcher ankommen. Erläutert wurde dies mit dem Hinweis, in diesem Falle lasse "sich die Rechtsverletzung selbst schon gleichsam als ein Schaden im weiteren Sinne betrachten"94. Ersatzansprüche mittelbar Geschädigter sollten dagegen nur unter den engeren Voraussetzungen des den Grundsatz enthaltenden § 704 Abs. 1 E I gewährt werden. Wir sehen also, daß es bei der differenzierenden Regelung des Verschuldens in der Hauptsache um das schon seit Urzeiten und bis heute aktuelle, wohl niemals restlos befriedigend zu lösende Problem der Ersatzfähigkeit mittelbarer (Vermögens)schäden ging. (Und diese Feststellung reicht aus, um sowohl die zentrale Stellung der Regelung im System des Ersten Entwurfs, als auch die großen Skrupel der Kommission bei ihrer Einführung zu erklären.) (Prot. I, S. 984 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 881): "Die gefaßten Beschlüsse möchten mitunter Härten zur Folge haben, die jedoch weniger ins Gewicht fielen, als eine die Beschädigten nur zu oft verlcürzende und schwächliche Milde." Die 111. Sitzung schließlich (Prot. I, S. 985 ff. = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 881 ff.) begann mit einer Überraschung: "Ein Mitglied, welches in der vorigen Sitzung bei Erledigung der prinzipiellen Frage mit der Melubeit gestimmt hatte, erklärte: es sei nachträglich zu der Ueberzeugung von der Sachwidrigkeit der gefaßten Beschlüsse gelangt, und da eine einzige Stimme den Ausschlag gegeben habe, zu dem Antrage veranlaßt, [sicl eine neue Abstimmung vorzunehmen. Es wurde beschlossen, diesem Antrage stattzugeben". Die neue Abstimmung ergab dann die Umkehrung des Grundprinzips, vgl. den nachfolgenden Text und die folgende Fn. 91 Die in den Protokollen wiedergegebene Begründung ist als ein signifikantes Beispiel für die beliebige Austauschbarkeit bloßer Billigkeitserwägungen bemerkenswert: "Der neue Beschluß beruhte auf der nunmehr von der Mehrheit getheilten Ueberzeugung: Die Bestimmung, wer schuldbar eine widerrechtliche Handlung begehe, sei unbedingt für den daraus entstehenden Schaden verantwortlich, auch wenn dieser weder erkannt noch erkennbar gewesen sei, führe zu unerträglichen Härten; sie lasse sich nur rechtfertigen, wenn die Widerrechtlichkeit darin bestehe, daß ein subjektives Recht des Beschädigten verletzt und in dessen Rechtskreis unmittelbar in schuldbarer Weise eingegriffen sei, in welchem Fall sich die Rechtsverletzung selbst schon gleichsam als ein Schaden im weiteren Sinne betrachten lasse". (Prot. I, S. 986 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 882.) 92 Prot. I, S. 986 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 882. 9) Dies verkennt Schwitanski, S. 113. Ähnlich wie hier dagegen Deutsch, JZ 1963, 385, in und zu Fn. 10. Vgl. auch Westhoff, S. 46: "Mit der Regelung der §§ 704, 705 E I ist die Dreiteilung der Haftungsvoraussetzungen vollzogen, wenn dies auch zunächst nur aus der Absicht geschehen ist, die unterschiedlichen Verschuldensvoraussetzungen herauszustellen und die Rechtswidrigkeit der weder rechts- noch gesetzesverletzenden illoyalen Handlungen festzustellen." Die in diesem Satz enthaltene zutreffende Analyse der Absichten der Ersten Konunission hätte nun allerdings Anlaß zu der Frage geben sollen, ob die "Dreiteilung der Haftungsvoraussetzungen " wirklich ein Werk des Gesetzes oder nicht vielmehr nur seiner überkonunenen Auslegung ist . .. Prol. I, S. 987 = Jakobs/Schubert, Beratung, S. 882.

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission

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m. Zusammenfassung: Haftungsbegründung und Haftungsbegrenzung nach dem Ersten Entwurf Zusammenfassend ist festzustellen, daß der Erste Entwurf den zweistufigen Deliktsaufbau von Haftungsbegründung und Haftungsbegrenzung aus dem Vorentwurf übernommen hat. Der "politische" Inhalt des Entwurfs ist dadurch gekennzeichnet, daß der haftungsbegründende Tatbestand um das generalklauselhafte Merkmal der Sittenwidrigkeit (§ 705 E I) erweitert, im übrigen aber unverändert gelassen, insbesondere also an dem System der Sanktions norm (Merkmal der Widerrechtlichkeit, § 704 E I) festgehalten wurde. Im haftungsbegrenzenden Tatbestand wurde die Entscheidung des Vorentwurfes für die "Generalklausei des Verschuldens" ebenfalls nur modifiziert (§ 704 Abs. 2 E I), nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt.

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission Im Zweiten Entwurf lauteten die Grundvorschriften zum Deliktsrecht folgendermaßen: § 746: Wer vorsätzlich oder fahrlässig ein Recht eines anderen widerrechtlich verletzt oder wer gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt, ist dem anderen zum Ersatz des dadurch verursachten Schadens verpflichtet. § 749: Wer durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt, in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.

I. Übernahme des Prinzips des § 704 Abs. 2 E I in den Zweiten Entwurf Im Vergleich zum Ersten Entwurf fällt zunächst auf, daß die beiden Absätze des § 704 E I in dem nur aus einem Absatz bestehenden § 746 des

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3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Zweiten Entwurfes9S aufgegangen sind. In dieser redaktionellen Änderung spiegelt sich das wieder, was die wichtigste Leistung der Zweiten Kommission genannt zu werden verdient: Die inhaltliche Angleichung der bei den Absätze des § 704 E I, genauer gesagt: Die Umformung des ersten nach dem Vorbild des zweiten Absatzes. Dementsprechend ist § 704 Abs. 2 E I durch den zweiten Entwurf inhaltlich im wesentlichen unverändert übernommen worden96 • Alle wesentlichen Abweichungen, auf die wir uns im folgenden konzentrieren müssen, betreffen § 704 Abs. 1 und - in unserem Zusammenhang weniger bedeutend - § 705 E I.

11. Die Umformung des § 704 Abs. 1 E I nach dem Vorbild des § 704 Abs. 2 E I Zu § 704 Abs. 1 E I lagen zu Beginn der Beratungen der Zweiten Kommission eine ganze Reihe von Abänderungsanträgen vor97 ; "(d)er Standpunkt des Entwurfes" dagegen, so wie die Kommission ihn verstand, "wurde von keiner Seite vertreten "98. 1. Die der Beratung der Zweiten Kommission zugrundegelegte Interpretation des § 704 Abs. 1 E I

Dazu, wie die Kommission den § 704 Abs. 1 E I verstand, finden wir in den Protokollen die Bemerkung, der Entwurf behandele im Absatz 1 des § 704 die Schadenszufügung durch widerrechtliche Handlungen, unter denen er nach den Erläuterungen der Motive99 Zuwiderhandlungen gegen ein Gebots-

'" Im folgenden: "E 11" abgekürzt . .. Die Streichung des in § 704 Abs. 2 S. I E I enthaltenden Nachsatzes: "... auch wenn die Entstehung eines Schadens nicht vorauszusehen war", ist nur darauf zurückzuführen, daß sich die Beziehung des Verschuldens auf die Rechtsgutsverletzung (statt auf den daraus resultierenden Schaden) schon ohne weiteres aus der für § 746 Eil gewählten Fassung ergab und keiner ausdrücklichen Erwähnung mehr bedurfte. Ganz gestrichen wurde § 704 11 S.2 E I. Die hierfür maßgeblichen Erwägungen waren die folgenden: "Die Verletzung des Lebens, des Körpers und der Gesundheit zu erwähnen, sei ... unnöthig. Die fahrlässige Verletzung (der) Ehre unter besonderen privatrechtlichen Schutz zu stellen, sei sachlich großen Bedenken unterworfen. ... Jedenfalls passe die Vorschrift nicht an diese Stelle und sei hier zu streichen" (Prol. 11, S. 2724 =Mugdan, Materialien 11, S. 1077). 97 Prol. 11, S. 2709 = Mugdan, Materialien 11, S. 1072 . .. Prol. Il, S. 2716 = Mugdan, Materialien 11, S. 1075. 9'1 MOl., S. 725.

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission

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oder Verbotsgesetz, insbesondere gegen ein Strafgesetz verstehe ulO • Man würde der Zweiten Kommission Unrecht tun, wenn man ihr vorhalten würde, sie habe insoweit den Ersten Entwurf gänzlich mißverstanden. Nur eine, bereits in den Motiven, nicht aber in den Protokollen zum Ersten Entwurf angelegte Ungenauigkeit wurde jetzt widerspruchslos zur Grundlage der weiteren (gesetzgeberischen) Arbeit gemacht. Diese Ungenauigkeit betrifft die Verwischung der klaren Grenzlinie zwischen politischem und technischem Teil des Entwurfes. Denn wir haben schon im vorigen Abschnitt gesehen, daß der Satz, die Erste Kommission habe bei Abfassung des § 704 Abs. 1 E I "Zuwiderhandlungen gegen ein Gebots- oder Verbotsgesetz" im Auge gehabt, zwar durchaus in Übereinstimmung mit der wissenschaftlich begründeten Auffassung der Kommissionsmitglieder steht, bei Vermeidung innerer Widersprüche aber nicht mit dem Inhalt des (für die Auslegung allein bindenden 101 ) politischen Teils des Entwurfes verwechselt werden darf. Genau diese Ineinssetzung von politischem und technischem Teil, für die hier der Grund gelegt wurde, hatte erhebliche und verhängnisvolle "Spätwirkungen" im Hinblick auf die Ausbildung des traditionellen Verständnisses vom gesetzlichen Deliktsrechtssystem 102 ; unmittelbare Auswirkungen auf den Zweiten Entwurf hatte sie dagegen nicht. Denn die Zweite Kommission hatte es ebensowenig wie die Erste mit der Frage der haftungsbegTÜndenden Handlungen zu tun. In den Protokollen fmdet sich unmittelbar hinter den Anträgen der Satz: "Die Diskussion erstreckte sich zunächst auf die Erörterung der prinzipiellen Frage über die Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen, insbesondere auf die Feststellung, wer nach dem Thatbestande des § 704 Abs. 1 als Beschädigter anzusehen und zur Erlangung des Schadensersatzes berechtigt sein soll "IOl.

Mit anderen Worten: Es ging auch hier wieder ausschließlich um das Problem der Haftungsbegrenzung, und zwar genauer: Um die (eingrenzende) Bestimmung des Kreises der als Ersatzgläubiger in Betracht kommenden Personen. Und insoweit geben die Protokolle den Regelungsgehalt des Ersten Entwurfes völlig korrekt wieder:

100 Prol 11, S. 2714 = Mugdan, Materialien H, S. 1074, Wlter c. Demgegenüber wurde von anderer Seite zu bedenken gegeben, "daß sich der Inhalt dieser Vorschrift in dem Verbote des Zuwiderhandelns, das vorsätzlich oder fahrlässig gegen ein gebietendes oder verbietendes Gesetz gerichtet werde, erschöpfe, lasse sich wenigstens aus dem Wortlaute der Bestimmung nicht unzweideutig entnehmen." (Prol. 11, S. 2716 = Mugdan, Materialien H, S. 1075.) 101 Siehe unten 4. Kap., A. I. 2. 102 Siehe dazu bereits weiter oben 2. Kap. B. III. 100 Prol. 11, S. 2711 = Mugdan, Materialien H, S. 1073.

92

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

"Die widerrechtliche Handlung, sofern sie aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit ausgeführt ist, soll jedem wenn auch nur mittelbar Beschädigten das Recht geben, Schadensersatz vom Beschädiger zu fordern ... Um jedoch die Verpflichtung des Thäters nicht ins Ungemessene zu erweitern, macht der Entwurf den Eintritt der Schadensersatzpflicht davon abhängig, daß der Beschädigte die Entstehung des Schadens vorausgesehen hat oder doch hätte voraussehen können" '04.

2. Ablehnung des Standpunktes des Ersten Entwurfes

Wie gesagt, fand der so (richtig) verstandene "Standpunkt des Entwurfs" in der Zweiten Kommission keine Unterstützung mehr. Kritisiert wurde, "die Fassung des § 704 Abs. 1 des Entwurfes werde wegen ihrer Unbestimmtheit zu Streit und Zweifeln Anlaß geben"IOS. Vor allem aber: "Der Standpunkt des § 704 Abs. 1 des Entwurfes sei innerlich unbegründet und führe zu unangemessenen Ergebnissen. Es gehe zu weit, jedem Beschädigten ein Recht auf Entschädigung zu gewähren, ohne daß es darauf ankomme, ob das verletzte Gesetz zum Schutze der geschädigten Interessen bestimmt sei. Andererseits verkümmere der Entwurf das Recht des unmittelbar Betroffenen, indem es seinen Anspruch davon abhängig mache, daß der Urheber des Schadens dessen Entstehung habe voraussehen können"'06.

3. Die Entscheidung zugunsten einer Übernahme des in § 704 Abs. 2 enthaltenen Unmittelbarkeitsprinzips

Ausgehend von diesen Feststellungen lag es nun äußerst nahe, bei der Neufonnulierung der solchennaßen kritisierten Vorschrift sich den zweiten Absatz des § 704 E I zum Vorbild zu nehmen, vereinigte dieser doch die beiden Vorzüge in sich, deren Fehlen zur Verwerfung des § 704 Abs. 1 E I geführt hatte: Einerseits die Beschränkung des Kreises der ersatzberechtigten Personen (auf die unmittelbar Verletzten), andererseits die Abmilderung der Anforderungen, die hinsichtlich der Ersatzansprüche des unmittelbar Verletzten an den Verschuldensbezug gestellt wurden. Auf diesen Überlegungen beruht der Abänderungsantrag 1, der - abgesehen von ganz geringfügigen sprachlichen Abweichungen - vollständig dem § 746 Ellentspricht, und zu dessen Begründung daher auch folgerichtig ausgeführt wurde:

'04 Prol. 11, S. 2715 = Mugdan, Materialien 11, S. 1074. 'os Kurioserweise wurde dieses Argwnent ausgerechnet von den Vertretern des Antrags 6a) vorgebracht, Prol. 11, S. 2716 = Mugdan, Materialien 11, S. 1075. Vgl. zu diesem Antrag sogleich S. 136 f. '06 Prol. 11, S. 2719 = Mugdan, Materialien 11, S. 1076.

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission

93

"Das richtige Prinzip enthalte der § 704 Abs. 2; es empfehle sich umsomehr, die Fälle beider Kategorien einander gleichzustellen, als es häufig schwer sei, die rechtlich geschützten Interessen und die absoluten Rechte auseinanderzuhalten"I07.

Trotz der Einmütigkeit der Ablehnung des § 704 Abs. 1 in der Fassung des Ersten Entwwfes setzte sich der Antrag 1 aber nur mit denkbar knapper Mehrheit gegenüber einem Gegenantrag (dem Antrag 6a) durch H*, der die Streichung der beiden Absätze des § 704 E I vorsah und sich stattdessen mit der Normierung des Grundsatzes begnügen wollte: "Wer einem Anderen widerrechtlich Schaden zufügt, sei es aus Vorsatz, sei es aus Fahrlässigkeit, ist ihm zum Ersatze verpflichtet"'09.

Den Antragstellern ging es darum, "die noch nicht genügend geklärte Lehre, inwieweit eine Schadensersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen begründet sei, der wissenschaftlichen Fortentwicklung (zu) überlassen"llo. Im Kern ging es also darum, ob über die Frage der Haftungsbegrenzung, diese aufgefaßt als Frage nach dem Kreis der anspruchsberechtigten Personen, eine gesetzliche (politische) Entscheidung herbeizuführen sei oder nicht. Dies wird auch unmißverständlich durch die folgenden, oft zitierten Sätze der Protokolle bestätigt, mit denen die Gründe für die Entscheidung der Mehrheit zugunsten des Antrags 1) zusammengefaßt wurden: "Der Antrag 6a, welcher sich mit der Aufstellung des Prinzips der Ersatzverpflichtung für den aus unerlaubten Handlungen zugefügten Schaden begnüge, ohne die Voraussetzungen des Eintritts der Verpflichtung zu norm iren, verdecke damit nur die vorhandenen Schwierigkeiten, ohne sie zu lösen, und lade deren Lösung auf den Richter ab. Es bleibe nach dem Antrage unbestimmt, wer als Beschädigter den Anspruch erheben dürfe, ob nur der unmittelbar oder auch der mittelbar Betroffene, ob auch der Verstoß gegen ein nicht zum Schutze des Interesses der Einzelnen erlassenes Gesetz zum Schadensersatz gegenüber jeden (sic) durch die Verletzung Benachtheiligten verpflichte, und worauf Vorsatz und Fahrlässigkeit gerichtet sein müßten. Es liege aber weder in der Tendenz des Entwurfes noch entspreche es der im deutschen Volke herrschenden Auffassung von der Stellung des Richteramtes, die Lösung solcher Aufgaben, die durch das Gesetz erfolgen müsse, auf die Gerichte abzuwälzen. Es ließe sich auch nicht absehen, zu welchen Konsequenzen die Einräumung einer autoritativen Stellung an den Richter führen und ob nicht die deutsche Rechtsprechung zu ähnlichen Auswüchsen gelangen werde, welche zahlreiche Urtheile der französischen

Prol. 11, S. 2719 = Mugdan, Materialien 11, S. 1076. Das Stimmenverhältnis sowohl für die Annahme des Antrages 1) als auch für die Ablehnung des Antrages 6a) betrug 10 : 8, Prol. 11, S. 2711 = Mugdan, Materialien 11, S. 1073. 109 Prol. 11, S. 2710 = Mugdan, Materialien 11, S. 1073. 110 Prol. ll, S. 2717 Mugdan, Materialien 11, S. 1075. 107 101

=

94

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Gerichte aufwiesenIlI. Diesen Bedenken gegenüber verdiene es den Vorzug, dem Richter zu seiner Entscheidung schon im Gesetz einen gewissen objektiven Maßstab an die Hand zu geben"ll2.

In. Der Inhalt des haftungsbegrenzenden Prinzips im Zweiten Entwurf Was aber ist mit dem "gewissen objektiven Maßstab", der "dem Richter zu seiner Entscheidung schon im Gesetz ... an die Hand zu geben" sei, gemeint? Die übliche Antwort, die Kommission habe die gemeinrechtliche Lehre vom Begriff der Widerrechtlichkeit einer Handlungli) in Bezug nehmen und mit gesetzlicher Verbindlichkeit ausstatten wollen"" muß für uns schon deshalb von vomeherein ausscheiden, weil dabei verkannt wird, daß die Beratung zu dem Zeitpunkt, als der in Rede stehende Beschluß gefaßt wurde, schon längst über das haftungsbegründende Merkmal der Rechtswidrigkeit hinaus- und bei der Haftungsbegrenzung, das heißt der Begrenzung des Kreises der potentiellen Haftungsgläubiger angelangt war. Allein hierauf sind die "dem Richter", damit naturgemäß aber auch jedem anderen Normanwender verbindlich vorgegebenen "Anhaltspunkte" bezogen.

Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben ist den Materialien als Grundsatz zu entnehmen, daß nur die unmittelbar von einer rechts- bzw. sittenwidrigenIlS Handlung Betroffenen ersatzberechtigt sein sollten. Das ergibt sich aus dem Satze, "(d)as richtige Prinzip enthalte der

111 Dieser Befürchtung gegenüber wurde schon in den Kommissionsberatungen darauf hingewiesen, die "Erfahrungen des preußischen Rechts und die Praxis des in Deutschland geltenden französischen Rechts zeigten", daß "Mißbräuche ... nicht zu besorgen seien. Auch das ALR I 6 § 10 enthalte ähnlich dem Antrage einen allgemeinen Grundsatz über die Verpflichtung zum Schadensersatze; die Judikatur aber habe diesen Grundsatz bezüglich der Ansprüche der miuelbar Beschädigten immer einschränkend interpretiert, und niemals seien Klagen laut geworden, daß die Gerichte in der Zuerkennung von Entschädigungen zu weit gegangen wären ..... (Prol. 1/, S. 2717 Mugdan, Materialien 11, S. 1075). IIZ Prol. 1/, S. 2717 f. = Mugdan, S. 1075. '" Siehe dazu oben 2. Kap., B. III.; 3. Kap., B. 11. 2.; 3. Kap., C. I. 4. 11. Überwiegend wird dies als die eigentliche Leistung der Zweiten Kommission hingestellt, vgl. nur Deutsch, Haftungsrecht I, S. 107; ders., JZ 1963,385, S. 385; Slelfen, in RGRK, BGB, § 823 Rn. 1. Etwas abweichend Schwitanski, S. 118 aufgrund seiner Interpretation des Ersten Entwurfes. '" Gegen die Feststellung, "(e)ntsprechend den zum Abs. I des § 704 gefaßten Beschlüssen" solle "nur derjenige einen Anspruch auf Schadensersatz haben, gegen den die illoyale Handlung sich richtet, nicht auch ein mittelbar Betroffener", "wurde kein Widerspruch erhoben", Prol. 1/, S. 2728 = Mugdan, Materialien 11, S. 1078.

=

D. Die Beratungen der Zweiten Kommission

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§ 704 Abs. 2"116. Denn in dem hier festgestellten Zusammenhang, das heißt im Zusammenhang mit der Frage nach der sinnvollen Begrenzung des Kreises der anspruchsberechtigten Personen, kann mit dem "Prinzip" des § 704 Abs. 2 nur gemeint sein: Daß nach dieser Vorschrift nicht jeder infolge einer Rechtsverletzung Geschädigte ersatzberechtigt sein sollte, sondern nur der unmittelbar Betroffene, nämlich der in einem eigenen Recht Verletzte.

IV. Zusammenfassung: Die deliktischen Tatbestände als Konkretisierung des Unmittelbarkeitsprinzips und die Zugehörigkeit dieser Konkretisierung zum technischen Teil des Entwurfes Wir erkennen daher in den deliktischen Tatbeständen des Zweiten Entwurfes im Gegensatz zur herrschenden Meinung nicht eine Konkretisierung der Rechtswidrigkeit, sondern der Unmittelbarkeit: "Unmittelbar verletzt" ist nach der Auffassung der Mitglieder der Zweiten Kommission, wer in eigenem Recht verletzt ist, wessen Schutz das verletzte Gesetz zu dienen bestimmt war, sowie - im Falle der "illoyalen" Handlungen - der vorsätzlich Geschädigte. Die Antwort auf die sich auch hier wieder anschließende Frage, ob diese Konkretisierung zum politischen oder zum technischen Teil des Entwurfes gehört, ergibt sich aus dem untrennbar engen Zusammenhang zwischen haftungsbegründendem und haftungsbegrenzendem Grundprinzip: Eine Konkretisierung des Merkmals der Unmittelbarkeit setzt notwendig die vorherige Konkretisierung des Begriffs der Rechtswidrigkeit voraus. Da eine verbindliche Entscheidung über die Arten rechtswidriger Handlungen, wie wir gesehen haben, nicht zum politischen Teil des Entwurfes zu rechnen ist, muß folglich dasselbe auch für die nähere "gesetzliche" Bestimmung der unmittelbar Betroffenen möglichen Deliktsgläubiger durch die deliktischen Tatbestände gelten.

116

PrOlo 11, S. 2719

= Mugdan,

Materialien 11, S. 1076.

96

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

E. Vom Zweiten Entwurf zur endgültigen Fassung des Gesetzes J. Weitgehende Übereinstimmung der §§ 823 ff. BGB mit dem Zweiten Entwurf Das im vorigen Abschnitt zum Zweiten Entwurf Gesagte gilt uneingeschränkt auch für die endgültige Fassung des Gesetzes. Denn die später vorgenommenen Änderungen waren teils bloß redaktioneUer Natur, teils betrafen sie zwar wichtige, aber eben doch nur Detailfragen berührende Punkte, durch die die grundlegenden Entscheidungen der Zweiten Kommission nicht in Frage gesteUt wurden. Redaktioneller Art waren die Veränderungen, die aus § 746 EIl unseren heutigen § 823 BGB entstehen ließen '17 • Das folgt schon aus der Tatsache, daß sie sämtlich durch die Redaktionskommission vorgenommen wurden, deren Arbeitsauftrag auf die redaktionelle Überarbeitung des Ellbeschränkt war, während die Reichstagskommission" 8 alle inhaltlichen Abänderungsanträge - bis auf eine einzige Ausnahme - abwies. Diese Ausnahme betraf den - dem jetzigen § 826 BGB entsprechenden § 749 E 11""9. Diese Änderung l20 kann uns aber nicht dazu veranlassen, in irgendeiner Weise unsere grundsätzliche Einschätzung des zweiten Entwurfes zu revidieren.

II. Politische und technische Elemente der gesetzlichen Regelung des Deliktsrechts Fragen wir nach dem politischen, das heißt dem nach der Intention der Gesetzesverfasser allein verbindlichen Inhalt der Vorschriften des BGB im Recht der unerlaubten Handlungen, so werden wir daher - entsprechend unseren Feststellungen zum Zweiten Entwurf' 2 I - allein die Entscheidungen für die allgemeine Unrechtshaftung, für das Unmittelbarkeitsprinzip, sowie für den Verschuldensgrundsatz und die Beziehung des Verschuldens auf die Widerrechtlichkeit zu nennen haben. Nicht zum politischen, sondern zum techni-

Vgl. dazu Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 898 f. Vgl. die bei Jakobs/Schuberl abgedruckten Sitzungsprotokolle. 119 Vgl. Jakobs/Schuberl, Beratung, S. 902: .» Es wurde einstimmig die Streichung der Worte: ..... die er nicht in Ausübung eines ihm zustehenden Rechts vornimmt" in § 749 Ellbeschlossen. •,. Auf die daher wegen aller Einzelheiten zu verweisen ist. 117

111

E. Vom Zweiten Entwurf zur endgültigen Fassung des Gesetzes

97

schen Teil des Gesetzes gehört dagegen die Tatbestandsstruktur der §§ 823 ff. BGB, mit deren Hilfe die Gesetzesverfasser eine wissenschaftlich begründete Konkretisierung des Begriffs der Unmittelbarkeit versucht haben. Damit fmden wir das traditionelle Verständnis vom gesetzlichen Deliktsrechtssystem im Kern nicht bestätigt: Unsere Untersuchungen haben nämlich ergeben, daß sich das BGB, jedenfalls in der Frage des haftungsbegrtindenden Prinzips, vorbehaltlos auf die Seite der "fortschrittlichen" naturrechtlichen KodifIkationen, und nicht auf die Seite des römischen Rechts, gestellt hat. Nicht anders als etwa der französische Code civil, geht also auch das BGB von einer Haftung für jede widerrechtliche Handlung aus, ganz unabhängig davon, auf welche Norm das Rechtswidrigkeitsurteil im jeweiligen Einzelfall zu stützen ist. Stattdessen ist das herkömmliche Gesetzesverständnis ganz auf die Deliktstatbestände konzentriert. Diese, wie uns scheint: verfehlte Sichtweise führte nicht nur dazu, dem BGB eine Rückwendung zu dem historisch längst überholten Enumerationsprinzip zu unterstellen, sondern auch zu einer Verwischung der dem Gesetz zugrundeliegenden Trennung von Haftungsbegründung und Haftungsbegrenzung, sowie zu einer Verlcehrung des Verhältnisses von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, indem der Rechtswidrigkeit nur noch eine der Tatbestandsmäßigkeit nach- und untergeordnete Funktion zugestanden wurde. All dies steht im Widerspruch zu der hier gewonnenen Einsicht, daß die Deliktstatbestände nicht die Widerrechtlichkeit, sondern ausschließlich das haftungsbegrenzende Merkmal der Unmittelbarkeit konkretisieren sollten. Wegen des logischen Vorrangs der Haftungsbegrtindung vor der Haftungsbegrenzung ist die Frage der Tatbestandsmäßigkeit daher sinnvollerweise überhaupt erst dann zu stellen, wenn die Rechts- bzw. Sittenwidrigkeit der Handlung, an die die Schadensersatzpflicht angeknüpft werden soll, bereits festgestellt worden ist, und die Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend von den konkreten haftungsbegründenden Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Die bekannte Faustregel zur Bestimmung des Verhältnisses von Tatbestand und Rechtswidrigkeit ist nach dem Gesagten gewissermaßen "vom Kopf auf die Füße" zu stellen: Nicht die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit, sondern durch die Art der jeweils die Haftung begrtindenden Handlung ist der Kreis der potentiellen Haftungsgläubiger bereits abstrakt bestimmt. So ist in den Fällen der unberechtigten Rechtsausübungshandlungen '22 bereits durch die Eigenart der haftungsbegründenden Handlung, dem Verstoß gegen die durch ein subjektives Recht begründete ausschließliche Handlungsbefugnis

122

Vgl. hierzu Fraenkel. S. 45 ff.

7 Börgers

98

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

eines anderen 123, der Kreis der potentiellen Haftungsgläubiger abstrakt bestimmt: Unmittelbar betroffen und damit anspruchsberechtigt kann nur der Rechtsinhaber selber sein. Ebenso liegen die Dinge bei den unmittelbaren Verletzungshandlungen im Sinne der "Lehre von der Erheblichkeit der Eingriffsqualität"'2A. Bei diesen Handlungen ist "der Verletzungserfolg bei objektiver, natürlicher Wertung ein unabtrennbarer Teil der Handlung"I2S, und deshalb ist als möglicher Haftungsgläubiger nur in Betracht zu ziehen, bei wem dieser unmittelbare Verletzungserfolg eingetreten ist. Auch, wenn die haftungsbegründende Handlung durch die Schaffung einer abstrakten Gefahr charakterisiert ist, wie dies regelmäßig beim Verstoß gegen Verkehrs(siche-rungs)pflichten der Fall ist '26, gilt der Satz, daß der Kreis der potentiellen Haftungsgläubiger durch die Art der haftungsbegründenden Handlung bestimmt ist: Anspruchsberechtigt ist hier nämlich (nur) derjenige, bei dem sich die durch die verbotene Handlung geschaffene abstrakte Gefahr in dem eingetretenen konkreten Schadenserfolg verwirklicht hat. Ergibt sich schließlich die Rechtswidrigkeit einer Handlung (erst) aus einer konkreten Interessenabwägung im Einzelfall dies betrifft hauptsächlich die unter den Stichworten "Recht am Gewerbebetrieb" und "allgemeines Persönlichkeitsrecht" behandelten Fälle - erfolgt die Festlegung des Kreises der potentiellen Haftungsgläubiger durch die Interessenabwägung selber: Unmittelbar betroffen und damit ersatzberechtigt ist (nur) derjenige, dessen Interessen bei der konkreten Interessenabwägung den Ausschlag zugunsten der Rechtswidrigkeit der schädigenden Handlung gegeben haben. Die im Straßenbahnfall 127 festgestellte Bedeutungslosigkeit der Tatbestandsmäßigkeit der in Frage stehenden Handlung für ihre Rechtswidrigkeit ist also nicht etwa nur als eine mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs zu machende Ausnahme von der entgegengesetzt lautenden Regel zu interpretieren. Es greift auch zu kurz, mit den Anhängern der Lehre von der Erheblichkeit der Eingriffsqualität diese "Ausnahme" auf alle sogenannten mittelbaren Verletzungen zu erstrecken '28 • In Wirklichkeit handelt es sich um nichts anderes als um die Anwendung der ausnahmslos gültigen Grundregel selber.

•23 Vg1. die Beispiele bei Fraenkel, S. 49: "Graben auf einem fremden Grundstück, Fahren mit einem fremden Auto, Übereignen einer fremden Sache" . •:14 Siehe zu dieser Lehre weiter oben l. Kap., B. III. 3 . •21 Vgl. die Nachweise oben im l. Kap., B. III. 3., Fn. 52. 'lI6 Vgl. v. Bar, Verkehrspflichten, S. 201: "Die Verkehrspflichten als die Polizeigesetze des Privatrechts handeln in' der Hauptsache von abstrakten, also ferneren Gefahren." 127 Siehe oben I. Kap., B. 111 . •21 Siehe oben I. Kap., B. 111. 3.

E. Vom Zweiten Entwwf zur endgültigen Fassung des Gesetzes

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m. Konsequenzen für die Methodik der Bearbeitung deliktsrechtlicher Fälle nach dem gesetzlichen System des BGB Es ist vielleicht nützlich, an dieser Stelle noch hervorzuheben, daß mit den hier gefundenen Ergebnissen die Lösung keines einzigen deliktsrechtlichen Falles vorgegeben ist. Nur der grundsätzlich einzuschlagende Weg, auf dem eine solche Lösung zukünftig zu suchen wäre, wird jetzt deutlich. Die vorstehenden Untersuchungen betreffen also allein die Methodik der Bearbeitung deliktsrechtlicher Fälle nach dem gesetzlichen System des BGB. Insoweit ist als ihr wesentliches Ergebnis festzuhalten, daß das durch den sogenannten "dreistufigen Deliktsaufbau" von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld vorgegebene Prüfungsschema durch eine zweistufige Prüfungsfolge ersetzt werden sollte: Auf der ersten Stufe (Haftungsbegründung) geht es um die Rechts- bzw. Sittenwidrigkeit sowie um die Schuldhaftigkeit der in Frage stehenden Handlung. Dabei ist es falsch, die Antwort auf diese Frage durch Subsumtion unter die Tatbestände der §§ 823 ff. BGB gewinnen zu wollen. Maßstab ist auf dieser Stufe der Deliktsprüfung vielmehr die gesamte übrige, das heißt außerdeliklsrechlliche Rechtsordnung. Tatsächlich verfahrt die Praxis schon jetzt nicht anders, und sie kann auch gar nicht anders verfahren: Sie muß die Frage der Rechtswidrigkeit durch Subsumtion unter konkrete Handlungsgeoder Verbote außerhalb der §§ 823 ff. BGB zu beantworten versuchen. Kommen solche Normen des geschriebenen Rechts nicht in Betracht, muß sie den Umfang möglicherweise verletzter subjektiver Rechte des Geschädigten bestimmen; diese Rechte aber werden durch § 823 Abs. 1 BGB nicht konstituiert, sondern bloß vorausgeselzl l29 • Schließlich muß sie auf sonstige Wertungen der außerdeliktsrechtlichen Rechtsordnung, insbesondere auf die Wertungen der Grundrechte, zurückgreifen, und sie hat dies in exemplarischer Weise bei der Entwicklung der Rechtsschutzes gegen Beeinträchtigungen der unternehmerischen Tätigkeit und der Persönlichkeit getan 130. '19 So schon Heck, S. 438 f. im Hinblick auf Eigentum und sonstige Rechte im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB. Insoweit bezeichnet Heck § 823 Abs. 1 BGB als eine Sanktionsnonn. Vgl. hierzu sowie zu der - wenig überzeugenden - Unterscheidung zwischen Rechten und Rechtsgülern bei Heck in diesem Zusammenhang Fraenkel, S. 112, in und zu Fn. 218. '10 Die in den Bezeichnungen "allgemeines Persönlichkeitsrecht" und "Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb" zum Ausdruck kommende Berufung auf § 823 Abs. 1 BGB ist längst nur noch eine bedeutungslose Floskel. Auf sie sollte besser ganz verzichtet werden: Die Rechtswidrigkeit bestimmter Beeinträchtigungen der unternehmerischen Tätigkeit bzw. ganz allgemein der Persönlichkeit ist eben nicht aus § 823 Abs. 1 BGB ablesbar, sondern ergibt sich erst aus dem von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, nach dem die durch die Grundrechte des Grundgesetzes begründete objektive Wertordnung auch auf das bürgerliche Recht

100

3. Kap.: Neubewertung des "gesetzlichen Deliktsrechtsmodells"

Auf der zweiten Stufe (Haftungsbegrenzung) ist sodann zu fragen, ob der Anspruchsteller durch die haftungsbegründende Handlung unmittelbar betroffen ist und damit zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen gehört. Auch insoweit können die §§ 823 ff. BGB nur als ein erster Anhaltspunkt dienen.

F. Exkurs: Abgrenzung der eigenen Auffassung von der Lehre Pickers Ausgehend von einer weit ausholenden Kritik an den im Rahmen der geplanten Schuldrechtsreform unterbreiteten Vorschlägen für eine gesetzliche Regelung der Haftungsfälle "zwischen" Vertrag und Delikt ist Picker vor einigen Jahren zu Ergebnissen gelangt, die - jedenfalls auf den ersten Blick mit den hier vertretenen vergleichbar sind'3'. Wir wollen uns deshalb im folgenden der Lehre Pickers zuwenden und uns dabei, zur weitern Klärung des eigenen Standpunktes, um eine möglichst klare Abgrenzung bemühen.

I. Der wesentliche Inhalt der Lehre Pickers 1. Das "neminem laedere"-Prinzip als der "tiefere Rechtsgrund" aller Restitutionspflichten In äußerster Raffung und Verknappung ist der Gedankengang Pickers ungefähr der folgende: Ausgangspunkt ist die Frage nach dem tieferen Rechtsgrund der vertraglichen und der deliktischen Schadensersatzpflicht. Die Auffassung der ganz herrschenden Meinung, nach der die vertraglichen Ersatzansprüche ihren Grund in dem Vertrag selber, die Deliktsansprüche dagegen in der in den §§ 823 Cf. BGB ausgesprochenen gesetzlichen Anord"ausstrahlt" (vgl. nur die beiden Urteile des BVerfG vom 15. Januar 1958: 1 BvR 400/51 BVerfGE 7, 198, insb. S. 205, sowie 1 BvR 184/54 - BVerfGE 7, 230, in sb. S. 233). Der Sinn dieses Satzes, dessen fundamentale Bedeutung für die gesamte Entwicklung des Rechtswidrigkeitsbegriffes gar nicht zu überschätzen ist, wird durch den Ausdruck "mittelbare Drittwißung" allerdings mehr verdunkelt als erhellt. Nach der hier vertretenen Auffassung geht es eben nicht um eine bloß mittelbare Drinwißung in dem Sinne, daß die Grundrechte für ihre "Geltung" im Privatrechtsveßehr einer "Einbruchstelle" in Gestalt von - zum Teil systemwidrig zu konstruierenden - Generalklauseln bedürften. Statt von einer mittelbaren sollte daher besser von einer entsprechenden Geltung der Grundrechte die Rede sein. Dieser Ausdruck würde eher der eigentlichen Problematik der Grundrechtsgeltung unter Privaten gerecht werden, die darin zu sehen ist, daß in diesem Verhältnis - anders als im Verhältnis Staat - Bürger - mehrere Grundrechtsträger einander prinzipiell gleichberechtigt gegenüberstehen. 131 Picker, AcP 183 (1983), 369; tkrs., JZ 1987, 1041.

F. Abgrenzung von der Lehre Pickers

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nung haben, lehnt Picker ab. Der Vertrag als solcher könne nur Leistungspflichten begründen. Die Restitutionspflichten dagegen beruhten, im vertraglichen ganz genauso wie im deliktischen Bereich, ausschließlich auf gesetzlicher Anordnung; sie in eine Verbindung zu dem Willen des Haftpflichtigen zu bringen, sei eine pure Fiktion 132• Die Suche nach besonderen "Ptlichtverstärkungsfaktoren" zur positiven Begründung der Einstandsptlicht helfe also weder im vertraglichen noch im sogenannten "quasi - vertraglichen" Bereich l33 weiter. Damit sieht sich Picker natürlich vor die Aufgabe gestellt, den wirklichen und gemeinsamen Rechtsgrund aller Restitutionspflichten selber positiv zu bestimmen, und er entledigt sich dieser Aufgabe durch einen Rückgriff auf die in dem Satz: "Neminem laedere!" sich ausdrückende "zeitlose Rechtsüberzeugung"I34, in der er zugleich einen "Elementarsatz auch des geltenden Rechts" erkennt. Als "Leitidee und nur erst allgemeinstes Prinzip" stelle dieser Satz "sozusagen schiere Gerechtigkeit dar". Zugleich legitimiere "er sich in dieser Funktion aber auch als ein unmittelbares Postulat der Vernunft". Daraus folge, daß zur Begründung der Ersatzpflicht im Prinzip die Feststellung ausreiche, daß der geltend gemachte Schaden durch "eine sozial per se unerwünschte, weil ausschließlich schadenstiftende", und insofern durch eine grundsätzlich als widerrechtlich bewertbare Handlung des Anspruchsgegners herbeigeführt worden seim. 2. Die praktische Notwendigkeit der Haftungsbegrenzung und ihre gesetzestechnische Verwirklichung durch die deliktischen Tatbestände

Dieser "Elementarsatz unserer Rechtsanschauung"l36 stelle aber nur eine "erste, richtungsweisende ideale Maxime"137 dar. Würde er in "Reinform" durchgeführt, würde dies zu einer Kollision mit "fundamentalen anderen Wertvorstellungen", und letzten Endes zur "Funktionsunfahigkeit der rechtlichen Ordnung" insgesamt führen. Daß es im Schadensersatzrecht somit um den Ausgleich einander widersprechender Ziele geht: dem umfassenden Integritätsschutz auf der einen, der Erhaltung "der in ihren Risiken begrenzten

'" Picker, AcP 183 (1983), 369, S. 393 ff; ders., JZ 1987, 1041, S. 1043 ff. Zu den "Pflichtverstäri