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German Pages 241 [240] Year 2018
Reinhard Mehring
Vom Umgang mit Carl Schmitt Die Forschungsdynamik der letzten Epoche im Rezensionsspiegel
Nomos
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5156-3 (Print) ISBN 978-3-8452-9351-6 (ePDF)
1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Et puis, pour qui escrivez-vous? Montaigne, Essais
Vorwort
Die folgende Dokumentation ist ein heikles Experiment: Sie spiegelt die Innovationsdynamik der Carl Schmitt-Forschung über drei Jahrzehnte, wie ich sie sah, und möchte die Historizität von Forschung am prägnanten Bei‐ spiel in subjektiver Brechung einsichtig machen. Der Titel verkündigt kei‐ nen definitiven Forschungsabschluss, sondern meint nur die gerade mit ei‐ nigen Quelleneditionen an ein Ende gelangte jüngste Entwicklung seit Schmitts Tod: die Epoche der Nachlasserschließung, Quellenedition und damit verbundenen hermeneutischen Rekonstruktion. Max Weber meinte einst vor 100 Jahren in Wissenschaft als Beruf: „Ein Kunstwerk, das wirklich ‚Erfüllung’ ist, wird nie überboten, es wird nie veralten […] Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, dass das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft“.1
Weber bezog seine Schicksals-These nicht nur auf die methodische Arbeit am Material, sondern auch auf das „Licht der großen Kulturprobleme“2 und den Wandel der Fragestellungen. Offenbar stimmt mit dieser WeberThese aber etwas nicht: Wir lesen Max Weber und Carl Schmitt jedenfalls auch nach 100 Jahren noch. „Klassiker“ veralten nicht. Selbst wenn ihre Themen heute niemanden mehr interessieren sollten, ist ihre Methode und Form der Erschließung immer noch interessant. Es gibt im politischen Denken und sozialwissenschaftlichen Diskurs geradezu eine Paradoxie der Klassikergenese: Nur wer innovativ für die Gegenwart forscht, hat die Chance auf posthume Rezeption und Kanonisierung. Schmitt sprach hier gerne vom „präsenten Geist“. Er adressierte sich in‐ tensiv an die Mitwelt und hat der Nachwelt nur deshalb noch etwas zu sa‐ gen. Im starken Bezug auf den „präsenten Geist“ des aktuellen Wissen‐ schaftsprozesses scheute er auch die flüchtigen Formen nicht: Für einen Autor seines Ranges schrieb er lebenslang – von 1910 bis 1967 - erstaun‐
1 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts‐ lehre, Tübingen 1922, 524-55, hier: 534 2 Max Weber, Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er‐ kenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, 146-214, hier: 214
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Vorwort
lich viele Rezensionen und Rezensionsabhandlungen. In den 1920er Jah‐ ren rezensierte er ziemlich polemisch und geriet darüber in manche Feh‐ den. Nach 1945 dienten seine „gastlichen Gaben“3 mehr der kommunikati‐ ven Rückmeldung und Vernetzung von Freunden. Schmitt wollte von den Büchern lernen und verdichtete die Rückmeldung – etwa in seinen späten Rezensionen in Das historisch-politische Buch - geradezu zur aphoristi‐ schen Kunst. Sie waren, mit einer Unterscheidung Walter Benjamins zu sprechen,4 mehr „Kommentar“ als „Kritik“ und verblieben im „Sachge‐ halt“ des kommentierten Buches. Sein letztes Werk Politische Theologie II5 war dann eine autoritative Leseanweisung und Stellungnahme zur For‐ schung, die Deutungslinien vorschrieb. Die Rolle des Rezensenten wird nicht erst seit Goethe verspottet und verpönt: „Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent!“ Doch Goethe wusste auch: „Fällt auf dem Eise der rüstigste Läufer, so lacht man am Ufer, / Wie man bey Bier und Taback sich über Feldherrn erhebt.“6 Die folgende Sammlung spiegelt meine Rezeptionsbemühungen, Beobachtun‐ gen und Interventionen im verminten Gelände. Ich wollte mich lernend verhalten, anregen lassen und als Protokollant der Debatten auf Stand blei‐ ben. Soweit eine polemische Parteinahme erkennbar ist, markiert sie den Übergang von der Dogmatisierung zur Historisierung des Werkes. Rück‐ blickend will ich meinen, dass mit dem vorläufigen Abschluss der Tage‐ buch-Editionen eine Epoche der Schmitt-Forschung endet: die der archi‐ varischen und editorischen historisch-biographischen Entdeckung des Ak‐ teurs. Weil ich diese Epoche miterlebt und mitgestaltet habe, sei hier mei‐ ne Sicht und „Wahrheit“7 gebündelt und gespiegelt. Als mir Schmitts Werk im Studium erstmals begegnete, in Freiburger Seminaren von Wilhelm Hennis und Friedrich Kittler, lebte Schmitt noch. Als ich 1988 in Freiburg mit einer Arbeit über sein Werk promovierte, markierte eine große, von Helmut Quaritsch organisierte Tagung anläss‐ lich von Schmitts 100. Geburtstag gerade den Auftakt zur jüngsten Epoche
3 Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hrsg. Erich Schmidt / Bernhard Suphan, Weimar 1893, 1 4 Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I.1, 125 5 Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politi‐ schen Theologie, Berlin 1970 6 Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, 18 7 Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, 3
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Vorwort
der Forschung. Damals erschien Heinrich Meiers Studie Carl Schmitt, Leo Strauss und der ‚Begriff des Politischen’ und Helmut Quaritsch und Bernd Rüthers publizierten bald ihre pointierten Kontrovers-Studien über Schmitts Rolle im Nationalsozialismus. Diese Startschüsse zur Debatte ha‐ be ich damals, angeregt auch von Norbert Bolz,8 bereits rezensiert und die rasant sich entwickelnde Forschungsdynamik dann weiter beobachtet. Mein Schwerpunkt lag dabei auf der deutschen Forschung, die einen inno‐ vativen Standortvorteil hatte. Nicht nur Carl Schmitt muss historisiert werden: Die Forschungsdyna‐ mik muss es auch. Das geschieht aber nur selten. Der Sekundärforschung lässt deshalb oft sehr elementar ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein vermissen und definiert ihre Forschungsfragen dann allzu blind und klein‐ teilig. Die vorliegende Dokumentation zielt in der Form einer Selbsthisto‐ risierung über die historische Epoche der Forschung hinaus, an der ich Anteil nahm. Es ist – mit 43 Titeln - eine signifikante Auswahl der Rezen‐ sionen, die ich ohne eigenen Anspruch für den Tag schrieb; mit Erich Kästner9 zu sprechen: der „tägliche Kram“ des Fachbetriebs, der irgend‐ wie dazugehört und den vornehm zu vernachlässigen sich mit den Jahren rächt. Dokumentiert sind nur einige Titel, die nachhaltig wirkten.10 Die Rezensionen antworteten direkt auf die Neuerscheinungen. Erste zusam‐ menfassende Sammelbesprechungen,11 die weniger spontan antworteten, wurden dagegen herausgelassen. Ende der 1980er Jahre wusste man erst sehr wenig von der Akteursrolle und Biographie Carl Schmitts. Keine Tagebücher und größeren Brief‐ wechsel lagen vor. Viele Schriften waren im Buchhandel nicht erhältlich. Ein restriktiver Umgang mit dem Nachlass zeichnete sich damals zunächst ab und es war noch kaum zu ahnen, wie sehr sich das Bild von Schmitt mit der einsetzenden editorischen und historisch-biographischen Erschlie‐ ßung wandeln würde. Den Stand markierten die Ansätze von Rüthers, Quaritsch und Meier, der mit Schlüsselattitüde, Marketing und Diskurs‐
8 Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989; dazu meine Besprechung in: Philoso‐ phische Rundschau 38 (1991), 245-249 9 Erich Kästner, Der tägliche Kram. Chansons und Prosa 1945-1948, Zürich 1949 10 Weitere Rezensionen sind auf der Bibliographie meiner Webside aufgeführt. 11 Verf., Vom Umgang mit Carl Schmitt: Zur neueren Literatur, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 388-406; Carl Schmitt in der Diskussion, in: Information Philosophie Heft 3 (1993), 20-31
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Vorwort
macht auftrat. Dagegen erhob schon Quaritsch mit seiner These von einer „vierfachen“ Prägung prägnanten Einspruch. Das Glossarium warf der Forschung dann 1991 einen schweren Brocken und harten Stein des An‐ stoßes hin, mit dem sich eine neue Forschungsdynamik abzeichnete. Ich optierte jetzt gegen starke systematische Rekonstruktionen, die in der Ge‐ fahr standen, vom Vetorecht der Quellen düpiert zu werden, für die akribi‐ sche historisch-biographische Erschließung, ohne zu ahnen, wohin mich das führte. In drei Jahrzehnten Schmitt-Forschung habe ich furchtbar viel geschrie‐ ben. Was einigermaßen taugte, ist inzwischen bündig kondensiert: eine Einführung, eine Biographie und zwei Sammelbände mit wirkungsge‐ schichtlichen Studien.12 Das vorliegende Destillat erschien mir als For‐ schungsspiegel und Selbsthistorisierung darüber hinaus noch möglich, neu und reizvoll. Die folgenden Texte sind ganz wörtlich belassen und wurden nur formal vereinheitlicht, eingepasst und im Apparat um einige – durch Kursivdruck als Ergänzungen identifizierbare - Erläuterungen und Litera‐ turangaben ergänzt. Zahlreiche Seitenbelege für die Zitate wurden um der Lesbarkeit wegen gestrichen. Die Aufsätze über Hasso Hofmann und In‐ geborg Maus wurden ohne relevante Eingriffe im vorliegenden Text um einige Kapitel gekürzt. Eine Miszelle zur „Selbstglossierung“ wurde für die Sammlung überarbeitet und die letzte, 2018 in der NPL erschienene rückblickende Sammelbesprechung wurde stark gekürzt. Die folgende Sammlung zielt über den initialen Anstoß der Nachlassentdeckungen (Teil I) und die einzelnen neueren Titel (Teil II und III) hinaus auf die Ge‐ schichte der deutschen Schmitt-Forschung (Teil V und IX) und den Wan‐ del des Schmitt-Bildes. Sie macht eigene Einsatzstellen der Forschung (Teil IV) und neuere kritische Adaptionen und Transformationen (Teil VII und VIII) auch durch Literaturverweise sichtbar und situiert so die Teil‐ nehmerperspektive meiner Forschung. Bei der Relektüre war ich peinlich erstaunt, dass ich heute wenig ändern würde und vielen Befunden in wei‐ teren Arbeiten einigermaßen konsequent nachgegangen bin. Habe ich nichts dazugelernt? Lohnte sich die beharrliche Arbeit dann überhaupt? Diese Antwort muss ich kompetenten Lesern überlassen, so sie sich fin‐ den. Zu danken habe ich aber Emeti Morkoyun für die Digitalisierung
12 Verf., Carl Schmitt zur Einführung, 1992, 5. Aufl. Hamburg 2017; Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk-Wirkung-Aktualität, Freiburg 2017
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Vorwort
bzw. Abschrift der alten Texte sowie den zahlreichen Zeitschriften, die mich als Dauerrezensent ertrugen: insbesondere dem Philosophischen Li‐ teraturanzeiger, der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, der Juristen-Zeitung und der Politischen Vierteljahresschrift. Vielen SchmittForschern begegnete ich über die Jahre in der einen oder anderen Weise. Dem Andenken von Ernst Hüsmert (1928-2017), der guten Seele des alten Carl Schmitt, ist diese Dokumentation gewidmet.
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Inhaltsverzeichnis
Teil I:
Die Nachlassprovokation I. 1. Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsg. von Eberhard Frhr. von Medem, Berlin 1991 I. 2. Gerd Giesler / Martin Tielke (Hg.), Carl Schmitt. Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, Berlin 2015 I. 3. „Die große Übersicht“. Im Netzwerk der Selbstglossierung
Teil II:
Für eine Historisierung des Akteurs II. 1. Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? München 1989 II. 2. Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts. Berlin 1989 II. 3. Gary L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991 II. 4. Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993 II. 5. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993 II. 6. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum Kronjuristen des Dritten Reiches, Darmstadt 1995 II. 7. Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 2001
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Inhaltsverzeichnis
II. 8. Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 2012 II. 9. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt 2000 II. 10. Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa. Darmstadt 2007 II. 11. Christian Linder, Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt-Land, Berlin 2008 Teil III: Der Meier-Komplex: Politische Theologie oder Philosophie? III. 1. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit Leo Strauss’ Aufsatz über den Begriff des Politischen und drei unveröffentlichten Briefen an Carl Schmitt aus den Jahren 1932/33, Stuttgart 1988 III. 2. Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie. Stuttgart 1994 III. 3. Heinrich Meier, Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart 2003 III. 4. Martin Meyer, Ende der Geschichte?, München 1993 III. 5. Susanne Heil, „Gefährliche Beziehungen“. Walter Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart 1996 III. 6. Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existenzialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers, Würzburg 1994 III. 7. Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitt, München 1996
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Inhaltsverzeichnis
Teil IV: Zwei Artikel IV. 1. Carl Schmitts Werk und Wirkung IV. 2. Ausgerechnet ich! Souverän ist, wer der Nachwelt die Auswahl des Lesenswerten überlässt: Warum es keine Carl-Schmitt-Gesamtausgabe gibt Teil V:
Pioniere der älteren Forschung: Hasso Hofmann und Ingeborg Maus V. 1. Hasso Hofmann und Carl Schmitt V. 2. Ingeborg Maus in der Korrespondenz mit Schmitt
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Teil VI: Der neue Quellenstand
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VI. A: Primärschriften VI. A. 1. Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995 VI. A. 2. Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus. Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978, hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 2005 VI. A. 3. Carl Schmitt, Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung. Zweite Auflage. Mit einem Anhang weiterer strafrechtlicher und früher rechtsphilosophischer Beiträge, Berlin 2017
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VI. B: Biographische Quellen VI. B. 1. Ernst Hüsmert (Hg.), Carl Schmitt. Tagebücher. Oktober 1912 bis Februar 1915, Berlin 2003 VI. B. 2. Ewald Grothe (Hg.), Carl Schmitt-Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926-1981. Mit ergänzenden Materialien, Berlin 2014 VI. B. 3. Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart, hrsg. Martin Tielke in Verbindung mit Gerd Giesler, Berlin 2015
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Inhaltsverzeichnis
VI. B. 4. Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, hrsg. Herbert Kopp-Oberstebrink / Thorsten Palzhoff / Martin Treml, München 2012 Teil VII: Juristische Antworten
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VII. 1. Horst Dreier, Staatsrecht in Demokratie und Diktatur. Studien zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus, hrsg. v. Matthias Jestaedt / Stanley L. Paulson, Tübingen 2016 166 VII. 2. Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015 170 VII. 3. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften. X, Frankfurt 2004 174 Teil VIII: Adaptionen VIII. 1. Dieter Thomä, Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016 VIII. 2. Jan Assmann, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016 VIII. 3. Leviathan oder Behemoth? Horst Bredekamps Arbeit an Carl Schmitts Mythos des 20. Jahrhunderts.Besprechung von: Der Behemoth. Metamorphosen des Anti-Leviathan, Berlin 2016 VIII. 4. Monster im Drift. Peter Sloterdijks ingeniöse Degenerationsgeschichte. Besprechung von: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014 Teil IX: Rekapitulationen IX. 1. Autobiographische Einleitung (2018) IX. 2. Rekonstruktion und Historisierung: zur neueren Carl Schmitt-Forschung IX. 3. Die geistesgeschichtliche Lage der deutschen Carl Schmitt-Forschung. Thesenpapier zum Vortrag vom 3. Oktober 2013 in Prag IX. 4. Krisenprismatik. Zum Stand der Editionsgeschichte Nachweise 16
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Teil I: Die Nachlassprovokation
I. 1. Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsg. von Eberhard Frhr. von Medem, Berlin 199113 Carl Schmitt ist 1985 im Alter von 96 Jahren gestorben. Mit den Nekrolo‐ gen begann eine neue Phase heftigster Auseinandersetzungen, wie die Heidegger-Kontroverse 1983 mit der Neuauflage der Freiburger Rekto‐ ratsrede14 erneut anhob. Beide Kontroversen gehören in den großen Histo‐ rikerstreit der 1980er Jahre über den Umgang mit der nationalsozialisti‐ schen Vergangenheit, der heute [1992] für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR, der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung unverhofft wieder aktuell und lehrreich ist. In den letzten Jahren wurden – Zeichen der Schmitt-Konjunktur – die wichtigsten Schriften neu aufgelegt, erstmals auch solche aus der national‐ sozialistischen Zeit. Nun liegt mit dem Glossarium eine erste umfangrei‐ che Veröffentlichung aus dem riesigen, seit Jugendzeiten angesammelten Nachlass vor, die laut Angabe des Herausgebers noch von Schmitt selbst als „posthume Publikation gedacht“ (VI) war; sie ist denn auch nicht his‐ torisch-kritisch ediert. Bei diesem Glossarium handelt es sich weder um ein persönliches, noch um ein politisches Tagebuch etwa nach Art der Schüler Rüdiger Altmann und Johannes Groß, sondern um gelegentliche Aufzeichnungen, in denen Schmitt in literarisierter Form und angeregt von diversen Lektüren die deutsche Katastrophe apologetisch ausdeutet. Mate‐ rial enthält es wenig neues. Anders gesagt: Schmitts Tiefenhermeneutik der deutschen Katastrophe in rechtfertigender Absicht basiert insbesonde‐ re auf seiner Diagnose einer Wendung zum diskriminierenden Kriegsbe‐ griff (1938) sowie des – jetzt durch Helmut Quaritsch herausgegebenen – Rechtsgutachtens Das internationale Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ,Nullum crimen, nulla poena sine lege’. Viele der neueren Überlegungen sind in die späteren Schriften, insbesondere in die Glossen
13 In: Juristen-Zeitung 47 (1992), 302; auch in: Politisches Denken. Jahrbuch 1992, 183-184 14 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, hrsg. Hermann Heidegger, Frankfurt 1983
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Teil I: Die Nachlassprovokation
zu den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen (1958) übernommen. Stilistisch dominiert die Ironie in allen Nuancen vom heiteren Maskenspiel und Spottgedicht bis zur bösesten Polemik. Es können hier – ohne Belege im einzelnen – nur die wichtigsten The‐ men kurz genannt werden, die nun deutlicher werden: 1. Zunächst Schmitts nahezu völliges Desinteresse an der Gründungsgeschichte und politischen Form der Bundesrepublik, die Schmitt als bloßes Objekt der internationalen Politik ansieht. Sodann 2. seine Empörung über den Nürn‐ berger Prozess als diskriminierendes, den Besiegten kriminalisierendes Kriegsverbrechen der Sieger, die Schmitt überhaupt, in seiner ständigen Manier projektiver Schuldzuschreibungen, als historische Urheber der fa‐ talen Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff und des Zweiten Weltkrieges ausmacht. 3. Hitler deutet er in Rassewahn und Reichsideolo‐ gie nur als „Vollstrecker“ angelsächsischer Vorstellungen. 4. Deutlicher wird auch, dass er den Weg des deutschen Geistes vom 19. ins 20. Jahr‐ hundert als eine Abkehr von Goethe zu Hölderlin sowie zu seinen Dichter‐ freunden Theodor Däubler und Konrad Weiß deutet und deshalb das goe‐ thezeitlich-humanistische Persönlichkeitskonzept für die gegenwärtige In‐ dustriegesellschaft ablehnt. Die Aufzeichnungen zu Hölderlin unterstrei‐ chen das volle Gewicht der einmaligen Berufung auf Hölderlin für die na‐ tionalsozialistische Rechtsauffassung in Drei Arten des rechtswissen‐ schaftlichen Denkens von 1934.15 Deutlicher wird auch Schmitts irrige, idealistische Hoffnung, die „Selbstzersetzung“ des deutschen Idealismus möge mit Däubler und Weiß erneut „theurgische Kräfte“ als Geist der In‐ dustriegesellschaft „entfesseln“. Deutlicher werden 5. die geistesge‐ schichtlichen Bezüge von Schmitts religiösem, nur noch rückschauenden (Der Nomos der Erde, 1950) und der heutigen Rechtswissenschaft wohl exzentrischen Rechtsbegriff – häufige Berufung auf Rudolph Sohm gegen Max Weber – sowie sein Pathos, als „katholischer Laie“ (283) ein „politi‐ scher Theologe“ und „Theologe der Jurisprudenz“ (17) zu sein. Schockie‐ rend deutlich wird schließlich 6. sein kruder, keineswegs theologisch sub‐ limierter Antisemitismus, in dem seine geradezu paranoischen Selbstrecht‐ fertigungen und Entschuldungen der deutschen Katastrophe zu wurzeln scheinen: „Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind“ (18), lautet der todernst gemeinte Grundsatz des Glossariums, den man fortan in die
15 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, 17
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I. 2. Glossarium 2015
Reihe von Schmitts Feindbegriffen als deren paranoischen, explizit gegen Widerlegung immunisierten („Es hat gar keinen Zweck, die Parole der Weisen von Zion als falsch zu beweisen“) Grund aufnehmen muss. Dieses Glossarium macht subtile Schmitt-Hermeneutik fortan überflüs‐ sig. Seine Veröffentlichung markiert für die Forschung und Wirkungsge‐ schichte einen Einschnitt. Es liegt nun offen, das noch die schlimmsten Stellungnahmen aus der NS-Zeit keineswegs nur in politischem Opportu‐ nismus oder gar Selbstschutz wurzelten, sondern vielmehr in einem per‐ sönlichen Horror, der, etwa wie Nicolaus Sombart16 jüngst meinte, kollek‐ tive Feindbilder und Ängste aussprach. Das Glossarium ist jenseits der Schmitt-Forschung heute weniger als Dokument der Auseinandersetzung mit der deutschen Katastrophe interessant, denn als Psychogramm eines existentiell bedrohten und deshalb umso überreizteren Bemühens um Selbstbehauptung und -rechtfertigung in der Krise. I. 2. Gerd Giesler / Martin Tielke (Hg.), Carl Schmitt. Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, Berlin 201517 In der Heidegger-Forschung tobt bekanntlich seit dem Frühjahr 2014 eine entsetzte Debatte um die aphoristischen „Denktagebücher“ der Schwarzen Hefte. Sie wurden als antisemitisches Outing skandalisiert, enthüllen aber darüber hinaus auch einen moralischen, politischen und philosophischen Leerlauf und Tiefstand des Autor. Carl Schmitts Glossarium lässt sich for‐ mal als Pendant betrachten. Auch hier handelt es sich um sekretierte tage‐ buchartige Aufzeichnungen, geistesgeschichtliche Nachbetrachtungen zum nationalsozialistischen Engagement und um Zeitmitschriften bzw. po‐ lemische Glossierungen des Zeitgeschehens und nicht zuletzt des öffentli‐ chen Umgangs mit dem „Ja-Sager von 1933“ und „Besiegten von 1945“. Doch anders als Heideggers Schwarze Hefte ist Schmitts Glossarium tat‐ sächlich ein Schlüsseltext radikaler Selbstoffenbarung des eigenen poli‐ tisch-theologischen Standorts. In der langen Tradition aphoristischer Su‐ delbücher hat es einen festen Stand. Es ist ein Schlüsseldokument zur Geistesgeschichte der Nachkriegszeit und frühen Bundesrepublik.
16 Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, München 1991 17 In: Philosophischer Literaturanzeiger 68 (2015), 354-361
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Teil I: Die Nachlassprovokation
Eine erste, sehr fehlerhafte und unvollständige Edition erschien 1991 wenige Jahre nach Schmitts Tod (1985). Sie wurde von dessen einstigem Schüler und Assistenten Eberhard von Medem (1913-1993) herausgege‐ ben, und die Person des Herausgebers und die näheren Umstände der Edi‐ tion wären einige Recherchen Wert.18 Medem war ab 1935 ein prononcier‐ ter NS-Mitarbeiter Schmitts, assistierte ihm auch das Jahr 1936 hindurch bei der Organisation der Tagung über Das Judentum in der Rechtswissen‐
18 Der Vater Walter von Medem (1887-1945) war im Ersten Weltkrieg Offizier gewe‐ sen und führte nach dem Krieg im Baltikum dann das Freikorps von Medem gegen sowjetische Revolutionstruppen, so in Kämpfen um Riga. Albert Leo Schlageter gehörte diesem Freikorps an. Später trat von Medem in den Stahlhelm ein und po‐ sitionierte sich als einflussreicher nationalistischer Journalist gegen die Weimarer Republik. 1933 trat er in die NSDAP ein. Alfred Rosenberg ernannte ihn 1941 zum Gebietskommissar von Mitau (Jelgava), wo er im großen Barockschloss der Her‐ zöge des Kurlands residierte. Aus seiner Publizistik vgl. Walter von Medem, Stür‐ mer von Riga, Leipzig 1935; Kampf gegen das System als Chronist 1926-1932, Berlin 1937; der Verweis auf die familiäre Herkunft behauptet selbstverständlich keinerlei Kausalitäten, sondern verweist auf das Desiderat einer näheren Erfor‐ schung des nationalistischen und nationalsozialistischen Gesamtrahmens und Mi‐ lieus, in dem Schmitt agierte. Für die nationalsozialistische Zeit wurden die Kon‐ stellationen lange auf die kollegialen Konkurrenzen konzentriert. Bendersky ver‐ wies hier bereits auf die Auseinandersetzungen Schmitts mit Otto Koellreutter, Reinhard Höhn und Werner Best. Anna-Maria von Lösch (Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999) rekonstruierte die Berliner Kontakte später eingehender aus den universi‐ tätsgeschichtlichen Quellen. Schmitts akademische Vernetzungen im Nationalso‐ zialismus sind aber noch nicht tiefenscharf erschlossen. So ist etwa die Zusam‐ menarbeit mit Carl August Emge noch nicht ganz geklärt. Die Wirkungsgeschichte Schmitts wurde wissenschaftsgeschichtlich lange auf seine prominenten Bonner Schüler (Huber, Forsthoff u.a.) verengt. Christian Tilitzki initiierte vor Jahren dann die universtätsgeschichtliche Erforschung von Schmitts Doktorandenkreis. Für die nationalsozialistische Zeit fällt hier teils eine starke nationalsozialistische Politisierung auf, die für die einzelnen – auch ausländischen - Schüler noch kei‐ neswegs hinreichend erschlossen ist. Das gilt im hohen Maße auch für Schmitts Berliner Mitarbeiter. Besonders bezeichnend und auffällig ist hier, dass Schmitt den NS-Studentenführer Herbert Gutjahr (1911-1944), einen Aktivisten der Berli‐ ner Bücherverbrennung, zum langjährigen Assistenten machte. Mehrere Mitarbei‐ ter Schmitts waren Mitglied der SS. Ein tiefenscharfes Bild von den politischen Wegen des Berliner Schülerkreise zeigt gewiss auch mancherlei Diversitäten und Absetzbewegungen. Zweifellos aber hat Schmitt im Nationalsozialismus auch nach politischen Kriterien selektiert und nationalsozialistische Karrieren gefördert. Ein umfassenderes Bild müsste diese Konstellationen stärker berücksichtigen, als es in meiner Schmitt-Biographie möglich war.
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I. 2. Glossarium 2015
schaft und erlebte Schmitts Sturz als NS-„Kronjurist“ aus nächster Nähe. Die Forschung hat es versäumt, seine Innenansichten vom NS-Akteur do‐ kumentarisch zu erfragen. Laut Wikipedia war er ab 1940 im Generalgou‐ vernement Krakau tätig, nach 1949 dann in der DFG und im Kultusminis‐ terium NRW. 1961 wurde er Kanzler der Universität Bonn und 1970 Mi‐ nisterialdirigent im Kultusministerium. v.Medem wechselte also nach sei‐ ner NS-Zeit in einflussreiche Positionen der Wissenschaftsverwaltung. Wikipedia verzeichnet u.a. das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, den Ehrenbürger der Universität Bonn und Ehrensenator der Universität Bielefeld. Diese Verdienste seien nicht bestritten, aber eine ty‐ pische Karriere der frühen Bundesrepublik liegt hier wohl vor. Der persön‐ lichen und thematischen Qualifikation für die Herausgabe des Glossari‐ ums entsprach die handwerkliche nicht ganz. Längst war bekannt, dass die zahlreichen fremdsprachlichen Zitate überaus fehlerhaft transkribiert wa‐ ren und eine sachaufschließende Kommentierung des extrem vorausset‐ zungsvollen Textes fehlte. Vor allem war die Edition unvollständig und publizierte nur drei von fünf „Kladden“ bzw. Heften. Die jetzige Neuaus‐ gabe ist nicht nur akribisch berichtigt und sparsam kommentiert, sondern auch um den halben Umfang erweitert und umfasst über den August 1951 hinaus in etwas loserer Folge die Jahre bis Ende 1958. Damals war Schmitt bereits 70 Jahre alt. So mängelhaft die erste Ausgabe des Glossariums auch war, war sie für die Schmitt-Forschung 1991 doch ein sensationeller Schock. Zwar war Schmitts NS-Engagement in großen Zügen bekannt und auch scharfe anti‐ semitische Texte hatte er ja seit 1933 selbst publiziert. Zahlreiche publizis‐ tische Abrechnungen alter Weggefährten mit dem NS-Akteur und eine umfangreiche Interpretationsliteratur zur NS-Publizistik lagen bereits vor. Tiefenscharfe Historisierungen des NS-Akteurs gab es aber kaum und es dominierten in der Forschung starke Legenden von Schmitts strategischen Anpassungen im Interesse eines mutmaßlich etatistischen „Zähmungskon‐ zepts“. Der Antisemitismus wurde als traditionaler und religiöser Antiju‐ daismus abgebucht, die Distanz zum Biologismus und Gegnerschaft zur SS betont und der Sturz vom Ende 1936 in der NS-Karriere als Bruch mit dem Nationalsozialismus insgesamt interpretiert. Schmitt galt zwar als ge‐ nial begabter und radikaler, „faustischer“ Professor, aber doch irgendwie noch als „Bürger“. Er war auch ein virtuoser Vergangenheitspolitiker sei‐ nes Werkes und einige seiner Schüler folgten seinen scharfen Legenden und Linien noch teils aus Pietät und Überzeugung und teils aus ideenpoli‐ tischem Kalkül. Der Rezensent hat 1988 über Carl Schmitt promoviert und 21
Teil I: Die Nachlassprovokation
noch lebhafte Erinnerungen an diese Atmosphäre und einige der Akteure: so auch an v.Medem. Zwar habe ich schon 1988 die antisemitischen Moti‐ ve der Normativismuskritik ernst genommen und dafür eisige Reaktionen erfahren, das Erscheinen des Glossariums überraschte mich aber dann doch in der Radikalität der Eintragungen und schockierte als skandalöse Enthüllung einer antisemitischen „Dämonologie“.19 Inzwischen hat sich die Quellenlage durch zahlreiche Archivstudien und Editionen von Korre‐ spondenzen und Tagebüchern völlig gewandelt und Schmitts Leben ist heute über lange Zeiträume fast von Stunde zu Stunde bekannt. Diese Kri‐ senbiographie wurde zu einer existentiellen Repräsentation des Jahrhun‐ derts. Es sind hier die Berichtigungen und Kommentare der Herausgeber nun nicht genauer zu betrachten. Sie entschieden klug für einen knappen Kom‐ mentar von Schmitts extrem verdichteten und hermetischen, geradezu un‐ auslotbaren Bemerkungen. Schon die Nachweise der polysemen Zitate ei‐ nes enormen Referenzraums sind geradezu unverzichtbar. Vielleicht sind die Aufzeichnungen der letzten beiden Bücher, die nun den Text von 1991 ergänzen, mit dem Abstand zum NS-Engagement etwas entspannter und in manchen Überlegungen auch eingeschliffener: Extrem gehaltvoll sind auch sie. Erstmals äußert Schmitt sich zum Holocaust. Warum sind alle Begriffe heute so vergiftet? Schmitt antwortet: „Weil die ganze Atmosphäre vergif‐ tet ist. Aber wodurch? Weil zu viele Leichen geschändet, verbrannt wor‐ den sind und ihre Asche in die Luft geflogen ist; weil die Luft voll ist von der Asche geschändeter Leichen, denen man die ehrliche Beerdigung ver‐ weigert hat.“ (252) Schmitt meint hier gewiss nicht nur den Holocaust, aber doch vor allem. Hitler nennt er gelegentlich ein „blindlings geworfe‐ nes Tier“ (332) und nimmt damit einen alten Tagebuch-Vergleich vom ge‐ blendeten Stier in der Arena auf. Erstmals äußert er sich 1957 auch einge‐ hend zu seinem Artikel Der Führer schützt das Recht von 1934 (361f): In einer Bürgerkriegslage habe er damals „naiverweise“ mit der Semantik des Rechts versucht, Hitler „zu einer rechtsförmigen Verantwortung zu zwingen“ (362). Seine Option für den Nationalsozialismus erklärt er ein‐ mal in einer Weise, der heute wohl auch nicht jeder zu folgen bereit ist:
19 Verf., Carl Schmitts Dämonologie - nach dem Glossarium, in: Rechtstheorie 23 (1992), 258-271
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I. 2. Glossarium 2015
„Wenn ich an die Zeit 1928-1932 denke und Adolf Caspary, Leo Strauß, Wal‐ ter Benjamin (und alle, die hierzu gehören) mich heute fragen, warum hast du 1933 auf der anderen Seite mitgemacht, so muss ich ihnen antworten: damit Ihr auf der deutschen Seite noch einen Partner behieltet; einen Denk- und Ge‐ sprächs- und (wie mein Schicksal von 1945 bis heute zeigt) sogar einen Schicksalspartner. Denn ohne dieses Schicksal nützt alle diese Denk- und Ge‐ sprächs-Partnerei nichts.“ (319)
Schmitts antisemitische Umschrift der Geistesgeschichte findet in den Eintragungen der 1950er Jahren erneut manche prägnante, merkwürdige und auch erhellende Formulierung. Im Glossarium steht nun in diversen Varianten: „Verstehst Du jetzt Bruno Bauer? Und Disraeli? Christentum ist Judentum fürs Volk. Die Emanzipation der Juden hat sich in der Weise vollzogen, dass die Christen Juden geworden sind.“ (253) „Christentum ist Judentum fürs Volk, hat Disraeli gesagt, und das haben Ludendorff und Hitler als ehrliche Ex-Christen (Disraeliten) begeistert nachgesprochen“. (353) „Hitler wollte die Juden ausrotten; schlimm genug; aber er kam nicht auf die Idee, sie zu entju‐ den. Die Emanzi[pation] der Juden aber hat sich bekanntlich in der Weise vollzogen, dass die Christen Juden geworden sind. Dieser Satz von Karl Marx ist der wichtigste Ausspruch des 19. Jahrhunderts.“ (269)
Die Polemik und der Sinn solcher Sätze sind hier nicht ausloten. Sie deu‐ ten nur an, dass Schmitt, anders als Heidegger, die Geistesgeschichte des Antisemitismus selbständig aufarbeitete und ernstlich an einer antisemiti‐ schen Identifikation einer Weltgeschichte des Judentums arbeitete. Er ver‐ suchte überall jüdische Autoren als Weichensteller auszumachen und kon‐ zentrierte sich dabei, wie seine Marxreferenz belegt, vor allem auf das mo‐ derne Judentum seit der Assimilation. Seine Feindidentifikationen be‐ trachtete er als ein zentrales Movens seines Werkes und einen Weg der Selbstverständigung. Diese Geistesgeschichte ist in mancher Hinsicht viel‐ fach interessant und erhellend. In Heideggers Schwarzen Heften findet sich nichts Vergleichbares. Schmitt sah sich nach 1945 als ein „Besiegter von 1945“ im Lande „Kafkanien“ (376) und „Hauptangeklagter“ (380) eines moralistisch und humanitär im Namen der „Menschheit“ entfesselten Prozesses und Rache‐ gerichts. Unentwegt beklagte er in den verschiedensten Tonlagen seine „Verfemung“ und suchte dabei keine stoische „Gelassenheit“, sondern den sardonischen Spott und die schwarze Heiterkeit des „Gelimerischen Ge‐ lächters“ (380). Die letzten beiden Bücher des Glossariums nennt er auf dem Titelblatt „Illustrationen zum Gelächter Gelimers“ (399) bzw. schlicht „Gelimer“ (400). „Don Capisco“ ist Hamlet oder Gelimer. Der be‐
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Teil I: Die Nachlassprovokation
siegte letzte Vandalenkönig Gelimer soll, nach spätantiker Überlieferung (Prokopios), dem siegreichen General Belisar gegenüber in einen fast end‐ losen Lachkrampf verfallen sein. Mit diesem Ingrimm identifizierte Schmitt seine „Verfolger“ nach 1945 häufig als Emigranten und Juden. Dabei empörten ihn vor allem die persönlichen Abrechnungen alter Weg‐ gefährten. Er klassifizierte seine Feinde nach 1945, verspottete karriere‐ strategische „Eselstritte“ unberufener Kritiker und ärgerte sich über Ab‐ grenzungen und öffentliche Ablehnungen von alten Bekannten und aktuel‐ len Repräsentanten der jungen Bundesrepublik, wie Spranger, Radbruch oder auch Theodor Heuss. Stärker noch trafen ihn aber die persönlichen Abrechnungen alter Freunde und jüdischer Weggefährten: Waldemar Guri‐ an und Franz Blei, Eduard Rosenbaum, Gottfried Salomon, Edgar Salin und Moritz Julius Bonn. Die Jahre 1945 bis 1958 charakterisierte er im biographischen Rück‐ blick als „entfesselte[n] Antifaschismus mit Gnadenbrot nach Art. 131“ durch ein „Regime“ der „Shylocks und oberflächlich nathanisierte[n] Ver‐ folger.“ (370) Doch jenseits der Abrechnungen und Kontaktabbrüche hoff‐ te er auf neue freund-feindliche Auseinandersetzungen. Immer wieder meinte er: „Erobern kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst.“20 Die Unterscheidung von Freundschaft und Feindschaft fällt in der Erkenntnis zusammen. Deshalb definierte er nach 1945 den Feind auch immer wieder als „unsre eigne Frage als Gestalt“. Nur wer sein Gegenüber kennt und erkennt, kann es eigentlich in seiner Identität exis‐ tentiell in Frage stellen. Und nur der antipodische Gegner hat diese Ener‐ gie der Hellsicht. Das lernte Schmitt schon bei Hobbes und Hegel: Freundschaft und Feindschaft sind im Kampf des Anerkennens enharmo‐ nisch ununterscheidbar. Deshalb suchte Schmitt nach 1945 erneut das Ge‐ spräch mit jüdischen Intellektuellen und bemühte sich hier zunächst um Karl Löwith. Er rezensierte 1950 Löwiths Buch Meaning in History, profi‐ lierte dagegen seine Sicht der „Möglichkeiten eines christlichen Ge‐ schichtsbildes“21 und sorgte durch seine Nachkriegsschüler Hanno Kes‐ ting und Reinhart Koselleck auch für eine Übersetzung des Buches ins Deutsche. Ein Kontakt kam aber nicht zustande, und vermutlich lehnte
20 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus, Köln 1950, 18, 39 21 Carl Schmitt, Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes, in: Hans Blumenberg / Carl Schmitt. Briefwechsel 1971-1978, hrsg. Alexander Schmitz / Marcel Lepper, Frankfurt 2007, 161-166.
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I. 2. Glossarium 2015
Löwith ab. In der erweiterten Neuausgabe des Glossariums ist dazu 1956 eine milde Form der Verfolgung registriert: „Mein Exemplar des Buches von Leo Strauss über Spinoza (1930) ist dieser Tage in die Hände von Karl Löwith gefallen. Er hat sich darauf gestürzt wie ein Verfolger auf eine Spur, wie ein Kriminalbeamter auf ein Corpus delicti, wie ein Erbschleicher auf ein ihm günstiges Testament. Ich aber denke nur an die seltsamen Schicksale von Büchern und einzelnen Exemplaren. Ohne die‐ ses Buch von Strauss wäre mein Buch über den Leviathan (1938) nicht ge‐ schrieben worden. Von 1932-1945 hat es mich begleitet; im Sommer 1945 ha‐ be ich noch viele Notizen dazu gemacht und Bemerkungen an den Rand ge‐ schrieben. Dann haben es die Amerikaner beschlagnahmt und verschleppt. […] Jetzt hat es die Bibliothek in Heidelberg erworben und Löwith hat sein gebundenes Exemplar in Tausch gegeben, um meine Randbemerkungen in Besitz zu haben.“ (349)
Dieses Notat markiert wohl ein Ende der Hoffnungen auf das persönliche Gespräch mit Löwith. Schmitt sieht seine Suche nach kongenialen jüdi‐ schen Gesprächspartnern aber weiter in der politisch-theologischen Per‐ spektive der „Schicksalspartner“: „Wer kann diese Erkenntnis der Gottes-Nahme verstehen? Keiner unserer heutigen Staats- und Gesellschafts-Christen. Kein zolibatärer Bürokrat – der wird nur bösartig, wenn er davon hört – und kein Pharisäer. Ich muss also wohl auf einen Juden warten. Vielleicht Jakob Taubes; vielleicht Kojève.“ (313)
Nur von jüdischen Intellektuellen erwartete Schmitt eine kongeniale Er‐ kenntnis und Feindidentifikation. Es kommt damals zwar zu einer kurzen Begegnung und Korrespondenz mit Kojève über die Aktualität Hegels, die für Schmitt weit intensiver und folgenreicher war als etwa der langjährige Kontakt mit Joachim Ritter; Hegel-Lektüre wird in den 1950er Jahren er‐ neut zu einem zentralen Medium der Auseinandersetzung und Gegen‐ wartserkenntnis. Kein alter Kontakt zu einem jüdischen Intellektuellen und Weggefährten vor 1933 stellt sich aber nach 1945 wieder her. Erst in den 1970er Jahren gelangt Schmitt über seine politisch-theologischen Fra‐ gen wieder in ein intensives Gespräch mit „jüdischen“ Intellektuellen: mit Hans Blumenberg und Jacob Taubes. Außer seinem Shakespeare-Büchlein Hamlet oder Hekuba (1956) und der Redaktion seiner Verfassungsrechtlichen Aufsätze (1958) veröffent‐ lichte Schmitt in den 1950er Jahren nach seinem umstrittenen publizis‐ tischen „Come-back“ von 1950, mit vier Monographien, kein eigenes grö‐ ßeres Buch. Vielleicht sah er das Glossarium doch für eine überarbeitete Publikation vor. Vielleicht wollte er seinen „Prozess“ in ein kafkaeskes 25
Teil I: Die Nachlassprovokation
Protokoll des Jahrhunderts fügen. Gelegentlich schielt der Text explizit auf „Leser“. Vermutlich sah Schmitt diese Publikationsfrage ambivalent. Sie ist bis heute jedenfalls nicht definitiv geklärt. Die Entwicklung des Kalten Krieges und der Übergang zur Weltraum-Nahme sind nun im Glos‐ sarium in manchen Aufzeichnungen gespiegelt; Hegel-Lektüre dient dabei auch der Auseinandersetzung mit dem Hegelmarxismus (Lukács). Schmitt analysiert den Triumph der Faschismusformel (300) und beobachtet die Akkomodation der intellektuellen Repräsentanten der frühen Bundesrepu‐ blik. Den Tod Thomas Manns kommentiert er spitzt: „Ein Geßler-Hut fällt von der Stange.“ (318, vgl. 312) Das „Volk von Konvertiten“ (321) kommt auch nicht gut weg. Schmitt tritt die politische Gegenwartsanalyse in diesen letzten Büchern des Glossariums nun aber ein Stück weit an zahlreiche eingeklebte und glossierte Zeitungsartikel ab, die die Edition treffend faksimiliert und deren Lektüre den Leser in manche Abgründe stürzt. Die Polysemie dieser Aufzeichnungen ist, wie gesagt, fast unauslot‐ bar. Dazu sei eine letzte Eintragung vom Februar 1956 zitiert: „Modernes Gespräch: Wieviele Sprachen sprechen Sie eigentlich? Zwei tote Sprachen, Griechisch und Latein kann ich gut lesen; ich spreche leidlich 5 na‐ tionale, d.h. halbtote Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch; und beherrsche mindestens sieben lebendige, d.h. ideologische, wirksame, d.h. internationale Sprachen, nämlich humanistisch, liberaldemo‐ kratisch, faschistisch, marxistisch, römisch=katholisch christlich=evange‐ lisch, ferner: positivistisch und hegelianisch. Macht also zusammen 14 Spra‐ chen, deren Vokabulaire, Grammatik und Syntax mein Gehirn präsent haben muss. Sonst wäre ich nämlich schon längst ein- und untergebuttert. So aber lebe ich noch und genieße der Freiheit meines Geistes.“ (341)
I. 3. „Die große Übersicht“. Im Netzwerk der Selbstglossierung22 Die Publikation des Glossariums gab 1991 eine erste Kostprobe von den verwunschenen Schätzen des Nachlasses: von Schmitts Manie und Manier der Selbstdeutung und den großen hermeneutischen Herausforderungen, die der Nachlass dem hoffnungsvollen Forscher bereitet. Von den autorin‐ tentionalen Schriften führt der akademische Weg über die Briefe und Ta‐ gebücher, Handexemplare und Bibliothek bis in die Abgründe der Zettel‐ wirtschaft von Schmitts Notizen und Mappen. „Quellen“ sind ein Kon‐
22 Für die Dokumentation überarbeitete und erweiterte Fassung aus: Schmittiana N.F. III (2016), 317-325
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I. 3. Im Netzwerk der Selbstglossierung
strukt der Forschung. Alles kann Bedeutungszuschreibungen erfahren. Ne‐ ben den Briefen und Tagebüchern ist Schmitts Bibliothek auch tatsächlich eine Quelle ersten Ranges. Das gilt nicht zuletzt für die Handexemplare eigener Schriften, die teils überreich verdichtete Palimpseste sind. Der Be‐ stand ist bei Weitem nicht vollständig. Mitunter führte Schmitt auch meh‐ rere Handexemplare eines Werkes für marginale Eintragungen. Die Text‐ stufen sind dabei durch Handschrift, Stiftwahl, Literaturverweise u.a. oft einigermaßen genau datierbar. Späte Glossierungen seit den 1960er Jahren zeigen bei aller Flüchtigkeit der Eintragungen ein gewisses Formbemühen um den Typus der Selbstglossierung. Häufig klebte Schmitt Zeitungsarti‐ kel ein und glossierte sie. Wichtig sind auch die Empfängerlisten, die er in seine Handexemplare eintrug. Sie ermöglichen eine Prosopographie des jeweiligen Adressatenkreises.23 Eine systematische Erforschung der Selbstglossierungen in den Handexemplaren ist ein Desiderat. Die folgenden Ausführungen zielen anlässlich der Neuausgabe von Der Hüter der Verfassung über die einzelnen Quellen hinaus auf Schmitts Be‐ mühungen, die Einheit und Kontinuität seiner Problemsicht glossierend herauszustellen, und geben einen kleinen Einblick in die hermeneutischen Tücken und Herausforderungen im Umgang mit dem Nachlass. I. 1930 und 1931 wechselte Schmitt aus Verstimmung über seinen Verleger Ludwig Feuchtwanger für zwei Broschüren zum Verlag Mohr Siebeck.24 Jahrzehnte später will er mit beiden Schriften nach Duncker & Humblot zurückkehren. Dazu schreibt er am 25. Mai 1968 an den Verleger Johan‐ nes Broermann (1897-1984): „Wenn der ‚Hüter der Verfassung’ neu gesetzt wird, liesse sich vielleicht die damit zusammenhängende kleine Schrift über Hugo Preuß als eine Art Corol‐ larium mitabdrucken. Diese Schrift ist sehr wichtig. Ich füge ein Exemplar
23 Empfängerliste der Preuß-Broschüre in RW 265-20831; Empfängerliste Hüter der Verfassung RW 265-19280; ähnliche Adressatenlisten finden sich häufiger im Briefwechsel mit dem Verleger Feuchtwanger. Von 1947 bis 1966 notierte Schmitt viele Empfänger seiner Publikationen in eine wichtige Kladde (RW 265-19600). Auch in späten Handexemplaren finden sich immer noch Empfängerlisten. 24 Dazu Schmitts Briefe vom 19. Januar und 12. April 1930 sowie 20. März 1931 an Feuchtwanger, in: Carl Schmitt / Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918-1935, hrsg. Rolf Rieß, Berlin 2007, 315, 319, 334
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Teil I: Die Nachlassprovokation
bei. […] Es wäre auch zu überlegen, ob man diesem Neudruck des ‚Hüters der Verfassung’ eine kurze Vorbemerkung vorausschickt.“25
In seiner Antwort vom 7. Juni 1968 erklärte sich Broermann mit Schmitts Vorschlägen umgehend einverstanden. Aus ungeklärten Gründen kam es 1969 dann aber nur zu einem unveränderten Nachdruck der Schrift von 1931, dem 1985, im Todesjahr Schmitts, eine dritte unveränderte und sei‐ tenidentische Ausgabe folgte. Erst 2016 ließ sich der Plan realisieren26 und damit erstmals seit 1930 seine „sehr wichtige“Schrift über Hugo Preuß erneut zugänglich machen. Die reiche Selbstglossierung sei hier nä‐ her vorgestellt und gedeutet. Im Nachlass sind zwei Handexemplare der Broschüre erhalten. Eines (RW 265-765) trägt den Besitzvermerk eines Vorbesitzers von 1948 und darunter den Namen „Carl Schmitt“. Schmitt erhielt es offenbar als Zweit‐ exemplar. Es zeigt nur wenige Unterstreichungen. Ein zweites Exemplar (RW 265-28767), stark zerlesen, notiert mit Tinte „Handexemplar Carl Schmitt“ und zahlreiche stenographische, schwer leserliche Bleistiftmargi‐ nalien. Im Nachlass befindet sich darüber hinaus eine Mappe mit wichti‐ gen Materialien (RW 265-20831): stenographischen Teilen des Manu‐ skripts, Steno-Exzerpte zu Schriften von Hugo Preuß, eine gedruckte Adresskarte von Preuß mit handschriftlichem Dank vom „7. Jan.[uar 19]17“ für eine freundliche „Zusendung“,27 das gedruckte Einladungs‐ schreiben zur Preuß-Rede vom Reichsgründungstag in der Handels-Hoch‐ schule, zum „Festakt in der Aula“, adressiert an den Vortragenden selbst, Seiten der Erstveröffentlichung in der Neuen Rundschau,28 mit leicht iro‐ nischer Widmung Schmitts an die Ehefrau („Unveräußerliches Eigentum von Duška Schmitt / Berlin, 26. Februar 1930“), eine Empfängerliste der Preuß-Broschüre von 1930, einige Rezensionen sowie Zeitungsartikel zu
25 Carl Schmitt am 25. Mai 1968 an Johannes Broermann (Verlagsarchiv D & H, Mappe: Der Hüter der Verfassung); ähnlich zuvor schon am 16. November 1967 an Broermann 26 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung. Anhang: Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, 5. Aufl. Berlin 2016 27 Evtl. Carl Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand, in: Zeitschrift für die gesam‐ te Strafrechtswissenschaft 38 (1916), 138-162. 28 Carl Schmitt, Hugo Preuß in der deutschen Staatslehre, in: Die Neue Rundschau 31 (1930), 289-303
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I. 3. Im Netzwerk der Selbstglossierung
Hugo Preuß: u.a. zwei Exemplare eines rückblickenden Artikels von Theodor Heuss.29 Schmitt kannte Heuss flüchtig aus der Berliner Hochschule für Politik vor 1933. Heuss hatte die Berliner Preuss-Festrede vom 18. Januar 1930 gehört und dazu einen Brief geschickt,30 den Schmitt nach 1945 gelegent‐ lich vergangenheitspolitisch einsetzte. Der Briefinhalt selbst konnte ihn schwerlich beeindruckt haben, entdeckte Heuss doch in den Ausführungen seinen Friedrich Naumann wieder. In Schmitts Tagebüchern finden sich denn auch nur zwei Erwähnungen: Er erwähnt am 28. März 1930, wenige Wochen nach Heuss’ Brief, dessen Anwesenheit bei einer Veranstaltung und kommentiert zwei Jahre später, am 15. Januar 1932, einen Vortrag: „Heuss sprach scheußlich, langweilig und quatschig. Schlief fast ein, schämte mich“. Schmitt interessierte sich erst nach 1949 für Heuss als Bundespräsident. Im Glossarium finden sich dazu einige ätzende Bemer‐ kungen. So schreibt Schmitt am 17. September 1951: „Eduard Spranger ist der Theodor Heuss der Pädagogik, und Theodor Heuss der Eduard Spranger der Politik. Alles dieses findet sich, findet sich und kün‐ det sich.“31
Silvester 1958 notiert Schmitt: „Friedlich wie ich bin gesonnen, sitze ich in meinem Zimmer und schmökere nichts Böses ahnend in der Frankfurter Allgemeinen, die noch nicht von der giftigen Rachsucht der strebenden Gegenwart unterwandert zu sein schien. Plötzlich schlägt mir einer einen Gummiknüppel über den Kopf. Was ist ge‐ schehen? Unser verehrungswürdiges Staatshaupt – möge Gott es verlängern bis zum jüngsten Tage – hat am 10. Dezember eine Rede zur 10-Jahresfeier der UNO-Erklärung der Menschenrechte gehalten und sagt am Schluss, die vor Jahren aktuelle Freund-Feind-These sei zwar kokett aber sachlich wie seelisch dürftig und bescheiden. Wörtlich: kokett, seelisch dürftig und be‐ scheiden. Wink mit dem Gummiknüppel. Ich weiß was es bedeutet, wenn ein 75jähriger pouvoir neutre sich so anstrengt, um einen wehrlosen 70jähringen, der friedlich und vollkommen abserviert in einer Ecke des Sauerlandes sitzt,
29 Theodor Heuss, Staat, Recht und Freiheit. Hugo Preuss. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag, in: FAZ Nr. 254 v. 29. Oktober 1960 30 Abdruck in: Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, hrsg. Kai Burckhardt, Berlin 2013, 64f 31 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, Berlin 2015, 254; zu Schmitts Verhältnis zu Spranger vgl. Verf., Die Erfindung der Frei‐ heit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, Würzburg 2018, 149-161
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Teil I: Die Nachlassprovokation
moralisch zu diffamieren und seinen Ruf zu morden. Kokett und seelisch dürftig. Ein Seelenmord in einer Rede über Menschenrechte.“32
Schmitt schrieb später ein Spottgedicht33 auf Heuss, der Schmitt in seinen Memoiren34 dann rückblickend eingehender negativ charakterisierte. Die‐ se Scharmützel sind hier nicht zu rekonstruieren. Doch warum finden sich die Heuss-Artikel in der Mappe? Die Rede von 1930 skizzierte Preuß’ „Stellung“ in der Geschichte der liberalistischen Staatslehre oder Liberali‐ sierung des Staatsbegriffs. Wenn Schmitt Heuss-Bemerkungen in der Nachlassmappe sammelt, verlängert er seine kritische Linienführung über Preuß hinaus und aktualisiert sie mit Heuss. Die Mappe enthält darüber hinaus eine mit„28/12 33.“ datierte Typo‐ skriptseite, zu der Schmitt handschriftlich in Tintenschrift bemerkte: „Anm. zu S. 17 von Staatsgefüge und Zusammenbruch, von Duprel35 missbilligt; Aus dem Ms. Staatsgefüge u. Zusammenbruch, 1934 (nach Besprechung mit Popitz36 gestrichen)“. Der Text ergänzt Bemerkungen zu einem Zitat des „nationalliberalen Führers“ August von Benningsen (1824-1902). Laut Zitat forderte Benningsen, „die Heerverfassung und Wehrverfassung einzufügen in die konstitutionelle Verfassung“. Schmitt bemerkte 1934 dazu, dass das, „was Preußen in seiner wahren Verfassung hielt [die Heeresverfassung, RM], für die Denk- und Sprechweise des bür‐ gerlichen Verfassungsstaates als ein von der Verfassung überhaupt nicht erfasster, verfassungsloser, anarchischer, unmöglicher Zustand erschei‐ nen“ musste.37 Schmitt lehnte also Benningsens liberale Forderung ab. Dazu wollte er in der Fußnote noch das ausgeschiedene Textstück ergän‐ zen, das vollständig lautet:
32 Schmitt, Glossarium, 2015, 379 33 Dazu der Abdruck in: Gerd Giesler / Ernst Hüsmert / Wolfgang H. Spindler (Hg): Gedichte für und von Carl Schmitt (Plettenberger Miniaturen 4), Plettenberg 2011, 26f; vgl. Verf., Liberale Demokratie als Paradoxon? Carl Schmitts Beisetzung des klassischen Liberalismus, in: Ewald Grothe / Ulrich Sieg (Hg.), Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014, 203-227, hier: 207f 34 Theodor Heuss, Erinnerungen 1905-1933, Tübingen 1963, 303f 35 Maximilian Du Prel (1904-1945), promovierter Jurist, damals Schriftleiter des Völkischen Beobachters, Leiter des Presseamtes des Bundes Nationalsozialisti‐ scher Deutscher Juristen 36 Johannes Popitz (1884-1945), Freund Carl Schmitts, damals preußischer Finanz‐ minister 37 Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Hamburg 1934, 17
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I. 3. Im Netzwerk der Selbstglossierung
„1) (Stenographischer Bericht, Band 2, Seite 754) Hugo Preuss hat diesen Ausspruch Benningsens in einer Erstlingsschrift „Friedenspräsenz und Reichsverfassung“, Berlin 1887, Seite 41 zitiert. Meine Rede über Preuss (Hugo Preuss, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staats‐ lehre, Tübingen 1930), beruht auf dem Satz, dass es „historisch gerecht und fast symbolhaft“ ist, dass gerade Hugo Preuss der Vater der Weimarer Verfas‐ sung wurde. Ich glaube nicht, dass man das Wesentliche deutlicher zusam‐ menfassen kann. Preuss hat seine Laufbahn mit jener Schrift über „Friedens‐ präsenz und Reichsverfassung“ begonnen und mit der Weimarer Verfassung beendet. Auch das gehört zum Gesamtbilde der inneren Folgerichtigkeit, mit welcher der liberale Konstitutionalismus sich entwickelt hat. Ein Mann wie Hugo Preuss konnte zu einer paradigmatischen Figur dieser Entwicklung wer‐ den. Wenn ein Joll Jolson aus dem Münchner Ghetto unter dem Tarnungsna‐ men Friedrich Julius Stahl den geistigen Führer des preussischen Konservatis‐ mus spielt, so muss das für alle beteiligten Menschen und für die Sache selbst zu einer krampfartigen Scheinechtheit führen. Hugo Preuss dagegen ist als li‐ beraler Bürger weltanschaulich in Ordnung und existentiell echt. Die Ge‐ schichte des liberalen Bürgertums zeigt, dass ‚der Zusammenhang von bür‐ gerlicher Bildung und Weimarer Verfassung nicht gelegentlich, sondern we‐ sensmässig ist’. Und das Schicksal der deutschen Intelligenz und Bildung wird deshalb tatsächlich mit dem Schicksal der Weimarer Verfassung untrenn‐ bar verbunden bleiben.“
Schmitt unterscheidet im ausgeschiedenen Textstück also zwischen der li‐ beralen Bürgerlichkeit von Julius Stahl und Hugo Preuß. Stahls Namen stigmatisiert er 1934 bereits antisemitisch als Joll Jolson, was er in den nächsten Jahren immer wieder tun wird. Seine antisemitische Codierung der Liberalismuskritik konzentrierte sich im Nationalsozialismus insbe‐ sondere auf Stahl. Dass der Schriftleiter des Völkischen Beobachters eine so fragwürdige Ehrenrettung von Preuß gegen Stahl irgendwie „missbil‐ ligte“ und Schmitt auch im Nationalsozialismus gelegentlich noch zwi‐ schen den liberalen Autoren differenzierte, ändert an der polemischen Ge‐ samtverwerfung wenig. Weshalb Schmitt das ausgeschiedene Textfrag‐ ment in der Nachlassmappe aufbewahrte, ist heute auch nicht mehr ent‐ scheidbar. Zweifellos setzen die Materialien aber die Auseinandersetzung bis in die Gegenwart fort und unterstreichen so einen polemischen Aktua‐ litätsanspruch. II. Zum Hüter der Verfassung sind eine Mappe mit Rezensionen (RW 265-19281) sowie Manuskriptteile (RW 265-19277) erhalten, die sich in
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Teil I: Die Nachlassprovokation
verschiedenen Textstufen auf die Seiten 111-115 („Übersicht über die ver‐ schiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpoliti‐ schen Neutralität des Staates“ beziehen. Es handelt sich um eine stenogra‐ phische Urschrift, eine handschriftlich ausgearbeitete Gliederung in Lang‐ schrift wie Kurzschrift sowie ein Typoskriptfragment mit handschriftlicher Überarbeitung. Die Langschrift-Gliederungseinteilung wird hier übertra‐ gen, weil sie mit der Druckfassung nicht formulierungsidentisch ist und den Entscheidungsbegriff exponiert, der in der Endfassung fehlt. Schmitt gliedert im Manuskript: „I. Die Neutralität der Nicht-Entscheidung, Offenhaltung aller Entscheidung, von der Entscheidung wegführend, die Entscheidung suspendierend oder an‐ deres freilassend 1. Neutralität der Nicht-Intervention / Nicht-Einmischung 2. Neutralität der gleichen Chance 3. Neutralität der gleichen Quote (Parität) II. Neutralität als Grundlage einer Stellungnahme oder Entscheidung (zur Ent‐ scheidung hinführende Neutralität). 1. Neutralität der Distanz / Entfernung vom Streitgegenstand 2. Neutralität der normgebunden[en] (und dafür unabhängigen) Entscheidung 3. Neutralität des über den Parteien stehenden höheren Dritten: der Stand‐ punkt des Ganzen“
Zum Buch Der Hüter der Verfassung finden sich im Nachlass ein Exem‐ plar (RW 265-28072) der zweiten Auflage von 1969 ohne Anstreichungen und Einträge, eine Mappe (RW 265-19280) lediglich mit kartonierter Vor‐ derseite und Eintrag in Tintenschrift unter dem Titel: „Hüter gegen wen??“ sowie eine Liste von Empfängern und ein Handexemplar (RW 265-28063), Leinen gebunden, mit Besitzvermerk „Carl Schmitt“, das nicht als Korrekturexemplar geführt ist und außer Bleistiftunterstreichun‐ gen, wenigen frühen Rotstiftmarkierungen und einigen späten Füllerunter‐ streichungen keine Randbemerkungen enthält. In den Vorsatz klebte Schmitt – wahrscheinlich erst rückblickend 1969/70 – aus der Rubrik Ver‐ mischtes der Deutschen Juristen-Zeitung 1932 Sp. 725 eine Glosse „Der Reichsjustizminister zur Unabhängigkeit der Gerichte“38 und schrieb da‐ neben: „Joël39 11. Mai 1932 Recht sprechen nicht aber Politik treiben –
38 DJZ 37 (1932), Sp. 725 39 Curt Walter Joël (1865-1945), 1920 bis 1931 Staatssekretär im Reichsjustizminis‐ terium, unter Brüning bis zum 30. Mai 1932 dann Reichsjustizminister; Joël war jüdischer Herkunft, was für Schmitt gewiss beachtlich war.
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I. 3. Im Netzwerk der Selbstglossierung
Politik treibt man!“ In den Nachsatz klebte er ebenfalls mehrere Artikel. Der erste lautet: „Bundespräsident Heinemann40 hat dem Bundestagspräsidenten schriftlich mitgeteilt, dass er sich nach eingehender Prüfung der Verfassungsrechtslage außerstande sieht, das vom Bundestag am 2. Juli und vom Bundesrat am 11. Juli beschlossene Architektengesetz auszufertigen und zu verkünden. (dpa)“
Daneben notiert Schmitt mit Bleistift: „2/5 1970: er sieht sich ausserstan‐ de / er sieht sich ausserstande“.Darunter steht ein Artikel vom 26. Septem‐ ber 1969, ein Kommentar von fr. (F.K.Fromme)41 aus der FAZ: „Heine‐ mann prüft Gesetze. Mittel für eigene Gutachten erwünscht / Es geht um die Verfassungsmäßigkeit“. Daneben schreibt Schmitt: „‚Tücke des Geset‐ zes’ / Heinemann 1969 / (Gesetz & Urteil Seite 30“).42 Darunter folgt ein Artikel vom 6. Juli 1970 Wirbel um Wiens Parlament. Jahre später, 1978/79, glossiert Schmitt den Vorderumschlag erneut und schreibt über die DJZ-Miszelle zunächst lateinisch: „Minima non curat Praetor / Maxima non curat praetor“:43 Um Kleinigkeiten kümmert sich der Prätor nicht, um Wichtiges auch nicht! Auf die gegenüberliegende Sei‐ te notiert er unter den Besitzvermerk „zu S. 4844 - der normativistische Schatten / Schulfrage [Seite] 56“ und daneben „.Die grosse Übersicht, Anm. 3 auf Seite 7/8 dieses Buches (Ephoren)“.Er schreibt auch eine z. T. in Gabelsberger Stenografie formulierte „Notiz (zu meinem 90. Geburts‐ tag 1978), zu Seite 155, Anm. 4 (Inamovibler45 Preussischer Staatsrat von 1934“. Einleitend hatte er in seiner „Übersicht über verschiedene Arten und Möglichkeiten des Verfassungsschutzes“ die Tradition des griechischen
40 Gustav Heinemann (1899-1976), SPD-Politiker, 1969-1974 Bundespräsident 41 Friedrich Karl Fromme (1930-2007), Eschenburg-Schüler, langjähriger einflussrei‐ cher FAZ-Redakteur. Wichtige Dissertation: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentari‐ schen Rates aus der Weimarer Republik und nationalsozialistischen Diktatur, Tü‐ bingen 1962 42 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspra‐ xis, 2. Aufl. München 1969 43 Zitiert auch in Glossarium, Berlin 2015, 42 u. 420; der erste Satz stammt aus dem römischen Recht, der zweite ist von Schmitt dazugesetzt. 44 Schmitt zitiert hier aus seiner Verfassungslehre die „Kirchen- und Schulfrage“ als Beispiel für einen „dilatorischen Formelkompromiss“. 45 Unabsetzbar
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Teil I: Die Nachlassprovokation
Ephorats – als „Krieg gegen den inneren Feind“ – skizziert und dabei auch an „Hegels Kritik der Fichteschen Ephoratspläne“ als „wichtigste Stelle dieser ganzen, Jahrhunderte hindurchgehenden staats- und verfassungs‐ theoretischen Literatur“ erinnert.46 Gegen Ende seiner Schrift kommt er in der erwähnten Fußnote auf die „Erblichkeit“ eines Senatssitzes im franzö‐ sischen Verfassungssystem zu sprechen: „Aber ein Verfassungsgesetz vom 9. Dezember 1884 beseitigte diese Ein‐ schränkung des demokratischen Prinzips der Wahl. Doch blieben die auf Leb‐ zeiten ernannten Mitglieder in ihrer inamoviblen Stellung, nur dass sie bei Wegfall nicht wieder ergänzt wurden. Der letzte dieser inamoviblen Senato‐ ren ist erst vor wenigen Jahren gestorben.“47
Auf diese Sätze spielt Schmitt fast 50 Jahre später in seiner stenographi‐ schen, fast unleserlichen Bemerkung an; mit dem Verweis auf den „Preu‐ ßischen Staatsrat von 1934“ verweist er in ironischer Identifikation auf die eigene inamovible Rolle: Das Amt des Preußischen Staatsrats war ihm von Göring auf Lebzeiten verliehen worden, worauf Schmitt nach 1945 gelegentlich hinwies, und der uralte Schmitt betrachtete sich hier offenbar 1978 noch in seiner inamoviblen oder entfristeten Stellung als ein letzter Vertreter oder Hüter der „letzten Garantie“ des Verfassungsschutzes. Man muss Schmitts – hier nur partiell dokumentierte - Bricolage nicht en detail kontextualisieren und rekonstruieren: Viele Notate sind gewiss sehr zufällig. Von irgendwelchen Kausalitäten zwischen den assoziierten Fällen von 1932, 1934 und 1970 kann schwerlich die Rede sein. Offenbar beobachtete Schmitt aber die Unabhängigkeit der Justiz in der Unterschei‐ dung von Recht und Politik. Wichtig ist auch, dass er den Preußischen Staatsrat erwähnt und in die Tradition der griechischen Ephoren stellt. Sei‐ ne verfassungsgeschichtliche „große Übersicht“ glossiert im einzigen er‐ haltenen Handexemplar in zwei Bearbeitungsphasen die Kontinuität der Problemsicht. Schmitt sieht und präsentiert sich dabei – zum 90. Geburts‐ tag – erneut als „Aufhalter“. Im Schreiben von 1968 nannte er seine Broschüre „eine Art Corollari‐ um“. Neudeutsch gesprochen verlinkte er sein Werk über die Publikatio‐ nen hinaus auch durch Materialsammlungen und Selbstglossierungen der Handexemplare. So schlug sein spätes Handexemplar von Legalität und
46 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, 8 47 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 155
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I. 3. Im Netzwerk der Selbstglossierung
Legitimität eine Brücke zur Theorie des Partisanen.48 Die fortdauernde Rede von „Corollarien“legt einen starken Akzent auf die Konsequenz und Folgerichtigkeit des eigenen Werkes. Ständig kämpfte Schmitt gegen den Verdacht und Vorwurf des „Okkasionalismus“ und Opportunismus an. Mit seinem Glossarium eröffnete er das Labyrinth seines Nachlasses, in dem sich die Forschung allzu leicht verlaufen kann. Gewaltige hermeneutische Erschließungsprobleme warten auf den findigen Forscher, der sich ins Di‐ ckicht begibt. Hier von Hermetik und Esoterik zu sprechen, wäre glatt idealisierend: Vor jedem Rätselspiel, das Schmitt intentional zündete, ste‐ hen die fast unlösbaren Herausforderungen der Handschrift, Kurzschrift und assoziativen Kreativität und Chaotik. Der Nachlass als solcher ist bes‐ tenfalls eine Fundgrube für frustrationstolerante Wünschelgänger. Wer sich intensiv hineinbegibt, findet so schnell nicht wieder heraus. Stecken‐ pferde und Verstiegenheiten lassen sich hier reichlich reiten. Viel akade‐ mische Liebesmüh wurde in den letzten Jahren in den Nachlass investiert. Nur über die editorischen Anstrengungen und Leistungen der letzten Jahr‐ zehnte führt der Weg aber einigermaßen verlässlich von den Quellen zur interpretativen Rekonstruktion. Schmitt betonte in seiner späten Souverä‐ nitätskritik stets die Bedeutung des „Zugangs zum Machthaber“: Diese Zugangsfrage ist auch für den Umgang mit seinem Nachlass zentral.
48 Dazu der Anhang in: Carl Schmitt, Legalität und Legitimität. Achte, korrigierte Auflage, Berlin 2012, 93-97
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
II. 1. Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? München 198949 Ein Jahr nach Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich (1988)50 veröffentlicht Bernd Rüthers einen publikumsbewusst „ge‐ rafften Überblick“ über Carl Schmitt im Dritten Reich, der wohlfeil zu‐ sammenfasst, was man, mit Heidegger’scher Emphase gesprochen, über den „Kronjuristen“ des Dritten Reiches wissen will und sollte. Deutete Entartetes Recht noch in überzeugender Weise „Carl Schmitt als Paradig‐ ma“ der Verführung eines Staatsrechtlers durch die Macht, so bezeugt Rüthers’ neues Buch eine weitaus harmlosere Verführung zur Autorschaft; das an sich bedeutende Thema hing an Rüthers „fast wie eine Klette“. Der Untertitel stellt Carl Schmitt im Dritten Reich ins Licht einer wis‐ senschaftskritischen Frage: Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? Diese Frage nach der Verstrickung der Wissenschaft in Politik lässt Rüthers hin‐ ter seiner „beispielhaft“ dann auf Schmitt konzentrierten Darstellung des nationalsozialistischen „Einsatzes“ und „Engagements“ führender Wissen‐ schaftler nur aufleuchten (Kapitel A, C). Er schließt sich – zur ZeitgeistVerstärkung? – an die aktuelle Heidegger-Debatte an, die gerade erst ein Kompendium über Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich’51 hervor‐ brachte, und erläutert (B) Die Koalition großer Zeitgeister 1933: Martin Heidegger und Carl Schmitt als „Schaumkrone einer breiten und branden‐ den Strömung des Zeitgeistes“, wie Rüthers sich ausdrückt.
49 In: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990), 512-513; Bernd Rüthers (*1930), be‐ deutender Rechtstheoretiker und Zivilrechtler, war u.a. durch seine Habilitations‐ schrift Die unbegrenzte Auslegung (Tübingen 1968) ein Pionier der rechtswissen‐ schaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Bis in die jüngste Gegenwart hat er immer wieder auch über Carl Schmitt publiziert. Vgl. etwa: Ge‐ schönte Geschichten, geschonte Biographien. Sozialisationskohorten in Wendelite‐ raturen, Tübingen 2001 50 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988 51 Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich’. Ein Kompendium, hrsg. Bernd Martin, Darmstadt 1989
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II. 1. Rüthers 1989
Suggestiv konstruiert er eine „Aktionsgemeinschaft“ zwischen Heidegger und Schmitt auf der Quellenbasis eines Briefes und eines zeit‐ gleichen Parteieintritts (1. Mai 1933)!52 Was an dieser chronologischen Übereinstimmung bedeutend sein soll, wird vollends merkwürdig, wenn Rüthers später im selben Faktum bei Reinhard Höhn ein „zusätzliches Motiv der Ablehnung gegen C. Schmitt“ vermutet. Weitreichende, bei der Lektüre von Victor Farías und Hugo Ott53 auffallende biographische „Par‐ allelen“ zu Heidegger macht Rüthers für das Verständnis vom Weg und Werk Schmitts im Nationalsozialismus (D) nicht weiter fruchtbar, weil er sich auf die nationalsozialistische Zeit beschränkt und folgende „Grundpo‐ sitionen aus der Weimarer Zeit“„kurzum“ voraussetzt: Schmitt „war anti‐ parlamentarisch, antidemokratisch und antiliberal“. Anders als Fijalkowski54 erklärt Rüthers Carl Schmitts Haltung im Drit‐ ten Reich nicht aus diesen negativen Optionen: „Unter welchem Einfluss auch immer oder aus eigenem Antrieb“ (45), Schmitt entschließt sich „zum Mittun“, kurzum. Gegen Ende seines „dokumentierenden Berichts“ lehnt Rüthers jede Deutung brüsk ab: „Wie war das alles möglich? Diese Frage überlasse ich dem Leser“ (105). Als einziges Motiv für Schmitts „Aufstieg und Gefährdung“ wie für den Ende 1936 erfolgten „Bruch in der politischen Karriere“ beschreibt er auf der Basis von Benderskys Bio‐ graphie55 einen Machtkampf innerhalb der „NS-Oligarchie“, den ein „In‐ trigantentrio“: Otto Koellreutter, Karl August Eckhardt, Reinhard Höhn mit Schützenhilfe des Emigranten Waldemar Gurian für sich entschieden habe. Schmitt wurde ein „Opfer seines stürmischen Ehrgeizes“ (82), des‐ sen „Übersoll an Loyalitätsbekundungen“ missfiel; trotzdem habe Schmitt den Nationalsozialismus bis zuletzt publizistisch gerechtfertigt. Rüthers berichtigt hier einige Mystifikationen, verwischt aber auch wichtige Unterschiede der Geister, wenn er am Intrigantentrio plötzlich ei‐ nige „Parallelen“ im Verhalten vor und nach 1945 entdeckt, die Schmitt in
52 Heidegger zielte allerdings mit der Übersendung seiner Rektoratsrede bald tat‐ sächlich auf eine NS-Aktionsgemeinschaft mit Schmitt an der Berliner Universität. Dazu Verf., 9. September 1933 im Kaiserhof? Zur scheiternden Kooperation von Martin Heidegger und Carl Schmitt in Berlin, in: Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014, 99-109 53 Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt 1989; Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt 1989 54 Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, Köln 1958 55 Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
die Nähe führender SS-Rassisten rücken sollen. Für Rüthers gehört Schmitt zu jener unverbesserlichen NS-Oligarchie, an der er scheiterte. Diese sachlich vermutlich relativ berechtigte Sicht trübt Rüthers leider durch suggestive Vereinfachungen und eine dem bedeutenden Problem un‐ angemessene Darstellungsform, die den Leser seinerseits zur Assoziation von „Parallelen“ verleitet. So fällt eine stilistische Anpassung an den Geg‐ ner auf: Rüthers nennt das früher analysierte „Instrumentarium“ der „un‐ begrenzten Einlegung“ des nationalsozialistischen Geistes in die Rechts‐ wissenschaft beispielsweise „Waffen der Umdeutung“ und bezeichnet die „Heerschar“ wissenschaftlicher „Schreibtischtäter“ als „geistige Hilfstrup‐ pen des Nationalsozialismus“. Auch eine verspätete Kampfschrift wäre begrüßenswert, wenn Rüthers sich nicht gleichzeitig im Gestus der höhe‐ ren, wissenschaftlichen Neutralität über „Einseitigkeiten“ der moralisie‐ renden „Anhänger und Kritiker“ erheben würde; er fällt selbst den eilig bedachten Risiken des Themas (C) zum Opfer, weil er seine Entmystifika‐ tion der „Personen- und Geschichtsbilder“ nicht behutsam genug reflek‐ tiert, um dem „moralischen Diskurs“ der Selbstgerechtigkeit, dessen Kri‐ tik Rüthers schon im Motto beansprucht, wirklich zu entkommen. „Für Korrekturen jeder Art bin ich dankbar“ (92), heißt es großartig. Nun, die reißerische Entmystifikation führt auch zu sachlich bedenklichen Entstellungen, etwa bei der Übersetzung von Schmitts „hinreichend be‐ kannter Reaktion“ auf den 30. Juni 1934 (54f): Aus „Der Führer schützt das Recht“ macht Rüthers: „Der Führer hat immer Recht“; statt „Der wah‐ re Führer ist immer auch Richter“ lies: „Der Tötungsbefehle erteilende Führer ist sein eigener Richter“. Man braucht Schmitt aber nicht schlim‐ mer zu machen, als er war, und verharmlost ihn unter Niveau gelesen ei‐ gentlich. Rüthers verfehlt sein „vorrangiges Ziel“ (101), Schmitts „Faszi‐ nation“ zu entmystifizieren, weil er eine ausgetretene „Parallele“ verfolgt: den von Schmitt selbst geschürten Mythos vom Machiavelli des Sauerlan‐ des. Wäre Carl Schmitt wirklich nichts als ein machthungriger „Machia‐ vellist“ gewesen, so wäre sein Werk vergessen. Rüthers malt einen Teufel an die Wand, der ihm im Detail sitzt.
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II. 2. Quaritsch 1989
II. 2. Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts. Berlin 198956 Da Bernd Rüthers’ äußerst kritische Darstellung von Carl Schmitts Rolle im Dritten Reich dem bedeutenden Problem nicht gerecht wurde, wird man interessiert vergleichen, wie ein bekannter Staatsrechtler und „Rechts-Schmittianer“ dasselbe Thema behandelt, der kürzlich empfohlen hat, diesen als einen „jüngsten Klassiker des politischen Denkens“ (Willms)57 anzusehen, dessen Bedeutung über manche Verstrickungen er‐ haben sei. Quaritsch gelingt eine sehr sorgfältige, elegante und überzeu‐ gende Darstellung der politischen „Positionen und Begriffe Carl Schmitts“, indem er deren „vierfache Prägung“ anhand der Textsammlung Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939 aufzeigt, die vor Kriegsausbruch 1939 zusammengestellt wur‐ de und 1940 erschien; diese Sammlung liest Quaritsch nicht einfach als ein chronologisch geordnetes Aggregat einzelner Texte, sondern analysiert sie als eine genau bedachte, im Titel benannte Sinnkomposition. Sein „Ausgangspunkt“ ist dabei die Frage nach der Bedeutung insbesondere derjenigen Texte, die nicht unmittelbar Kampfschriften gegen Weimar, Versailles und Genf sind. In diesem philologischen Zugang sowie dem Mut, sich der Kernfrage von Schmitts Werk zu stellen und das Herz einer umstrittenen Publikation aus der nationalsozialistischen Zeit zu erkunden, ist Quaritschs Studie der Heinrich Meiers[1988] verwandt, der Schmitts katholische Prägung an der Fassung des Begriffs des Politischen von 1933 entdeckte. Anders als Ernst-Wolfgang Böckenförde,58 der den „Begriff des Politi‐ schen“ mit dem staatsrechtlichen Werk systematisch harmonisierte, trennt Quaritsch zwischen Schmitts staatsrechtlichem und politischen Werk,
56 In: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990), 693-695; Helmut Quaritsch (1930-2011) gehörte zum bundesrepublikanischen Schülerkreis Schmitts und ver‐ fasste als bedeutender Jurist u.a. grundlegende Studien zur neuzeitlichen Souverä‐ nitätslehre. Nachruf von Hans-Christof Kraus, Helmut Quaritsch (1930-2011), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 131 (2014), 749-807 57 Bernard Willms, Carl Schmitt. Jüngster Klassiker des politischen Denkens?, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 577-597 58 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staats‐ rechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Complexio Oppositorum, hrsg. Helmut Qua‐ ritsch, Berlin 1988, 283-299
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
sieht den Juristen im Streit mit dem politischen Denker und beschränkt sich auf die Darstellung des politischen Denkens in seinen Grundprägun‐ gen, die weder fixe Optionen (Fijalkowski) und „normative Haltegriffe“, noch okkasionelle Anpassungen (Löwith) seien. Einleitend weist Qua‐ ritsch auf die (I) Mehrdeutigkeit des interdisziplinären Werkes hin, das keinen einfachen Umgang erlaubt, und hebt seine (II) ästhetische Prägung hervor. Treffend bemerkt er, dass die Neigung von Schmitts Formdenken zum Begriffsrealismus aus einer gelegentlichen „Gleichsetzung von Be‐ griff und Kriterium“ (24) resultiere. Das Schwergewicht der Studie liegt aber auf den „materialen“ Grund‐ prägungen (III). Danach war Schmitt Katholik, Etatist und Nationalist. Für die katholische Prägung zitiert Quaritsch, an [Heinrich] Meier anschlie‐ ßend, eine eindrucksvolle Tagebuchstelle von 1948, in der Schmitt vom „Weg der katholischen Verschärfung“ als dem „geheimen Schlüsselwort“ seiner Existenz spricht. Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles habe Schmitt die katholische, nie verlassene „Flagge“durch den Wiederabdruck von zwei Aufsätzen über Donoso Cortés aufgesteckt, der doktrinäre Natio‐ nalsozialisten befremden musste. Mit der etatistischen Prägung betont Quaritsch ebenfalls eine Differenz zur völkisch-totalitären Staatsdoktrin, sowohl bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Schmitt bis zuletzt habe verhindern wollen, als auch bei Kriegsbeginn: Die zwischen 1939 und 1942 entwickelte Großraumlehre und Schmitts Reichsbegriff seien nicht apologetisch, sondern lediglich deskriptiv gemeint. Ohne Schmitts „Kollaboration“ (16) zu verharmlosen, kann Quaritsch also in der Textsammlung von 1940 eine prinzipielle, religiöse und politische Distanz zum Nationalsozialismus aufweisen, betont aber auch Schmitts nationalistische Distanz zu Weimar, die in den Positionen und Begriffen insbesondere aus dem „Bericht über Sorel“ und der gekürzten Fassung des Begriffs des Politischen hervorgehe: Schmitt setze den Kampf mit Weimar für das Wiedererstarken der Nation voraus. Bei dieser offenen Betonung der nationalistischen Prägung vermeidet es Quaritsch, Konsequenzen für die heutige juristische Rezeption Carl Schmitts zu ziehen, indem er zwi‐ schen dem staatsrechtlichen und politischen Werk streng unterscheidet, obwohl das nationalistisch geprägte, antiparlamentarische Demokratiever‐ ständnis doch die Basis des staatsrechtlichen Werkes ist: „Carl Schmitt war kein Agitator“, meint Quaritsch:„Als Jurist und Professor für öffentliches Recht durfte [!] er den Boden des geltenden Verfassungs‐ rechts nicht verlassen. Sein ‚Kampf mit Weimar’ blieb daher stets eigentüm‐
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II. 2. Quaritsch 1989
lich gebrochen [...] Aber was der Jurist den Juristen erklärte, erschien Carl Schmitt als homo politicus zur gleichen Zeit überholt“ (67f.).
Die „Kollaboration“ des „Konvertiten“ (IV) beschränkt Quaritsch im we‐ sentlichen auf die Jahre 1933-1936; danach habe Schmitt, politisch kaltge‐ stellt, wieder zu seinem eigentlichen, wissenschaftlichen Beruf zurückge‐ funden. 1940 sei die Wiederaufnahme des skandalösen, genauer betrachtet aber keineswegs eindeutigen Artikels Der Führer schützt das Recht nur noch „Alibi“; die Rede gegen den „jüdischen Geist“59 sei dagegen mit Be‐ dacht aus den Positionen und Begriffen herausgelassen (81). Anfangs habe Schmitt sich aber von der Macht verführen und von der „nationalen Auf‐ bruchstimmung“ mitreißen lassen, dabei seine „Konvertiten-Bekenntnis‐ se“ (98) absurd übertrieben und sein politisches Talent überreizt; eine selbstgerechte „Verfolgten-Perspektive“, wie sie der bundesdeutschen Staatsideologie entspreche, sei jedenfalls der damaligen Lage unangemes‐ sen, meint Quaritsch. Mit psychologischem Gespür skizziert er in beim derzeitigen Quellenstand notwendig etwas breiten Strichen ein plausibles Bild vom Konvertiten. Dessen „Überlaufen“ (49) zu Hitler ist freilich im persönlichen Entschluss unverständlich. In der „nationalen Aufbruchstim‐ mung“ blieb Schmitt immerhin nüchtern genug festzustellen, dass die „In‐ tegration des Proletariats in den Staat“ die „Vernichtung des Staats- und Volksfeindes, der kommunistischen Partei“60 bedeute. Die Positionen und Begriffe ziehen einen sich seit 1936 abzeichnenden Schlussstrich unter die Kollaboration, so ergibt Quaritschs subtile Aufbauanalyse, die Schmitts weiteres Werk wie dessen historische Situation ergänzend berücksichtigt: Der Konvertit tritt mit Land und Meer 1942 dann „aus dem Status des Kämpfers in den des Betrachters“ über. Schon der Aufbau der Positionen und Begriffe deutet aber auch darauf hin, dass Schmitts katholisch gepräg‐ ter Reichsbegriff, der der Kriegspublizistik bis 1942 ihren Sinn gibt, doch ernster zu nehmen ist, als ein knapper Ausblick zeigt, und die katholische und nationalistische Prägung Schmitts Etatismus überschreitet. Der (V) Abschied vom Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, 1940 mehr erledigt als „zurückgenommen“ (70), bedeutete zunächst keinen Abschied vom Politischen überhaupt.
59 Carl Schmitt, Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: DJZ 41 (1936), Sp. 1193-1199 60 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933, 5
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
Quaritschs Studie zeigt Kontinuitäten und Spannungen im lagegebun‐ denen politischen Denken Carl Schmitts auf: Der Katholik und Etatist ent‐ lastet dabei den Konvertiten, der Nationalist bekämpft den Staatsrechtler, so lässt sich grob zusammenfassen. Schmitts spannungsreiches „geistiges Profil“beschreibt Quaritsch leserfreundlich mit literarischem Geschick und rhetorischem Glanz, an Carl Schmitt geschult ohne Scheu vor gele‐ gentlicher Polemik und Aktualisierungen; sein Ausblick in die Aktualität von Schmitts nationalistisch interpretierter Großraumlehre wurde mittler‐ weile akut. II. 3. Gary L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 199161 Ulmen erörtert Max Webers und Carl Schmitts Diagnosen der Moderne im Zusammenhang der Überlieferung des 19. Jahrhunderts; er vertritt die These, dass eine Linie der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx über Weber zu Schmitt verläuft, Weber und Schmitt dabei die konkreten, historischen, soziologischen und juristischen Voraussetzungen der politi‐ schen Ökonomie entdecken und deren kritisch-diagnostische Impulse so zu Ende bringen. Diese problemgeschichtliche These einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie ist insbesondere von Wolfgang Schluchter62 und dessen These vom Paradigmenwechsel und „Durch‐ bruch“ von Marx zu Weber beeinflusst. Thema und These sind wichtig und erfordern die breite Anlage, die Ulmen allerdings in souveräner Igno‐ rierung des Forschungsstandes nicht zur konzeptionellen Klarheit bringt. Das Thema ist, wie die Einleitung mit dankenswerter Offenheit darlegt, noch von Schmitt persönlich inspiriert worden und bleibt im Banne von Schmitts Spätwerk, ohne jedoch durch das Dickicht der Stilisierungen hin‐ durch dessen (politisch-theologischen) Grund zu verstehen. Ulmens breit angelegte, erzählerisch und referierend gehaltene Studie hat ihre Stärken im kenntnisreichen Versuch einer Problemgeschichte; sie hat aber auch Längen und Fehler in der mangelnden Durchdringung des Stoffes bis zur gedanklichen Unklarheit und Stilblüte. Der wichtigste Einwand, der ein Scheitern der Hauptthese impliziert, betrifft Ulmens Blindheit gegen 61 In: Neue Politische Literatur 37 (1992), 129-130 62 Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Kulturund Werttheorie, 2 Bde., Frankfurt 1988
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II. 3. Ulmen 1991
Schmitts Optionen und Motive in ihrer konkreten politisch-theologischen Bedeutung, die die Differenzen in den kritischen Motiven verschleift. Man kann den substantiellen Gehalt von Schmitts Werk, wie Ulmen dies ver‐ sucht, in einer Diagnose des Prozesses der Neuzeit ausmachen. Dann muss man aber bewusster und konsequenter, als Ulmen dies vermag, von dem politisch-theologischen Sinn des Werkes abstrahieren, und es verbleibt ein recht allgemeines Schema des Geschichtsbildes, das auf dem Stand der frühen Studie von Peter Schneider63 zurückzufallen droht. Ulmens umfangreiche Studie gliedert sich in drei je dreifach weiter un‐ tergliederte Hauptteile, die hier nicht eingehend referiert werden können. Der erste Teil stellt Weber und Schmitt als Erben der Historischen Schule dar, deren Kritik des Prozesses der Neuzeit als eines Rationalisierungsund Neutralisierungsprozesses die Positivismuskritik der Historischen Schule und die marxistische „Kritik des verdinglichten Bewusstsein“ wei‐ terführe. Bei seiner Sicht dieser Traditionslinie durch die Brille Lukács’ hätte Ulmen sich – nur ein Hinweis auf die mangelnde Berücksichtigung der Literatur – auf die knappere und präzisere Studie von Norbert Bolz (1989)64 beziehen sollen. Für ein Verständnis von Schmitts Stellung zu Marx wäre er besser den Hinweisen auf Lorenz von Stein (auch in der Schmitt-Schule) gefolgt. Die These, dass Schmitt ein Erbe der Histori‐ schen Rechtsschule (Savignys) sei, ist von Schmitts Spätwerk irregeführt, dessen Wendung zur (Völker-)Rechtsgeschichte nach 1942 den konkreten Sinn hatte, dass Schmitt sich als Besiegter derart ins Recht setzt, dass er rückblickend und in endgeschichtlicher, apokalyptischer Perspektive die Geschichte schreibt. Schmitts Spätwerk kehrt bewusst Tocquevilles Satz um, dass der Sieger die Geschichte schreibt. Deshalb auch die Polemik ge‐ gen die „Reeducation“ in der Schmitt-Schule. Ulmen vertritt dagegen die Auffassung, dass Schmitt nur ein Historiker und Diagnostiker in der Nach‐ folge Savignys und Tocquevilles sei. Ein Indiz für Schmitts literarische Funktionalisierung Savignys,65 die keine existentielle Identifikation, son‐ dern nur eine situative Spiegelung bedeutet, ist übrigens auch Böckenför‐
63 Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957 64 Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989 65 Dazu jetzt Verf., Carl Schmitts Schrift ‚Die Lage der europäischen Rechtswissen‐ schaft’, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 77 (2017), 853-875
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
des früher Aufsatz über Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts,66 der Schmitts okkasionelle These von Savigny als „erstes Paradigma der Abstandnahme“ widerlegt. Schmitt be‐ ansprucht mit dem Nomos der Erde auch nicht das Erbe Savignys, sondern dasjenige Bachofens, was auf eine mythische Bedeutung des Werkes ver‐ weist. Ulmens Fehleinschätzung, dass Schmitt vor allem ein Historiker und Diagnostiker in der Nachfolge Savignys und Tocquevilles sei, schleppt sich dagegen durch die ganze Studie und führt zu einer Verken‐ nung der Stellung zu Marx und der „Kritik der politischen Ökonomie“, die Schmitt keineswegs vollendet, sondern negiert. Im zweiten Teil seiner Studie zeigt Ulmen gelungener auf, wie Schmitt bestimmte Themen Webers weiterführt; so liest er Schmitts Essay Römi‐ scher Katholizismus und politische Form als ein Gegenstück zu Webers „Protestantischer Ethik“ und entdeckt dann gemeinsame Problemlagen und Diagnosen im Verfassungs- und Wertedenken. Diese Zusammenhänge sind wichtig und werden hier erstmals in der nötigen Ausführlichkeit, wenn auch nicht mit abschließender begrifflicher Knappheit und Schärfe dargestellt. Es ist wohl der wichtigste Verdienst der Studie, Schmitts An‐ knüpfung an Weber in den konkreten Gegenwartsanalysen herausgestellt zu haben, wenn dabei für eine abschließende Erörterung auch das ganze juristische Umfeld und der historisch-politische Kontext genauer einzube‐ ziehen wären. Entdeckt Ulmen also wichtige Bezüge in der Gegenwartsanalyse, so ge‐ fährdet er doch im dritten Teil seiner Studie deren Ertrag, wenn er Weber und Schmitt in die Tocqueville-Nachfolge stellt und die Demokratie als gemeinsamen Bezugsrahmen dieser Kritiker behauptet. Die Studie leidet an einer geradezu grotesken Verkennung der kritischen Impulse, wenn sie aus Schmitts Spätwerk „Umrisse einer neuen Weltordnung, eines neuen Nomos der Erde“herausliest, die geeignet seien, „das europäische Be‐ wusstsein wiederzubeleben und in einer neuen Epoche die europäische Identität neu zu konstituieren“ (448). Ahnungslos und absurd ist beispiels‐ weise die Behauptung, Schmitt sei „immer (...) Europäer, niemals ein deutscher Nationalist“ (351) gewesen. Was war denn für Schmitt die Sub‐ stanz der europäischen Identität? Schmitts Spätwerk stellt nur die „Frage nach einem neuen Nomos der Erde“ und legt ein klares, apokalyptisches 66 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts (1964), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 2006, 9-41
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II. 4. Noack 1993
Nein nahe. Im unlängst erschienenen Glossarium, einer Art NachkriegsTagebuch, das Ulmen nicht mehr berücksichtigt, heißt es etwa: „Cuius economia, eius regio. Das ist der neue Nomos der Erde; kein Nomos mehr“.67 Weil Ulmen die diagnostische Anwendung von Schmitts Kategorien auf die Nachkriegsindustriegesellschaft, wie sie bei Joseph H. Kaiser (1956) hervortritt,68 mit Schmitts Intentionen verwechselt, harmonisiert er den Diagnostiker und Kritiker mit einer für die bisherige angelsächsische Re‐ zeption typischen Verharmlosung miteinander und folgt Schmitt in weiten Teilen unkritisch referierend in dessen Geschichtsbild. Sein Weber-Bild ist dagegen von einer Schmittistischen Verzeichnung einigermaßen frei, weil es einer älteren Auseinandersetzung entstammt und Schmitts Weber-Bild zudem in manchem der heutigen soziologischen Vereinnahmung überle‐ gen ist. Insgesamt müssen die beiden Haupteinwände – weitschweifige be‐ griffliche Unschärfe und Schmittistische Verzeichnung – hier so deutlich ausfallen, weil Ulmen ein großes Buch zu einem großen Thema schreiben wollte; dies ist ihm gründlich misslungen. II. 4. Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 199369 Da Carl Schmitt seine Positionen und Begriffe, wie er schreibt, „mit vol‐ lem Bewusstsein in die Waagschale der Zeit geworfen“ hat, liegen histo‐ rische und biographische Rückfragen von der Sache her nahe. Bisher gab es jedoch nur ein einigermaßen gründliches und umfassendes intellektuel‐ les Portrait durch den Amerikaner Joseph Bendersky.70 Verglichen mit Bendersky tritt bei [Paul] Noack [1925-2003] das Interesse an der Erhel‐ lung des Werkes weiter zurück und das eigentlich Biographische und Per‐ sönliche in den Vordergrund. Noack bietet keine anspruchsvollen Analy‐ sen, sondern erzählt vom Leben sprachlich gekonnt weitgehend auf der Basis der bekannten Quellen und nach Maßgabe seines gesunden Men‐ schenverstandes. Nur gelegentlich zieht er den umfangreichen Nachlass hinzu. In die Lücken des Materials treten häufig Selbstinterpretationen des späten Schmitt, dazu Urteile und Deutungsmuster einiger Rechts-Schmit‐
67 68 69 70
Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 1991, 179 Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956 In: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), 148-150 Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983
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tianer sowie eben Noacks meist einfühlender, gelegentlich befremdeter Menschenverstand. Noack gibt keine Hagiographie, vermag die Exzentri‐ zität Schmitts jedoch kaum zu erfassen und sitzt ohne größere wissen‐ schaftliche Skrupel diversen Leimruten und Legendenbildungen auf. Am ehesten kann man noch der Beschreibung der „Frühzeit“ folgen: der außerordentlichen intellektuellen Physiognomie des ästhetisch wie re‐ ligiös musikalischen Aufsteigers, der in den Bonner Jahren 1922-1928 durch Ehe und Beruf zu relativem Gleichgewicht fand.71 In Berlin holte Schmitt dann, wie Noack überschreibt, „der Zwang zur Dezision“ ein. Warum jedoch dieser Zwang zur Politik? Der Biograph hat hier allenfalls eine persönliche Antwort. Was Schmitt früher stabilisierte, die Austrei‐ bung seiner „politischen Romantik“, zwang ihn nun in eine Politik hinein, die ihrerseits nicht frei war von illusionärem „Idealismus“. Damit ist der praktische Anspruch dieses politischen Denkers nicht begriffen. Immer wieder weist Noack auf Schmitt „privat und halbprivat“ hin, auf seine vielfältigen Kontakte und im Persönlichen diskreten Freundschaften zu Wissenschaftlern, Künstlern und anderen. Noack macht Schmitt sym‐ pathischer, rückt den Menschen auch und gerade in der Entscheidungskri‐ se 1933 näher, die durch Auszüge aus den Tagebüchern gespiegelt ist. Doch dabei schleichen sich zahlreiche Ungereimtheiten ein, die aus dem psychologisierenden, erwägenden Zugang ebenso wie der mangelnden theoretischen Durchdringung des Werkes resultieren. So spricht Noack mit Quaritsch mehrfach von einer „Konversion“ Schmitts zum Nationalsozia‐ lismus und stimmt an anderer Stelle doch der Kontinuitätsthese zu, dass die Arbeit am Reichsstatthaltergesetz in der Kontinuität seines praktischen Wollens stand und die Entscheidung für den Nationalsozialismus be‐ stimmte. Die Ungereimtheiten mehren sich bei der Legendenpflege der Gefähr‐ dungslage 1936, die eine Kampagne der SS mit einem „Feldzug“ (184, vgl. 200 ff.) des Nationalsozialismus gegen Schmitt gleichsetzt. Da ist Rüthers’ These72 überzeugender, dass Schmitts „tiefer Sturz“ (Noack) in der Ämterhierarchie des Nationalsozialismus auf interne Machtkämpfe und Konkurrenzen zurückzuführen ist. Ein Autor, dessen „gelungene Mi‐ mikry [...] von Nazi-Schrifttum nicht zu unterscheiden“ (208) ist, ist eben ein nationalsozialistischer Autor. Klärend bleibt aber Noacks abschließen‐
71 Das lässt sich nach heutiger Kenntnis der Tagebücher bezweifeln. 72 Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, München 1989
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II. 4. Noack 1993
de Analyse einiger „Bruchstücke von [Schmitts, RM] Konfessionen“ (211f), die den „Kern seiner Verführbarkeit“ in ein politisch naives geisti‐ ges Überlegenheitsgefühl setzt, das Noack irreführend dann als „EpochenIrrtum einer ganzen Generation“ (213) ausgibt. Als ob es keine andere Wahl gegeben hätte. Die Legende der Gleichsetzung des Verlustes einiger Ämter mit einem Bruch mit dem Nationalsozialismus insgesamt erkauft Noack dann mit einigen oberflächlichen Fehldeutungen der folgenden Schriften. So unterscheidet er nicht zwischen dem analytischen Gehalt der Großraum-Konzeption und der apologetischen Tendenz des Reichsbegriffs und ignoriert den Sinn des Restitutionsversuchs der Symbole des „Levia‐ than“ und Behemoth, Tochter Anima „erzählt“, nicht gewidmet. Man könnte eine lange Mängel- und Fehlerliste anschließen, was von der Sache her geboten und nicht „schmittistisch“ überspannt ist, weil die sachliche Auseinandersetzung mit Schmitt auf dem Niveau seiner Texte zu erfolgen hat. Davon findet sich bei Noack wenig. Das letzte Drittel seiner Biographie gilt dem Nachkriegs-Schmitt, für den jetzt eine gründliche zeitgeschichtliche Untersuchung durch Dirk van Laak73 vorliegt. Noacks Krisenbericht schildert die existentiellen Unsi‐ cherheiten und Selbstbehauptungsversuche nach 1945 als Nachspiel zum Werk und skizziert dessen anfängliche öffentliche Ächtung sowie erste er‐ neut freundliche Kontaktnahmen und Wiederentdeckungen bis zur einset‐ zenden Schmitt-„Renaissance“ seit den 60er Jahren. Eine „biographische Nachbetrachtung“ nennt abschließend gewichtige Gründe für das erneute Interesse an Schmitt heute. Wenn Noacks Darstellung insgesamt auch eini‐ germaßen passabel über die Hürden kommt, so ist die große Aufgabe einer wissenschaftlichen, historisch quellengesättigten Biographie nicht erkannt. Trotz ärgerlicher fälschlicher Hochstilisierungen seiner Biographie zum eigentlichen Forschungsdesiderat bei Ignoranz gegenüber den Aufgaben einer angemessenen Erschließung des Werkes: Noacks Anspruch ist popu‐ lär und seine Durchführung auch. 73 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993; Dirk van Laak (*1961), heute Prof. in Leipzig, bearbeitete 1991 bis 1993 den Nachlass Carl Schmitts und hatte so den ersten Zugang. Er publizierte nach seiner wegweisenden Schmitt-Dissertation noch einige Studien über Schmitt, wandte sich aber bald an‐ deren Themen zu, insbesondere der Kolonial- und Infrastrukturgeschichte. Dazu etwa: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999; Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesell‐ schaft. Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt 2018
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II. 5. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 199374 Wieder ein Buch zu Carl Schmitt? Ein Baustein mehr zur merkwürdigen Renaissance des 1888 geborenen politischen Staatsrechtlers, „Totengrä‐ bers“ der Weimarer Republik und „Kronjuristen“des Dritten Reiches? Ja und nein! Ja, weil van Laak die erste auf der Basis des Nachlasses entstan‐ dene Darstellung von Schmitts Wirken nach 1945 als „Art von Fernuni‐ versität in einer Person“ (140) vorlegt. Nein, weil sein primäres Interesse weder der Werk- noch der Wirkungsgeschichte im engeren Sinne gilt, son‐ dern der exemplarischen Bedeutung Schmitts für die Zeitgeschichte und „politische Geistesgeschichte“ der frühen Bundesrepublik; er fügt den zahlreichen Werkanalysen keine weitere hinzu und führt keine kritische Auseinandersetzung mit dem Sachgehalt von Schmitts Denken, sondern disloziert und historisiert die Debatte zur Untersuchung seiner psychoso‐ zialen Selbstbehauptung und -stabilisierung nach 1945 als Beispiel für die Formierung einer Unterströmung der Geistesgeschichte der frühen Bun‐ desrepublik; darüber hinaus beschreibt er die wiedereinsetzende akademi‐ sche Rezeption und Aneignung insbesondere über die Kreise von Joachim Ritter („Collegium Philosophicum“) und Ernst Forsthoff („Ebracher Semi‐ nare“) durch eine dritte Generation selbständiger Schüler, die für die neue‐ re „politische Geistesgeschichte“ der Bundesrepublik bedeutend wurden. Die spätere Wirkung im „Links-Schmittismus“ und Neokonservatismus liegt außerhalb des zeithistorischen Rahmens. Van Laaks narrativ gehaltene Darstellung setzt (I.) mit der „Lage“ um 1945 ein und gibt nur einen knappen Rückblick auf Schmitts Wirken im Nationalsozialismus; sie beschreibt dann (II.) die allmähliche Selbstorga‐ nisation eines sozialen Netzes existentieller Versorgung und intellektueller Selbstbehauptung nach 1945, das halböffentliche „Gespräche in der Si‐ cherheit des Schweigens“ ermöglichte und knüpfte, ohne eine Innenan‐ sicht dieser Selbstbehauptung, wie sie mit Schmitts Glossarium jetzt her‐ vortritt, vorzunehmen. Ein drittes, etwas unspezifiziert mit (III.) „Schwei‐ gen“ überschriebenes Kapitel macht den exemplarischen Anspruch durch Schattenrisse paralleler Biographien deutlich, das in den Ansatz zur Kon‐
74 In: Zeitschrift für Politik 42 (1995), 77-78 (dort infolge eines redaktionellen Verse‐ hens irrtümlich unter falschem Namen erschienen)
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II. 6. Koenen 1995
zeptualisierung des Persönlichkeitsprofils der sog. Konservativen Revolu‐ tionäre nach 1945 mündet. Es folgt (IV.) ein Kapitel zu Schmitts irritieren‐ der Präsenz in den Debatten der fünfziger Jahre um die Stabilisierung der jungen Republik und Verfassung, an das drei zentrale Kapitel zur erneuten (V.) universitären Rezeption in die verschiedensten (VI.) Wissenschaften und (VII.) „Bildungswege“ später bekannt gewordener Wissenschaftler und Publizisten (wie Reinhart Koselleck, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe, Roman Schnur, Rüdiger Altmann u. a.) hinein anschlie‐ ßen. Glanzstück ist dabei die Rekonstruktion der von studentischen Initia‐ tiven getragenen Wiederentdeckung des Verfemten an den Universitäten Münster und Heidelberg. Hier könnten weitergehende kommunikationstheoretische und wissens‐ soziologische Überlegungen anschließen, die den zeithistorischen Ertrag der Studie sicherten und eine „schmittistische“ Lesart des wirkungsge‐ schichtlichen Materials als Ruhmgeschichte liberaler Rezeption weiter ausschlössen. Ein Rekurs etwa auf Kosellecks Kritik und Krise könnte das Politikum „indirekter Gewalten“ ebenso verdeutlichen wie der Bezug auf Gadamers philosophische Hermeneutik Leitbegriffe dieses Gesprächskon‐ zepts. Van Laaks These, dass sich „Gespräche in der Sicherheit des Schweigens“ an den Tabuzonen der Zweiten Republik entlang als Unter‐ strömung zur herrschenden politischen Rhetorik der frühen Bundesrepu‐ blik herausbildeten, ist über die Schmitt-Forschung hinaus von allgemei‐ nerer Bedeutung und betrifft die Differenzierung von „Zeitgeist“-Analy‐ sen ebenso wie die Frühgeschichte der Reorganisation der Rechten nach 1945 oder die Soziologie von Kommunikationsformen überhaupt. II. 6. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum Kronjuristen des Dritten Reiches, Darmstadt 199575 Man fragt sich immer wieder, was bedeutende Intellektuelle der Weimarer Republik am Nationalsozialismus anzog und zur Affirmation und Mitar‐ beit verleitete. Am bekanntesten ist wohl der Fall des Philosophen Martin Heidegger, der die „innere Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus pries und sich 1933 zum philosophischen Führer des Führers aufzu‐ 75 In: Die Welt v. 18. November 1995, G 5; Andreas Koenen (*1963) schloss nach seiner Dissertation ein Jura-Zweitstudium ab und wechselte als erfolgreicher An‐ walt ins Baurecht über.
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schwingen suchte. Kaum weniger bekannt, komplexer und folgenreicher ist der Fall des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt. Dem Juristen kann man philosophische Weltfremdheit nicht zubilligen. Schmitt wusste, was seine staatstheoretischen und staatsrechtlichen Befür‐ wortungen des Nationalsozialismus bis in Gesetzgebungswerke – wie die Rassengesetze – hinein für die Akzeptanz des Nationalsozialismus in der Rechtswissenschaft, in Justiz und Verwaltung bedeutete. Bis 1942 recht‐ fertigte er noch den Angriffskrieg als völkerrechtlich legalen und legiti‐ men Versuch der Errichtung einer „völkerrechtlichen Großraumordnung“. Oft wurde Schmitt als „Kronjurist“ des Nationalsozialismus bezeichnet. Zwischen 1930 und 1933 war er jedoch schon ein einflussreicher Berater und Kronjurist des Weimarer Präsidialsystems, das die Regierung in der Krise parlamentarischer Regierbarkeit direkt auf das Vertrauen des Reichspräsidenten Hindenburg baute. Schleicher, der dritte Kanzler nach Brüning und von Papen, wurde nach dem 30. Juni 1934 zusammen mit an‐ deren politischen Weggefährten Schmitts von den Nazis ermordet. Schmitt rechtfertigte die Aktionen jedoch unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht“. Wie ist so etwas möglich? Handelte es sich dabei nur um morali‐ sches Versagen, oder gab es tiefere Gründe? Andreas Koenen hat den Fall mit singulärer Akribie und Eindringlich‐ keit neu aufgerollt und damit die erste gründliche historische Untersu‐ chung zum Aufstieg und Fall des Kronjuristen auf der Basis seines Nach‐ lasses und einer Reihe von Archiven vorgelegt. Er kennt Schmitts zahlrei‐ che Schriften sehr genau. Was er zeigen möchte, erschließt sich jedoch erst auf der Basis der Quellen, weil Schmitt sich über seine religiösen und politischen Motive und Absichten bedeckt hielt. Koenen zeigt, dass Schmitt seit den früheren 1920er Jahren staatsrechtlich führend einer stra‐ tegisch operierenden Gruppe christlich-konservativer Wissenschaftler und Publizisten innerhalb der sogenannten Konservativen Revolution an ge‐ hörte, die der Weimarer Republik und dann dem Nationalsozialismus eine religiös begründete Konzeption vom „autoritären Staat“ zu unterschieben suchte. Diese Staatsanschauung rechtfertigte sich durch ein Geschichtsbild von der geschichtlichen Einheit und Aufgabe des „Abendlandes“. Koenens Kenntnis der weitgespannten Publizistik dieser Gruppe heute meist vergessener Autoren wie Alois Dempf, Albert Mirgeler und Wil‐ helm Stapel ist stupend. Was er über strategische Organisationstreffen er‐ mittelt hat, erweist sich Seite für Seite und Fußnote für Fußnote als Neu‐ land. Im Juni 1932 entschied sich die Gruppe auf Burg Lobeda für die Mitarbeit an einer „autoritären“ Verfassungsreform des Präsidialsystems. 50
II. 6. Koenen 1995
Die Machtergreifung des Nationalsozialismus deutete sie 1933 als „kon‐ servative Gegenrevolution“. Die Entscheidung zur Zusammenarbeit folgte Ende April 1933 auf einer Tagung im Benediktinerkloster Maria Laach. Schnell entwickelte sich Schmitt dann zum „Kronjuristen“ des Nationalso‐ zialismus. Auf dem Gipfel seiner politischen Karriere spaltete sich die Gruppe mit dem „Massaker des 30. Juni 1934“ in Opposition und Koope‐ ration. Einstige Freunde wie Theodor Haecker, Dempf und vor allem Wal‐ demar Gurian wurden Schmitt, dem Typus des „kooperativen konservati‐ ven Revolutionärs“, nun zu gefährlichen Gegnern. Koenen hat hier einige Deutungsprobleme, Schmitts fortdauernde Zugehörigkeit zu einer christli‐ chen und im ideologischen Selbstverständnis nicht nationalsozialistischen Gruppe zu erweisen. Von der Gegnerschaft einiger SS-Juristen her, über die Schmitts politische Karriere 1936 zu Fall kam, sucht er dessen ideolo‐ gische Distanz zum Nationalsozialismus zu fassen. Immerhin belegt Koe‐ nen an Schmitts Beispiel, dass nicht jeder politische Kollaborateur nach seinen Intentionen und seinem Selbstverständnis voll und ganz ein Natio‐ nalsozialist war. Politische Verantwortlichkeit und Schuldigkeit lässt sich jedoch nur vom Handeln her bestimmen. Das ideologische Urteil der SS gilt für die Forschung deshalb nicht. Deutlicher als Koenen dies tut, muss Schmitt wenigstens seiner Wirkung nach als Nationalsozialist bezeichnet werden. Koenens Arbeit ist in allen Teilen ein Pionierwerk zur Historisierung des Falls. Sie schließt die äußerst subtilisierte Schmitt-Forschung wieder an die allgemeine zeitgeschichtliche Forschung an und macht Schmitt da‐ durch erneut historisch interessant. Darüber hinaus will Koenen das strate‐ gische Handeln dieser Kerngruppe der konservativen Revolution als einen damals legitimen politischen Ordnungsversuch verstehen und die Eigen‐ ständigkeit einer christlichen Staatsanschauung gegenüber Demokratie und Diktatur erneut zur Diskussion stellen. Dies ist ein sehr weitgehender, provozierender Vorschlag. Ob die theologische Diskussion ihn aufnimmt, bleibt abzuwarten. Zweifel bleiben auch gegenüber dem Versuch einer Aktualisierung der Ordnungskonzeptionen. Das Stichwort vom „autoritä‐ ren Staat“ macht noch keine Verfassung und eine Abendland-Ideologie noch keine Europakonzeption. Doch auch wenn man Koenens christliches Interesse an Schmitts Fall nicht teilt und die Aktualität der Konzeption be‐ zweifelt, bleibt die Arbeit als engagierte, akribische und akademisch faire Fallstudie zu einem strategischen politischen Verhalten höchst interessant.
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II. 7. Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 200176 Es entspricht Carl Schmitts Selbstverständnis, sein Werk vom politischen Wollen her zu verstehen. Schmitt gab seiner Arbeit einen politisch-prakti‐ schen Sinn. Lange standen in der Forschung aber verfassungstheoretische und politisch-theologische Rekonstruktionen im Vordergrund. Erst seit ei‐ nigen Jahren, auch mit Öffnung des Nachlasses, wird der Weg historischpolitischer Kontextualisierung, von früheren biographischen Anläufen und kleineren Studien abgesehen, konsequent beschritten. Mit Ernst Rudolf Hubers eindrucksvollem Erinnerungsbericht über Carl Schmitt in der Wei‐ marer Endzeit77 trat Schmitts Rolle als politischer Akteur neu ans Licht. Ein nächster Markstein historisch-politischer Kontextualisierung war An‐ dreas Koenens nicht unumstrittene Studie über Schmitts Rolle als Kronju‐ rist Papens und Vordenker einer Kampfgemeinschaft „Konservativer Re‐ volution“.78 Ein dritter, Koenen diametral widersprechender Meilenstein ist nun Gabriel Seiberths Studie über Schmitt als „Anwalt des Reiches“. Methodisch klammert Seiberth Schmitts mögliche „Fernziele“ aus. Er erstrebt „Rekonstruktion, nicht Interpretation“ (11), geht von einer „Zäsur im Handeln Schmitts“ (27) aus und entwickelt gründlich, fesselnd und klar, wie sich aus einer scharfen Unterscheidung von Papen und Schleicher bei Zuordnung Schmitts zum „Schleicher-Kreis“ auch eine „Re-Interpretation“ (so Seiberth mit Pyta) des „Preußenschlags“ und der Weimarer Endzeit überhaupt ergibt. Unter besonderer Hervorhebung von Schmitts Rolle im Schleicher-Kreis nimmt er eine eindrucksvolle Re-In‐ terpretation der letzten realistischen „Alternative zur Machtübernahme Hitlers“ (263) vor. Er führt eine Debatte durch, wie sie sich an Hubers Be‐ richt einst anschloß: eine eindrucksvolle Debatte um die letzte Chance Weimars. Die Studie gliedert sich in eine Einleitung und sechs Kapitel: I. Aus‐ gangssituation und Forschungsstand; II. Der historische Kontext; III. Schmitt und der „Preußenschlag“; IV. Der Prozeß vor dem Staatsgerichts‐ hof; V. Das Problem der Reichs- und Verfassungsreform; VI. Ergebnis.
76 In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), 659-660 77 Ernst-Rudolf Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 33-70 78 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt, Darmstadt 1995
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II. 7. Seiberth 2001
Seiberth führt aus, dass die Lösung der Preußischen Regierungskrise zunächst verfassungspolitisch wenig problematisch erschien und erst unter Papen und Gayl mit „systemsprengenden Zielen“ einer umfassenden Ver‐ fassungsreform aufgeladen wurde. Dadurch verfassungsrechtlich bedenk‐ lich geworden, musste der „Eingriff“ des Preußenschlags – Seiberth gibt dem Geschehen schon terminologisch einen ärztlichen Sinn – umgehend als vorübergehende und verfassungskonforme Maßnahme dargestellt wer‐ den. Schmitt stand sogleich zur Verfügung, suchte er doch länger schon den Zugang zur Macht. Seiberth schildert die Entwicklung seiner Kontak‐ te zu Brüning, Papen und insbesondere zum Reichskriegsministerium um Schleicher, der die Verteidigung des Preußenschlags aufbaute. Schmitt wurde „Chef der Beratergruppe“ und „Prozesskoordinator“, stellte die „Mannschaft für die Prozessvertretung“ zusammen. Aufgabe der Verteidi‐ gung war es, die Ziele des Preußenschlags niedrig zu hängen und die Kon‐ formität mit der Verfassung herauszustreichen. Angesichts starker Wider‐ stände suchte Papen einen „Rückzug der Reichsregierung“ aus ihren um‐ fassenden Reformvorstellungen. Seiberth spricht deshalb von einem „ste‐ ckengebliebenen Staatsstreich“ (106). Im quantitativen Hauptteil Der Prozess vor dem Staatsgerichtshof schil‐ dert er zunächst die relative Akzeptanz des „Eingriffs“ innerhalb von Tei‐ len der SPD und den Widerstand der NSDAP gegen den Preußenschlag, um Schleichers Richtung gegen Hitler (S. 140 f.) herauszustreichen. Ein‐ gehend diskutiert er dann das prozesstaktische Auftreten, die „Umdeutung der Aktion“in eine vorübergehende, verfassungserhaltende Maßnahme und den Prozessverlauf, den er als „persönliche Niederlage“ (181) Schmitts wertet. Seiberth wagt gar das verfassungsrechtliche Urteil, dass die Argumentation Triepels mehr Erfolg beim Staatsgerichtshof versprach als diejenige Schmitts. Verselbständigt sich die Rekonstruktion des Pro‐ zesses hier etwas zum kundigen verfassungsrechtshistorischen Diskurs, so weitet Seiberth seine Untersuchung im nächsten Kapitel auf die anschlie‐ ßenden Diskussionen um eine Reichs- und Verfassungsreform aus. Da‐ durch kann er Schmitts Distanz zu Papen und die Parteinahme für Schlei‐ chers politisch-praktisches „Krisenmanagement ohne Verfassungsreform“ (239) weiter verdeutlichen. Seine Untersuchung schließt mit Plänen zu einem „milden“ Staatsnotstand, einer extensiven Verlassungsinterpretation bei Ignorierung eines destruktiven Misstrauensvotums durch den Reichs‐ tag, die sich gegen Papen erneut abgrenzten und von Seiberth als letzte verfassungskonforme „realistische Alternative“ zu Hitler gewertet werden (263). 53
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Die Untersuchung ist auf höchstem Niveau verfassungspolitisch diszi‐ pliniert. Das Wort von Schmitt als „Aufhalter“ fällt nicht, obwohl es der Sache nach gemeint ist. Schmitt erscheint als der letzte „Anwalt“ der Re‐ publik, dessen Lösung zur „Wiederherstellung geordneter Verhältnisse“ im „Ringen um eine Alternative zur Machtübernahme Hitlers“ (263) tragisch ausgeschlagen wurde. Die höchst differenzierte und nüchterne, spannend zu lesende Darstellung hat viel Überzeugungskraft. Dennoch bleiben na‐ türlich Fragen offen. Mit Schmitts „Fernzielen“ übergeht Seiberth den Fahnenwechsel zu Hitler. Vielleicht rückt er Schmitt im Gegenzug zu Koenen auch allzu eng an die Kreise Schleichers heran, aus denen Schmitt im Januar 1933 – was Seiberth hier übergeht – plötzlich verbannt wurde. Und er rechtfertigt die „extensive“ Verfassungsinterpretation und „Weiter‐ entwicklung der ‚Verfassung’ im autoritären Sinne“ (262) als letzte Alter‐ native zu Hitler, ohne ihre eigene Problematik zu erörtern. Dennoch ge‐ lingt ihm eine eindrucksvolle Vergegenwärtigung der offenen Entschei‐ dungslage im Jahr 1932. II. 8. Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 201279 Stefan Breuer [*1948] ist heute [2012] sicher einer der produktivsten und profiliertesten Max Weber-Forscher und Kenner des nationalistischen Dis‐ kurses. Dabei begann er mit Herbert Marcuse und einer scharfen Durch‐ sicht der Kritischen Theorie. Er rekonstruierte dann die politische Soziolo‐ gie Webers, zerlegte das (Armin Mohlers) pauschalisierende Konstrukt einer „konservativen Revolution“ und sezierte das äußerst heterogene Dis‐ kursfeld des „neuen Nationalismus“ und Rechtsintellektualismus.80 Breu‐ ers Erkenntnisinteresse ist heute primär historisch-individualisierend. Äl‐ tere Pauschalisierungen und Etiketten fallen dahin. Von der intellektuellen Produktivität der Weimarer Debatten scheint Breuer dabei weiterhin faszi‐
79 In: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik 48 (2012), 247-249 80 Einige Monographien Breuers habe ich früher schon rezensiert: in: Politische Vier‐ teljahresschrift 34 (1993), 476-482; Neue Politische Literatur 38 (1993), 94-95; Politisches Denken. Jahrbuch 4 (1994), 213-215; Zeitschrift für Politik 50 (2003), 237-238; hsozkult vom 22. Juni 2006; zuletzt: Politische Vierteljahresschrift 58 (2018), 475-479
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II. 8. Breuer 2012
niert zu sein. Ein Carl Schmitt-Buch verwundert da nicht, veränderte sich die Quellenlage der Schmitt-Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten doch durch zahlreiche Brief- und Tagebucheditionen sowie die Öffnung des Nachlasses gründlich. Ältere Forschung ist heute vielfach überholt. Das Erscheinen der Tagebücher 1930 bis 1934 [2010] gab nun einen neu‐ en Anlass, Schmitts Stellung in der politischen Publizistik der Weimarer Endzeit zu prüfen. Breuers Interesse gilt dabei gleichsam nicht nur der Sonne, sondern auch den Planeten und Satelliten. Von der theoretischen Klärung von Schmitts Nationalismus ausgehend sondiert er die „Schmit‐ tianischen Interventionen“ links wie rechts. Seine Studie ist straff, klar und durchsichtig angelegt und hält eine gute Balance zwischen historischer Detailforschung und begrifflichen Präzisie‐ rungen. Der breiten Kenntnis des Diskursfeldes, einschließlich des „ästhe‐ tischen Fundamentalismus“ nach Nietzsche und George,81 ordnet sich vie‐ les. Einleitend ortet Breuer Schmitts Frühwerk im Münchener Kontext von Neomystik und „Romantikrenaissance“. Dabei betont er Schmitts Dis‐ tanz zum Anarchismus Landauers oder auch Däublers. Der Münchner Äs‐ thetizismus brachte eine frühe Staatsskepsis und Anlehnung an die politi‐ sche Alternative der Kirche. Ästhetizismus, Etatismus und Katholizismus waren dann aber für Schmitt in Weimar politisch nicht die entscheidende oder zündende Grundprägung. Für die Weimarer „Intellektuellenpolitik“ wurde der Nationalismus wichtiger. Breuer stellt Schmitt deshalb ausführ‐ lich in eine „andere Sieyès-Linie“ hinein, die den Nationalismus vom Par‐ lamentarismus entkoppelte und begriffsstrategisch mit einem antiliberalen Konzept von der „Demokratie“ assoziierte. Dabei betont er, dass selbst Schmitts Weimarer Planeten der strikten Trennung von Liberalismus und Demokratie und „Zuordnung des Faschismus zur Demokratie“ (75) nicht folgten. Schmitt sprach der faschistischen Diktatur die demokratische Le‐ gitimität zu; er identifizierte den Faschismus als Caesarismus und Bona‐ partismus geradezu mit einer reinen, liberal nicht kontaminierten Demo‐ kratie. Breuer zeigt, dass diese „Begriffserweichung“ (71) selbst im Rechtsintellektualismus keineswegs gängig war. In einem weiteren Kapitel verteidigt er deshalb auch Max Weber gegen eine zu starke Annäherung an Schmitt. Dabei richtet er sich zunächst ge‐ gen die alte Wolfgang Mommsen-These von Max Weber als „Ahnherrn“
81 Dazu vgl. Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
des plebiszitären Führerstaates,82 zielt aber darüber hinaus auch auf eine Verteidigung von Webers komplexem Staatsbegriff gegen Schmitts Begriff des Politischen. Breuer verweist das große Thema Weber-Schmitt auf einen theoriegeschichtlichen Boden, ohne es ausdiskutieren zu wollen. Man kann hier noch eingehender zwischen direkten Einflüssen und theore‐ tischen Transformationen unterscheiden. Schmitt argumentierte nicht herr‐ schaftssoziologisch, sondern genuin juristisch. Breuer benennt den ent‐ scheidenden Differenzpunkt, von dem her er Weber rezipierte: Legitimität ist bei Schmitt „wesentlich normativ gedacht“ (99). Historisch betrachtet muss Schmitt aber zum engeren Kreise der Weber-Schüler gezählt werden, soweit Weber nach seiner Erkrankung überhaupt Schüler haben konnte. Breuers theoriegeschichtliche Differenzierung dient vor allem der Kontu‐ rierung des Nationalismus. Das Thema Weber-Schmitt ist damit noch nicht erledigt. Breuer erörtert dann zunächst die Rezeptionen von Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel und Franz Neumann bis 1933. Jenseits der „Faszination durch die Persönlichkeit“ und dem Interesse an einer „Förderung der aka‐ demischen Karriere“ betont er dabei vor allem die Opposition von Libera‐ lismus und Demokratie und „Ablehnung einer Juridifizierung der Politik“ als verbindende Motive. Verglichen mit diesen linken Rezeptionen er‐ scheint Schmitts Werk geradezu vernunftrepublikanisch. Breuer sieht ein „Interesse an der Fortexistenz und Stabilität des 1919 gegründeten demo‐ kratischen Staates“ (125) durch „autoritäre Umformung der Demokratie“ (130) und spricht von einem kritischen „Inspektionsgang“ auf der Suche nach „Legitimität“. „Im Rückblick ist jedoch festzuhalten, dass Schmitt 1932 auf das kleinere Übel gesetzt hat, während es für die sozialistischen Juristen mit dem Ende der Ära Brüning anscheinend nur mehr geringfügige Unterschiede zwischen Pa‐ pen, Schleicher und Hitler gab.“ (140)
Auch den jungrevolutionären Rezeptionen gegenüber betont Breuer Schmitts politische Vernunft. Er arbeitet hier zunächst Differenzen zu eini‐ gen Autoren des Tat-Kreises heraus, erinnert an Heinz O. Ziegler, der emi‐ grieren musste und 1944 als Bomberpilot im Kampf gegen den National‐ sozialismus verstarb, und konzentriert sich dann auf die „Schmittianischen Interventionen“ von Huber, Karl Lohmann und Ernst Forsthoff, A.E. Gün‐
82 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1959
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II. 8. Breuer 2012
ther und Wilhelm Grewe in den Publikationsorganen Der Ring und Deut‐ sches Volkstum. Sein Panorama dieser Interventionen ist breit und tiefen‐ scharf. Insbesondere die Profilierung von Huber ist wichtig, wobei Breuer auf die frühen akademischen Leistungen im Wirtschaftsverwaltungsrecht nicht näher eingeht. Treffend arbeitet er einige Differenzen zwischen den verfassungspolitischen Ring-Autoren und mehr religionspolitischen und antisemitischen Autoren um Wilhelm Stapel und das Deutsche Volkstum heraus. Die nähere Diskussion dieses nationalistischen Sprungs über die Weimarer Legalität hinaus betrachte ich als den Kern von Breuers wichti‐ ger Studie, wobei die haarfeinen Trennungslinien im Nationalismus, etwa zwischen Schmitt und Huber, sich gewiss noch weiter ausbuchstabieren und diskutieren lassen: etwa in der Bedeutung der Smend- und Hegel-Re‐ zeption für die „dynamische“ Konturierung des Nationsbegriffs. Völlig zutreffend betrachtet Breuer aber wohl Ernst Rudolf Huber als den bedeu‐ tendsten Theoretiker und Autor des jungrevolutionären Schmittianismus. Sehr deutlich schreibt er Wilhelm Grewe, einen der wichtigsten Diploma‐ ten der Adenauerrepublik, in diesen Kreis hinein. Mit Bezug auf Gurian verortet er das Autorenspektrum im Erbe der Jugendbewegung als „Gene‐ ration der Unbedingten“. Etwas knapp ist der Ausblick auf 1933 und Schmitt im Nationalsozialismus. Breuer nimmt hier seine frühere Destruk‐ tion des Konstrukts „konservative Revolution“ wieder auf, wenn er Schmitt vom Fatalismus Spenglers distanziert und so erneut als einen ge‐ wichtigen politischen und näherhin nationalistischen Denker qualifiziert. Breuer rekonstruiert Schmitt im nationalistischen Kontext der Weimarer Republik. Er profiliert Schmitts Nationalismus gegen Sieyès und Weber und sondiert den Links- und Rechts-Schmittianismus in feinen Verästelun‐ gen. Politisch ist sein Ertrag etwas doppelbödig: Einerseits zeigt er den Abstand von Sieyès und Weber, andererseits verteidigt er Schmitts Wei‐ marer Vernunft gegen die Schmittianischen Rezeptionen links wie rechts. Dabei kommt Schmitt im Kontext seiner Schüler überraschend gut weg. Am Ende verteidigt Breuer ihn sogar gegen Schleicher. „Man muss Schmitt nicht unbedingt zum Retter der Weimarer Verfassung stilisieren“, schreibt er etwas lax. „Aber in dieser Endphase der Weimarer Republik zeigte er weit mehr politisches Augenmaß als Schleicher“ (249). Ein An‐ hänger von Papen oder Hitler war er auch nicht. Vielleicht also doch ein „Retter der Weimarer Republik“? Das ist nicht Breuers Einschätzung und wäre auch irrig. Bei aller Brillanz der knappen und konzisen Studie scheint mir der Ge‐ samtertrag politisch und theoretisch noch nicht ganz ausformuliert zu sein. 57
Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
Breuer betont eingangs Schmitts frühe und intensive Lektüre von Ignaz von Döllingers Beiträgen zur Sektengeschichte des Mittelalters. Mancher wird seine Studie ähnlich lesen. Ernst Rudolf Huber, der gewichtigste Pla‐ net der Sonne Schmitts, schrieb rückblickend über 50 Jahre später in sei‐ ner monumentalen Verfassungsgeschichte ernüchtert: „In den Juliwahlen von 1932 offenbarte sich […] die starke Abwanderung der gewiss ursprünglich nicht auf Umsturz, sondern auf Reform gerichteten Kräf‐ te der Jugend teils in das radikal-rechte, teils in das radikal-linke Lager. Nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch der Nationalkommunismus ver‐ dankte den in den ‚Jahren der Entscheidung’ errungenen Erfolg dem Zustrom aus den Gruppen und Bünden der Jugend, die sich auf den Weg in den Extre‐ mismus begab.“83
Das bestätigt Breuer, ohne politische Alternativen jenseits von Schmitt aufzuzeigen. Er beschreibt vor allem die nationalistische Wirkungsge‐ schichte bis 1933. War der Etatismus aber nicht wichtiger? Die knappe Studie übergeht so manchen heiklen Punkt: so Schmitts Antisemitismus. Die akademischen Wirkungen in der Rechtswissenschaft und anderen Weimarer Kreisen, so der Reichwehr, sind kein Thema. Breuer trennt auch nicht zwischen Schmitts advokatorisch-juristischem und seinem politi‐ schen Denken, wie es Tagebuchnotizen der Jahre 1932/33 bisweilen an‐ deuten. Als Jurist stellte Schmitt sich auf den Boden der herrschenden Le‐ galität und Legitimität. Die juristische Legitimitätsperspektive trennte er aber auch scharf von seinen eigenen Überzeugungen. Das gilt auch für die Akzeptanz der Moderne, die Breuer betont. Breuer verliert sich nicht in solche Tiefen und Untiefen von Schmitts Werk. Seiner Studie gelingt vielleicht Wichtigeres: Sie wirft große Fragen nach der Ordnungskraft und Legitimität des Nationalismus und dem Grenzgang politischer Suche nach Legalität und Legitimität am Rande Weimars auf. Konnte Schmitts Nationalismus hier, nach Breuers Rekon‐ struktion, wirklich im Rahmen Weimars verbleiben? Hatte die nationalisti‐ sche Suchbewegung, deren theoretisches Niveau Breuer herausstreicht, eine eigene Legitimität jenseits von Weimar und Hitler? Lässt sich Schmitts Werk ernsthaft als „Ordnungs- und Gestaltungsdenken“ bezeich‐ nen, um eine Selbstetikettierung aufzunehmen? Breuers prägnante Kon‐ stellationsanalyse der „Schmittianischen Interventionen“ und Intellektuel‐ lenpolitik wird eigentlich erst in einem breiteren Kontext ausgewogen ver‐
83 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart 1984, 1051
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II. 9. Gross 2000
ständlich, der auch die liberalen Alternativen umfasst. Der jungerevolutio‐ näre Radikalismus relativiert Schmitts Nationalismus zwar, rettet ihn aber noch nicht für Weimar. II. 9. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt 200084 Spätestens seit 1991, seit dem Erscheinen des Nachkriegstagebuchs Glos‐ sarium, ließ sich Schmitts Antisemitismus nicht mehr verleugnen. Nun liegt eine erste Monographie vor, die Schmitts „deutsche Rechtslehre“ vom Antisemitismus her darstellt. Weil die zentrale Bedeutung der Aus‐ einandersetzung mit dem Judentum dabei nicht für alle Phasen des Werkes gleichermaßen offen liegt, ist die Untersuchung in der Anlage etwas ver‐ schlungen. Sie beginnt – nach knappen Ausführungen zum Frühwerk – mit Schmitts antisemitischen Auslassungen zwischen 1933 und 1936, identifiziert dann antisemitische Konnotationen des staatsrechtlichen Wer‐ kes vor 1933 und schließt mit Schmitts eigenwilliger Christianisierung seines Antisemitismus nach 1936 und 1945. Gross greift historisch infor‐ miert in die Geschichte des deutschen Antisemitismus seit der Französi‐ schen Revolution aus und erhellt dadurch ideengeschichtliche Anspielun‐ gen und Bezüge. Schmitt wird so zu einem Repräsentanten des neueren deutschen Antisemitismus, der die Auseinandersetzung mit dem Judentum zum Zentrum seines Denkens und Wollens erhob. Gross nimmt Schmitt beim Wort, der notierte (Glossarium 25. September 1947): „Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind.“ Gross meint: „Archetypus des Fein‐ des ist der Jude.“ (383) Er vertritt also eine starke These zur Einheit von Schmitts Werk, die der christlich-theologischen Lesart (namentlich derje‐ nigen Andreas Koenens) widerstreitet; Gross hält die späte christliche Selbstinterpretation für sekundär; er lehnt es ab, Schmitts Antisemitismus als christlichen „Antijudaismus“ aufzufassen, und setzt die Einheit der Rechtslehre in ihren politischen Antisemitismus: Schmitt bekämpfte dem‐
84 In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 53 (2001), 87-89; Raphael Gross (*1966), heute Professor in Leipzig und amtierender Präsident des Deut‐ schen Historischen Museums in Berlin, wurde nach seiner Schmitt-Dissertation u.a. Direktor des Leo Baeck-Instituts in London und des Jüdischen Museums in Frankfurt. Als NS-Forscher übernahm er Schlüsselpositionen der deutschen Ge‐ schichtspolitik.
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
nach das Legalitätssystem des säkularen Verfassungsstaates, weil er die Assimilierung ablehnte. Der Eingangsverweis auf antisemitische Anspielungen im Frühwerk ist wichtig, um die These von der Kontinuität des Antisemitismus einzufüh‐ ren. Dennoch könnte die Arbeit auch direkt mit Schmitt 1933 beginnen. Gross geht hier von dem (seit Löwith und Hofmann) bekannten philologi‐ schen Befund aus, dass Schmitt die frühere Rede von der „Gleichartigkeit“ durch die völkisch konnotierte „Artgleichheit“ ersetzte. Er zeigt dann in interessanten Ausführungen, die über die Hinweise Koenens hinausgehen, dass Schmitt die „Artgleichheit“ mit der „Volksnomostheologie“ der zeit‐ genössischen protestantischen „Theologie des Nationalismus“ eines Wil‐ helm Stapel und Heinrich Oberheid interpretierte, die den „Deutschen Christen“ nahestand. Diese Theologie vertrat die „prinzipielle Unmöglich‐ keit, Juden und Christen unter einem für beide gleichen Gesetz zu verei‐ nen.“ (104) Schmitt zog rechtspolitische Konsequenzen in seinen affirma‐ tiven Kommentaren zur Nürnberger Rassegesetzgebung und in der von ihm veranstalteten Tagung zum Judentum in der Rechtswissenschaft. Nachdem Gross Schmitt derart im ersten Teil und Durchgang in der an‐ tisemitischen „Theologie des Nationalismus“ situierte, greift er im zweiten Teil auf die Formierung des Antisemitismus in der „katholischen Reakti‐ on“ auf die Französische Revolution zurück. Er erhellt historische Hinter‐ gründe von Schmitts früher Selbstverortung in den Reihen der Gegenrevo‐ lution und hebt dabei – unter Bezug auf Waldemar Gurian – die Nähen Schmitts zu Charles Maurras und der Action Française hervor. So spricht er für Schmitt von einem „katholischen Atheismus“, der für die autoritäre Form der Kirche optierte, ohne ernstlich an die christliche Botschaft zu glauben. Im dritten Teil greift Gross auf die Kontroverse zwischen Bruno Bauer und Karl Marx um die Judenemanzipation zurück, um den Streit zwischen Schmitt und Hans Kelsen zu erhellen. Er rekonstruiert die unterschiedli‐ chen Stoßrichtungen von Bauer und Marx – Bauer bekämpfte, vereinfacht gesagt, die Judenemanzipation, Marx den „christlichen Staat“ – und führt in eine Debatte ein, die für Schmitt zweifellos sehr wichtig war. So über‐ nimmt Schmitt das Stereotyp der jüdischen „Bodenlosigkeit“ wohl von Bauer.85 Der Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Kelsen ist 85 Zum Verhältnis zu Bauer dann Verf., „Autor vor allem der ‚Judenfrage’ von 1843“. Carl Schmitts Bruno Bauer, in: Klaus-Michael Kodalle / Tilman Reitz (Hg.), Bruno Bauer. Ein ‚Partisan des Weltgeistes’?, Würzburg 2010, 335-350
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II. 9. Gross 2000
aber etwas lose. Bei der Kontroverse zwischen Schmitt und Kelsen macht Gross auf die unterschiedlichen Deutungen des Pilatus-Urteils aufmerk‐ sam und benennt religionspolitische Hintergründe der Auseinander‐ setzung. Richtig ist auch die Konzentration der Frage nach Schmitts Anti‐ semitismus vor 1933 auf die Auseinandersetzung mit Kelsen. Dennoch diskutiert dieser Teil die systematischen Zusammenhänge insbesondere von Kelsens Rechtslehre nicht eingehend genug, um die Bedeutung der re‐ ligionspolitischen Stoßrichtung im Werk hinreichend zu klären. Im vierten Teil erörtert Gross in überzeugender Weise Zusammenhänge zwischen Schmitts Ausführungen zur Leviathan-Mythologie und seinen späteren geschichtstheologischen Spekulationen zum Aufhalter (Ka‐ techon) des Antichristen. Er stellt dabei klar, dass Schmitts „heilsge‐ schichtliche“ Gleichsetzung des Judentums mit dem Antichristen durch die christlich-theologische Tradition nicht gedeckt war.Deshalb liest er Schmitts christliche Selbstdeutung nach 1945 im fünften und letzten Teil auch nur als ein „Mittel der Selbststilisierung“ und Immunisierung gegen den Antisemitismusvorwurf und betont dabei, dass Schmitt seinen Antise‐ mitismus nach 1945 im Kern verteidigte und festhielt. Wichtige Erträge der Studie sind die Bezüge auf die Volksnomostheolo‐ gie und die Action Française sowie der Hinweis auf religionspolitische Hintergründe der Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Kelsen. Die starke Kontinuitätsthese und scharfe Unterscheidung zwischen christli‐ chem Antijudaismus und Antisemitismus wirft aber auch Fragen auf: Wie verstand Schmitt seinen Antisemitismus, wenn er nicht christlich motiviert war? Gross gibt hier keine klare Antwort. Am ehesten sagt er noch, dass Schmitt die Feindschaft zum Judentum brauchte, weil er eine homogene Sittlichkeit und autoritäre Ordnung wollte. Wie Gross ausführt, lehnte Schmitt dabei die Ausdifferenzierung eines positiven Legalitätssystems ab und optierte gegen eine klare Trennung von Moral, Politik und Recht. Ich stimme Gross zu, dass Schmitts Antisemitismus primär politisch motiviert war, vertrete aber eine schwächere Kontinuitätsthese.86 Antisemitismus ist ein Interpretament. Er kann für Schmitts Rechtslehre nur dann eine zentra‐ le Bedeutung haben, wenn Schmitts Rechtsbegriff antisemitisch codiert ist. Das ist er nicht von vornherein. Schmitt lehnt den Rechtspositivismus
86 Dazu vgl. Verf., Geist gegen Gesetz. Carl Schmitts Destruktion des positiven Rechtsdenkens, in: Bernd Wacker (Hrsg.), Die eigentlich katholische Verschär‐ fung... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994, 229-245
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
und Normativismus ab, bevor er ihn antisemitisch codiert. Erst mit der wissenschaftsgeschichtlichen Vertiefung seiner Positionen und Antiposi‐ tionen konstruiert er eine „jüdische“ Gegnerschaft und interpretiert die Gegensätze im Theologumenon von (christlichem) „Geist“ und (jüdi‐ schem) „Gesetz“. Ausgebend von Schmitts offenkundig antisemitischen Auslassungen gelangt Gross im Ergebnis zu einer ähnlichen Einschätzung und macht deutlich, wie radikal Schmitts Option für eine autoritäre Ord‐ nung mit einer Destruktion des ausdifferenzierten Legalitätsmodus des po‐ sitiven Rechts einherging, die sich für Schmitt an der Auseinandersetzung mit Kelsen entschied. Zeigt man derart deutlich, wie Schmitts Rechtslehre den Integrationsmodus des positiven Rechts destruierte, so stellen sich Rückfragen an seine Staatslehre. Der Ordnungsdenker optierte demnach schon vor 1933 für einen charismatisch integrierten Führerstaat und vertrat damit eine haltlose Konstruktion. II. 10. Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa. Darmstadt 200787 Ein bornierter Nationalismus war Carl Schmitt habituell fremd. Er war überaus polylingual, suchte internationale Gesprächspartner, Freunde, Schüler und Frauen, reiste weit herum. Er pflegte eine „gesamteuropäi‐ sche“ Korrespondenz und wird heute global diskutiert. Das weltweite Echo seines Werkes stellte schon die erste große Schmitt-Tagung 1986 heraus.88 Es war ein kühnes Vorhaben, diese Wir‐ kungsgeschichte auch auf der Basis des Nachlasses unter dem Fokus der Liberalismuskritik zusammenfassend darzustellen. Müllers 2003 bei Yale University Press erschienene Arbeit A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought89 ist jetzt in deutscher Übersetzung mit einem kurzen Vorwort von Michael Stolleis erschienen. Man kann das Buch leider nicht uneingeschränkt loben. So steckt es voller grober sachli‐ cher Schnitzer. Schmitt wurde nicht „an der Mosel geboren“ (29); er
87 In: Der Staat 47 (2008), 303-305 88 Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988; zum Thema etwa: Rüdiger Voigt (Hg.), Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt in der internatio‐ nalen Debatte, Baden-Baden 2007 89 Meine Rezension der englischen Fassung in: Hsozkult vom 23. März 2004 (www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-4327)
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II. 10. Müller 2007
schrieb keine „satirische[n] Bücher über Thomas Mann“ (30), war schon nach einem Semester und nicht erst nach „nur einem Jahr Greifswald ent‐ kommen“ (35). Es erreichte ihn nicht „auf einer Romreise im März 1933 das Angebot [...], preußischer Staatsrat zu werden“ (49). Görings Staatsrat gab es da noch gar nicht. Und auch die Orientierung an Mussolini, Schleicher oder der „Patronage“ (49) Görings kann nicht so undiskutiert behauptet werden, ohne zugleich von Papen, Hans Frank und anderen zu sprechen. Bei einer historischen Studie, die 2003 erstmals erschien, wie‐ gen solche Fehler in übersetzter Neuauflage schwer. Der einführende erste Teil Ein deutscher Staatsrechtler im zwanzigsten Jahrhundert ist insge‐ samt entbehrlich. Müllers „gestraffter Überblick“ (20) beansprucht auch keinen besonderen Beitrag. Müllers Interesse liegt auf Schmitts „Nachle‐ ben“. Er datiert es seit 1945, obgleich Schmitt da noch 40 Jahre zu leben hatte. Müller will zeigen, „was andere aus Schmitts Erbe nach 1945 ge‐ macht haben“ (20). Es ist bedauerlich, dass er auf die Wirkungen vor 1945 nicht eingeht. Jacques Maritain, Pierre Linn und die französische Übersetzung der Politi‐ schen Romantik kommen nicht vor. Auch die Vortragsreisen nach 1933 und 1939 und die zahlreichen weiteren Übersetzungen und Kontakte feh‐ len. Das faschistische Europa vor 1945 und Schmitts Stellung in ihm wer‐ den nicht thematisiert. Carl Schmitt hatte schon vor 1945 eine europäische Wirkung. Stets betonte er, dass das Jahr „1945“ die Menschen gruppierte. Sein Blick wäre auf Müllers Trennlinie gestoßen. Vielleicht hätte er „1945“ oder „Sieger von 1945“ an den Rand notiert. Von der Wirkung vor 1945 her wäre nicht nur die Liberalismuskritik das Erbe. Müller steht sehr unter dem Eindruck von Dirk van Laaks Studie90 und weitet sie historisch, geographisch und auch interpretativ aus. Die einge‐ hendere sachinhaltliche Diskussion der Rezeptionen ist an sich wichtig. Im Bemühen um einen flotten Gesamtüberblick, der die theoretischen Konsequenzen eingehender würdigt und als Stichworte in diversen zeitge‐ schichtlichen Debatten entdeckt, kommt Müller aber oft nicht wirklich über das hinaus, was van Laak vor nunmehr 15 Jahren schon schrieb. Müller kolportiert ohne Beleg beispielsweise das Gerücht von Kiesingers Besuch in Plettenberg (73), erwähnt den – von Frieder Günther91 eindring‐
90 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993 91 Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
lich analysierten – Streit zwischen Schmitt- und Smend-Schülern nur kurz, schließt Böckenfördes Denken mit der Sehnsucht nach einem „politisch homogenen Volk“ und „Vorhandensein einer konkreten Ordnung“ (84) kurz. Von Forsthoff zu Joseph H. Kaiser zieht er eine Linie des Planungs‐ denkens, das die „substantielle Legitimität der Nation“ durch ein „Ethos der staatlichen Verwaltung“ ersetze (86). Das alles sind grobe Vereinfa‐ chungen, die weniger als schief sind. Ein Technokratie-Aufsatz von Her‐ mann Lübbe kann das „Erbe“ nicht tragen. Lübbes Verhältnis zu Schmitt war recht lose. Selbst Jens Hacke92 hat diese Filiation unlängst etwas übergewichtet. Die „liberalen“ Rezeptionen von Böckenförde, Roman Schur und anderen dagegen wären eingehendere Untersuchung wert. Er‐ neut schleichen sich ärgerliche Fehler ein. So hat Schmitt seine KoselleckBesprechung nicht anonym verfasst (118), sondern namentlich gezeichnet. Die Kesting-Besprechung ist auch nicht anonym verfasst, sondern von Wolfgang Steglich unterzeichnet. Dass sich dahinter Schmitt versteckt, wie Müller ohne Beleg behauptet, ist unwahrscheinlich. Müllers Studie wird mit den 1960er Jahren selbstständiger und schwimmt sich frei. Die Ausflüge in die „neue Linke“, nach Spanien, Frankreich und Italien sind interessant. Von der Analyse des „Erbes“ blei‐ ben dabei aber oft nur recht lose Stichworte über. Eine Theoriegeschichte von Schmitts Denken hat Müller nicht geschrieben. Auch den direkten persönlichen Kontakten geht er – etwa bei Julius Evola – kaum nach. „Es‐ sentialistische“ Rekonstruktionen bestreitet er insbesondere am Beispiel Heinrich Meiers. So mündet seine Studie in einen knappen, essayistisch geschwungenen Überblick über den neueren europäischen Rechtsintellek‐ tualismus, der sich von einer exakten Wirkungsgeschichte ziemlich ent‐ fernt. Michael Stolleis spricht in seinem knappen Vorwort Müllers Buch das Verdienst zu, Schmitt „im europäischen Kontext“ zu sehen und zur „nötigen Entzauberung“ und Historisierung beizutragen. Ich bin da nicht sicher. Vielleicht sieht diese Besprechung den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ein ziemlich großflächiger und fehlerhafter Parforceritt kann der Entzauberung aber nicht ungetrübt dienen. Er knüpft an Schmitts Namen eine allzu weite und vage Meistererzählung.
92 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Eine liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006
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II. 11. Linder 2008
II. 11. Christian Linder, Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt-Land, Berlin 200893 In den 1920er-Jahren übersetzte der Kreis um Stefan George die romanti‐ sche Heldenverehrung in die wirkungsgeschichtliche Analyse der „Ge‐ schichte des Ruhms“ und der „Mythologie“ einer „Gestalt“. Das Leben verflüchtigte sich dabei zur Legende. Die Dichtung überwucherte die fak‐ tische Wahrheit eines Lebens. Mitunter ist es bequem, die Balance von Dichtung und Wahrheit in eine fiktionalisierte Biographie aufzuheben. Das lange Leben des deutschen Staatslehrers Carl Schmitt ist quellen‐ mäßig breit belegt. In verschiedenen Registern führte Schmitt selbst Buch. Die erste umfassende Biographie von Paul Noack scheute den ausgedehn‐ ten Weg in die Archive und liest sich heute in manchen Teilen fast wie ein Roman.94 Der [*1949] in Lüdenscheid geborene Journalist und Schriftstel‐ ler Christian Linder nennt sie „unzureichend“ und betont, dass eine voll‐ ständige Biographie bis heute „fehlt“ (263). Dabei sind viele Quellen heu‐ te zugänglicher. Zahlreiche Briefwechsel und Tagebücher sind ediert. Der Weg zu den Archiven steht offen. Die Masse der Quellen dürfte ziemlich singulär sein. Man kann über Schmitts Leben (insbesondere seit 1922) von Tag zu Tag sehr viel wissen. Eine starke Einschränkung ist allerdings nö‐ tig: Ein großer Teil autobiographischer Quellen ist in der seltenen idioma‐ tischen Stenoschrift Schmitts verfasst und daher ohne Voraussetzungen kaum zu verstehen. Auch nach zwanzig Jahren Suche lastet die Entziffe‐ rung fast ausschließlich auf den tüchtigen Schultern des heute [2008] über 80jährigen Hans Gebhardt. Völlig zu Recht wurde Gebhardt deshalb nach einer Editorentagung des Marbacher Literaturarchivs vor einiger Zeit [2006] als der wahre und eigentliche „Held“ aller neueren Schmitt-For‐ schung ausgerufen.95 Ohne ihn blieben uns die Tagebücher verschlossen, blieben Berge von Forschungsliteratur – wenn auch mitunter ohne Verlust – ungeschrieben. Der Bahnhof von Finnentrop war Carl Schmitts Plettenberger Tor zur Welt. Der junge Schmitt lebte so ziemlich an und auf der Eisenbahn. Nach 1947 war die Station der Knotenpunkt für sein reges Reiseleben und die Ankunft des internationalen Besuchs. Linders Titel deutet auf einen litera‐
93 In: hsozkult vom 14. Mai 2008 94 Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993 95 Stephan Schlak, Der Partisan ganz privat. Tagungsbericht, in: TAZ vom 15. März 2006, S. 15 (Ausgabe 7922)
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Teil II: Für eine Historisierung des Akteurs
rischen Anspruch hin: auf eine Entdeckungsfahrt zum Autor und seiner „Mentalität“. Linder gräbt bis auf einige Briefe der Jahre 1945/46 keine unbekannten Quellen aus, sondern schreibt auf gängigem Stand eine fik‐ tionalisierte Biographie. Er zielt auf starke Deutungen. Das ist Schmitt nicht fremd, der sich gerne in verschiedenen geistesgeschichtlichen Mas‐ ken und Mythen spiegelte: Don Juan und Othello, Donoso Cortés und der „Sündenbock“ Hobbes, Machiavelli, Herman Melvilles „Benito Cereno” und Shakespeares „Hamlet” nur sind einige dieser Identifikationen. Die autobiographische Dialogisierung seines Denkens hat Schmitt im Spät‐ werk selbst gesucht. Linder verlängert diese literarische Wendung. Dabei hebt er einige Überlegungen und Akzente auf interessante Weise hervor. Er nimmt die autobiographischen Quellen und Schriften auf, zitiert aus‐ führlich, bisweilen ausufernd die Selbstbeschreibungen und verdichtet sie zum fiktiven Zwiegespräch mit dem alten Schmitt. Er rekapituliert biogra‐ phische Schlüsselstadien – mit leichten Fehlern auf gängigem Stand –, peppt sie mit längst kursierenden Briefhäppchen auf – Schlüsselbriefen von Hermann Heller, Walter Benjamin, Ernst Jünger und Jacob Taubes – und sucht die Zwiesprache, die Deutung und ein Urteil über den national‐ sozialistisch belasteten „Fall“. Schlüsselszenen sind die dialogische Aus‐ weitung der überlieferten Verhöre Robert M.W. Kempners mit Schmitt im Rahmen der Nürnberger Prozesse,96 ein imaginiertes Treffen des Autors Linder mit Schmitt auf sauerländischen Höhen sowie eine fiktive Spruch‐ kammerverhandlung, die einige Zeugen und Stimmen der Sekundärlitera‐ tur aufruft. Biographische Rückblenden und Dialogisierungen wechseln sich ab. In der Chronologie des Lebens springt Linder hin und her. Sein literarisches Rahmenkonzept zerfällt ihm dabei bisweilen in die extensive und fast deutungslose Addition von Briefen und Selbstaussagen. Der Text kippt dann in eine bloße Addition ziemlich beliebiger Quellen ab. Er hält seine Form nicht ganz durch. Linder sieht in Schmitt den Esoteriker, den eingeweihten Geschichts‐ philosophen und arroganten Prätendenten eines arkanen Geheimwissens und sucht den „Fall“ vom elitistischen, esoterischen Dünkel her zu ent‐ schlüsseln. Die verfassungspolitischen Fragen und Krisen Weimars kom‐ men dabei kaum zur Sprache. Schmitt erscheint erneut als pathetischer Dezisionist und eschatologischer Dramatiker des Ausnahmezustands, als verstiegener Sonderling, der den Weltgeist im narzisstischen Professoren‐
96 Helmut Quaritsch (Hg.), Carl Schmitt. Antworten in Nürnberg, Berlin 2000
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II. 11. Linder 2008
dünkel kommandieren wollte. Mit ausgiebigen Zitaten und Paraphrasen macht Linder mit Schmitts späten geistesgeschichtlichen Klimmzügen be‐ kannt. Er wirbt für den Tiefsinn und brandmarkt ihn doch als weltfremd. Der Sauerländer erscheint als Gefährte des Traumtänzers Martin Heidegger und des Äonenspekulanten Ernst Jünger. Damit läuft Linder Gefahr, die geistesgeschichtlichen Sahnehäubchen mit den historisch-poli‐ tischen und juristischen Analysen zu verwechseln und eine individuelle „Theologie“ statt „Politik“ zu zelebrieren. Schmitt wird zum Querdenker und Solitär im Nationalsozialismus. Der „Mythos“ wird dabei eher be‐ stärkt als entschlüsselt. Das „Ungeheuer“, von dem Linder spricht, ent‐ puppt sich als Märchenonkel. Linder schreibt damit ein Gegenbild zur verbreiteten Dämonisierung: einen eigenartigen Heimatroman über einen leicht verstiegenen, nicht un‐ sympathischen Sauerländer. Die Deutung trifft auch den Autor: Die Dialo‐ gisierung strebt zum Rendezvous mit dem Weltgeist. Nur Narr, nur Dich‐ ter? Linders Anspruch ist eher biographisch als fiktional. Die Literarisie‐ rung dient journalistisch-didaktischen Zwecken. Das Wagnis ist irgendwo zwischen Emil Ludwig, Rüdiger Safranski und Sofies Welt angesiedelt. Neben dem Buch von Paul Noack kann es durchaus bestehen. Wem die dialogisierende und introspektive Einfühlung nicht behagt, der kann sich an den reichen Bildteil halten. Ernst Hüsmert, die gute Seele des SchmittGedächtnisses, öffnete dafür sein Archiv.
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Teil III: Der Meier-Komplex: Politische Theologie oder Philosophie?
III. 1. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit Leo Strauss’ Aufsatz über den Begriff des Politischen und drei unveröffentlichten Briefen an Carl Schmitt aus den Jahren 1932/33, Stuttgart 198897 Unter den zahlreichen Veröffentlichungen anlässlich des 100. Geburtstags von Carl Schmitt ragte 1988 ein Büchlein von Heinrich Meier heraus, das Hugo Balls hellsichtigen Essay zur politischen Theologie Carl Schmitts (1924)98 vollendete. Indem Meier die Fassung des ‚Begriffs des Politi‐ schen’ von 1933 als eine Antwort auf Leo Strauss’ philosophische Anmer‐ kungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen’ (1932) verstand, ge‐ lang ihm die Grundlegung der politisch-theologischen Auslegung des Werkes. Im Vorwort der Wilhelm Hennis gewidmeten Studie resümiert der Ver‐ fasser, er glaube das Zentrum und den Zusammenhang des Werkes jetzt schärfer zu sehen, da ihm die grundsätzliche Alternative deutlicher gewor‐ den sei: eine politische Philosophie, wie Leo Strauss sie intendierte. Mei‐ ers philologische Rekonstruktion des Dialogs zwischen Schmitt und Strauss zielt auf ein Begründungsproblem: Kann und soll das Politische theologisch oder philosophisch begründet werden? Sollen die politischen Wissenschaften überhaupt theologisch argumentieren? Dieser systemati‐ sche Horizont deutet sich nicht nur am Ende der Studie an; er ist in der Rekonstruktion des Dialogs unter Abwesenden ständig präsent: „Ein Preu‐ ßischer Staatsrat spricht zu einem ‚jüdischen Gelehrten’“ (17). Schon die‐ se Rahmenbedingungen des Dialogs verweisen auf einen Unterschied zwi‐ schen dem philosophischen und theologischen Diskurs, weshalb Meier wohl auch drei Briefe von Strauss an Schmitt veröffentlicht und in seiner
97 In: Philosophischer Literaturanzeiger 43 (1990), 245-248; längere Fassung in: Rechtstheorie 21 (1990), 119-122; Heinrich Meier (*1953) ist seit 1985 als Nach‐ folger von Armin Mohler Geschäftsführer der Siemens-Stiftung in München. 98 Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21 (1924), 263-286
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III. 1. Meier 1988
Nachbemerkung notiert, dass Schmitt ein Gutachten über Strauss schrieb, auf dessen Fragen aber brieflich nicht antwortete; Schmitt trat nicht in einen persönlichen Dialog ein,99 sondern antwortete 1933 mit einer still‐ schweigenden Selbstkorrektur und Klarstellung, die eine „Abhängigkeit von einem Juden“ nicht zugestehen durfte, wie Meier abschließend Leo Strauss zitiert (139). Er rekonstruiert Schmitts Klarstellung und entwickelt seine Bemerkun‐ gen mit äußerster Präzision und Konsequenz zur philosophischen Frage‐ stellung, die eine „unaufhebbare Kluft“ zwischen der politischen Philoso‐ phie und Theologie voraussetzt: Während die Politische Theologie dog‐ matische und autoritäre Antworten gibt, stellt die Politische Philosophie kritische Fragen. Indem Meier diese Alternative zwischen Schmitt und Strauss herausarbeitet, schlägt er sich auf die Seite des Philosophen, der die Antworten und Ansprüche der Politischen Theologie (Schmitts) frag‐ würdig findet und nicht in der Heilsgeschichte, sondern in der Ermögli‐ chung des philosophischen Lebens einen wesentlichen Zweck des Politi‐ schen findet. Auf diese klassische Überzeugung verweist schon das sokra‐ tische Motto der Studie (Euthyphron 7 c-d). Strauss’ Kritik ist nicht nur Meiers Lektüreleitfaden zum Werkzentrum Schmitts, sondern auch sein Ariadnefaden ins Freie. Über Strauss’ Anmerkungen versucht Meier gewissermaßen das Zen‐ trum des Zentrums von Schmitts Werk zu ergründen. Schon um der essay‐ istischen Anlage der Studie willen meint er, dass Schmitt auf Strauss’ phi‐ losophische Anmerkungen, die alle theologischen Konnotationen des Be‐ griffs des Politischen geradezu provozierend ignorierten, in der überarbei‐ teten Fassung von 1933 mit einer Verdeutlichung seiner religiösen Über‐ zeugungen antwortet. Meier führt den Leser über eine behutsame Rekon‐ struktion dieser Antwort in das Werkzentrum hinein: in Schmitts „anthro‐ pologisches Glaubensbekenntnis“, das keine Vermutung, sondern ein Cre‐ do ist. Diese Auslegung unternimmt eine Gegendeutung zur insbesondere von Karl Löwith wirkmächtig vertretenen These, dass die Fassung von 1933 sich dem Nationalsozialismus opportunistisch anpasse. Meier möchte Löwith nicht widerlegen, sondern auf die „gegenläufige Tendenz“ (15 Fn) einer gleichzeitigen Verdeutlichung der religiösen Moti‐ vierung des politischen Wollens aufmerksam machen. Er führt den Streit
99 Zu den biographischen Quellen vgl. Schmittiana N.F. II (2014), 170-176; Schmit‐ tiana N.F. III (2016), 84-85
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um Schmitt deshalb nach Art der politischen Theologie auf die Ebene der geistesgeschichtlichen und weltanschaulichen Diskussion, ohne von Schmitts politischen Optionen ablenken zu wollen. Vielmehr macht er einen Vorschlag zum Verständnis, der den mitunter spitzfindigen Anschul‐ digungen und Entschuldigungen einen festen Boden bereiten möchte, mit Löwiths von Hasso Hofmann durchgeführter Auslegung allerdings unver‐ einbar ist. II. Die Mikrolektüre stützt sich auf einen umfangreichen Apparat, der die we‐ sentlichen Verweisstellen im Gesamtwerk beibringt. So gewinnt der bril‐ lant geschriebene, ebenso einführende wie grundlegende Essay eine dop‐ pelte Lesbarkeit, die einen weiteren Leserkreis anspricht. Der Wiederab‐ druck von Strauss’ Anmerkungen erhöht diese Lesbarkeit; man muss ei‐ gentlich nur noch den Begriff des Politischen in der Fassung von 1933 zur Hand haben,100 um in den Dialog zum Sinnproblem des Politischen eintre‐ ten zu können. Meier macht den Leser seinem sokratischen Motto getreu zum Teilneh‐ mer eines radikal fragenden Dialogs und zwingt ihn in Schmitts Argumen‐ tationsgrund hinein. Dabei geht er von Strauss’ Anmerkungen aus, meist als eine erste Einordnung in die Geschichte der politischen Theorie miss‐ verstanden, die Schmitt im Moment seiner Verstrickung in die Dämonie der Macht als einen Theoretiker von klassischem Rang für die Wissen‐ schaft retteten. Meiers genaue Lektüre ergibt dagegen, dass Strauss durch seinen Vergleich mit Hobbes Schmitts „Kritik am Liberalismus im Blick auf ihre Vollendung“ (19) radikalisiert und Schmitt selbst von der Unver‐ einbarkeit seiner Position des Politischen mit Hobbes’ liberaler Position der Zivilisation überzeugt, die den Naturzustand als einen zu überwinden‐ den fingiert. Schmitt folgt Strauss zunächst in dieser Absetzung von Hobbes’ politischer Philosophie und verdeutlicht dann seine religiöse Auf‐ fassung vom Naturzustand. Nach Strauss bejaht Schmitt im Naturzustand das gefährliche, politi‐ sche Leben um seines moralischen Ernstes willen. Diese moralphilosophi‐
100 Dazu jetzt Marco Walther (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Syn‐ optische Darstellung der Texte, Berlin 2018
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III. 1. Meier 1988
sche Auslegung bewegt Schmitt zu einer weitergehenden Antwort auf die Frage, warum der Mensch sein Leben denn eigentlich ernsthaft führen soll. Während der Philosoph vom Naturzustand als einem Schreckbild re‐ det, das nur den ethischen Sinn hat, zur Frage nach der sittlichen Lebens‐ führung aufzurufen, begründet Schmitt noch diese Auslegung theologisch: Der Mensch lebt eigentlich gar nicht in der philosophischen Frage, wie er sich verhalten soll, sondern im absoluten Anspruch, „ob er Gott oder dem Satan gehorche“; für Schmitt hat das Politische „in der Unabweisbarkeit dieser Frage“ (50) und „in der Erbsünde seine tiefste Begründung“ (62), folgert Meier und entdeckt im anthropologischen Glaubensbekenntnis das Zentrum, im religiösen Gebot zur Parteinahme den Zusammenhang des Werkes. Dabei meidet er, den Begründungszusammenhang zwischen dem Glauben an die Erbsünde und dem Gebot zur Parteinahme theologisch zu erläutern, und beschränkt sich darauf, Schmitt als einen gläubigen Chris‐ ten darzustellen. Die letzten drei Abschnitte des Essays entwickeln in einer zunehmen‐ den Intensität und Verdichtung des Fragens Konsequenzen dieser poli‐ tisch-theologischen Auslegung. Schmitt versteht intensive Feindschaften als den politischen Ausdruck metaphysischer Gegensätze und gibt ihnen einen heilsgeschichtlichen Sinn: „Im Feind glaubt Schmitt das Werkzeug der Providenz zu erkennen“ (79); im heilsgeschichtlich gebotenen Ent‐ scheidungskampf erscheint der Feind als ein Antichrist, dessen Negativität letztendlich nur die Vollendung der Geschichte ungewollt beschleunigt. Diese politisch-theologische Bedeutung des Feindes strahlt in konkrete Feindbestimmungen aus und stiftet einen Sinnzusammenhang des politi‐ schen Denkens, Wollens und Verhaltens. Schmitt sieht sich mit dem Bol‐ schewismus, Liberalismus und Judentum im Kampf und besinnt sich in seiner Nürnberger Gefängniszelle nach 1945 darauf, dass der Feind „unsre eigne Frage als Gestalt“101 sei. Nach Meier war Schmitt stets von diesem inneren Zweifel geplagt, ob seine Feinde nur die Projektion einer eigenen Frage sind: Dämonen ungelöster Selbsträtsel und Trugbilder eines unver‐ standenen Ich. Diese Spekulation, Schmitt habe stets seine Feindbilder re‐ flektiert und im Nationalsozialismus oder gar in sich selbst den Antichris‐ ten gesehen, zieht gewichtige Folgerungen aus einer Meditation, die im Kontext des Spätwerkes ihrerseits fragwürdig ist. Mit ähnlichem Recht,
101 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus, Köln 1950, 90
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wie Meier Schmitts Selbstzweifel betont, kann man an seiner Kehre zwei‐ feln. Schmitts Spätwerk schreibt Lesarten vor, die vorsichtig geprüft werden müssen. Meier unterstellt aber die durchgängige Einheit des christlichen Bekenntnisses, ohne auch nur Schmitts Konfessionszugehörigkeit zu dis‐ kutieren. Seine hermeneutische Leidenschaft, das Sinnzentrum eines Wer‐ kes zu entdecken, übergeht manche Brüche und Fragwürdigkeiten, die im Rahmen eines Essays vielleicht nicht erörtert werden konnten. Positiv ge‐ wendet erhebt er die Not der Quellenlage zum literarischen Geschick und passt ihr seine Behandlungsform kunstvoll an. Sobald die Quellenlage es erlaubt, wären Schmitts Glaube und der entscheidende Zusammenhang mit den Feindbestimmungen näher darzustellen. Solche weitergehenden Fragen kann man erneut stellen, weil Meier ein festes Netz über die Ab‐ gründe von Carl Schmitts Werk geworfen hat. III. 2. Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie. Stuttgart 1994102 Aus der Fülle der in den letzten Jahren exponentiell wachsenden Literatur um Carl Schmitt fand insbesondere Heinrich Meiers Untersuchung Carl Schmitt, Leo Strauss und ‚Der Begriff des Politischen‘ – auch beim Re‐ zensenten – positive Aufnahme. Diese schlanke Studie deutete in essayis‐ tisch geschickter Anlage, doch mit grundsätzlichem Anspruch Textabwei‐ chungen des Begriffs des Politischen insbesondere in der Fassung von 1932 zu 1933 als Antwort und autoritative Klarstellung: Schmitt habe 1933 der philosophischen Kritik Leo Strauss’ entgegnet, dass sein Denken im Zentrum seines Selbstverständnisses politische Theologie und nicht Philosophie sei. Der grundsätzliche Anspruch zielte dabei auf eine Unter‐ scheidung der politischen Philosophie von der Theologie, die im Kern auf eine einfache Unterscheidung des Frage- oder Antwortcharakters eines Denkens hinauslief: Der Philosoph fragt, wo der Theologe antwortet oder, genauer: sich antwortend glaubt. Damit war der lange angekündigen Mo‐ nographie Die Lehre Carl Schmitts die Aufgabe vorgegeben, die Durch‐
102 In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 81 (1995), 593-597
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führung dieser Unterscheidung in der Ausweitung auf eine explizite Ge‐ samtauslegung von Schmitts „Lehre“ vorzunehmen. Meier nimmt diese Aufgabe mit dem Titel und Untertitel seines Buches Die Lehre Carl Schmitts auch erneut auf sich und betont im Vorwort die strenge Zusammengehörigkeit beider Studien in der Sache, der Intention und – wie Meier sich ausdrückt – im „elenktisch-protreptischen Charak‐ ter“. Er gliedert seine Studie, in Anlehnung an Schmitts Schrift Politische Theologie, in vier Kapitel, Moral, Politik, Offenbarung und Geschichte überschrieben. Erneut tritt er mit großem Entdeckungsgestus und Origina‐ litätsanspruch auf: Die Literatur über Schmitt habe bisher nur „Meinun‐ gen“ gehäuft, die das „Labyrinth“ seines Werkes wie einen „Irrgarten“ umrankten, der „wenig mehr als den Blick auf dessen Außenbezirke frei‐ gibt“ (14). Diese sachlich unzutreffende und spätestens mit der eigenen Monographie von 1988 schal gewordene Prätention lässt Meier die ganze Fachdiskussion vollständig ignorieren – allenfalls als „Dialog unter Abwe‐ senden“ ist sie präsent – und die Rekonstruktion des Selbstverständnisses Carl Schmitts als eines „politischen Theologen“ als das „Wichtigste“ be‐ zeichnen. Die Anzahl solcher Rekonstruktionsversuche ist mittlerweile Legende. Es ist auch eine merkwürdige Hermeneutik,103 die eigene Ausle‐ gung derart im Selbstverständnis des Autors erlöschen zu lassen, den Au‐ tor nicht mehr besser verstehen zu wollen, als der sich selbst verstanden hat, sondern nur noch so, wie er sich verstanden wissen wollte. Dabei un‐ terscheidet Meier zwischen Selbstverständnis und Selbstinterpretation kaum, sondern nimmt noch Schmitts späte Selbststilisierungen und Inter‐ pretationsvorschriften als authentische Selbstaussagen. Die Rekonstruktion beginnt mit der Abweisung von zwei geläufigen Meinungen: Zunächst zeigt Meier, „Schmitts Autorität folgend“ (15), für Anfang und Ende von Schmitts Denkweg – für die Nordlicht-Studie und die Politische Theologie II – auf, dass Schmitt sich lebenslang gegen die prometheische Selbstgenügsamkeit und Selbsterlösungs-Hybris des mo‐ dernen Menschen empörte, eine Welt ohne Gott errichten zu wollen. Da‐ mit legitimiert er seinen Verzicht auf werkbiographische Differenzierun‐ gen zugunsten der Abstraktion einer bruchlos und konsequent vertretenen reinen „Lehre“. In der Empörung Schmitts über die Empörer entdeckt er einen moralischen Impuls und legt erneut Schmitts „ausdrucksvolle mora‐
103 Zur scharfen Kritik an Strauss jetzt Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Ver‐ nunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, München 2018, 175ff, 381ff
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lische Entscheidung“ frei, sich unter den Anspruch der Wahrheit und „Ge‐ wissheit des Glaubens“ zu stellen. Näherhin bestehe die Tugend des politi‐ schen Theologen im „Gebot des geschichtlichen Handelns“ der „Tapfer‐ keit des schieren Standhaltens“ (44) vor dem „providentiellen Feind“. Die‐ se Auslegung der Moralität Carl Schmitts expliziert Meier in den weiteren drei Kapiteln zu Politik, Offenbarung und Geschichte in ihren Vorausset‐ zungen. Das Kapitel Politik erörtert zunächst Schmitts „Intensitätskonzeption“ des Politischen als des „Maßgebenden“ und „Totalen“; Meier hebt hervor, dass Schmitts „politischer Totalismus“ nicht Volk, Nation oder „Staat“ von vornherein als maßgebendes „Subjekt der Politik“ ansetzt, sondern nur ir‐ gendeine „Gemeinschaft der Gläubigen“ (101) fordert. Daraus folgt eine Optionsneutralität gegen bestimmte politische Positionen und Begriffe im Einzelnen; nach Meier gibt es insbesondere keinen zwingenden Zusam‐ menhang zwischen Schmitts Begriff des Politischen und seinem nationa‐ listischen Begriff der Verfassung. Den Zusammenfall der religiösen und politischen Option in der zeitgenössischen „Theologie des Nationalismus“ (eines Wilhelm Stapel etwa), der Schmitt nahestand, erörtert er dabei nicht, sondern erklärt die „Substanz der politischen Einheit“ (65) und der Verfassung zum kontingenten, mit der „Lehre“ Carl Schmitts nicht not‐ wendig verbundenen „Jeweilsprodukt der Kräfteverhältnisse“. Damit ent‐ ledigt er sich der Diskussion über Schmitts Stellung zu den „Grundent‐ scheidungen“ der Weimarer Verfassung und des Nationalsozialismus im Einzelnen, die die historische Forschung detailliert interessiert. Im letzten Kapitel erörtert er diese Optionen zwar, bestreitet aber deren zwingenden Zusammenhang mit Schmitts Begriff des Politischen. Seine Deutung von 1988 präzisiert er hier – und nur hier – durch Erör‐ terungen zur „Sphäre des Politischen“ als „Ort der Selbsterkenntnis“. In Auslegung der Nachkriegsformel vom Feind als „eigne Frage als Gestalt“, die Meier als authentische Explikation des frühen Feinddenkens deutet, zeigt er auf, dass das Politische für den politischen Theologen wie für den Philosophen ein Ort der Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis am Feind sei. Anders als der Philosoph vermöge der politische Theologe den Feind jedoch nicht anzuerkennen, sondern perenniere in der äußersten Intensität des Glaubenskampfes von Glauben gegen Irrglauben, im „asymmetrischen Verhältnis“ zu einem „providentiellen Feind“. Mit der Auslegung von Schmitts politischem Totalismus geht Meier zu Schmitts Sicht der Offenbarung über; er liest Schmitts Werk dabei als einen Versuch, „Politik und Offenbarung in ihrem Verhältnis zueinander 74
III. 2. Meier 1994
zu denken“ (111), und deutet an, dass jede Theologie unter Offenbarungs‐ anspruch als politische Theologie zu begreifen sei. Die Wesensbestim‐ mung des Politischen als des Totalen befragt er auf ihre „theologischen Implikationen“ hin und entdeckt von der „Unverfügbarkeit“ der Offenba‐ rung her den Glauben an die „Unergründlichkeit des göttlichen Wil‐ lens“als Kernbestand von Schmitts Credo. Durch einen Hinweis auf die Analogie und Identifikation mit Tertullian eröffnet er dann die Diskussion um die Orthodoxie von Schmitts Credo, die er ansonsten für sich zurück‐ weist (41). Das Problem der Konfessionalität bleibt unerörtert. Die theolo‐ gische Stimmigkeit von Schmitts Lehre zeigt Meier jenseits seiner begriff‐ lichen Rekonstruktion durch sparsame, doch deutliche Verweise auf die protestantischen Zeitgenossen Bultmann und Gogarten sowie die Kirchen‐ väter Augustinus, Thomas von Aquin, Luther, Calvin und andere an. Aus‐ führlicher erörtert er Schmitts Distanzierung von Hobbes beim Versuch, die Totalität des Politischen vom „Vorrang des Theologischen“ (125) her zu restituieren. Auch hier beschränkt er sich jedoch auf die bloße Rekon‐ struktion von Schmitts komplexen und gewundenen Ausführungen, ohne dessen Selbstdeutung auf seine Rolle im Nationalsozialismus rückzubezie‐ hen. Dies geschieht erst im abschließenden vierten Kapitel Geschichte, in der „Moral, Politik und Offenbarung“ zusammengeschlossen seien. Meier geht hier von Schmitts später Umdeutung aus, dass Hobbes bei seiner Par‐ teinahme für den Staat der Neuzeit, diesem „Beschleuniger“ im Prozess der religiösen Neutralisierung, doch mit christlicher Frömmigkeit einen „christlichen Souverän“ vorausgesetzt habe. Dies liest er auch als Reflexi‐ on auf Schmitts Fall, dem Nationalsozialismus 1933 einen heilsgeschicht‐ lichen Sinn unterstellt und unterlegt zu haben. Meier interessiert sich je‐ doch nicht weiter für Schmitts Rolle im Nationalsozialismus; er deutet nur mit wenigen klaren Strichen an, dass Schmitts „Verteidigung des Politi‐ schen“, das „Leitmotiv“ seines staatsrechtlichen Werkes, vor 1933 und seit 1923 schon gegen den „bürgerlichen Rechtsstaat“ (Carl Schmitt) Weimars „Hoffnungen“ und „Präferenzen“ für Mussolini und später Hitler hegte und „auch revolutionäre Kräfte als mögliche ,Aufhalter’ in Erwägung“ (213f) zog; Schmitt sei dabei jedoch weder „Nationalist“ noch „Theoreti‐ ker des Nationalismus“ gewesen, sowenig wie ein Etatist.104 Affinitäten
104 Dieser Betonung eines Primats der religiösen Grundprägung widerstreitet Helmut Ouaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989
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zum Nationalsozialismus hatte Schmitt insbesondere auch durch seinen nach 1945 festgehaltenen, scharfen Antisemitismus. Mit dem LeviathanBuch von 1938 sei er aber auf Distanz zum Nationalsozialismus gegangen. Die fortdauernde Option für das „Reich“ sowie den engen Zusammenhang zwischen Schmitts Abschied vom „Reichsbegriff“ seit 1942 und seinen Überlegungen zum „Katechon“, dem „Aufhalter“ des Endes der Geschich‐ te, erörtert Meier bei seinen abschließenden Überlegungen zu Schmitts „Kampf um die Sinndeutung“ der Geschichte nicht. Damit vertritt er in der Diskussion um Schmitts Stellung zum Nationalsozialismus eine mitt‐ lere Position, die einerseits „Präferenzen“ vor 1933 und eine vorbehaltlos entschiedene Parteinahme mindestens bis 1936 ansetzt, andererseits je‐ doch auch die These vom relativen „Bruch“ nach 1936 fortschreibt, ohne Schmitts Absicht auf Restitution des totalen Staates durch Wiederherstel‐ lung des mythischen „Sinns“ des Symbols vom Leviathan und die fortdau‐ ernde Parteinahme in der Kriegspublizistik hinreichend deutlich zu mar‐ kieren. Die These von der nach 1945 noch festgehaltenen Affinität zum Nationalsozialismus stützt Meier aber durch Hinweise zum „Antijudais‐ mus“ nach 1945. Unter historisch-politischer Fragestellung wäre hier noch einiges näher zu untersuchen. Doch darauf kommt es Meier nicht an. Wichtig ist seine Gesamtauslegung zunächst durch die strenge Erörte‐ rung eines Zusammenklangs von Schmitts Politischer Theologie in den Aspekten der Moral, Politik, Offenbarung und Geschichte. Die Kohärenz der einen Lehre Carl Schmitts wird dabei freilich überpointiert. Die Expli‐ kation der Alternative der politischen Philosophie und somit die „Unter‐ scheidung“ der politischen Philosophie von der Theologie ist auf eine wei‐ tere Untersuchung verschoben. Außer wenigen Bemerkungen zum Politi‐ schen als dem Ort der Selbsterkenntnis auch des fragenden Philosophen findet sich abschließend nur der Hinweis, durch die „Auseinandersetzung mit der Politischen Theologie“ erhalte die Philosophie zwar „schärfere Konturen“ (261), nicht aber ihre „Identität“. Für den Begriff der politi‐ schen Philosophie gibt die Rekonstruktion der politischen Theologie Carl Schmitts also nach Meier wenig her. Damit verschiebt sich der grundsätz‐ liche Sinn der Rekonstruktion ins Theologische. Wenn die politische Theologie auch keine Lehre für die Philosophie ist, so vielleicht doch für die Theologen. Nimmt man Meiers grundsätzlichen, über die Schmitt-For‐ schung hinausgreifenden Anspruch ernst, so lautet die zentrale These nun, dass alle wahrhafte christliche Theologie im Grunde politische Theologie sein müsse. Dieses mögliche theologische Interesse an Schmitt erscheint
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III. 2. Meier 1994
jedoch in der gesamten Studie nur implizit; Meier verzichtet insbesondere auf dogmengeschichtliche Kontextualisierung. Sollte die Rekonstruktion von Schmitts Selbstverständnis aber tatsäch‐ lich „das Wichtigste“ sein, wie Meier emphatisch meint? Sämtliches diszi‐ plinäres Interesse jenseits des Theologischen ridikülisiert Meier. So be‐ streitet er die Relevanz von Schmitts historisch-politischem Denken im Kern seiner Lehre, indem er die Optionsneutralität der politischen Theolo‐ gie gegenüber bestimmten Parteinahmen behauptet. Auch das juristische Werk und Interesse vernachlässigt er, und er macht nur wenige allgemeine Bemerkungen zu Schmitts „Verteidigung des Politischen“ im Staatsrecht, ohne die Rechts- und Verfassungstheorie, geschweige denn die verfas‐ sungsrechtlichen Analysen näher zu würdigen. Nicht die Theoriebildun‐ gen, Analysen und Einsichten in die „Lage“ des Politischen sind für Meier wichtig. Das philosophische Interesse schließlich, das in den letzten Jah‐ ren im Kurzschluss auf Postmodernismen zugegebenermaßen wild wu‐ cherte, ist nach Meier sachlich nur das exzentrische Interesse an einer schärferen Konturierung der Alternative. Die aktuelle Auseinandersetzung um die Möglichkeit dieser Alternative heute aber, die Legitimität einer po‐ litisch-theologischen Option für die Wahrheit der christlichen Offenbarung lässt Meier unerörtert, und seine anfängliche Absicht auf Profilierung der Alternative ist ihm über der Rekonstruktion zerfallen. Meier hat aber nicht nur die 1988 verhießene Explikation der Alternati‐ ve unterlassen und den möglichen theologischen Sinn von Schmitts Lehre nur implizit behauptet; er blendet nicht nur die Frage nach der Aktualität und Virulenz der politischen Theologie heute aus und entschlägt sich da‐ mit eines Beitrags zum Problem des politischen Fundamentalismus: Auch die Rekonstruktion der „Lehre“ ist – von Detailfragen abgesehen – im Kern fragwürdig. Nach Schmitt antwortet der politische Theologe nämlich nicht einfach dem „Anruf“ der Geschichte, sondern stellt die „Frage nach der Frage“,105 auf die die Geschichte eine Antwort gibt; er wähnt sich nicht einfach als die Partei Gottes, sondern fragt in Furcht und Zittern trotz seiner Unergründlichkeit nach dem Willen Gottes, hofft auf eine Korres‐ pondenz seiner Antwort mit dem heilsgeschichtlichen Plan, harrt des Ur‐
105 Dazu Carl Schmitt, Gespräch über den neuen Raum, in: ders., Staat, Großraum, Nomos, Berlin 1995, 552-569, hier: 558ff; zur „Verortung“ dieses „hermeneuti‐ schen Vorrangs der Frage“ (H.-G. Gadamer) vgl. Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117-146
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teils im Jüngsten Gericht. Auch und gerade der politische Theologe ist nach Schmitt ein Fragender. Damit gerät Meiers ganze Unterscheidung ins Wanken. Tatsächlich wankt diese Unterscheidung spätestens seit dem „lin‐ guistic turn“ in der Philosophie, und Schmitt hat – in der Geistesgeschicht‐ lichen Lage des heutigen Parlamentarismus – den Umschlag des alten „Rationalismus“ in einen „neuen Irrationalismus“ festgestellt und zum Ausgangspunkt seiner Verfassungslehre gemacht. Anders als Meier resti‐ tuiert Schmitt nicht eine alte Unterscheidung von Theologie und Philoso‐ phie, sondern kassiert die Differenz der Philosophie und begründet die These von der Irreduzibilität von „Metaphysik“ und „Politischer Theolo‐ gie“ neu. Dies ist eine interessante Herausforderung, die mit verschiede‐ nen neueren Tendenzen konvergiert und einen Teil der Aktualität Carl Schmitts ausmacht. Meier erörtert sie nicht. So bleibt als „das Wichtigste“ seiner Studie die entproblematisierende Rekonstruktion des Selbstver‐ ständnisses Carl Schmitts in einigen Grundzügen. Sollte dies aber tatsäch‐ lich die eigentliche und einzige Aufgabe der Auseinandersetzung gewesen sein? III. 3. Heinrich Meier, Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart 2003106 Heinrich Meier hat es sich zur Aufgabe gemacht, Leo Strauss als „Klassi‐ ker“ in Deutschland durchzusetzen. Wie Arendt, Kuhn und andere gehörte Strauss zur jüngeren Generation existentialistischer Heidegger-Fans, die in der Emigration zu Neubegründern politischer Philosophie wurden. Anders als Arendt oder Kuhn kehrte er aber nach 1945 nur einmal kurz nach Deutschland zurück. Die wenigsten seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Ganz anders als in den USA, wo Strauss schulbildend wirkte und großen politischen Einfluss (bis in die Spitzen der gegenwärtigen Bush-Administration) gewann, wurden seine Schriften in seinem einstigen Heimatland nur wenig rezipiert. Das hat sich in den letzten Jahren im Zu‐ ge der entstehenden Gesammelten Schriften geändert. Einige Monographi‐ en sind erschienen. So legte Clemens Kauffmann107 eine gute Einführung sowie eine umfangreiche Monographie über Nähen von Rawls zu Strauss 106 In: Philosophischer Literaturanzeiger 56 (2003), 245-247 107 Clemens Kauffmann, Leo Strauss zur Einführung, Hamburg 1997; Strauss und Rawls. Das philosophische Dilemma der Politik, Berlin 2000
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III. 3. Meier 2003
vor; Harald Bluhm108 verabschiedete Strauss’ Suche nach einer idealen „Ordnung der Ordnung“ für die heutige Politikwissenschaft ein Stück weit. Heinrich Meier aber, heute wohl der beste deutsche Kenner von Strauss in Deutschland, legte bisher noch keine eigene größere Strauss-Monogra‐ phie vor, sondern beschränkte sich auf einen tentativen Initiationsgang der Einführung in einen esoterischen Strauss. Er begann sein geduldiges Un‐ ternehmen mit einer doppelten Profilierung gegen Carl Schmitts antipodi‐ sche Politische Theologie. Danach verlagerte er seine Arbeit auf die auf‐ wändige und akribische Edition der Gesammelten Schriften, von der bis‐ her drei Bände erschienen.109 Drei weitere zum Spätwerk nach 1945 sind angekündigt, weitere sind visioniert. Dem ersten Band sekundierte 1996 eine Broschüre Meiers über Die Denkbewegung von Leo Strauss, die auf die transhistorische „Intention“ bei der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie hinwies. Gaben die ersten beiden Bände dabei vor allem Strauss’ Wurzeln in der postassimilatorischen zionistischen Bewegung zu entdecken,110 so präsentierte der dritte Band Strauss mit den frühen Hobbes-Studien und insbesondere mit dem Abdruck umfangreicher und bedeutender Korrespondenzen mit Gerhard Krüger, Karl Löwith, Gershom Scholem und Jacob Klein als einen Philosophen von eigenem An‐ spruch.111 Die Leser stehen im Initiationsgang der Gesammelten Schriften, der Strauss’ Intentionen mit starken protreptischen Zielsetzungen folgt, nun an der Schwelle zu dessen eigener, nach 1945 erst entfalteter Philoso‐ phie, die in Deutschland bislang fast unbekannt ist. Meier sekundiert der Edition deshalb erneut mit einer zweiten Broschüre, die „das Thema“ von Strauss, gemäß dessen später Selbstaussage, anschlägt: das „theologischpolitische Problem“. Die Broschüre gliedert sich in drei Teile: „einen Vortrag, einen Kom‐ mentar und eine Anmerkung“. Ihr Herzstück ist der Kommentar, der durch die Anmerkung ergänzt wird. Der in das Gesamtwerk ausgreifende Vor‐ trag dient der Annäherung an den Kommentar und dessen Einordnung im Gesamtwerk. Im Vortrag legt Meier nun erneut dar, dass Strauss keines‐
108 Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002 109 Weitere folgten bis heute nicht. 110 Dazu vgl. Verf., Der Philosophiehistoriker als Philosoph? Gesammelte Schriften von Leo Strauss, in: Philosophische Rundschau 47 (2000), 135-146 111 Dazu vgl. Verf. Rez. in: Philosophischer Literaturanzeiger 55 (2002), 27-30
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Teil III: Der Meier-Komplex: Politische Theologie oder Philosophie?
wegs auf einen „politischen Gegenentwurf“ (25) zielte, sondern auf eine „Grundlegung“ und „Begründung der Philosophie“ in ihrer Eigenständig‐ keit gegenüber dem theologischen Offenbarungsanspruch und politischer Pression. Der „einzige politische Akt von Tragweite, zu dem Strauss sich verstand, [...] war die Gründung einer Schule“ (29), gibt Meier einer ge‐ läufigen Kritik zu, wie sie etwa von St. Holmes112 vehement vertreten wurde. Näher führt Meier nun aus, dass Strauss’ „rhetorische Strategien“ auf die exoterische „Vorstellung“ eines „Patts“ (42) zwischen Philosophie und Theologie zielten, die aber esoterisch „vier Ansätze“ philosophischer Überlegenheit bot. Einen dieser Ansätze stellt Meier dann in seinem Kom‐ mentar zu Strauss’ Genealogie des Offenbarungsglaubens eingehender vor. Er legt hier einen kleinen „Dialog“ aus dem Vortrag Reason and Revelation von 1947/48 aus. Seine Rekonstruktion dieses Dialogs zielt auf Strauss’ philosophische Erklärung eines Zusammenhangs zwischen theo‐ logischem Gehorsamsanspruch und geschichtlichem Offenbarungsglau‐ ben. Demnach forderte der Gehorsamsanspruch theologisch den Glauben an eine Offenbarung, die dem transhistorischen Wahrheitsverständnis der Philosophie widerspricht. Meiers Kommentar weist mit Strauss’ Genealo‐ gie auf die Überlegenheit der Philosophie hin. Die Philosophie vermag, was die Theologie nicht kann: ihren Widersacher zu erklären. Die ab‐ schließende kurze Anmerkung zu Heideggers Auffassung vom Tod als Gott stellt Strauss dann als Erben Nietzsches und Heideggers in seinen philosophiehistorischen Kontext, indem sie einem Verweis auf eine Novel‐ le C. F. Meyers nachgeht. Bei C. F. Meyer fand Strauss ausgesprochen, was Heidegger verschwieg: eine moralische Konzeption vom Tod als Gott. Die Broschüre endet leicht ironisch. Denn sie scheint der Werbung für die Gesammelten Schriften etwas zuwiderzulaufen, wenn sie statt der gro‐ ßen Monographien marginale Bruchstücke und esoterische Verweise als Zeichen von Strauss’ transhistorischem Anspruch auslegt. Einerseits un‐ tergräbt sie die geläufige Erwartung, Strauss entwickle eine konstruktive Philosophie der Politik; andererseits stellt sie Strauss als Erben Nietzsches und Heideggers vor und verweist die philosophische Auseinandersetzung auf marginale Hinweise. Erneut stellt sich die Ausgangsfrage der Broschü‐ re von 1996:113 Wozu der ganze philosophiehistorische Aufwand, wenn 112 Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge 1993 113 Heinrich Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philo‐ sophie und die Intention des Philosophen, Stuttgart 1996
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III. 4. Meyer 1993
wir zuletzt bei Heidegger landen? Jedenfalls weiß der Leser nun deutli‐ cher, was er von den kommenden Bänden systematisch erwarten darf.114 Wie wichtig man dies auch nimmt: Dem Leser ist damit gedient. So ist auch Meiers zweite Strauss-Broschüre ein Zeugnis getreuer Herausgeber‐ schaft, die darum weiß, dass die Durchsetzung eines Autors in einer Öf‐ fentlichkeit mehr verlangt als nur die Bereitstellung der Texte. III. 4. Martin Meyer, Ende der Geschichte?, München 1993115 Meyer erörtert Alexandre Kojèves These vom Ende der Geschichte sowie die durch Georges Bataille, Carl Schmitt und Leo Strauss in Auseinander‐ setzung mit Kojève formulierten Gegenpositionen. Kojève hatte in Ausle‐ gung Hegels das anthropologische Bedürfnis nach Anerkennung zum Mo‐ vens der Geschichte erhoben und ein „Ende der Geschichte“ im modernen Verfassungsstaat, der dieses Bedürfnis nach symmetrischer Anerkennung saturiert und deshalb befriede, ausgemacht. Meyers eleganter Essay ent‐ wickelt insbesondere die These Kojèves sowie die Gegenargumente von Schmitt und Strauss, wobei der Schwerpunkt auf der Streitfrage zwischen Kojève und Schmitt liegt, während die ästhetische Opposition Batailles mehr am Rande erörtert wird. Meyer beginnt nach dem Vorwort jedoch zunächst mit einer Bestands‐ aufnahme der I. Geschichte vom Ende der Geschichte, ausgehend von Kants aufklärerisch-anthropologischer Wendung der Eschatologie116, durch die er auch die eigene Position anschlägt. Weiter führt er aus, dass Kants anthropologische Wendung bei Gehlen gegenaufklärerisch wurde: „Die chiliastische Erwartung des Endes selbst in der Form eines diesseiti‐ gen ‚Jerusalem’ löst sich auf in die Erfahrung einer mit wissenschaftlichen
114 Auch einige folgende Bücher Meiers habe ich deshalb rezensiert: Leo Strauss and the Theological-political Problem, Cambridge 2005, in: Philosophischer Li‐ teraturanzeiger 59 (2006), 327-330; gekürzte Fassung in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 187 vom 15. August 2006, S. 39; Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Reveries in zwei Büchern, München 2011, in: Philoso‐ phischer Literaturanzeiger 65 (2012), 105-108 115 Philosophischer Literaturanzeiger 46 (1993), 378-381; auch in: ZeitSchrift für Kultur, Politik, Kirche 42 (1993), 314-317; Meyer (*1951) war bis 2015 Feuille‐ tonchef der Neuen Zürcher Zeitung. 116 Vgl. schon Ludwig Landgrebe, Die Geschichte im Denken Kants (1954), in: ders.: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1967, 46-64
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Teil III: Der Meier-Komplex: Politische Theologie oder Philosophie?
und technischen Mitteln herstellbaren Bedürfnisbefriedigung. Das Ende ist Endlosigkeit. Genau dies meint der Begriff der Posthistoire“ (26). Damit ist die Streitfrage benannt: Ist die Saturierung des Menschen im Prozess der Geschichte wünschbar oder nicht? Hinter der Frage nach dem Ende der Geschichte steht die nach der anthropologischen und politischen Ver‐ fassung. Ist Nietzsches – von Max Weber geteilte – Verachtung des „letz‐ ten Menschen“, jenes „Hunds in der Sonne“ (Erhart Kästner), heute noch akzeptabel? Wie steht man zur Daseinsvorsorge im Verwaltungsstaat der Industriegesellschaft? Speist der Sozialstaat die politische Kraft zur Da‐ seinsgestaltung nicht einfach ab? Solche Fragen wirft der Essay mehr implizit auf. Meyer schließt dabei – noch im ersten von drei Kapiteln – an einen aufsehenerregenden Aufsatz von Francis Fukuyama aus dem Jahre 1989 an, der sich seinerseits auf Kojève bezieht. Er stellt also aktuelle Debatten um Postmoderne und Post‐ histoire in eine ältere Streitfrage zurück, indem er eine entscheidende, da prinzipiell geführte Auseinandersetzung rekonstruiert. Sein raffinierter Es‐ say hat dadurch gegenüber einer breiter angelegten Skizze dieser Linie117 den Vorzug, eine Streitfrage zu vergegenwärtigen, die grundsätzliche Ver‐ ständigung über Fluch und Segen des Sozialstaats betrifft. Dies wirkt heu‐ te leicht unzeitgemäß. Oder kann man Kojèves These in ihrer vordergrün‐ digen – Meyer sagt gerne: „exoterischen“ – Bedeutung, dass alle anthro‐ pologischen Bedürfnisse im Verfassungsstaat grundsätzlich befriedigt sei‐ en, tatsächlich zustimmen? Anderer Auffassung ist beispielsweise Axel Honneth,118 der dem „Kampf um Anerkennung“ intersubjektive Mindest‐ bedingungen personaler Integrität abliest. Meyer bemerkt zwar, dass Fu‐ kuyama die „entscheidende Frage nach der Qualität der Anerkennung, die von der liberalen Demokratie ausgeht“ (58), nur beiläufig gestellt habe, er selbst hebt diese Frage jedoch seinerseits nicht eigens hervor. Auch sein „Nachsatz“ zur Kontroverse bleibt etwas blass, so dass die Brillanz des Essays eindeutig in der Rekonstruktion der Auseinandersetzung liegt. De‐ ren Gewicht wird durch die Anknüpfung an verbreitete Meistererzählun‐ gen vom Ende der großen Geschichten leicht verdeckt. Nachdem Meyer Kojèves These schon im Zusammenhang mit Fuku‐ yama referiert hat, präsentiert er im zweiten Kapitel Kojèves Denken als
117 Lutz Niethammer, Posthistorie. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989 118 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt 1992; vgl. nun Micha Brumlik / Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt 1993
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III. 4. Meyer 1993
„ironischen Messianismus“; dafür skizziert er zunächst den religiösen Messianismus von Berdjajew, Solowjew und Dostojewski und begreift Kojèves These dann als eine Entscheidung gegen das religiöse Denken für die Philosophie (80) und somit für die „verweltlichte Eschatologie“ (70; ,,säkularisierte Apokalypse“, ,,atheistische Umdeutung der christli‐ chen Offenbarung“). Diese kurze Geschichte des russischen Messianismus von Dostojewski bis Kojève rückt eine wichtige Linie in den Blick, die Denkern wie Weber, Schmitt, Heidegger stets präsent war. Kojève distan‐ ziert sich vom religiösen Messianismus im Namen Hegels; er liest Hegels Phänomenologie des Geistes als „geschichtlich sich erfüllende Anthropo‐ logie“ (88), die das Bedürfnis nach Anerkennung als spezifisches Huma‐ num auszeichnet und im modernen Verfassungsstaat, vollkommen reali‐ siert als „l’Etat universel et homogene“, befriedigt findet. Kojève akzep‐ tiert Hegels Begriff von Napoleon als Vollender der Französischen Revo‐ lution und deutet die Geschichte nach Napoleon lediglich als „Frist“ der „absoluten Vollstreckung“ der Universalisierung und Homogenisierung zum einen Weltstaat, der mit dem Ende der Politik das Ende der Geschich‐ te bringt. Meyer betont, dass Kojève in Stalin jenen neuen Napoleon und Vollstrecker der Geschichte sah, wie er auch Schmitts Affinität zum Natio‐ nalsozialismus mit der nötigen Deutlichkeit hervorhebt. Knapp verwahrt er dann Hegel gegen Kojèves „überscharf atheistische Lesart“ und skiz‐ ziert Batailles Einspruch, der die Souveränität auf das anarchische Indivi‐ duum verlegte (112). Kojève hat später, als hoher französischer Verwal‐ tungsbeamter, selbst eine „Kompensationsidee“ vertreten, die „Kultur‐ pflicht“ gegen die Moderne aufbot. Doch dies lief der eigenen These zu‐ wider und blieb persönliche Konsequenz und Praxis, ohne praktisches Re‐ sultat der eigenen These zu sein. Prinzipiell begründete Gegenargumente entwickelten lediglich Schmitt und Strauss, weshalb Meyer im dritten Ka‐ pitel diese III. Argumente der ‚Aufhalter’: Carl Schmitt, Leo Strauss erör‐ tert. Zutreffend entdeckt er Schmitts Opposition gegen das – von Max Weber diagnostizierte – „Schicksal der Moderne“, eine rein „ökonomische Welt“ zu werden, als Stachel seiner Positionen und Begriffe; prononciert deutet er Schmitt als einen Ordnungsdenker, der die politische Form der Kirche auf den Staat umbesetzte, weil ihm die christliche Idee und Escha‐ tologie nach Nietzsche unglaubwürdig geworden war – eine komplexe, rätselvolle Materie. Meyers vorzügliche Rekonstruktion der Auseinander‐ setzung zwischen Kojève und Schmitt, die um die „Unhintergehbarkeit des Politischen“ (145, 214) und politischer Feindschaft kreist, kann sich 83
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auf bisher unveröffentlichtes Briefmaterial stützen. Eindringlich analysiert Meyer Schmitts unlängst erschienenes Nachkriegstagebuch Glossarium als monomane Behauptung der Wirklichkeit von Feindschaft, durch die Schmitt sich nach 1945 in die Rolle des politischen Märtyrers stilisiert. Die Rekonstruktion der Auseinandersetzung mit Kojève macht Schmitts Geschichtstheologie transparent, die seit Kriegsende nach dem „Katechon“, einem Aufhalter des Endes der Geschichte fragt, was Schmitt der Sache nach jedoch schon seit seiner Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) umtrieb. Schlaglichtartig erhellt Meyer in diesem Zusammenhang Schmitts Anspruch, der HegelExeget des 20. Jahrhunderts zu sein. Schmitts Kampf um die „Hegel-Nah‐ me“ reicht allerdings über die Auseinandersetzung mit Kojève hinaus119 und resultiert jenseits seiner antimarxistischen Hegelstrategie, Stammvater Hegel gegen Marx auszuspielen, einer Affinität in der „geistesgeschichtli‐ chen“ Betrachtung der Weltgeschichte als Heilsgeschehen. Es ist jedoch schon beeindruckend, was Meyer in der Anlage seines Essays alles konzi‐ se unterbringt. An die Auseinandersetzung zwischen Kojève und Schmitt über die Un‐ hintergehbarkeit des Politischen, das das Ende der Geschichte aufschiebt, schließt er noch Leo Strauss’ Argument an. Durch diese Anlage überbietet er Heinrich Meiers120 Verfahren (184), einen „Dialog unter Abwesenden“ zwischen Schmitt und Strauss zu rekonstruieren, der die Unterscheidung von politischer Theologie und Philosophie profilierte. Dies gelingt Meyer durch die Erhebung Kojèves zur Schlüsselfigur einer breiteren Auseinan‐ dersetzung, die zugleich eine Stellungnahme für dessen „historische An‐ thropologie“ bedeutet. Zwar akzeptiert er die Notwendigkeit einer prakti‐ schen Kritik von Kojèves These, lehnt aber Schmitts feindselige Insistenz auf der Wirklichkeit des Politischen ebenso ab wie Leo Strauss’ Geistes‐ aristokratismus. Strauss kritisierte Kojèves Geschichtsbild mit Nietzsche als Schreckbild vom „letzten Menschen“und affirmierte dagegen Platons Staat als Utopie der Universität. Dieser Rückzug ins Universitäre sei eben‐ so unbefriedigend wie Schmitts „terroristisches Geschichtsbild“ (221), meint Meyer im „Nachsatz“ seiner Studie und spricht dort Kojèves These „Plausibilität“ (213) zu; den kritischen Impuls von Schmitt und Strauss
119 Dazu Verf., Carl Schmitt. Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, 182-200, 201-224, 225-237 120 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988
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III. 5. Heil 1996
übernimmt er jedoch abschließend, indem er die aktuelle Entwicklung zur „Beobachter-Gesellschaft“, die Theorien der „Simulation“ von Wirklich‐ keit (Bataille!) provoziert, ablehnt und für eine ethische Übersetzung von Kojèves These plädiert, die den „Mythos vom Ende der Geschichte“ wie‐ der wie einst Kant als regulative Idee begreift: mit Kojève dann als Idee der „Vollversorgung“ (Hermann Lübbe) des Konsumisten im Weltstaat? Dagegen wäre doch einzuwenden, dass das Politische heute, nach dem Niedergang des Christentums, noch eine Macht sein kann, die das Dasein – zum Guten und Schlechten – zu idealisieren vermag, indem es den Ein‐ zelnen in Anspruch nimmt. Dieser Anspruch des Staates ist durch – aller‐ dings verstärkt notwendige – zivilgesellschaftliche Verständigungsverhält‐ nisse nicht zu supplementieren, das sollte in Deutschland inzwischen klar geworden sein. Meyers brillante Vergegenwärtigung der Streitfrage ist le‐ diglich anzukreiden, dass sie solche Stellungnahmen zurückhält. So unnö‐ tig wie die einleitende Anknüpfung an Fukuyama scheinen mir die ab‐ schließenden Ausführungen zu Enzensberger für die Sache, die solcher Aktualisierung nicht bedarf, weil das Problem unterhalb der bedrückenden Subsistenzsorgen stets gegenwärtig bleibt. Nicht ein Ende der Geschichte steht eigentlich zur Debatte, solche geschichtsphilosophischen Unterschei‐ dungen zwischen Historie und „eigentlicher“ Geschichte sind leicht irre‐ führend, sondern die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Geschich‐ te heute. Der Rede vom Posthistoire das Gewicht dieser Frage zurückge‐ geben zu haben, dies scheint mir das wichtigste Verdienst von Meyers Stu‐ die. III. 5. Susanne Heil, „Gefährliche Beziehungen“. Walter Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart 1996121 Heil begreift „die politischen Gegenspieler Benjamin und Schmitt als mar‐ kante Grundalternativen der Kritik und Bewältigung der Moderne“ (8). Sie geht dabei von der affinen Romantik- und Modernitätskritik aus und betont eine „grundlegende Differenz zwischen Benjamin und Schmitt in der Bewältigung der Moderne: „Während sich Benjamins Aufmerksamkeit auf Erfahrungen richtet, in denen unberechenbare Effekte wie der Zufall die Herrschaft des Subjekts unterlau‐
121 In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), 79-81
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fen, will Schmitt dessen Herrschaft durch die Rückbindung an vormodernes Ordnungsdenken begrenzen“ (23).
Danach suchte Schmitt Modernität durch ein „Konzept substantieller Ho‐ mogenität“ zu beantworten, das den Katholizismus als „gegenmoderne Ordnung“ in die Rechtswissenschaft und Verfassungslehre übersetzte. In‐ teressant ist die These, dass Schmitt eine Krisenerfahrung theoretisch zu lösen suchte, wo Benjamin auf der Wahrnehmung der Krise insistierte und „Erfahrungsarmut“ in der Moderne als Problem identifizierte. Nach Heil suchte Benjamin seine „Diagnose der Erfahrungsarmut“ erzähltheoretisch zu begreifen als „Verfall des Erzählvermögens“. Auch Benjamin blieb also nicht bei der Krisenerfahrung stehen, sondern suchte eine theoretische Lö‐ sung, die ihn, ähnlich Schmitt, weiter ins Feld der politischen Theologie und Geschichtstheologie führte. Nach der einführenden Exposition der Ansätze erörtert Heil im dritten Teil unter der Überschrift Theologie und Geschichte deshalb die Differen‐ zen von Benjamins Geschichtstheologie und Schmitts politischer Theolo‐ gie. In fruchtbarer Bezugsetzung von Schmitts Hobbes-Interpretation und dessen Programm einer „Politischen Theologie“ zeigt sie mit Benjamin, dass Schmitt die Stelle absoluter Entscheidung säkularisationstheoretisch an eine Instanz politischer Herrschaft delegierte und eine „Strukturierung des Politischen nach theologischen Prinzipien“ (114) einforderte, die eine Totalität der politischen Einheit revindizierte. Benjamin habe diesen „To‐ talitätsanspruch“ als „falsche Theokratie“ (140) erkannt und auf einer „ka‐ tegorialen Differenz von Politik und Messianismus“ (147) bestanden, die gleichwohl die „Idee des Glücks“ als Ort der „Beziehung der Ordnung des Profanen zum Messianischen“ (145) festhielt. Im Aufsatz Zur Kritik der Gewalt geriet Benjamin jedoch mit seinen Thesen zur „reinen Gewalt“ des außerordentlichen Einbruchs von Transzendenz in die profane Ordnung selbst in die größten Nähen zu Schmitt. Eben deshalb sucht Heil die unterschiedlichen theologischen Vorausset‐ zungen in einem vierten Teil eingehender darzulegen. Sie wählt dafür den überraschenden und erhellenden Zugang über die Kritik und Theorie der Sprache. Dabei stellt sie den Zusammenhang von Schmitts Ordnungsden‐ ken mit seiner Theorie der Sprache heraus, die seit der Leviathan-Studie auf eine „mythische Namenslehre“ hinausläuft, die die „Vorgängigkeit“ ursprünglicher Gewalt gegenüber Namensgebungen affirmiert – eine ver‐ kappte sprachpragmatische Position also. Benjamin dagegen habe am Of‐ fenbarungsmodell orientiert ein kabbalistisch-mystisches Sprachverständ‐ nis vertreten. Das Fazit lautet: 86
III. 5. Heil 1996
„So entwickeln Benjamin und Schmitt ihr jeweiliges Sprachverständnis im Gegensatz zur Diskursethik nicht im Horizont intersubjektiver Verständigung. Vielmehr beharren beide, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Vorausset‐ zungen, auf einem nicht verständigungsorientierten Charakter der Sprache. Der am Primat der Macht orientierten, ursprungsmythologischen Sprachauf‐ fassung Schmitts steht Benjamins kabbalistisch-mystisches Sprachverständnis gegenüber.“ (197)
Es bleibt offen, ob der Hinweis auf die Diskursethik eine philosophische Alternative meint. Heil führt die Untersuchung der „gefährlichen Bezie‐ hungen“ nur zum Punkt der Explikation von Benjamins offenbarungstheo‐ logisch motivierter Resistenz gegenüber Schmitts Affirmation der Grün‐ dungsgewalt als „Urakt“ der Sprache und des Rechts. Sie führt die unter‐ schiedliche Haltung zur Gewalt auf den Unterschied von Benjamins Mes‐ sianismus zu Schmitts Katholizismus zurück. Ist damit eine grundsätzliche Behauptung vorgenommen? Wird gar ein genereller Unterschied des Mes‐ sianismus und des Katholizismus zur Gewaltfrage behauptet? Oder wäre das Problem der Gewalt, das auch Benjamin umtrieb, nicht von einer phi‐ losophischen Kritik beider theologischer Voraussetzungen her zu beden‐ ken, die bei den sprachtheologischen Spekulationen ansetzen könnte? Der Autorin gelingt es, das Interesse Benjamins an Schmitt auf die Dif‐ ferenzen seiner politischen Theologie zu Schmitt zurückzuführen und so die Irritationen der Benjaministen über diese „gefährliche Beziehung“ zu heben – ähnlich liegt die Sache bei Taubes.122 Es fehlt aber die kritische Auseinandersetzung mit der Politischen Theologie als solcher. So liest sich die Studie als eine kluge Verteidigung von Benjamin, die das Problem theologischer Ansprüche in der Politik selbst nicht erörtert. Sie zeigt, dass Benjamin nicht in der Gefahr stand, Schmitts totalitäre Konsequenzen zu ziehen, diskutiert jedoch nicht die Gefahren, die auch von Benjamin aus‐
122 Dazu Verf., Karl Löwith, Carl Schmitt, Jacob Taubes und das „Ende der Ge‐ schichte“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), 231-248; die „gefährlichen Beziehungen“ zwischen Schmitt und Benjamin wur‐ den in den letzten Jahren und Jahrzehnten oft im Anschluss an Benjamin, Taubes oder Agamben erörtert. Die klare und kluge frühe Studie von Susanne Heil ist ein posivites Beispiel. Der ambitionierten Darstellung fehlt aber noch der Gang ins Archiv. Auf das Quellendefizit mangelnder Erschließung der realen marginalen Kontakte in den Schmitt-Benjamin-Debatten habe ich in einer Analyse von Schmitts Handexemplar des Trauerspiel-Buches hinzuweisen versucht: „Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben“. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benja‐ min, in: Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tü‐ bingen 2014, 137-152
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gehen. Sie erörtert die Gegnerschaft im Feld der Theologie und stellt den religiösen Fundamentalismus in der Politik selbst nicht in Frage. III. 6. Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existenzialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers, Würzburg 1994123 Was ist politischer Existenzialismus? Darauf hat insbesondere Karl Lö‐ with unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in mehreren kritischen Auseinandersetzungen eine wirkmächtige ablehnende Antwort gegeben, die insbesondere in den 50er und 60er Jahren zahlreiche Weiterführungen fand. Herbert Schnädelbach124 kennzeichnete den politischen Existentia‐ lismus unlängst durch eine „unmittelbare Politisierung existentiellen Den‐ kens durch einfache Analogiebildung zwischen den Bedingungen indivi‐ dueller und politischer Existenz“. Die große Bedeutung von Heiner Biele‐ feldts schmaler Studie Kampf und Entscheidung liegt nun darin, den poli‐ tischen Existenzialismus systematisch neu zur Diskussion zu stellen. Dafür beschreibt Bielefeldt eine aufsteigende Linie von Carl Schmitt über Helmuth Plessner zu Karl Jaspers, von Schmitts Entdeckung des Po‐ litischen als „Intensitätsgrad“ über Plessners anthropologische Begrün‐ dung hin zu Jaspers’ „Politik der Freiheit“. Etwas überraschend fehlt Han‐ nah Arendt, der Bielefeldt jüngst eine einführende Monographie125 wid‐ mete, in dieser Linie; Bielefeldt beabsichtigt jedoch keine Geschichte des politischen Existenzialismus, sondern deren eindrucksvoll sachliche und ernste systematische Sondierung. Arendt nun habe das Politische als „ge‐ schlossene Handlungssphäre“ in Abgrenzung zu anderen Lebensbereichen zu restaurieren versucht, weshalb ihr Politikbegriff für die Gegenwart un‐ angemessen sei. (Wenn dies auch Arendts Anliegen war, so könnte ihr Be‐ griff des „politischen Handelns“ jedoch, nebenbei gemerkt, systematisch in die Richtung des Politischen Existentialismus gehen). Die entscheiden‐ de, von Carl Schmitt erstmals formulierte Einsicht des politischen Existen‐
123 In: Philosophischer Literaturanzeiger 49 (1996), 144-147 124 Herbert Schnädelbach, Politischer Existenzialismus – Zur philosophischen Vor‐ geschichte von 1933. in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frank‐ furt 1992, 346-355, hier: 353 125 Heiner Bielefeldt, Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993
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III. 6. Bielefeldt 1994
zialismus liege dagegen gerade in der Bestimmung des Politischen als des „Totalen“, meint Bielefeldt. Und für die anthropologische Begründung dieser Philosophie des Politischen sei Plessner systematisch interessant, für die praktischen Folgerungen dagegen vor allem Karl Jaspers. Eine ori‐ ginelle, eindrucksvoll durchgeführte Linienführung! In einem einführenden Kapitel geht Bielefeldt von der allumfassenden „Politisierung“ aus, dass heute das Politische in der funktional ausdiffe‐ renzierten modernen Gesellschaft nicht mehr als „geschlossene Hand‐ lungssphäre“ zu definieren sei, sondern als mögliche Politisierung aller gesellschaftlichen Teilbereich identifizierbar werden müsse. Schmitt sei der erste „Philosoph des Politischen“, der die allumfassende Politisierung der Gesellschaft als Problem erkannt und zum Ausgangspunkt seiner Theoriebildung erhoben habe. Zwar habe Schmitt den moralischen Im‐ puls, zum Ernst des politischen Daseins aufzurufen, sein Theorieansatz be‐ deute aber eine Aufhebung der „Unbedingtheit des moralischen WollensAnspruchs [...] in der Totalität einer schicksalhaft notwendigen Entschei‐ dung“, die den „Begriff des Citoyens“ nicht kenne und eine „kollektivisti‐ sche Vergleichgültigung des Subjekts“ (46) vornahm. Von diesem Ansatz her kritisiert Bielefeldt auch Schmitts „staatsrechtliche und völkerrechtli‐ che Optionen“. Seine Darstellung ist sehr stringent und solide. Mehr noch: Der Ansatz, Schmitts Anliegen vom Begriff des Politischen her als eine erste Einsicht in die „Totalität“ des Politischen in der Gegenwart einerseits zu würdigen, andererseits aber als eine Totalisierung des Politischen – im Überschwang der ersten Einsicht quasi – gegenüber dem Moralischen zu kritisieren, ist ein wichtiger Impuls für die Forschung zur rechten Zeit: Gerade nämlich schien die Kritik der Politischen Philosophie Carl Schmitts, die Löwith und anschließend Hasso Hofmann126 u.a. formulierten, durch die Rekon‐ struktion von Schmitts politisch-theologischem Selbstverständnis über‐ holt, die eine Bedeutungslosigkeit von Schmitts Politischer Theologie für die Politische Philosophie behauptete und dabei zugleich Schmitts religiö‐ se Motive gegen die Kritik von philosophischer Seite als eigene Gründe immunisierte.127 Bielefeldt zeigt dagegen, dass Schmitts politische Theo‐ rie philosophisch lesbar, im Ansatz zu würdigen und zu kritisieren ist, un‐
126 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der Politischen Philoso‐ phie Carl Schmitts (1964), 2. Aufl. Berlin 1992 127 So Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 1994; eingehenderer Ver‐ such einer Klärung von Schmitts konfessioneller Stellung bei Bernd Wacker
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abhängig von Schmitts Selbstverständnis. Damit eröffnet er die Möglich‐ keit einer neuen systematischen Würdigung des politischen Existentialis‐ mus insgesamt. Überaus bemerkenswert scheint mir auch Bielefeldts Darstellung und Kritik des weniger bekannten anthropologischen Ansatzes von Helmuth Plessner für die Grundlegung eines ethisch reflektierten politischen Exis‐ tentialismus. Bielefeldt liest die politischen Schriften Plessners dabei im Horizont der anthropologischen Grundlegung. Anders als Schmitt gelang‐ te Plessner in Auseinandersetzung mit Tönnies u.a. zu einer Kritik der „Grenzen der Gemeinschaft“, die die anthropologische Bedeutung des „Doppelgängertums“ des Menschen im Rollenwechsel zwischen privater und öffentlicher Existenz positiv würdigte und anthropologisch eingehend begründete; dieses „Doppelgängertum“ bedingte eine geschichtlich offene „Unergründlichkeit“ des Menschen, die die anthropologische Forschung auf das Feld der Geschichte verweist. Plessners anthropologischen Ansatz kennzeichnet Bielefeldt überzeugend als liberale Grundeinstellung. Kann Plessner – anders als Schmitt – Individualität anthropologisch fassen, so fehle ihm aber für den „Begriff des Citoyen“, auf den Bielefeldt hinaus‐ fragt, über die Einsicht in Wechselbedingungen von Gemeinschaft und Gesellschaft hinaus noch ein spezifischer Begriff vom Staat. Diesen findet Bielefeldt in Jaspers’ „Politik der Freiheit“. Es scheint riskant, Jaspers’ „Politik der Freiheit“ gewissermaßen als die Vollendung des Politischen Existentialismus von Plessners anthropologi‐ scher Grundlegung her darstellen zu wollen. Müsste man hier nicht von Jaspers’ eigener Daseinsanalyse ausgehen? Hier wäre ein eingehender Vergleich der Anthropologien von Plessner und Jaspers sinnvoll gewesen. Bielefeldt präsentiert Jaspers’ Konzept von der „Ungeschlossenheit“ der Welt als eine Art Auslegung von Plessners Anthropologie der „Uner‐ gründlichkeit“ des Menschen; er macht dabei deutlich, dass auch Jaspers die Politik als anthropologische „Grenzerfahrung“ des Kampfes und der Entscheidung begreift, dabei aber ein überpolitisch-politisches „Ethos“ unbedingter Verantwortlichkeit unter dem weltbürgerlichen Anspruch der Idee menschenwürdiger Existenz festhält. Indem Jaspers das Ethos der po‐ litischen Entscheidung in seinen moralischen Impulsen – deutlicher als Schmitt – reflektiert, gelangt er zugleich zur weltbürgerlichen Konsequenz
(Hrsg.), ‚die eigentlich katholische Verschärfung ...’ Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994
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III. 7. Balke 1996
einer „Weltordnung als Rechtsidee“ (137). Davon ausgehend würdigt Bie‐ lefeldt Jaspers’ späte politische Schriften in deren erzieherischem An‐ spruch. Von der systematischen Rekonstruktion des existentialistischen Hintergrundes her verteidigt er Jaspers’ Anliegen gegen verbreitete Ein‐ wände und sucht in einem Rückblick dessen „Politik der Freiheit“ noch deutlicher auf die rechtsstaatliche Demokratie als „Gestalt politischer Frei‐ heit“ und den „Kampf um universale Menschenrechte“ zu beziehen. Anders als die frühere Kritik128 meint Bielefeldt den Titel Kampf und Entscheidung positiv: Politik ist wesentlich Kampf und Entscheidung; alle Anerkennung politischer Rechte ist erkämpft, insbesondere auch die Uni‐ versalität der Menschenrechte als Rechtsidee einer Weltordnung. Biele‐ feldts schmale Studie bietet weit mehr als nur eine Erinnerung an dieses existentialistische Politikverständnis: Es ist ein systematisch orientierter Vorschlag, der insbesondere auch im Verweis auf Plessners anthropologi‐ sche Grundlegung ein weiteres Arbeitsprogramm für eine politische Philo‐ sophie vorgibt. III. 7. Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitt, München 1996129 Die intensive Rezeption Carl Schmitts hat sich in den letzten Jahren aus der Rechtswissenschaft mehr auf die Geisteswissenschaften verlagert. Der Übergang der Forschungsdynamik auf die Philosophischen Fakultäten war dabei zunächst durch die Aufgabe bedingt, das politisch-theologische Selbstverständnis Schmitts der staatsrechtlichen Kritik entgegenzustellen und so die politische Pragmatik und die Begründungsansprüche des Wer‐ kes neu in den Blick zu bekommen. Als jüngstes Resultat dieser For‐ schungsrichtung kritisiert Balke einleitend die doktrinäre Vereinfachung dieser Aufgabe zur Rekonstruktion einer „Lehre“ Carl Schmitts durch Heinrich Meier und plädiert dagegen für eine „Dezentrierung der Lektüre Carl Schmitts“, die das „Problem“ freilegen möchte, auf das die „Lehre“
128 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (1958), Frankfurt 1990 129 In: Philosophischer Literaturanzeiger 50 (1997), 25-28; andere Fassung in: FAZ vom 20. August 1996, S. 29
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antwortete. Eine ähnliche Intention stand bei Hasso Hofmann130 auch am Beginn der Forschung. Doch während Hofmann den philosophischen Cha‐ rakter von Schmitts Werk gegen dessen Selbstverständnis von der festge‐ haltenen rechtsphilosophischen Problemfrage nach der „Legitimität“ und Rechtsgeltung her entdeckte und dabei mit der These vom philosophi‐ schen Charakter des Fragens einen existentialistischen Philosophiebegriff anlegte, kommt Balkes philosophische Auseinandersetzung mit Derrida und Foucault, Deleuze und Guattari „einmal aus Frankreich“. Das lag in der Luft, musste kommen und ist doch bei Balke auf hohem Niveau mit wichtigen Resultaten erstmals konsequent durchgeführt. Von „Frankreich“ her liegt die Attraktion Schmitts wohl über Heideggers Metaphysikkritik hinausgehend in der eingehenderen Destruktion der Machtdispositive einer Zeit. Balkes Problemstellung lässt sich annähernd mit dem Stichwort „politische Ontologie“ umschreiben. Balke beobachtet Schmitts kritische Beobachtung der Auflösung der alteuropäisch überlieferten Ontologie in den Machtdispositiven der Gegenwart und kritisiert die unmögliche und fatale Konsequenz eines politischen Repristinationsversuchs der alten Un‐ terscheidungen und Entscheidungen. Den Rückgang hinter die „Lehre“ auf Schmitts „Problem“ macht Balke dabei mit Foucault unter der „Hypothese einer grundlegenden Transforma‐ tion der Wissens- und Kommunikationsordnung“: „Die von Michel Fou‐ cault beschriebene Transformation der klassischen politischen Macht in die moderne Bio-Macht ist der eigentliche Hintergrund für jene von Schmitt diagnostizierten Entpolitisierungs- und Neutralisierungstenden‐ zen, gegen die er die klassischen Begriffe und Unterscheidungen perma‐ nent zu rekonstruieren versucht“ (187). In der Durchführung weist Balke zunächst treffend darauf hin, dass Politische Theologie für Schmitt keine klassische Opposition zu einer ebenfalls irgendwie klassischen Politischen Philosophie meint, sondern, in der Linie der „Staatsphilosophie der Ge‐ genrevolution“, ein „Lektüreverfahren“, eine „Erfindung im politischtheologischen Tageskampf“, das „heterogene politische Gedankengruppen soweit homogenisiert, dass ihre Vergleichbarkeit sichergestellt ist“ (42). Der Katholizismus wird damit zu einer konkurrierenden Doktrin im Welt‐ anschauungskampf. Balke weist darauf hin, dass Hugo Ball 1924 schon
130 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philoso‐ phie Carl Schmitts, Neuwied 1964
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diesen ideologischen Charakter von Schmitts Politischer Theologie er‐ kannt habe. Die Wendung zum politischen Tageskampf liest Balke als Antwort auf eine im Frühwerk entwickelte modernitätskritische Problemanalyse. In der Schrift Politische Romantik habe Schmitt als Problem der Gegenwart eine „Steigerung der Ideenzirkulation“ unter den modernen Kommunikations‐ bedingungen gesehen, wonach die Auflösung fixer Weltbilder gerade nicht auf einen Mangel an Ideen zurückgeht, sondern auf die Unmöglichkeit, eine – womöglich „absolute“ – orientierende Idee im inflationären Prozess der „Informatisierung der Ideen“ zu fixieren. Schmitt prägte dafür die For‐ mel vom „subjektiven Occasionalismus“ der Romantik: „Mit seiner Leit‐ distinktion causa/occasio reflektiert Schmitt präzise den Wechsel von einer fremd- zu einer selbstreferentiellen Operations- und Beschreibungstechnik der modernen Gesellschaft“ (130). (Etwas zu) ausgiebig parallelisiert Bal‐ ke Schmitt mit Robert Musil und Paul Valéry. Während er Schmitts Ro‐ mantikkritik dabei mit Musil als Zeitdiagnostik erhellt, bezieht er sich – um der Andeutung möglicher alternativer Konsequenzen willen – auf Valéry als Schmitts antipolitischem „theoretischem Antipoden“, der mit Schmitt die philosophische „Grundstellung“ einer „Metaphysik des AntiNaturalismus“ teilte. In etwas verschlungenen Ausführungen führt Balke dabei das „Romantischwerden einer Theorie aus dem klassischen Geist“ Descartes’ eingehend insbesondere an Schmitts Frühwerk vor. Dabei zeigt er, in dezentrierender Lektüre namentlich des kleinen Texts Illyrien, Schmitts Schwierigkeiten auf, eine „klassische“ Politik der Unterschei‐ dungen angesichts des romantischen „Okkasionalismus“ der Zeit zu resti‐ tuieren. Klarer als diese vielfältig anregenden, referenzgesättigten Ausführun‐ gen ist Balkes Erörterung der Konsequenz. Unter dem Titel Zerfall und Rekonstruktion des Aktionsbildes erörtert Balke ausgehend von dem frü‐ hen literarischen Text Der Spiegel zunächst Schmitts „Gespür für die sä‐ kulare Dimension der Entmachtung des klassischen Handlungsverständ‐ nisses“ (281). Er zeigt dann auf, dass Schmitts Politikbegriff sich unter Applikation von Hegels Theorie vom weltheroischen Heroen dieser Ent‐ wicklung mit einem „Exzeptionalismus“ entgegenstemmte, der mittels „Ausnahme-Semantik“ eine dezisionistische „Repersonalisierung der Poli‐ tik“ betrieb. Knapp deutet Balke die Probleme an, den Nationalsozialis‐ mus mit einem Mythos vom Sieg des „Soldaten“ über den Bürger, des „Führers“ über die Legalität beschreiben zu wollen; selbst die „Perversi‐
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tät“ des Tötungsregimes sei heute mit diesem Instrumentarium kaum noch zu beschreiben, wie etwa das Werk Hannah Arendts zeige. Balke geht hier nicht in die Einzelfragen; er beschränkt sich sinnvoll auf eine grundsätzliche Kritik von Schmitts politischer Ontologie. Die Zweideutigkeit von Schmitts Werk, dass Schmitt eine Auflösung der über‐ lieferten Ontologie erkennt und andererseits doch mit einer unmöglichen Revindikation klassisch klarer Unterscheidungen und personaler Entschei‐ dungen antwortet, zeigt er deshalb weniger für Schmitts verfassungsrecht‐ liches Werk und seine politischen Positionen und Begriffe auf, sondern konzentriert sich auf die grundlegenden ontologischen Diagnosen im Früh- und Spätwerk. Für das Spätwerk legt er dabei in deutlicher Ableh‐ nung von Schmitts spekulativer Rechtsgeltungslehre einen scharfen Schnitt zwischen die Problemanalyse von Land und Meer von 1942 und die spekulative Summe Der Nomos der Erde von 1950, Schmitts endge‐ schichtlicher Phänomenologie des abendländischen Geistes im Spiegel der Völkerrechtsgeschichte. Er unterscheidet zwischen Schmitts Analysen einer – mit der Industrialisierung von England ausgehenden – „Raumrevo‐ lution“ und Schmitts abschließender Fiktion einer katholisch stabilisierten „Raumordnung“. Dabei gelangt er zu seiner grundsätzlichsten Kritik an Schmitts ontologischen Fiktionen von „Anfang“ und „Einheit“. Das abschließende Kapitel Carl Schmitt und die Folgen würdigt zu‐ nächst Ernst Forsthoffs Transformation von Schmitts Ansatz in eine „Nor‐ malitäts-Analytik“der Industriegesellschaft und deutet dann Schmitts frü‐ he Schrift Gesetz und Urteil als positiven Ansatz zu einem Begriff von „Stabilität durch Selbstreferenz“. Mit seiner Politischen Theologie habe Schmitt deshalb einen „Bruch“ gegenüber frühen Einsichten vollzogen. Balke plädiert freilich nicht für eine Rückkehr hinter den politisch-theolo‐ gischen Sündenfall zur Einfachheit von Schmitts Anfang; nach Luhmann erscheint ihm ein solcher Rückgang überflüssig. Auch bei Forsthoff schla‐ ge Schmitts Traum von der „Wiedergewinnung staatlicher Transzendenz“ (399) letztlich negativ durch. Als kritisches Fazit hält Balke deshalb fest, dass die Aufgabe theoretischer „Transformation der Normalität von einer Status- in eine Prozesskategorie“ (396) mit Schmitt nicht lösbar sei. Trotz seiner avancierten Problemanalysen habe Schmitt seine ontologischen Vorurteile nicht verabschiedet und deshalb an einem unmöglichen und fa‐ talen Politikbegriff festgehalten. Die „Versuchung Carl Schmitts“ lag da‐ rin, so lässt sich Balkes Titel lesen, wider die eigene Einsicht in das „En‐ de“ der Epoche der Staatlichkeit noch am staatsbezogenen Politikbegriff festgehalten, genauer: die Fundamentalität des Staatsbegriffs für den Poli‐ 94
III. 7. Balke 1996
tikbegriff und den Personalismus überhaupt unterschätzt zu haben. Darin liegt für Balke die Notwendigkeit, die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt auf die Bühne politischer Ontologie zu verlegen. Neben den französischen Meisterdenkern sind es auch Heidegger und Luhmann, die Balkes Begriffe und Erwartungen schärften. Balke folgt ih‐ nen nicht unkritisch. Die Einflüsse sind hier nicht näher auseinanderzule‐ gen. Insbesondere Deleuze scheint Balke aber die ontologische Auffas‐ sung der Prozesskategorie zu verdanken, die ihn von Luhmann unterschei‐ det. Nicht die Theologie ist nach Balke irreduzibel, wie Schmitt meinte, sondern die Metaphysik und Ontologie. Seine eigene ontologische Auffas‐ sung der Prozesskategorie hat er nur implizit in der Auseinandersetzung erörtert und somit durch die Auseinandersetzung mit Schmitt zwar nicht die Alternative geklärt – nach Heinrich Meier der einzige Sinn der Ausein‐ andersetzung –, wohl aber die Geschichtlichkeit des eigenen Standorts ge‐ schärft. Balkes Auseinandersetzung führt zu einer hellsichtigen kritischen Erfassung der politischen Ontologie Schmitts, namentlich in der Ausein‐ andersetzung mit dem Früh- und Spätwerk. Die Konsequenzen für Schmitts staatsrechtliches Werk und seine politischen Optionen sind Balke klar, und er markiert sie knapp und prägnant. Es ist ein neues, wichtiges Buch zu Schmitt, gegen das es nur wenige marginale Einwände gibt; es gewinnt der politischen Philosophie eine Dimension der Auseinander‐ setzung zurück, die Kritik der politischen Ontologie, die über das Exempel Schmitt hinaus interessant ist.
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Teil IV: Zwei Artikel
IV. 1. Carl Schmitts Werk und Wirkung131 Die letzte große Geschichtsdebatte datiert noch vom Historikerstreit der 80er Jahre über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangen‐ heit. In seinem Schatten diskutierte man auch die Verstrickung des Intel‐ lektuellen in die Pfründe und Fänge des Nationalsozialismus, insbesondere am Fall des Philosophen Heidegger sowie des Juristen Carl Schmitt. Die Heidegger-Kontroverse hob 1983 mit der Neuveröffentlichung der 1933 gehaltenen Freiburger Rektoratsrede132 zusammen mit einer dubiosen, 1945 verfassten Selbstdeutung der Rolle im Nationalsozialismus erneut an. Der Streit um Schmitt begann 1985 mit den Nekrologen zum Tode des 1888 geborenen Staatsrechtlers. Schmitt hat ein labyrinthisches Werk hinterlassen, dessen Enträtselung umstritten ist. Zwischen 1910 und 1978 verfasste er eine nahezu unüber‐ sehbare Anzahl von Artikeln und Aufsätzen, Broschüren und Monographi‐ en, die meist für Tag und Stunde fieberhaft „in die Waagschale der Zeit geworfen“133 wurden und dennoch durchdacht auf ein geistiges, christli‐ ches Zentrum verweisen. Den Rang dieses Werkes haben auch die schärfs‐ ten Kritiker nie bestritten. In den letzten Jahren wurden die wichtigsten Schriften neu aufgelegt, zum ersten Mal auch solche aus der nationalsozialistischen Zeit. 1991 er‐ schien aus dem umfangreichen Nachlass ein literarisch stilisiertes Nach‐ kriegs-Tagebuch, das Glossarium, das vorwiegend als Psychogramm eines geistigen Selbstbehauptungswillens und als Dokument des Unwillens zur Vergangenheitsbewältigung interessant ist. Darin finden sich Sätze wie folgende: „Denn Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist
131 Unter redaktionellem Titel: Raffinierter Meister des Anstößigen. Versuch jenseits von Apologie und Polemik: Carl Schmitts Werk und seine Wirkung, in: Die Welt v. 21. Mai 1994, G 1 132 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rekto‐ rat 1933/34, Freiburg 1983 133 Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, 8
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IV. 1. Carl Schmitts Werk und Wirkung (1994)
sich bessern und ändern kann. Das hat nichts mit nordischer Rasse usw. zu tun. Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind.“ Die Hüter der Verfassung Das Wort vom „wahren Feind“ führt ins Zentrum von Schmitts politi‐ schem Denken und Wollen, nannte doch seine grundlegende Schrift Der Begriff des Politischen 1932 die Unterscheidung von Freund und Feind das Kriterium des politischen Handelns: Ein soziales Handeln ist dann po‐ litisch zu nennen, wenn es Freund und Feind polarisiert. War Schmitt also ein antisemitischer Apostel der Feindschaft? Womöglich aus altüberliefer‐ tem katholischem Antijudaismus, wie einige Interpreten meinen? Das gan‐ ze Rätsel, wie ein herausragender Intellektueller der Weimarer Republik – dem der Hinweis auf politische Naivität wenig geschmeichelt hätte – in den Bann des Nationalsozialismus geriet, steht mit dem Wort vom „wah‐ ren Feind“ auch nach 1945 noch da. Vom Beginn seiner staatsrechtlichen Wirksamkeit an stand Schmitt stets im Gespräch der Zeit und wurde von Freund und Feind seit seinen frühen Schriften zur Politischen Romantik (1919) und zur Diktatur (1921) als Vordenker einer neuen, antipositivistisch eingestellten, konservativ-revo‐ lutionären Staatswissenschaft identifiziert. Sie nahm den abschätzig so ge‐ nannten bürgerlichen Rechtsstaat Weimars um einer anderen Ordnung wil‐ len aufs Korn. In rhetorisch glänzender, glühender diagnostischer Polemik gelangen Schmitt treffende Einsichten in die damalige Krise des Liberalis‐ mus und in bestehende Funktionsprobleme und Pathologien des modernen Verfassungsstaates. Die „konkrete Verfassungslage“134 kritisierte er als eine Zersetzung der autoritativen Einheit des Staates durch den parteienstaatlichen „Pluralis‐ mus“, die „Polykratie“ diverser gesellschaftlicher Mächte und den Födera‐ lismus der Länder, und berief sich gegen sie auf das Repräsentationsmo‐ dell der katholischen Kirche, das die Amtsträger letztlich nur der christli‐ chen Idee und Autorität unterstellt. Schmitt konstatierte einen Niedergang der Überzeugungskraft liberaler Prinzipien und analysierte Inkonsequen‐ zen und Bruchstellen im rechtsstaatlichen Gefüge als dessen Folgen.
134 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931
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Teil IV: Zwei Artikel
Angesichts der Regierungskrisen des Weimarer Parlamentarismus setz‐ te er seit 1930 beim Übergang der Republik in das Präsidialsystem auf eine Koallianz des Reichspräsidenten mit der nationalistischen Bewegung. Schmitt bestritt Weimar das Monopol des Politischen („Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“), und er fragte nach je‐ nem anderen Souverän: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Ein „Hüter der Verfassung“ sollte eine neue Ordnung schaf‐ fen und garantieren. Der totale Führerstaat erschien ihm als eine legitime Antwort. Nach Hitlers Machtübernahme trat Schmitt der NSDAP bei und rechtfertigte die neue Herrschaft in mehreren Programmschriften und un‐ gezählten Artikeln. So befürwortete er die Mordaktionen vom Sommer 1934, den sogenannten Röhm-Putsch, unter dem Titel Der Führer schützt das Recht. Er feierte die Nürnberger Rassegesetzgebung als „Verfassung der Freiheit“.135 Wie er es sah, stand 1936 die deutsche Rechtswissen‐ schaft im Kampf gegen den jüdischen Geist. Trotz eines Karriereknicks 1936 infolge interner Intrigen rechtfertigte Schmitt noch den nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungs‐ krieg als neue Völkerrechtsordnung für „Mitteleuropa“. Eine Distanzie‐ rung vom Nationalsozialismus findet sich in seinen Schriften nicht. Option für den Führerstaat Das weitausgreifende Werk lässt die unterschiedlichsten Zugriffe und Deutungen zu. Schmitt wurde rechts wie links und liberal rezipiert. Man kann an Schmitt ein historisches, politisches, juristisches oder gar theolo‐ gisches Interesse nehmen. Die Ende der 50er Jahre einsetzende Forschung kritisierte das Werk dabei zunächst in seinem Verhältnis zum Nationalso‐ zialismus. Gehörte es nicht in den existentialistischen Zeitgeist Weimars hinein? War es nicht einem aktiv-nihilistischen Pathos der bloßen „Ent‐ scheidung“ (Christian von Krockow) verfallen, das den verantwortlichen politischen Gestaltungsfragen gegenüber ratlos blieb und sich deshalb je‐ der Machtlage, also ebenfalls den nationalsozialistischen Machthabern, „okkasionell“ (Karl Löwith) anpasste? Oder lag ihm spätestens seit Mus‐ solinis Marsch auf Rom, den Schmitt 1923 als Zeichen der Überlegenheit
135 Carl Schmitt, Die Verfassung der Freiheit, in: DJZ 40 (1935), Sp. 1133-1135
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IV. 1. Carl Schmitts Werk und Wirkung (1994)
des nationalen „Mythos“ gegenüber dem sozialistischen begrüßte, gar eine klare „Option“ für den „totalen Führerstaat“ zugrunde? Nach Hasso Hofmann136 spielte Schmitt diverse Konzepte von Rechts‐ gründen und der „Legitimität“ gegen die geltende Legalität aus und ent‐ deckte dabei Grundfragen der Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie am bestehenden Verfassungsrecht neu. Jüngere Deutungen lesen Schmitt nicht von seiner kritisch festgehaltenen rechtsphilosophischen Leitfrage her,, nicht als einen politischen Philosophen, sondern suchen bei ihm einen verborgenen christlichen Glaubenskern zu entdecken. Danach glaubte Schmitt als Staatsrechtler einem Anruf und Sinn der Geschichte antworten zu sollen, um die Geschichte in der Ordnung zu halten und so das Ende der Geschichte aufzuhalten. Schmitt habe diese Motive im Labyrinth sei‐ nes Werkes verborgen, weil er seine christlichen Positionen nicht dem widrigen Zeitgeist aussetzen wollte und sich seinen Zeitgenossen nur als Staatsrechtler noch plausibel machen zu können glaubte. Schmitt-Exegese ist eine Wissenschaft für sich. Im letzten Jahr [1993] fanden deshalb nur zwei historische Untersuchungen größere Beachtung, die sich auf die Sach- und Rätselfragen des Werkes nicht näher einließen: zum einen eine von Paul Noack137 verfasste Biographie und zum anderen Dirk van Laaks Studie138 zu Carl Schmitts Wirken „in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik“. Erstmals auf der Basis des Nachlasses dokumentiert van Laak die Wie‐ deraufnahme und Knüpfung von Gesprächszusammenhängen nach 1945 und gibt dabei Einblicke in eine Unterströmung der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik; er entdeckt jedoch keine konspirative Frühge‐ schichte des Neo-Konservatismus, sondern eine tiefgreifende Ausstrah‐ lung auf heute namhafte liberale Intellektuelle. Damit stellt er die Mög‐ lichkeit einer kritischen Aneignung der Impulse und Fragestellungen von Schmitts Denken von ihren Anfängen her neu zur Diskussion. Schmitt wirkte nach 1945 insbesondere über die Kreise des Münstera‐ ner Philosophen Joachim Ritter und des Heidelberger Staats- und Verwal‐ tungsrechtlers Ernst Forsthoff. Die Impulse der „gesamten Staatswissen‐ schaften“ facettierten sich gleichsam in der Aneignung durch verschie‐
136 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philoso‐ phie Carl Schmitts, Neuwied 1964 137 Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993 138 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993
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Teil IV: Zwei Artikel
denste Geister. Die Namen sind jetzt einem Verzeichnis der Korrespon‐ denzen ablesbar.139 Der Anzahl der Briefe und Karten nach stand Schmitt unter seinen Ge‐ nerationsgenossen vor allem mit Ernst Jünger sowie dem Kirchenrechtler Hans Barion im Gespräch, mit dem Soziologen Arnold Gehlen sowie di‐ versen juristischen Kollegen. Von den älteren Schülern sind es Ernst Ru‐ dolf Huber, Ernst Forsthoff, Werner Weber, der spätere Verfassungsrichter Ernst Friesenhahn und Otto Kirchheimer, unter den jüngeren dann die Ju‐ risten Ernst-Wolfgang Böckenförde und Roman Schnur, die Historiker Reinhart Koselleck und Christian Meier, die Publizisten Rüdiger Altmann und Johannes Gross, ferner die Philosophen Hermann Lübbe, Robert Spaemann und andere.Die Freundschaft mit Ernst Jünger dauerte von 1930 bis zu Schmitts Tod. Sie begann mit einem Schreiben, in dem Jünger Schmitts Begriff des Politischen begrüßte: „Ich schätze das Wort zu sehr, um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblü‐ tigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden geht. Der Rang des Geistes wird heute durch sein Verhältnis zur Rüstung be‐ stimmt. Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos explodiert.“140
Bedürfnis nach deutscher Dauer Im Nationalsozialismus trennten sich die Wege. Während Jünger den Na‐ zis die kalte Schulter zeigte und den neuen Militarismus bald als Knaben‐ spiele, als „Afrikanische Spiele“141 abtat, um sich seinerseits den „subtilen Jagden“ nach Käfern und Pflanzen zuzuwenden, rechtfertigte „Don Capis‐ co“, so Jüngers Spitzname für Schmitt, bis zuletzt den neuen Leviathan. Schmitts Glossarium belegt nun zwar Animositäten und Differenzen zu Jünger; dennoch dürfte diese Korrespondenz ein denkwürdiges intellektu‐ elles Protokoll der Tiefen und Untiefen des Jahrhunderts sein.
139 Nachlass Carl Schmitt, hrsg. NRW-Hauptstaatsarchiv, Siegburg 1993; der Brief‐ wechsel Schmitt/Ritter jetzt in: Schmittiana N.F. II (2014) 201-274; vgl. Dorothee Mußgnug / Reinhard Mußgnug / Angela Reinthal (Hg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974), Berlin 2007 140 Schmitt am 14. Oktober 1930 an Jünger, in: Ernst Jünger / Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, hrsg. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, 7 141 Ernst Jünger, Afrikanische Spiele, Hamburg 1936
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Die Korrespondenz mit den juristischen Kollegen und Schülern ver‐ spricht dagegen Einblicke in die Neubegründung des Staatsrechts als poli‐ tisches Recht in Deutschland in dessen kritischeren Spannung zum „intro‐ vertierten Rechtsstaat“ (Forsthoff) der Bundesrepublik. Jürgen Habermas142 machte in seiner Besprechung van Laaks ein „Be‐ dürfnis nach deutschen Kontinuitäten“ als politisch verbindendes Motiv der diversen Rezeptionen aus. Demnach war Schmitt nach 1945 vor allem wegen seiner fehlenden Bußfertigkeit und der daraus resultierenden Hell‐ sicht gegenüber einigen Tabus und Ritualen der Bundesrepublik politisch attraktiv. Die Möglichkeit einer tiefgreifenden intellektuellen Rezeption und Anverwandlung Carl Schmitts ist damit jedoch noch nicht hinreichend erklärt. Hermann Lübbe143 sprach rückschauend von einer „liberalen“ Re‐ zeption. Wie ist sie möglich? Die Frage nach dem Normativen Es ist keine besondere Heiligkeit des Generals Dr. von Staat, meint Lübbe, sondern das schlichte Interesse des Einzelnen an einem Höchstmaß indivi‐ dueller Freiheit, das die Autorität des demokratischen Verfassungsstaates hinzunehmen gebietet. Doch läßt sich Autorität und normative Verpflich‐ tung durch ein Gemeinwesen vom Eigeninteresse des Einzelnen her wirk‐ lich begründen? Ernst-Wolfgang Böckenförde,144 heute Richter am Bundesverfassungs‐ gericht, teilt noch die tiefer liegenden, katholisch-christlichen Motive von Schmitts Staats- und Verfassungsdenken, die auf das Begründungsproblem normativer Verpflichtung der Bürger zielen. Da Böckenförde aber, anders als Schmitt, die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen auf dem Boden der Moderne bejaht, kann er auch die religiösen Motive von
142 Jürgen Habermas, Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der Bundes‐ republik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt 1995, 112-122 143 Hermann Lübbe, Carl Schmitt liberal rezipiert, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 427-446 144 Dazu schon Verf., Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes, in: Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992), 449-473; Carl Schmitt und die Verfassungslehre unserer Tage, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), 177-204; später: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, 265-280, 281-292
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Schmitts Verfassungsdenken liberal rezipieren und den heute den Zeitgeist befremdenden Anstoß aufnehmen, Verfassung in der Perspektive einer „Politischen Theologie“ aus religiösen Motiven mit politischem Sinn zu denken. Doch schon wenn man von der religiösen Dimension und Begrün‐ dungsproblematik absieht, ergeben sich wichtige Einsichten in den politi‐ schen Grund und Charakter einer Verfassung. So verweist Schmitt auf die stets latente Gefahr des Ausnahmezustands und hebt die Bedingtheit der staatlichen durch die internationale Ordnung hervor. Weimar war ihm ein „Objekt internationaler Politik“, befestigt durch die „geistige Unterwer‐ fung“ unter das ideologische Vokabular der Sieger. Ist diese Optik jenseits der allgemeinen Einsicht in den politischen Grund von Verfassungen heute noch oder wieder politisch virulent und aktuell? Schmitts scharfer Blick auf die jeweilige „Lage“ wirkt bis in die „Neue Rechte“ nach. Doch der Konservatismus steht mehr denn je im Dilemma, sich auf seine Gegner einlassen zu müssen; er vermag Schmitts christli‐ chen Antimodernismus in der Radikalität und Konsequenz seiner Posi‐ tionen kaum zu erneuern. Aber auch Schmitts distanzierte Hellsicht geht ihm weitgehend ab. So übernimmt die Neue Rechte etwa die nationalisti‐ sche Rhetorik zumeist ohne Schmitts kritische Frage nach dem geschicht‐ lichen Ort des Politischen und bedenkt die Geschichtlichkeit ihrer nationa‐ listischen Option nicht ernsthaft genug. Ihr polemisch-politisches Instru‐ mentarium kann sie dennoch an Schmitts Begriffen und Denken schärfen. Allerdings, die eigentliche Provokation von Schmitts Denken, die sei‐ nem Werk die polemische Stoßkraft gab – nämlich die Spannung einer christlichen Politik zur Moderne – geht dabei hinter markiger, doch schal gewordener Rhetorik weitgehend verloren. Schmitts Aktualität besteht al‐ so zunächst in seiner Wirkung, in der Übernahme diverser Positionen und Begriffe durch andere, sodann in der Einsicht in die politische Bedingtheit von Verfassungsordnungen, letztlich aber in der Frage nach den normati‐ ven Beständen unserer geschichtlichen Ordnung und der Einsicht in das Spannungsverhältnis des Christentums zur modernen Welt. Die Aktualität des Staatsrechtlers Carl Schmitt liegt nicht zuletzt in seiner anstößigen Unzeitgemäßheit.
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IV. 2. Warum es keine Carl-Schmitt-Gesamtausgabe gibt? (2013)
IV. 2. Ausgerechnet ich! Souverän ist, wer der Nachwelt die Auswahl des Lesenswerten überlässt: Warum es keine Carl-SchmittGesamtausgabe gibt145 Carl Schmitt hatte bis 1933 in seinem Hausverlag Duncker & Humblot einen fabelhaften Lektor: Ludwig Feuchtwanger, einen Bruder des Schrift‐ stellers Lion. Er war ein denkender, diskutierender Lektor, der, wie er am 27. Mai 1926 in einem bislang unedierten Brief an Schmitt146 schrieb, die „Beziehungen zwischen Autor und Verleger“ als „Gesellschaftsverhältnis mit durchaus solidarischen Interessen“ ansah. Man kannte sich aus frühen Münchner Tagen und traf sich häufiger. Feuchtwanger regte Publikationen an, und man tauschte sich brieflich nicht nur über Verlagsfragen aus. Er diskutierte mit Schmitt über Hugo Ball, empfahl Friedrich Gundolfs Cae‐ sar147 und verschwieg Anfang der dreißiger Jahre auch politische Beden‐ ken nicht. Am 29. Oktober 1931 schrieb er, dass er nach Lektüre einer „aufregenden Schrift“ – gemeint ist Der Begriff des Politischen – zur „Be‐ ruhigung wieder Kant ‚Vom ewigen Frieden’“ lesen musste.148 Am 6. Mai 1932 bat er energisch um Aussprache über einen politischen Traktat Wil‐ helm von Schramms, für dessen „Mode“ und „böse Schule“ Schmitt der „geistige Urheber“ sei.149 Am 13. Juni 1932 schickte Feuchtwanger dann einige jüdische Schriften aus seinem „zweiten Leben“150 und berichtete von seinem Briefwechsel mit Leo Strauss. Feuchtwanger war ein wichtiger Vertreter der Münchner jüdischen Ge‐ meinde. In der Zwischenkriegszeit entwickelte er nicht weniger als eine Gegendeutung zu Schmitts Auffassung, eine postassimilatorische jüdische Rechtsgeschichte mit den Mitteln von Schmitts politisch-theologischer Verfassungsgeschichtsschreibung. Noch bis 1938 publizierte er in jüdi‐ schen Zeitschriften eindringliche Artikel, die auf die Kontinuität jüdischer Selbstorganisation in Deutschland hinwiesen. 1938 wurde er einige Wo‐ chen in Dachau interniert. Im April 1939 konnte er nach England emigrie‐
145 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 157 vom 10. Juli 2006, S. 43 146 Der wichtige Briefwechsel ist inzwischen erschienen: Carl Schmitt / Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918-1935, hrsg. Rolf Rieß, Berlin 2007, hier: 167 147 Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924 148 Schmitt / Feuchtwanger-Briefwechsel, 356 149 Schmitt / Feuchtwanger-Briefwechsel, 375 150 Schmitt / Feuchtwanger-Briefwechsel, 378
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ren. Unter sehr anderem Vorzeichen bestätigte Feuchtwanger Schmitts an‐ tisemitische Trennungsthese. Gerade Feuchtwanger gegenüber verhielt sich Schmitt äußerst abwei‐ send. Mit seiner Entscheidung für den Nationalsozialismus brach er alle Kontakte ab. So antwortete er auch nicht mehr auf zwei Briefe vom 11. November 1933 und vom 23. Juli 1935, die um eine Klärung der rechtlichen Stellung der Juden und um Fürsprache baten. Die von Rolf Rieß 2003 veranstaltete Edition151 der Schriften Feuchtwangers ist eine echte Entdeckung. Ein Vergleich beider Sichtweisen wäre ein Schlüssel zur Zwischenkriegszeit. Je mehr aus Schmitts Nachlass bekannt wird, des‐ to fremder, rätselvoller, signifikanter erscheint sein Weg. Der bedeutende Verfassungstheoretiker wird uns zum existentiellen Zeugen und Repräsen‐ tanten des Krisenwegs Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert. Am 14. Juni 1924 schrieb Feuchtwanger an Schmitt: „Mir ging durch den Kopf,[... ] ob man nicht Ihre 4 Bücher, die bei uns er‐ schienen sind, unter einem gemeinsamen Titel nächstes Jahr veröffentlichen soll. Aber man muss doch zuletzt davon abraten. Das wäre ein Armutszeug‐ nis, und Sie sind nicht alt genug dazu.“152
Die Bedenken waren gerechtfertigt. Völlig anders liegt die Sache heute. Schmitt wird heute international breit diskutiert. Sein bei Lebzeiten „in die Waagschale der Zeit“ geworfenes Werk ist heute fast vollständig greifbar. Zahlreiche Briefe und Briefwechsel sind erschienen. Zwei Bände Tagebü‐ cher liegen [2006] vor. Vieles aber bleibt noch zu tun. Unlängst [März 2006] veranstaltete das Deutsche Literaturarchiv Marbach unter dem Titel „Partisanenpost“ eine Carl-Schmitt-Editorentagung, die Anlass gibt, die neuere Editionspolitik Revue passieren zu lassen und nach den heutigen Aufgaben zu fragen. Was hat Schmitt selbst für seinen Nachlass getan, und wie sind die editorischen Weichenstellungen zu beurteilen? Autoren wirken in der unterschiedlichsten Weise auf ihren Nachruhm ein. Einige sorgen direkt für die postume Überlieferung ihres Werkes, in‐ dem sie Editionen anstoßen. Andere stiften sie durch Leitlinien und
151 Ludwig Feuchtwanger, Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte, hrsg. Rolf Rieß, Berlin 2003; vgl. auch die nachfolgenden, von Rolf Rieß und mir herausge‐ gebenen Editionen: Ludwig Feuchtwanger, Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte, Berlin 2011; Ludwig Feuchtwanger, Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte. Erstveröf‐ fentlichung eines Manuskripts von 1938, Berlin 2014 152 Schmitt / Feuchtwanger-Briefwechsel,59
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IV. 2. Warum es keine Carl-Schmitt-Gesamtausgabe gibt? (2013)
Selbstinterpretationen. Was wäre die Marx-Edition ohne den gewesenen Sozialismus? Dilthey setzte seine Schüler an seine Gesammelten Schriften. Nietzsche richtete sich schon seiner zeitgenössischen Resonanzlosigkeit wegen an eine ferne Zukunft. Heidegger adressierte sich nach seinem uni‐ versitätspolitischen Scheitern an den „künftigen Menschen“. Carl Schmitt dagegen schrieb primär für seine Mitwelt. Gewiss pflegte auch er Selbstin‐ terpretationen und -mystifikationen. Anders als Heidegger betrieb er aber keine Fusion von Nachlasseditionspolitik und Nachlassinterpretationspoli‐ tik und hinterließ keine Berge von Manuskripten.153 Seine Publikations‐ strategien standen nach 1945 ganz im Zeichen apologetischer Selbstinter‐ pretation seiner Akteursrolle vor und nach 1933. Schmitt sah sich als „Sündenbock“ abgestempelt und entwickelte sein Spätwerk als Alterswerk eines „armen“ Mannes, der sich gegen „Feinde“ zu verteidigen und für „Freunde“ hermetisch aufzuschließen hat. Es gab Planungen für drei Bände Gesammelter Schriften. Schmitt schrieb dazu am 31. März 1958 an den spanischen Juristen Álvaro d’Ors: „Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten sehr viel Arbeit, weil ich eine Sammlung von 21 verfassungsrechtlichen Aufsätzen aus den Jahren 1924-54 edieren und mit ‚Bemerkungen’ versehen musste. [...] Der Verleger (Duncker & Humblot, einer der ersten deutschen Verleger, der Verleger von Hegel, Ranke etc.) will das Buch im Mai veröffentlichen und dann noch einen Band völkerrechtlicher und einen 3. Band rechtsphilosophischer Aufsätze folgen lassen, aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft haben werde, noch einmal die große Mühe einer solchen Selbst-Edition auf mich zu nehmen.“154
Der Briefwechsel von Carl Schmitt und Álvaro d’Ors ist 2004 bei Duncker & Humblot erschienen. Die „Klassiker“ des juristischen „Richtungsstreites“ vor 1933 bündelten Ende der 1950er Jahre ihre Schriften, um für die bundesdeutsche Diskussi‐ on neu greifbar zu sein. Die Funktion dieser Ausgaben war pragmatisch. Schmitt sperrte sich aber selbst gegen eine dreibändige Sammlung. Zwar zog er Schüler heran und mobilisierte sie für die Pflege seines Werkes. Er hinterließ aber keinerlei editorische Anweisungen. So lässt sich von einer starken Diskrepanz zwischen ausgeprägten Selbstinterpretationen und mangelnden Editionsdirektiven sprechen. Für den postumen Umgang mit
153 Dazu dann Verf., Heideggers ‚große Politik’. Die semantische Revolution der Ge‐ samtausgabe, Tübingen 2016, 231-247 154 Carl Schmitt und Alvaro d’Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004, 185
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Teil IV: Zwei Artikel
seinem Nachlass hatte das gewichtige Konsequenzen. Bei den Schülern bestand die Diskrepanz fort. Einerseits folgten sie Schmitts Selbstinterpre‐ tation und suchten die Diskussion in diesen Bahnen zu halten, andererseits verfügten sie nicht über eine starke nachlasseditorische Gesamtstrategie. Sie handelten so, weil Schmitt es nicht anders entworfen hatte. Schon 1953 nahm Schmitt aber Kontakte zum Bundesarchiv Koblenz auf. 1975 kam es mit dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Haupt‐ staatsarchiv Düsseldorf) zu einem Vertrag. Bald nach Schmitts Tod plä‐ dierte der Staatsrechtler Helmut Quaritsch dann 1988 auf einer ersten gro‐ ßen Tagung für eine „Distanz nehmende Position“ beim „Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts“, nachzulesen in dem von ihm herausge‐ gebenen Tagungsband Complexio Oppositorum, Berlin 1988. Er stellte leicht ironisch die Frage, wie man 2377 wohl über Schmitt diskutieren werde.„Wie heute über Bodin“,155 vermutete er. Der Philosoph Bernard Willms rief Schmitt dann als „jüngsten Klassiker des politischen Den‐ kens“ aus und legte der Forschung nahe, sich vom „Eckermann-Komplex“ ergreifen zu lassen, der unbeschränkten Sammellust: „Alle Werke zugänglich machen, ohne eine seiner Denkebenen auszulassen, eine kritische Gesamtausgabe vorbereiten, Studienausgaben edieren, eine Carl-Schmitt-Zeitschrift herausgeben. Schließlich eine Carl-Schmitt-Gesell‐ schaft gründen – was alles zum normalen professionellen Umgang mit einem ‚Klassiker’ zu gehören pflegt.“156
Eine restriktive Nachlasspolitik zeichnete sich nicht ab. Bald darauf trafen sich 1990 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen zahlreiche wichtige Forscher. Der Historiker Wolfgang J. Mommsen such‐ te die Planungen anzustoßen und fand Unterstützung bei seinem Fachge‐ nossen Reinhart Koselleck, während der Jurist Joseph H. Kaiser, Quaritsch und andere sich zurückhaltend verhielten. Es konstituierte sich ein Ar‐ beitskreis, der jedoch keine editorisch greifbaren Resultate brachte. Innen‐ ansichten des Scheiterns dieser Bemühungen wären vermutlich sehr auf‐
155 Helmut Quaritsch, Über den Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts, in: ders. (Hg), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 13-25, hier: 19 156 Bernard Willms, Carl Schmitt. Jüngster Klassiker des politischen Denkens?, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 577-597, hier: 595f
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IV. 2. Warum es keine Carl-Schmitt-Gesamtausgabe gibt? (2013)
schlussreich.157 Sie zeigten die Grabenkämpfe um die Ausrichtung eines großen Instituts einerseits und die Fraktionierung der oft als Schulbeispiel einer „Schule“ hingestellten Freundschaftskreise um Schmitt andererseits. Es wäre billig, dem verstorbenen ersten Nachlaßverwalter Kaiser den Schwarzen Peter zuzuschieben und eine fixe Strategie und Mauertaktik zu unterstellen. Jedenfalls verblieb die Editionstätigkeit aber weitgehend im Kreis von älteren Schülern und Freunden. Insbesondere die Editionen von Quaritsch158 und Günter Maschke159 tragen apologetische Züge. Schmitt hätte sie wollen können. Ein letztes editorisches Wort sind sie nicht. Ge‐ sammelte Schriften etwa, wie Feuchtwanger sie erwog, wären möglich. Größere Lösungen sind heute nur schwer realisierbar. Die Zeit der Ge‐ samtausgaben scheint vorbei. Alleingänge wie bei Heidegger oder Akade‐ mieelefanten wie die Weber-Edition sind problematisch. So wurde nach 1988 vielleicht eine Chance vertan. Andererseits ist die Diskussionslage heute einer großen Lösung günstiger. Die Phase freundfeindlicher Politi‐ sierung und Moralisierung ist vorbei, ruhige Forschung hielt auch bei heiklen Themen Einzug. Schmitt ist nicht mehr in irgendeine Provinz ein‐ gemauert. Die „perspektivische Verengung“ der Diskussion, die Quaritsch 1988 noch bemängelte, scheint aufgebrochen. Eine neue Editionsanstren‐ gung wäre deshalb weniger strittig als noch vor fünfzehn Jahren. Marbach hat einen Anstoß gegeben. Das Literaturarchiv könnte ein Kristallisations‐ kern editorischer Sicherung des Werkes werden. Blicken wir zurück, und wundern wir uns. Das Bild von Schmitt wurde vor 1988 vor allem durch seine Schriften bestimmt. Schmitt galt als politi‐ scher Romantiker der „Entscheidung“, Vordenker eines „totalen Führer‐ staates“, Anhänger einer legalitätskritischen „Legitimität“ und Hauptver‐ treter einer antiliberalen „politischen Theologie“. Der neuere Schritt zu‐ rück zum „existentiellen“ Kontext des Lebens wirft das nicht um, beleuch‐ tet es aber neu. Er verstärkt auch Problematisches. So traten mit der ersten Nachlasspublikation, dem Glossarium, 1991 sogleich apologetische und antisemitische Züge krass hervor. Die Briefwechsel mit Armin Mohler,
157 Dazu vgl. Lutz Niethammer, Die polemische Anstrengung des Begriffs. Über die exemplarische Faszination Carl Schmitts, in: Nationalsozialismus in den Kultur‐ wissenschaften. Bd. 2, Göttingen 2004, 41-82 158 Carl Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ,Nullum crimen, nulla poena sine lege’, Berlin 1994 159 Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, Berlin 1995; Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus?, Berlin 2005
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Teil IV: Zwei Artikel
Ernst Jünger, Álvaro d’Ors und anderen machten dann Schmitts Leben in der Bundesrepublik allererst sichtbar. Weitere wichtige Briefwechsel mit Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber und anderen werden erscheinen.160 Schmitt bündelte nicht nur die rechtswissenschaftlichen Diskurse, sondern inspirierte auch diverse Geisteswissenschaftler. Durch die Öffnung des Nachlasses wurde der politische Akteur vor und nach 1933 – von Andreas Koenen, Gabriel Seiberth und anderen – neu entdeckt. Solche Rekonstruk‐ tionen des „existentiellen“ Teilnahmestandpunkts geben den Ausgangs‐ punkt für eine tiefenscharfe Sicht des Werkes. Die politische Biographie wird zum Angelpunkt der Interpretation. Mit dem Erscheinen der frühen Tagebücher, die Ernst Hüsmert und Gerd Giesler161 im vergangenen Jahr [2005] vorgelegt haben, lässt sie sich von den Anfängen her schreiben. Sie zeigen Schmitt in neuem Licht. Sei‐ ne katholische Prägung spielt anfangs keine zentrale Rolle. Eine apokalyp‐ tische Religiosität durchtönt aber das Leben. Die „große Politik“ kommt in den frühen Tagebüchern nicht vor. Es findet sich kaum eine Spur der„Ide‐ en von 1914“. Nur ein Thema führt in die Zeit der Weimarer Republik und Verfassungslehre: die Diktatur. Es kommt Schmitt als Auftrag entgegen. Am 6. September 1915 notiert er noch in sein Tagebuch: „Um 8 Uhr war ich bereit, Selbstmord zu begehen, in der Welt der Nacht und in der Stille zu versinken, mit ruhiger Überlegenheit; dann dachte ich nur da‐ ran, in der Welt Karriere zu machen. Einige Stunden später war mir alles gleichgültig und ich wollte gerne Soldat werden – es ist zum Verrücktwerden, diese Zusammenhanglosigkeit; was soll ich tun? Ich werde mich in einer Stunde vor Wut über meine Nichtigkeit erschießen.“162
160 Das ist inzwischen geschehen. 161 Ernst Hüsmert (1928-2017) kam als Klavierschüler und Jugendfreund der Toch‐ ter Anima Schmitt 1948 ins Haus Carl Schmitts. Als geisteswissenschaftlich und literarisch breit interessierter Ingenieur lebte er jahrzehntelang in der Nähe Schmitts und verbrachte zahllose Tage und Abende mit ihm. Gerd Giesler (*1940), promovierter Chemiker, lernte Schmitt ebenfalls schon in jungen Jahren als Nachbarskind kennen und pflegte mit ihm lebenslangen Umgang. Als passio‐ nierter Intellektueller und Verleger, u.a. langjähriger Geschäftsführer des Akade‐ mie-Verlages, förderte er Schmitts Werk vielfältig und wurde seit den 1990er Jah‐ ren zum Organisator und unermüdlichen und diskreten Mitarbeiter bei der edito‐ rischen Erschließung des Nachlasses. 162 Carl Schmitt, Die Militärzeit 1915 bis 1919, Berlin 2005, 125
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IV. 2. Warum es keine Carl-Schmitt-Gesamtausgabe gibt? (2013)
Am nächsten Tag heißt es: „Nachmittags: Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz machen. Be‐ gründen, dass man den Belagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat.“163
Das wird ein zentrales Thema des Werkes. Schmitts ganze Verfassungs‐ theorie plädiert dafür, dass das liberale System der Gewaltenunterschei‐ dung nicht mehr zu halten ist. Formelhaft spricht Schmitt von einer Wen‐ dung zum „Exekutiv- und Maßnahmestaat“. Seine Option für den Reichs‐ präsidenten als „Hüter der Verfassung“ folgt aus dieser Diagnose, und sei‐ ne spätere Option für Hitler als Diktator hat hier ein Motiv. 1915 aber, mit‐ ten im Krieg, nimmt er den Auftrag noch mit Verwunderung auf. „Ausge‐ rechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat.“ Die Bemer‐ kung ist ironisch. Schmitt deutet an, dass er nicht geneigt ist, gegen die li‐ berale Gewaltenunterscheidung zu argumentieren. Andererseits ahnt er schon, dass das Thema der Diktatur, der Ausweitung des Exekutivstaates, ihn nicht loslassen wird, weil dieser Tendenz die Zukunft gehört. Aus den frühen Tagebüchern lernen wir einen empfindlichen Romanti‐ ker kennen, der fast alles dementiert, was er öffentlich vertritt. Eine schnelle Meistererzählung lässt sich daraus nicht stricken. Schmitts politi‐ sche Biographie versetzt uns aber intensiv in die Wirrungen der Zeit. Einer Carl-Schmitt-Gesamtausgabe steht heute zwar einiges entgegen: Schmitts politische Biographie, seine Selbstinterpretation, die Lage der Geisteswis‐ senschaften, der pragmatische Zwang zur Fortsetzung des eingeschlage‐ nen Kurses auch. Die extensive Kenntnis seines Werkes spiegelt die Zeit aber mikroskopisch. Schmitt ist ein Schlüssel des Jahrhunderts. Das recht‐ fertigt weitere Editionsanstrengungen.164
163 Schmitt, Die Militärzeit, 125 164 Mit dem Abschluss weiterer Editionsvorhaben und der Durchsetzung der Digita‐ lisierung sind diese Überlegungen von 2006 heute wohl hinfällig. Eine SchmittGesamtausgabe steht in Deutschland im Gutenberg-Format jedenfalls vorerst nicht auf der Editionsagenda.
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Teil V: Pioniere der älteren Forschung: Hasso Hofmann und Ingeborg Maus165
V. 1. Hasso Hofmann und Carl Schmitt Die Wege der Rezeption, Aneignung und Kritik von Schmitts Werk sind vielfältig. Es gibt Fundamentalverwerfungen, die sich oft nicht näher auf das Werk einlassen. Es gibt auch diverse sachliche Einlassungen und An‐ knüpfungen, die interessant und fruchtbar sind. So lassen sich eine interne und eine externe Kritik unterscheiden. Die interne stellt sich auf den Bo‐ den der Verfassungstheorie und denkt mit Schmitt über ihn hinaus. Die ex‐ terne sucht einen anderen Ansatz und kritisiert das Werk in seiner Entfal‐ tung von diesem Boden aus. Das geschieht in der Absicht auf Profilierung des eigenen Standpunkts oder auch mit dem Willen zur selektiven Aneig‐ nung von Schmitts Denken. Der einfachste Fall ist hier die konfrontative Profilierung eines bundesrepublikanischen Denkens gegen den nationalso‐ zialistischen Schmitt. Aber es geht auch anders. Interne und externe Kritik gibt es in vielen Spielarten. Zweifellos hat die interne Kritik zu zahlrei‐ chen fruchtbaren Aneignungen und Weiterentwicklungen von Schmitts Denken geführt. Fast ebenso vielfältig ist aber die externe Kritik. Auch unter fundamental anderen verfassungstheoretischen Voraussetzungen kann die Zustimmung zu vielen Positionen und Begriffen sehr weitrei‐ chend sein. Es gibt sterile interne Fortbildungen und anregende externe Auseinandersetzungen mit Schmitt. Diese Wege zeigen sich in der juristischen Rezeption besonders deut‐ lich. Sie ist das Feld, in dem Schmitt vor allem wirken wollte. Schmitt verstand sich als Jurist. Gäbe es keine juristische Wirkungsgeschichte und
165 Beide hier abgedruckte Beiträge sind in der Zeitschrift Der Staat mit deutlich längerem Umfang erschienen: Beide erörterten nach dem einleitenden SchmittTeil die rechtstheoretischen und systematischen Antworten, die die Autoren mit ihrem späteren Werk gegeben haben. Für die Dokumentation der Geschichte der Carl Schmitt-Forschung sind diese späteren Antworten aber hier gestrichen: Der menschenrechtliche Einwand. Hasso Hofmanns Antwort auf Carl Schmitt, in: Der Staat 47 (2008), 241-257, hier: 241-248; Kant gegen Schmitt. Ingeborg Maus Über Volkssouveränität, in: Der Staat 52 (2013), 435-454, hier: 435-445
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V. 1. Hasso Hofmann und Carl Schmitt (2008)
Aktualität, wäre sein Theorieanspruch gescheitert. Diese Rezeption ist vielfältig. Schon die Schüler gingen diverse Wege. Das gilt auch für die dritte Generation nach 1949. Roman Schnur, Helmut Quaritsch oder Ernst-Wolfgang Böckenförde haben Schmitts Werk sehr unterschiedlich aufgenommen, auch wenn sie sich, wie Frieder Günther166 eindrücklich zeigte, durchaus als Schule verstanden und in einigen verfassungspoliti‐ schen Fragen auch so agierten. Die tiefgreifendste juristische Aneignung dürfte mit dem Werk Böckenfördes vorliegen. Böckenförde hat versucht, Schmitts Werk in authentischer Weise, als politisch-theologische Verfas‐ sungstheorie, für die aktuellen Aufgaben der bundesrepublikanischen Staatsrechtswissenschaft fruchtbar zu machen. Die externe Kritik dagegen repräsentiert das Werk Hasso Hofmanns.167 Es begann mit einer eindring‐ lichen Kritik an Schmitt und lässt sich im weiteren Fortgang auch als Weg der Auseinandersetzung und Antwort auf Schmitt betrachten. Im Ergebnis wird sich dabei allerdings zeigen, dass Hofmanns Werk seine Ausgangs‐ opposition abarbeitete und seinen „eigenen Weg“168 ging. I. Das Pionierwerk von 1964 Wenn es im globalen Gebirge der Schmitt-Forschung ein anerkanntes Standardwerk gibt, an dem keine neuere Studie vorbeikommt, ist dies Hofmanns Pionierwerk Legitimität gegen Legalität169 von 1964. Es hat sich als herausragende Dissertation behauptet und liegt heute [2008] mit neuem Vorwort in vierter Auflage vor. Hofmann baute auf Karl Löwiths bekanntem Essay Der okkasionelle Dezisionismus Carl Schmitts170 von
166 Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezisionismus und Integration 1949-1970, München 2004 167 Zur Gesamtwürdigung vgl. Alexander Hollerbach, Laudatio, in: Horst Dreier (Hrsg.), Philosophie des Rechts und Verfassungstheorie, Berlin 2000, 9-23 168 Dazu autobiographisch vgl. Hasso Hofmann, Rückblick, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, Berlin 2005, 193-204 169 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philoso‐ phie Carl Schmitts, 1964, 4. Aufl. Berlin 2002 170 Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt, in: ders., Sämtli‐ che Schriften Bd. VIII, Stuttgart 1984, 32-71
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Teil V: Pioniere der älteren Forschung
1935 auf, den schon Schmitt als herausragende Kritik empfand.171 Löwith gab eine starke These und entwicklungsgeschichtliche Linie vor. Die Dis‐ sertation entstand unter dem Eindruck prägender Studienerfahrungen bei Löwith in Heidelberg.172 Hofmann wechselte allerdings bald nach Mün‐ chen und Erlangen und schrieb die Arbeit während seiner Referendarzeit bei Alfred Voigt.Eine formale Schülerbeziehung und ein direktes Betreu‐ ungsverhältnis zu Löwith hatte er nicht, was der Dissertation vielleicht gut tat. Löwiths Linien erhielten durch Hofmanns entwicklungsgeschichtliche und juristische Durchführung neues Gewicht und eine neue rechtsphiloso‐ phische Aussage. Das betrifft sowohl die problemgeschichtliche Umdeu‐ tung des Okkasionalismus-Vorwurfs als auch die Aufnahme von Löwiths – genuin gegen Martin Heidegger gerichteten – Naturbegriff. Im Rückblick erinnert Hofmann sich: „Was mich dabei antrieb, war hauptsächlich die Frage: Gab es (über möglichen Opportunismus hinaus) in einem der intelligentesten und anspruchsvollsten rechtswissenschaftli‐ chen Werke der Weimarer Zeit sachliche Dispositionen für den Absturz 1933 und welche waren es?“173 Das entspricht auch dem primären zeithis‐ torischen Interesse der frühen Bundesrepublik: Nicht die Geschichte des Nationalsozialismus, sondern das Scheitern Weimars, der ersten deutschen Demokratie, interessierte als Lehrstück. Anders als etwa die ältere Studie von Jürgen Fijalkowski174 las Hofmann die „sachlichen Dispositionen“ aber nicht schlicht politisch. Seine Studie war deshalb so bedeutend, weil sie unterhalb der politischen Absichten und Wendungen eine rechtsphilo‐ sophische Grundfrage herauslas. Hofmann nahm Schmitts Werk erstmals als „politische Philosophie“ ernst, weil es durch alle „okkasionelle“ Wen‐ dungen des Legitimitätsbegriffs hindurch die rechtsphilosophische Grund‐ frage nach dem Rechtsbegriff festhielt und verfassungstheoretisch neu stellte. Dabei ging er von Konvergenzen des Frühwerks zur Rechtstheorie Hans Kelsens aus und las Schmitts rechtsphilosophische Problemstellung
171 Dazu Schmitts Brief vom 18. Juli 1935 an Ernst Jünger, in: Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930-1983, Stuttgart 1999, 52 („Wer ist Fiala aus Madrid, dessen Aufsatz in dem Brünner Organ ich vor meiner Abreise flüchtig las, und den ich mir nach hier bestellt habe?“). 172 Hasso Hofmann, Was ist uns Carl Schmitt?, in: Festschrift für Wilhelm Hennis, Stuttgart 1988 545-555; jetzt Hofmann, Rückblick, in: Dreier, Schlüsselbegriffe, 196 ff. 173 Hofmann, Rückblick, in: Dreier, Schlüsselbegriffe, 199 174 Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, Köln 1958
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mit Löwith vom „Dezisionismus“ her als „Problem der Rechtsverwirkli‐ chung“. Man könnte zwar fragen, ob Schmitt nicht auch das Problem der Rechtsbegründung seit seinem Frühwerk substantiell stellte, und die rechtsphilosophische Frage etwas anders akzentuieren. Aber darauf kommt es hier nicht an. Hier ist zunächst nur festzuhalten, dass Hofmann eine entwicklungsgeschichtliche Gesamtdarstellung am Leitfaden des Le‐ gitimitätsbegriffs entwickelte und Schmitts „Okkasionalismus“ dabei pro‐ blemgeschichtlich und rechtsphilosophisch neu las. Die Rezeption hat nicht hinreichend bemerkt: Hofmanns Relektüre von Löwiths Kritik ist eigentlich eine Ehrenrettung: Durch sie steigt Schmitt vom theorie- und gesinnungslosen Zeitgeist-Surfer und Wendehals zum rechtsphilosophischen Grundsucher auf. Damit verweist Hofmann die Auseinandersetzung auf philosophisch-metaphysische Fragen. Seine di‐ vergierenden metaphysischen Intuitionen deutet er an, wenn er schreibt: „In der Erschütterung des Weltverständnisses und des Menschenbildes Schmitts gründet letztlich die Fragwürdigkeit seines ganzen Werkes“ (165). Hofmann stellt Schmitts „Politischer Theologie“ – nach 1945 – et‐ was andere metaphysische Intuitionen entgegen, expliziert seinen meta‐ physischen Standpunkt aber zunächst kaum. Wenn er vom „Weltverständ‐ nis und Menschenbild“ spricht, klingen Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger an. Dilthey kritisierte die überlieferten philosophischen „Syste‐ me“ in seiner Weltanschauungslehre175 als „Lebens- und Weltanschauun‐ gen“; er fragte danach, wie Weltanschauungen die Lebensanschauungen prägen. Heidegger schränkte den Begriff der Metaphysik dann historisch auf die platonisch-christliche Tradition ein und fragte (mit Hölderlin)nach der Erfahrung einer unverstellten „Natur“. Sein Schüler Löwith modifi‐ zierte Heideggers Metaphysikkritik und suchte die „Natur“ jenseits des Christentums positiv zu fassen. So beschrieb er 1967 in seinem Spätwerk Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche das geschichtliche Wechselverhältnis dieser Grundbegriffe neuzeitlicher Meta‐ physik und beschloss seinen „stoischen Rückzug“ (Habermas) zuletzt mit Paul Valéry.176 Nach Löwith zeigt sich „Natur“ in der Auslegung von Gott, Mensch und Welt. Das menschliche Selbstverständnis entwickelt sich geschichtlich und lässt sich nur im Rahmen einer umfassenden Meta‐
175 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Ab‐ handlungen zur Philosophie der Philosophie, Leipzig 1931 176 In: Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. IX, Stuttgart 1986
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Teil V: Pioniere der älteren Forschung
physik begreifen. Eine solche weite Auslegung des Naturbegriffs ist der Rechtsphilosophie durch die naturrechtliche Tradition vertraut.177 Hofmann evoziert 1964 leise naturrechtliche Distanz, ohne ein be‐ stimmtes „Naturrecht“ gegen Schmitt auszuspielen.178 Sein Verweis auf die „Natur“ signalisiert zunächst mehr die Notwendigkeit einer weiten, hi‐ storischen und philosophischen Auseinandersetzung mit Schmitts Stand‐ punkt. Mit Schmitt teilt Hofmann dabei nicht nur die philosophische Auf‐ fassung der Rechtswissenschaft, sondern auch die juristische Reserve ge‐ gen allzu vollmundige metaphysische Bekenntnisse. Schmitt versteckte seine Reserve hinter seinem ständigen Verweis auf „Theologie“.179 Hofmann hält sich strenger noch in den Grenzen seines Faches. So äußerte er sich zur Gottesfrage nur sehr zurückhaltend. Dabei betrachtet er die mo‐ dernen Trennungen von Gott und Welt, Kirche, Staat und Gesellschaft als einen Gewinn für die Religiosität. Unlängst affirmierte er die moderne Unterscheidung von Recht, Politik und Religion mit Berufung auf Haber‐ mas.180 Er disziplinierte sein philosophisches Interesse an der „Natur“ nicht zuletzt durch verfassungsrechtliche Arbeiten zum Naturschutz. Über seine zahlreichen Arbeiten zu den „menschenrechtlichen Autonomiean‐ sprüchen“ sollten deshalb auch seine Arbeiten zu „Natur und Naturschutz“ nicht übersehen werden. Ihr rechtsdogmatisches Zentrum ist eine Mono‐ graphie über Rechtsfragen der atomaren Entsorgung181 von 1981. Hofmann äußerte sich aber auch grundsätzlicher. Einige seiner Arbeiten sind unter dem Titel Technik und Umwelt in der Aufsatzsammlung Verfas‐ sungsrechtliche Perspektiven versammelt. Die ganze Relation von Gott, Mensch und Welt nahm Hofmann unter Berufung auf Löwith etwa in einem Vortrag Menschenwürde und Naturverständnis in europäischer Per‐ spektive182 auf. Seinen menschenrechtlichen Standpunkt formulierte er in
177 Dazu vgl. Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientie‐ rung, 3. Aufl. Karlsruhe 1964 178 Zu Schmitts schwierigem Verhältnis zum Katholizismus und katholischen Natur‐ recht vgl. Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888-1936, Paderborn 1998 179 Zu Schmitts Reserve gegen systemphilosophische Ansprüche vgl. Verf., Carl Schmitt, Leo Strauss, Thomas Hobbes und die Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 378-392 180 Dazu aber Hasso Hofmann, Recht, Politik und Religion, JZ 58 (2003), 377-385 181 Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981 182 Hasso Hofmann, Menschenwürde und Naturverständnis in europäischer Perspek‐ tive, in: Der Staat 37 (1998), 349-360, hier: 349
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den letzten Jahren wiederholt explizit gegen Schmitt.183 Jüngst ergänzte er die menschenrechtliche Kritik um eine Absage an Schmitts Souveränitäts‐ begriff. In dieser Zeitschrift Der Staat, einst Hausorgan der Schule, führte er184 aus, dass die alte Opposition von Staat und Verfassung und extrakon‐ stitutionelle („existentiell-politische“) Auffassung der Souveränität durch den europäischen Verfassungsprozess überholt sei. Schon äußerlich ist Hofmanns Auseinandersetzung also bis heute nicht abgeschlossen. Eine ausformulierte Naturrechtslehre findet sich nicht. II. Schmitts Notate zu Hofmann Schmitt suchte stets den Kontakt mit seinen Hermeneuten. Dabei leitete ihn nicht nur apologetische Absicht, sondern auch echte Neugier. Fast alle schickten ihm ihre Arbeiten und traten in Verbindung. Stärkere Arbeiten lobte Schmitt auch im Widerspruch, schwächere kommentierte er spöt‐ tisch. Bisweilen äußerte er sich äußerst ungerecht. Besonders engen Anteil nahm Schmitt seit 1957 an George Schwab. Aber auch mit Heinz Laufer, Hermann Schmidt, Lutz-Arwed Bentin, Ingeborg Maus, Joseph Benders‐ ky, Ellen Kennedy und vielen anderen in- und ausländischen Forschern trat er in Verbindung. Hasso Hofmann mied den persönlichen Kontakt. Im Rückblick meinte er dazu: „Als Individuum interessierte mich der Autor nicht. Insoweit hielt ich größte Distanz“185. Kein Brief befindet sich im Nachlass. Schmitt besaß aber Hofmanns frühe Monographien: Legitimität gegen Legalität, Repräsentation sowie Legitimität und Rechtsgeltung.
183 Hasso Hofmann, Menschenrecht im politischen Pluriversum?, in: Reinhard Meh‐ ring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kom‐ mentar, Berlin 2003, 111-122 184 Hasso Hofmann, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, in: Der Staat 44 (2005), 171-186. Interessant ist auch, dass Hofmann zahlreiche Schlüsselbegriffe Schmitts für das Historische Wörterbuch der Philosophie be‐ griffsgeschichtlich behandelte: so die Stichwörter Ausnahme, Dezision, Diktatur, Freund/Feind, Kampf, Legalität/Legitimität, Pluriversum. Für seine neueren Überlegungen aus der Vielzahl der Veröffentlichungen: Einführung in die Rechtsund Staatsphilosophie, Darmstadt 2000; Rechtsphilosophie nach 1945. Zur Geis‐ tesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2012; zum Rückgang hin‐ ter die „Vormundschaft“ der neuzeitlichen Souveränitätsdoktrin und des Primats des öffentlichen Rechts noch: Die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, in: Der Staat 57 (2018), 5-33 185 Hofmann, Rückblick, in: Dreier, Schlüsselbegriffe, 199
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Letztere Studie von 1977, in der Hofmann seine externe Kritik deutlich formulierte, indem er „Rechtsgeltung“ gegen „Legitimität“ setzte, besaß er im Widmungsexemplar. Darüber hinaus enthält der Nachlass noch Hof‐ manns kurze Besprechung des Schmitt-Buches von Mathias Schmitz186 sowie Sonderdrucke über Das Problem der cäsaristischen Legitimität im Bismarckreich und Hugo Grotius. Vermutlich nahm Hofmann erst 1977 Kontakt zu Schmitt auf, nachdem er seinen Ansatz gefunden hatte. Über die Schmitt-Forschung äußerte sich der alte Schmitt zumeist eher abfällig. Das gilt insbesondere für die externe Kritik. Auch über Hof‐ manns Studie äußerte er sich, soweit bekannt, eher negativ. Ihrer Druckle‐ gung aber hat er zugestimmt. Sein enger Schüler Roman Schnur gab da‐ mals mit Wilhelm Hennis zusammen die Reihe Politica heraus. Schmitt erhielt Hofmanns Arbeit durch den Lektor, Frank Benseler, im Typoskript. Benseler bat Hofmann um die Erlaubnis, Schmitt das Typoskript zu schi‐ cken,187 und nahm dann Kontakt auf.188 Er sandte das Typoskript und wünschte „auf dieser Grundlage zu einem Gespräch“ zu kommen. Nach dem Gespräch dankte Benseler: „Sicher haben Sie bemerkt, wie sehr ich von Ihrer Reaktion auf die Arbeit von Hofmann beeindruckt war.“189 Schmitt betonte die Schwierigkeiten des Themas, lobte aber die intelligen‐ te Durchführung und insbesondere den originären Ansatz beim Frühwerk. Armin Mohler gegenüber äußerte er sich am 22. Mai 1963, noch vor Er‐ scheinen der Druckfassung, allerdings beiläufig, er werde in „einer neuen Erlanger Dissertation von Hasso Hofmann […] als unzeitgemäß und 19. Jahrhundert abgetan“.190 Die Aussage kennzeichnet eher Schmitts eigenes Verfahren „geistesgeschichtlicher“ Destruktion unliebsamer Positionen. Zwei Jahre später, am 29. Oktober 1965, nannte er Hofmann dann im Briefwechsel mit Armin Mohler einen „Richter-Knaben“.191 Damit meinte er wohl einerseits den richterlichen Standpunkt externer Kritik, anderseits
186 Mathias Schmitz, Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts. Entwurf und Entfal‐ tung, Köln 1965 187 Die Zustimmung Hofmanns vom 4. April 1963 an Benseler ist in Schmitts Nach‐ lass (Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv. Standort Düsseldorf [heute: Duis‐ burg], Nachlass Carl Schmitt, RW 265) in Kopie erhalten (RW 265-6189). 188 Benseler am 9. April 1963 (RW 265-1245) an Schmitt 189 Benseler am 3. Juli 1963 (RW 265-1247) an Schmitt 190 Carl Schmitt, in: Armin Mohler (Hrsg.), Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler, Berlin 1995, 331 191 Mohler (Hg.), Carl Schmitt. Briefwechsel mit einem seiner Schüler, 359
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die angeblich unausgereifte, knabenhafte Durchführung. Solche Hiebe sind nicht immer ganz ernst zu nehmen. Schmitt verstand sich darauf. Im Düsseldorfer – [seit einigen Jahren nach Duisburg transferierten] Nachlass befinden sich einige Notizen zu Hofmanns Arbeiten. Die meis‐ ten sind stenographisch verfasst und kaum zu entziffern. Unter ein Blatt Stenonotizen schreibt Schmitt: „steriles Echo der Kritik von Löwith, Strauss, Kirchheimer“ (RW 265-21232). Auf ein anderes schreibt er säu‐ berlich: „Mein Selbstverständnis enthält immer noch mehr wissenschaftliche Reflexi‐ on, juristische Bildung und Kenntnis von Menschen und Situationen, als diese eifrige, löwith-beflissene Anfängerübung eines strebsamen Erlanger Assisten‐ ten.“ (RW 265-21232, Blatt 7)
Die Reaktionen auf Hofmanns Studie wären ein Thema für sich. Wahre Scharmützel und Schlachten wurden geführt, als sich ihr durchschlagender Erfolg abzeichnete. Theodor Maunz solidarisierte sich Schmitt gegenüber in vorauseilender Erwartung aus eigener Betroffenheit: „Was sich in diesen Wochen und Monaten inbezug auf ‚Bewältigung der Ver‐ gangenheit’ abspielt, ist unsagbar und unfassbar. Mit Entrüstung habe ich ge‐ lesen, dass ein junger Mann aus Erlangen Sie in unerhörter Weise beleidigt hat. Ich kenne weder ihn noch seine Schrift. Aber er ist in keiner Weise in der Lage, Ihr Ansehen als Gelehrter irgendwie anzutasten.“192
Schmitt sah es weniger dramatisch und versagte Hofmann seinen Respekt nicht gänzlich. Auch Ernst Forsthoff meinte nach Erscheinen, das Buch sei „von allen dieses Genres das intelligenteste“193. Joseph H. Kaiser be‐ tonte in einer Rezension zwar die Abhängigkeit von Löwith und bemän‐ gelte die politische Interpretation des „Ordnungsdenkens“, meinte aber auch anerkennend: „H. führt das Skalpell behutsamer und umsichtiger als andere Sezierer.“194 Schmitts Respekt zeigte sich auch im weiteren Inter‐ esse an Hofmanns Weg. Noch im hohen Alter von 90 Jahren schrieb er am 4. Juli 1978 an Álvaro d’Ors mit der Bitte um Stellungnahme:
192 Theodor Maunz am 11. März 1965 an Schmitt (RW 265-9243) 193 Ernst Forsthoff am 22. Dezember 1964 an Schmitt, in: Dorothee Mußgnug / Reinhard Mußgnug / Angela Reinthal (Hg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974), Berlin 2007, 206 194 Joseph H. Kaiser, in: Das Historisch-politische Buch 14 (1966), 165-167, hier: 167; vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Die öffentliche Verwaltung 19 (1967), 688-690
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Teil V: Pioniere der älteren Forschung
„Ich bin im Augenblick mit der Lektüre des Buches von Hasso Hofmann über ‚Repräsentation’ beschäftigt, und es ist selbstverständlich, dass C. S. bei die‐ sem Dialog gegenwärtig ist.“195
Sein Handexemplar der Habilitationsschrift Repräsentation196 (RW 265-24415) zeigt allerdings nur wenig Gebrauchsspuren. Schmitt datiert seinen Besitz am 12. Februar 1975 in den Buchumschlag und notiert eini‐ ge Überlegungen „Kennzeichnend für die Reflexionsstufe“. Ein – schwer leserliches - Konvolut enthält einen Briefentwurf, datiert vom 10. Septem‐ ber 1975 an Martin Meyer: „Massen-Illusionen […] Medien-Technik geschaffene Präsens, die alle über‐ lieferte Re-Präsentation […] übertrumpft und überbietet. Sieh die letzte Seite meines Donoso-Büchleins! So endet das Buch [gemeint ist wohl Hofmanns „Repräsentation“] in der Antwort, die schon 1923 (als meine Schrift über den ‚Parlamentarismus’ erschien[)], gegeben wurde: Repräsentativ = Parlamenta‐ rismus, – Parlamentarismus – Was sonst?’ Heute (z. B. Staatsrechtslehrertag in Bielefeld, Oktober 1974) sagen die jüngeren Leute (rollenkonform): es gibt keine Alternative gegenüber dem Parlamentarismus. Meinetwegen. Doch darf ich zum Schluss ein Goethe-Zitat wiederholen: Ich trüge leichter des Alters Bürden, wenn Schüler nicht so schnell Lehrer würden. Herzliche Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt“ (RW 265-19876).
Dieser Briefentwurf äußert eine gewisse Enttäuschung darüber, dass Hof‐ manns Begriffsgeschichte nicht zu einer Revokation der scholastischen Bedeutungsgehalte führte, sondern auf die parlamentarische Repräsentati‐ on hinauslief.197 Schmitt unterstellt dabei ein karrierestrategisches Motiv: einen opportunistischen Übereifer. Dieser sein Standardvorwurf gegenüber der Literatur kontert den alten Okkasionalismus- und Opportunismusvor‐ wurf. In Hofmanns Fall ist er sehr ungerecht, denn der frühe Erfolg der Dissertation führte nicht zu einer schnellen Karriere. Erst 1976, 12 Jahre nach der Dissertation und sechs nach der Habilitation, wurde Hofmann Professor in Würzburg.198 Bei den relativ guten akademischen Aussichten
195 Montserrat Herrero (Hrsg.), Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, Berlin 2004, 288 196 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 197 Dazu vgl. Hasso Hofmann, Parlamentarische Repräsentation in der parlamentari‐ schen Demokratie, in: ders., Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, Berlin 1986, 249-260; ders., Repräsentation, Mehr‐ heitsprinzip und Minderheitenschutz, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspekti‐ ven. Aufsätze aus den Jahren 1980-1994, Tübingen 1995, 161-196 198 1992 wechselte er an die HU-Berlin.
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V. 2. Ingeborg Maus in der Korrespondenz mit Schmitt (2013)
des Nachwuchses nach 1968 und dem Talent des Autors war dies eine eher lange Zeit. V. 2. Ingeborg Maus in der Korrespondenz mit Schmitt Ingeborg Maus konzentrierte sich als Theoretikerin stark auf die Ausein‐ andersetzung mit ganz bestimmten zentralen Problemstellungen. Ihren akademischen Weg verband sie eng mit der Universität Frankfurt: Dort promovierte (1971) und habilitierte sie sich (1980), dort lehrte sie als Pro‐ fessorin für Politikwissenschaft bis zu ihrer Emeritierung (2003). Vier grö‐ ßere dichte und selbständige Publikationen liegen [2011] vor.199 Die Auf‐ satzsammlung Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalis‐ mus (1986) treibt die Frage der Dissertation nach dem Verhältnis von Bür‐ gerlicher Rechtstheorie und Faschismus (1976) weiter in die kritische Analyse der Rechtstheorie und Verfassungsstruktur der Bundesrepublik voran. Die neuere Sammlung überarbeiteter Aufsätze Über Volkssouverä‐ nität (2011) kehrt nun mit den positiven Resultaten der Monographie Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) zur frühen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt zurück. Zu den reinen Historikern der Ideengeschichte gehört Maus sicher nicht. Sie ist eine Problemdenkerin und bohrende Ana‐ lytikerin, die Sachfragen an Autoren verhandelt. Eine Gesamtwürdigung ihres Werkes müsste wohl beim Problem der „Entformalisierung“ des Rechts und politischen Abbaus des Rechtscodes ansetzen. Eine solche Ge‐ samtbetrachtung ist hier nicht möglich. Die Aufsatzsammlung Über Volks‐ souveränität, [der Anlass und Ausgangspunkt dieses biographischen Rückgangs],legt eine engere Perspektive nahe: Ich lese die Sammlung leicht betriebsblind aus der Sicht eines Schmitt-Forschers als Wiederauf‐ nahme der Schmitt- Kritik mit dem gereiften Instrumentarium der Demo‐
199 Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funkti‐ on und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976; Rechts‐ theorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986; Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überle‐ gungen im Anschluss an Kant, Frankfurt 1992; Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Frankfurt 2011. Die Korrespondenz zwischen Carl Schmitt und Ingeborg Maus ist im Düsseldorfer Nachlass Carl Schmitts erhalten und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Archivs sowie von Ingeborg Maus zitiert. Ich danke auch Prof. Dr. Peter Niesen (Hamburg) herzlich für seine intensive und vielfach anregende Diskussion des vorliegenden Textes.
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kratietheorie Kants. Von daher rekonstruiere ich die frühen Korresponden‐ zen mit Schmitt.200 Maus konzentrierte ihre messerscharfen Schriften auf rechtsstrukturelle Voraussetzungen der Demokratie und zwei antipodische Meisterdenker dieses Problemfeldes: auf Schmitt und Kant. Sie ging von der kritischen Auseinandersetzung mit Schmitt aus und setzte Kant positiv dagegen. Die Sammlung Über Volkssouveränität kehrt nun mit der entwickelten Demo‐ kratietheorie zur wirkungsgeschichtlichen Kritik an Schmitt zurück. Ein zentrales Anliegen ist es dabei, die Demokratietheorie und Volkssouverä‐ nitätstheorie der Aufklärung gegen Schmitt und die Folgen zu aktualisie‐ ren. Diese wirkungsgeschichtlichen Folgekosten veranschlagt Maus sehr hoch. Die Akzeptanz faktischer Verselbständigungen des Justizapparates gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber, die oft unter Stichworten wie „Justizstaat“ und „Richterrecht“ verhandelt werden, rechnet sie in weiten Teilen noch dem „pervertierten Souveränitätsbegriff“ Schmitts zu. Mit keinem anderen seiner Kritiker aber hat Schmitt über einen längeren Zeitraum hinweg einen derart sachlichen und intensiven Briefwechsel ge‐ führt.201 Beschränken wir uns ohne Anspruch auf Gesamtwürdigung auf den Schlagschatten, den die Publikation [von 2011] auch auf die Anfänge der Auseinandersetzung mit Schmitt wirft. I. Carl Schmitt und die „wackere Apo-Kämpferin“ Ingeborg Maus (*1937) gehört zur Generationskohorte der „1968er“. Viel‐ leicht sollte man hier weiter differenzieren und sie zum älteren akademi‐ 200 Die hier wiederabgedruckten Teile leiteten in die Besprechung der Sammlung Über Volkssouveränität ein. Inzwischen sind zwei weitere Sammlungen erschie‐ nen: Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisa‐ tion, Berlin 2015; Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Recht‐ sprechung in der Demokratie, Berlin 2018. Diese neueren, von Carl Schmitt weg‐ führenden Schriften sind hier nicht Thema. 201 Zu Schmitts „Promotion der Sekundärliteratur“ vgl. Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, 543. Die vorliegende Besprechungs‐ abhandlung setzt Studien zur Entwicklung des Links-Schmittianismus fort: Otto Kirchheimer und der Links-Schmittismus, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt in der Diskussion, Baden-Baden 2007, 60-82; „Ein typischer Fall Jugendlicher Produktivität“. Otto Kirchheimers Bonner Pro‐ motionsakte, in: Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014, 31-46
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schen Vortrupp rechnen, der die Theorie vor die Praxis stellte und mit den Aktivisten und Spontis nach 1968 wenig im Sinn hatte. Maus spielte die Straße nicht antiliberal gegen das Parlament aus, suchte das demokratische Denken aber aus seiner „repräsentativen“ Engführung zu lösen. Volkssou‐ veränität war den reinen „1968ern“, die man idealtypisch die „dritte Gene‐ ration“ bundesdeutscher Politikwissenschaftler nennen könnte, ein zentra‐ les Anliegen und Thema. Sie fanden es gewissermaßen mit der APO auf der Straße. Die älteren Generationen hätten eher den Untergang Weimars oder den Begriff der „Repräsentation“ und die repräsentative Demokratie als ihr Thema genannt. Die „Volkssouveränität“ stand für eine Wiederkehr des Verdrängten in der repräsentativen Demokratie und im liberalen Grün‐ dungskonzept der Bundesrepublik. Gerhard Ritter202 hatte die identitäre Demokratie des „totalen Volksstaats“ nach 1789 in die französische Fas‐ sung des kontinentalen Staatsdenkens abgeschoben. Ernst Fraenkel203 war in den 1960er Jahren dann ein Hauptvertreter strikter Unterscheidung der „repräsentativen“ von der „identitären“ Demokratie. Bekanntlich profilier‐ te er seine repräsentative und pluralistische Demokratiekonzeption dabei gegen Carl Schmitt. Der Links-Schmittianismus formierte sich in den 1960er Jahren neu. Otto Kirchheimer, Franz Neumann und die „andere“ Tradition „linker“ Juristen wurden wieder entdeckt. Schmitts scharfe Un‐ terscheidung von Liberalismus und Demokratie wurde neu gelesen und gegen die liberale Engführung der Bundesrepublik in Stellung gebracht. Die antiliberale, plebiszitäre, ideologisch-„charismatisch“ integrierte De‐ mokratie wurde als Alternative in verschiedenen Akzenten und Spielarten wieder interessant. Hier setzte Ingeborg Maus ein. Sie war keine antiliberale Aktivistin und Theoretikerin der Straße. Auch hielt sie an den älteren Fragen nach dem Untergang Weimars mit Akzentverschiebungen fest. Ihr Ausgangspunkt liegt aber in der akademischen Suche nach einer „linken“ Demokratietheo‐ rie. Wie viele andere griff sie dabei auf die Weimarer Theoriedebatten zu‐ rück. Während der sozialdemokratische Staatsdiskurs sich nach 1949 zu‐ nächst auf Hermann Heller bezog, sichtbar etwa bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, knüpfte Maus mehr an Otto Kirchheimer und Franz Neu‐
202 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die ge‐ schichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948 203 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964; da‐ zu vgl. Frank Schale, Rousseauinterpretationen in der Nachkriegspolitikwissen‐ schaft, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2012, 146-173
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mann an, die stärker von Schmitt geprägt und beeindruckt waren. Maus formulierte dann die Volkssouveränität seit den 1980er Jahren mit Kant gegen Schmitt neu. Dabei folgte sie weder dem Rechts- noch dem LinksSchmittianismus, lehnte sie doch die Disjunktion von Liberalismus und Demokratie ab, indem sie Volkssouveränität gleichermaßen als basisde‐ mokratische und repräsentativdemokratische Funktion verstand. Sie nahm eine neue Verhältnisbestimmung auf hohem Niveau vor und kritisierte die Relativierung und Politisierung, Materialisierung und Substantialisierung „formalen Rechts“ als nachhaltige Anfälligkeit der „bürgerlichen Rechts‐ theorie“ für den „Faschismus“. Maus nahm damit auch ältere Fragen nach dem Untergang Weimars im Feld der Rechtswissenschaftsgeschichte wieder auf und ergänzte sie um eine sozialwissenschaftliche Perspektive jenseits der „sozialen Funktion“ und Wirkungsgeschichte Schmitts. Sie richtete ihr Interesse dabei auf in‐ terdisziplinäre Aspekte und metajuristische Voraussetzungen von Schmitts Werk. Sozialwissenschaftlich interessierte sie sich für die „soziale Funkti‐ on und aktuelle Wirkung Carl Schmitts“ und veröffentlichte hier ab 1969 auch eine ganze Reihe eindrucksvoller Aufsätze, die sie später in den Sammelband Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalis‐ mus aufnahm. Maus stellte sich mit ihrem Werk in die „Frankfurter“ Tra‐ dition und Linie von Hermann Heller, Otto Kirchheimer und Franz Neu‐ mann bis Jürgen Habermas. Habermas dankt sie heute [2011] noch empha‐ tisch für die akademische Förderung durch die Aufnahme in die „AG Rechtstheorie“. Habermas gelangte auf seinem weiteren akademischen Weg vom Strukturwandel der Öffentlichkeit über die Theorie des kommu‐ nikativen Handelns aber eigentlich erst mit Faktizität und Geltung zu einer Verhältnisbestimmung des „internen“ Konnexes von Grundrechten und Volkssouveränität. Von der Auseinandersetzung mit Schmitt ausgehend fand Maus dagegen schon früh ihr zentrales demokratietheoretisches The‐ ma. Es war gleichermaßen eine rechtstheoretische Vertiefung der Grün‐ dungsprobleme der bundesdeutschen Demokratiewissenschaft – „Auflö‐ sung der Weimarer Republik“ (Karl-Dietrich Bracher) und repräsentatives Demokratieverständnis – wie eine liberale Wendung und Selbstkritik der „1968er“. Im Vorwort der Sammlung Über Volkssouveränität spricht sie nun von einer „normativen Theorie der Volkssouveränität“ und einem
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„Beitrag zu einer Politikwissenschaft, die nach 1945 als ‚Demokratiewis‐ senschaft’ gegründet wurde“.204 Die demokratietheoretische Fokussierung der Schmitt-Kritik war in der – heute kaum noch überschaubaren – Geschichte der Schmitt-Forschung und Schmitt-Kritik nach der rechtsphilosophischen und problemgeschicht‐ lichen Gesamtkritik von Hasso Hofmann ein zweiter großer theoretischer Wurf. Anders als Hofmann konzentrierte Maus sich dabei nicht auf den „menschenrechtlichen Einwand“, sondern auf die Verhältnisbestimmung von Liberalismus und Demokratie. Dieses Thema wurde dann auch in den Debatten205 um das Erbe Carl Schmitts in der „Frankfurter Schule“ bis auf Habermas zentral und ist für eine kritische Diskussion seiner Aktualität bis heute von großer Bedeutung. Als Jurist formulierte Hofmann seine Kritik (mit Karl Löwith) in rechtsphilosophischer Absicht. Als Politikwis‐ senschaftlerin verteidigte Maus den juristischen Positivismus schon früh gegen die – oft kritisierte – „Legende“ seiner Verantwortlichkeit für den Untergang Weimars und nahm so den Weimarer „Richtungsstreit“ um „formales“ und „materiales“, „liberales“ und „demokratisches“ Rechts‐ denken neu auf. Dabei begab sich Maus während der Arbeit an ihrer Dis‐ sertation gleichsam in die Höhle des Löwen, des gewieften Menschenfi‐ schers, indem sie, anders als Hasso Hofmann, sich auch auf eine (von Schmitt ausgehende) Korrespondenz einließ. Schmitt versuchte die Rezeption seines Werkes immer wieder intensiv zu steuern. Seine Schüler setzte er seit den Bonner Jahren auf die publizis‐ tische Begleitung und Propagierung seiner „Positionen und Begriffe“ an. Schon die frühen bedeutenden Auseinandersetzungen von Ernst Rudolf Huber, Otto Kirchheimer und Leo Strauss entstanden unter seiner diskre‐ ten Mitwirkung. Seit 1933 wurde das „Gespräch“ freilich unter nationalso‐ zialistischen Vorzeichen zu einem „Dialog unter Abwesenden“. Jacob
204 Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität, Frankfurt 2011, 21 205 Wichtig waren damals u. a. Ellen Kennedy, Carl Schmitt und die „Frankfurter Schule“. Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Ge‐ sellschaft 12 (1986), 380-419; Alfons Söllner, Jenseits von Carl Schmitt. Wissen‐ schaftsgeschichtliche Richtigstellungen, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), 502-529; Jürgen Habermas, Der Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf englisch, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt 1987, 103-114; Ulrich K. Preuß, Carl Schmitt und die Frankfurter Schule, in: Geschichte und Ge‐ sellschaft 13 (1987), 400-418; Martin Jay, Les extrêmes ne se touchent pas. Eine Erwiderung auf Ellen Kennedy, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), 542-558.
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Klein schrieb am 21. Oktober 1933 schon an Leo Strauss: „Was C. S. an‐ geht, so ist zu sagen, dass er in unverzeihlicher Weise mitmacht. In der of‐ fiziellen Stellung, in der er sich jetzt befindet, kann er wohl nicht gut ant‐ worten ... Ich würde ihm auch auf keinen Fall mehr schreiben.“206 Nach 1945 wurde diese politische Sicht praktisch differenziert. Viele beließen den Kontakt auf der Ebene brieflicher Korrespondenz oder des unverbind‐ lichen Austausches von Publikationen. Selbst enge Weggefährten wie Ru‐ dolf Smend, Ernst Rudolf Huber oder Ernst Friesenhahn begegneten Schmitt nach 1945 niemals wieder persönlich. Jüngere Autoren wie Wil‐ helm Hennis oder Hasso Hofmann vermieden die Begegnung bei periphe‐ rer Korrespondenz. Hofmann beispielsweise wollte sich nicht in die Aura des Charismatikers begeben, um sich seine Unabhängigkeit zu bewahren. In dieser Lage wurden alle Signale zu einem Politikum, das „Plettenberg“ genau beobachtete und verstand. Die freund-feindliche Sondierung des Rezeptionsfeldes unterschied hier sorgfältig zwischen mehr oder weniger zufälligen und gelegentlichen Berührungen und der intentionalen Ankunft und Referenz im „System Plettenberg“. Wer sich nach Plettenberg begab, traf damit im Sinne des Begriffs des Politischen in den 1960er Jahren noch eine „Entscheidung“ von karrieretaktischer Tragweite. Es gab hier gleich‐ sam verschiedene Kreise der Hölle: Man zitierte, schrieb oder besuchte Schmitt nicht. Schmitt nahm sich deshalb bekanntlich auch immer wieder als „outlaw“ wahr. Erst in den 1970er Jahren lockerten sich diese Tabus. Die lose Korrespondenz zwischen Schmitt207 und Maus reicht von 1969 bis 1983. Schmitt eröffnet sie, bereits über 80jährig, indem er am 4. Au‐ gust 1969 auf einen frühen Aufsatz208 mit einem Widmungsexemplar der gerade erschienenen zweiten Auflage von Gesetz und Urteil reagiert. Die‐ se Neuauflage war damals auch eine Stellungnahme zu Hofmanns Legiti‐ mität gegen Legalität, hatte Hofmann doch seine Problemgeschichte beim
206 Klein am 21. Oktober 1933 an Leo Strauss, in: Leo Strauss, Gesammelte Schrif‐ ten Bd. III, Stuttgart 2001, 481 207 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Abteilung Rheinland. Standort Düsseldorf [jetzt: Duisburg]. Nachlass Carl Schmitt. Die Briefe von Maus an Schmitt befin‐ den sich dort im Original (RW 265-9279/95), die Briefe von Schmitt an Maus in Kopien (Sammlung Tommissen RW 579-496 und RWN 260-416); Maus übergab ihre Briefe in Kopie schon am 15. November 1986 an Piet Tommissen und stellte sie damit der Forschung zur Verfügung. 208 Ingeborg Maus, Zur ‚Zäsur’ von 1933 in der Theorie Carl Schmitts, in: Kritische Justiz 2 (1969), 113-124; Schmitt bezieht sich auf eine Passage „S. 120 Mitte des Aufsatzes“.
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Frühwerk angesetzt und den rechtsphilosophischen Problemgehalt des Werkes unterstrichen. Schmitt schickt nun sein Buch „An Frau Ingeborg Maus zu einer die Freirechtsbewegung betreffenden Stelle ihres ,Zäsur’Aufsatzes 1969, zwecks genauerer Präzisierung der chronologischen Ver‐ ortung ,schon 1914’“. Maus zeigt sich „überrascht“ (31. August 1969; RW 265-9279) und versichert umgehend, sie sähe „in der Kritik an dem, wofür Sie einstehen“, ihre zentrale Aufgabe. Sogleich bezieht sie frontale Gegen‐ position. Schmitt schickt daraufhin (10. September 1969) „für Ihre Arbeit über ,verfassunggebende Gewalt’ alle guten Wünsche“ und verweist „die Lehre vom pouvoir constituant des Abbé’ Sieyès“ auf die Perspektive po‐ litischer Theologie: „Für das 18. Jahrhundert ist die Legalität die höchste Form der Legitimität, und der législateur produziert sie wie der Gott als potestas constituens die potestates constitutae, oder die natura naturans die natura naturata (das establishment).“ Maus antwortet mit Bemerkungen zu Walter Benjamin, Max Adler und einigen „Übereinstimmungen“ zwischen der Linken und Rechten: „Der Aktionismus der neuen Linken wendet sich ganz offensichtlich ganz analog der Theorie des pouvoir constituant gegen alles Erstarrte, ‚Geronnene’ der Gesellschaft und nähert sich damit einer Lebensphilosophie“ (30. November 1969; RW 265-9280). „Viele Studen‐ ten, die mit Begriffen Otto Kirchheimers und [Johannes] Agnolis zur Par‐ lamentarismuskritik so geläufig operieren, sehen die Entsprechungen zu Ihrer Analyse von 1923.“ Maus nimmt hier bereits Distanz zur aktionisti‐ schen Linken. Es folgt ein halbes Jahr Pause im Briefwechsel. Erneut ist es Schmitt, der den Kontakt wieder aufnimmt. Er ergreift den Anlass des Erscheinens einer Monographie (25. Juni 1970),209 um nach dem Stand der Arbeit zu fragen. Maus dankt für die freundliche Nachfrage (12. Juli 1970; RW 265-9281); Schmitt schickt daraufhin sein Gespräch über den Partisanen.210 Maus versteht das Gesprächsangebot, sieht kate‐ goriale Nähen zwischen der Theorie des Partisanen und der Theorie des pouvoir constituant und äußert endlich die von Schmitt nahegelegte „un‐ bescheidene Bitte“, „ein Gespräch mit Ihnen über Fragen Ihrer Theorie führen zu dürfen“ (2. August 1970; RW 265-9282). Schmitt antwortet um‐ gehend aus Spanien (14. August 1970), verweist auf seine bald erschei‐ nende Politische Theologie II und bekundet seine „Bereitschaft zu einem
209 George Schwab, The challenge of the exception. An introduction to the political ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, Berlin 1970 210 Carl Schmitt, Gespräch über den Partisanen, in: Joachim Schickel (Hrsg.) Gueril‐ leros, Partisanen. Theorie und Praxis, München 1970, 9-29
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Gespräch über das Thema pouvoir constituant“. In ihrer Antwort vom 19. September 1970 (RW 265-9283) kommt Maus nun dem ständigen Verweis auf „Theologie“ entgegen, indem sie eine „geheime Übereinstim‐ mung“ zwischen Schmitt und Benjamin erwägt; „Benjamins ,messianische Stillstellung’ der planen Entwicklung in der ,Jetztzeit’“ sei Schmitts Ent‐ scheidungsbegriff durchaus vergleichbar. Wo Schmitt nun aber einen Ter‐ minvorschlag erwartet, folgt vorerst nichts. Maus konkretisiert Schmitts Gesprächsangebot nicht, scheut gleichsam Nägel mit Köpfen zu machen. Am 31. Dezember 1970 (RW 265-9284) schreibt sie deshalb auch in eige‐ ner Initiative leicht entschuldigend. Inzwischen aber hat sich Schmitts Lage verändert: Ein leichter Herzinfarkt warf ihn zurück; Schmitt zieht sein Gesprächsangebot zurück, wohl auch verärgert darüber, dass Maus sein Angebot nicht sogleich ergriff. Der geplante Besuch erfolgt auch spä‐ ter nicht mehr und beide begegnen einander niemals. Schmitt erkundigt sich jedoch bald (9. Januar 1971) nach dem Fortgang der Promotion und hofft weiter auf eine politisch-theologische Fokussie‐ rung der verfassunggebenden Gewalt. Er will in Richtung „Politische Theologie“ motivieren. Maus antwortet nun auf die Politische Theologie II direkter: „Den Anknüpfungspunkt für die Thematik meiner Untersuchung habe ich speziell darin gesehen, dass Ihre ‚Gründungstheorie’, i. e. S. Ihre Theorie des pouvoir constituant, zugleich eine politische Theologie der Revolution und der Gegenrevolution beinhaltet.“
Sie greift die „Bereitschaft zu einem Gespräch“ nun noch einmal auf (12. Januar 1971; RW 265-9285). In diesen Tagen kommt es aber zu einem ernsten Vorfall: Maus publiziert in der Zeitschrift Diskus211 eine Einleitung zum Abdruck des ersten Nürnberger Verhörs von Schmitt durch Robert Kempner,212 schickt den Text am 11. Februar und erklärt: „Gerade hier in Frankfurt/M. existiert ein großer Kreis Ihrer ,negativen Vereh‐ rer’, wie kürzlich formuliert wurde. Ich würde mich sehr freuen, wenn mein kleiner Versuch vielleicht ein wenig Ihre negative Zustimmung finden könn‐ te.“ (11. Februar 1971; RW 265-9287)
211 Ingeborg Maus, Existierten zwei Nationalsozialismen?, Wiederabdruck in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie um Industriekapitalismus, München 1986, 83-92 212 Dazu vgl. Helmut Quaritsch (Hrsg.), Carl Schmitt, Antworten in Nürnberg, Ber‐ lin 2000
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Schmitt ist verärgert und erklärt seine Diskursbedingungen: „Aber ich möchte das Gespräch über pouvoir constituant nicht in ein Gespräch über meine Methusalemische Vergangenheit ausufern lassen“, schreibt er (15. Februar 1971) und ergänzt: „Eben lese ich Seite 121 / 123 des Buches von B. Willms213 über ,Die politi‐ schen Ideen von Hobbes bis Ho Chi Minh’ (Reihe Kohlhammer 1971), wo ich – horribile dictu- Arm in Arm mit Adorno als Vertreter von Glanz und Elend des spätbürgerlichen, ins Ästhetische escapierende Subjektseins figu‐ riere. Adorno natürlich mehr Glanz, ich mehr das ganze Elend.“ (15. Februar 1971)
Ähnliches fürchtet Schmitt nun von Maus und verortet sie in der Linie von Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder. Maus entschuldigt sich umge‐ hend dafür, dass die „Fragen in dem Vernehmungsprotokoll Ihrer Theorie absolut inadäquat“ waren.214 Es folgt erneut eine längere Korrespondenz‐ pause. Maus schickt dann ihre fertige Dissertation mit Schreiben vom 15. Juli 1971 (RW 265-9288) und dankt für „Ihre Ermutigungen während des Zu‐ standekommens meiner Arbeit“. Schmitt bestätigt den Eingang der Disser‐ tation über Die Lehre vom pouvoir constituant, gratuliert auch als „Opfer Ihrer Vivisektionen“ zum Abschluss215 und wünscht eine „schnelle und er‐ folgreiche Fahrt durch die Stromschnellen und Untiefen akademischer Prozeduren“. Das Typoskript arbeitet er damals intensiv durch (RW 265-27183). Den Haupttitel Zur Lehre vom pouvoir constituant ergänzt er: „oder: der motorisierte Verfassungsplan“. Maus sendet dann, auf Schmitts Bitte hin, noch ein zweites Typoskript an George Schwab, weshalb Schmitt seine nähere Stellungnahme zur Dissertation (23. August 1971) in die dialogische Form eines Berichtes von einer Diskussion mit Schwab über die Arbeit kleidet. Er betont gegen Maus, „dass Hindenburg kein Louis Napoleon, sondern nur ein [ziemlich ohnmächtiger] Mac Mahon
213 Bernard Willms, Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, Stuttgart 1971 214 Das Schreiben vom 16. Februar 1971 (RW 265-9286) ist irrtümlich auf den 16. Januar datiert. 215 Die Abgabefassung lautete anders als die spätere Druckfassung: Die Lehre vom pouvoir constituant. Eine politologische Untersuchung zur bürgerlichen Rechtsund Verfassungstheorie im organisierten Kapitalismus unter besonderer Berück‐ sichtigung der Theorie Carl Schmitts, Diss. Frankfurt 1971
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war“.216 Detailliert geht er auf die Arbeit und ihre mögliche Verbreitung ein. Maus schickt einen Aufsatz Aspekte des Rechtspositivismus in der entwickelten Industriegesellschaft nach und berichtet von akademischen Etablierungskämpfen. Am 24. Januar 1972 gratuliert Schmitt zum „glän‐ zenden Ergebnis“ der Promotion und wünscht die Veröffentlichung der Arbeit. Er schreibt: „Im Augenblick bewegt mich die Erinnerung an die Promotion Otto Kirchhei‐ mers in Bonn (25. Februar 1928) und an die damals empfundene Freude, auf einen Widerspruch zu stossen und ihn zu verstehen, obwohl er sich dessen ge‐ wiss war, dass er mich besser verstand als ich mich selbst.“
Schmitts Freude war damals, 1928, zwar politisch nicht ganz ungetrübt, der Vergleich mit Kirchheimer ist aber als Ritterschlag gemeint. Maus wird brieflich gleichsam noch einmal promoviert. Damit verstummt die Korrespondenz für längere Zeit. Maus schickt im März 1975 eine neuere Studie und berichtet von Drucklegungsfragen.217 In einem „Postskriptum“ erklärt sie: „Die Verwechselung persönlicher Polemik mit theoretischer Auseinander‐ setzung, die für die Sekundärliteratur zu Ihrem Werk weithin charakteristisch war und mir hoffentlich nicht unterlaufen ist, kann meines Erachtens nur da‐ durch überwunden werden, dass die Kontinuität sowohl Ihres Denkens wie der bürgerlichen Rechtstheorie insgesamt herausgearbeitet wird [...] In diesem Sinn habe ich Ihre eigenen Ausführungen zum Problem des ,Sündenbocks’ stets vertreten“ (16. März 1975; RW 265-9292).
Erst im September 1975 antwortet Schmitt darauf; er ärgert sich, „als letz‐ ter übrig gebliebener Sündenbock, als Hazarel, dienen zu müssen“, und meint: „Mich befällt eine Art seniler Nostalgie, wenn ich mich der vielen Gespräche mit Kirchheimer, Karl Korsch, und vieler anderer aus dem Herbst 1932 erin‐ nere. Sie selber, sehr geehrte Frau Ingeborg Maus, braucht das nicht mehr zu interessieren.“
216 Dazu Schmitts Eintrag im Tagebuch vom 27. Januar 1933: „Der Hindenburg-My‐ thos ist zu Ende. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück, Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden. MacMahon.“ Wolfgang Schuller kommentiert: „Graf MacMahon (1808-1893), Marschall von Frankreich, 1873-1879 Präsident der Republik, scheiterte beim Versuch der Wiederherstel‐ lung der Monarchie“ (Carl Schmitt, Tagebücher 1930-1934, Berlin 2010, 256). 217 Dazu sind antwortende Briefentwürfe Schmitts erhalten: RW 265-13267/8
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Ende Juni 1976 (RW 265-9293) kann Maus endlich die Druckfassung ihrer Dissertation als „eine kleine Welle in der noch stetig anwachsenden Flut der Carl Schmitt-Literatur“ schicken. Schmitt dankt für das „kostbare Geschenk“ (Besitzvermerk vom 2. Juli 1976) und stellt einmal mehr klar: „Ich habe Hitler nicht ermächtigt, und wenn ich vor und nach 1933 seine Le‐ gitimierung oder sogar Legalisierung von Weimar her in Frage gestellt habe, so hat keiner der Ermächtiger von 1933 das Recht, sich auf meine Kosten risi‐ kolos Alibis zu verschaffen.“
Diese Formulierung ist ziemlich unsachlich, war Schmitt doch unbestreit‐ bar ein intellektueller „Ermächtiger“ der „legalen Revolution“. Schmitt nimmt seinen Unmut aber sogleich selbst wieder zurück, wenn er schreibt: „Die Aufnahme des Namens ‚Faschismus’ in den Titel verdeutlicht die In‐ tentionen der Autorin. Das ist gut so.“Dem befreundeten Armin Mohler gegenüber meint er damals allerdings: „Ein Pferd aus dem Stall Carlo Schmid-Graf Krockow (Frankfurt) ist kavalle‐ ristisch schwer gerüstet gegen meine bereits 20 Mal endgültig vernichtete Un‐ person zum 21. Male angetreten (Ingeborg Maus: Bürgerliche Rechtstheorie, etc. Verlag Wilhelm Fink in München); gleichzeitig erscheint ein neuer OttoKirchheimer-Band bei Suhrkamp (Edition S. Nr. 821), mit alten Sachen, dar‐ unter auch ein Auszug aus der Dissertation abgedruckt, mit der Kirchheimer in Bonn mit mir als Referenten 1928 promovieren konnte; man sieht: der Li‐ beralismus ist Sache der Starken und nicht der Schwachen“.218
Schmitt reklamiert hier die Liberalität für sich. Bald nennt er Maus eine „wackere Apo-Kämpferin“.219 Seine personalisierende Lesart ist leicht un‐ gerecht, trennt Maus doch deutlich zwischen Werk und Person und enthält sich jeder persönlich diffamierenden und moralisierenden Kritik. Schmitts Handexemplar enthält Hunderte teils ausführliche Randbemerkungen. Vie‐ le sind sehr negativ. „,Konsequente Demokratie’ im Sinne des Kommunis‐ mus und der DDR“, notiert er beispielsweise; „Hilferding kommt nicht vor; ist das noch ,Politik-Wissenschaft’?“220 Die genauere Analyse der Randbemerkungen wäre eine Magisterarbeit wert.
218 Schmitt am 16. Juli 1976 an Armin Mohler, in: ders. (Hg.), Carl Schmitt, Brief‐ wechsel mit einem seiner Schüler, Berlin 1995, 410 219 Schmitt am 30. Dezember 1977 an Hans-Dietrich Sander, in: Erik Lehnert / Gün‐ ter Maschke (Hg.), Carl Schmitt-Hans-Dietrich Sander, Werkstatt-Discorsi. Brief‐ wechsel 1967-1981, Schnellroda 2008, 422 220 Handexemplar RW 265-24974
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Teil V: Pioniere der älteren Forschung
Erneut folgt eine längere Korrespondenzpause. Am 25. April 1981 (RW 265- 9294) schickt Maus „nach längerer Unterbrechung eines Gedanken‐ austauschs das umstrittene Buch noch einmal“ unter Verweis auf ihr neues Vorwort.221 Auch diese zweite Auflage hat Schmitt mit zahlreichen Rand‐ bemerkungen glossiert (RW 265-28030). Er antwortet am 4. Mai 1981: „Ich vergleiche nicht die Opfer; ich vergleiche nur die Richter“.222 Er liest weitere Publikationen und schickt im September 1981, 93jährig, leicht zittrige „Glückwünsche zum Ordinariat“.223 Der scharfe Spott ist dabei noch nicht erloschen. Schmitt schreibt: „Sie nennen zwei Mentoren Ihrer wissenschaftlichen Bildung: Carlo Schmid und Graf v. Krockow.224 Zu Carlo Schmid kann ich nur sagen: à la bonheur; dazu kann man nur gratu‐ lieren. An dem Grafen aber sind Hopfen und Malz – i. e. Thomas Hobbes und Karl Marcks [sic!] – verloren.“ Schmitt las und glossierte Krockows Göttinger Dissertation Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger225 bis ins hohe Alter hinein wie‐ derholt. Auf das Deckblatt notierte er: „Nie wieder Entscheidung“! Den Untertitel ergänzte er: eine „christianisch-krokodilische“ Untersuchung. Krockows Form der Kritik empfand er als unfair. Der Christ entpuppte sich ihm als Krokodil. Die theoriegeleitete Kritik von Maus dagegen fand er sachlich gewichtig und interessant. Maus war mit ihrer systematischen Rezeption von Hobbes und Marx auch ganz unabhängig von Krockow. Ihre theoriegeschichtliche Lesart steht näher zu Schmitt und Habermas als zu Schmid und Krockow. Noch einmal sendet Maus einen Beitrag aus der Festschrift für Iring Fetscher (12. Mai 1983; RW 265-9295). Schmitt ant‐ wortet im Sommer 1983 mit einem Widmungsexemplar von Land und Meer. Damals verstummt der 95jährige ganz. Bis zuletzt hielt er also mit seiner scharfen Kritikerin respektvolle Distanz und freundlichen Kontakt.
221 Ingeborg Maus, Vorwort zur zweiten Auflage, in: dies., Bürgerliche Rechtstheo‐ rie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, 2. Aufl. München 1980, IX 222 Briefentwurf vom 4. Mai 1981 (RW 265-13269) 223 Maus erhielt damals allerdings kein Ordinariat. 224 Carlo Schmid (1896-1979), langjähriger SPD-Spitzenpolitiker, MdB und Minis‐ ter, seit 1953 Prof. für Politikwissenschaft in Frankfurt; Christian Graf v. Krockow (1927-2002), 1954 Diss. Göttingen, seit 1961 Prof. für Politikwissen‐ schaft, seit 1968 in Frankfurt 225 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958 (Handexemplar RW 265-28050)
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V. 2. Ingeborg Maus in der Korrespondenz mit Schmitt (2013)
Für die Geschichte der Schmitt-Forschung ist diese Korrespondenz ein bemerkenswertes Zeugnis. Es gibt kein deutlicheres Dokument von Schmitts theoretischem Interesse an der späten „linken“ Kritik jenseits von Tagespolitik und Polemik. In der Korrespondenz wirft er seine Stichworte „Politische Theologie“ und „Walter Benjamin“ zwar in das Ringen um die Tendenz der Arbeit. Maus lässt sich dadurch aber nicht irritieren. Keine Spur weicht sie vom Rahmen des pouvoir constituant in „Theologie“ aus. Sie folgt nicht der zentralen Formulierung der Verfassungslehre und dem Verweis auf Spinoza: „Die Metaphysik der potestas constituens als das Analogon zur natura naturata gehört in die Lehre von der politischen Theologie.“226 Zu sehr missfielen ihr die theologischen Mucken feingeisti‐ ger Schmitt-Rezeptionen im Umkreis des Benjamin-Kultes. Heute besetzt Agamben227 dieses Terrain des spekulativen Links-Schmittismus. Neue Ansätze zu einer „Politischen Theologie der Volkssouveränität“ werden mit und gegen Schmitt entwickelt.228 Doch gerade die klare Linie und das scharfe Theorieprofil schätzte Schmitt an Maus. Es ermöglichte auch eine scharfe Trennung zwischen Person und Werk, die den persönlichen Kon‐ takt bei schärfstem politischem Gegensatz erlaubte. Keine andere freundfeindliche Korrespondenz war, trotz der Krise vom Februar 1971, derart von persönlichen und politischen Nahkampf-Querelen entlastet. Dabei spielten der große Altersunterschied – von einem halben Jahrhundert! – und der gender-Aspekt natürlich eine Rolle. Mit keiner anderen Wissen‐ schaftlerin korrespondierte Schmitt so intensiv, keinem anderen Kritiker begegnete er so freundlich auf der Ebene eines reinen Theoriedisputs.
226 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, 80 227 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt 1984 228 Dazu vgl. Paul W. Kahn, Political Theology. Four New Chapters on the Concept of Sovereignty, New York 2011; dazu Bernd Rebhandl, Fleischliche Genüsse. Neue Bücher aus dem Feld der Politischen Theologie, Merkur 66 (2012), 237-242
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Teil VI: Der neue Quellenstand
VI. A: Primärschriften VI. A. 1. Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995229 Zehn Jahre nach Schmitts Tod liegt nach dem Nachkriegs-Tagebuch Glos‐ sarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951 sowie dem Rechtsgutachten Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges nun eine wei‐ tere wichtige Edition vor, die der Forschung Akzente setzt. Die Sammlung enthält 39 – bis auf eine Ausnahme – von Schmitt selbst teils entlegen ver‐ öffentlichte, zumeist kürzere Texte, die vom Herausgeber sorgfältig und kenntnisreich mit Anmerkungen und Anhängen versehen wurden. Schmitt hatte 1958 seine Verfassungsrechtlichen Aufsätze aus den Jahren 1924-1954 in ähnlicher Weise glossiert und dabei sein verfassungsrechtli‐ ches Werk als Antwort auf „Ausnahmezustand und Bürgerkrieg“ in der Suche nach einem „Hüter der Verfassung“ präsentiert. Er begriff sich als Rechtswissenschaftler am „Ende der Epoche der Staatlichkeit“. Daran knüpft Maschke an. Er begreift Schmitt, im Vorwort angedeutet, primär als einen „Etatisten“, der die Verfassung unter dem Problem der Diktatur erfuhr, dies staatstheoretisch im Rückgang auf die neuzeitlichen Theoreti‐ ker der Politik reflektierte und während des Zweiten Weltkrieges eine Ent‐ wicklung zu supranationalen Ordnungen konstatierte. Diese suchte er nach 1945 noch als Rechtsgeschehen zu fassen. Maschke markiert diese Sicht durch die Gliederung: I. Verfassung und Diktatur; II. Politik und Idee; III. Großraum und Völkerrecht; IV. Um den Nomos der Erde. Besonders wichtig erscheinen mir die Kontextualisierung der für Maschke zentralen Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung einerseits und der Abdruck von Nachkriegsdiagnosen der „Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg“ andererseits. Über die Textauswahl kann man im einzelnen immer streiten. So vermisse ich besonders Schmitts Broschüre
229 In: Juristen-Zeitung 51 (1996), 246
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VI. A. 1. Maschke-Edition 1995
Hugo Preuß sowie seine wirkmächtige Tyrannei der Werte, seine wichtigs‐ te rechtstheoretische Kritik der Bundesrepublik. Viel ist es nicht mehr, was bei der intensiven Erschließung der letzten Jahre noch die Wiederveröf‐ fentlichung lohnt. Warum dann nicht gleich aufs Ganze gehen? Maschkes Auswahlprinzip ist jedoch legitim und klar. Vom Spätwerk her wird sicht‐ bar, inwieweit Schmitt die „Frage eines neuen Nomos der Erde“, mit der sein Nomos der Erde 1950 schloss, noch diagnostisch beantwortete. Schmitts spekulatives Bestreben, die geschichtliche Entwicklung insge‐ samt als Rechtsgeschehen aufzufassen, ist dagegen nicht umfassend doku‐ mentiert und kommentiert, weil Maschke Schmitt primär als politischen Denker begreift, als Analytiker und Diagnostiker der Verfassungsentwick‐ lung des Jahrhunderts, und nicht als normativ fragenden Rechtstheoretiker. Der Nomos-Begriff ist aber nicht nur diagnostisch, sondern auch normativ gemeint. Im Vorwort schreibt Maschke: „Die Größe Schmitts liegt nicht in seinen Antworten, die oft der Überzeu‐ gungskraft entbehren, – sie liegt in seinen Fragen und Fragestellungen, hinter denen auch dann nicht zurückgegangen werden kann, wenn wir die Antwor‐ ten nicht finden“ (XXVIII).
Dem ist zuzustimmen, dahingestellt, ob Schmitts Fragen noch die unseren sind. Maschke hat die Konsequenz gezogen, mehr die Fragen zu doku‐ mentieren als die Antworten, und manche Antwort primär als Frage aufzu‐ fassen. Den politischen Streit um Schmitt, dem er sich sonst in „Apologie und Polemik“230 als sog. Rechts-Schmittianer gerne verschreibt, sucht er dadurch etwas zu entschärfen. Sachlich akzentuiert die Sammlung die Ein‐ heit von Schmitts Werk als einer Krisenanalyse der Lage der Staatlichkeit im 20. Jahrhundert. Damit rückt das Spätwerk und dessen Rechtsbegriff stärker in den Zusammenhang des Werkes und den Blick der Forschung. Diese dürfte heute [1996] für einen Rechtswissenschaftler singulär sein. Allein beim Hausverlag Duncker & Humblot sind 19 Schriften Schmitts lieferbar. Dazu kommen weitere Editionen und eine Flut von Sekundärlite‐ ratur. Dennoch wird die Forschung Maschkes Edition begrüßen; sie mar‐ kiert das aktuelle Niveau historisch-politischer Erschließung des Werkes und akzentuiert die „etatistische“ Deutungsperspektive.
230 Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, Wien 1987
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Teil VI: Der neue Quellenstand
VI. A. 2. Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus. Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978, hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 2005231 Aus den frühen Tagebüchern lernen wir gerade einen „anderen“ Carl Schmitt kennen, der, von den „Ideen von 1914“ nahezu unberührt, in sei‐ nem Privatleben zu versinken scheint und den „preußischen Militarismus“ hasst: der seinen Auftrag zu einer Rechtfertigung extensiver Ausnahmebe‐ fugnisse im Belagerungszustand geradezu höhnisch quittiert: „Ausgerech‐ net ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat“. Gerade entdecken wir also einen anderen Schmitt, der privat nahezu alles dementiert, was er öffentlich vertritt. Da erinnert uns Günter Maschke wieder an den späteren glühenden Nationalisten und Gegner von „Versailles“ und „Genf“. Er rea‐ lisiert damit in eigener Weise publizistische Überlegungen Schmitts. Im unlängst (2004) erschienenen Briefwechsel mit dem spanischen Ju‐ risten Alvaro d’Ors, dessen Andenken Maschke die neue Edition widmet, schreibt Schmitt am 31. März 1958: „Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten sehr viel Arbeit, weil ich eine Sammlung von 21 verfassungsrechtlichen Aufsätzen aus den Jahren 1924-54 edieren und mit ,Bemerkungen’ versehen musste.“
Weiter heißt es: „Der Verleger [...] will das Buch im Mai veröffentlichen und dann noch einen Band völkerrechtlicher und einen 3. Band rechtsphilosophischer Aufsätze fol‐ gen lassen, aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft haben werde, noch einmal die große Mühe einer solchen Selbst-Edition auf mich zu nehmen“.232
Maschke realisierte solche Überlegungen in anderer Zusammenstellung. Dabei ergänzte er Schmitts Texte um überaus kundige Anmerkungen und bibliographische Angaben insbesondere zum zeitgenössischen Kontext und zur neueren Diskussion. Seine Sammlung Staat, Großraum, Nomos präsentierte 1995 „Arbeiten aus den Jahren 1916 bis 1969“ mit der inter‐ pretativen Absicht, Schmitt als einen politischen Denker vorzustellen, der das „Ende der Epoche der Staatlichkeit“ sah und die aktuellen Tendenzen
231 In: Politische Vierteljahresschrift 47 (2006), 317-319; längere Fassung in: hsoz‐ kult vom 24. Mai 2005 232 Carl Schmitt und Alvaro d’Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004, 185
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VI. A. 2. Maschke-Edition 2005
zu suprastaatlichen Großraumbildungen unter dem Grundbegriff des „Nomos“ noch als Rechtsgeschehen zu verstehen suchte. Im weiteren Sin‐ ne realisierte er damit Schmitts rechtsphilosophisches Vorhaben. Der dritte Schritt des alten Vorhabens liegt nun mit den Arbeiten zum Völkerrecht und zur Internationalen Politik vor. Nie und nimmer hätte Schmitt seinen Band nach 1945 allerdings unter der polemischen Formel eines Artikels von 1933233 erscheinen lassen. Der waghalsige Titel deutet schon an: Schmitts gewiss nicht unpolemische Texte gerieten hier in die Hände eines dogmatischen Rechtsauslegers. Maschke sieht die gegenwärtige Literatur „allzu häufig der political cor‐ rectness verfallen“ (XIX) und bemängelt neben der „Ent-Historisierung“ und „Ent-Konkretisierung“ heute vor allem die „Ent-Politisierung“ Schmitts. Sie zeige sich insbesondere daran, dass die fundamentale Bedeu‐ tung der völkerrechtlichen Schriften und die politische Fundamentalerfah‐ rung des „Diktats“ von Versailles geradezu systematisch übersehen werde. Maschke nennt „Versailles“ die „‚Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts’“ (XXVII) und bietet Schmitt heute im „Weltbürgerkrieg“ gegen die USA auf. Diese Stoßrichtung wird vielen Lesern nicht gefallen. Grundsätzlich ist es aber wohl richtig, dass es eine solche entpolitisierende Rezeptions‐ tendenz gibt und die Diskussion der völkerrechtlichen Schriften sich sehr auf die „Großraumlehre“ aus der nationalsozialistischen Zeit konzentriert hatte. Wenn Maschke Schmitts Politisierung von der Bonner Zeit und dem Kampf mit Versailles her datiert, stellt er einen „Nationalisten“ vor, der normative Konsequenzen für die Völkerrechtstheorie zog. Man kann Maschke gewiss nicht vorwerfen, er hätte seinen Standpunkt verschwiegen. Den „Betrug der Anonymität“, den Schmitt im Kampf mit Versailles so fürchtete, gibt es hier nicht. So lässt sich diese kommentierte Auswahl als pointierte Intervention willkommen heißen. Zweifellos ist ihre historisch-politische und wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisie‐ rung ein Riesenbeitrag. Maschke selbst streicht ihn gebührend heraus: „Wer unter den unverdrossen nachwachsenden Interpreten [Rezensent rechnet sich noch dazu], nur Gott der Herr hat sie gezählet [Tommissen vielleicht noch], beweist Interesse für die damaligen politischen Stellungnahmen Schmitts, wer kennt die damaligen Konflikte über das von Umerziehern ver‐ waltete Taschenbuchwissen hinaus, wer kämpft sich durch das Labyrinth des
233 Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus, in: Berliner Börsen-Zeitung vom 11. No‐ vember 1933, 19-20
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Teil VI: Der neue Quellenstand
deutschen, europäischen, US-amerikanischen Staats- und Völkerrechts, durch diese wahre macchia?“ (XXVI).
Die Forschung wird es Maschke danken, wenn sein politischer Tenor auch Schmitts Werk vereinfacht und manche Vorurteile bestätigt. Es ist nicht der Neuigkeitswert der Texte, sondern deren Auswahl und Kommentierung, die Maschkes Edition über den praktischen Nutzen hi‐ naus wertvoll macht. Die neue Sammlung bietet nicht weniger als zehn Texte, die schon (unkommentiert) in den Positionen und Begriffen enthal‐ ten waren und lieferbar sind. Dazu kommen partielle Überschneidungen: So brachten die Positionen und Begriffe die wichtige Rede über Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik sowie die Erstfassung des Begriffs des Politischen nur im Teilabdruck. Andere Texte sind kaum be‐ kannte Varianten oder Kompilate, teils Rückübersetzungen. Quantitative Herzstücke der neuen Edition sind Die Kernfrage des Völkerbundes, die wenig bekannte Programmschrift Nationalsozialismus und Völkerrecht von 1934, die Rezensionsabhandlung Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff sowie das pseudonym verfasste, weitgehend unbekannte Re‐ petitorium Völkerrecht. Das halbe Quantum der Texte, die die neue Editi‐ on bietet, ist also heute in anderer, von Schmitt selbst autorisierter Form im selben Verlag greifbar. Man kauft nicht zuletzt Maschkes umfangrei‐ chen Kommentar und dessen interpretativen Anstoß ein. Eine Alternative wäre gewesen, sich ganz auf Schmitts Texte zu beschränken und den Kommentar getrennt zu veröffentlichen. Dann wäre die Edition aber nicht in der gleichen Weise eine Intervention gewesen. Und es gibt ja neue Texte: Die Broschüren Die Kernfrage des Völker‐ bundes (1926) und Nationalsozialismus und Völkerrecht (1934) waren bis‐ her noch nicht wieder aufgelegt. Einige Artikel gegen die Sowjetunion konnten 1940, während des Hitler-Stalin-Pakts, nicht in die Positionen und Begriffe aufgenommen werden. Der Völkerrechts-Kommentar von 1948/50, der auf die Nachkriegsentwicklung eingeht, war bisher fast unbe‐ kannt. Die späten Texte über Clausewitz als politischer Denker und Die legale Weltrevolution waren noch in keiner Sammlung enthalten. Der Leser absolviert einen didaktischen Grundkurs im Völkerrecht und Lehrgang im politischen Denken. Schmitt erklärt ganz grundsätzlich, wie es um das Völkerrecht und den Völkerbund steht und wie ersteres sich in seiner politischen „Substanz“ entwickelte und wandelte. Dabei wird er nicht müde, die Juridifizierung der Politik anzuprangern, das Völkerrecht als Herrschaftsinstrument und Mittel des „modernen Imperialismus“ zu entlarven und an das existentielle „Grundrecht“ Deutschlands auf „Gleich‐ 136
VI. A. 3. Schmitt 1910
berechtigung“ und „Selbstbestimmung“ zu erinnern. Die Intensität der Kritik macht klar, wie ernsthaft er sein Werk als Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles verstand und den Genfer Völ‐ kerbund als Mittel zur Sicherung der „Beute“ von „Versailles“ betrachtete. Seine politische Lesart des Rechts wurde in ihrer Konsequenz vielleicht nie so deutlich. Cantus firmus ist es, den Machthabern ihren Schleier des Rechts zu entreißen und den „Betrug der Anonymität“ vom „Unrecht der Fremdherrschaft“ zu scheiden. Grundmelodie ist die Bestätigung, dass Schmitts Kampf mit „Genf“ (und wohl auch „Weimar“) vom Kampf ge‐ gen „Versailles“ her zu verstehen ist. Insgesamt muss man sagen, dass die Sammlung keine sensationelle Er‐ weiterung des bekannten und zugänglichen Textkorpus bietet. Ihr Mark‐ stein im Verblüffungsweg der Publikationspolitik ist gerade die Wieder‐ entdeckung des „alten“ Schmitt, einer „manchmal überragende[n] Stimme in einem ausgedehnten Chor“ (XIX). Die Schlüsselbedeutung seines stän‐ digen „Kampfes“ mit Versailles und Genf rückt jetzt erst angemessen in den Blick der Forschung. Gewiss hätte eine Selbstedition Schmitts etwas andere Akzente gesetzt. Mehr noch als die frühere Sammlung Staat, Groß‐ raum, Nomos, die von den Texten lebte, ist die neue Edition aber eine im‐ ponierende Forschungsleistung und Intervention in die laufende Diskussi‐ on. VI. A. 3. Carl Schmitt, Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung. Zweite Auflage. Mit einem Anhang weiterer strafrechtlicher und früher rechtsphilosophischer Beiträge, Berlin 2017234 Carl Schmitt wird heute als Liberalismuskritiker und Theoretiker der Dik‐ tatur, Apologet des Weimarer Präsidialsystems und „Kronjurist“ des Na‐ tionalsozialismus weltweit diskutiert. Aber schon sein Frühwerk ist be‐ achtlich. Nicht weniger als sechs Monographien publizierte Schmitt bis 1916. Seiner akademischen Herkunft nach war er Strafrechtlicher. Sei‐ ne Qualifikationsarbeiten reichte er in Straßburg ein, wo er von 1916 bis Kriegsende auch als Privatdozent lehrte. Assistentenjahre hat er sich er‐ spart, dafür absolvierte er 1910 bis 1915 aber sein Referendariat und war
234 In: Juristen-Zeitung 72 (2017), 1101
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Teil VI: Der neue Quellenstand
also „Volljurist“. Im Juni 1910 hatte er noch vor seinem 22. Geburtstag Über Schuld und Schuldarten promoviert. Die Arbeit erschien im gleichen Jahr im Druck und ist nun erstmals wieder zusammen mit kleineren Früh‐ schriften zugänglich. Sie zeigt bereits den ganzen Scharfsinn des außeror‐ dentlichen Autors. Die ältere Schmitt-Forschung rekonstruierte das Werk seit Karl Löwith und Hasso Hofmann meist vom „Dezisionismus“ (personalistischen Ent‐ scheidungsdenken) her. Von der Frühschrift Gesetz und Urteil (1912) wur‐ de eine Brücke zur Diktaturtheorie und Souveränitätslehre gezogen. Im Rückgang auf die Dissertation steht jetzt dagegen plötzlich die „Schuld“ am Anfang des Werkes. Schmitt klammert aber alle metajuristischen und philosophischen Überlegungen aus der „terminologischen“ Verhältnisbe‐ stimmung von Schuld, Fahrlässigkeit und Vorsatz aus, gibt in rechtstheo‐ retischer Analyse nur eine „Nominaldefinition“ von Schuld und zielt dabei in extensiver und intensiver Rezeption der damaligen Diskussionslage auf eine grundsätzliche Revision der strafrechtlichen Begriffe. Er verwahrt sich bei seinen dichten und komplexen, syntaktisch und begrifflich an‐ spruchsvollen Ausführungen gegen den „Vorwurf einer hyperkritischen oder gar frivolen Silbenstecherei“ mit dem Hinweis darauf, „wie weitrei‐ chende Folgen eine ungenaue Terminologie hat“ (98). Er schrieb kein zweites Buch, das sich, dem Standard einer Qualifikationsschrift entspre‐ chend, derart auf die kritische Diskussion des Forschungsstandes einlässt und dabei die wilhelminischen Größen des Strafrechts - u.a. Franz v. Liszt, Gustav Radbruch und Karl Binding - scharf ablehnt bzw. präzisiert. Posi‐ tiv scheint Schmitt sich an keinen Autor eng anzulehnen. Nur die Straßburger Lehrer Fritz van Calker und Max Ernst Mayer sind zustim‐ mend rezipiert. Schmitt klammert alle philosophischen Letztbegriffe des Strafrechts wie „Charakterschuld“, Determinismus und Indeterminismus - „terminolo‐ gisch“ aus. Zwar definiert er die Schuld durchgängig als „bösen Willen“; er hält aber moralische oder gar religiöse Begriffe vom „Bösen“ aus der juridischen Definition heraus. Was objektiv „böse“ ist, übereignet er un‐ eingeschränkt der Definitionsmacht des staatlichen Gesetzes. Schmitt in‐ teressiert sich aber als Strafrechtler für die „Autonomie“ der Moral über‐ haupt nicht. Der letzte Satz seiner Dissertation lautet: „Die Frage nach der Schuld ist in jeder Hinsicht eine metagesetzliche.“ (137) Die Edition ergänzt die Wiederveröffentlichung der Dissertation um wenige kleine, fast unbekannte frühe Texte: zwei strafrechtliche, darunter die Antrittsrede des Straßburger Privatdozenten, sowie drei kleinere 138
VI. B. 1. Tagebücher 1912-1915 (2004)
rechtsphilosophische Texte, die die „etatistische“ Ausgangsstellung in ihren philosophischen Voraussetzungen verdeutlichen: Eine Miszelle be‐ steht im Umkreis der Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Be‐ deutung des Einzelnen gegenüber Schopenhauers individualistischem – geradezu hobbesianischem – Ansatz beim „Willen zum Leben“ oder der Selbstbehauptung auf dem Vorrang des Staates; eine Besprechung von Ju‐ lius Binder entlarvt die neuhegelianische Maske einer „positivistischen Rechtslehre“, insistiert dagegen auf dem Transzendentalismus und ist da‐ mit für Schmitts bleibende Distanz zum Neuhegelianismus der BinderSchule (Larenz) aufschlussreich; eine Besprechung von Hans Vaihingers Philosophie des Als-Ob schließlich betont nicht nur die juristische Bedeu‐ tung der „fiktionalistischen“ Methode, sondern warnt auch vor der Versu‐ chung, Fiktionen zu Dogmen zu erheben und etwa den „Willen des Geset‐ zes“ unkritisch aufzufassen. Hans Vaihinger erneuerte damals mit seiner Philosophie des Als-Ob Kant mit Nietzsche. Mit der Vaihinger-Rezeption ist Schmitts selbständige Stellung zwischen Nietzscheanismus, Neukantianismus und Neuhegelia‐ nismus bezeichnet. Schmitt bezog sich im Frühwerk wiederholt auf Vai‐ hinger. So adaptierte er ihn 1912 in den Bayreuther Blättern für den „Wahnmonolog“ des Hans Sachs.235 Die frühe Wagner-Rezeption mag für sein eisiges Schweigen über Nietzsche stehen, mit dem ihn vieles verband. Die vorliegende Edition ermöglicht einen guten Einstieg in eine differen‐ zierte Betrachtung der philosophischen Ausgangslage und die juridische Betrachtung starker Wertungen. VI. B: Biographische Quellen VI. B. 1. Ernst Hüsmert (Hg.), Carl Schmitt. Tagebücher. Oktober 1912 bis Februar 1915, Berlin 2003236 Nicht viele Juristenleben werden heute biographisch erforscht. Das Inter‐ esse an Carl Schmitts Leben resultiert aber auch nicht seinem juristischen Werk allein, sondern darüber hinaus dem Wirken als politischem Akteur.
235 Carl Schmitt, Der Wahnmonolog und die Philosophie des Als-Ob, in: Bayreuther Blätter 35 (1912), 239-241 236 In: hsozkult vom 21. Januar 2004; die folgenden Tagebucheditionen habe ich ebenfalls rezensiert: Philosophisches Jahrbuch 113 (2006), 226-228; Göttinger
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Teil VI: Der neue Quellenstand
So stand bei der biographischen Forschung zunächst sein Wirken in der Weimarer Republik und für den Nationalsozialismus im Vordergrund (Bendersky, Koenen, Seibert). Mit der Öffnung des Nachlasses fand da‐ rüber hinaus auch Schmitts Rolle nach 1945 zeitgeschichtliche Beachtung (van Laak). Vor einigen Jahren legte Paul Noack eine wenig tiefenscharfe Gesamtbiographie vor. Eine archivalisch eingehende aber fehlt bislang. Das labyrinthische Palimpsest des Nachlasses lädt auch wenig dazu ein,237 sich an diese Aufgabe zu wagen. Schmitt war kein buchhalterischer Gelehrter, der seine Biographie als offenes Geheimnis pflegte. Seine nachgelassenen Notizen aus allen Le‐ bensphasen muss man sich eher als chaotisches Sammelsurium aller The‐ men, Sprachen, Zeiten, Personen vorstellen. Da findet sich der Einkaufs‐ zettel, der mit Zitaten aller alten Sprachen und Beschimpfungen diverser Kollegen kreuz und quer gewürzt ist. Im Glossarium meinte Schmitt zur „ordnenden Kraft“ seiner Gedanken: „Viele haben diese Kraft bemerkt und auch davon gesprochen. Aber sie sahen mich nur in der Öffentlichkeit, in der Darbietung und Darstellung meines Fa‐ ches und Berufes. Sie sahen nicht mein hartes, zerstörtes Privatleben, das ich jener Ordnungsaufgabe geopfert habe.“238
Ernst Hüsmert, der Herausgeber der Tagebücher, wählte diese Zeilen zum Motto. Lange war die biographische Forschung auf späte Selbstdarstellungen angewiesen, die ihrerseits kryptische bis apologetische Motive hatten. Sein „Knabenalter“ datierte Schmitt dabei von 1900 bis 1907 und sprach von einem „enttotalisierten Konviktsklerikalismus“ als prägendem Ein‐ fluss. Seine Jünglingsjahre datierte er von 1907 bis 1918 und sprach von einem „enthegelianisierten Großpreußentum wilhelminischer Prägung“ und vom „Neukantianismus“ als Einfluss. Schmitt schrieb auch einen kur‐ zen Text Berlin 1907239, in dem er sich an dortige Studieneinflüsse erin‐ nerte. Diese wichtigen Jünglingsjahre seiner akademischen, politischen
Gelehrte Anzeiger 263 (2011), 57-72; Merkur 68 (2014), 1109-1112; Die öffent‐ liche Verwaltung 71 (2018), 529-530 237 Eine Biographie zu schreiben, hatte ich damals noch nicht beabsichtigt. Sie ent‐ stand nach Vorschlag von Detlev Felken und dem Beck-Verlag (Brief vom 28. April 2006). 238 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, 168 (Notiz vom 22. Juni 1948) 239 In: Schmittiana 1 (1988), 13-21
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VI. B. 1. Tagebücher 1912-1915 (2004)
und auch ästhetischen Prägung, in die erste aufschlussreiche Monographi‐ en fallen, lagen dennoch bislang historisch-biographisch weitgehend im Dunklen. Langsam verbessert sich nun die Quellenlage und lichtet sich auch diese Zeit. Im Jahre 2000 erschienen Jugendbriefe.240 Der Titel ist wohl in Anleh‐ nung an eine Edition von Jugendbriefen Max Webers gewählt. Diese „Briefschaften“ an die jüngere Schwester Auguste haben aber nicht das gleiche akademische Gewicht, unterhält der ältere Bruder seine Schwester doch mehr von oben herab mit pädagogischem Gestus über seine Studien und Anregungen. Immerhin werden neben vielfältigen biographischen Kontakten auch die ästhetischen (musikalischen und literarischen) Nei‐ gungen und Interessen plastischer, was ein wichtiger Kontrapunkt zur in der Forschung viel traktierten „katholischen“ Prägung ist. Eine biographi‐ sche Einführung, zahlreiche Jugendfotos, Handschriftenproben sowie ein Anhang mit frühen kleinen Publikationen Schmitts ergänzen und illustrie‐ ren diese Jugendbriefe. Nun liegt eine weitere Edition vor. Diese erste Publikation aus Schmitts Tagebüchern dokumentiert die Zeit vom Oktober 1912 bis zum Februar 1915. Es ist die „Postdoc“-Zeit des Referendariats, der Abfassung weiterer rechtsmethodologischer und -philosophischer Monographien, intensiver Begegnung mit der modernen Dichtung, insbesondere derjenigen Theodor Däublers, und auch des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Ebenso wie die Jugendbriefe wurden diese Tagebücher von Ernst Hüsmert eingeleitet und herausgegeben, einem Jugendfreund der Tochter, der Schmitt lange freundschaftlich verbunden war. Zum Vergleich der beiden Texte bemerkt der Herausgeber, „dass fast nichts von dem, was er seiner Schwester schreibt, im Tagebuch steht, und dass er fast alles, was im Tagebuch steht, seiner Schwester nicht mitteilt.“ (X) Einleitend fasst er den biographi‐ schen Ablauf knapp zusammen. Das Tagebuch ist für die Zeit vom 16. Oktober bis zum 29. Dezember 1912, vom 13. September 1913 bis zum 13. Februar 1914 und vom 13. Juni 1914 bis zum 19. Februar 1915 erhalten, woraus sich eine Dreiteilung ergibt. Den vierten Teil der Edition bildet ein ausführlicher Anhang mit Abbildungen, einer Auswahl aus frü‐ hen Veröffentlichungen Schmitts, Rezensionen seiner frühen Werke und
240 Carl Schmitt, Jugendbriefe. Briefschaften an seine Schwester Auguste 1905 bis 1913, hrsg. Ernst Hüsmert, Akademie-Verlag, Berlin 2000
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Teil VI: Der neue Quellenstand
weiteren Materialien: so Kurzbiographien der wichtigsten, bisher kaum bekannten Gestalten dieser Jugend. Der Text ist ein biographischer Schlüssel. Obwohl auch diese Aufzeich‐ nungen literarisch durchgestaltet wirken und eingängig lesbar sind, spricht Schmitt hier ganz persönlich und privat. Sein wichtigstes Thema ist die Beziehung zu Pauline Carita von Dorotic, Cari genannt, der legendenum‐ rankten ersten Frau;241 sie entpuppte sich später als eine Betrügerin, wes‐ wegen Schmitt in den 20er Jahren eine Nichtigkeitserklärung seiner Ehe vom Staat erwirkte und auch mit Rom prozessierte. Im ersten Teil der Ta‐ gebücher dokumentiert Schmitt diese Liebe durch Auszüge intimer Lie‐ besbriefe und reflektiert in ständiger Auseinandersetzung mit Otto Weinin‐ ger und Strindberg auf die Sittlichkeit der Liebe. Wie Weininger geht er davon aus, dass „der Liebende in den Mutterschoß zurück will“ (27). Während Weininger aber eine „Typisierung des Mannes“ entwickelt habe, sucht Schmitt eine „Typisierung der Frau“ (38). Dabei orientiert er sich zwar an verbreiteten Stereotypen, entwickelt aber eine eigene, auch in der Thematisierung von Sexualität offene und exzentrische Sicht. Schmitt will seine Liebe unter der Idee der Ewigkeit sehen, unter der „Cari“ dann „kei‐ nen Vorgänger und keinen Nachfolger“ (43) hat. Er spricht dabei „charak‐ terologisch“ als „Anwalt“ in der „Hingabe an eine Idee“ (42) und profiliert seine Liebe gegen die Treulosigkeit eines Freundes, Eduard Rosen‐ baum,242 der seinen Namen ohne Einwilligung missbrauchte. Einmal ver‐ dunkelt sich Schmitts hypermoralischer Sensitivität zwar das Bild der Ge‐ liebten, und nachträglich betrachtet scheint er hier klarer zu sehen, doch die philosophische Idealisierung der Liebe herrscht vor. Der Herausgeber bemerkt, dass nicht zuletzt Schmitts Wille spricht, seinen Ideen entspre‐ chend „gut“ zu sein und seiner eigenen Auffassung vom „guten“ Leben zu folgen. Dieser erste Teil endet mit wichtigen konzeptionellen Überlegun‐ gen zur Monographie Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzel‐ nen, die durch umfangreiche Notate zu Mauthner und Stammler ergänzt sind. Der zweite Teil der Tagebücher, vom 13. September 1913 bis zum 13. Februar 1914 geführt, hat dann einen anderen Stil. Es überwiegt nun
241 Durch Recherchen auch von Rolf Rieß und Martin Tielke konnten die Identitätsund Lebensdaten von „Cari“ erstmals in meiner Biographie (Carl Schmitt. Auf‐ stieg und Fall, München 2009, 57f) geklärt werden. Bis heute ist keinerlei Foto von Schmitts erster Ehefrau bekannt. 242 Dazu jetzt die Briefedition in Schmittiana N.F. III (2016), 24-47
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nicht mehr die philosophische Verarbeitung des intensiven Liebeserlebnis‐ ses, sondern der epische Bericht vom Alltag der Arbeit und Beziehung. Der Ton ist kafkaesk. Schmitt arbeitet ohne festen Lohn als Referendar und Gutachter unter den drückendsten Geld- und Zukunftssorgen, pendelt zwischen dem „Gericht“ und dem „Geheimrat“ Hugo am Zehnhoff, einem späteren preußischen Justizminister, einerseits und der intensiven Bezie‐ hung zu „Cari“ andererseits hin und her, wozu noch ständige Kontakte ins‐ besondere mit dem Dichterfreund Theodor Däubler sowie dem Juristen Fritz Eisler kommen. Schmitt notiert seinen Alltag in der polaren Span‐ nung beruflicher Abhängigkeiten und privater Hoffnungen episch breit, profiliert den Gegensatz von „Cari“ und „Geheimrat“, Bürokratie und Se‐ xualität, plastisch und drastisch und baut den „Geheimrat“ derart zum ty‐ rannischen Hoffnungsträger beruflicher Aussichten auf, dass wohl nicht wenige Leser an Kafka oder Robert Walser denken werden. Mal ist er „ekelhaft“, mal ist er ein „Prachtkerl“. Immer muss Schmitt hin und ihn unterhalten oder seine Bibliothek ordnen. Der Geheimrat tut einiges für Schmitt, aber nicht genug. Dramatischer Höhepunkt ist ein längerer Auf‐ enthalt Caris, der „Mutter meiner Wahl“ (33), bei der leiblichen „bösen Mutter“ (114) und dem „trotteligen Vater“ (138). Ständig schwankt Schmitt in seinen Stimmungen. Er will ein „bedeutender Mensch“ werden und hat doch „Angst vor den Juden“ (140) und vor seiner Vermieterin, der er die Miete kaum zahlen kann. Der Held dieser Tagebücher erscheint als ein K., dem neben seiner formell ungeklärten juristischen Arbeit zwischen Gericht und Geheimrat wenigstens noch die Bibliothek, die Tagespresse, die intim erzählte leidenschaftliche Liebe und die energisch betriebenen, gleichwohl vielfältig ungewissen Heiratspläne bleiben. Der dritte Teil beginnt mit wilden Selbstbezichtigungen über das Ver‐ hältnis zu Cari („Ich bin ein Mörder“). Schmitt fragt: „Wohin soll ich flie‐ hen; zur katholischen Kirche. Aber ich kann doch nicht.“ (157) Dann geht es weiter wie zuvor. Auch der Kriegsausbruch ändert am aufreibenden Alltag wenig. Eingehende politische Betrachtungen zum Krieg fehlen. Schmitt hofft auf militärische Erfolge, fürchtet die Russen, nimmt aber wenig Partei. Der Geheimrat und Cari bleiben die Achsen seiner Launen. „Misstrauen gegen Cari“ (169) meldet sich. Der Straßburger Doktorvater Calker fördert Schmitt verlässlich. Er wird ihn nach München holen und neue Lebenschancen eröffnen. Das Verhältnis zum Geheimrat ist zuneh‐ mend belastet. Dieses „Nilpferd“ liegt auf der „Seele“. Ein enger Freund verstirbt und der damals engste Freund, Fritz Eisler, dem Schmitt später die Verfassungslehre widmet, fällt bei Kriegsbeginn am 27. September 143
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1914 bereits. Mit ihm war Schmitt „seit über 6 Jahren in einer Freund‐ schaft verbunden“: „Ich habe jetzt im Laufe eines Vierteljahres meine bei‐ den Freunde verloren und nichts scheint mir in der Fassungslosigkeit mei‐ ner gegenwärtigen Stimmung natürlicher, als dass ich nunmehr an die Rei‐ he kommen muss“, meint Schmitt nun (222). Zunehmend leidet er unter der Abhängigkeit: „Ein ganzes Jahr habe ich durch den Geheimrat verlo‐ ren. Nichts habe ich dabei gelernt oder verdient.“ (235) Zu allem Unglück wird Cari eines Diebstahls bezichtigt und polizeilich vernommen. Trotz seiner jüdischen Freunde, unter denen Georg Eisler bald ein Stück weit an die Stelle des verstorbenen Bruders tritt,243 findet Schmitt die Antwort auf seine Wirrungen nun nicht zuletzt in der „Wut über die Juden, [], die Münzfälscher, die alles echte Wachstum verfälschen und die Begriffe der Menschen verbiegen“ (245). Der Kontakt mit Däubler bleibt konstant. Selbstbewusstsein findet Schmitt auch bei der Lektüre seiner Schriften und in der Liebe zu Cari, die er trotz aller Umstände und Belastungen nicht in Frage stellt. Trotz des Bruchs mit dem Geheimrat endet das Tage‐ buch glücklich mit dem Assessorexamen, der Heirat und dem Wechsel als Soldat in die Garnison nach München. Caris Drängen auf eine Bankvoll‐ macht nur deutet am Ende neue Verwicklungen und Katastrophen an; die geliebte Cari wird in München die Wohnungseinrichtung versetzen und aus Schmitts Leben verschwinden. Diese Tagebücher stellen die biographische Kenntnis und auch das psy‐ chologische Verständnis Schmitts auf eine neue Basis. Nicht nur zahlrei‐ che biographische Details, sondern besonders das Kontaktnetz und Bezie‐ hungsleben werden sichtbar. Es zeigt sich, dass Schmitt tatsächlich mit Fritz Eisler und Däubler eng befreundet war. Trotz des engen Umgangs mit jüdischen Freunden ist nun auch sein früher Antisemitismus reich be‐ legt. Der Katholizismus spielt dagegen, wie in den Jugendbriefen auch, nur eine untergeordnete Rolle. Schmitt bezeichnet ihn als eine Ausflucht. Die Beziehung zum „Geheimrat“ scheint damals für Schmitts weitere Kar‐ riere nur Episode zu sein. Als wichtigster Förderer bleibt der Doktorvater Calker im Hintergrund. Die alles überragende Heldin dieser Tagebücher aber ist Schmitts erste Ehefrau Cari. Sie rückt aus einer Legende des spä‐ teren Werkes in die Rolle der biographisch entscheidenden Person auf. Aus der Ich-Perspektive der Tagebücher bleibt sie dennoch etwas imagi‐
243 Dazu Verf., Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt. Plettenber‐ ger Miniaturen 2, Plettenberg 2009
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när. Ihre Person wird nicht wirklich plastisch. Sie wirkt wie das Gespinst der Liebesphilosophie, die Schmitt eingangs in der kritischen Auseinan‐ dersetzung mit Weininger und Strindberg entwickelt. Nicht zufällig ist er über ihre „Subjektivität“ besorgt: „Es geht doch nicht ohne Objektivität und gesunden Menschenverstand im Leben. In der Philosophie wohl, auch in der Liebe, aber nicht in der Ehe.“ (167). Damit ist Cari der Prototyp des Romantikers, den Schmitt später beisetzt. Im Januar 1915 schon notiert er: „Merkmal der spezifischen Romantik: die Unfähigkeit zur Objektivität, zum Abstrakt von sich selbst“ (298). Diese Tagebücher lesen sich wie der Roman einer heiklen Liebe. Streicht man den Autornamen und nimmt den Text fiktional, setzt man ein Pseudonym wie Negelinus, den Autor der Schattenrisse, so hat man einen autobiographischen Ich-Roman im Stile Robert Walsers. Vielleicht ist es der Schnekke-Roman, an dem Schmitt damals koautorschaftlich arbeitete. Statt des literarischen Witzes überwiegt aber der ständige Stimmungs‐ wechsel zwischen Selbstzerknirschung und –erhöhung, die aus späteren Texten sattsam bekannte „Larmoyanz“, die hier, ungebrochen durch geis‐ tesgeschichtliche Spiegelungen, aus ihren biographischen Quellen ver‐ ständlicher wird: aus den Quellen der Verachtung der eigenen Familie und Herkunft, des Hasses auf die Abhängigkeit von einem bourgeoisen Esta‐ blishment, dem Schmitt sich überlegen weiß, des starken, stolzen Willens zu einem eigengesetzlichen Leben, das er in der Liebe zu Cari und Freundschaft zu Eisler und Däubler sucht. Anders als im Glossarium spie‐ gelt Schmitt seine Lage hier nicht in geistesgeschichtlichen Identifikatio‐ nen, sondern spricht seine Biographie auf sein Thema, seinen Willen zur eigenen Lebensführung konzentriert derart offen aus, dass man von einem echten Roman eines Lebens oder einer Jugendkrise und –entscheidung sprechen mag. Wieder einmal überrascht Schmitt sein Publikum: diesmal durch ein schonungslos offenes und drastisches Psychogramm. Fand das Glossarium, grob gesagt, im Antisemitismus seine Generalformel, so ist es nun eine leidenschaftliche Liebe, die bis in intime Details ausgebreitet wird: eine bürgerlich fragwürdige und ruinöse Liebe, die als Antwort wie‐ der neue Rätsel gibt. Denn wer will die Aufrichtigkeit dieser Liebe und von Schmitts Versuch, ein eigenes, anderes Leben zu führen, bestreiten? Der Leser kann sich erneut kaum entscheiden zwischen Sympathie und Antipathie für die Person und ihr eigenartiges, merkwürdiges Leben. Man lese diese Tagebücher einmal mit Kafka und Robert Walser zusammen und transloziere so die Diskussion. Die Biographie des jungen Schmitt je‐ denfalls erscheint nun in gänzlich anderem Licht. 145
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VI. B. 2. Ewald Grothe (Hg.), Carl Schmitt-Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926-1981. Mit ergänzenden Materialien, Berlin 2014244 Juristen werden selten biographisch als Individuen wahrgenommen. Bei Carl Schmitt ist das anders. Zahlreiche Tagebuchbände und Briefwechsel wurden inzwischen publiziert: u. a. die Briefwechsel mit Ernst Jünger, Ludwig Feuchtwanger und Rudolf Smend, dem Bonner Schüler Ernst Forsthoff sowie die späten Korrespondenzen mit den Philosophen Hans Blumenberg und Jacob Taubes aus den 70er Jahren. Auch wem der heuti‐ ge Hype um Schmitt suspekt ist, der kann den vorliegenden Briefwechsel mit Huber als Schlüsseldokument zur NS-Fachgeschichte doch begrüßen. Wie Ernst Friesenhahn und Forsthoff war Huber ein enger Bonner Schüler. Friesenhahn hatte im Nationalsozialismus mit Schmitt gebrochen; eine umfassende Korrespondenz gibt es nicht. Schmitts enges Verhältnis zu Forsthoff entsteht eigentlich erst nach 1945. Kein anderer Briefwechsel spiegelt die verfassungspolitisch heiße Phase von Schmitts Werk in den Jahren 1930 bis 1950 derart extensiv und intensiv. Es gibt wahrscheinlich überhaupt kein zweites intimes Zeugnis von solchem Rang, das die verfas‐ sungspolitischen Motive exponierter NS-Juristen und deren rückblickende Reflexion derart intensiv zeigte. Das liegt wesentlich an Ernst Rudolf Huber (1903-1990), der durch den vorliegenden Briefband und reichen Materialteil als Akteur und Autor neu zu entdecken ist.245 Huber promovierte 1927 bei Schmitt in Bonn und habilitierte sich dort 1931. 1932 assistierte er Schmitt bei der juristischen Vorbereitung und publizistischen Ausdeutung des Leipziger Staatsgerichtshofprozesses Preußen contra Reich. 1933 wurde er umgehend einer der exponiertesten nationalsozialistischen Staatsrechtslehrer. 1933 wurde er nach Kiel beru‐ fen und wechselte später nach Leipzig und Straßburg. Nach 1945 gehörte er dann zu den wenigen Fachvertretern, denen die Rückkehr an die Uni‐ versität länger verwehrt war. Erst 1957 erhielt er wieder eine randständige Professur, die später der Universität Göttingen inkorporiert wurde. Ewald Grothe [*1961], der Herausgeber, Wuppertaler Historiker und Leiter des Gummersbacher Archivs des Liberalismus der Naumann-Stif‐
244 In: Juristen-Zeitung 70 (2015), 143-144 245 Dazu jetzt Ewald Grothe (Hg.), Ernst Rudolf Huber. Staat-Verfassung-Geschich‐ te, Baden-Baden 2015; mein überarbeiteter Beitrag in: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, 151-181
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tung, ist zweifellos einer der besten Huber-Kenner; 2004 habilitierte er sich mit einer Geschichte der Verfassungsgeschichtsschreibung,246 die Hu‐ bers – grob geschätzt etwa 20000 dichte Druckseiten umfassendes – mo‐ numentales Werk schon ins Zentrum stellte. Die vorliegende Korrespon‐ denz ist hervorragend ediert und enthält über die 239 Briefe und Postkar‐ ten hinaus (121 von Schmitt), bei mindestens 43 fehlenden Briefen, einen 200 Seiten starken Materialteil mit Promotionsunterlagen, Schmitt-Rezen‐ sionen, weiteren Briefen sowie Stellungnahmen und autobiographischen Erklärungen Hubers zu seinem „Fall“. 1931 bereits veröffentlichte Huber eine Besprechungsabhandlung zu Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt, die als verfas‐ sungstheoretischer Auftakt zur Dezisionismuskritik gelten kann; Huber er‐ klärte seinem Bonner Lehrer die Ordnungsvoraussetzungen juristischer Dezisionen; Schmitts spätere Unterscheidung zwischen Entscheidungsund Ordnungsdenken geht maßgeblich wohl auf diese Kritik zurück; 1940 prüfte Huber in einer zweiten großen Besprechungsabhandlung seine frü‐ he Kritik und markierte den Unterschied zwischen Entscheidungs- und Ordnungsdenken, grob gesagt, dabei nun mit Hobbes und Hegel; Schmitt sei auf dem Weg vom Entscheidungs- zum Ordnungsdenken gleichsam auf halber Strecke zwischen Hobbes und Hegel gestrandet. Nach 1945 konfrontierte Huber Schmitt dann offen mit dem Vorwurf des Dezisionis‐ mus und Existentialismus. Wenn dessen Position sich – mit Vorbehalten und Einschränkungen - primär als „Etatismus“ bezeichnen lässt, so vertrat Huber - verfassungstheoretisch wie politisch - eindeutig einen scharfen „Nationalismus“, der „völkisch“, aber nicht aggressiv rassistisch und anti‐ semitisch getönt war. Es ist sehr zu begrüßen, dass Grothes umfassende Edition diese fachliche Auseinandersetzung mit Schmitt auch durch weite‐ re unbekannte Rezensionen breit dokumentiert. Nicht weniger eindrucksvoll sind Hubers autobiographische Ausführun‐ gen und Stellungnahmen, die die „Mitarbeit“ als gescheiterten Versuch rechtfertigen, das NS-System „aus dem Chaos der Revolution, der Gewalt‐ samkeit, des Terrors herauszuführen und es auf den Weg der Ordnung, des Rechts und des inneren Friedens zu lenken“ (531). Geradezu formelhaft spricht Huber später dafür von einem Versuch, den Nationalsozialismus auf den „Boden des Rechts“ zurückzuführen. Interessant ist auch sein
246 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsge‐ schichtsschreibung 1900-1970, München 2005
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1949 erneuertes jugendbewegtes Bekenntnis zum „Freideutschen Bund“,247 einer „Gegenbewegung“ mit dem „Ziel der Renovatio“ oder „Wiedergeburt des Volkes“ (516), das vielen Leser problematisch erschei‐ nen wird. Erst nach 1949, mit ihrer Konsolidierung, scheint Huber die Vorzugswürdigkeit der Bundesrepublik nachhaltig anerkannt zu haben. Parallel verstummt sein Gespräch mit Schmitt. Jederzeit ist im Briefwech‐ sel aber sein „Ethos der Sachlichkeit“ (519) erkennbar. Der Briefwechsel gewinnt sein Gewicht gerade durch den unpolemi‐ schen Ernst, mit dem Huber Schmitt zur sachlichen Aussprache und Aus‐ einandersetzung über die zentralen Fragen zwingt. 1927 schon schrieb Schmitt an den Verleger Siebeck von seinem „ungewöhnlichen Eindruck“: „Ich bin sicher, dass Sie vom tiefen Ernst dieses Menschen ebenfalls einen starken Eindruck hätten, wenn Sie ihn persönlich kennen lernten.“ (397) Hubers ernste Sachlichkeit hebt Schmitt im ganzen Briefwechsel über des‐ sen sonstigen polemischen Stil hinaus. Problematische Aussagen und schwarze Stellen finden sich zwar viele, insgesamt zeigt der Briefwechsel aber beide mehr in ihrer Stärke. Die Korrespondenz beginnt mit Drucklegungsfragen der Dissertation, dokumentiert 1931 dann Hubers „Bedenken gegen die Definition der Ver‐ fassung als ‚Entscheidung’“ (81), die Schmitt akzeptiert (91: „Richtigstel‐ lung der oft geradezu kindischen Missdeutungen des ‚Dezisionismus’“), gewinnt 1932 ihren ersten verfassungspolitischen Höhepunkt in der ein‐ dringlichen Diskussion des „Schandurteils“ (Huber) des Leipziger Staats‐ gerichtshofs und der kritischen Aufnahme von Hubers Broschüre Reichs‐ gewalt und Staatsgerichtshof,248 die, durch eine „Reichsbehörde“ (114) fi‐ nanziert, als kooperative Parallelaktion zu Schmitts Kritik an der „politi‐ schen Justiz“ und „Juridifizierung der Politik“ entstand. Durch seine ver‐ fassungstheoretische Auseinandersetzung und Kooperation findet sich Huber 1933 dann in der Rolle des vertrautesten Schülers, auf den vor al‐ lem Schmitt seinen Anspruch auf Führerschaft und Gefolgschaft baut. Den 20. Juli 1932 feiert er im Sommer 1933 rückblickend als „Vorbote“ des Nationalsozialismus. Gleichzeitig aber klingt als Kontrapunkt schon die erklärende und entschuldigende Besorgnis an, „dass durch eine Kette von
247 Dazu Grothes Beitrag in: Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945. Jahrbuch Archiv der deutschen Jugendbewegung 14 (1998) 248 Ernst Rudolf Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg 1932
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Missverständnissen ein Zweifel an meiner Loyalität“ (144) entstanden sei. 1947 schreibt Huber dazu rückblickend an Rudolf Smend: „Mein ursprünglich sehr enges Verhältnis zu Schmitt, das im Herbst 1932 sei‐ ne stärkste Intensität erreichte, geriet seit 1933 von einer schweren Krise in die andere; 1938 kam es zu einer äußerlichen Versöhnung auf der Grundlage einer starken Distanzierung. Meine Kritik an Schmitts wissenschaftlichen Ar‐ beiten habe ich immer zum Ausdruck gebracht, meine Kritik an seiner menschlichen Haltung habe ich nicht publik werden lassen.“ (495)
Der Briefwechsel bestätigt diese Worte weitgehend, und vielleicht lässt sich Hubers eindrucksvolles „Ethos der Sachlichkeit“, sein Gerechtigkeits‐ empfinden, auch als persönliche Entscheidung des Schülers deuten, zwi‐ schen Person und Werk zu trennen. Was die moralische Kritik an Schmitts Charakter angeht, waren sich zahlreiche Weggefährten, Schüler und Kriti‐ ker nach 1933 ziemlich einig. Diese Vorbehalte gegen die Person wurden eine wichtige Quelle produktiver Emanzipation. Huber orientierte sich im Nationalsozialismus sofort relativ unabhängig von Schmitt in der gemeinsamen „Front“ mit seinen Kieler Kollegen. Schon über Publikationspläne entstanden dabei Kollisionen mit Schmitts Führungsanspruch. Einige Zeit wollte Huber die „Differenzen der gemein‐ samen Frontstellung“ (175) unterordnen, und einige seiner Formulierun‐ gen dürften jenseits unbestreitbarer nationalsozialistischer Radikalisierung auch Konzessionen an Schmitt geschuldet sein. Anfang 1936 brach Huber aber den Kontakt, ähnlich wie Forsthoff, für über zwei Jahre ab, nicht zu‐ letzt wohl in Reaktion auf den aggressiven Antisemitismus, dem Schmitt damals, mit Rechtfertigung der Nürnberger Rassegesetzgebung als „Ver‐ fassung der Freiheit“, hemmungslos frönte. Im Frühjahr 1938 begann dann eine vorsichtige Wiederaufnahme des Kontaktes, und mit Hubers Wechsel nach Leipzig folgte eine neue Phase ernster Zwiegespräche mit dem eige‐ nen Engagement und nationalsozialistischen „Weg vom Volk zum Reich“ (257). Die folgenden Briefe vor und nach 1945 zeigen eindringliche Be‐ mühungen um eine sachliche Revision des nationalsozialistischen Engage‐ ments aus der Perspektive akademischer NS-Akteure. Huber drängte Schmitt dabei eine verfassungsgeschichtliche Reflexion der nationalsozia‐ listischen Entscheidung auf. „Sollen wir wieder auf dem Weg zum Reich und Großraum die Staatlichkeit der deutschen Einheit verlieren?“ (297), fragte er Ende 1941 und eröffnete eine Kontroverse um die „Preisgabe des Gesetzes-Begriffs“ (315) und Rolle des Konstitutionalismus. 1947 nimmt Huber das Gespräch wieder auf und sucht die moralischpolitische Aussprache unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse und 149
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verspäteter Wahrnehmung des nationalsozialistischen „Vernichtungssys‐ tems“. Schmitt weicht aus und markiert die Grenzen der Verständigung mit einer „Wesensverschiedenheit“ der „‚Gestalten’“ (337); er kehrt Hu‐ bers frühere Unterscheidung von Entscheidungs- und Ordnungsdenker nun gegen dessen Verständigungsanliegen und betont die differenten Auffas‐ sungsweisen. Spätestens 1950 scheitert der Versuch brieflicher Ausspra‐ che auch an Hubers Kritik an der nationalsozialistischen „Dekomposition“ der Legalität im Nationalsozialismus. Schmitt witterte hinter den eloquen‐ ten Ausführungen das moralische Ross des Vorwurfs und der Anklage und wollte nicht Hubers „Sündenbock“ sein. Nach 1950 finden sich deshalb ei‐ gentlich nur noch förmliche, anlassgebundene Briefe. Die letzte Kontro‐ verse betrifft die „Indemnität“. Der letzte Briefentwurf des uralten Schmitt lautet bezeichnend: „Der wahre und angemessene Dank ist mir nicht mehr möglich.“ (390) Wie es auch immer um die Grenzen des Gesprächs und der Selbstver‐ antwortung steht: Dieser Briefwechsel erörtert auf höchstem Niveau den ganzen Umkreis der Problematik nationalsozialistischen Engagements aus der Akteursperspektive. Vielleicht eröffnet er damit auch einen neuen Zu‐ gang zur Auseinandersetzung mit Hubers monumentalem Büßerwerk. Diese Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 – 4000 Seiten Vorge‐ schichte blieben unpubliziert – ist eigentlich eine Verfassungsgeschichte nach 1945. Als Apologie des Wilhelminismus wurde sie verkürzt abgetan; entstehungsgeschichtlich betrachtet ist sie eher eine Apologie des integrie‐ renden Konstitutionalismus: der Legitimität der Legalität, als Antwort auf die nationalsozialistische Destruktion des Gesetzesbegriffs, die Schmitt forciert betrieben hatte. VI. B. 3. Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart, hrsg. Martin Tielke in Verbindung mit Gerd Giesler, Berlin 2015249 Max Weber schrieb in Wissenschaft als Beruf, dass die „höchste Kunst“ seiner Zeit „eine intime und keine monumentale“250 geworden sei. Er meinte damit vielleicht die Antwort auf Wagner und Wendung zur moder‐
249 In: Weimarer Beiträge 61 (2015), 454-460 250 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts‐ lehre, Tübingen 1922, 525-555, hier: 554
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VI. B. 3. Schmitt-Sombart-Briefwechsel (2015)
nen Lyrik, für die Stefan George und dessen Sternenbund stehen. Sie fin‐ det sich auch bei Carl Schmitt, Heidegger und dessen Schülern. Man könnte auch Schönbergs avantgardistische Entscheidung und Umbruch von den Gurre-Liedern etwa zum Pierrot Lunaire oder die Miniaturen von Alban Berg und Anton Webern nennen. Schon Nietzsche aber hatte gese‐ hen, dass bereits Wagner eigentlich ein Meister der kleinen Formen, einer der „grössten Miniaturisten der Musik“ und „Ausdeutung des Détails“ (KSA VI, 28) gewesen war. Tristan und Ring stehen Wesendonck-Lieder und Siegfried-Idyll zur Seite. Carl Schmitt und Nicolaus Sombart (1923-2008) sind beide vor allem durch kräftige bis grelle Töne bekannt. Die parallele Sexbesessenheit ihrer Tagebücher ist erstaunlich. Während sie bei Schmitt erst posthum bekannt wurde, renommierte der alte Sombart mächtig damit, bis an den Rand se‐ niler Altersgeilheit. Seine späten Bücher verstimmen und verärgern durch ihre degoutanten Indiskretionen und Übertreibungen selbst geneigte Leser, die die Perlen des Causeurs, Charmeurs und Charlatan zu schätzen wissen. Die Auseinandersetzung mit Schmitt ist in diesem literarischen Spätwerk noch ein zentrales Thema. Vier größere autobiographische Schriften liegen vor: Jugend in Berlin 1933-1945 (1984), Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945-1951 (2000), Pariser Lehrjahre 1951-1954 (1994) und dann das Journal intime 1982/83 (2003). Darüber hinaus veröffentlichte Sombart über Schmitt Die deutschen Männer und ihre Feinde. Ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriar‐ chatsmythos (1991) sowie eine Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter (2006) und ein beachtliches und viel diskutiertes Buch über Kaiser Wil‐ helm II. als Sündenbock und Herr der Mitte (1996). Es bedarf keines fein‐ gliedrigen psychoanalytischen Bestecks, um dieses Spätwerk als massive Vatersuche und Vatermord zu deuten. Sombart selbst hat es so verstanden. Gewiss sah er sein Werk dabei auch in der Tradition von Marcel Prousts À la recherche de temps perdu. Nicolaus Sombart war der einzige Sohn des berühmten Soziologen Werner Sombart (1863-1941) und Corina Sombarts (1892-1971), einer ge‐ bürtigen Rumänin. Bei der Geburt des Sohnes war der Vater bereits fast 60 Jahre alt, die Mutter war fast 30 Jahre jünger. Der Vater verstarb, als der Sohn 18 Jahre alt war. Schmitt lernte die Familie bald nach seinem Umzug nach Berlin 1928 kennen. Er befreundete sich nicht nur mit Werner Som‐ bart, sondern trat auch in ein selbständiges Verhältnis zu Corina, das sicher nicht ohne erotische Spannung gewesen ist. Corina war aber auch mit Schmitts Gattin Duschka befreundet und teilte mit ihr schon den orthodo‐ 151
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xen Glauben und das Engagement in der orthodoxen christlichen Gemein‐ de Berlins. Die Familie war zunächst sehr wohlhabend und führte in Dah‐ lem einen glänzenden Salon. Im Krieg verstarb Werner Sombart und die Dahlemer Villa wurde zerstört. Corina floh zunächst nach Bad Kösen und lebte nach 1945 dann in gewandelten Verhältnissen in Heidelberg. Der junge Soziologe beschreibt „die Deklassierung und völlige Verarmung“ (219) der Familie in einem schockierend aufrichtigen Brief von 1952 an seine Mutter als Grundbefund und Basisfaktum seines Lebens. Nach dem Scheitern seines Habilitationsprojektes wechselte er deshalb zur sozialen Absicherung als Beamter in den jungen Europarat nach Straßburg. Die UNESCO bringt ihn aber zunächst irgendwie nach Paris. Das kommen‐ tierte er im Januar 1951 mit dem forschen Satz: „Wozu gibt es die UNESCO?“ (37) Ähnlich dachte er wohl über den damaligen Europarat. Die Institutionen sollen ihn irgendwie alimentieren. Nicolaus Sombart war, äußerlich betrachtet, der Inbegriff eines narzisstischen Ästheten, Dan‐ dys und Snobs. Der Bohèmien zwang sich aber auch zur Institutionalisie‐ rung einer bürgerlichen Lebensform und erfüllte seine privilegierten Pflichten als EU-Beamter, bis er nach den erotischen Abenteuern eines komfortablen Jahres im Berliner Wissenschaftskolleg Mitte der 1980er Jahre wieder in seine Geburtsstadt Berlin zog und dort einen eigenen Sa‐ lon führte, der bei Berliner Schönheiten und Intellektuellen legendär wur‐ de. Die Erwartungsenttäuschung gehört zu den Strategien des Dandys. Im Falle Sombarts sind sie aus den Erzählungen und Schriften derart vertraut, dass man den Briefwechsel mit Schmitt nicht ohne Bedenken zur Hand nimmt. Spätestens seit den Dissertations- und Habilitationsqualen weiß Sombart um diese permanente Enttäuschung seiner Mitwelt. Auch deshalb werden die Erwartungen des Lesers durch den Briefwechsel positiv über‐ troffen. Die Korrespondenz überrascht durch die substanzielle Dichte der leisen Töne einer innigen und heiklen Vater-Sohn-Beziehung. Viele Brief‐ wechsel mit Schmitt sind in den letzten Jahren erschienen. Einige markie‐ ren intensive Auseinandersetzungen und freund-feindliche Abgrenzungen und Absetzbewegungen von einem starken und charismatischen Lehrer. Diese Trennungsprozesse waren zumeist politisch motiviert und die Daten 1930, 1933 und 1945 waren Scheidewege. Die Zerwürfnisse mit Walde‐
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VI. B. 3. Schmitt-Sombart-Briefwechsel (2015)
mar Gurian,251 Rudolf Smend252 und Ernst Rudolf Huber sind in den Kor‐ respondenzen besonders deutlich nachvollziehbar. Mit Nicolaus ist es an‐ ders. Die starke Bindung, für die beide offen von „Liebe“ sprechen, hält in der Korrespondenz trotz massiver Konflikte. Dazu gehört die Vorge‐ schichte der Beziehungen zu Corina und Werner Sombart, die der glän‐ zend disponierte und kommentierte Band passend nachreicht. Die Liebe zu Nicolaus Sombart schwebt im doppelten Boden quasi leiblicher und „geistiger“ Vaterschaft. Seit Berliner Kindes- und Jugendtagen ist Schmitt nicht nur Mentor, sondern er gehört wirklich zur Familie. Corina ratifiziert dieses Adoptionsverhältnis und diese imaginäre Vaterschaft nur, wenn sie Schmitt 1955, nachdem sie ihn 1952 aus langer „Familienfreundschaft“ (153) um Geld anpumpte, ziemlich unverblümt vorschlägt, gemeinsam zu leben: „Weshalb immer in der Einsamkeit und dem traurigen Alleinsein seine guten Jahre [gemeint sind wohl späte oder letzte Jahre] verleben, wenn Sie so gute Freunde hier haben, die Sie hier haben möchten?“ (158)
Nicolaus war der Sohn, den Schmitt nie hatte. Der verspätete, fehlende oder falsche Sohn musste vielleicht zum „verlorenen Sohn“ (121) werden, als den er sich ausdrücklich sah. Es gibt noch andere solche adoptierte oder imaginäre Sohnschaften Schmitts. Der Herausgeber verweist auf Henning Ritter (239).253 Heinrich Popitz oder auch Niklas Frank,254 der Sohn Hans Franks, der Schmitt gelegentlich als leiblichen Vater imaginier‐ te, ließen sich ebenfalls nennen. Wahrscheinlich aber war die Beziehung zum „lieben Nicolaus“ einzigartig intensiv. Der Briefwechsel beginnt 1943 mit einem eindrucksvollen „Selbstbild‐ nis“ als Soldat und „Visionen des alten Lebens“. Das „Traumschiff“ groß‐ artiger „Feste“ und das privilegierte Leben im Nationalsozialismus erwie‐ sen sich im „Schiff“ des Lebens als „Kanonenboot“ (13). Sombart greift die „maritime Weltkonzeption“ der Schrift Land und Meer begeistert auf und dankt „für ein Büchlein, dessen Lot nie enden soll.“ (13) Tatsächlich wird er Jahrzehnte später in seiner Abrechnung diese „maritimen“ Katego‐
251 Inzwischen ediert: Schmittiana N.F. I (2011), 59-111 252 Verf. (Hg.), ‚Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts’. Briefwechsel Carl Schmitt-Rudolf Smend 1921-1961. Mit ergänzenden Materialien, 2010, 2. Aufl. Berlin 2012 253 Dazu vgl. Henning Ritter, Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhundert, München 2008; Verehrte Denker. Porträts nach Begegnungen, Springe 2012 254 Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, München 1987
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Teil VI: Der neue Quellenstand
rien als sexualistische Metaphern gegen Schmitt wenden. Auf einem Flug‐ hafen stationiert, betrachtet er die „Kriegerkaste“ 1943 noch als faule „Herrenschicht“, die kriegsgefangene „Heloten“ (14) für sich arbeiten lässt. Lange wird Sombart als zynischer Snob das parasitäre Leben der „Elite“ für sich beanspruchen und suchen. Seiner Mutter gegenüber be‐ kennt er das 1952 ganz offen: „Du stellst die Frage, wo der Nicolaus geblieben sei, der voller Ideale und Pläne aus dem Krieg zurückgekommen sei. Genau dieselbe Frage stelle ich mir auch. Auch frage ich mich, wo mein ‚Lebensideal’ geblieben sei… Ich habe nur eine sehr grobe und lapidare Antwort darauf: sie sind zum Teufel.“ (219)
Schmitt attestiert Sombart im ersten erhaltenen Brief von 1947 zunächst einen „soziologischen Blick“ auf das „Lager“ – der Kriegerkaste ebenso wie der Kriegsgefangenen – und später dann eine „ureigenste Genialität“, die ihre produktiven „Keime“ nicht in den „Müllhaufen eines Zeitungsauf‐ satzes“ (23) werfen sollte. Er wünscht eine akademische Laufbahn, sieht aber auch die Abschweifungen und Ausschweifungen, die Sombart von konzentrierter und zielbewusster Arbeit wegführen. Nach der ersten Wie‐ derbegegnung schreibt Sombart im August 1949 traurig: „Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass Sie mich irgendwie aufgegeben und abge‐ schrieben haben“; Schmitt antwortet umgehend eindrucksvoll: „Ich stellte fest, dass Du kein Gelehrter geworden bist, sondern ein Schrift‐ steller; das ist kein Grund zu divorcieren. Meine Erwartung, in Dir einen Ge‐ lehrten der Werner Sombart–Max Weber–Zeit wiederzufinden, war doch im Grunde naiv. Ihr lag die Erwartung einer Doublette Deines Vaters zugrunde, und Du hast gut daran getan, meine Senilismen zu enttäuschen. […] Schade ist nur, dass ich heute ein armer Teufel bin, der mit 60 Jahren seinen Freunden noch nicht einmal ein Glas Wein anbieten kann.“ (26)
Schmitt markiert hier den Generationsunterschied und Zwang zur eigenen Identität. Diese Distanznahme wird Sombart am Ende nicht gelingen: Er wird dem „armen Teufel“ am Ende vor allem seine Generationszugehörig‐ keit zum Vorwurf machen. Sombart publiziert damals zwar bereits einige literarische Texte, wählt aber zunächst die akademische Karriere. Er arbeitet an einem Dissertati‐ onsprojekt zum „Thema ‚Klasse’“ und begreift sich weiter als Avantgarde des Weltgeistes und Mitglied einer „einzigartigen Elite“ (21): der Kreise Carl Schmitts, die er 1957 noch als „das fruchtbarste Zentrum deutschen Geisteslebens nach dem Kriege ausweisen“ (100f) möchte, und zwar durch die Herausgabe eines Briefbandes mit Korrespondenzen der jüngs‐
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ten Schülergeneration. Dieses hohe elitäre Selbstbewusstsein ist nicht durch den akademischen Output bestätigt. Sombart promoviert zwar über Saint-Simon. Als Lektor der Neuen Rundschau wird ihm aber 1951 vom Fischer-Verlag bald gekündigt. Danach lebt er zunächst mit einem Habili‐ tationsstipendium zwei Jahre in Paris. Einen Rechenschaftsbericht für die‐ ses Stipendium empfindet er als bürokratische Zumutung. Redaktionsbe‐ mühungen im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie fesseln ihn nur kurz. Den alternativen Möglichkeiten und Wegen der Wissenschaft wie der Literatur entsagt er damals beiden als „Hungerleiderei“ (220). Bald sucht er die „Karriere“ als junger EU-Beamter und rettet sich 1954 dann aus dem akademischen Hazard mit einem Doppelschlag in die Ehe und den Europarat. Den Wandel vom Bohèmien zum bourgeoisen Familienva‐ ter und Beamten verkraftet er schlecht und verfolgt deshalb seine Habilita‐ tionsabsichten und seinen Traum von „dem Buch“ auch kompensativ wei‐ ter. Es ist wichtig, genau zu verstehen, dass seine Auseinandersetzung mit Schmitt in drei Jahrzehnten eigentlich drei Phasen durchläuft: von der aka‐ demischen Adaption über die verwaltungspraktische Wendung zur publi‐ zistischen Konfrontation. Die akademische Adaption beginnt mit der Dis‐ sertation über Saint-Simon als Geschichte der Geburt soziologisch versier‐ ter Geschichtsphilosophie aus der Erfahrung und Krise der Französischen Revolution.255 Robert Spaemann256 publizierte später verwandte Studien in etwas anderer Beleuchtung und größerer Form. Zahlreiche SchmittSchüler, auch Sombarts Heidelberger Freunde Hanno Kesting und Rein‐ hart Koselleck, arbeiteten damals ebenfalls zur Geschichte der Geschichts‐ philosophie.257 Sombart beliefert Schmitt mit erlesenen französischen Zi‐ taten und Literaturtipps. Sein anschließendes Habilitationsprojekt soll „zeigen, wie Begriffe aus Erfahrungen destilliert werden – und inwiefern ‚Begriffe’ (die Begriffe der politischen Wissenschaften) mythologische Charaktere sind.“ (57) Dieses Projekt bespricht Sombart mit Schmitt vor
255 Nicolaus Sombart, Vom Ursprung der Geschichtsphilosophie, in: ARSPh 41 (1955), 469-510 256 Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, München 1959 257 Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Ge‐ schichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidel‐ berg 1959; Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959
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allem als Deutung der Melville-Gestalt Benito Cereno. Schmitt pflegte diesen „Mythos“ als Spiegelung seiner Rolle im Nationalsozialismus und „Symbol“ der Lage des modernen Intellektuellen.258 Auch Sombarts Stu‐ dien zur modernen Geschichtsphilosophie tendieren auf eine Intellektuel‐ lensoziologie. Kesting und Koselleck allerdings vollenden bedeutende Bü‐ cher, während Sombart außer der Aufsatzfassung seiner Dissertation we‐ nig mehr als ein Radiogespräch seiner Cereno-Deutung vorweisen kann. Seine ganze Intellektuellensoziologie fokussiert bereits auf den Prototypus Schmitt. Schon die akademische Adaptionsphase kreist also um ein Ver‐ ständnis des Mentors. Für eine akademische Karriere ist das nicht genug und bleibt hinter den eigenen Ansprüchen und den Leistungen der Heidel‐ berger Freunde zurück, die vielleicht auch deshalb, als Konkurrenz, im Briefwechsel erstaunlich selten Erwähnung finden. Schmitt transformiert die geschichtsphilosophische Gegenwartsdeutung Mitte der 1950er Jahre dann in der Auseinandersetzung mit Alexandre Kojève verstärkt in HegelDiskurse;259 sein eingehender Bericht über eine Düsseldorfer Begegnung mit Kojève gehört zu den Höhepunkten des Briefwechsels. Damals ist Sombart bereits aus der wissenschaftlichen Laufbahn in die EU-Verwaltung umgestiegen und nach Straßburg umgezogen. Diesen zweiten Schritt sucht er auch mit Schmitt zu verstehen und zu rechtferti‐ gen. Am 30. Januar 1957, also am Jahrestag der Ernennung Hitlers fragt er: „Wenn man aber kein Patriot mehr sein kann, was ist man dann?“ (95) Die Formulierung und Frage ist interessant: Sombarts „Patriot“ ist weder ein nationalistischer Deutscher noch gar ein Bundesbürger. Sombart war noch im Nationalsozialismus sozialisiert und jahrelang Soldat gewesen. Beim Start der Bundesrepublik war er bereits 26 Jahre alt. Der Jahrgang 1923 unterscheidet sich von der bundesrepublikanischen Gründergenerati‐ on der Flakhelfer. Seine politische Identität ist ihm nicht selbstverständ‐ lich, sondern er fragt nach der möglichen Autorität, der er Loyalität und Gehorsam schuldet. Im Sinne von Schmitts Begriff des Politischen und in der Semantik der späten Nomos-Theorie fragt er nach der Ordnungsmacht, dem „Großraum“ und Nomos, der die neue Elite versammelt. Lässt sich der europäische Einigungsprozess Mitte der 1950er Jahre schon als „neuer Nomos der Erde“ bejahen? Als Avantgarde des Weltgeistes kommt Som‐
258 Dazu Verf., Wie fängt man ein Chamäleon? Probleme und Wege einer CarlSchmitt-Biographie, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), Heft 2, 71-86 259 Dazu vgl. Verf., Carl Schmitt: Denker im Widerspruch, Freiburg 2017, 201-224
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bart in Straßburg einige Jahrzehnte zu früh an. Schmitt hatte den „Welt‐ staat“ verpönt und zur Frühgeschichte des europäischen Einigungsprozes‐ ses wenig gesagt. Andere jüngere Schüler, wie Roman Schnur und auch Joseph H. Kaiser, dachten aber ebenfalls in Sombarts Richtung. Schmitt verweigert seinem „lieben Nicolaus“, der bis zuletzt nur den „lieben“ und „verehrten Professor“ anschreibt, 1957 die positive Antwort und analysiert nur die prekäre Lage des „Patrioten“: „Der Patriot ist als solcher weder Produzent noch Konsument. Was will er al‐ so eigentlich? Er muss streiken. Auch das kann – richtig organisiert – eine Einrichtung der reinen Konsumgesellschaft werden.“ (99)
Schmitt konstatiert einmal mehr ein Ende der Politik in Ökonomie und Technik. Der brave schmittianische Kern der Frage nach dem „Patrioten“ scheint ihm hier zu entgehen. Jedenfalls versucht Sombart seine Entschei‐ dung für Straßburg mit Schmitt zu verstehen und zu rechtfertigen. Eine starke Apologie seiner Rolle als Verwaltungsbürokrat gibt er aber nicht. Seine Straßburger Behörde bezeichnet er als „lebenden Leichnam“ und schreibt: „Ich frage mich, ob diese Form des Parasitentums nicht dem an einer Universität – für einige Jahre wenigstens – gleichkommt.“ (66) Sol‐ che skeptische Betrachtungen und Einsichten wünschte man heute man‐ chem EU-Bürokraten. „Um diese traurige Behörde einfach zu verlassen, fehlt aber die materielle Basis“ (106), schreibt der mehrfache Familienva‐ ter. Sombart versucht sich Ende der 1950er Jahre in „akademisch-adminis‐ trativen Wechselduschen“ (103) zu arrangieren. Seine Habilitationspläne gibt er noch nicht ganz auf und wird in den nächsten Jahren auch immer wieder zeitweise an Hochschulen wirken. Sein Straßburger Leben darf man sich jenseits der Klagetöne eigentlich relativ privilegiert und komfor‐ tabel vorstellen. Seit der Straßburger Zeit häufen sich aber die Verstimmungen. Schon Anfang der 1950er Jahre beantwortete Schmitt ein verpasstes Treffen mit einer Retourkutsche. Als Sombart wiederholt einen Besuch in Straßburg anmahnt, dreht der „den Spieß einfach um“ (105) und markiert dessen Versäumnisse. Seit den 1960er Jahren verflüchtigt sich der Kontakt. Da‐ mals beginnt die dritte und letzte Stufe der Auseinandersetzung und Ab‐ setzbewegung. Wenige Gespräche über Hitler und Max Weber versteht Schmitt als Kritik Sombarts an seinen beiden Vätern. Als Sombart Ernst Jünger und auch Alfred Weber gegen Schmitt ausspielt, erhält er einen Schüttelreim zur mahnenden Antwort: „[Alfred] Weber neben SaintSimon zu setzen / Heißt ein Protokoll verletzen“ (117). Als Sombart vom
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„Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“ spricht und seine agonale Auseinander‐ setzung meint, bricht Schmitt die Korrespondenz für Jahre ab. Erst 1976 kommt es zur persönlichen „Wiederbegegnung“, die Sombart als „Stück Heimat“ für den „verlorenen Sohn“ bezeichnet. Sogleich beginnt er jedoch einen erneuten Deutungskampf um Hitler, Max Weber und Otto Groß, den Schmitt als Kritik an seiner historischen Stellung und Rolle auffasst. Sombart greift damals in den 1970er Jahren den kulturrevolutionären Konnex von Sexualität und Politik auf und deutet Schmitts Land-MeerUnterscheidung in einen Kampf von Matriarchat und Patriarchat, Staat und Revolution um. Er konzediert zwar, dass der autoritäre Etatist und „deutsche Mann“ die Opferkosten seiner Repression immerhin mit thema‐ tisierte. Sombarts Weber-Kritik deutet Schmitt aber zutreffend wohl als symbolischen „Vatermord“ und meint: „Jeder kann jeden töten – homo ho‐ mini homo – und wer es noch nicht getan hat, der hat seinen Mord viel‐ leicht noch zu begehen.“ (127) Zu den Verlegenheiten der alten Habilitati‐ onspläne meinte er einst im Oktober 1956 schon ziemlich ernsthaft: „Tue etwas für Deine Karriere als Professor und schreibe ein Buch gegen mich!“ 1976 spätestens ahnte er, dass Sombarts Vatermord die Form eines kritischen Schmitt-Buches finden würde. Trotzdem er nicht eingeladen ist, kommt Sombart am 11. Juli 1978 da‐ mals zum Fest des 90. Geburtstags nach Plettenberg. Wenige Tage später entwickelt er dem Jubilar eingehend seine sexualpolitische Gegendeutung. Schmitts Etatismus und „terrane“ Entscheidung erscheint hier als „Form der Verarbeitung“ und „Abwehrstrategie“ (133) gegen den „Einbruch“ von Anarchie und Revolution ins Staatsrecht. Schmitt lehnt solche wilden Spe‐ kulationen damals zwar selbstverständlich ab, bricht aber noch nicht gänz‐ lich mit seinem Ziehsohn. Stattdessen erinnert er an die Beerdigung des Vaters und appelliert so an die Familienpietät. Sombart gibt ihm im letzten erhaltenen Brief auch seine irrationale „Trauerarbeit“ (139) und Vatersu‐ che zu, konfrontiert ihn dann aber mit dem zweifelhaften Versuch einer Rettung der „Politischen Theologie“ als Ironie und Parodie. Vielleicht wusste er nicht, dass Schmitt auf solche Ironien nicht anzusprechen war. Waldemar Gurian, Gottfried Salomon und Franz Blei schon hatten im Na‐ tionalsozialismus betont, dass Schmitt sein Engagement wohl nicht ernst meinte. Eine solche Relativierung des Lebenswerkes konnte er nach allen Ermahnungen schlecht passieren lassen. Die Korrespondenz endet mit einem Kontaktabbruch.
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Sombarts spätes Schmitt-Buch260 ist heute kaum noch zu genießen. Die Selbstbehauptung und Identitätssuche des Dandys revidiert aber das geläu‐ fige Sombart-Bild. Der Briefband überzeugt auch in der Einbeziehung des familiären Rahmens. Den 118 Briefen zwischen Nicolaus und Schmitt, meist von Nicolaus, folgen immerhin 41 Briefe zwischen Corina und Carl und 11 Briefe der (nicht ganz vollständigen) Korrespondenz mit Werner Sombart, aus denen ein gewichtiger Kommentar zum Leviathan-Buch her‐ vorragt. Der relativ schmale Anhang bietet selektierte Ergänzungen, vor allem den Brief an die Mutter von 1952 sowie ein französischsprachiges langes Gedicht Corinas zu Schmitts 80. Geburtstag („Petit de taille, grand d’esprit…“). Nach der Lektüre muss man dem zynischen Ästheten und Snob einige Abbitte leisten: Die Beziehung zu Schmitt traf einen morali‐ schen Kern. Sombart hat „das Buch“, das ihm in seinem Familienroman261 aufgegeben war, seit den 1960er Jahren in verschiedenen Anläufen wirk‐ lich geschrieben. Weil er die strenge Historisierung in seinem Kampf um die eigene Identität und Anerkennung aber auf der Suche nach einem ex‐ zentrischen Hebel mit modischen Sexualspekulationen überlagerte, wirkte sein Spätwerk nicht allzu nachhaltig. Es wäre reizvoll zu sehen, was heuti‐ ge gender-Forschung aus den Motiven macht. Schmitt zeigt sich im Brief‐ wechsel einerseits als strenger Lehrer, der Sombarts Begabung fordert, und andererseits als geduldiger Mentor und Pädagoge, der alle Nuancen vernimmt und die „Keime“, Anstrengungen und Hypotheken Sombarts nicht verkennt. Systematisch ist hier interessant, wie sehr moralische Selbstbehauptungskämpfe und Anerkennungsfragen zur starken Deutung drängen. Die Selbstaufklärung von Identitätsprozessen ist nicht zuletzt ein intellektueller Prozess. Selbstverständnisse formulieren sich kognitiv. Schmitts frühe Unterscheidung der wahrhaften „Gedanken“ und des „Ge‐ sprächs“ von abstrakten „Kausalitätsklappereien“ (22) und „Begriffen“ (26) ist deshalb nicht leicht möglich. Die Begriffe und Narrationen holen die Verhältnisse ein. Auch das ist ein Stück Geschichtsphilosophie, das Nicolaus Sombart gegen seinen Lehrer kehrt.
260 Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, München 1991 261 Sigmund Freud, Der Familienroman der Neurotiker (1909), in: Gesammelte Wer‐ ke Bd. VII, 225-231
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VI. B. 4. Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, hrsg. Herbert Kopp-Oberstebrink / Thorsten Palzhoff / Martin Treml, München 2012262 Carl Schmitt pflegte bis 1933 mit zahlreichen – in seinen Augen – irgend‐ wie „jüdischen“ Intellektuellen näheren Umgang. Neben seinen engsten Jugendfreunden Fritz und Georg Eisler und dem befreundeten Verleger Ludwig Feuchtwanger sind hier (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) zu nennen: Eduard Rosenbaum, Moritz Julius Bonn, Kurt Singer und Edgar Salin, Melchior Palyi, Alice Berend, die juristischen Kollegen Ernst Landsberg, Erich Kaufmann, Albert Hensel, Erwin Jacobi, Heinrich Göp‐ pert, Walter Jellinek und Hans Kelsen, die Bonner Schüler Waldemar Gu‐ rian und Otto Kirchheimer, ferner Ernst Fraenkel, Leo Strauss und viele andere. 1933 brach Schmitt alle Kontakte um seiner nationalsozialisti‐ schen Karriere willen ab. Erst langsam entstanden nach 1945 dann wieder neue Beziehungen. Bemühungen Otto Kirchheimers um eine erneuerte Beziehung zu seinem alten Bonner Doktorvater scheiterten. Mit Alexandre Kojève korrespondierte Schmitt. Engeren, bald freundschaftlichen Kon‐ takt nahm er Ende der 1950er Jahre zu dem amerikanischen Politikwissen‐ schaftler und Schmitt-Forscher George Schwab auf. In den 1970er Jahren kam die Korrespondenz mit Hans Blumenberg hinzu. Erst allmählich wer‐ den diese Kontakte biographisch bekannt. Bei der Diskussion von Schmitts Verhältnis zu „jüdischen“ Intellektuellen war die Forschung lan‐ ge mehr gerüchteweise ohne gesicherte Quellenbasis auf Walter Benjamin und Jacob Taubes fixiert. Mit Benjamin hatte Schmitt aber überhaupt kei‐ nen persönlichen Kontakt, während er Taubes erst 1978 im hohen Alter von 90 Jahren begegnete. Die Schmitt-Forschung ist den faktischen Bezie‐ hungen lange nicht nachgegangen und ging deshalb vergangenheitspoliti‐ schen Legenden auf den Leim. Noch in der Monographie von Raphael Gross263 über Carl Schmitt und die Juden spielen die faktischen Kontakte gegenüber den geistesgeschichtlichen Debatten und agonalen Gefechten kaum eine Rolle. Vor einigen Jahren publizierte Rolf Rieß264 Schmitts Korrespondenz mit Ludwig Feuchtwanger. Eine weitere zentrale Quelle,
262 In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64 (2012), 204-207 263 Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frank‐ furt 2000 264 Carl Schmitt-Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918-1935, hrsg. Rolf Rieß, Berlin 2007
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das späte Pendant zu den Weimarer Debatten, liegt nun sorgfältig ediert mit dem Briefwechsel Schmitt-Taubes vor. Schmitts Politische Theologie wurde in den letzten drei Jahrzehnten in‐ tensiv auch durch die Rezeption und Brille von Jacob Taubes gesehen. Taubes berichtete von seinem „stürmischen Gespräch“ mit Schmitt poin‐ tensicher und stiftete so eine Legende, die als esoterischer Geheimtipp im akademischen Gossip oder „Rumor“, wie die Herausgeber sagen, wirkte. Zwei posthume Publikationen zeigten die Richtung seiner Rezeption an: das Merve-Bändchen Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung (1987) so‐ wie die breiteren und tieferen Ausführungen in den vermächtnisartigen Vorträgen über Die politische Theologie des Paulus (1993).265 Taubes wurde dadurch für die geisteswissenschaftliche „Anschlussfähigkeit“ Schmitts an die bundesdeutschen Debatten ähnlich wichtig wie ErnstWolfgang Böckenförde für die juristische Rezeption. Die vorliegende Edition stellt diese Rezeption nun auf eine exakte Ba‐ sis. Sie enthält nicht nur 47 Briefe bzw. Briefentwürfe zwischen Taubes und Schmitt, fast alle aus den Jahren 1977 bis 1980, sondern ergänzt die‐ sen Kern auch um aufschlussreiche Briefe und Texte zur Schmitt-Rezepti‐ on von Taubes: darunter einen Artikel Leviathan als sterblicher Gott und die bekannten Texte über Schmitt als „Apokalyptiker der Gegenrevoluti‐ on“. Diese Materialien sind so beachtlich wie die Korrespondenz selbst. Gemeinsame Bekannte wie Roman Schnur, Armin Mohler und Hans-Diet‐ rich Sander vermittelten den Kontakt. Es dauerte aber über zwanzig Jahre, bis es zu drei persönlichen Gesprächen kam. Taubes berichtet, dass es letztlich Hans Blumenberg war, der ihn zur Aufgabe seiner „tribunalisti‐ schen Einstellung“ (259) bewegte. Die direkte Korrespondenz belegt den langen Vorlauf und auch Schmitts langes Zögern, sich auf ein Gespräch einzulassen. Es zeigt Taubes’ Bemühungen, den Kontakt durch editorische Projekte und Rezeptionsversprechen strategisch interessant zu machen. Es bedurfte starker Signale: Taubes distanziert sich brieflich von Gershom Scholem und pflegt den Umgang mit den Rechtsintellektuellen Armin Mohler und Hans-Dietrich Sander. An Mohler schreibt er mit katechonti‐ scher Ironie, dass die „seltene Species“ der Rechtsintellektuellen „erhalten bleiben soll, damit wir uns in der posthistorischen Welt nicht langweilen“
265 Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, hrsg. Aleida Assmann / Jan Assmann, München 1993; dazu vgl. schon Verf., Karl Löwith, Carl Schmitt, Ja‐ cob Taubes und das ‚Ende der Geschichte’, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), 231-248
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(147). Als verbindende Themen exponiert Taubes Walter Benjamin, Hobbes, Spinoza, Erik Peterson, den „Schwanengesang auf 1848“266 und die Sache der Politischen Theologie. Das Diskussionsfeld bezeichnet er auch durch weitere Autoren wie Leo Strauss und Hans Blumenberg. Das ganze Gewicht der Begegnung fällt aber in die Jahre 1978 bis 1980, nach Schmitts 90. Geburtstag. Das Gespräch mündet in ein Seminar und die Or‐ ganisation von zwei nachhaltig wirkenden Colloquien über Hobbes und die Politische Theologie.267 Taubes selbst formulierte seine Erträge noch in seinen Vorträgen zur Politischen Theologie des Paulus. Das Gespräch mit Taubes war die wohl letzte große Herausforderung, die Schmitt an‐ nahm. Die späten Briefwechsel mit Blumenberg und Taubes zeigen ihn dabei noch ganz auf der Höhe seiner Themen und Autorschaft. Hier ist die „metaphysische Substanz“ (29) der Konstellation in die Korrespondenz geborgen. Die ergänzenden Briefe dokumentieren die Entwicklung von Taubes’ Verhältnis zu Schmitt seit 1948 insbesondere in der Korrespondenz mit Armin Mohler und Böckenförde. Sie belegen das Scheitern einer Suhr‐ kamp-Veröffentlichung an Schmitts Vorbehalten und bieten wichtige Quellen zur Organisation der beiden Colloquien, die als die ersten großen Tagungen zur Aktualität von Schmitts Politischer Theologie betrachtet werden können. Zwar schreibt Taubes gelegentlich an Mohler selbst: „Wozu die großen Aufregungen, Nationalbewusstsein, Wiedervereinigung usw. usw.? Du weißt doch so gut wie ich, dass das alles Chimären geworden sind.“ (148)
Die politische Theologie hält ihn aber dennoch in Atem. Die Staatslehre von Hobbes ist für ihn auch in ihrer Funktion der „Menschwerdung des Menschen“ ein zentrales Thema. Taubes möchte, analog zu Schmitts spä‐ ter Abhandlung über die „vollendete Reformation“,268 darüber eine Be‐ sprechungsabhandlung schreiben. Böckenförde antwortet entgegenkom‐ mend: „Der katechontische Index des Staates ist durchaus etwas, das im STAAT diskutiert werden kann und sollte.“ (157, vgl. 160) Ein Brief Moh‐ lers aus dem Jahr 1986 deutet Grenzen von Taubes’ Schmitt-Rezeption an
266 Wolfgang Fietkau, Schwanengesang auf 1848. Ein Rendevous am Louvre, Rein‐ bek 1978 267 Jacob Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, Mün‐ chen 1983; ders. (Hg.), Gnosis und Politik, München 1984 268 Carl Schmitt, Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen, in: Der Staat 4 (1965), 51-69
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(203f). Taubes betrachtete Schmitt als einen politisch-theologischen Klas‐ siker vom Range Hobbes’ in Zeiten des „Weltbürgerkriegs“. Sein Projekt „Politische Theologie und Hermeneutik“ diskutierte die „Kontroversen“ und „Folgen“ in der geistesgeschichtlichen Engführung auf Hobbes und Spinoza. In einem Brief an Piet Tommissen meinte Taubes zu seinen drei Ge‐ sprächen mit Schmitt: „Es ging um Juden/Judentumsfragen“ im Licht von Petersons Theologie.269 Die Korrespondenz konzentrierte sich dabei aber auf Hobbes und Spinoza. Man kann nur bewundern, dass der 90jährige Schmitt sich noch auf einen solchen philosophiegeschichtlichen Spezial‐ diskurs jenseits seiner juristischen Profession einließ. Sein letzter Vor‐ schlag von 1980 betrifft das Thema, „dass Fichte sich seinen Moses Hess erweckt hat wie Hegel sich seinen Marx“ (106). Auch hier deuten sich perspektivische Differenzen an. Die Edition dokumentiert Taubes’ Auseinandersetzung in sehr anregen‐ der Form; sie belegt darüber hinaus auch die initiale Bedeutung von Tau‐ bes für die Schmitt-Diskussion nach 1978. Heinrich Meiers bekannte Dis‐ junktion von Schmitt und Strauss, politischer Theologie und Philosophie, markiert hier einen Abschluss. Taubes spielte Spinoza dabei gegen Strauss, Hobbes und Schmitt aus. Meier suchte die von Taubes angestoße‐ nen Debatten zu begraben, indem er Schmitts Politische Theologie mit Strauss beisetzte. Für eine historische Gesamtbetrachtung der „Aktualität“ Politischer Theologie nach 1968 ist der Briefwechsel ein zentrales Doku‐ ment. Taubes übersetzte diese Aktualität mit Schmitt um 1980 aus dem theologischen Raum der „Kirchenintellektuellen“ in die Geisteswissen‐ schaft konfessionell ungebundener Religionsintellektueller. Eine umfas‐ sende historische Studie zu dieser Umbesetzung des Diskurses über „Poli‐ tische Theologie“ nach 1968 wäre akademisch lohnend. Die Edition akzeptiert Taubes’ Sicht von Schmitt als christlicher Ge‐ genrevolutionär und Großinquisitor von klassischem Rang. Sie macht nicht die Gegenrechnung von Schmitts Interesse an Taubes auf. Sie doku‐ mentiert die wirkungsgeschichtliche Rolle von Taubes für die Aktualisie‐ rung von Schmitts Politischer Theologie. Schmitt selbst bleibt in dieser geistesgeschichtlichen Vereinnahmung aber eher bedeckt. Er lässt sich auf die philosophiegeschichtliche Höhenlage des Klassikerdiskurses führen und verzichtet auf eigene Vorgaben der Gesprächsebene. Alle editorischen
269 Dazu vgl. Verf., Carl Schmitt: Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, 311-336
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Bemühungen von Taubes um Schmitt scheitern. So steigt Schmitt nicht auf das Benjamin-Thema ein und lehnt eine kommentierte Neuauflage von Hamlet oder Hekuba270 in der Bibliothek Suhrkamp ab, weil Unseld den Text „wegen des Bindegliedes zu Walter Benjamin“ (171) schätzt. Hier sieht Schmitt sich falsch verortet und vereinnahmt und betont Unseld ge‐ genüber ein anderes „Junktim“ (192, vgl. 176). Taubes und Benjamin begegneten einander auf dem vergleichsweise neutralen Terrain der Klassiker. In der Fokussierung auf Hobbes und Spi‐ noza war ein agonales Gespräch in „gegenstrebiger Fügung“ unter Wah‐ rung bestimmter Tabus und Schmerzzonen möglich. Taubes formulierte die Erwartungen vor dem ersten Treffen 1978 vergleichsweise bescheiden: „Wir können nur hoffen, dass es uns gelingt, Aug in Aug, auch im Unge‐ sagten, ein Stück Wahrheit, einen Zipfel nur vielleicht festhalten zu kön‐ nen.“ (51) Mohler deutet die Grenzen rückblickend an: „Es ist kennzeichnend, dass J.T. – wie die meisten C.S.-Bewunderer - nur Schmitts Schriften der 20er Jahre wirklich ernst nimmt – die Schriften, die während des Dritten Reiches erschienen, und das nach 1945, was nicht Recht‐ fertigungsliteratur ist, beachtet er kaum. Er hält also ‚C.S. und das Dritte Reich’ für einen Unglücksfall.“ (203)
Buchstäblich ist das zwar schon der zentralen Bedeutung des LeviathanBuches wegen nicht ganz richtig, sachlich trifft es aber auch jenseits der nötigen diplomatischen Konzessionen die philosophiegeschichtliche Eng‐ führung des Gesprächs. Schmitt hatte eine breitere Klaviatur und verfügte nicht nur über den Gipfelblick der Meisterdenker. Taubes war für ihn nur der letzte Gesprächspartner in einer Reihe jüdischer Religionsphilosophen und Politischer Theologen, nicht der wichtigste. Die Edition zeigt: Schmitt war für Taubes ein Lebensthema. Umgekehrt lag es anders. Für Schmitt war das Gespräch mit Taubes mehr eine große Reprisé seiner Weimarer Debatten. Ob und wie die nationalsozialistische Erfahrung und der Holo‐ caust in die Gespräche eingingen, ist aus dem Briefwechsel kaum zu erse‐ hen. Er ist aber nicht nur ein wichtiges Dokument zu den letzten Debatten des „alten Partisanen“, sondern darüber hinaus auch eine zentrale Quelle zur Wirkungsgeschichte. Die Debatten um Schmitts Politischer Theologie wird man heute anders führen müssen. Die Aktualisierung des Themas setzt heute die Historisierung der geistesgeschichtlichen Engführung vo‐
270 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düssel‐ dorf 1956
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raus. Die Quellenedition markiert hier eine initiale Etappe in der Diskussi‐ on. Viele Publikationen der 1980er Jahre müssen von Taubes’ Weichen‐ stellung her gesehen werden. Sein Brückenschlag zwischen Politischer Theologie und Hermeneutik geht uns deshalb auch heute noch an.
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Teil VII: Juristische Antworten
VII. 1. Horst Dreier, Staatsrecht in Demokratie und Diktatur. Studien zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus, hrsg. v. Matthias Jestaedt / Stanley L. Paulson, Tübingen 2016271 Horst Dreier (*1954) gehört zu den profiliertesten Staatsrechtlern seiner Generation. Er ist Herausgeber eines maßgebenden und Maßstäbe setzen‐ den dreibändigen Grundgesetzkommentars und einer Festschrift für das Bundesverfassungsgericht. Seine Wahl als SPD-Kandidat ins Bundesver‐ fassungsgericht, als künftiger Vizepräsident, scheiterte 2008 nur an einer fragwürdigen Kampagne. Dreier promovierte mit einer Arbeit über Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen und habilitierte sich mit einer Arbeit über die Hierarchische Verwaltung im de‐ mokratischen Staat. Nach Stationen in Heidelberg (1990) und Hamburg (1991) lehrt er seit 1995 in Würzburg. Seine Arbeiten bestechen durch analytische Klarheit, Übersicht sowie eine grundsätzliche Erfassung und Verteidigung des „freiheitlichen Verfassungsstaats“. 2014, zum 60. Geburtstag, erschien eine erste umfangreiche Sammlung von Studien zur Theorie des Verfassungsstaats als „riskantes“ Gefüge in der Spannung von „Idee und Gestalt“.272 Nun folgt eine zweite Sammlung verfassungsgeschichtlicher Studien zur Weimarer Republik und zum Na‐ tionalsozialismus, von Jestaedt und Paulson herausgegeben, zwei ihrer‐ seits profilierten Kelsen-Kennern. Der Titel evoziert geläufige Systembe‐ griffe und Disjunktionen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, wie sie etwa der unlängst verstorbene Karl-Dietrich Bracher (1922-2016) wegwei‐ send vertrat. Eine Pointe des Titels ist sein dogmatischer Überschuss: Es kennzeichnete die Staatsrechtslehre vor und nach 1933, diesen Unter‐ schied nicht so schlicht zu machen. Die „kommissarische Diktatur“ er‐ schien der Weimarer Republik als legales und legitimes Institut und der Nationalsozialismus legitimierte sich als „charismatischer“ Führerstaat po‐ pulistisch oder auch plebiszitärdemokratisch. Heute [2017] haben wir wie‐
271 In: Philosophischer Literaturanzeiger 70 (2017), 53-57 272 Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen 2014
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VII. 1. Dreier 2016
der allen Anlass, über die Unterscheidung von Demokratie und Diktatur nachzudenken, wenn eine Demokratie wie Frankreich den Ausnahmezu‐ stand ausruft oder Erdogan in der Türkei einen ominösen „Putsch“ im Na‐ men der Demokratie zur Beseitigung des Rechtsstaats nutzt. Die Wahl des Titels ist höchst passend und anregend, weil Dreier zeigt, was eigentlich den Unterschied ums Ganze ausmacht: die Form des liberalen Rechts‐ staats. Die Sammlung bringt eine schmale Auswahl von zehn Beiträgen, die teils Gelegenheitspublikationen sind. Deshalb finden sich auch einige teils wörtliche und passagenweise Wiederholungen. Umso deutlicher wird aber die wohlkomponierte Gesamtaussage: Der eröffnende Beitrag zeigt, dass der Übergang vom Wilhelminismus zu Weimar, staatsrechtlich betrachtet, tatsächlich eine Revolution war und der Reichsgründungstag vom 18. Ja‐ nuar [1871] in Weimar gerade an den Universitäten intensiver gefeiert wurde als die Weimarer Verfassung selbst, für die sich als Nationalfeiertag auch kein bestimmtes Datum überzeugend anbot. Dreier korrigiert dann drei Legenden zur Strukturschwäche der WrRV – vermeintlich schwache Grundrechte, allzu starke direktdemokratische Instrumente, Selbstpreisga‐ be qua fehlender Verfassungsschutz – und führt das in weiteren Beiträgen besonders eingehend für die Entwicklung des Verfassungsschutzes und die Grundrechte aus. Die Verfassung sei auf einem guten Weg gewesen, sich liberal zu entwickeln; der Justiz fehlte nur die Zeit – und teils auch der Wille – zur richterlichen Rechtsfortbildung. Die Möglichkeiten der Verfas‐ sungsänderung, bis hin zur Selbstpreisgabe an die „legale Revolution“, seien zwar tatsächlich verhältnismäßig groß gewesen, doch dies entsprä‐ che durchaus der „Grundidee der demokratischen Selbstherrschaft“ (148), die in der Alternative „Vertrauen in den demokratischen Prozess oder Richterkönigtum“ (162, vgl. 72) auf das Parlament zu setzen habe. Was die Weimarer Republik als Demokratie substanziell ausmacht, setzt Dreier also in den liberalen Rechtsstaat: Grundrechte und Justiz. Die NS-Diktatur erörtert Dreier ähnlich prägnant: Er eröffnet mit einer Übersicht, die eine gewisse Spannung, Diskrepanz oder gar Antinomie zwischen Staatsrechtslehre und Nationalsozialismus betont: „Eine ‚proto‐ faschistische’ Staatsrechtslehre existierte nicht.“ (190) Das ist nicht un‐ strittig, zumal viele Weimarer Juristen vor 1933 nach Italien und auch Mussolini schauten. Dreier betont wiederholt in gleichlautenden Formulie‐ rungen (173, 217), dass die NS-Rechtswissenschaft die letzten Vernich‐ tungsschritte des Holocaust nicht offensiv gerechtfertigt habe; es habe mehr einen antiliberalen und auch antisemitischen „Negativkonsens“ ge‐ 167
Teil VII: Juristische Antworten
geben; alle angestrengten Versuche, den „völkischen“ Führerstaat zu rechtfertigen, „mussten letztlich am Fundamentalsatz des Regimes schei‐ tern: dass die Führergewalt keiner Ableitung, Herleitung oder Ermächti‐ gung bedurfte“ (233, vgl. 279). Dreier konstatiert einen fundamentalen „Formverlust“: Den Nationalsozialismus kennzeichnet ein „Rechtszer‐ fall“, eine dramatische „Zerstörung von Struktur und Form des Rechts im ‚Führerstaat’“, weshalb Dreier auch von einem „Rückfall in die Barbarei“ und von „NS-Nihilismus“ (296) spricht. Dreier sieht, dass die Frage nach einer europäischen Großraumwirt‐ schaft dem Verfassungsstaat aufgegeben war, der NS-„Lebensraum“-Im‐ perialismus aber natürlich die völlig falsche Antwort gab. Das „Axiom der formellen Gleichheit der Staaten“ (325) ist eine juristische Fiktion, der die Politik – damals wie heute – spottet. Die Sammlung schließt mit drei ein‐ gehenden Rezensionen zu Büchern aus drei Generationen kritischer Erfor‐ schung des NS-Rechts: Ernst Fraenkel, Michael Stolleis und Bernd Mer‐ tens. Fraenkels frühe und wegweisende Einsicht bestand in der grundsätz‐ lichen Betonung des „Vorbehalts“ (372) und Vorrangs des „Maßnahme‐ staates“ vor dem „Normenstaat“. „Der Normenstaat wird durch den Maß‐ nahmestaat konterkariert“ (355) oder gar „inkorporiert“ (366). Das bestä‐ tigt und belegt Dreier aus seiner breiten Kenntnis der NS-Literatur. Relati‐ ver Klartext findet sich Ende der 1930er Jahre vor allem bei Ernst Rudolf Huber und Werner Weber, zwei Bonner Schülern Carl Schmitts, die Schmitt nicht in alle destruktiven Energien, Hintertüren und Abgründe fol‐ gen wollten. Wiederholt betont Dreier, dass schon die NS-Rechtswissen‐ schaft die radikale Destruktion und Paralyse des Rechtscodes – jenseits ihrer apologetischen Überzeugungen und semantischen Beschönigungen – grundsätzlich sah und beobachtete. Gelegentlich attestiert er ihr die „Rolle eines bloßen Protokollanten“ (268). Man könnte auch von einer Beobachterrolle sprechen und sich in heik‐ lere Fragen begeben, ob und inwieweit die vollmundigen Apologeten als Beobachter zugleich doppelzüngige Kritiker waren oder sich okkasionell so verstanden. Der Fall Ernst Rudolf Huber ist hier besonders interessant. Auch bei Dreier rückt Huber als gewichtiger NS-Autor in den Fokus des Interesses. Manches lässt sich an ihm gerade für die letzten Jahre des Na‐ tionalsozialismus besser diskutieren als etwa am Paradefall Carl Schmitt. Leider ohne Kenntnis von Dreiers einschlägige Ausführungen habe ich unlängst zusammen mit Ewald Grothe einen Vortrag Hubers aus dem WS
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VII. 1. Dreier 2016
1944/45 publiziert,273 der in der Kritik an der NS-Paralyse der Rechtsform besonders weit ging und den Formverlust differenziert analysierte. Chris‐ toph Möllers274 hat dagegen mit einigen merkwürdigen Formulierungen sogleich vehement Einspruch erhoben. So schreibt er: „Ihn [Huber] und vergleichbare Figuren als Apologet zu bezeichnen ist apologetisch.“275 Das ist absurd. Wir hatten eingangs den grundlegenden Unterschied zwi‐ schen Hubers apologetischer Gesamtbejahung des Nationalsozialismus und der Fundamentalkritik der „Pionierwerke von Ernst Fraenkel und Franz Neumann“ selbst betont: „Der fundamentale Unterschied soll nicht verwischt werden“.276 Gewiss sind Vergleiche zwischen der externen und internen Beschreibung und Kritik nur sehr vorsichtig zu ziehen. Auch die NS-Rechtswissenschaft hat aber manches gesehen und gesagt. Das macht auch Dreier klar, wenn er die Formzerstörung im National‐ sozialismus als Grundtendenz herausstellt und Hitler als „notorischen Ju‐ ristenhasser“ (414) bezeichnet. Die Destruktion des Rechtscodes war der NS-Rechtswissenschaft schon in den Debatten um die juristische Herme‐ neutik, den Rechtsstaatsbegriff und den „Führer als Gesetzgeber“ von An‐ fang an klar. Wir sagen heute, dass man schon vor 1933 hinreichend genau wissen konnte, wer Hitler war und was er wollte. Das gilt auch für die Lage der Rechtswissenschaft seit 1933: Dass der Nationalsozialismus Rechtsstaat und Demokratie liquidierte, musste jeder Jurist aus seinem professionellen Fachgebiet eigentlich wissen. Die NS-Rechtswissenschaft hat es in beträchtlichen Teilen auch gewusst und ist darüber zunehmend kryptisch geworden und verstummt. Dreier zitiert das selektive NS-Proto‐ koll des Formverlusts und stellt Fraenkels grundsätzliche rechtstheoreti‐ sche Kritik dieser Destruktionsdynamik deutlich heraus. Er geht einen in‐ teressanten Schritt in Richtung vergleichender Analyse der perspektivi‐ schen Wahrnehmungsdifferenzen. Die Mitschuld der NS-Rechtswissenschaft am Unrecht des Nationalso‐ zialismus ist zweifellos sehr groß. Formzerstörung und Formverlust gibt
273 Ewald Grothe / Reinhard Mehring (Hg.), Das ‚Problem des geheimen Gesetzes’ und die Grenze des ‚Führernotrechts’. Erstveröffentlichung von Ernst Rudolf Hu‐ bers Vortrag ‚Gesetz und Maßnahme’ aus dem Wintersemester 1944/45, in: Der Staat 55 (2016), 69-96 274 Christoph Möllers, Erwiderung, in: Der Staat 55 (2016), 97-101 275 Möllers, Erwiderung, 98 276 Grothe/Mehring, Das ‚Problem des geheimen Gesetzes’ und die Grenze des ‚Führernotrechts’, 72
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Teil VII: Juristische Antworten
es aber auch heute fast überall: im Prozess der Europäisierung wie im Asylverfahrensrecht und vielen anderen Rechtsgebieten unter dem Druck der Krisen und des Terrors. Dreiers Sammlung ist heute gerade deshalb in‐ teressant, weil sie den himmelweiten Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht nur am Kriterium von Wahlen festmacht, sondern viel‐ mehr an der substantiellen Bedeutung der rechtsstaatlichen Formen und Verfahren, an den liberalen Grundrechten und dem Kriterium einer unab‐ hängigen Justiz. Das ist heute erneut wichtig zu betonen, wenn demokrati‐ sche Entscheidungen „populistisch“ fallen und ohne liberale und demokra‐ tische Kultur von den verschiedensten Seiten manipuliert werden. VII. 2. Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015277 1980 veröffentlichte Volker Neumann [*1947] seine Schmitt-Dissertation unter dem Titel Der Staat im Bürgerkrieg.278 In den folgenden Jahrzehnten publizierte er, lange als Staatsrechts-Professor in Berlin an Schmitts Ziel‐ universität lehrend, gelegentlich weitere Aufsätze insbesondere zum Links-Schmittianismus. Nach seiner Emeritierung nahm er sich das Werk nun auf über 600 eng gedruckten Seiten erneut gründlich vor. Auch ihm wurde die Auseinandersetzung mit Schmitt also zu einem akademischen Lebensthema. Sein kritisches Besteck und Seziermesser schärfte er dabei mit den Jahrzehnten vor allem in zwei Richtungen: Neumann geht nun mit breiterer Übersicht über die Geschichte der deutschen Staatsrechtswissen‐ schaft erneut an Schmitt heran und wirft eine lebenslange dogmatische Er‐ fahrung und ein starkes Credo für den staatsrechtlichen Positivismus in die Waagschale. Es ist ihm zuzustimmen: Im Gebirge der Schmitt-Literatur fehlen gründliche Untersuchungen der rechtsdogmatischen Qualitäten und Leis‐ tungen des Werkes. War der Kritiker des Rechtspositivismus ein guter An‐ walt der juristischen Methode? Neumann ist es gelungen, ein leeres Zen‐ trum in der Flut der Publikationen zu finden und ein wichtiges neues Buch zu schreiben. Er nimmt sich Schmitts einschlägige dogmatische Publika‐
277 In: Zeitschrift d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. German. Abtl. 133 (2016), 711-713; vgl. jetzt auch die umfangreiche Besprechung von Christoph Gusy in: Archiv des öffentlichen Rechts 143 (2018), 147-158 278 Volker Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandel des Staats‐ begriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt 1980
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VII. 2. Neumann 2015
tionen gründlich vor und nimmt sie detailliert auseinander. In eingehender und differenzierter „textnaher Interpretation“ (3) zielt er auf die „juris‐ tisch-dogmatische Analyse“ (2) und spielt hier vor allem Hans Kelsen, Ri‐ chard Thoma und die „andere Schmitt-Schule“ der Links-Schmittianer und „Troika linker Juristen jüdischer Herkunft“ (218) - Kirchheimer, Neu‐ mann und Fraenkel - gegen Schmitt aus. Fast durchgängig profiliert er Kelsen als vertretbare Alternative und Antwort. Er beschränkt sich aber nicht eng auf die rechtsdogmatische Auseinandersetzung, sondern betrach‐ tet Schmitts ganze juristische Grundlegungsarbeit im zeitgeschichtlichen Kontext. Die publizierten Texte erhellt er auch aus den vorliegenden Tage‐ buch- und Briefeditionen sowie weiteren Berliner und Heidelberger Ak‐ ten. Den Hype um Schmitt macht er nicht mit. Auf Schmitts „esoterische“ und spekulative Verstiegenheiten lässt er sich nicht ein. Manches lehnt er polemisch ab und manches hängt noch am älteren Forschungsstand. So in‐ tensiv er sich auf die neuere Kontextualisierung und Historisierung einge‐ lassen hat, nimmt er doch nicht alle jüngste Quelleneditionen – etwa des Periodikums Schmittiana - auf. Man könnte Schmitt heute noch detaillier‐ ter im dichten Kontext der kollegialen Beziehungen und Auseinanderset‐ zungen sehen: Die Korrespondenzen mit Wolzendorff, Smend, Jacobi und Jellinek liegen inzwischen [im Periodikum Schmittiana] vor, die Brief‐ wechsel mit Anschütz und Triepel, Kelsen und Thoma sind aber noch nicht ediert. Der Nachlass birgt weitere unbekannte Rechtsgutachten, die Neumann nicht berücksichtigt. Die Anlage seiner Arbeit ist freilich auch so weit genug. Hasso Hofmanns Standardwerk Legitimität gegen Legalität (1964) bahnte der juristischen und rechtsphilosophischen Auseinandersetzung einst den Weg. Ähnlich wie Hofmann betrachtet Neumann den Weimarer Richtungsstreit nun als Antwort auf „Erschütterungen des staatsrechtli‐ chen Positivitismus im Kaiserreich“ und geht hier von den alternativen und antipodischen Lösungen von Kelsen und Schmitt aus. Beide rekon‐ struiert er als „Theoretiker staatlicher Dezision“, die „unabhängig vonein‐ ander“ (47) auch Analogien zwischen Theologie und Staatsrechtslehre sa‐ hen. Anders als Schmitt habe Kelsen freilich den Primat des Rechts vor dem Staat vertreten, während Schmitts Souveränitätslehre im Ergebnis als „Theorie des gelungenen Staatsstreichs“ (52) zu lesen sei. Immer wieder exponiert Neumann im weiteren Gang seiner Untersuchung Kelsens alter‐ native Rechtslehre gegen Schmitts Verfassungslehre. Sein primäres Ziel ist aber nicht die konsequente Darstellung einer theoretischen Überlegenheit Kelsens, die Neumann auch nicht unkritisch sieht, sondern die mikrosko‐ 171
Teil VII: Juristische Antworten
pische Analyse von unklaren Formulierungen, internen Widersprüchen und argumentativen Schwächen von Schmitts Schriften. Besonders gelungen ist hier die detaillierte Analyse des Lehrbuchs Ver‐ fassungslehre (1928) sowie der anschließenden Schriften und „Theorie des starken Staates“ vor 1933. Neumann würdigt Schmitts systematischen Beitrag zur Grundrechtsdogmatik und entmystifiziert die rechtspolitische Bedeutung der Apologie des Reichspräsidenten, indem er der zentralen Unterscheidung zwischen Gesetz und Maßnahme eine relative sachliche und praktische Bedeutungslosigkeit attestiert. Eindringlich analysiert er Legalität und Legitimität als „aggressive Kampfschrift gegen die Weima‐ rer Republik“ (252) sowie Schmitts advokatorische Apologie des Preußen‐ schlages vor dem Leipziger Staatsgerichtshof. Dessen verfassungstheoreti‐ sche, rechtsdogmatische und rechtspolitische Destruktion Weimars wurde im juristischen Kern selten so eindringlich dargestellt. „‚Legal, illegal, scheißegal’“ (252), rekapituliert Neumann mit einer 1968er-Parole. Welche Konsequenzen für den Rechtscode zog Schmitt daraus im Na‐ tionalsozialismus? Verwarf er den Legalitätsmodus? Setzte er als „Jurist“ eine andere Legitimität gegen die Legalität? Negierte sein charismatischer Führerstaat Max Webers Einsichten in die bürokratische Herrschaft und das „Schicksal“ der Bürokratie? Neumann seziert den „Juristen“ Schmitt nicht nur im Verhältnis zur „Legalität“. Er meidet aber den von Hasso Hofmann wegweisend beschriebenen Ansatz, Schmitt eine rechtsphiloso‐ phische Grundfrage zu unterstellen und die Konfrontation von Legitimität gegen Legalität jenseits des offenbaren rechtspolitischen Opportunismus und der obszönen Diskriminierungen als problemorientierte Suchbewe‐ gung theoretisch positiv zu sehen. Zwar bestreitet Neumann Schmitts Schriften seit 1933 nicht pauschal die juristische Relevanz. Einige würdigt er vielmehr in manchen Aspekten anerkennend. Seine Darstellung des „Kronjuristen“ im Nationalsozialismus sucht aber nicht den selbständigen, wenn auch inakzeptablen Theoretiker eines alternativen Konzepts von Recht und Staat. Er interessiert sich nicht mehr sonderlich für den De‐ strukteur des Legalitätsmodus. Dadurch verliert die Darstellung an Profil, so wichtig und im Detail erhellend seine Geschichte des „Kronjuristen“ und larmoyanten Altnazis nach 1945 auch ist. Neumann stellt Schmitts Akteursrolle an der Seite Hans Franks in eini‐ gen Aspekten näher dar. Dabei überschätzt er Schmitts Einfluss nicht, son‐ dern betont auch anhand von Schmitts SD-Akte vielmehr die vielfältigen Gegnerschaften, die Ende 1936 zum Sturz führten. Seine Darstellung der völkerrechtlichen Schriften ist etwas blass. Zwar greift Neumann die Al‐ 172
VII. 2. Neumann 2015
ternative Kelsens und „Primatsthese“ vom Vorrang des Völkerrechts er‐ neut auf; trotz mancher interessanter Akzente exkludiert er Schmitt aber allzu einfach aus Rechtsphilosophie und Völkerrecht und verweist ihn auf die „Völkerrechtspolitologie oder –soziologie“ (486). Die Darstellung der Schriften wird etwas additiv und referierend. Auch dem Spätwerk nach 1945 gewinnt Neumann nur noch wenig ab. Schmitts Werk habe sich in „Unverbindliches und Unbestimmtes“ verflüchtigt. Einige mehr randstän‐ dige Gelegenheitsarbeiten seien immerhin eine „sehr ordentliche juristi‐ sche Leistung“ (518). Neumann destruiert Schmitts „Positivismuslegende“ und bestreitet exemplarisch die apologetische Selbstparallelisierung mit René Capitant. Am Ende würdigt er vor allem den Weimarer Verfassungs‐ lehrer der Jahre 1928 bis 1931 positiv. Trotz starker Einwände gegen man‐ che Aspekte auch dieser Schriften habe sich Schmitt damit „unzweifelhaft eine bleibende Stellung in der Geschichte des deutschen Staatsrechts gesi‐ chert“ (561). Ähnliches wird man von Neumanns Beitrag zur Schmitt-Forschung sa‐ gen können. Nicht allen Schriften wird er ganz gerecht. Obgleich er den „Juristen“ nicht auf den Legalitätsdenker und Rechtsdogmatiker verengt, treibt er die Spannung von „Legitimität gegen Legalität“nicht zur prototy‐ pischen Frage nach der Möglichkeit einer antilegalistischen Rechtswissen‐ schaft und politischen Alternative zum neuzeitlichen Verfassungsstaat. Für Neumann gibt es eine solche Alternative nicht. Rechtswissenschaft ist po‐ sitives Legalitätsdenken. Dann interessiert der Jurist Schmitt vor allem als Anti-Jurist: als militante Gegenprobe auf die Destruktion des Legalitäts‐ codes. Weil Neumann Schmitts Alternative mit Kelsen von vornherein ausschließt, nimmt er ihn als Theoretiker nach 1933 kaum noch ernst. Der Lackmustest auf die rechtsdogmatische Qualität des Werkes ist aber über‐ aus wichtig und erhellend. Neumann zeigt, dass eine juristische Theorie sich in der dogmatischen Konsequenz beweisen und bewähren muss. Er betrachtet die Rechts- und Verfassungstheorie als integralen Bestandteil und Ermöglichungsbedingung konsequenter dogmatischer Betrachtung. Seine Auseinandersetzung ist nicht mäkelig überzogen und polemisch ver‐ rannt, sondern wirbt mit Kelsen und letztlich auch Schmitt für eine weite, historisch-politische und theoriegeleitete positive Rechtswissenschaft.
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Teil VII: Juristische Antworten
VII. 3. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften. X, Frankfurt 2004279 Im Zitationsranking der Zeitschrift Information Philosophie steht Jürgen Habermas [*1929] seit Jahren unangefochten an erster Stelle. „Aber der Vorsprung schmilzt“, schreibt die Zeitschrift. Noch 2002 war er der erden‐ schweren Konkurrenz weit entrückt. Im Jahr 2003 aber war die Anzahl der Zitate fast halbiert. Es war auch stiller geworden. Zuletzt hatte Habermas 1999 mit Wahrheit und Rechtfertigung ein größeres Buch publiziert, das theoretische und praktische Philosophie miteinander verband. 2001 er‐ schienen noch der interessante Essay Die Zukunft der menschlichen Natur, eine weitere Sammlung kleiner politischer Schriften sowie der – jedenfalls unter diesem Titel – etwas untergewichtige Vortrag Glauben und Wissen. Danach gab es eine Pause. Man munkelte über eine Autobiographie, ein Buch über Völkerrecht. Die neue, nun schon zehnte Sammlung Kleiner Politischer Schriften ist thematisch homogener und deshalb auch sachlich gewichtiger als die letzte Sammlung, aber doch nicht die große, gewichti‐ ge Monographie, mit der Habermas in seinem 75. Jahr erneut als Meister‐ denker auch des 21. Jahrhunderts auftreten würde.280 Es ist nicht die große Philosophie des Völkerrechts, die Faktizität und Geltung (1992) und Die Einbeziehung des Anderen (1996) noch eine Krone aufsetzte. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass Habermas ein solches Schlusswerk seiner prakti‐ schen Philosophie gar nicht will. Seine Weiterentwicklungen der institu‐ tionellen politischen Theorie streben nicht zur monographischen Form, sondern in den Rahmen der Essaysammlungen. So enthielt 1999 schon eine Sammlung politischer Essays die titelgebende große Abhandlung Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. So wird die neue Sammlung Der gespaltene Westen jetzt von der abschließenden Ab‐ handlung Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chan‐ ce? dominiert.
279 In: Philosophischer Literaturanzeiger 57 (2004), 353-357 280 Habermas hat nach Zwischen Naturalismus und Religion (2005) keine große Sammlung mehr veröffentlicht, obgleich er noch bis in die jüngste Gegenwart ge‐ legentlich politische Interventionen publizierte. Seine nachfolgenden kleinen po‐ litischen Schriften Ach, Europa (2008) und Im Sog der Technokratie (2013) wa‐ ren vergleichsweise leichtgewichtig. Theoretisch ambitioniert war zuletzt nur: Zur Verfassung Europas. Ein Essay (2011)
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VII. 3. Habermas 2004
Im Vorwort schreibt Habermas: „Die Untersuchung zur Konstitutionali‐ sierung des Völkerrechts gibt mir einen Anlass, um einige bereits publi‐ zierte Beiträge zusammenzustellen, die den Zusammenhang dieser Frage mit dem Ziel der Europäischen Einigung beleuchten.“ Er verschiebt den Anspruch der Sammlung damit auf die theoretische Abhandlung und gibt den weiteren sieben Texten, die zusammen den halben Umfang bilden, eine eher ergänzende und illustrierende Bedeutung. Damit steht diese Sammlung an der Stelle der großen Völkerrechtsphilosophie, die auch möglich wäre. Der Zusammenklang mit den tagespolitischen Interventio‐ nen, die allesamt nach dem 11. September 2001 entstanden und unter dem Eindruck dieser Zäsur stehen, ist aber auch sinnvoll: Er verdeutlicht die moralisch-politischen Intuitionen und Wahrnehmungen, die die Theorie auf den Begriff bringt. Der Zusammenklang von politischer Teilnehmer‐ perspektive und politischer Theorie wird erneut deutlich. Das politische Leitmotiv der Sammlung ist dabei das Entsetzen über die Bush-Regierung: „Nicht die Gefahr des internationalen Terrorismus hat den Westen gespal‐ ten, sondern eine Politik der gegenwärtigen US-Regierung, die das Völ‐ kerrecht ignoriert, die Vereinten Nationen an den Rand drängt und den Bruch mit Europa in Kauf nimmt“, lautet der erste Satz des Vorworts. Die Sammlung beginnt dann mit einem Interview über Fundamentalis‐ mus und Terror, das das Spektrum der Fragen anspricht, und einem Artikel zum jüngsten Irakkrieg, der die Bush-Politik scharf kritisiert: „Machen wir uns nichts vor“, schreibt Habermas: „Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern.“ (34) Er hofft dagegen auf den „Widerspruch von Bündnispartnern [...] aus guten normativen Gründen“ (39). Vier folgende Beiträge widmet er deshalb der Stimme Europas in der Vielstimmigkeit seiner Nationen. Habermas findet hier Anzeichen einer europäischen poli‐ tischen Identität in den Protesten vom 15. Februar 2003 gegen den IrakKrieg. Ermöglicht wurden sie, so Habermas, nicht zuletzt durch die „Ab‐ stiegserfahrung“ des alten Europa im 20. Jahrhundert, die eine „reflexive Distanz“ ermöglichte, „aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen“ (51) und so die Demüti‐ gungen der arabischen Welt besser zu verstehen. Ein weiteres Interview klärt dann die Kritik an den USA und die Rolle der EU: Wenn „die EU im Hinblick auf die universalistische Ausgestaltung der internationalen Ord‐ nung gegen die USA einen konkurrierenden Entwurf zur Geltung bringen will, oder wenn wenigstens aus der EU heraus ein politisches Gegenge‐ wicht gegen den hegemonialen Unilateralismus entstehen soll, dann muss Europa Selbstbewusstsein und ein eigenes Profil gewinnen.“ (53) Haber‐ 175
Teil VII: Juristische Antworten
mas wünscht deshalb „eine Erweiterung der staatsbürgerlichen Solidarität über nationale Grenzen hinaus“ (65). Hauptstück ist hier ein längerer, bis‐ her unveröffentlichter Text Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, der schon mit der Titelfrage an die Schlussabhandlung anklingt und deren Gegenstück bildet. Im „Streit zwi‐ schen Integrationisten und Intergouvernementalisten“ (73) argumentiert Habermas hier für den Ausbau der „Regierungsfähigkeit“ der EU zum po‐ litischen „Global Player“. Ein europäischer Verfassungspatriotismus sei möglich. Eine europäische Öffentlichkeit zeichne sich ab. Ein Interview über Krieg und Frieden leitet dann zur Abhandlung über. Es verdeutlicht die Option für die „Idee einer gemeinsamen, von Kerneu‐ ropa ausgehenden Außen- und Sicherheitspolitik“ gegenüber dem „hege‐ monialen Uniliteralismus der US-Regierung“ (90) und die scharfe Ableh‐ nung des Völkerrechtsbruchs und der asymmetrischen Kriegsführung der USA: „Die Bush-Regierung hat das 220-jährige Kantische Projekt einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen mit moralischen Phrasen ad acta gelegt“ (101) und „das positive Recht durch Moral und Ethik er‐ setzt“ (102), meint Habermas. Er akzeptiert hier Carl Schmitts Kritik am „diskriminierenden“ Kriegsbegriff und dessen Unterscheidung zwischen einer „Moralisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehun‐ gen“ (103f). Im Interview deutet Habermas noch seine Option für ein „globales Mehrebenensystem“ an, das eine „Weltinnenpolitik ohne Welt‐ regierung“ ermögliche, die nicht die Entwicklung zum Weltstaat nimmt, sondern die staatliche Ebene dem mittleren Bereich – in Europa der EU – überlässt. Damit sind die Motive für die abschließende Abhandlung expo‐ niert. Formal schließt Habermas hier an seinen älteren – in Die Einbeziehung des Anderen enthaltenen – Aufsatz Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren an, der Kants Friedensschrift mit Schmitts Völkerrechtskritik konfrontierte. Er stellt die Abhandlung auch unter die Überschrift Das Kantische Projekt und der gespaltene Wes‐ ten. Sie gliedert sich in drei Teile. Der erste, wichtigste Teil verdeutlicht die institutionelle Option für „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“ durch ein politisches Mehrebenensystem. Habermas geht erneut von Kants Frie‐ densschrift aus, stellt deren epochale Wendung vom Recht der Staaten zu einem „Weltbürgerrecht“ heraus und nimmt dann Kants Frage nach dem Verhältnis von Weltrepublik und Völkerbund eingehend auf. Kant sah sich politisch gezwungen, strategisch vorläufig für einen „Völkerbund als Sur‐ rogat für den Völkerstaat“ (125) zu optieren. Habermas wendet diese stra‐ 176
VII. 3. Habermas 2004
tegische Option in ein prinzipielles Argument. Er lehnt die „Weltrepublik“ als Lösung ab und optiert für eine „dezentrierte Weltgesellschaft“ im Mehrebenensystem ohne „gewaltmonopolisierende Weltregierung“. Eine „politisch verfasste Weltgesellschaft“ betrachtet er als mögliche und wünschbare Alternative zur „Weltrepublik“. Damit nähert er sich Carl Schmitt, der den hegemonialen „Großraum“ gegen den weltstaatlichen „Universalismus“ setzte. Deshalb skizziert Ha‐ bermas im zweiten Teil der Abhandlung auch die neuere Geschichte des Völkerrechts mit dessen Innovationen nach 1945 und konturiert dann im dritten Teil „alternative Visionen der Neuen Weltordnung“, wobei er mit der Alternative „Kant oder Carl Schmitt?“ schließt. Kants Position aktuali‐ sierte er zuvor durch den nationalliberalen Theoretiker „Julius Fröbel vor und nach 1848“, was Carl Schmitt, bei dessen Interesse an der Geistesge‐ schichte um 1848, interessiert hätte. Zwar distanziert Habermas sich er‐ neut durchgängig vom existentialistischen „Faschisten“ (31, vgl. 26, 103f, 153). Dennoch sieht er bei Schmitt nun anregende Ansätze zu „einer Ent‐ staatlichung des Politischen“ (191) und meint abschließend, dass „sich eine modernisierte Großraumtheorie als ein nicht ganz unwahrscheinlicher Gegenentwurf zur unipolaren Weltordnung des hegemonialen Liberalis‐ mus“ (192f) empfiehlt. Das ist eine überraschende Formulierung. Habermas hatte seine ständi‐ ge Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalismus und Neokonser‐ vatismus in den letzten Jahren, spätestens seit Die Normalität einer Berli‐ ner Republik (1995),281 immer mehr auf Carl Schmitt konzentriert. Spätes‐ tens mit Die Einbeziehung des Anderen war dabei klar, dass es ihm nicht nur um „Schadensabwicklung“282 ging, sondern dass er von Schmitts Ver‐ fassungstheorie auch lernte. Habermas differenzierte dabei das „moralkri‐ tische Argument“. Wie Schmitt lehnte er den „Menschenrechtsfundamen‐ talismus“ ab, schränkte ihn aber auf die „unvermittelte Moralisierung von Recht und Politik“ ein und bestand auf der moralphilosophischen Fundie‐ rung des Rechts, während Schmitt sich auf die juristische Beobachterper‐ spektive beschränkte und nur den Missbrauch der Moralisierung und Poli‐ tisierung des Rechts kritisierte, ohne seine eigenen moralischen Kriterien philosophisch auszuweisen. Beim Kosovo-Krieg hatte Habermas die mili‐
281 Dazu vgl. Jürgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Poli‐ tische Schriften VIII, Frankfurt 1995 282 Dazu vgl. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt 1987, bes. 101ff
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Teil VII: Juristische Antworten
tärische Intervention dann selbst als „Vorgriff auf einen künftigen kosmo‐ politischen Zustand“283 am Rande des Völkerrechtsbruchs gerechtfertigt. Nun klärt er den Sinn dieser Wendung und richtet seine ganze Sammlung, mit einer Distanzierung von Rawls auch, gegen die aktuelle Aufweichung des Völkerrechts. Er modernisiert die Großraumtheorie, mit deren Option für den politischen Pluralismus gegen den weltstaatlichen Universalismus, indem er den weltbürgerlichen Universalismus nicht gegen den „Groß‐ raum“ ausspielt, sondern ihn im Mehrebenensystem mit dem politischen Pluralismus der Großräume verbindet und den europäischen Zentralstaat als Gegengewicht gegen die hegemoniale USA mit „Vorbildfunktion für andere Weltregionen“ (177) preist. Seine Überlegungen zur Konstitutiona‐ lisierung des Völkerrechts sind mit seinen Überlegungen zur Konstitutio‐ nalisierung der EU eng verbunden. In dieser Verknüpfung zweier aktueller Konstitutionalisierungsprobleme liegt der wichtigste theoretische Anstoß der neuen Sammlung, die im Detail nicht viel Neues bringt, aber doch eine wichtige Weiterentwicklung seiner politischen Theorie deutlich exponiert.
283 Jürgen Habermas, Von der Machtpolitik zur Weltbürgergesellschaft, in: Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt 2001, 27-39, hier: 35 (ab‐ grenzend 33f von Schmitt)
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Teil VIII: Adaptionen
VIII. 1. Dieter Thomä, Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016284 Goethe zählte die Rezensenten zum Typus des Störenfrieds. Sie futtern am Tisch des Autors und mäkeln hinterher herum. Der Autor Goethe be‐ schließt: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ Jeder kennt Beispiele, die es doppelt und dreifach verdienen. Eine negative Rezension von Thomäs Philosophie des Störenfrieds ist aber kaum vorstellbar: Es ist ein meisterliches Buch: originell, belesen und gelehrt, aktuell und amü‐ sant, im besten Sinne lehrreich und unterhaltsam. [Dieter] Thomä [*1959] ist ein international bekannter Heidegger-For‐ scher und –Kritiker, Herausgeber des Heidegger-Handbuchs. Gegen Heidegger brachte er den Menschen als Mitmenschen zur Geltung, genau‐ er: als Familienmenschen. Er schrieb über Väter und Eltern, auch über Va‐ terlosigkeit,285 und nun also zur Begriffs- oder Typusgeschichte des Stö‐ renfrieds, des starken und kräftigen Knaben, der als „puer robustus“ nach Horaz und Hobbes ein subkutanes, aber signifikantes Dasein in der politi‐ schen Anthropologie der Neuzeit fristete. In enger Betrachtungsweise schreibt Thomä die Wirkungsgeschichte einer unscheinbaren Figur des Hobbes, die nicht zuletzt über Marx und Engels buchstäblich wirkte. Er beschreibt aber darüber hinaus auch den Gestaltwandel eines Typus: des Störenfrieds als Widergänger des absolutistischen Gehorsamsanspruchs der Neuzeit. Es ist ein höchst originelles und nachdenkliches Buch zur po‐ litischen Philosophie der Neuzeit: Thomä entdeckt die politische Anthro‐ pologie als Thema neu, wo andere die politische Philosophie der Neuzeit von Hobbes bis Rawls als Geschichte des „kontraktualistischen Argu‐ ments“ normativ verengten und die anthropologischen Skizzen zum „Na‐ turzustand“ und „Naturmenschen“ als hypothetische Überlegungen in einen abstrakten Normativismus abbuchten. Gegen die Litanei der Rede vom homo homini lupus setzt Thomä die anthropologisch ergiebigere For‐
284 In: Philosophischer Literaturanzeiger 70 (2017), 48-53 285 Dieter Thomä, Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform, München 1992; Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008
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Teil VIII: Adaptionen
mel vom puer robustus und schreibt eine alternative Wirkungsgeschichte des Hobbes. Es sind nicht zuletzt neuere Theoriediskurse der französi‐ schen Linken, die sein Interesse an den anthropologischen Typen der Neu‐ zeit schulten, Autoren wie Bataille, Foucault und auch (Italiener) Agam‐ ben. Will man weiter ausholen und nach Kontinuitäten in Thomäs Schrif‐ ten suchen, so sind es auch die breiten Kenntnisse des psychologischen, psychoanalytischen und psychiatrischen Diskurses, die Thomä, von Kier‐ kegaard narrativistisch belehrt,286 gegen dogmatische Auslegungen der neuzeitlichen Subjektphilosophie und Individualitätstheorie kehrte. Thomä liest die „klassischen“ Autoren und Texte zur politischen Anthropologie der Neuzeit neu und macht signifikante Entdeckungen im Detail. Er be‐ trachtet den Störenfried dabei als „Schwellenwesen“ und betreibt eine „Schwellenkunde“ (29) zwischen Natur und Kultur, Individuum und Staat auf der Suche nach freiheitlicher Ordnung. Hobbes zitierte mit seiner Rede vom „puer robustus“ Horaz. Er deutete den „kräftigen Knaben“ aber sogleich um und entmächtigte alle Autoren des Herrschaftsvertrags unterhalb des Herrschers zu bloßen Untertanen. Rousseau rehabilitierte dagegen den Naturmenschen und mitleidigen „gu‐ ten Wilden“. Er verwandelte den Störenfried also von einem „egoisti‐ schen“ in einen „nomozentrischen Störenfried“, so unterscheidet Thomä begrifflich, der als Schwellenwesen zum „Vorgriff“ und „Fürsprecher einer anderen Ordnung“ (92) wurde. Rousseau experimentierte mit ver‐ schiedenen Ansätzen zur Rettung des nomozentrischen Potentials in den modernen Staat; Thomä liest ihn nicht nur vom Homogenitätstraum des législateurs und der modernen Vergesellschaftung her. Die früheste Ehren‐ rettung des puer robustus findet er aber bei Diderot in der nachgelassenen Schrift Rameaus Neffe, die allererst in Goethes deutscher Übersetzung 1805 erschien und umgehend in Hegels Phänomenologie des Geistes ein‐ wanderte. Diderot affirmierte den „exzentrischen Störenfried“ (153), der sich einfachen moralischen Qualifizierungen entzieht und den Thomä als produktives Ferment freiheitlicher Ordnung anerkannt wissen will. Schiller folgte noch Rousseaus Kategorien, wenn er die Dialektik von guten und bösen Störenfrieden in den Räubern ausbuchstabierte und die Fiktion des „Brüderbundes“ (190) im Tell problematisierte. Der „exzentri‐ sche Störenfried“ wird dann im 19. Jahrhundert verstärkt als Freiheits‐
286 Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Pro‐ blem, München 1998
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kämpfer und Sozialrevolutionär thematisiert. Thomä zeigt das prägnant an Victor Hugo, Wagner und Tocqueville, Marx und Engels und entdeckt da‐ bei mancherlei Perlen: nicht zuletzt den steten Nachweis der buchstäbli‐ chen Präsenz des puer robustus. Wagners Siegfried ist als „nomozentri‐ scher Störenfried“ und Vorgriff des Übermenschen ein „Vorläufer der fa‐ schistischen Störenfriede, die unterschiedslos in der Volksgemeinschaft zusammengehören.“ (249) Tocqueville wurde dagegen zum Kritiker der amerikanischen Pioniere und des „amerikanischen puer robustus“. Marx identifizierte den puer robustus mit dem revolutionären Kollektivsubjekt und diskriminierte den „Pöbel“ und das „Lumpenproletariat“. Thomä sym‐ pathisiert dagegen mit dem anarchistischen und individualistischen Ein‐ spruch und findet bei Freud und Hans Kelsen interessante Thematisierun‐ gen der Virulenz des exzentrischen Störenfrieds: demokratietheoretisch gehaltvolle Reflexionen zur Vergemeinschaftung einer Brüderhorde. Er er‐ örtert das auch mit Seitenblicken zum jugendbewegten Gemeinschaftspa‐ thos nach Blüher, Thomas Mann und Baeumler. Während Marx und Engels Hobbes’ puer robustus direkt zitierten, nahm Freud die Figur mehr von Diderot her auf. Mit Carl Schmitt und Leo Strauss, Schelsky und Horkheimer kehrt Thomä für das 20. Jahrhundert deshalb erneut zur Hobbes-Forschung und -Wirkungsgeschichte im enge‐ ren Sinne zurück. Er folgt Schmitt dabei nicht zuletzt im Interesse am zeit‐ genössischen Maoismus als jüngster Figur des Partisanen.287 Bei Strauss stellt er den frühen und scharfen Antiliberalismus heraus, der sich noch im Mai 1933 zu „fascistischen, autoritären, imperialen Prinzipien“ bekannte. „Hier treibt ein Opfer des NS-Regimes den Teufel mit dem Beelzebub aus“ (421), merkt Thomä an. Treffend macht er sich auch über Strauss’ narzisstische Identifikation des Nonkonformisten mit dem philosophieren‐ den „gentleman“ und Exegeten lustig (426). Das Schelsky-Kapitel macht dann mit einem Wendehals bekannt - Ist die späte Druckfassung [der Ha‐ bilitation] mit der Abgabefassung vor 1945 eigentlich textidentisch? -, der nach 1945 die Depolitisierung des Störenfrieds betrieb. Ausführlich erör‐ tert Thomä dann Maos terroristische Strategien der Beseitigung von Stö‐ renfrieden und erinnert diese Opferkosten des linken Terrorismus gegen fahrlässige Verklärungen der „Kulturrevolution“, wie sie sich etwa bei Alain Badious „Feier der Roten Garden“ finden. Thomä beschließt seine
287 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Poli‐ tischen, Berlin 1963
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Geschichte des Störenfrieds mit den Wallstreet-Spekulanten der Finanzkri‐ se, der Occupy-Bewegung und dem politischen Fundamentalismus und Terrorismus unserer Tage. Offenbar ist es bis heute nicht gelungen, das „Schwellenwesen“ des Störenfrieds zu bannen und innovativ zu kanalisieren. Anders als Hegels Phänomenologie des Geistes bietet Thomäs Phänomenologie des Typus deshalb auch keine systematische Lösung an. Es ist hier nicht möglich, die Fülle gelungener Formulierungen und anregender Verweise weiter nachzu‐ zeichnen. Thomä kommt dem Leser mit leichter Feder und einem Klassi‐ kerkanon entgegen. 715 Seiten sind nicht zu viel. Jeder Leser wird Ergän‐ zungen haben. Das Schmitt-Kapitel ließe sich um mancherlei literarische Entdeckungen des späten Schmitt ergänzen: den – auch bei Thomä zu fin‐ denden - Verweis auf Shakespeares Caliban etwa oder das starke Interesse an der Tradition des Picaro- und Schelmenromans, den Schmitt in der spa‐ nischen Frühgeschichte (Quevedo) nicht betrachtete und der in Grimmels‐ hausen seinen bedeutendsten deutschen Vertreter fand. Mehrfach inkrimi‐ niert Thomä die genderpolitisch blinde Identifizierung des Störers als männlicher Knabe. Grimmelshausen kannte neben dem Picaro, Simplex Simplizissimus, auch das weibliche Pendant der Picara-Gestalt: die Erzbe‐ trügerin und Landzerstörerin Courasche, die Brecht aktualisierte. Viel‐ leicht sollte Thomä noch eine Gegenprobe auf diese Gestalt nachliefern, wie seiner Familiarisierung des Mitmenschen überhaupt noch das literari‐ sche Experiment der Übernahme der weiblichen Perspektive fehlt. Auch die Picara-Tradition verweist auf die Schwellenzeit der Neuzeit, die Tho‐ mä mit Hobbes eröffnet. Schmitt zählte sich selbst zur „Bruderschaft des Neffen des Herrn Rameau“ und nannte bereits einige Vertreter der Reihe, der Thomä seine Kapitel widmete: „Wir aber gehören zur Rasse der Neffen des Herrn Rameau. Nur wer zu die‐ ser Rasse gehört, ist in die Wirklichkeit eingeweiht. Kein Faschist und kein Antifaschist, kein Verfolger und kein Wiedergutmachungsgläubiger gehört zu dieser Rasse. Wohl aber gehört zu unserer Bruderschaft der Herr von Goethe, wenigstens als Ehrenmitglied, weil er ja diesen Neffen in Deutschland einge‐ führt hat; Hegel gehört dazu, der ihn zu seinem Kronzeugen erhoben hat; aber auch die herrliche Bande, die im 16./17. Jahrhundert Shakespeares Stücke ge‐ schrieben hat. Von dieser echten Zugehörigkeit zur Bruderschaft des Neffen des Herrn Rameau konnte der Marxismus lange leben. Denn Karl Marx und Friedrich Engels waren Brüder dieses Neffen. Lenin und seine russischen Ge‐ nossen waren schon Verwerter und mit der Verwertung beginnt der Mehrwert, und mit dem Mehrwert die hohe Politik und alles Weitere ist dann nur noch
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Folge der Zeit. Wir aber führen die Rasse der Neffen des Herrn Rameau un‐ verfälscht weiter.“288
Thomä kann diese im Herbst 2015 erst publizierte Aufzeichnung, an die Schmitt noch einige ungeheuerliche politische Bemerkungen knüpfte, bei der Abfassung seines Buches allenfalls spät erst zur Kenntnis genommen haben.289 Umso frappierender ist die parallele Linienführung und umso in‐ teressanter wäre die Explikation der Unterschiede zwischen diesen Filia‐ tionen. Demokratietheoretische Systematisierungen zur Integration der an‐ archischen Kraft des puer robustus ließen sich etwa an die Ausführungen zu Kelsen anschließen. Thomä stellt die historische Typenschau und den literarischen Reichtum der „Klassiker“ aber über systematische Schablo‐ nen. Der schlichte Gast am reichen Tisch des Autors muss keine Quintes‐ senzen extrahieren, um die exquisite Gabe dieses Werkes zu rühmen. VIII. 2. Jan Assmann, Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016290 Assmanns wirkmächtige und bedeutende Schriften zur konstitutiven Into‐ leranz des absoluten Wahrheitsanspruchs der „mosaischen Unterschei‐ dung“291 wurden oft verkürzt als radikale Religionskritik verstanden; da‐ bei hatte der Ägyptologe den „Kosmotheismus“ des alten Ägypten als rei‐ chere Alternative profiliert und sich – mit Mozart – auch zur „natürlichen“ Religion und „religio duplex“ der Spätaufklärung bekannt.292 2015 publi‐ zierte er eine „Sinngeschichte“ des Exodus, der Ethnogenese Israels als Gründungsmythos des neueren Nationalismus, die seine früheren Thesen beträchtlich differenzierte und modifizierte. Er unterschied neben dem „Monotheismus der Wahrheit“ nun einen „Monotheismus der Treue“ und
288 Carl Schmitt, Glossarium, Neuausgabe Berlin 2015, 350 289 Dieter Thomä teilte mir am 19. April 2017 per Mail freundlich mit, er habe nur den Text der Ausgabe von 1991 berücksichtigt. 290 In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 69 (2017), 290-294; Assmann (*1938) ist ein weltberühmter Ägyptologe und Kulturwissenschaftler. 291 Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, Frankfurt 1996; Moses, der Ägyp‐ ter, Frankfurt 1998; Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Is‐ rael und Europa, München 2000; Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003 292 Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005; Religio duplex. Ägypti‐ sche Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010
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betrachtete dafür die israelitische Bundestheologie und den Exodus-My‐ thos als Zentrum des Glaubens. Das neue Buch Totale Religion, im Singular von einem Idealtyp spre‐ chend, eine monographisch überarbeitete Sammlung früherer Publikatio‐ nen, bleibt historisch zwar im Raum der jüdischen „Ursprünge einer bis heute lebendigen kulturellen Semantik“ (27); es zielt nun aber stärker in die Aktualität und unterscheidet dabei auch deutlicher zwischen „humani‐ sierenden“ Religionen, mit denen man leben kann, und „totaler“ Religion, die Gott und Welt konfundiert und das Leben apokalyptisch und funda‐ mentalistisch als zelotisches Gefechtsfeld missversteht. In meiner knappen Besprechung des Exodus-Buches von 2015 hatte ich am Ende geschrie‐ ben: „Viele Bücher wünscht man noch von ihm [Assmann] zu lesen: vor allem vielleicht ein weitgespanntes, aktuelles und politisches Buch über den ‚Heiligen Krieg’.“293 Als Leser wünschte ich vom wahren Kenner der Religionen eine stärkere Aktualisierung seiner Einsichten. Der irenische Gelehrte meidet aber weiter, trotz oder wegen der hitzigen Debatte, die plakative Aktualisierung und Politisierung. Und so hat er vordergründig erneut ein – relativ schmales - Buch über das alte Israel geschrieben; er gibt aber darüber hinaus zahlreiche aktualisierende Andeutungen sowie Bemerkungen zur Debatte und zielt insgesamt - mit und gegen Carl Schmitt – auf eine Kritik fundamentalistischer Totalisierung von Religion in den Formen des „Puritanismus und Zelotismus“. Zweifellos steht auch Assmann unter dem Schock des islamistischen Terrors als jüngster Erscheinungsform der „puritanischen Verschärfung“. Als „Puritanismus“ bezeichnet er dabei keine historische Formation, son‐ dern eine allgemein „nach Reinheit von Lehre und Praxis in religiösen Dingen strebende Einstellung“ (17), wie sie heute nicht zuletzt im „radi‐ kal-puritanischen Wahhabismus“vertreten werde. Er schreibt auch: Die „Entscheidung für ein Leben im Zeichen der Reinheit erfordert eine An‐ strengung, die im Islam djihad heißt“ (19). Assmann meint also nicht zu‐ letzt unseren heutigen Terror, wenn er von den Ursprüngen spricht. Er ver‐ steht die Gegenwart aus den Anfängen und betrachtet die alten Prägungen als „Sinnrahmen“ in ihren gegenwärtigen Möglichkeiten. Gewalt ist menschheitsgeschichtlich allpräsent. Das Pathos religiöser Gewalt kam nach Assmann aber erst mit der „Idee des eifersüchtigen Got‐
293 Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015, in: Philo‐ sophischer Literaturanzeiger 68 (2015), 105-107, hier: 107
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tes“ und dem „exklusiven“ revolutionären Monotheismus in die Weltge‐ schichte. Der Monotheismus der Treue transponierte dabei politische Va‐ sallitätsverpflichtungen, wie sie aus Assyrien stammten, in die Theologie. Erneut betont Assmann - wie schon in seinem grundlegenden Werk Herr‐ schaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa die Priorität des politischen „Ursprungs“ religiöser Vorstellungen und be‐ ruft sich deshalb auch auf Carl Schmitt. Seine eindrucksvollen alttesta‐ mentarischen Belege für religiösen „hate speech“ und Vernichtungsfuror gegen die „Gottesfeinde“ führt er dann zur Kritik des religiösen Funda‐ mentalismus, wenn er vom „Pathos der Konversion“ und „inneren Drama“ der Konvertiten spricht. Leicht hätte er sich hier auf aktuelle Literatur oder gar Fallbeispiele zur Rolle der Konvertiten im religiösen Fundamentalismus beziehen können; Assmann meidet aber, wie gesagt, massive Aktualisierungen, die ihrerseits leicht übergriffig und zelotisch wirken. Zur Abrüstung des Tagesdiskurses unterscheidet er auch zwischen „Motivation und Legitimation“ (57); er deutet in Fußnoten an, dass nicht jeder Gotteskrieger ernstlich religiös mo‐ tiviert oder gar theologisch gebildet ist, auch wenn er im Namen der Reli‐ gion auftritt und sich durch irgendwelche Autoritäten und Lehr- oder Ver‐ satzstücke „theologisch“ legitimiert. Vermutlich realisieren wir heute noch nicht hinreichend, wie profan die Akteure handeln und wie oft terroristi‐ sche Attentate als Auftragsmorde das Geschäft der Warlords – sei es nur zur Sicherung der Familie – betreiben. Assmann meint: Die Sprache der Gewalt „gehört in die revolutionäre Rhetorik der Konversion, der radikalen Wende und Abkehr, des kulturel‐ len Sprungs aus dem Alten ins Neue. Über diese Schwelle sind wir längst geschritten; sie bedarf keiner eifernden Einschärfung mehr.“ (76) Er nimmt Überlegungen und Passagen aus seinem Exodus-Buch wieder auf, wenn er das reaktionäre Pathos des Fundamentalismus auf Abrechnungen zurückführt, wie sie in der paradigmatischen Geschichte vom Goldenen Kalb niedergelegt sind. Der religiöse Fundamentalismus ist eine Gegenbe‐ wegung: nicht die anfängliche Offenbarung selbst, sondern eine Reaktion auf den Widerstand, den der revolutionäre Offenbarungsanspruch der „Propheten“ beim Volk erfuhr. Für diese Einsicht beruft Assmann sich auch auf Goethe und dessen Betrachtung der Religionsgeschichte (Israels) als „Conflict zwischen Unglauben und Glauben“. Die „Religion des ex‐ klusiven Gottesbundes ist Widerstand und trifft auf Widerstand.“ (80) Re‐ volutionäre leben gefährlich. Assmann führt aus, wie intensiv schon das Alte Testament das „Murren“ des Volkes thematisierte und dass Goethes 185
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Sicht in diversen Varianten und Thesen vom „Prophetenmord“ (99) fort‐ lebte. So erinnert er an den Theologen Ernst Sellin als Vorläufer Sigmund Freuds, der die These von der Ermordung des Moses pronociert vertrat. Religionen stiften Schuldgefühl. Die Idee vom Strafgericht und Zorn Got‐ tes beherrscht deshalb auch sehr häufig religiöses Verhalten. Etwas überraschend wendet Assmann sich hier Carl Schmitts Lehre vom Ernstfall (112ff) zu, um dieses Pathos des Ernstfalls zu verdeutlichen. Schon in seinem Buch Herrschaft und Heil hatte er sich auf Schmitt bezo‐ gen, um den politischen Ursprung von Religion zu thematisieren. Der Schmitt-Bezug ist nun für das neue Buch sehr wichtig: Schon der Titel Totale Religion ist eine Analogiebildung zu Schmitts Konzept vom „tota‐ len Staat“. Dessen politisches Kriterium der „Unterscheidung von Freund und Feind“ zielte auf Polarisierung und „Eskalation“ (113). Assmann meint nun, dass sich der religiöse Fundamentalismus analog Schmitts Be‐ griff des Politischen verstehen lässt: „Eine totale Religion ist eine Religion, die einen hegemonialen Anspruch auf die Kultur und den Menschen erhebt, so wie Schmitt das für den totalen Staat definiert und gefordert hat, und die diesen Anspruch mit dem Verweis auf den Ernstfall begründet.“ (122f)
Assmann führt diese Totalisierungsdynamik, diese „puritanische Verschär‐ fung“ weiter am alten Israel aus und betrachtet hier vor allem die Makka‐ bäer als fundamentalistische Vertreter des „Puritanismus und Zelotismus“. Er erwähnt aber erneut auch den zeitgenössischen Islamismus als Erschei‐ nungsform: „Fundamentalismus ist damals wie heute eine Reaktionsbildung auf eine Ver‐ wandlung der Welt in Richtung Modernisierung und Globalisierung“ (140).
Die Makkabäer traten als jüdische Orthodoxie gegen die „universalisti‐ sche“ Auslegung des Gesetzes durch eine „Reformpartei“ auf. Die jüdi‐ sche Tradition ist vielschichtig und deshalb „schwankt die jüdische Identi‐ tät zwischen politischer, religiöser und ethnischer Definition“ (145). Jüdi‐ sche Orthodoxie definiert Judentum primär durch Gesetzestreue. Die Mak‐ kabäer bekämpften die Reformpartei in einer „blutigen Gegenreformation“ und verstanden ihren unbedingten Einsatz für Gesetzestreue als Martyri‐ um. Assmann datiert die Makkabäerkriege als „Ursprung der Apokalyp‐ tik“ (154) und schlägt eine Brücke in die Gegenwart, indem er Schmitt als vergleichbaren „apokalyptischen Scharfmacher“ definiert: „Mit Recht nannte ihn der jüdische Philosoph Jacob Taubes einen ‚Apokalyptiker der Gegenrevolution’“ (156). Assmann schreibt:
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VIII. 2. Assmann 2016
„Nur von der Idee eines Ernstfalls her (in diesem Punkt möchte ich Carl Schmitt durchaus recht geben) ist das Totale im Religiösen wie im Politischen denkbar.“ (157)
Assmanns exponierter Rekurs auf Carl Schmitt hat im Buch wenigstens drei Funktionen: Zunächst meint er die These vom politischen Ursprung der Religionen und Primat politischer Einheitsbildung: eine These, die auch Taubes in seinen – posthum von Assmann herausgegebenen - Vorträ‐ gen über Die politische Theologie des Paulus294 vertreten hatte; sodann dient Schmitt, zweitens, der einfachen theoretischen Veranschaulichung der Dynamik der Politisierung und apokalyptischen Dramatisierung der Gegenwart. Im Buch firmiert er, drittens, aber darüber hinaus auch als Prototyp des apokalyptischen Scharfmachers und politischen Zeloten. Er steht hier statt eines aktuellen Terrortäters. Schmitt war aber allenfalls ein „Schläfer“ und schritt nicht selbst zur Tat. Allerdings ist Assmann zuzu‐ stimmen, dass der Sprache der Gewalt leicht Taten folgen. Der Verweis auf Schmitt als Prototerrorist ist nicht ganz abwegig; es sollte aber nicht übersehen werden, dass Assmann den islamistischen Terrorismus ziemlich verdeckt anspricht, wenn er nur die altisraelitische Tradition einerseits und Schmitt andererseits als Ursprung und Ende fundamentalistischer Apoka‐ lyptik erörtert. Für die „Ausgänge aus der Sprache der Gewalt“greift er am Ende auf sein Konzept der „religio duplex“ und seine Sicht der Aufklärung zurück. Hier beruft er sich auf die jüdische Aufklärung, auf Lessing und eine ein‐ drucksvolle ältere muslimische Version der Ringparabel. Dazu schreibt er: „Auch wenn der Islam natürlich an der überlegenen Wahrheit des Koran fest‐ hielt, implizierte die Konzeption der drei heiligen Bücher und der drei Buch‐ religionen, der Völker des Buches (ahl al kitab), eine Idee der Toleranz, die dem Westen weit überlegen war. Die Ringparabel konnte nur auf diesem Bo‐ den entstanden sein.“ (164)
Assmann erwähnt eingangs (30f Fn.) den Einwand von Peter Schäfer, er habe das historische Judentum zu stark kritisiert; er entgegnet: „Mir ging und geht es nicht um das ‚Wesen des Judentums’, sondern um die Ur‐ sprünge einer Semantik“. Ob die Erinnerung an die hohe „Idee der Tole‐ ranz“ im Islam des 8. Jahrhunderts historisch zutrifft, kann ich nicht beur‐
294 Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, hrsg. Aleida Assmann / Jan Assmann, München 1993
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teilen. Lutz Berger295 malte jüngst ein dunkles Bild von der Gewalt des frühen Islam, auch und gerade von den internen Auseinandersetzungen und Nachfolgekämpfen. Jüdische Historiker betonten gelegentlich die re‐ lative Toleranz des alten Islam gegenüber dem Judentum, verglichen mit den christlichen Diskriminierungen (so 1938 unter dem Eindruck des Na‐ tionalsozialismus Ludwig Feuchtwanger, Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte, Berlin 2014). Mir scheint, Assmann setzt mit dem Verweis auf den muslimischen Ursprung der Ringparabel einen bewussten anti-es‐ sentialistischen Kontrapunkt zur gegenwärtigen Polemisierung der Debat‐ te. Am Ende plädiert er für die „doppelte Mitgliedschaft“ in den partikula‐ ren Herkunftsidentitäten und im menschenrechtlichen und menschheitli‐ chen Universalismus. Dazu schreibt er: „Die Idee der Menschheit, die das 18. Jahrhundert gegen die Intoleranz der Offenbarungsreligionen mit ihrem Widerspruch von exklusivem Besitz und universaler Geltung ins Feld führen wollte, hat der postkolonialen Kritik nicht standgehalten, weil sie in westlichen Vorstellungen von gemeinsamem Ur‐ sprung und Wesen des Menschen verankert war. Heute, wo sich das Problem mit ganz anderer Dringlichkeit stellt, verankern wir die Idee der Menschheit nicht im Ursprung, sondern im Ziel“ (167).
Löst Assmann den Widerspruch von Partikularismus und Universalismus am Ende überzeugend auf? Was die Weltgeschichte nicht leistet, wird man ihm nicht als Pensum aufhalsen. Es sei aber erinnert, dass Assmann den universalistischen Anspruch des „Monotheismus der Wahrheit“ früher in seinen imperialen Konsequenzen problematisiert hatte. Die unscheinbare Rede von einem „Wir“ ist nun in ihrem Geltungsanspruch auch etwas fragwürdig: Meint sie einen utopischen Vorgriff auf einen Triumph des Universalismus? Überwindet sie die „postkolonialen“ Einschränkungen? Das wird sogleich fraglich, wenn Assmann sich auf den letzten Seiten auf Papst Benedikt XVI. und Jesus beruft und die „Gegenseitigkeit“ der Gol‐ denen Regel als naturrechtlichen Kern und Konvergenzpol beschwört. Er gibt mit dem letzten Absatz dann ein religionsfreundliches Credo zur „stif‐ tenden Kraft der Religion“ ab, beruft sich auf das Evangelium (Mt. 18,20) und schließt: „Die ‚wahre Religion’ gibt es nicht, aber die heilende, Frieden, Gerechtigkeit und Schönheit stiftende Kraft der Religion, jeder Religion, ereignet sich, wo immer sich Menschen von ihr in diesem Sinne inspirieren lassen.“ (174)
295 Lutz Berger, Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen, München 2016
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VIII. 3. Bredekamp 2016
Es ist erfreulich, dass Assmann sein Credo am Ende so offen und direkt konfessionell ausspricht. Der Partikularismus der Herkunftsidentität wird durch die Selbstkritik und Selbstexplikation aufgefangen und in die uni‐ versalistische Richtung transzendiert. Die Kraft zur Selbstkritik und Selbsttranszendenz scheint allerdings nicht überall und bei jedermann im gleichen Maße zu finden zu sein. Mit der interkulturellen Begegnung wer‐ den heute auch Grenzen des Universalismus deutlich. Assmann spricht sie selbst mit der „postkolonialen“ Kritik an. Weite Teile der Menschheit agieren nicht universalistisch und verstehen sich auch nicht so. Gibt es heute einen muslimischen Religionshistoriker und Theologen, der eine vergleichbare Selbstkritik des Islam schreiben könnte? Vielleicht muss das gar nicht sein. Vielleicht muss man gegenwärtige Phänomene nicht derart aus den Anfängen verstehen wollen, um sie zu transzendieren. Die Rück‐ wendung auf die Anfänge der Geschichte ist auch eine Flucht aus der Zeit: die Insel des Gelehrten. Die Schallverlagerung der Kontroverse in die An‐ fänge des „Zelotismus“ ist aber vor allem ein anregender und neuer Im‐ puls und Beitrag zur Debatte. VIII. 3. Leviathan oder Behemoth? Horst Bredekamps Arbeit an Carl Schmitts Mythos des 20. Jahrhunderts.Besprechung von: Der Behemoth. Metamorphosen des Anti-Leviathan, Berlin 2016296 Der international renommierte Kunsthistoriker Horst Bredekamp [*1947], von der ikonologischen Warburg-Schule stark beeinflusst, publizierte 1999 ein beeindruckendes und wirkmächtiges Buch über Thomas Hobbes und die „visuellen Strategien“ des Leviathan-Mythos, das 2006 in überarbeite‐ ter dritter Auflage erschien.297 Schon dieses Buch war geradezu zwangs‐ läufig von Carl Schmitt angeregt. Schmitt hatte das Augenmerk der Hobbes-Forschung für die politische Ikonologie und Bildpolitik 1938 in seinem prägnanten Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes eigentlich erst geweckt. Sein Buch trug den Untertitel Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Den Fehlschlag des Symbols ver‐
296 In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68 (2016), 109-114 297 Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651-2001, Berlin 3. Aufl. 2006; vgl. ders., Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Eine Studie zum schematischen Bildakt, Berlin 2014
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band Schmitt dabei, grob gesagt, mit der Philosophie des Hobbes, den konstruktiven Sinn aber mit dem Versuch, den individualistischen und li‐ beralistischen Ansatz durch das Schreckbild vom Leviathan mythisch zu überspielen. Bredekamp stellt seinem Leviathan-Buch von 1999 nun, nach dem Vorbild des Hobbes, ein knapperes Behemoth-Buch zur Seite: die er‐ weiterte, reich bebilderte Fassung eines Vortrags, den er auf Einladung der Carl Schmitt-Gesellschaft im Oktober 2014 in Berlin hielt. Einerseits ist es ein Schmitt-Vortrag und andererseits darüber hinaus auch eine Skizze neuerer Stationen bildlicher Behemoth-Darstellungen. Dadurch bleibt manches notwendig nur angedeutet und unausgeführt. Die Form des Vor‐ trags ist belassen und der Text formuliert in überaus knapper Form einige starke und leicht „esoterisch“ vor allem an die Schmitt-Forschung adres‐ sierte Thesen. Diese Thesen sollen hier kommentierend herausgestellt werden, weil auch Bredekamp meint: „Die Bewertung von Schmitts Leviathan des Jahres 1938 wird kaum an ein Ende kommen können, weil das Buch immer neue und vorschnellen Urteilen widersprechende Aspekte hervortreten lässt.“ (63)
Seine „kurze Geschichte der politischen Ikonologie“ (17) des Behemoth zielt also auf die Umdeutungen Schmitts und deren aktuelle Wirkung. Wie schon Schmitt geht auch Bredekamp dafür auf die Deutungsgeschichte des Symbols zurück: Das Buch Hiob bezeichnete Leviathan und Behemoth als „erstgeschaffene“ Kreaturen Gottes. Diese Mythen haben altägyptische Vorgänger: Die Ungeheuer treten zunächst u.a. als Krokodil, Elefant und Nilpferd auf. Während der ägyptische Mythos die Ungeheuer aber „mini‐ mierte“, um andere Mächte herauszustellen, hat die jüdische Überliefe‐ rung sie „monumentalisiert“ (20). Bredekamp führt einige mittelalterliche Quellen und Darstellungen auf, prüft die Verweise Schmitts und stellt dann die Innovationen des Hobbes heraus: Hobbes präsentierte den Levia‐ than nicht als Fabelwesen, sondern als „künstlichen Menschen“ in Riesen‐ gestalt, und er temporalisierte den Streit der Ungeheuer, durch den Ord‐ nung das Chaos, der Leviathan den Behemoth und der Staat den Bürger‐ krieg besiegt. Der Leviathan symbolisiert nach Hobbes nun die Friedens‐ funktion des übermächtigen, souveränen Territorialstaates. Überraschend stellt Bredekamp in den Metamorphosen der politischen Ikonologie dann aber bildliche Darstellungen von William Blake als nächste Wendung he‐ raus. Blake kehrte zur älteren Überlieferung und „Gleichsetzung der bei‐ den Monstra als Mächte des Satan“ (49) zurück, um die englischen Politi‐ ker Nelson und Pitt zeitkritisch zu markieren. Karikaturistische Politisie‐
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VIII. 3. Bredekamp 2016
rungen und Aktualisierungen finden sich dann häufiger. Bredekamp zeigt eine Zeichnung von Louis Breton, die die italienische Zeitschrift Behe‐ moth später als Titelbild aufgriff. In der politischen Karikatur des 20. Jahr‐ hunderts finden sich wahrscheinlich noch viele vergleichbare Darstellun‐ gen. Münkler298 beispielsweise zeigt eine englische Karikatur von 1915, die Leviathan, Behemoth und den Vogel Zitz als Monster des Landkriegs, der Seeschlacht und des Luftkriegs, als aktuelle Mächte und Kriegspartei‐ en identifiziert. Nachdem der Philosoph und Soziologe Ferdinand Tönnies Hobbes um 1900 als liberalen Autor und „Rationalisten“ ohne Berücksichtigung der politischen Ikonologie neu entdeckte, kennzeichnet es Schmitts Stellung in der Deutungsgeschichte des Hobbes, so Bredekamp, die Bildpolitik als Autorstrategie erneut ernst zu nehmen. Schmitts aktualisierende, antisemi‐ tisch getönte Deutungsgeschichte des „Sinns“ des politischen Symbols sei trotz nötiger Einwände dabei auch im gelehrten Detail „bemerkenswert“ (56). Bredekamp thematisiert Schmitts Hobbes-Kritik selektiv auf die Be‐ hemoth-Metamorphosen konzentriert. Schmitts erster Einwand bezog sich auf den Titel: Wenn Hobbes den neuzeitlichen Territorialstaat meint, hätte er eigentlich das Landungeheuer wählen und sein Buch also „Behemoth“ nennen müssen. Schmitt zitierte 1938, als bildliche Darstellung aus Herrad von Landsberg, das „Motiv der spielerischen Entschärfung“ (63) des Sa‐ tans durch Gott. Bredekamp liest diese christliche Markierung als frühe Andeutung des späteren Theorems vom „Ende“ des souveränen Staates. Dieser Übergang von 1938 zum Nachkriegsspott des alten Schmitt geht mir zu schnell; hier liegen erhebliche Metamorphosen der Deutung vor. Es trifft allerdings zu, dass der alte Schmitt den „Staat der Industrie-Gesell‐ schaft“ (Forsthoff) gelegentlich gerne als „Haustier“ (63) oder Kaninchen bezeichnete. Das Titelbild der Neuausgabe von 1982 zeigt den Leviathan deshalb auch, mit einer Radierung von 1600, als „verendetes Seemon‐ strum“ (63). Bredekamp meidet das beliebte Schmitt-Bashing; er will das Werk nicht auf Nationalsozialismus reduzieren, sondern gegenläufige Tendenzen und Deutungsmöglichkeiten andeuten. Deshalb betont er auch eine „Konver‐ genz“ (68) zwischen Schmitts Arbeit am Mythos und der Deutung des einstigen Berliner Seminarteilnehmers Franz Neumann,299 der den NS298 Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, 273 299 Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, 2. Aufl. New York 1944
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Staat 1942 in der Emigration als Behemoth identifizierte. Diese Umdeu‐ tung des Leviathan zum Behemoth liege durchaus in der Konsequenz Schmitts, meint Bredekamp; er entwickelt dann weitere gewichtige und nicht unstrittige Überlegungen zu Schmitts fortdauernden gelegentlichen Bemerkungen zum Leviathan- und Behemoth-Mythos: So habe Schmitt Hobbes nach 1945 verstärkt als Barock-Philosoph begriffen, angeregt auch von Walter Benjamin, und mit dem „Fassadencharakter des Barock“ (73) die Ambiguität von Hobbes’ Werk verdeutlicht. Schmitt habe das Bild des Leviathan als barocke „Blendarchitektur der Herrschaft“ (76) ver‐ standen. Bredekamp liest diesen späten Bezug auf das Zeitalter des Barock wohl als klärende These im Deutungsstreit um den „rationalistischen“ und den „mythischen“ Kern des Symbols. Dieser Deutungsstreit ist demnach in der Ambiguität des barocken Werkes angelegt. Wahrscheinlich hat Schmitt diese Ambiguität aber schon 1938 als doppelte Anlage und Rheto‐ rik verstanden und politisch instrumentalisiert: Hobbes sah sich in der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Diskurses zu einer doppelten Rhetorik genötigt: Was der philosophische Diskurs nicht mehr begründen konnte, kompensierte die Visualisierung: die Darstellung von absoluter Macht. Als „Besiegter von 1945“ wählte der alte Schmitt für sich eine alternati‐ ve Emblematik: Er identifizierte sich mit dem „überlegenen Lächeln“ einer Portikusfigur der Kathedrale von Santiago de Compostella. Diese „mimische Symbolgeste“ verschickte er gerne als Bildpostkarte im Kreis, nachdem er sich zuvor mit dem sardonischen Gelächter des besiegten Van‐ dalenköngs Gelimer identifiziert hatte. Schmitt neigte zu symbolischen Gesten. Die Umstellung der Selbstbeschreibung vom sardonischen Lachen auf ein gelöstes Lächeln ließe sich als Zeichen persönlicher „Vergangen‐ heitsbewältigung“ deuten: Der späte Schmitt entsagte so seit 1960 symbo‐ lisch dem Ingrimm und Ressentiment des Besiegten. Solche ikonischen Gesten sind reflektierte Botschaften; man wird sie nicht einfach als au‐ thentische Expressionen verstehen dürfen. Mit Warburg wäre eher von einer gezielten Pathosformel zu sprechen: Schmitt signalisierte einen psy‐ chodynamischen Befindlichkeitswechsel. Bredekamp verzichtet hier aber auf starke biographische Thesen und beschränkt sich weitgehend auf die kunsthistorische Explikation von Schmitts Daniel-Identifikation. Bredekamp wollte nicht nur einen Schmitt-Vortrag halten, sondern auch einige Stationen des Bedeutungswandelns bildlicher Behemoth-Darstel‐ lungen skizzieren. Die Behemoth-Deutungen sind dabei unauflöslich mit den Leviathan-Metamorphosen verbunden. Hobbes pries den Triumph des 192
VIII. 3. Bredekamp 2016
Leviathan über Behemoth in normativer Absicht; er argumentierte für die Friedensfunktion des Leviathan. Diese Verhältnisbestimmung von Levia‐ than und Behemoth geriet in der Geschichte des neuzeitlichen Verfas‐ sungsstaates mit der Erfahrung des totalitären Leviathan aber ins Wanken. Bredekamp endet deshalb mit Ausblicken auf neuere Aktualisierungen des Behemoth-Symbols: Leviathan heißt eine wichtige sozialwissenschaftliche Fachzeitschrift in Deutschland. Andere Zeitschriften wählten in neuerer Zeit den Titel des Behemoth und deuteten das Symbol naturzuständlicher Anarchie, mit anarchistischer Emphase, in einen alternativen „Sympathie‐ träger“ substaatlicher demokratischer Governance (92f) um. Bredekamp wirft knapp die Frage auf, ob sich auch bei Schmitt Ansätze einer positi‐ ven Aufwertung des Behemoth gegenüber dem Leviathan-Symbol zeigten: Er gibt zu bedenken, dass sich der Behemoth als kompakter „Landtreter“ gegen die liberale „Trennung von Außen und Innen“ (96) sperrte, die Schmitt als „Todeskeim“ des liberalen Staates betrachtete. Diese Andeu‐ tungen scheinen mir aber nicht ganz klar. Sowohl Schmitts Kritik des Le‐ viathan-Mythos als auch seine Verhältnisbestimmung von Leviathan und Behemoth, für die nicht zuletzt das Büchlein Land und Meer von 1942 zu berücksichtigen wäre, konnten im Rahmen des Vortrags auch nicht deut‐ lich ausgeführt werden. Bredekamp löst sich am Ende von der Schmitt-In‐ terpretation und erörtert einige interessante „aktuelle Varianten“ des Behe‐ moth-Mythos. Gegen die utopische Hoffnung, der Behemoth könnte eine „substanzielle“ Alternative zum skelettierten Leviathan vorstellen, habe Derrida nach dem 11. September 2001 berechtigten Einspruch erhoben und die Gegenwart erneut als „behemothisches Zeitalter im Sinne Hobbes“ (95) gedeutet. Das bestätigten noch jüngste eindrucksvolle Behe‐ moth-Verfilmungen (Andrej Swajginzew, Zhao Liang), in denen der ge‐ scheiterte Staat, furchtbarer als Schmitts Titelbild von 1982, als skelettier‐ tes, verwestes und zerfallenes „Teufelsmonster“ erscheint. Bredekamps knappes Büchlein ist in der Vortragsform belassen. Zieht man die bildlichen Darstellungen ab, die zum Sprechen zu bringen das pri‐ märe Ziel des Kunsthistorikers ist, so liest sich der Gedankengang äußerst verdichtet und allzu knapp. Die dichte Anlage des Vortrags bedarf weiterer Ausführungen, und es wäre zu wünschen, dass Bredekamp seinem Behe‐ moth-Büchlein eine monographische Ausführung folgen ließe, wie sein Hobbes-Buch von 1999 einst auch aus einem Aufsatz – in der Zeitschrift Leviathan - hervorwuchs. Die Rede von „Metamorphosen“ legt einen Ge‐ staltwandel im organischen Prozess nahe. Schmitts Buch von 1938 ist aber nicht in Neumanns Deutung von 1942 „aufgehoben“, Gelimers Lachen 193
Teil VIII: Adaptionen
nicht im Lächeln des Propheten versöhnt. Aus der Sicht des Schmitt-For‐ schers seien deshalb einige knappe und strittige Thesen Bredekamps er‐ neut deutlich benannt und andiskutiert. Ich beschränke mich dabei auf die Schmitt-Thesen: Zum Deutungsstreit zwischen Tönnies und Schmitt um die „rationalisti‐ sche“ und die „mythische“ Lesart des Hobbes sei (1.) nur ergänzt, dass Schmitt mit Tönnies vor 1933 wiederholt korrespondierte und beide sich auch persönlich begegneten.300 Hobbes kommt im Briefwechsel zwar nur am Rande vor und der Deutungsstreit um die „rationalistische“ und die „mythische“ Auslegung ist noch kein Thema; Schmitt trat als Hobbes-For‐ scher auch eigentlich erst nach 1933 hervor, verstand sich in der Korre‐ spondenz mit Tönnies aber bereits als Mitglied der Hobbes-Gesellschaft und veranlasste sehr wahrscheinlich auch die Übersendung der frühen Hobbes-Dissertation seines Bonner Schülers Werner Becker,301 die eine „christliche“ Hobbes-Deutung gegen Tönnies stellte. Schmitts Dissertati‐ onsgutachten von 1925302 gehört zu seinen längsten und wichtigsten Äu‐ ßerungen zu Hobbes vor 1933. Bredekamp stellt (2.) der geläufigen „nationalsozialistischen“ Lesart des Leviathan-Buches alternative Ansätze und Möglichkeiten entgegen. Im knappen Rahmen seiner Ausführungen markiert er die Grenzen der „christlichen“ Auslegung und die politische Tendenz einer frühen Todeser‐ klärung des Staates aber nicht deutlich. Das ist hier auch nicht auszufüh‐ ren. Es sei aber erinnert, dass Schmitt 1938 „zwei große Deutungsrei‐ hen“303 scharf unterschied – „jüdische Mythisierung“ und „christliche Symbolisierung“ -, während Bredekamp die Alternative einer religiösen und einer politischen Lesart stärker betont. Schmitts antisemitische Wen‐ dung des Leviathan-Mythos wird also kaum geklärt. Der religiösen Deu‐ tung – Gott angelt sich den Leviathan – stellt Bredekamp mehr die politi‐ sche Deutung als mörderischer Zerfleischungskampf der Ungeheuer ent‐ gegen. Schmitts Überlegungen zur suizidalen Kastration des Leviathan
300 Edition der erhaltenen Korrespondenz inzwischen in Schmittiana N.F. III (2016), 103-118 301 Werner Becker, Die politische Systematik der Staatslehre des Thomas Hobbes, Köln 1928 302 Abdruck in: Briefwechsel Carl Schmitt-Rudolf Smend 1921-1961, 2010, 2. Aufl. Berlin 2012, 164f 303 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, 14f
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VIII. 3. Bredekamp 2016
sind komplex. Das Buch von 1938 betont nicht zuletzt den Souveränitäts‐ verlust der Selbstbindung des Staates durch das positive Recht. Schmitt entwickelt vor und nach 1945 dann noch eine ganze Reihe polemischer Beobachtungen und Gründe für den Souveränitätsverlust des modernen Staates. Sein Übergang vom Staatsbegriff zum Reichsbegriff und dann zur „elementaren“ Betrachtung des Kriegsgeschehens ist hier signifikant. Mit der Kriegswende 1941/42 entsagt Schmitt dem Reichsbegriff und der „völkerrechtlichen“ Apologie der NS-Expansion. Spätere Todeserklärun‐ gen des Staates nach 1945 haben wieder andere politische Motive und Gründe. Eine starke Kontinuitätsthese der Leviathan-Deutungen von 1938 bis ins Spätwerk scheint mir problematisch. Zweifellos ist Franz Neumanns Behemoth-Buch von 1942 von Schmitt vielfältig angeregt. Überhaupt hat die NS-Rechtwissenschaft mancherlei treffende Beschreibungsansätze und normative Distanzen in diversen Äußerungsformen - exoterisch und esoterisch, intentional und contra-in‐ tentional – formuliert. Der „christliche“ Sinn von Schmitts Werk steht aber weiter dahin. Die Ambiguität des Leviathan-Buches von 1938 und die „barocke“ Deutung des Hobbes ließen sich (3.) anders rekonstruieren. Die liberale Reservation des Gewissensvorbehalts und „Trennung“ von Innen und Außen sollte besser vielleicht von dem Ausgangsproblem her begrif‐ fen werden, das sich Schmitts Hobbes-Interpretationen nach 1936 stellte: Was sind die Grenzen einer „mechanistischen“ Betrachtung des Staates? Wie ist eine „organische“ Staatskonstruktion, die „Volk und Staat“ inte‐ griert, jenseits von Hegel und politischer Romantik überhaupt möglich? Schmitts Ausgangspunkt ist das „Totalitätsproblem“: Ermöglichen politi‐ sche Mythen einen „totalen“ Staat? Das exploriert Schmitt, auch in der Auseinandersetzung mit Erik Peterson, mit seinen Hobbes-Studien; nach dem „Fehlschlag“ des modernen Verfassungsstaates rekonstruiert er den „Sinn“ des Symbols um der mythopolitischen Mobilisierung politischer Totalität willen. Seine späteren Ausführungen zur „barocken“ Fassade, so interessant sie sind, verdecken dieses Anliegen mythopolitischer Rekon‐ struktion eines „totalen“ Staates etwas. Schmitts „barocke“ Pathosformel vom gelösten, christlich geläuterten Lächeln des „Besiegten“ ist ein wichtiger Aspekt der späten Selbstdarstel‐ lung im „System Plettenberg“ für den Kreis. Was Bredekamp(4.) über die Metamorphosen der Aktualisierung von Behemoth und Leviathan auf we‐ nigen Seiten schreibt, ist auch überaus anregend und beachtlich. Heutige ikonische Darstellungen von aktuellem Staatsversagen und vom „verwe‐ senden“ Leviathan sind nur zu berechtigt. Niemand wird deshalb Schmitts 195
Teil VIII: Adaptionen
Motive der Todeserklärung des Staates aber mit den heutigen Verfallsge‐ schichten gleichsetzen. Das tut auch Bredekamp nicht. Er wirft im knap‐ pen Rahmen nur wenige signifikante Schlaglichter und ist sich der Gren‐ zen seiner pointierten Würdigung des ingeniösen politischen Ikonologen wohl bewusst. Sein knapper Vortrag wurde hier etwas kleinteilig primär als SchmittDeutung gelesen. Bredekamps Rang als Autor und sein eigener kunsthis‐ torischer Zugang verdienen aber detaillierte Beachtung. Schmitts „politi‐ sche Theologie“ ist nach wie vor strittig. Heute haben wir erneut mancher‐ lei Anlass, über die Gründe der Zerstörung und Gewalt nachzudenken und sie in Bilder zu fassen. Das „Böse“ ist wieder ein akademisches Thema. Gerade hat Kurt Flasch eine Geschichte des Teufels publiziert, die Bre‐ dekamps Momentaufnahmen durch eine breitere Darstellung der „Wesens‐ wandlungen“ und „Metamorphosen“ des Teufels304 verdeutlichen kann. Auch Flasch geht vom Buch Hiob aus und rekonstruiert den Aufstieg des Teufels im Neuen Testament und der christlichen Dogmatik nach Paulus und Augustinus, Thomas v. Aquin und Luther. Flasch spricht von einem „Exklusionschristentum“ (162f), das im inquisitorischen „Vernichtungs‐ programm“ (201) der Hexenverfolgerungen seine sexistische Spitze erhielt und eigentlich erst im 18. Jahrhundert, mit der historischen Bibelkritik, an sein Ende gelangte. Bei Goethe war Mephisto dann nur noch eine „Thea‐ terfigur“ (377). Flasch schreibt: „In Europa ist der Teufel tot. Vielleicht lebt er noch in Afrika oder in einem Slum Südamerikas.“ (380) Man ist zu ergänzen geneigt: wahrscheinlich auch im Nahen Osten. Flasch schreibt auch: „Der Teufelsglaube schien schon auszusterben, da gaben zwei Welt‐ kriege der Teufelsrhetorik neuen Anlass“ (353). Bredekamp zeigte, wie William Blake zeitgenössische englische Politi‐ ker visuell verteufelte. Waren ernstliche Verteufelungen politischer Täter und Untäter dem 20. Jahrhundert nicht mehr möglich? Thomas Manns Verteufelung Hitlers und des Nationalsozialismus wäre hier eine gewichti‐ ge Quelle. Eine bedeutende Interpretin wie Käte Hamburger305 kritisierte Manns Adaption des Teufelsmotivs im Doktor Faustus als Anachronis‐ mus. Carl Schmitt buchte aktuelle Unmenscherklärungen auf das Konto des Humanismus: Wenn der Mensch sich nicht mehr gegen Gott relati‐
304 Kurt Flasch, Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie, München 2015, 48 305 Käte Hamburger, Anachronistische Symbolik. Fragen an Thomas Manns Faus‐ tus-Roman, in: dies., Kleine Schriften, 2. Aufl. Stuttgart 1986, 309-334
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VIII. 4. Sloterdijk 2014
viert, diskriminiere er zwischen Übermenschen und Untermenschen. Man könnte Kurt Flasch mit Schmitt begegnen: Wenn Satan als Gestalt nicht mehr glaubhaft ist und nur noch als Kunstfigur in ästhetischen Idyllen lebt, so hat sich der Glaube an das Böse deshalb noch nicht erledigt; er hat sich nur von den Individuen auf die Institutionen verlagert: Die biblischen Monster leben als gescheiterte Staaten fort. Der gestrandete Leviathan er‐ scheint uns deshalb heute nicht mehr so harmlos und niedlich wie auf dem Umschlag der Neuausgabe von Schmitts Leviathan-Buch 1982. Aus dem verwesten Leviathan tritt Behemoth wieder bedrohlich hervor. VIII. 4. Monster im Drift. Peter Sloterdijks ingeniöse Degenerationsgeschichte. Besprechung von: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014306 Vor über einem halben Jahrhundert, 1966, fast pünktlich zur Studentenre‐ volte, publizierte Hans Blumenberg307 ein berühmtes Buch über Die Legi‐ timität der Neuzeit, das schleichende Säkularisierungsgeschichten durch das alternative Narrativ eines revolutionären Bruchs und einer polemi‐ schen Selbstbehauptung des humanistischen Paradigmas gegen den „theo‐ logischen Absolutismus“ ersetzte. Sloterdijks jüngster Virtuosenstreich ist ein kongenialer Widerruf dieses Legitimitätspreises. Die gespaltene Re‐ zeption hat ihn sogleich in die gegenrevolutionäre Ecke gestellt. Dabei ist das Buch eine sarkastische, süffisante und auch heitere Abrechnung noch mit letzten Illusionen konservativer Revolution, in der Flucht nach vorn neue Stabilitätsposten und Legitimitäten zu entwickeln. Zwar empfiehlt es zuletzt, „sich in der verlernten Kunst des Dauerns zu üben“. Auch diese Formulierung aber ist paradoxal. Der Zeitindex der Neuzeit schnurrt bei
306 In: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte Jg. 9 (2015), Heft 1, 122-123; Sloterdijk (*1947) ist seit den 1980er Jahren einer der meistdiskutierten deutschen Philoso‐ phen. In seinen Schriften erwähnt er Schmitt – wie Schmitt Nietzsche – fast nie. In seinen Notizen Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011 (Berlin 2012) finden sich aber interessante Eintragungen: Sarkastisch bemerkt er hier, dass Badiou Lenin und Schmitt im Dezisionismus der Wahrheit zusammenrührt (24); Sloterdijk be‐ zeichnet Schmitt als „katholischen Nihilisten“ (67), skizziert einen Essay zum Be‐ griff Feind von Schmitt ausgehend (337) und meint: „Nach allem, was man hört, ist meine Imago in ihrer dunklen Hälfte ein anmaßendes Unding: ein Hybrid aus Dieter Bohlen, Muammar al-Gaddafi und Carl Schmitt.“ (325) 307 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966
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Teil VIII: Adaptionen
Sloterdijk dramatisch zusammen. Zeit für Hoffnung bleibt nicht mehr und der „Futurismus der Moderne“ endet im „Präsentismus der Postmoderne“ (488) und gewissenlosen Konsumismus des „letzten Menschen“, den Sloterdijk mit Max Stirners antiidealistischem Anarchismus heraufkom‐ men sieht. Hoffnung lässt allenfalls sein literarisches Gespür des Verwei‐ lens in der anekdotischen Zuspitzung. Der Wortmagier ist auch ein begna‐ deter Erzähler. Literarisch sucht seine Degenerationsgeschichte ihresglei‐ chen. Das Buch entwickelt einen doppelten Kursus von Beschreibung und Begründung. Zunächst erzählt es anekdotisch gewitzt, wortgewaltig und plastisch einige „Episoden“ und Kapitel des modernen Progressismus der „Drift ins Bodenlose“. Es beginnt mit der bürgerlichen Machtergreifung der Pompadour als Auftakt zur Revolution und führt über Robespierre, Le‐ nin, Stalin und Hitler, über Königsmord, Zäsarenmord und Tscheka von der permanenten Revolution zum permanenten Terror, bis hin zum letzten Kapitel des Traditionsverschleißes: der „translatio imperii“ von Bretton Woods, „Höllenfahrt“ des Kapitals, die heute in einen „staatschuldenge‐ stützten Gleitflug“ übergegangen sei. Après nous le déluge, ein Bonmot der Madame de Pompadour, ist demnach das Losungswort des Zeitalters der „großen Freisetzung“, Entbindung und Enthemmung schöpferischer Zerstörung aller Ressourcen und Kräfte. Mit einer Novelle Balzacs be‐ trachtet Sloterdijk die Französische Revolution aus der Perspektive des Scharfrichters von Paris und zieht eine dämonologische Linie von Robes‐ pierre über Lenin bis zur globalen Finanzkrise, vom Terreur von 1793 über Napoleons Scheitern am dynastischen Versuch einer „Überwindung der Illegitimität“ bis zur „Informalisierung des Scharfrichter-Wesens“ seit der bestialischen Ermordung der Zarenfamilie und Formierung der Tsche‐ ka im extermistischen „Erschießungsuniversum“ des totalitären 20. Jahr‐ hunderts. Stalin war laut Sloterdijk der „wahre Leninist“: „Die permanente Revolution war nur als permanenter Terror durchzuführen.“ (177) Hitler und Mao betrachtet er mehr beiläufig als Erben und „Epigonen“ dieser atemberaubend erzählten Gewaltgeschichte. Manchen Leser mag es irritie‐ ren und ärgern, dass Bretton Woods, die Machtergreifung des US-Dollars und die Finanzkrise von 2007 in dieser Linie stehen. Sloterdijk erzählt aber vom Spiel der Entfesselung und Bindung, von Progression und schei‐ ternden Stabilisierungsversuchen, wie sie 1804 mit der Kaiserkrönung Na‐ poleons ihr Symbol fanden. Sein „zivilisationsdynamischer Hauptsatz“ lautet, gesperrt gedruckt, dass im Weltprozess„ständig mehr Energien frei‐ gesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden 198
VIII. 4. Sloterdijk 2014
werden können.“ (85) Der Drift führe zu wachsenden Ungleichgewichten „nach vorne-unten“ (86). In der zweiten Hälfte seines Buches geht Sloterdijk von der Beschrei‐ bung zur Begründung über und erklärt den „Drift ins Bodenlose“ durch eine Genealogie der Moral neuer Akteure und homines novi: der „schreck‐ lichen Kinder“ des „Abgrundes“ und „Bastarde“ natürlicher Familien in der „antigenealogischen Revolute“. Seine Darstellung ist ebenso beste‐ chend wie steil und spekulativ: Der „Copy-Shop der Evolution“ gebiert Bastarde und Monstren. Illegitime „Kinder des Abgrunds“ neigen zur „an‐ tigenealogischen Revolte“ gegen die Familien und Patriarchen. Nach Ent‐ schlüsselung des Genoms im Zeitalter post Venter nimmt Sloterdijk Nietz‐ sches Genealogie der Moral nun in neuer Weise wörtlich und folgt ihr auch in die antichristliche Pointe. Zwar wusste schon der griechische My‐ thos von Monstergeburten. Abstammung wurde in alten Zeiten aber fle‐ xibler gehandhabt. Das großzügige Adoptionswesen und die „Denkfigur der Zweit-Zeugung“ durch Lehrer und „geistige“ Väter familiarisierte mancherlei Herkunftsverlegenheiten und Anomalien. Zwar findet Sloter‐ dijk die Emanzipation des Individuums und den Bruch pietätloser Moral mit traditionalen Sitten eigentlich schon im riskanten Reproduktionspro‐ zess des Lebens selbst angelegt. Dennoch exponiert er Sokrates und Jesus als Stammväter einer „antigenealogischen Revolte“ der Neuzeit. Dabei rechnet er den „anti-familialen Affekt“ und Bruch mit der Herkunft vor al‐ lem auf das Konto des Christentums, das die „Ausgangsverlegenheit um Jesu Herkunft“ mit der theologischen Fiktion himmlischer Herkunft beant‐ wortet habe. „Wer aus dem Absoluten kommt, braucht keine bärtigen Vor‐ fahren“ (302), schreibt Sloterdijk und nennt Jesus spöttisch das „schreck‐ lichste Kind der Weltgeschichte“. Die „Umwertung der genealogischen Werte“ führt er ausführlich auf die Geschichte des Christentums zurück und betrachtet Franz von Assisi hier als ersten Christen der Neuzeit. Sloterdijk greift tief in die christliche Vorgeschichte, um die homines novi, „Genies“ der Neuzeit, als Bastarde und Monster zu zeichnen. Vom mittel‐ alterlichen Alexanderlied gelangt er dabei zur Renaissance, von Cola de Rienzi zu Adolf Hitler; Shakespeares Monster erklärt er zu Prototypen des „modernen Menschen“. Sloterdijk erzählt bestechende Gegengeschichten zu Hegels Lehre von den „welthistorischen Heroen“. Seine Genies entlar‐ ven sich als Bastarde und Monster und die Weltgeschichte erscheint nun als Fortschritt im „Monströs-Werden des Helden“ (273). Das konterkariert eine gegenrevolutionäre Lesart seiner Meistererzählung: Sloterdijk verlegt die Erbsünde in die Evolution oder das Leben selbst; „Filiationskatastro‐ 199
Teil VIII: Adaptionen
phen“ sind in der Reproduktion angelegt, Eltern zeugen nolens-volens Bastarde. Das schließt eine einfache Option für den Familiarismus und die dynastische Legitimität aus. Sloterdijks fulminante Degenerationsgeschichte stellt die Kategorie der Legitimität neu zur Disposition. Sie vertritt keinen dynastischen Legiti‐ mismus, auch wenn die Tradition das genealogische Argument politisch oft flexibel und sinnvoll handhabte. Diese Geschichte der Machtergreifung der Bastarde setzt auch Erfolg und Dauer nicht als herrschaftssoziologi‐ sche Legitimitätskategorien ein. Legitimität und Illegitimität sind in der „zivilisationsdynamischen“ Betrachtung vielmehr derart ineinander ver‐ strickt, dass sie kategorial untauglich werden. Die Linie vom MonströsWerden der Helden reicht soweit wie die historischen Beispiele. Shakes‐ peares Monster sind kein historisches Argument. Sloterdijks imposante Wortgewitter sind an sich nicht problematisch. Fragwürdig ist nur das „ge‐ nealogische“ Narrativ, das post Venter nicht mit Nietzsche kurzzuschlie‐ ßen ist und in der allgemeinen Inflation biopolitischer Semantiken auch im Kontext früherer Interventionen – Stichwort „Menschenpark“308 – zu se‐ hen ist. Sloterdijks biopolitische Semantik trübt den historischen, politi‐ schen und philosophischen Ertrag. Die skandalisierenden Missverständnis‐ se sind aber überschaubar. Man kennt die Diktion und das genealogische Narrativ wird nicht mit naturwissenschaftlicher Strenge genommen wer‐ den. Die dämonologische Selbstaufklärung hat auch die eigene Biopolitik getroffen. Die antichristliche Ursprungsthese ist nach Nietzsche inzwi‐ schen einigermaßen verschlissen, so dass die originelle Geschichte vom neuzeitlichen Illegitimismus seit der Pompadour stärker wirkt. Verschleiß‐ geschichte und theologische Subversion lesen sich wie Carl Schmitt 2014 up to date. Das Bonmot von der Sintflut wird man fortan mit Sloterdijk hören. Zerschlagen sind aber die starken historischen Kausalketten. Das genealogische Narrativ liest sich deshalb wie eine Kette plastischer Mo‐ mentaufnahmen, ein Gang durchs Verließ im Panoptikum der Neuzeit.
308 Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt 1999; auch in ders., Nicht ge‐ rettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt 2001, 302-337
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Teil IX: Rekapitulationen
IX. 1. Autobiographische Einleitung (2018) Wer sich länger in bestimmten Forschungszusammenhängen aufhält, wird einige ihrer Akteure kennen. Das ist geradezu unvermeidlich und muss den kritischen Blick nicht trüben. Ich vertraue auf einen Konnex von „Ein‐ sicht und Leidenschaft“309 und verstehe es geradezu als Freundespflicht, Publikationen näherer Bekannter kritisch zu begleiten. Schmitt hätte dem zweifellos zugestimmt: Freund und Feind sind „eigne Fragen als Gestalt“. Die vorliegende Auswahl streicht diesen Beziehungsaspekt noch heraus. Es ist deshalb nur redlich, diesen Subtext einigermaßen offen auszuplau‐ dern, ohne darüber in Abgründe der Motivforschung zu verfallen: 1988 hatte ich bei dem Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hen‐ nis (1923-2012), einem Smend-Schüler, mit einer Arbeit über Carl Schmitt in Freiburg promoviert.310 Heinrich Meier (*1953) hatte einige Jahre früher ebenfalls bei Hennis promoviert, mit einer Übersetzung von Rousseaus Discours sur l’inégalité. Ingeborg Villinger studierte damals auch in Freiburg bei Hennis und Kittler. Dirk van Laak (*1961) arbeitete bald an der Archivierung des Schmitt-Nachlasses311 und nahm Kontakt mit mir auf. Später lernte ich über van Laak Andreas Koenen (*1963) und Raphael Gross (*1966) näher kennen. Gemeinsam besuchten wir, als ein hoffnungsvolles Avantgarde-Quartett der Forschung, Anfang 1991 eine Schmitt-Ausstellung in Plettenberg.312 Damals freundete ich mich mit Dirk van Laak an, etwas loser mit dem jüngeren Raphael Gross, den ich im Dezember 1992 in Tel Aviv besuchte. Auf dem ersten Planungstreffen der Schmitt-Edition, 1990 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, lernte ich Hasso Hofmann (*1934) kennen, der mir ab Januar 1991 eine 309 Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Den‐ kens, Frankfurt 1939 310 Dazu Verf., Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989 311 Dazu vgl. Dirk van Laak / Ingeborg Villinger (Hg.), Nachlass Carl Schmitt. Ver‐ zeichnis des Bestandes im NRW-Hauptstaatsarchiv, Siegburg 1993 312 Ingeborg Villinger (Hg.), Verortung des Politischen: Carl Schmitt in Plettenberg, Hagen 1990
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Teil IX: Rekapitulationen
Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Würzburg verschaffte. Das Glossarium schockierte mich damals durch seine antisemitische „Dämo‐ nologie“.313 Vom „katholischen“ Credo Schmitts wollte ich fortan nichts mehr wissen. Damals schrieb ich das Büchlein Carl Schmitt zur Einfüh‐ rung, das ich weiter auf Stand hielt und in den Fassungen von 2001 und 2011 eingreifend überarbeitete. Im Gespräch mit Dirk van Laak ver‐ legte ich mich auf wirkungsgeschichtliche Studien und distanzierte mich von Meiers „theologischer“ Rekonstruktion. Im März 1993 wechselte ich als Assistent von Volker Gerhardt (*1944) ins Fach Philosophie an die Humboldt-Universität über. Hasso Hofmann war zuvor bereits an die HUBerlin gegangen. In Berlin begegnete ich Raphael Gross erneut, bald auch Lutz Berthold, der mit dem jungen Gabriel Seiberth (*1973) mentorschaftlich befreundet war. Die akademischen Orientierungen gingen damals aber bereits ausein‐ ander. Ich war älter, früher promoviert und orientierte mich Mitte der 1990er Jahre für die Habilitation verstärkt in das Fach Philosophie um. Dirk van Laak ging in Jena auch bald neue akademische Wege. Andreas Koenens Dissertation erschien mir damals durch ihre konsequente metho‐ dische Wendung zur archivarischen Erforschung des Akteurs innovativ wegweisend. Den Einspruch von Raphael Gross314 gegen die überspitzte „katholische“ Deutung empfand ich deshalb als ungerecht und es trennten sich unsere Wege. Koenen schloss bald sein Jura-Zweitstudium ab und wechselte in eine Anwaltskarriere über. Anders als van Laak, Gross und Koenen war ich philosophisch-systematisch interessiert. Durch Hennis und Hofmann hatte ich auch stärkere Interessen und Kontakte in die Rechtswissenschaft. Zwar schrieb ich in meinen Berliner Jahren durchgän‐ gig weiter Rezensionen und Aufsätze zu Schmitt; dennoch traten die Schmitt-Studien, auch die durch van Laak angeregten wirkungsgeschicht‐ lichen Studien, in meinen Berliner Jahren nun hinter andere Interessen und Aufgaben zurück. Erst nach der Habilitation und meinen Rückzug nach Düsseldorf begann ich mit der dortigen Nähe zum Nachlass wieder mit
313 Verf., Carl Schmitts Dämonologie - nach dem Glossarium, in: Rechtstheorie 23 (1992), 258-271 314 Dazu die kritische Besprechung von Raphael Gross, Katholischer Reichstheologe oder Nazi? Andreas Koenens Studie zum ‚Fall Carl Schmitt’, in: Neue Züricher Zeitung Nr. 28 vom 3./4. Februar 1996, S. 68
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IX. 1. Autobiographische Einleitung (2018)
Schmitt-Studien.315 Dadurch kam ich in engen Kontakt mit Ernst Hüsmert (1928-2017) und Gerd Giesler (*1940), was mich in die Schmitt-Edition einband. Erst mit der Arbeit an meiner Schmitt-Biographie, die mir im April 2006 als Auftrag des Beck-Verlages entgegenkam, wurde die Schmitt-Forschung mir dann für Jahre erneut zu einem Forschungsschwer‐ punkt. Die neuere Sekundärliteratur beschäftigte mich dabei nur noch ge‐ legentlich. Durch die Begegnung mit Rolf Rieß (*1959) wandte ich mich aber verstärkt den „jüdischen“ Intellektuellen der Zwischenkriegszeit zu und stellte den NS-Intellektuellen und Schreibtischtätern – primär edito‐ risch – antithetische Antworten und Wege entgegen. War Thomas Mann316 mir in den 1990er Jahren ein Antidot gegen die intensive Auseinander‐ setzung mit Schmitt gewesen, so wurden mir nun – nach der Edition des Briefwechsels mit Rudolf Smend - insbesondere Ludwig Feuchtwanger und Emil Utitz zu Gegenzeugen.317 In 30 Jahren Schmitt-Forschung lernt man viele Akteure kennen. Fast alle hier im Buch erwähnten Schmitt-Forscher sind mir irgendwann, ir‐ gendwie und irgendwo persönlich begegnet. Unvergesslich ist mir hier schon ein langes Gespräch mit Ernst Rudolf Huber (1903-1990) im Früh‐ jahr 1988. Hasso Hofmann ermöglichte mir später den Einstieg in die aka‐ demische Karriere. Ernst-Wolfgang Böckenförde (*1930) und Michael Stolleis (*1941) begegneten mir über die Jahre in gelegentlicher diskreter Korrespondenz als wahre Repräsentanten und „Lichtgestalten“ der deut‐ schen Universität. Aber auch Bernd Rüthers (*1930), Volker Neumann (*1947) und Ingeborg Maus (*1937) beeindruckten mich aus der älteren Generation in der Begegnung. Seit Jahren stehe ich im engen Gespräch mit Gerd Giesler, dem Präsidenten der Schmitt-Gesellschaft und Motor des Editionsbetriebs, der in vielen Registern denkt und seine Passion für
315 Beginnend mit: Der „Gross-Verwerter“: Carl Schmitts Geburtstagsmappe für Thomas Mann, in: Neue Rundschau 113 (2002), Heft 2, 151-161 316 Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; Das „Problem der Hu‐ manität“. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003 317 Ludwig Feuchtwanger, Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte, hrsg. zusammen mit Rolf Rieß, Ber‐ lin 2011; zusammen mit Rolf Rieß: Ludwig Feuchtwanger, Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte. Typoskript von 1938, Berlin 2014; (Hg.), Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1873-1956). Her‐ ausgegeben, eingeleitet und kommentiert, Würzburg 2015; Philosophie im Exil. Emil Utitz, Arthur Liebert und die Exilzeitschrift „Philosophia“. Dokumentation zum Schicksal zweier Holocaust-Opfer, Würzburg 2018
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Teil IX: Rekapitulationen
Carl Schmitt mit der offenen Neugier des Intellektuellen und Pragmatik des Verlegers vereinbart.Verstärkt lernte ich durch Vortragsreisen das in‐ ternationale Interesse an Schmitt kennen. Schmitt-Vorträge hielt ich nicht nur in Paris und Prag, Belgrad oder Warschau, sondern auch in New York, Tokio und Kairo. Diese internationale Rezeption muss jenseits akademi‐ scher Selbstläufer und Moden individuell erklärt werden, was bislang nur in Ansätzen geschah. Die internationale Dimension der Forschung habe ich aber schon deshalb aus meinen Forschungen herausgelassen, weil ich – ziemlich borniert – von einem deutschen Standortvorteil bei der Quellen‐ erschließung und Forschungsdynamik ausging. Wenn ich heute zurückschaue, würde ich selbstverständlich einige Ak‐ zente anders setzen und manche Formulierungen ändern. Die initiale Be‐ deutung von Bernd Rüthers und Michael Stolleis für die Historisierung der NS-Rechtswissenschaft würde ich stärker hervorheben. Das betrifft auch die erste Besprechung von Rüthers’ schmalem Buch über Carl Schmitt im Dritten Reich – meine erste Rezension überhaupt -, die dessen frühere wegweisende Schriften nicht berücksichtigt. Heinrich Meier beanspruchte in den 1990er Jahre eine Deutungshegemonie, die in der internationalen Debatte allzu bereitwillig aufgenommen wurde. Seine „holistische“ Be‐ schränkung auf das publizierte Werk sperrte sich gegen die neueren Auf‐ gaben der Erschließung des nachgelassenen Quellenbestandes. Auf diese Aufgabe archivarischer und editorischer Erschließung und Historisierung des Werkes konzentrierte ich aber meine Arbeit. Die Historisierung ist in‐ zwischen vorangeschritten, weshalb mir heute Fragen der systematischen Auseinandersetzung und Aktualisierung des Werkes erneut vordringlich schienen. Das aber sollen andere machen. IX. 2. Rekonstruktion und Historisierung: zur neueren Carl SchmittForschung318 I. Editionen 1. Quaritschs editorische Interventionen: Die Welle der Schmitt-Literatur ebbt nicht ab. Nur noch selektive Übersicht ist möglich. Schmitts Schrif‐ ten sind heute meist in Neuauflagen greifbar. Dazu kommen einige neue
318 In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), 1000-1011
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Editionen. Eine Sammlung wichtiger Aufsätze319 wurde durch Günter Maschke eingehend kommentiert herausgegeben. Ingeborg Villingers Ausgabe320 der pseudonymen Jugendschrift Schattenrisse von 1913 bietet neben dem Text auch einen akribischen Kommentar und monographische Analyse. Besondere Beachtung verdienen aber Helmut Quaritschs editori‐ sche Interventionen. 1988 gab Quaritsch einen großen Tagungsband Complexio Opposi‐ torum. Über Carl Schmitt heraus. 1989 publizierte er ein prägnantes Büch‐ lein Positionen und Begriffe Carl Schmitts, das sich in dritter, erweiterter Auflage (1995) als „Einführung in das Thema Carl Schmitt“ versteht.Es abstrahiert vier „Grundprägungen“ (Ästhetizismus, Katholizismus, Etatis‐ mus, Nationalismus) anhand von Schmitts Sammlung Positionen und Be‐ griffe von 1940 und tritt damit der Verabsolutierung einer einzelnen Prä‐ gung zum hermeneutischen Generalschlüssel entgegen. Quaritsch wählt den Zugang über eine Schrift aus der nationalsozialistischen Zeit und nimmt damit Streitfragen um Schmitts Stellung zum Nationalsozialismus auf. Danach veranstaltete er zwei Nachlasseditionen, die in die aktuellen Diskussionen fulminant eingreifen. Das von Quaritsch herausgegebene, von Schmitt im Sommer 1945 im Auftrag Friedrich Flicks verfaßtes Rechtsgutachten Das international‐ rechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ‚Nullum cri‐ men, nulla poena sine lege’ (1994) fragt, ob ein Angriffskrieg (Deutsch‐ lands) völkerrechtlich als Kriegsverbrechen gelten muss, so dass der ein‐ zelne Staatsbürger seine wirtschaftlich interessierte Teilnahme als straf‐ rechtliches Delikt anzusehen und mit strafrechtlicher Verfolgung zu rech‐ nen hat. Schmitt antwortet, dass die Poenalisierung des Angriffskrieges bis 1939 noch nicht so weit fortgeschritten war, dass eine völkerrechtliche Rechtsgrundlage bestand. Er bemisst den Kreis der verantwortlichen Täter nach dem „Zugang zur Spitze“ im „Hitler-Regime“. Wer Zugang habe, sei„Täter“. Alle anderen, so auch geschäftlich interessierte Industrielle, seien nur „Teilnehmer“. Unter den Bedingungen des „totalen“ Staates und „totalen“ Kriegs habe niemand die Chance zur Neutralität. Staatsbürger müssten eine Vernunftvermutung zugunsten der öffentlichen Feinderklä‐ rungen vornehmen. Deshalb dürften sie auch, so Schmitt, den Nationalso‐
319 Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, Ber‐ lin 1995 320 Ingeborg Villinger, Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text, Kommentar und Analyse der ‘Schattenrisse’ des Johannes Negelinus, Berlin 1995
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zialismus als politische Ordnung betrachten und ihren wirtschaftlichen In‐ teressen nachgehen. Quaritschs umfassendes Nachwort verselbständigt sich zur völkerrechtsgeschichtlichen Erörterung der Urteile von Nürnberg und Tokio, die es unter Bestätigung von Schmitts Sichtweise als politische Justiz der „Siegerkoalition von 1941-1945“ zum Zweck der andauernden politischen Depotenzierung Deutschlands und Japans ansieht. Im Zusammenhang der Nürnberger Prozesse wurde Schmitt am 19. März 1947 verhaftet, vom Chefankläger Robert Kempner vernommen und am 6. Mai 1947 wieder entlassen. Quaritschs Edition von Schmitts Antworten in Nürnberg dokumentiert und kommentiert die Verhörproto‐ kolle sowie Schmitts gutachterliche Stellungnahmen. Einleitend ent‐ wickelt Quaritsch die These, dass Schmitt nicht als möglicher Angeklag‐ ter, sondern als möglicher Zeuge vernommen wurde: „Kempner glaubte, die Anklagedrohung und die Einsamkeit der unwirtlichen Zelle würden Schmitt zu einer Stellungnahme veranlassen, die er im WilhelmstraßenProzess gegen die Staatssekretäre verwenden könnte.“321 Quaritsch unter‐ scheidet zwischen dem strategisch cleveren Ankläger in Nürnberg und Kempners späten, historisch haltlosen „Erzählungen“. Dabei sucht er das Odium der Denunziation von Schmitt auf Kempner zu verschieben. Sein eingehendes Interesse an einer Demontage Kempners gilt der Entkräftung des Verdachts, Schmitt sei ein „freundlicher Zeuge der Anklage“ gewesen. Schon 1994 wollte Quaritsch die völkerrechtliche und politische Integrität von Schmitts Standpunkt belegen, nun geht es ihm nun um den Nachweis seiner moralischen Integrität in Nürnberg. Seine handwerklich genauen Editionen und Kommentare betreiben kluge „Apologie und Polemik“ (Günter Maschke). 2. Das Glossarium. Die Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951322 setzen die Rechenschaft intim fort, die Schmitt in Ex Captivitate Salus. Erfahrun‐ gen der Zeit 1945/47 von seinem „Fall“ gab. Die Schrift gibt in den diver‐ sesten Tonlagen, Tiefen und Untiefen Rechenschaft. Neben originären Einsichten finden sich unmäßige Notate, abgeschmackte Spötteleien, böse Polemiken. Es ist ein Blick in die Eingeweide des Autors, der die Interpre‐ ten verstört. Was alles das Glossarium aussagt, ist noch lange nicht klar. Schmitt präsentiert sich als „Theologe der Jurisprudenz“ und „katholischer Laie deutscher Volks- und Staatsangehörigkeit“. Er polemisiert als ressen‐
321 Carl Schmitt, Antworten in Nürnberg, Berlin 2000, 36, vgl. 24f, 30 322 Hg. Eberhard von Medem, Berlin 1991
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timentgebeutelter „outlaw“ und erbitterter Feind der „Sieger von 1945“. Nicht zuletzt entpuppt er sich als scharfer Antisemit. Dieser vieldeutige Schlüsseltext ist für die Nachwelt geschrieben. Ansonsten publizierte Schmitt bei Zeiten, was er zu sagen hatte. Die wichtigsten nachgelassenen Texte dürften deshalb heute vorliegen. 3. Der Briefwechsel mit Ernst Jünger323 umfasst nicht weniger als 426 Briefe oder Karten. Anfangs sind beide in Berlin „sozusagen Nachbarn“. Später treffen sie sich häufig. So dokumentiert der Briefwechsel nur einen Teil des Gesprächs. Vom September 1932 bis Juli 1933 gibt es eine bered‐ te Lücke. Jünger sieht Schmitt als Nazi an und geht auf Distanz. Über die Politik kommt es damals zu einer Aussprache. Jünger erinnert Schmitt später (16. Januar 1950) an seine Warnung vor der „folgenschwersten Ent‐ scheidung“ seines Lebens. Der Kommentar verweist dafür auf zwei Mög‐ lichkeiten: entweder auf die Berufung zum Preußischen Staatsrat oder auf die Rechtfertigung der publiken Staatsmorde vom Sommer 1934 durch den Artikel Der Führer schützt das Recht. Trotz der politischen Differen‐ zen hält Jünger den Kontakt. In einem Brief vom 11. November 1934 heißt es dazu: „Da ich das Gefühl hatte, dass wir uns im Augenblick einer gewissen Mei‐ nungsverschiedenheit trennten, so gestatten Sie mir die kurze Bemerkung, dass unser Verhältnis wohl einen gemeinsamen Ort besitzt, an dem eine sol‐ che Differenz gar keine Rolle spielt. Was mich beschäftigt, das ist die absolu‐ te und substanzielle Größe des Menschen, deren Dimension festzustellen, ich über ganz andere Maßstäbe verfüge als etwa über den politischen.“
Im Frühjahr 1934 wird Schmitt der Pate von Jüngers zweitem Sohn Carl Alexander. Der Kontakt wird nicht zuletzt von den familiären Beziehun‐ gen getragen. Als Schmitt das „Totalitätsproblem“ anspricht und Jünger mit einem Wort vom „geheimen Primat des Bürgerkriegs“ antwortet, wo‐ durch „das Staatsrecht eine immer größere Ähnlichkeit mit den fatalen Betten des Prokrustes gewinnt“, sieht Schmitt sich zu der Klarstellung ge‐ nötigt, dass„die Angelsachsen den Weltkrieg fortsetzen“: „Der Vergleich mit dem Prokrustesbett stimmt. Ich fühle mich aber nicht als den Herkules, der diesen Prokrustes erschlägt, wohl aber als den Röntgenolo‐
323 Ernst Jünger-Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, hrsg. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999; neue Quellen in: Ernst Jünger / Carl Schmitt. Widmungen in Büchern, in: Jünger-Debatte 1 (2017), 183-204; Überblick über die Beziehung Verf., Don Ca‐ pisco und sein Soldat, in: Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014, 153-172
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gen, der diesen Prokrustes, ohne dass er es sieht, begleitet. Dieser interessiert mich im übrigen mehr als sein Bett.“ (14. November 1937)
Jünger akzeptiert das, weil er selbst eine außermoralische Betrachtungs‐ weise anstrebt. Einen Tag nach Kriegsausbruch, am 2. September 1939, schreibt „Hauptmann“ Jünger: „Der Weltgeist gibt uns doch viel zu se‐ hen.“ Immer wieder denkt er an Hieronymus Bosch; Schmitt reflektiert darauf, wie er dem Publikum erscheint: „Ich denke an Benito Cereno, als Situations-Symbol.“ (17. September 1941). In dieser Novelle von Her‐ mann Melville entpuppt sich der Kapitän eines Piratenschiffs am Ende als Geisel seiner Besatzung. So will Schmitt seine Rolle im Nationalsozialis‐ mus gesehen wissen. Nach Kriegsende wird der Briefwechsel stetig fortgeführt. Es kommt aber zu einer „Verstimmung“ (15. April 1949). Wie zahlreiche Notate des Glossariums belegen, neidet Schmitt Jünger damals das literarische „Comeback“. Nach einer Aussprache intensiviert sich der Briefwechsel in den 1950er Jahren erneut. Nach dem Tode von Jüngers Frau Gretha ver‐ stummt er auf acht Jahre und wird von Jünger 1968 anlässlich Schmitts 80. Geburtstag wieder aufgenommen. Ein letztes Thema ist die Frage der Veröffentlichung des Briefwechsels. Neben den familiären Verbindungen ist es vor allem Jüngers Wille zum Umgang mit Schmitts „Größe“, der ihn den Kontakt über die Differenzen hinweg halten lässt. Schmitt interessie‐ ren nicht zuletzt Jüngers Deutungsschemata. Der Jurist und Professor spricht im Briefwechsel kaum. Literatur und Mythologie, Graphologie, Astrologie und andere Esoterik drängen sich vor. Beide treffen sich in der Suche nach einem geschichtsphilosophischen Organon. 4. Späte Schülerschaften (Mohler): Einen guten Eindruck von Schmitts Gesprächskultur und Beziehungsnetz nach 1945 gibt der umfangreiche Briefwechsel mit Armin Mohler,324 der 391 Briefe im Zeitraum von 1949 bis 1980 umfasst. Mohler hat die Briefe selbst herausgegeben und kom‐ mentiert, viele seiner Briefe gekürzt. Lücken erschweren die dialogische Lektüre. Die Briefe sind stoffhaltiger, spontaner, weniger stilisiert als die Korrespondenz in kongenialer Höhenlage mit Jünger. Indem Mohler sich als Schmitts Schüler bezeichnet, markiert er zugleich die Rolle des Leh‐ rers, der alle Register der Werbung zieht, den Schüler auf die Höhe seiner Sicht bringt und als Informanten, Organisator, Eckermann braucht. Inter‐
324 Armin Mohler (Hg.), Carl Schmitt. Briefwechsel mit einem seiner Schüler, Berlin 1995
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essant ist die Edition auch als Materialband der zahlreichen literarischen Versuche in kleineren Formen, die Schmitt als Serienbrief für den „Kreis“ beilegte. II. Rekonstruktionen der „Politischen Theologie“ 1. Rekonstruktion in kritischer Absicht (Meier): Heinrich Meier publizier‐ te 1988 einen Essay Carl Schmitt, Leo Strauss und der ‚Begriff des Politi‐ schen’, der 1998 in dritter, erweiterter Auflage erschien. Er nimmt die ab‐ weichenden Fassungen des Begriffs des Politischen von 1932 und 1933 zum Ausgangspunkt, einen „Dialog unter Abwesenden“ zu rekonstruieren, in dem Schmitt auf Strauss mit einer autoritativen Klarstellung seiner Gründe antwortete: Politische Theologie und nicht Philosophie. 1994 ließ Meier Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politi‐ scher Theologie und Politischer Philosophie (1994) folgen. Als Politische Theologie bezeichnet er hier „eine politische Theorie, politische Doktrin oder politische Positionsbestimmung, für die nach dem Selbstverständnis des politischen Theologen die göttliche Offenbarung die höchste Autorität und die letzte Grundlage ist“.325 Das legt er in vier Kapiteln in die Aspekte Moral, Politik, Offenbarung und Geschichte aus. Im Epilog zur Neuaufla‐ ge des Essays von 1988 lehnt er jede konfessionelle Einordnung ab. Dabei werde der „Begründungszusammenhang“ ausgeblendet. Meier versteht darunter die Begründung durch „Behauptung einer existentiellen Posi‐ tion“: „Wenn der politische Theoretiker mit sich selbst im Einklang bleiben will, muss er die grundlegenden Forderungen seiner Theorie auf die eigene Aktivi‐ tät anwenden und seine Theoriebildung als geschichtliches Handeln begrei‐ fen, das unter dem Gebot des Gehorsams steht. [...] Dass der politische Theo‐ loge die Postulate seiner Theorie mit seiner Existenz als Theoretiker zusam‐ menschließt, unterscheidet ihn vom bloßen Doktrinär“.326
Meier spricht vom „Wahrheitsanspruch“ einer „existentiellen Position“. Mit dem „Einklang“ von Theorie und Existenz deutet er eine sokratische Wahrheit an. Doch damit erübrigt sich die konfessionelle und dogmenge‐ schichtliche Einordnung in keiner Weise. Meier suggeriert selbst die
325 Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 1994, 260 326 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. Stuttgart 1998, 161
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christlich-theologische Kohärenz von Schmitts „Lehre“. Dabei scheint er jede Theologie unter Offenbarungsanspruch als Politische Theologie auf‐ zufassen und Schmitt zum Lehrer der Theologie schlechthin zu erheben. Es ist schon erstaunlich, wenn der alte Streit zwischen Theologie und Phi‐ losophie ausgerechnet am Beispiel Schmitts wiederaufgenommen wird. 2. Kritische Kontrastierung (Eichhorn): Die neuere Forschung wollte erst einmal die politisch-theologische These ausloten, bevor sie zu Histori‐ sierungen überging. Das Muster der Profilierung von Gegenpositionen wurde dabei bereitwillig aufgenommen. Es entstand ein Kranz von undLiteratur: Carl Schmitt und Hobbes und Hegel und Donoso Cortés und Max Weber und Erik Peterson und Kojéve und Benjamin und Kelsen etc. Er lässt sich nach Chronologie und Fächern ordnen. Dann ergibt sich ein Komplex „Schmitt und die Klassiker bzw. Zeitgenossen“ sowie„Schmitt und die Juristen, Theologen, Philosophen etc.“. Systematische Alternati‐ ven wurden dabei vor allem durch Zeitgenossen profiliert, während der Vergleich mit den „Klassikern“ entweder Schmitts Rang nobilitiert oder ideengeschichtliche Einseitigkeiten und Verzeichnungen herausstellt. Ein Beispiel:Mathias Eichhorn327 liest Schmitts Werk, „als sei es gegen Karl Barth geschrieben“ (11). Die katholische Kirche kennzeichnet er durch einen „Primat der juridischen Form gegenüber der Theologie“ (53). Sie sei „zunächst eine Kirche und keine Theologie“. Genau dies sei auch Schmitts Auffassung. Deshalb lasse sich die Entscheidungsfrage zwischen Katholizismus und Protestantismus auf die Frage zuspitzen, wer über das Dogma entscheidet: die Theologen oder die institutionelle Autorität der Kirche. Von dieser Zuspitzung her vertritt Eichhorn die überraschende These, dass es „vor allem die Theologen“ waren, denen Schmitts Feind‐ schaft galt: „Für Schmitt muss Barth der Antichrist oder zumindest sein Prophet gewesen sein [...] Umgekehrt muss für Barth Schmitt der Antichrist oder zumindest sein Prophet gewesen sein, weil für ihn die Gettoisierung der Theologie die Leugnung des Christusgeschehens impliziert“ (35).
Nach Eichhorn blieb Schmitt auch und gerade im Nationalsozialismus Ka‐ tholik. Er sieht in Schmitt „weniger einen gläubigen Christenmenschen als vielmehr einen Großinquisitor“ (83) und bezieht mit Barth protestantische Gegenposition.
327 Mathias Eichhorn, Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938, Berlin 1994
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Zwei vergleichende Klärungen (Dahlheimer, Grossheutschi): Manfred Dahlheimer328 ordnet Schmitt in den „Kontext des deutschen Katholizis‐ mus“ ein. Schon für die Habilitationsschrift stellt er eine „Absage an das katholische Naturrechtsdenken“ (52) fest. Erhellende Ausführungen zur Schlüsselschrift Römischer Katholizismus und politische Form zeigen, wie Schmitt „Stichworte und Themenbereiche“ der protestantischen Kritik apologetisch wendete (121f). Er wollte jedoch „keine katholische Ekkle‐ siologie“ schreiben, sondern das katholische Prinzip „politologisch und staatsrechtlich fruchtbar“ (115) machen. Ein Exkurs verweist auf Paralle‐ len u. a. zu Maurras „hinsichtlich der Rolle der katholischen Kirche als sä‐ kulare Größe“ (161). Selbst von befreundeten Theologen, wie Peterson und Barion, wurde eingewandt, dass„Schmitts politische Theologie nicht mit der christlichen Eschatologie zu vereinbaren sei“ (223). Dahlheimer kennzeichnet die „Politische Theologie“ deshalb insgesamt als „politische Theorie“. Er kritisiert Schmitts Freund-Feind-Theorie theologisch, doku‐ mentiert die ambivalente Aufnahme der Formel vom „totalen Staat“ und betont deren Zustimmungsfähigkeit für den alten „Ordnungskatholizis‐ mus“. In den 1920er Jahren stand Schmitt zwar dem Zentrum nahe, lehnte aber eine Mitgliedschaft ab. Mit seiner Unterstützung Papens und Schlei‐ chers entfernte er sich weiter vom Zentrum. Zuletzt wurde er vom Vorsit‐ zenden Prälat Kaas als „Notstandstreiber“ öffentlich angegriffen. Weil die Offenheit der Kirche in der Staatsformenfrage aber Akkomodation ermög‐ lichte, lag Schmitts Option für den Nationalsozialismus „mit einigen Ab‐ strichen durchaus im Spektrum des im Katholizismus üblichen Verhaltens. Aber ein genuin katholischer Zugang zum Nationalsozialismus ist bei ihm nicht zu diagnostizieren.“ (470) Dennoch wurde der Katholizismus-Ver‐ dacht Schmitt zum „Verhängnis“. Konkurrenten brachten ihn 1936 als Ka‐ tholiken zu Fall. Dahlheimer schließt mit einem materialreichen Überblick über die „persönlichen Beziehungen und inhaltliche Bezüge“ zu katholi‐ schen Professoren, Schülern und Publizisten. Nicht minder wünschenswert wäre eine zeitliche Ausdehnung der Untersuchung auf das Spätwerk ge‐ wesen. Dahlheimer verzichtet wohl deshalb darauf, weil er Schmitts Dis‐ tanz zum Katholizismus mit seinem NS-Engagement beschlossen sieht.
328 Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888-1936, Paderborn 1998
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Felix Grossheutschi329 findet mit der spekulativen Figur des Ka‐ techon330 einen schlanken Prüfstein der theologischen Kohärenz von Schmitts Spätwerk. Die erste Hälfte der Studie stellt „die traditionelle Lehre vom Katechon“ dar. Der zweite Hauptteil Carl Schmitt und der Ka‐ techon kommentiert Schmitts diverse Verwendungen des Begriffs. Als Er‐ trag bleibt: Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus verlor Schmitt das „Interesse an einem Aufhalter“ (117). Der Begriff wurde ihm 1942 dann zu einem Mittel, die „Gegner propagandistisch auf ein besieg‐ tes Format herunterzudrücken“. Bald darauf kam es zu einer „Konvertie‐ rung von einer Angriffs- zu einer Verteidigungswaffe“ (118), die sich in der theologischen Wendung und „Retheologisierung des Aufhalters“ nach 1945 fortsetzte. Grossheutschi hält sie gegenüber den politischen Motiven für sekundär. Auch er bestreitet Schmitt also die Kohärenz und Integrität seiner theologisierenden Rhetorik. Seine begriffsgeschichtliche Analyse des ideenpolitischen Einsatzes schafft in knapper Form viel Klarheit. 4. Antisemitismus als Schlüssel (Groh, Gross): Ruth Groh331 legt Schmitts „Politische Theologie“ vom Glossarium her aus und spricht von einer „Krpyto-Theologie“ und „politisch-theologischen Mythologie“. Aus der Feindschaft zum Judentum bestimmt sich, so Grohs zentrale These, Schmitts Mythologie. Sie berücksichtigt insbesondere das Spätwerk seit 1938, arbeitet Differenzen zu Hobbes heraus, geht zur Dechiffrierung der pseudochristlichen „Selbstapologie“ des NS-Engagements über und macht dabei die Kontinuität des Antijudaismus deutlich. Die Rekonstruktion der späten Debatte zwischen Schmitt und Blumenberg332 zeigt, wie Schmitt auf einer theologischen Kritik der Neuzeit bestand. Groh sieht in Schmitt den „Großinquisitor“, der die Theologie mythologisierend einsetzt, um Feindschaften zu propagieren. Man müsse deshalb „den Gedanken der Ka‐ tholizität Schmitts verabschieden“ (239). Raphael Gross333 stellt Schmitts „Antisemitismus“ stärker in die Natio‐ nalgeschichte zurück. Interessante Ausführungen widmen sich den
329 Felix Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996 330 Unter diesem Titel unergiebig Gunter Meuter, Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994 331 Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politisch-theologischen My‐ thologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt 1998 332 Dazu Verf., Carl Schmitt: Denker im Widerspruch, Freiburg 2017, 337-349 333 Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt 2000
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Nomos-Spekulationen im Horizont der „Volksnomostheologie“ der zeitge‐ nössischen protestantischen „Theologie des Nationalismus“ sowie Nähen zu Maurras und der französischen Action Française. Für die Gesamtdeu‐ tung ist auch das Verhältnis zu Kelsen wichtig. Gross konzentriert sich da‐ bei auf die unterschiedliche Deutung des Pilatus-Urteils. Das ist ein prä‐ gnanter, doch enger Fokus. Systematisch wäre die Insistenz auf dem Zu‐ sammenhang zwischen „Staatsform und Weltanschauung“ (Hans Kelsen), die sich bei beiden findet, umfassender zu diskutieren.334 Erörterungen zu Schmitts Leviathan-Mythologie und den geschichtstheologischen Spekula‐ tionen des Spätwerks machen zwar eine Kontinuität des Antisemitismus wahrscheinlich. Gross gelingt es aber nicht, Schmitts Stellung in der neue‐ ren Geschichte des deutschen Antisemitismus wirklich zu klären. Er macht nicht einmal deutlich, was mit dem Übergang von einer konfessio‐ nellen zu einer nationalgeschichtlichen Auffassung gewonnen ist. Wenn Gross schreibt: „Archetypus des Feindes ist der Jude“ (383), so fingiert dies die Kontinuität des Antisemitismus. Sachlich läßt sich nur feststellen, dass Schmitt seine Antipositionen verstärkt antisemitisch identifiziert und codiert. III. Historisierungen Bei den Diskussionen um Schmitts „Politische Theologie“ geht es nicht um die Mystifikation großer Szenarien, sondern um die Rekonstruktion des Selbstverständnisses eines historischen Akteurs. Paul Noacks Biogra‐
334 Dazu Verf., Antipodische Polemik: Zur Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt, in: Manfred Walther (Hg.), „Religion und Politik“. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, 265-272; überraschend wenig ergiebig ist insgesamt der von Dan Diner und Michael Stoll‐ eis herausgegebene Tagungsband Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition (Gerlingen 1999). Die kurzen Beiträge, meist von Juristen verfasst, beschränken sich weitgehend auf die bekannten Vergleichspunkte (Gegensätze im Demokra‐ tiebegriff und in der Auffassung vom „Hüter der Verfassung“). Wenn ein herme‐ neutischer Rekurs auf Christentum und Judentum auch leicht zu einem Verdächti‐ gungsdiskurs entgleitet, der sein systematisches Recht (die Voraussetzung der kulturellen Herkunfts- oder „Seinsgebundenheit“ des Rechtsdenkens) erst zu er‐ weisen hätte, so besteht doch Kelsen selbst auf der philosophischen Diskussionsbzw. Wahrheitsfähigkeit seines weltanschaulichen „Relativismus“. Erst wenn die‐ se These von der Kelsen-Forschung ernst genommen wird, ergibt sich die Ebene eines fruchtbaren Vergleichs.
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phie335 gibt einen Überblick über den Akteur. Verglichen mit Joseph W. Bendersky336 tritt das Werk weiter zurück und das eigentlich Biographi‐ sche in den Vordergrund. Die populäre Darstellung gleitet über Tiefen und Untiefen elegant hinweg und ergreift die große Aufgabe einer wissen‐ schaftlichen Biographie nicht. 1. Schmitts Rolle im Präsidialsystem (Berthold, Pyta/Seibert): Dieses Standardthema der historischen Forschung wurde 1985 durch den Erinne‐ rungsbericht Ernst Rudolf Hubers über Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit337 neu auf die Tagesordnung gestellt. Nach Huber ver‐ stand Schmitt die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand als „Recht der rettenden Tat“. Von diesem metapositiven Rechtsstandpunkt her beurteilt Huber Schmitts verfassungspolitisches Wirken. Der Abdruck der Diskussionsbeiträge dokumentiert eine eindringliche Debatte um die Legitimität der Notstandspläne und die Rolle der letzten Präsidialregierun‐ gen beim Übergang von der Republik zur Diktatur. Die Form des Erinne‐ rungsberichts legte weitere Nachforschungen nahe, die Schmitts Rolle als historischer Akteur unter großen archivalischen Anstrengungen ausleuch‐ teten. Allerdings sind diese Forschungen teils von Interpretationskontro‐ versen um Schmitts Konzeption des Verfassungsschutzes und deren Ver‐ hältnis zum „konstruktiven Misstrauensvotum“ überlagert. Dies wirkt sich negativ auf die äußerst knappe Studie von Lutz Bert‐ hold338 aus, die sich in ihrer historischen Zielsetzung auf Schmitts Beteili‐ gung an Schleichers Staatsnotstandsplan beschränkt und „weitreichende Rückschlüsse auf Schmitts Einstellung zur Weimarer Verfassung“ (12) zieht. Während das erste Kapitel die historischen Hintergründe erinnert, identifiziert das zweite Schmitt anhand weniger Archivalien als eigentli‐ chen Autor eines „Papiers“, das als Alternative zur Auflösung des Reichs‐ tags und Aussetzung von Neuwahlen den „milderen“ Weg der Nichtaner‐ kennung eines Misstrauensvotums vorschlägt. Das dritte rekapituliert Schmitts verfassungstheoretische Grundlegung einer möglichen Verteidi‐ gung der „Substanz“ der Verfassung gegenüber obstruktiven Mehrheiten im Reichstag. Berthold überzieht seine Rückschlüsse. Fragwürdig sind et‐
335 Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993 336 Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983 337 Ernst Rudolf Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, 33-70 338 Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999
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wa Ausführungen zu Schmitts angeblicher Ablehnung des Staatsnot‐ standsarguments. Schwerer wiegt der Selbstwiderspruch im - an sich über‐ flüssigen - Beweisgang, Schmitt hätte den „milderen“ Weg beim Staatsge‐ richtshof erfolgreich verteidigen können. Berthold sagt damit eigentlich nur, dass Schmitt sich selbst verfassungstheoretisch begründet freigespro‐ chen hätte. Der knappe Schluss wendet sich gegen die These, „Schmitt sei ein Mann Papens gewesen“ (67). Er belegt aber nur, dass Schmitt den Zeitpunkt für eine Verfassungsreform im Herbst 1932 für verfehlt hielt worauf schon Huber hinwies. Grundsätzlich bestätigt er, dass Schmitt einen Verfassungswandel anstrebte. Völlig abwegig ist es, mit dem Hin‐ weis auf Affinitäten zu Schleicher das grundsätzliche Urteil bestreiten zu wollen (67, 77), dass Schmitt, gemessen an einem liberalen Verfassungs‐ verständnis, zu den „antidemokratischen Juristen“ zählt. Einen umfassenderen Eindruck von Schmitts verfassungspolitischem Wirken geben Wolfram Pyta und Gabriel Seiberth in ihrem Aufsatz über Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel der Tagebücher von Carl Schmitt.339 Die wichtigsten Aufschlüsse der stenographierten Tage‐ bücher sind wohl, dass Schmitt an der Organisation des Preußenschlags anders als Huber vermutete - offenbar nicht beteiligt war und erst mit der Prozessbeteiligung in den juristischen Beraterkreis Schleichers aufrückte. Pyta/Seibert lösen die „Beratertätigkeit Schmitts aus dem Dunstkreis re‐ staurativer Verfassungspläne“ (441) und betonen die Stoßrichtung gegen die NSDAP. Sie ergänzen Hubers Bericht um Quellenfunde zu Schmitts September-Entwürfen für Verordnungen zur Auflösung des gerade ge‐ wählten Reichstags und dokumentieren einen Auftrag zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für Schleicher. Demnach beteiligte Schmitt sich hinter den Kulissen durchaus an Verfassungsreformplänen, nur eben an denjenigen Schleichers. Mit dessen Kanzlerschaft erfolgte eine abrupte „Verbannung aus dem innersten Machtzirkel“. Pyta/Seibert deuten sie als Folge von Hindenburgs Kurswechsel, wodurch Schmitts extensive Verfas‐ sungsinterpretation überflüssig wurde. Am 27. Januar 1933 notierte Schmitt deshalb in sein Tagebuch: „Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück, Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden. Mac Mahan.“340 Zuletzt registrierte
339 Wolfram Pyta / Gabriel Seiberth, Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spie‐ gel der Tagebücher von Carl Schmitt, in: Der Staat 38 (1999), 423-448 und 594-610 340 Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Berlin 2010, 256
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Teil IX: Rekapitulationen
Schmitt also die Demontage seines Mythos vom Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung“. Versteht sich daher seine Entscheidung für Hitler? Wer Schmitt im Präsidialsystem als „Aufhalter“ des Nationalsozialismus deutet, muss für den Fahnenwechsel vom März 1933 eine Erklärung ha‐ ben. 2. Schmitt im Nationalsozialismus (Koenen, Lösch, Blasius): Andreas Koenen341 antwortet auf die Frage nach der Zäsur von 1933, indem er Schmitt zwischen Demokratie und Dikatur als autoritären Staatsdenker positioniert. Seine Pionierarbeit erschließt ein umfangreiches Quellenma‐ terial mittels der starken, strittigen These, dass Schmitt seit seinen Bonner Jahren staatsrechtlich führend einer strategisch operierenden Gruppe christlich-konservativer Wissenschaftler und Publizisten innerhalb der „Sammlungsbewegung“ der sog. „Konservativen Revolution“ angehörte, die sich um Zeitschriften wie Das Abendland und Der Ring gruppierte und erst der Weimarer Republik, dann dem Nationalsozialismus eine „reichs‐ theologisch“ begründete, katholische Konzeption vom „autoritären Staat“ unterschieben wollte. Diese Staatsanschauung rechtfertigte sich durch ein Geschichtsbild von der Einheit und Aufgabe des „Abendlandes“. Die neuere Literatur zehrt von dieser Quellenarbeit, lehnt die starke These von Schmitts „reichstheologischen“ Zielsetzungen aber zumeist ab. Koenen zeigt, dass das Präsidialsystem in Richtung auf einen „autoritä‐ ren“, ständestaatlichen Verfassungsumbau propagiert wurde. Er macht deutlich, dass die Verfassungsfrage für diese Kreise auch nach Hitlers Machtübernahme anfänglich noch nicht entschieden war. Sein Hinweis auf plurale Mächtegruppen und ideologische Differenzen erlaubt es, die relati‐ ve Offenheit der Lage 1932/33 erneut zu diskutieren. Schmitt rechtfertigte den Nationalsozialismus aber bis zuletzt. Andere zogen ablehnende Kon‐ sequenzen. Die katholischen Gegnerschaften erleichterten es Konkurren‐ ten, Schmitt ideologisch zu diskreditieren und zu entmachten. Auch bei einer Zurechnung auf die „Konservative Revolution“ bleibt Schmitt funk‐ tional wie ideologisch ein Nationalsozialist. Koenen kann deshalb die von Bernd Rüthers342 knapp skizzierte - These nicht entkräften, dass es Konkurrenzkämpfe innerhalb der „NS-Oligarchie“ waren, die Schmitts „Fall“ bewirkten. Jenseits nötiger Korrekturen an der forcierten Narration
341 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum Kronjuristen des Dritten Reiches, Darmstadt 1995 342 Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, München 1989
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IX. 2. Sammelbesprechung: Rekonstruktion und Historisierung 2001
setzte Koenens Quellenarbeit sowie die konsequente Auffassung des Wer‐ kes vom politischen Wollen her aber neue Maßstäbe. Dem Bild von Schmitt als „Besiegtem“, als Verlierer nationalsozialisti‐ scher Machtkämpfe, lässt sich das Täterbild von Schmitt als Profiteur ent‐ gegenstellen. Anna-Maria Gräfin343 widmet sich der gesamten Juristischen Fakultät der Berliner Universität. Schmitts Aufstieg und Fall ist hier nur ein Kapitel im Lehrstück vom „Umbruch“. Lösch endet mit den Berufun‐ gen von [Reinhard] Höhn und [Karl August] Eckhardt und eingehenden Schilderungen der „Positionskämpfe in der NS-Polykratie“. Sie meint da‐ zu: „Was heute manchmal wie ein Kampf zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern aussieht, war in Wahrheit oft nur das interne Ringen um Macht. Selbst Nationalsozialisten waren nicht immer braun genug, um vor Angriffen geschützt zu sein. Ideologische Linientreue allein genügte nicht. Eckhardt, Schmitt und Höhn wurden Opfer von Vorwürfen, dass sie zu ‚judenfreund‐ lich’ seien.“ (404f)
Lösch stellt Schmitts „Fall“ den Sturz der Diadochen Höhn und Eckhardt zur Seite und rückt damit einiges zurecht. Die Universität war nicht die Bühne der Auseinandersetzungen. Sie wurde auch nicht zum Schauplatz des „Falls“. „Bestrebungen, Schmitt zu vertreiben, sind weder aus der Fa‐ kultät, Universität oder Ministerium noch aus Kreisen der Studenten über‐ liefert.“ (469) Dirk Blasius344 fasst Schmitts Rolle im Nationalsozialismus knapp zu‐ sammen. Er geht von Schmitts „Mittlerstellung“ zwischen den alten Eliten und der neuen nationalsozialistischen Führungsschicht aus und setzt des‐ halb mit dem Jahr 1932 und Schmitts Prozessbeteiligung Preußen contra Reich ein, die er als „Anschlusssuche an den Nationalsozialismus“ deutet. Blasius schreibt Schmitts Rolle dann von der Mitarbeit am Reichsstatthal‐ tergesetz und im preußischen Staatsrat her. Dabei stellt er die Institution
343 Anna-Maria v. Lösch, Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999 344 Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001; Blasius (*1941) schreibt bis heute wichtige historische Studien zu Carl Schmitt, so u.a.: Carl Schmitt und der 30. Januar 1933. Studien zu Carl Schmitt, Frankfurt 2009; Carl Schmitt und Carl von Clausewitz. Vom preußischen Volks‐ krieg zum tellurischen Partisanentum, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 24 (2014), 95-108; Hans Rothfels und Carl Schmitt. Werkgeschichtliche Begegnungen in der Weimarer Republik, in: Vierteljahreshef‐ te für Zeitgeschichte 65 (2017), 2-25
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Teil IX: Rekapitulationen
des Staatsrats eingehender vor und betont deren Bedeutung für die For‐ mierung der nationalsozialistischen Herrschaft. Ausführlich erörtert er Schmitts Rechtfertigung der Morde vom 30. Juni 1934 und deutet dabei die früher erschienene Schrift Staatsgefüge und Zusammenbruch des zwei‐ ten Reiches (1934) als ersten Versuch, den „‚Heereskonflikt des Dritten Reiches’“ im Spiegel der Geschichte zu thematisieren. Schmitt rechtfertig‐ te demnach nur jene Entscheidung für das Heer, die er früher schon for‐ derte. Sein Sturz im Nationalsozialismus erscheint als Resultat interner Machtkämpfe. Im Verhältnis zu Hans Frank sieht Blasius den „Schlüssel zum Aufstieg Schmitts wie zu seiner Kaltstellung“. Frank musste Schmitt seiner eigenen Karriere opfern. Mit dem Sturz in der Ämterordnung war die Akteursrolle beendet. Die knappe Darstellung der Großraumtheorie ist deshalb nur ein Epilog. Zuletzt erörtert Blasius mit Schmitts Verhältnis zu Lorenz von Stein den Schlüssel seiner preußisch-etatistischen Deutung. Stein ist für Schmitt aber nur eine wichtige Facette seiner Staatstheorie und Sicht der Verfassungsgeschichte. Die Auseinandersetzung führt über Hegel zur grundsätzlichen Kritik am neuzeitlichen Projekt vom säkularen Staat. Blasius erörtert die Grenzen seines Schlüssels nicht. Die Konfronta‐ tion der politischen Biographien von Popitz und Schmitt wurde von Lutz A. Bentin345 schon eindringlicher durchgeführt. Und Blasius gelangt nicht zu einer Gesamtdiskussion des Verhältnisses preußischer Traditionen zum Nationalsozialismus, wie sie nach 1945 etwa von Gerhard Ritter346 geführt wurde. So gelingt es ihm zwar, Schmitt als historischen Akteur zu situie‐ ren und einen Überblick über sein verfassungspolitisches Wirken zu ge‐ ben. Die weiterführenden Fragen nach Schmitts verfassungspolitischem Wollen und dessen Bedeutung für eine Revision des Verhältnisses von Preußentum und Nationalsozialismus erschließt er aber nicht. Letztlich bleibt seine These von Schmitts „Mittlerstellung“ insgesamt fragwürdig, weil sie dessen Nationalsozialismus, mitsamt dem (von Blasius betonten) „Rassismus“, nicht erfasst. 3. Großraumlehre (Schmoeckel): Der ominöse „Fall“ markiert oft die Grenze des Untersuchungszeitraums. So enden viele Arbeiten mehr oder weniger abrupt mit Schmitts Sturz in der Ämterhierarchie. Zur Kriegspu‐ blizistik gab es lange nur die vorzügliche Monographie von Lothar Gruch‐
345 Lutz A. Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972 346 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die ge‐ schichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948
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IX. 2. Sammelbesprechung: Rekonstruktion und Historisierung 2001
mann,347 die Schmitts Großraumtheorie als „Krönung der nationalsozialis‐ tischen Völkerrechtstheorie überhaupt“ darstellte. Mathias Schmoeckel348 überprüft diese Einschätzung in einer breit angelegten, angenehm sachli‐ chen und maßvollen juristischen Dissertation. Er geht davon aus, „dass das Großraum-Thema einen repräsentativen Überblick über den Gesamt‐ zustand der Völkerrechtswissenschaft jener Zeit ermöglicht“ (16). Dafür stellt er Schmitts Großraumtheorie synoptisch und analytisch dar, sondiert die umfangreiche „Kontroverse zur Großraumtheorie“ und diskutiert das Verhältnis zur NS-Politik. Er erhellt die Diskrepanz zwischen dem juristi‐ schen Anspruch und der mangelnden Konkretisierung der Rechtspositio‐ nen. Im Ergebnis bestätigt er weitgehend Gruchmanns Einschätzung (238). Seine Sondierung der NS-Diskussion ist instruktiv. Die Studie ist aber in der Anlage zu nahe an Gruchmann orientiert, zu breit angelegt und im theoretischen Anliegen letztlich zu vage, um sich behaupten zu kön‐ nen.349 4. Schmitt in der Wissenschaftsgeschichte (Stolleis): Da Schmitt als Akteur nur begrenzt wirken konnte, ist die ganze Diskussion um seinen „Fall“ primär von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Michael Stoll‐ eis’ enzyklopädische Synthese350 schildert die personellen und institutio‐ nellen Umbrüche, den Wandel der literarischen Formen und Fachorgane, die „Zerstörung und Selbstzerstörung eines Faches“im Forschungs- und Lehrbetrieb. Nach Schmitts Sturz in der Ämterhierarchie wurde Huber zwar „als der eigentlich führende Autor angesehen“ (347). Schmitt initi‐ ierte mit seinen frühen Diagnosen aber noch die Gewichtsverlagerung auf die Verwaltungslehre und bestimmte im Völkerrecht die Begriffe. Stolleis’ Bild eines langen Politisierungsprozesses zeigt also Kontinuitäten über die Zäsur von 1933 hinweg und belegt Schmitts Schlüsselstellung bei der Po‐ litisierung des Faches.
347 Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung, Stuttgart 1962 348 Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völ‐ kerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994 349 Konzeptionell ähnlich angelegt, doch weniger innovativ und ertragreich vgl. Fe‐ lix Blindow, Carl Schmitts Reichsordnung. Strategien für einen europäischen Großraum, Berlin 1999 350 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1999; vgl. auch ders. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. IV: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945-1990, München 2012
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Teil IX: Rekapitulationen
IV. Zur theoretischen Auseinandersetzung Die Geschichte der bundesdeutschen Staatslehre kann geschrieben wer‐ den, ohne Schmitts späte Schriften eingehend zu berücksichtigen. So inter‐ essiert der späte Schmitt in erster Linie als Nachgeschichte seines „Falls“ und Repräsentant einer Tätergeneration. Auf der Basis des Nachlasses ent‐ deckt Dirk van Laak351 ihn darüber hinaus als „Fernuniversität in einer Person“ (77). Er beginnt mit einem knappen Rückblick auf die NS-Zeit, setzt mit 1945 ein, beschreibt die allmähliche Selbstorganisation eines Netzwerks existentieller Versorgung und parallelisiert Schmitts Lage mit anderen belasteten Intellektuellen. Er schildert die irritierende Präsenz in den Debatten der fünfziger Jahre um die Stabilisierung der jungen Repu‐ blik und skizziert die universitäre Wirkung in die verschiedensten Fächer. In seiner Besprechung unterscheidet Jürgen Habermas352 stärker zwi‐ schen Schmitts Nationalismus und der liberalen Rezeption. Er verweist darauf, dass Schmitt nach 1945 ein verbreitetes „Bedürfnis nach deutschen Kontinuitäten“ artikulierte, das aller liberalen Rezeption unterströmig blieb. Seine Stoßrichtung zielt dabei gegen den Nationalismus der Verfas‐ sungslehre in ihren völkerrechtlichen Konsequenzen. Sachlich interessiert ihn heute vor allem das Problem einer Rechtfertigung humanitärer Inter‐ ventionen.353 Wie Schmitt lehnt er eine „unvermittelte Moralisierung von Recht und Politik“ ab. Gegen Schmitt meint er aber: „Der Menschen‐ rechtsfundamentalismus wird nicht durch den Verzicht auf Menschen‐ rechtspolitik vermieden, sondern allein durch die weltbürgerliche Trans‐ formation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen Rechtszu‐ stand.“354 Gegenüber Schmitts rein politischer Betrachtung und Denunzia‐ tion moralischer Ansprüche in der Politik besteht Habermas auf „prozedu‐ ralistischer“ Verrechtlichung. Er trifft damit einen zentralen Schwach‐
351 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993 352 Jürgen Habermas, Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt 1995, 112-122; zur älteren Kontroverse um Habermas’ Stellung zu Schmitt vgl. Helmuth Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Haber‐ mas, Berlin 1994 353 Dazu vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt 1996, 160ff, 192ff; Von der Machtpolitik zur Weltbürgerpolitik, in: ders., Zeit der Über‐ gänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt 2001, 27-39 354 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt 1996, 236
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IX. 2. Sammelbesprechung: Rekonstruktion und Historisierung 2001
punkt. Immer wieder betonte Schmitt die „Totalität“ des Politischen. Mit Habermas ließe sich dagegen die „Totalität“ des Moralischen herausstel‐ len. Mit dem Hinweis auf politische Wirkungen entkommt man dem Zwang zur moralischen Stellungnahmen nicht. Ein Philosoph wie Haber‐ mas, der aus der Teilnehmerperspektive individueller Freiheitsansprüche argumentiert, muss eine komplexere Verhältnisbestimmung von Moral, Politik und Recht fordern. Innerhalb der Schmitt-Forschung bietet Heiner Bielefeldt355 hier einen anregenden Gegenentwurf. Philosophisch geht er von Plessner aus, rezi‐ piert Schmitts Einsicht in die „Totalität“ des Politischen zustimmend und zieht mit Jaspers institutionelle Konsequenzen. Die politische Philosophie kann demnach Schmitts Politikbegriff positiv aufnehmen, wenn sie ihn moralphilosophisch reflektiert und liberale Konsequenzen zieht. Systema‐ tisch betrachtet ist Schmitts Antiliberalismus eine Konsequenz seiner ver‐ fassungstheoretischen Methode. Schmitt geht nicht von der individuellen Freiheit aus, sondern von der kollektiven politischen Freiheit. Deshalb kann er moralische Ansprüche an die Politik methodisch nicht berechti‐ gen. Für diese Grenze seiner Betrachtungsweise bedarf es keines Rekurses auf „Theologie“. Die philosophische Auseinandersetzung mit Schmitt be‐ trifft zunächst, wie Habermas und Bielefeldt zeigen, die Behauptung indi‐ vidueller Freiheit gegenüber der politischen Beobachterperspektive der Verfassungslehre. Die personalistischen Voraussetzungen einer solchen Freiheitsphilosophie lassen sich zwar ihrerseits kritisieren, so dass die phi‐ losophische Auseinandersetzung mit Schmitt, wie bei Friedrich Balke,356 auch um der „Dekonstruktion“ des Personalismus willen sinnvoll geführt werden kann. Das ist hier aber nicht weiter zu diskutieren. Unsere Besprechung ging (I.) von neueren Editionen aus, diskutierte (II.) einige, meist in kritischer Absicht entstandenen Rekonstruktionen der „Politischen Theologie“ und ging dann (III.) zu Historisierungen über, die das Werk ohne metahistorische, theoretische Erkenntnisinteressen von Schmitts Wollen her kontextualisieren. Die Forschungsdynamik der deutschsprachigen Diskussion357 verlagerte sich in den letzten Jahren auf
355 Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers, Würzburg 1994 356 Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende, Die Versuchung Carl Schmitts, München 1994 357 Unsere pragmatische Beschränkung auf die deutschsprachige Diskussion recht‐ fertigt sich durch diese eigene Dynamik.
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Teil IX: Rekapitulationen
diese historische Forschung. Die aufwendigen Rekonstruktionen schufen dabei Voraussetzungen für die historische Kontextualisierung. Solche His‐ torisierungen erübrigen (IV.) die theoretische Auseinandersetzung nicht, wie schon das Beispiel Habermas zeigt. Schmitt wird jenseits der Ge‐ schichtswissenschaft weiter theoretisch-präsentistisch diskutiert werden. Doch auch die Geschichtswissenschaft hat nicht nur historische Interessen. Als Akteur verdiente Schmitt ihre gegenwärtige Aufmerksamkeit kaum. Auch wissenschafts- und wirkungsgeschichtliche oder politische Absich‐ ten rechtfertigen den heutigen Forschungsaufwand schwerlich. Die Dis‐ kussion ist nicht mehr sektiererisch. Auf hohem Niveau hat sie wieder An‐ schluss an allgemeine historische und theoretische Fragen gewonnen. Es muss deshalb noch einen anderen Aktualitätskern geben. Als Akteur mag Schmitt nur eine Fußnote zur Zeitgeschichte sein, als „Fall“ eine Mah‐ nung, als Figur der Wissenschaftsgeschichte ein Riese: Für die allgemeine Geschichtsschreibung bleibt er nicht zuletzt als Methodiker politischer Historiographie interessant.358 IX. 3. Die geistesgeschichtliche Lage der deutschen Carl SchmittForschung. Thesenpapier zum Vortrag vom 3. Oktober 2013 in Prag359 1. Schmitt ist ein Beobachter und Zeuge der Krise des modernen Natio‐ nal- und Verfassungsstaates. Der Nationalstaat zerfiel ihm in die Pole des Nationalismus und des supranationalen, hegemonialen und impe‐ rialen Reichsdenkens. 2. Die Schmitt-Rezeption war stets politisch. Die internationale Wahr‐ nehmung und Übersetzungsgeschichte Schmitts verstärkt sich ab 1933 mit dem NS-Engagement. 3. Es gibt heute in Deutschland keine bedeutenden Schmitt-Schüler mehr. Statt theoretisch bedeutender Transformationen (Böckenförde, Koselleck) dominiert der spezialistische und sekundärwissenschaftli‐ che Betrieb.
358 Dazu Verf., Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte, in: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, 27-43 359 Der Vortrag wurde auf Einladung von Jiri Chotas und der Philosophischen Fa‐ kultät der Prager Universität gehalten und ist bisher auf YouTube abrufbar.
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IX. 3. Vortragsthesen 2013
4. Die deutsche Schmitt-Rezeption lässt sich grob in eine Phase politi‐ scher Kritik (Krockow, Fijalkowski), theoretischer Problematisierung (Hofmann), philologischer Rekonstruktion, editorischer Erschließung und historisch-biographischer Kontextualisierung einteilen. 5. Der „Weimarer“ Schmitt bis 1933 ist heute besser bekannt als der NSSchmitt. Die Diskussionen um Schmitt als „Aufhalter“ bzw. Anwalt des Präsidialsystems (von Schleicher oder Papen) sind heute einiger‐ maßen erschöpft. Schmitts Akteursrolle im Nationalsozialismus vor und nach 1936 ist dagegen bisher weniger gut dokumentiert und er‐ forscht. Das gilt insbesondere für die Jahre 1937 bis 1945. 6. Ich selbst neige heute stärker der Historisierung als der theoretischen Aktualisierung des Werkes zu. Ich interessiere mich für Schmitt vor allem als Repräsentant der „deutschen Katastrophe“. Schmitt spiegelt die Krise der deutschen Geschichte des 20. Jahrhundert in seinem Le‐ ben und Werk. Er ist ein „existentieller“ Krisendenker oder leibhafter „Existentialist“. 7. Selbstverständlich ist eine Trennung von Genesis und Geltung und Aktualisierung des Werkes weiter möglich und interessant. 8. Theoretisch substanzielle und aktuelle Aspekte des Werkes sind a) das Verhältnis von Politik und Recht (Schmitt als Jurist des Ausnahmezu‐ stands), b) die (problemgeschichtlich von Hofmann rekonstruierte) Spannung von Legalität und Legitimität, c) das weite Feld der metaju‐ ristischen Voraussetzungen und Konfessionalität des Rechtsdenkens (Stichwort „Politische Theologie“) und etwa die Völkerrechtskritik (Habermas vs. Schmitt). 9. Als Krisentheoretiker des National- und Verfassungsstaats sah Schmitt die Sprengkraft des Nationalismus (nach „Versailles“) und Notwen‐ digkeit hegemonialer transnationaler Ordnung („Völkerrechtliche Großraumordnung“). Er diagnostizierte (vor 1933) die Transformation des liberalen Rechtsstaats in einen plebiszitär legitimierten diktatori‐ schen Exekutivstaat. Diese beiden Erosionsprozesse – Wendung zum Exekutivstaat und zu supranationalen Ordnungen – laufen heute im Europäisierungsprozess zusammen. 10. Wir erleben heute in der aktuellen EU-Krise massive Erosionen libera‐ ler und demokratischer Verfassungsstandards im exekutiven und präsi‐ dialen Krisenmanagement. Systematisch aktuell ist Schmitt hier be‐ sonders in seiner rechtstheoretischen Analyse der Entformalisierung bzw. Erosion des Gesetzesbegriffs. Die Lage der europäischen Rechts‐ wissenschaft ist heute deshalb eine der aktuellsten Schriften Schmitts. 223
Teil IX: Rekapitulationen
IX. 4. Krisenprismatik. Zum Stand der Editionsgeschichte360 I. Die Tagebücher: zwischen Beichte und Kalender Wie in der Musik361 lässt sich auch im Fachdiskurs zwischen dem „Ka‐ non“ der „Klassiker“ und gängigen „Repertoire“ bekannter Autoren unter‐ scheiden. Wenn Schmitt heute auch nicht unstrittig als „Klassiker“ eta‐ bliert ist, gehört er doch zum Repertoire: Kaum ein Meisterdenker, der auf sich hält, umgeht ihn gänzlich. Dabei hat Schmitt seine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vielfältig gesteuert und Deutungslinien vorgeschrie‐ ben. Das Bild hat sich aber nach seinem Tod (1985) und seit der Öffnung des Nachlasses erheblich gewandelt. Die Organisation eines editorischen Gesamtplans scheiterte zwar Anfang der 1990er Jahre; Ernst Hüsmert (1928-2017) und Gerd Giesler (*1940) ergriffen daraufhin aber die Initia‐ tive und brachten das Tagebuchwerk in Eigenregie auf den Weg. Giesler ist bis heute, auch als Präsident der Carl Schmitt-Gesellschaft, der uner‐ müdliche Koordinator, Motor und Kopf aller Editionsvorhaben. Der bunte Kranz der Nachlasseditionen begann 1991 mit der Publikati‐ on des Nachkriegsgedankentagebuches Glossarium, Schmitts Schwarzen Heften. Helmut Quaritsch edierte und kommentierte dann zwei wichtige Nachlasstexte aus der frühen Nachkriegszeit. Es folgten Briefausgaben u.a. der Jugendbriefe mit der Schwester (2000), Korrespondenzen mit Ar‐ min Mohler (1996), Ernst Jünger (1999) und Gretha Jünger (2007), Ernst Forsthoff (2007), Ludwig Feuchtwanger (2007), Hans Blumenberg (2007), Rudolf Smend (2010), Jacob Taubes (2012) und Ernst Rudolf Huber (2014). Weitere Korrespondenzen u.a. mit dem Theologen Hans Barion, Philosophen Walter Warnach und – weltweit besonders interessierend – dem Historiker Reinhart Koselleck sind [2018] in Vorbereitung. Parallel erschienen seit 2003 die lückenhaft erhaltenen Tagebücher von 1912 bis 1934 in fünf Bänden. Leider ist die nationalsozialistische Zeit bis 1945 nicht in der gleichen Weise greifbar. Nur für die dramatischen Monate März bis September 1945 existiert noch ein kurzes Berliner Tagebuch, das ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehen, aber noch nicht transkribiert
360 Stark gekürzt und überarbeitet aus: NPL 63 (2018), 9-26 361 Dazu vgl. Jan Assmann, Kanon und Klassik im allgemeinen und in musikwissen‐ schaftlicher Hinsicht, in: Klaus Pietschmann / Melanie Wald-Fuhrmann (Hg.), Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, München 2013, 101-118
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IX. 4. Krisenprismatik. Zum Stand der Editionsgeschichte (2018)
ist. Darüber hinaus wären Taschenkalender mit Terminverabredungen zu decodieren. Schmitts Erfahrungen der Jahre 1934 bis 1945, um einen Buchuntertitel zu variieren, sind aber nicht annähernd so gut dokumentiert wie die Zeit bis 1934. Die zahlreichen Primärtexte sind heute fast vollständig wieder greifbar. So erschien jüngst die erstaunliche Dissertation Über Schuld und Schuld‐ arten zusammen mit kleineren, fast unbekannten Texten. Auch die zahlrei‐ chen nach 1945 niemals wiederveröffentlichten NS-Schriften werden vo‐ raussichtlich kommentarlos in einem Schmittiana-Band publiziert werden. Für Schmitts Übergang in den Nationalsozialismus ist die Erstveröffentli‐ chung eines Vortrags vom 22. Februar 1933 über Bund, Staat und Reich erhellend, in dem Schmitt sich bereits von Papen und Schleicher distan‐ ziert: „Dieses Experiment Schleicher-Papen ist einfach nicht gelungen. Es könnte sein, dass es sich wiederholt, dass es sich schließlich in irgendeiner anderen Form wiederholt. Das hängt meiner Meinung nach davon ab, ob es der Natio‐ nalsozialistischen Partei gelingt, den Einparteistaat zu verwirklichen.“362
Wer Schmitts Weimarer Parteienstaatskritik erinnert, wird das schwerlich als vorbehaltlose Affirmation des Nationalsozialismus lesen. Neben sol‐ chen Quellen wollen die Schmittiana N.F., von der Schmitt-Gesellschaft unter der Regie Gerd Gieslers herausgegeben, vor allem kleinere Brief‐ wechsel edieren, die für selbständige Buchpublikationen zu schmal sind. Neben einigen Juristenkorrespondenzen konzentrierten sie sich hier bisher auf die Korrespondenzen mit Philosophen, Nationalökonomen und Sozio‐ logen. Vollständigkeit ist kaum zu erreichen und die Erträge sind vom teils kontingenten Quellenstand und anderen Ressourcen abhängig. Eine gewis‐ se Priorität hat hier auch die Weimarer Epoche, in der Schmitt sein Werk ausarbeitete und die in den Kontexten besser erschlossen ist als die natio‐ nalsozialistische Zeit. In den Schmittiana ediert wurden bisher u.a. die teils sehr unvollständig erhaltenen Briefwechsel mit Erwin Jacobi, Walde‐ mar Gurian, Lilly v. Schnitzler, Kurt Wolzendorff, Walter Jellinek, frühe schmale Philosophenkorrespondenzen (Pichler, Spranger, Baeumler, Landsberg, Litt, Strauss, Kuhn, Heidegger, Voegelin), die längere und spä‐ tere Korrespondenz mit Joachim Ritter, Korrespondenzen mit den Natio‐ nalökonomen und Soziologen Eduard Rosenbaum, Kurt Singer, Edgar Sa‐ lin, Emil Lederer, Gottfried Salomon, Ferdinand Tönnies, Carl Brink‐
362 In: Schmittiana N.F. II (2014), 39
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mann, Erwin v. Beckerath, Friedrich Lenz, Eduard Heimann und Moritz Julius Bonn, darüber hinaus etwa die Korrespondenz mit der Literaturwis‐ senschaftlerin Marianne Kesting, die für Schmitts Benito Cereno-Identifi‐ kation sehr aufschlussreich ist. Desiderate wären etwa die Theologenkorrespondenzen (Wilhelm Neuss, Erik Peterson u.a.), für die Juristenkontakte die knappe, kollegial freundliche Korrespondenz mit Hans Kelsen, längere Briefwechsel mit Carl Bilfinger und Otto Koellreutter, für die NS-Zeit etwa die schmale Korrespondenz mit Carl August Emge oder andere Juristenkorresponden‐ zen mit jüngeren Autoren (Theodor Maunz, Ulrich Scheuner, Wilhelm Grewe u.a.). Der knappe Briefwechsel mit Erich Rothacker,363 für die Ge‐ schichte der Begriffsgeschichte nicht unwichtig, wurde in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie publiziert. Andere verstreute Gelegenheitsedi‐ tionen wären noch zu nennen. Es gibt hier im aufwändigen Editionsgeschäft keinen satt gesponserten und von Akademien getragenen Generalplan, keinen Blankoscheck eines Verlags und kein Karrieresprungbrett für solche Kärrnerarbeit. Dies be‐ dacht, sind die Erträge, gemessen an den erheblichen Herausforderungen und Zugangsproblemen der Quellen, doch sehr beachtlich. Allein das in‐ zwischen vorliegende Briefvolumen umfasst heute grob überschlagen an‐ nähernd 5000 Seiten. Ein so unauslotbar gewichtiger, vieldeutiger und ab‐ gründiger Text wie das Glossarium könnte ein Gelehrtenleben absorbie‐ ren. Wer sich darauf ernstlich einlässt, trinkt und ertrinkt in den Tiefen und Untiefen des deutschen „Geistes“. Though this be madness, yet there is method in’t. Im Februar 1956 notierte Schmitt: „Modernes Gespräch: Wieviele Sprachen sprechen Sie eigentlich? Zwei tote Sprachen, Griechisch und Latein kann ich gut lesen; ich spreche leidlich 5 na‐ tionale, d.h. halbtote Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch; und beherrsche mindestens sieben lebendige, d.h. ideologische, wirksame, d.h. internationale Sprachen, nämlich humanistisch, liberaldemo‐ kratisch, faschistisch, marxistisch, römisch=katholisch christlich=evange‐ lisch, ferner: positivistisch und hegelianisch. Macht also zusammen 14 Spra‐ chen, deren Vokabulaire, Grammatik und Syntax mein Gehirn präsent haben muss. Sonst wäre ich nämlich schon längst ein- und untergebuttert. So aber lebe ich noch und genieße der Freiheit meines Geistes.“364
363 Verf. (Hg.), Nationalsozialistische Erfahrung und begriffsgeschichtliche Revisi‐ on. Der Briefwechsel zwischen Erich Rothacker und Carl Schmitt 1933-1960, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (2015), 727-741. 364 Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 2015, 341
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IX. 4. Krisenprismatik. Zum Stand der Editionsgeschichte (2018)
Ein Blick in die digitale Auswahlbibliographie der Carl Schmitt-Gesell‐ schaft,365 die seit 2007 fortlaufend geführt wird, zeigt schon, dass niemand über die Lesekapazitäten und Polylingualität verfügt, die Fülle permanen‐ ter Neuerscheinungen annähernd zu rezipieren. Zum Stand der internatio‐ nalen Debatte sei nur auf das 2017 erschienene und von Jens Meierhein‐ rich und Oliver Simons herausgegebene The Oxford Handbook of Carl Schmitt als Referenzwerk hingewiesen. Schmitt verstand sich als „existentieller“ Teilnehmer und Zeuge der deutschen Nationalgeschichte, als Jurist im „Vorhof der Macht“. Als poli‐ tischer Akteur war er letztlich nur eine Randfigur oder Fußnote zur Zeitge‐ schichte. Sein exzentrischer Habitus ist irgendwo zwischen dem Typus des „faustischen“ Professors, „freischwebenden“ Intellektuellen, Bohèmien und zynischen Spielers anzusiedeln. „Ich bin ein intellektueller Abenteu‐ rer“,366 sagte er 1947 in Nürnberger Untersuchungshaft; er sah sich als „Chaopolit“ und „Picaro“, Überlebenskünstler und Glücksritter im „Welt‐ bürgerkrieg“ und Ausnahmezustand. Dieter Thomä367 reihte ihn in die Reihe der Hobbes-Rezipienten und anarchischen Störenfriede ein. Schmitt zählte sich selbst zu dieser „Bruderschaft“, die er mit Rameaus Neffe be‐ ginnen ließ: „Wir aber gehören zur Rasse der Neffen des Herrn Rameau. Nur wer zu die‐ ser Rasse gehört, ist in die Wirklichkeit eingeweiht. Kein Faschist und kein Antifaschist, kein Verfolger und kein Wiedergutmachungsgläubiger gehört zu dieser Rasse. Wohl aber gehört zu unserer Bruderschaft der Herr von Goethe, wenigstens als Ehrenmitglied, weil er ja diesen Neffen in Deutschland einge‐ führt hat; Hegel gehört dazu, der ihn zu seinem Kronzeugen erhoben hat; aber auch die herrliche Bande, die im 16./17. Jahrhundert Shakespeares Stücke ge‐ schrieben hat. Von dieser echten Zugehörigkeit zur Bruderschaft des Neffen des Herrn Rameau konnte der Marxismus lange leben. Denn Karl Marx und Friedrich Engels waren Brüder dieses Neffen. Lenin und seine russischen Ge‐ nossen waren schon Verwerter und mit der Verwertung beginnt der Mehrwert, und mit dem Mehrwert die hohe Politik und alles Weitere ist dann nur noch Folge der Zeit. Wir aber führen die Rasse der Neffen des Herrn Rameau un‐ verfälscht weiter.“368
Goethe hatte Diderots fragmentarisch nachgelassenen, in Petersburg auf‐ gefundenen Kunstdialog 1805 in eigener Übersetzung publiziert, Hegel
365 366 367 368
www.carl-schmitt.de/neueste_veroeffentlichungen.php Helmut Quaritsch (Hg.), Carl Schmitt. Antworten in Nürnberg, Berlin 2000, 60 Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016 Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 2015, 350
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ihn in der Phänomenologie des Geistes dann sogleich rezipiert, sodass der Text auch in die marxistische Linie wirkte. Rameau, der Neffe des „gro‐ ßen“ Musikers, bekannte sich zum Kynismus und Ressentiment, zog Dio‐ genes dem Sokrates vor, pflegte seinen „Hass auf das Genie“, kannte nur „Tyrannen und Sklaven“, vertrat eine Herr/Knecht-Dialektik, begriff sich als verrufener „Taugenichts“ und entpuppte sich am Ende doch als ver‐ zweifelter Liebender und wahrer Musiker. Viele solche autobiographische Identifikationen und Legenden, stets Außenseitersentiment betreffend, hat Schmitt über die Jahrzehnte skizziert; er sah sich als Othello, Benito Cere‐ no und Hamlet, bot – von Donoso Cortés bis Eusebius – ein ganzes Arse‐ nal und Spiegelkabinett von Identifikationsautoren auf. Helmuth Lethen369 suchte mit Staatsrat Schmitt jüngst eine fiktionali‐ sierte Annäherung ans Innenleben der NS-Kollaboration. Auf der Grund‐ lage der reichlichen, aber auch lückenhaften Quellen schrieb er erhellend am „Mythos“. Solche Verfahren finden sich in der Geschichtskultur der Bundesrepublik immer häufiger. Im digitalen Zeitalter werden die Gren‐ zen zwischen Dichtung und Wahrheit fluide. Die fiktionalisierende Innen‐ sicht gibt mancherlei Aufschlüsse über Akteursmotive, auch wenn ein so fremder und eigenartiger Typ wie Schmitt letztlich rätselhaft bleibt. Es ist bekannt, dass er seine Aufzeichnungen und Selbstdeutungen oft in einer idiomatischen Kurzschrift verfasste, die nur der 2013 verstorbene Steno‐ graph Hans Gebhardt enträtseln konnte. Alle vorliegenden Tagebuchedi‐ tionen basieren auf dessen – erstaunlich verlässlichen – Transkriptionen. Mit den Jahren 1925 bis 1929 gelangte das Tagebuchwerk 2018 zu einem vorläufigen Abschluss. Die Zeit von 1912 bis 1934 liegt nun komplett vor, soweit die Quellen erhalten sind. Eine Lücke klafft zwischen 1916 und 1921: Jahre des Scheiterns von Schmitts erster Ehe. Für diese Zeit müssen Tagebücher verloren gegangen oder vernichtet sein, gelegentlich erwähnte Schmitt deren Lektüre. Auch später bleibt manches lückenhaft und fragmentarisch. Die Kette der erhaltenen Weimarer Tagebücher ist jetzt aber geschlossen und auch die relativ „goldenen Jahre“ der Republik sind nun durch den apokalyptischen Ekstatiker des Ausnahmezustands ge‐ spiegelt. Es gibt verschiedenste Sorten von Tagebüchern, „schwarzen Heften“ und Denktagebüchern. Mit Schmitts Lebens- und Wirkungskreis wandel‐
369 Helmuth Lethen, Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Berlin 2018
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ten sich auch die Formen und Funktionen. Ein Vergleich etwa mit den No‐ tizen Henning Ritters,370 Schmitt seit Jugendtagen verbunden, läge nahe, die ein publizistischer Sensationserfolg wurden. Schmitts Tagebücher fal‐ len jedoch mehr ins Genre des Journal intime und der carnets secret. Dabei reflektierte Schmitt schon früh satirisch auf die Form des Tagebuchs und grenzte sich später auch namentlich von der Praxis und den publizis‐ tischen Verwertungsinteressen Ernst Jüngers schroff ab. Rückblickend hob er die chronistisch-kalendarische Kernfunktion hervor. Er mied reflektie‐ rende starke Selbstdeutungen und betrachtete seine Tagebücher nicht als Konfessionen. Sein ambivalentes Verhältnis zum Egoprotokoll kommt schon in diver‐ sen Abbrüchen und Formexperimenten zum Ausdruck, die bis zur Monta‐ ge von Zeitungsartikeln und Bildern reicht. Tielke spricht für die Jahre 1925 bis 1929 von einer „Beichte“ und deutet das „Rätsel“371 Schmitt vom „Betrug“ der ersten Eheentscheidung her: von der Heirat mit einer Hoch‐ staplerin, die sich adelte und um fünf Jahre verjüngte. Die Beichte setzt Schuldbewusstsein und Schuld, institutionelle Vermittlung sowie einen persönlichen Gott voraus: Schmitt hat sein Tagebuch sicher nicht intentio‐ nal als „Beichte“ geführt; Schuld hat er abstrakt zwar als „Erbsünde“ und anthropologischen „Pessimismus“ bekannt, für seine private wie politische Biographie aber kaum je „konkret“ eingestanden. Nur selten erwähnte er etwa, was er seiner Frau durch seine permanenten Affären und Stricheska‐ paden antat. Von „Beichte“ lässt sich vielleicht dennoch, mit Schmitts Sa‐ tire, als Utopie des „Buribunken“ und Grenzbegriff einer absoluten Hand‐ lungsregistratur sprechen. Das Tagebuch beschränkt sich jedenfalls nicht auf das Ereignisprotokoll, sondern evaluiert und wertet ständig in allen Tonlagen, Kontrasten und Dissonanzen. Situierte Schmitt die Lage der Rechtswissenschaft im Spätwerk „zwischen Theologie und Technik“, so oszilliert sein Tagebuch mit enormer Spannweite und Fallhöhe zwischen Beichte und Kalender. Der hohe Quellenwert ist in der Forschung unbestritten. Seit dem ersten Erscheinen des Glossariums (1991) ist der private Ausnahmezustand und Radikalismus als Tenor und Generalbass von Schmitts Leben auch offen‐
370 Henning Ritter, Notizhefte, Berlin 2010 371 Carl Schmitt, Tagebücher 1925 bis 1929, hrsg. Gerd Giesler / Martin Tielke, Ber‐ lin 2018, XXXIV; in der NPL-Fassung dieses Textes wurde dieser Band einge‐ hender besprochen; andere Rezensionsfassung in: Die Öffentliche Verwaltung 71 (2018), 529-530
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bar. Viele Legenden der älteren Forschung sind darüber zerfallen, wie der erste Biograph, Joseph W. Bendersky,372 im detaillierten Durchgang durch die Tagebucheditionen betont. Als „bürgerlicher“ Professor, braver Katho‐ lik, Verteidiger der liberaldemokratischen Republik, intimer Präsidialkanz‐ lerberater, preußischer „Etatist“ oder Zähmungsstratege Görings geht Schmitt heute schwerlich noch durch. Sein scharfer, schon Mitte der 1920er Jahre sich radikalisierender Antisemitismus ist unabweisbar. Star‐ ke Sympathien oder gar eine klare Option für den Nationalsozialismus sind vor 1933 aber auch nicht zu finden und können trotz mancher beifäl‐ liger Gelegenheitsäußerung heute grundsätzlich ausgeschlossen werden. Einige Grundmelodien der Lebensführung sind ziemlich durchgängig: Schmitt tritt nicht primär als akademischer Lehrer und Professor auf, aber auch nicht als politischer Zeitzeuge, Akteur oder Beobachter. Ambitionier‐ te Deutungen finden sich erst im Glossarium, das in der frühen Nach‐ kriegszeit, als Schmitt Publikationsverbot hatte, Funktionen des juridopo‐ litischen Werkes übernahm. In den früheren Tagebüchern überwiegt das intime Leben, die gesellige und urbane Lebensführung, die Fülle der Be‐ gegnungen; sie registrieren permanente Exzesse und Krisen des Bezie‐ hungslebens, das Doppelleben außerehelicher Affären, Sex- und Striches‐ kapaden, Außenseiterressentiment, berufliche Antipathien und Hassgefüh‐ le, Geldsorgen und andere Nervenverwirrungen. So exakt das Ereignispro‐ tokoll dabei auch sein mag, ist alles doch krisenbiographisch erlitten, ge‐ fühlt und stilisiert. Es wäre naiv, es stets für bare Münze zu nehmen. Viel‐ mehr muss man von einer alarmistischen Ästhetik und Dramaturgie der Krisenoptik ausgehen: Schmitts Tagebücher führen den biographisch-exis‐ tentiellen Komplementärbeweis für die Wirklichkeit des „Ausnahmezu‐ stands“,373 den Ernstfall der permanenten Krise. Es lässt sich von einer Dramaturgie des Selbstprotokolls sprechen, vom Selbstbeweis antibürger‐ licher Lebensführung und agonalem Triumph in der Arena der exzentri‐ schen Selbstdarstellung. Schmitt wünschte kein bürgerlicher Professor zu sein und demonstrierte sich das in seinen Aufzeichnungen; er glaubte es seinem antibürgerlichen Affekt und Antiliberalismus schuldig zu sein, den Habitus des Gelehrten zurückzuweisen. 1950 schrieb er in Ex Captivitate Salus:
372 Joseph W. Bendersky, Schmitt’s Diaries, in: The Oxford Handbook of Carl Schmitt, Oxford 2016, 117-146. 373 Dazu Verf., Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014, 1-29
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„Ein Jurist, der sich selbst und viele andere zur Objektivität erzogen hat, geht psychologischen Selbstbespiegelungen aus dem Wege. Die Neigung zu litera‐ rischen Beichten und Bekenntnissen ist mir durch hässliche Beispiele wie Jean Jacques Rousseau und den armen August Strindberg verleidet. Als Ex‐ perte des Verfassungsrechts habe ich allerdings einen hochinteressanten Schicksalsbruder in constitutionalibus, der in persönlichen Bekenntnissen und Beichten Erstaunliches geleistet hat, den Protagonisten der Doktrin des libera‐ len Konstitutionalismus, Benjamin Constant.“374
Mit dem Abschluss des Weimarer Tagebuchwerkes liegt die Krisenbiogra‐ phie des Ausnahmejuristen und Ausnahmezustandsekstatikers nun offen vor. Sie lässt sich unter diversen Aspekten lesen: nicht zuletzt als Psycho‐ gramm akademischer Produktivität. Die außerordentlichen Gelingensbe‐ dingungen von Schmitts Kreativität sind nun publik. Thomas Manns Dok‐ tor Faustus trieb einst der „Wille zum gottversuchenden Wagnis“, das „ge‐ heimste Verlangen nach dämonischer Empfängnis“ ins Bordell und zur sy‐ phillistischen Ansteckung. Analog fand Schmitt durch seine beiden Ehen zu einem inspirierenden Stressprogramm. Bevor der Fall aber den Psycho‐ pathologen überlassen wird, ist erneut auf die autobiographische Form der Tagebücher hinzuweisen: Schmitt erschreibt sich hier sein Leben. Er war zu bürgerlicher Lebensführung durchaus fähig, seinen Dienstpflichten kam er nach. II. Arbeit am Grundtext Nach wie vor steht Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen im Zen‐ trum der Rezeption und Debatten. Sie bietet einen Grundansatz und eine Summe des Werkes und eignet sich als Einstiegs- wie Abschlusslektüre. Gerade die internationale Debatte beschränkt sich oft auf die Auseinander‐ setzung mit den Programmschriften der 1920er Jahre. „Klassikerrezeptio‐ nen“ sind durch den reduktiven und entkontextualisierten Umgang mit we‐ nigen, kanonisch etablierten Texte gekennzeichnet. Schmitt hat sich aber nicht mit einer übersichtlichen Theorie und Systematik als „Klassiker“ an die Nachwelt adressiert. Er warf eine Vielzahl von Schriften für Tag und Stunde, wie er im Vorwort zu seinen Verfassungsrechtlichen Aufsätzen schreibt, „in die Waagschale der Zeit“. Eine selektive Beschränkung etwa auf den Begriff des Politischen ist, gelinde gesagt, unterkomplex.
374 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, 76
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Aus den Tagebüchern der Jahre 1925 bis 1929 erfahren wir, dass Schmitt die erste Fassung von 1927 zum Einstieg in die Verfassungslehre schrieb und ziemlich plötzlich separat veröffentlichte. Dazu heißt es am 27. März 1927 im Tagebuch: „Den ganzen Vormittag fleißig an dem Kapi‐ tel ‚Begriffsbestimmung des Politischen’ gearbeitet. Brief vom Arch. f. Soz. Will ihm vielleicht das Kapitel als Aufsatz schicken; das machte mich unternehmend.“Einen Tag später heißt es bereits: „Morgens an dem Aufsatz über Politik gearbeitet“. Während der Abfassung, zu Beginn, ent‐ scheidet Schmitt sich demnach, auf eine Anfrage - vermutlich von Emil Lederer oder Alexander von Schelting - antwortend, dafür, politische Theorie und Verfassungstheorie voneinander zu entkoppeln und der Ver‐ fassungslehre eine politische Positionierung voranzuschicken, was ver‐ mutlich auch zu einer Ausweitung der Begriffsschrift führte. Schmitt schickt seinen Begriff des Politischen dem Begriff der Verfassung voraus, die Freund-Feind-Unterscheidung dem Konzept von der „positiven“ Ver‐ fassungsentscheidung. Ernst-Wolfgang Böckenförde375 hat Schmitts Be‐ griff des Politischen deshalb vor drei Jahrzehnten schon als „Schlüssel“ zur Verfassungslehre bezeichnet und so für eine geschlossene Auseinan‐ dersetzung mit beiden Grundlegungsschriften plädiert. Andere empfehlen den Einstieg mit der Politischen Theologie oder anderen Schriften. Eine neue Edition des Begriffs des Politischen mit allen Varianten hat also nicht zuletzt die Aufgabe, einen naiv im Kanon- und Klassiker-Vorur‐ teil befangen Zugang zu torpedieren und auf die komplexe Textgeschichte und Varianten von Schmitts zweifellos grundsätzlichem und grundlegen‐ dem Text zu verweisen. Dass Der Begriff des Politischen in verschiedenen Fassungen vorliegt, hat die Forschung zwar früh gesehen und interpretato‐ risch beachtet, sie hat dabei aber vor allem den Shift von 1932 zu 1933 berücksichtigt, weniger die Erstfassung von 1927 und die erweiterte Bro‐ schüre von 1963. Der Herausgeber Marco Walter376 geht einleitend auf die Debatten ein und nennt auch weniger bekannte Rezensenten. Herbert Mar‐ cuse betrachtete die Fassung von 1933 in der Zeitschrift für Sozialfor‐ schung als Anpassung an den Nationalsozialismus; Karl Löwith entwi‐ ckelte im eingehenderen Textvergleich dann seine These vom politischen
375 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Complexio Oppositorum, hrsg. Helmut Quaritsch, Berlin 1988, 283-299 376 Marco Walter (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Synoptische Dar‐ stellung der Texte, Berlin 2018
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Opportunismus und „Okkasionalismus“ Carl Schmitts; Heinrich Meier wies Jahrzehnte später, 1988, ergänzend auf eine gegenläufige Tendenz hin und vertrat die starke These, dass Schmitt auf Leo Strauss 1933 mit einer Verdeutlichung seiner „theologischen“ Voraussetzungen und „Politi‐ schen Theologie“ antwortete. Meier knüpfte seine – systematisch nicht ex‐ plizierte - Unterscheidung von politischer Theologie und Philosophie an das „Gespräch“ zwischen Schmitt und Strauss; heute wissen wir, dass es persönlichen Kontakte gab, die vergleichsweise marginal waren, dass die Anmerkungen von Strauss als Dank auf Gegenseitigkeit entstanden und von Schmitt als Teil seiner Publizitätspolitik über Lederer377 zum Druck ans Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik vermittelt wurden. Schmitts Rezeptionsvolumen war enorm, zahllose Gespräche und Schrif‐ ten gingen in die Abfassung des Begriffs des Politischen ein. Der Hinweis auf Strauss lenkte die Forschung von Löwiths Opportunismusthese in an‐ dere Bahnen; das war anregend und wirksam, führte aber auch in herme‐ neutische Spekulationen und Sackgassen, verengte die Vielzahl relevanter Aspekte und hielt vom fälligen Gang in die Archive ab. 2003 gab ich des‐ halb auch einen „kooperativen Kommentar“ zum Begriff des Politischen heraus, der die systematische Diskussion polyperspektivisch öffnen soll‐ te.378 Dabei wurde die komplexe Form des Textes vielfältig thematisiert. Walters Edition macht nun übersichtlich augenfällig, was Schmitts Fas‐ sung von 1933 alles herausließ: etwa das ganze Eingangskapitel und die Rede über Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, al‐ so vor allem die historische Selbstverortung des eigenen Ansatzes. Die ersten Fassungen begannen mit der bekannten Eingangsformel: „Der Be‐ griff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ Die Fassung von 1933 eröffnet dagegen martialisch: „Die eigentlich politische Unter‐ scheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ Eine neue Editi‐ on der Schlüsselschrift Der Begriff des Politischen, die alle Textvarianten übersichtlich darstellt, antwortet auch auf die Dynamik der Deutungsge‐ schichte des Werkes, die von der Textgeschichte und den Varianten des Werkes editionspolitisch stark beeinflusst war, oft ohne dies selbst zu be‐ merken. Editionen provozieren Interpretationen. Im Selbstlauf des Be‐ triebs übersehen die Hermeneuten gerne ihre Abhängigkeit vom selektiven Quellenstand und der Hardware der Editionen. Jüngere Nachwuchsfor‐ 377 Dazu Schmittiana N.F. III (2016), 84 378 Verf. (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommen‐ tar, Berlin 2003
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scher unterschätzen fast zwingend den Wandel des Schmitt-Bildes seit den 1980er Jahren und die Abhängigkeit der Interpretationsgeschichte von der Editionsgeschichte. Editionspolitik ist ein Kern „geisteswissenschaftli‐ cher“ Wissenschaftssteuerung. Wäre etwa der Plan einer historisch-kriti‐ schen Gesamtausgabe, analog der Max Weber-Gesamtausgabe, verwirk‐ licht worden, der in den frühen 1990er Jahren im Gespräch war, so sähe die Schmitt-Forschung heute anders aus. Ähnliches gilt für die HeideggerForschung,379 für die alternativ zur „Ausgabe letzter Hand“ in den 1970er Jahren noch Möglichkeiten und Chancen einer historisch-kritischen Ge‐ samtausgabe diskutiert wurden. Akademiegetragene historisch-kritische Gesamtausgaben sind Editionsdinosaurier. Am Ende der Gutenberg-Gala‐ xis sterben sie mitunter rücksichtslos mit hartem Schnitt bei zufälligem Stand vor dem Abschluss. Die neueren Schmitt-Editionen sind ausnahmslos keine historisch-kri‐ tisch makellosen Regalfüller. Aufwand und Ertrag mussten sich pragma‐ tisch rechnen. Sie adressierten sich nicht an wenige Spezialisten und die Katakomben der Bibliothekskeller, sondern wollten eine intensive For‐ schungsdynamik zügig voranbringen. Auch die „synoptische“ Edition des Begriffs des Politischen ist keine historisch-kritische Edition. Sie zielt auf eine handliche und erschwingliche neue Arbeitsgrundlage und sucht eine originäre Form, die den spezifischen Herausforderungen der Textfassun‐ gen angemessen ist. Sie interveniert in den jetzigen Forschungsstand und die skizzierte Deutungsgeschichte des Werkes, wäre in der vorliegenden Form noch in den 1990er Jahren nicht möglich gewesen und ist im Gan‐ zen wie im Detail nicht alternativlos. Sie ist auf der Höhe der Forschung und richtet sich an die aktuelle Kontroverse, zielt auf eine „Versachlichung der Diskussion“,380 meidet starke interpretatorische Thesen und be‐ schränkt sich weitgehend auf die Dokumentation der Varianten. Schmitt setzte seine Kreise strategisch ans Rezensionsgeschäft, sodass viele Rezensionen, auch diejenige von Strauss, unter seinem Einfluss ent‐ standen. Es gibt eine Fülle – von Walter nachgewiesener381 – entlegener Rezensionen, teils in Lokalzeitungen, sodass die Analyse der Resonanz ein aufwändiges Thema für sich wäre. Wichtige Auseinandersetzungen
379 Zu Heideggers Editionspolitik vgl. Verf., Heideggers „große Politik“. Die seman‐ tische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016; Martin Heidegger und die Konservative Revolution, Freiburg 2018 380 Walter, Synoptische Darstellung, 8 381 Walter, Synoptische Darstellung, 310-313
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schrieben nicht nur die allesamt von Heidegger beeinflussten382 jungen Philosophen Strauss, Kuhn, Marcuse und Löwith, sondern auch die natio‐ nalistischen Zirkel der Weimarer Endzeit (Ernst Niekisch, Hans Bogner, Eugen Rosenstock, Wilhelm Grewe u.a.). Prominente Historiker und Sozi‐ alwissenschaftler wie Otto Hintze und Hans Speier positionierten sich ebenso wie etwa der ungarisch-jüdische Philosoph Aurel Kolnai, der 1933 noch in der bald u.a. von Huber übernommenen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft eine lange Besprechungsabhandlung schrieb und den Axel Honneth383 unlängst editorisch wiederentdeckte. Es gibt auch eine längere Besprechung durch eine Frau, Marie Hirsch (unter dem Pseud‐ onym Marie Kämpfer publiziert), die ebenfalls die eingehende Auseinan‐ dersetzung lohnte. Man könnte die politischen Ideenkreise im Untergang der Republik, 1932/1933, am Kaleidoskop der Besprechungen unter‐ suchen, und Carl Schmitt hat genau das gewollt: nicht nur eingleisige Nachtreterei, sondern auch prismatische Verdichtung und Repräsentanz; er wollte die zeitgenössischen Konstellationen bündeln und so klare FreundFeind-Polarisierungen ermöglichen. Es ist völlig abwegig, die Rezeptions‐ geschichte auf Strauss oder Löwith zu verengen; wirkungsgeschichtlich wurden diese – zweifellos gewichtigen – Auseinandersetzungen in der Forschung aber besonders einflussreich. Walters Edition bietet nun einen neuen Zugang zur breiteren Rezeptions- und Wirkungsanalyse. Synoptische Zusammenschau ist insbesondere aus der Theologie und Bibelexegese bekannt. Es gibt synoptische Editionen des Neuen Testa‐ ments, die die Evangelien nicht nacheinander, sondern irgendwie nebenund ineinander drucken. Solche Editionen zielen, gerade im Bereich der Theologie, oft auf starke hermeneutische Kohärenz- und Einheitsbehaup‐ tungen oder gar auf die spekulative Rekonstruktion eines verschütteten Urtextes oder einer reinen ungeschriebenen Lehre. Eine solche editorische Präfiguration hermeneutischer Vereinheitlichungen und Vereinfachungen möchte Walter mit seiner Ausgabe aber gerade nicht anstoßen, sondern er will vielmehr gegen die Fiktion vom einfachen Text auf den „Denkweg“, die „Kontinuitäten und Brüche“,384 internen Verwerfungen und Fragmen‐
382 Verf., Formalismus, Dezisionismus, Nihilismus. Jüdische Heidegger-Schüler als Schmitt-Kritiker, in: Heideggers ‚große Politik’. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Stuttgart 2016, 93-117 383 Axel Honneth (Hg.), Aurel Kolnai. Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt 2007 384 Walter, Synoptische Darstellung, 8
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tierungen aufmerksam machen. Schmitt selbst hat seinen systematischen Anspruch auch vielfach zurückgenommen, indem er etwa von einem blo‐ ßen „Kriterium“ sprach und seine systematischen Folgerungen in der losen Form von „Corollarien“ behauptete. Schmitt neigte zu knappen und selektiven Referenzen. So beiläufig, un‐ erwartet und merkwürdig seine Verweise auch mitunter erscheinen, ent‐ puppen sie sich bei näherer Betrachtung oft als pointierte Bemerkungen und Beobachtungen. Walters Blick in die Werkstatt ermöglicht eine nuan‐ cierte Betrachtung der Zitationspolitik, die für den weiteren Umgang mit dem Text anregend und fruchtbar ist. Schmitts Begriffsschrift ist fortan nicht nur in ihren Textstufen und ihrer Textgeschichte, sondern auch im akademischen Apparat neu zu betrachten. Schmitts Arbeit am Grundtext gewinnt durch die vorliegende Edition an akademischem Gewicht. Walter hat dafür eine eigene und neue Form gefunden, die Text und Kommentar produktiv verbindet und so die Formgeschichte des politischen Diskurses bereichert. Literaturwissenschaftler werden hier vielleicht in die Vormo‐ derne greifen und von kabbalistischen Palimpsesten oder ähnlichem spre‐ chen. Man wünschte sich Walter Benjamin erneut als Schmitt-Leser. Wichtig ist aber zunächst nur, dass die Edition der Aufgabe sachangemes‐ sen ist und die differenzierte Auseinandersetzung mit der Begriffsschrift vereinfacht. Darüber sollten freilich andere wichtige Texte nicht vernach‐ lässigt werden: Schmitt-Forschung ist nicht auf die Begriffsschrift zu ver‐ engen. III. Schluss: spektrale Repräsentanz Die vorliegende Besprechung ist im Titel „Krisenprismatik“ überschrie‐ ben. Das soll besagen, dass Schmitt als Repräsentant der Weimarer Repu‐ blik, Verfassungslehrer des „Ausnahmezustands“, durch den Abschluss des Tagebuchwerkes sowie die synoptische Edition des Begriffs des Politi‐ schen in schärferem Licht erscheint, als ein Schlüsselautor, der auch in der politischen Farbenlehre nicht leicht auf eine Linie festzulegen ist. Goethe konzentrierte seine Naturbetrachtungen von seinen naturphilosophischen Voraussetzungen und Überlegungen zur Morphologie und Metamorphose her auf die Farbenlehre und beschäftigte sich intensiv mit der Prismatik; er unterschied dabei im Kampf mit Newton für die unbefangene phänomeno‐ logische „Erfahrung“ einen „didaktischen“, einen „polemischen“ und einen „historischen“ Teil. Der didaktische sollte zunächst die Phänomene 236
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sichern, der polemische dann Newtons These zerstören, den „Schutt weg‐ schaffen“, und der historische Teil sollte die Durchsetzung Newtons erklä‐ ren, die Goethe als Irrweg ansah. Goethe korrelierte die Wissenschaftsge‐ schichte dabei mit der Institutionengeschichte. Für den Irrweg der Wissen‐ schaft machte er nicht zuletzt die Institutionen verantwortlich, für das 17. und 18. Jahrhundert namentlich die Akademien. In seinem unerhörten Text Meteore des litterarischen Himmels brachte er die Wissenschaftsdy‐ namik dabei auf eine typische Abfolge: von der „Priorität“ über „Präoc‐ cupation“ und „Plagiat“ bis zur „Ursurpation“. Ursprüngliche Entdeckun‐ gen werden demnach regelmäßig usurpiert und verfremdet. Schmitt ver‐ stand sich mit Hobbes als ein solcher „Wegbereiter“. Im Schlussabsatz sei‐ nes Leviathan-Buches schrieb er über Hobbes: „So ist er für uns der echte Lehrer einer großen politischen Erfahrung; einsam wie jeder Wegbereiter; verkannt, wie jeder, dessen politischer Gedanke sich nicht im eigenen Volk verwirklicht; ungelohnt, wie der, der ein Tor öffnet, durch das andere weitermarschieren“.385
Goethes Versuch, die Natur zum Sprechen und die Phänomene „vor Au‐ gen“ zu bringen, betrachtete die Farben als „Thaten des Lichts“ prisma‐ tisch von den farbigen „Rändern“ her. Goethe sprach dafür von „Strahlun‐ gen“,386 mit einem Ausdruck, den Ernst Jünger später für sein Kriegstage‐ buch des Zweiten Weltkriegs übernahm. Ein reines Weiß gibt es laut Goe‐ the nicht. Selbstverständlich nahm er eine „sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe“ an und erörterte den „Farbenkreis“ in seiner „Energie“. Einzelne Farben haben demnach zwar ihre je eigene emotive Wirkung;Harmonie betrachtete Goethe aber letztlich als Effekt einer „Totalität“: „Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Thätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der Stelle eine andere so unbewusst als notwendig hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Far‐ benkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge durch eine specifische Empfindung das Streben nach Allgemeinheit.“387 Goethe erör‐ terte in seiner „Didaktik“ auch „charakteristische Zusammenstellungen“ von Farben, unterstellte allen Menschen ein „Streben zur Farbe“ und un‐
385 Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, S. 132 386 Johann Wolfgang Goethe, Beiträge zur Optik, in: Goethes naturwissenschaftliche Schriften, hrsg. Rudolf Steiner, Stuttgart o.J., Bd. III, S. 38f. 387 Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre. Erster Band, in: Goethes naturwis‐ senschaftliche Schriften, hrsg. Rudolf Steiner, Stuttgart o.J., Bd. III, S. 298.
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terschied zuletzt eine allegorische, symbolische und mystische Auffas‐ sung: Die symbolische zielt auf den angemessenen ästhetischen Ausdruck praktischer Ideen; Goethe nannte Purpur hier ein Zeichen der „Majestät“. Man könnte analog nach der politischen Farbenlehre fragen, die Schmitt vertrat; es ließe sich nach der Farbe seines Charakters fragen oder, mehr noch, nach dem Licht, das sein Werk in subjektiver Brechung auf‐ nahm und als reflexive „Strahlung“ verarbeitete. Welche Farben reflektier‐ te es bei Lebzeiten und welches Licht spiegelt es in der „Totalität“? Von intensiven Kontrasten wäre zu reden, von Harmonie nur mit einem weiten Naturbegriff, den Schmitt lieber mit Heraklit als Spinoza verbunden hätte. Schmitts Weimarer Epoche ist heute annähernd in ihrer „Totalität“ er‐ schlossen. Der Grundzug des Lebens dürfte nun einigermaßen bekannt sein. Das Tagebuchwerk gibt keine politische Chronik der Zeit: Schmitts Sicht der Weimarer Verfassungspolitik ist weiter primär dem juristischen Werk zu entnehmen. Schmitt bezeugt die Weimarer Epoche aber nicht zu‐ letzt durch die symbolische Repräsentanz seiner Lebensführung. Kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, am 1. Februar 1933 meinte er in einem Interview mit dem befreundeten Journalisten Veit Rosskopf dafür allzu großartig, er sei nichts anderes als ein „Organ“ des „substanzhaften Rechtes des deutschen Volkes“; er suche „die Teilhabe, die Partizipation bis in die äußersten, sublimsten Spitzen geistigen Le‐ bens“.388 Diese Partizipation geht in der Parteinahme für den Nationalso‐ zialismus nicht auf und darf auch nicht schlicht geschichtsphilosophisch, im Mythos vom „welthistorischen Heroen“ (Hegel), mit der „Seele“ eines „objektiven Geistes“ und Zeitgeistes kurzgeschlossen werden. Die Kultur und Politik Weimars stand nicht nur im Zeichen der Krise. Eine symboli‐ sche Repräsentanz liegt zwar im Selbstbeweis des Ausnahmezustands, der autobiographischen Stilisierung der Weimarer Krisenexistenz; Schmitt re‐ präsentiert Weimar aber auch als magnetische oder prismatische Bünde‐ lung einer diskursiven Konstellation; er verdichtete und verschärfte freund-feindliche Diskurse, indem er die Fragen, Probleme und Kontro‐ versen der Weimarer Zeit so artikulierte, dass ein ganzes Spektrum von Autoren sich zur profilierten Antwort und Stellungnahme provoziert sah. Der passionierte „Außenseiter“ wurde zum Generalvertreter der Weimarer Republik, indem er mit seiner Stimme zugleich ein antiphonisches Kon‐
388 Carl Schmitt, Ein Rundfunkgespräch vom 1. Februar 1933, in: Piet Tommissen (Hg.), Over en in zake Carl Schmitt, Brüssel 1975, 113-119, hier: 114f
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zert von Gegenstimmen mobilisierte. Mit Goethe gesprochen intonierte seine Sicht eine ganze „Totalität“. Man muss hier nicht Dieter Henrich389 zitieren, um von diskursanalytischer „Konstellationsforschung“ zu spre‐ chen, und muss auch keine Brückenschläge zu anderen gerade angesagten Methodologien bemühen. Schmitt selbst hat die „geistesgeschichtliche“ Repräsentanz konstellativ betrachtet und Schlüsseldaten und Wegscheiden der Verfassungsgeschichte im Spiegel diverser profilierter Autoren spek‐ tral betrachtet. Sein Paradebeispiel war die Konstellation um 1848. Analog ließe sich die Geistesgeschichte der Weimarer Republik, und anderer Epo‐ chen, um Schmitt zentrieren, aber auch anders konstellieren. Für Schmitts Weimarer Epoche sehe ich heute vorläufig, bis auf weitere Entdeckungen, keinen größeren Editionsbedarf mehr, der etwa das Ge‐ wicht des Tagebuchwerks hätte. Die archivarische und editorische Er‐ schließung könnte sich nun also neuen Perioden des Werkes verstärkt zu‐ wenden: vor allem der NS-Zeit, insbesondere den Jahren 1937 bis 1945, für die die politische Biographie bisher nur im Umriss erschlossen ist.Da‐ zu schrieb Schmitt im erst 2015 in der erweiterten Fassung des Glossari‐ ums ganz publizierten „Rückblick des 70-Jährigen auf die Folge seiner Herren“: „Entfesseltes Großdeutschtum des Bruders Straubinger [Hitler] mit Flucht nach Innen“: „Bonzen, Großstreber und Verrückte“.390
389 Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idea‐ listischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991 390 Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 2015, 370
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Nachweise
Teil I: 1. JZ 47 (1992), 302; 2. PhLA 68 (2015), 354-361; 3. überarbeitet aus: Schmittiana N.F. III (2016), 317-325; Teil II: 1. PVS 31 (1990), 512-513; 2. PVS 31 (1990), 693-695; 3. NPL 37 (1992), 129-130; 4. PVS 35 (1994), 148-150; 5. ZfP 42 (1995), 77-78; 6. Die Welt vom 18. No‐ vember 1995, G5; 7. ZfG 50 (2002), 659-660; 8. RuP 48 (2012), 247-249; 9. ZRGG 53 (2001), 87-89; 10. Der Staat 47 (2008), 303-305; 11. HisSoz-u-Kult vom 14. Mai 2008; Teil III: 1. PhLA 43 (1990), 245-246; 2. ARSp 81 (1995), 593-597; 3. PhLA 56 (2003), 245-247; 4. PhLA 46 (1993), 378-381; 5. ZRGG 51 (1999), 79-81; 6. PhLA 49 (1996), 144-147; 7. PhLA 50 (1997), 25-28; Teil IV: 1. Die Welt vom 21. Mai 1994, G1; 2. FAZ Nr. 157 vom 10. Juli 2006, 48; Teil V: stark gekürzt aus: Der Staat 47 (2008), 241-248; stark gekürzt aus: 2. Der Staat 52 (2013), 435-445; Teil VI A: 1. JZ 51 (1996), 246; 2. PVS 47 (2006), 317-319; 3. JZ 72 (2017), 1101; VI B: 1. His-Soz-u-Kult vom 21. Januar 2004; 2. JZ 70 (2015), 143-144; 3. Weimarer Beiträge 61 (2015), 454-460; 4. ZRGG 64 (2012), 204-207; Teil VII: PhLA 70 (2017), 53-57; 2. ZRG GA 133 (2016), 711-713; 3. PhLA 57 (2004), 353-357; Teil VIII: 1. PhLA 70 (2017), 48-53; 2. ZRGG 69 (2017), 290-294; 3. ZRGG 68 (2016), 109-114; 4. Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 9 (2015), Heft 1, 122-123; Teil IX: 1. unveröffentlicht; 2. ZfG 49 (2001), 1000-1011; 3. un‐ veröffentlicht; 4. stark gekürzt und überarbeitet aus: NPL 63 (2018), 9-26
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