Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf: Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie 9783495860663, 9783495485736


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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Bemerkungen zum System der Umschrift
Vorwort
Einleitung
A. Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte und die Kontinuität des Menschenbildes im Islam
I. Das allgemeine Menschenbild im Islam und seine mögliche Kontinuität
II. Der ontologische Status und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen
B. Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker
C. Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und Übersicht über den Forschungsstand
I. 'Aziz ad-Din Nasafi : Leben, Werke und Forschungen
II. Sadr ad-Din as-Sirazi : Leben, Werk und bisherige Forschungen
III. Die Idee der Perfektibilität in der Forschung
IV. Perfektibilitätsforschung angesichts der bioethischen Debatte
Kapitel I: Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele in der islamischen Philosophie
I. Die Frage nach der Ontologie des Menschen
II. Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran
III. Ontologische Grundaussagen über den Menschen im Ḥadīt und ihre philosophische Auslegung
IV. Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt
V. Sadras Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte
VI. Die Wandlungsfähigkeit des Seins, der Evolutionsprozeß der Seienden und die menschliche Seele als höchste Entwicklungsform
VII. Die ontologische Konstitution der Seele
VIII. Der Mensch ‒ ein Wesen aus Licht oder eine Lichtgestalt? Die evolutionäre Entstehungslehre der menschlichen Seele bei Nasafi
IX. Zusammenfassung
Kapitel II: Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis
I. Der Wesenszustand des Menschen
II. Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt und befindet sich in einem unabgeschlossenen moralischen Urzustand
III. Der Intellekt des Menschen
IV. Die Vernunft als Ersatz des verlorenen Seinsursprunges
V. Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit
VI. Vervollkommnung als kämpferischer Akt des Intellekts und des Willens
VII. Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung
VIII. Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens
IX. Metaphysik als Quelle der Natur und die Natur als Quelle einer evolutionären Erkenntnisanthropologie
X. Zusammenfassung
Kapitel III: Der Umgang mit der menschlichen Freiheit
I. Einleitung
II. Der Mensch ‒ ein religiöses Wesen?
III. Der Glaube als eine architektonische Metaphysik?
IV. Erziehbarkeit des Menschen
V. Erziehung, Vernunft und Philosophie
VI. Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes
VII. Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit
VIII. Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Register
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Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf: Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie
 9783495860663, 9783495485736

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Welten der Philosophie 10

Reza Hajatpour

Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860663

.

B

WELTEN DER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Über dieses Buch: In den letzten Jahrzehnten wurden im westlichen Kulturraum kontroverse Diskussionen um Klonen, Genoptimierung und ähnliche Themen geführt. Dabei ging es um die Würde, das Leben und die Perfektibilität des Menschen, seine geistige und normative Formbarkeit und seine existentielle Machbarkeit. Auch in der islamischen Wissenskultur wurde darüber kontrovers diskutiert. Die Muslime zeigen dennoch eher eine juristische und theologische Vorliebe für das Thema als eine philosophische und ethische. Die vorliegende Studie widmet sich einer philosophischen und ethischen Analyse der Idee des perfekten Menschen im Islam. Sie zeigt, inwiefern und gemäß welchen Wertvorstellungen die Idee der Perfektionierung des Menschen in einem religiösen Menschenbild verankert ist. Es geht dem Autor darum zu fragen, nach welchem Bild bzw. Selbstbild sich der Mensch im Islam als ein der Perfektionierung bedürfendes und zu ihr fähiges Wesen versteht und welchen Idealen zufolge er nach immerwährender Erneuerung seiner Person strebt. Der Autor versucht anhand der Philosophie bedeutender muslimischer Gelehrter die Wertvorstellungen und Ideale aufzuzeigen, die das Selbstbild des Menschen beeinflusst haben und in diesem Sinne die Vorstellung eines »neuen Menschen«, der sich in einem Prozess der Menschwerdung befindet und einem Entwurf der Selbstvollendung bzw. Selbstperfektionierung folgt, geprägt haben.

Über den Autor: Reza Hajatpour, 1958 in Nordiran geboren, hat seit Oktober 2012 den Lehrstuhl für Islamisch-Religiöse Studien mit systematischem Schwerpunkt, Theologie/Philosophie/Mystik an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie) inne. Er ist Mitglied des Zentrums für interreligiöse Studien (ZIS) in Bamberg.

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Reza Hajatpour Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Welten der Philosophie 10 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfahrt, Ichirô Yamaguchi

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Reza Hajatpour

Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48573-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86066-3

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bemerkungen zum System der Umschrift Vorwort

A.

B. C.

Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte und die Kontinuität des Menschenbildes im Islam . . . . . . . . . I. Das allgemeine Menschenbild im Islam und seine mögliche Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der ontologische Status und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und Übersicht über den Forschungsstand . . . . . . . . . . . I. ʿAzīz ad-Dīn Nasafī: Leben, Werke und Forschungen II. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī: Leben, Werke und bisherige Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Idee der Perfektibilität in der Forschung . . . . IV. Perfektibilitätsforschung angesichts der bioethischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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39 58

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Kapitel I: Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele in der islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Frage nach der Ontologie des Menschen . . . . . . . II. Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran . .

73 73 75 7

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Inhalt

III. Ontologische Grundaussagen über den Menschen im Ḥadīṯ und ihre philosophische Auslegung . . . . . . . . IV. Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ṣadrās Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Wandlungsfähigkeit des Seins, der Evolutionsprozeß der Seienden und die menschliche Seele als höchste Entwicklungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die ontologische Konstitution der Seele . . . . . . . . . VIII. Der Mensch – ein Wesen aus Licht oder eine Lichtgestalt? Die evolutionäre Entstehungslehre der menschlichen Seele bei Nasafī . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II: Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wesenszustand des Menschen . . . . . . . . . . . . II. Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt und befindet sich in einem unabgeschlossenen moralischen Urzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Intellekt des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Vernunft als Ersatz des verlorenen Seinsursprunges . V. Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit . VI. Vervollkommnung als kämpferischer Akt des Intellekts und des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung . . . VIII. Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Metaphysik als Quelle der Natur und die Natur als Quelle einer evolutionären Erkenntnisanthropologie . . . . . . X. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III: Der Umgang mit der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

80 90 99

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141 150

154 154

155 176 185 193 198 213 226 243 252

258 258

Inhalt

II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Der Mensch – ein religiöses Wesen? . . . . . . . . Der Glaube als eine architektonische Metaphysik? . Erziehbarkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . Erziehung, Vernunft und Philosophie . . . . . . . Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit . Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät . . . . . . . . .

Schlußbetrachtung

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264 277 289 304 311 322 328

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Danksagung

Die vorliegende Habilitationsschrift habe ich im Februar 2009 im Fach Islamwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg eingereicht. Sie wurde im Juni 2009 von der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen. Mein Ziel war es von Anfang an, nicht nur eine akademische Schrift vorzulegen, die einen Beitrag zur Erforschung der islamischen Geistesgeschichte zu leisten hat, sondern darüber hinaus war es mir auch eine Herzensangelegenheit, Denkanstöße zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion und Positionierung im gegenwärtigen philosophisch-theologischen Diskurs zu setzen. In diesem Sinne war ich bemüht, die vergangenen Ideen greifbar und lebendig in die aktuelle Entwicklung einzubetten, um zu verhindern, dass sie eine bloße Ahnengalerie der Geister der Vergangenheit werden. Wo eine Arbeit gut ist, ist sie es auch dank der tatkräftigen Unterstützung einer Reihe dienstbarer Geister, Freunde und Kollegen, die ich während meiner Forschung in Anspruch genommen habe. Ich möchte nun die Gelegenheit nutzen, hier all jenen, die mir beim Zustandekommen dieser Arbeit zur Seite gestanden haben und Ausschnitte oder eine vollständige Fassung des Manuskripts gelesen haben, meine herzliche Verbundenheit aussprechen. Mein besonderer Dank gilt vor allem: Gerda Benda, Kirsten Benda-Hajatpour, Prof. Dr. Karsten Fischer, Prof. Dr. Bert Fragner, Gaetano Galasso, Judith Groß, PD Dr. Roxane HaagHiguchi, Dr. Thomas Hildebrandt, Prof. Dr. Birgitt Hoffmann, Prof. Dr. Matthias Kaufmann, Hartmut Kistenfeger, Ria Kopiske, Prof. Dr. Hermann Landolt, Joachim Martini, Omar Ouannas, Prof. Dr. Ulrich Rudolph, Prof. Dr. Christian Schröer, Prof. Dr. Roland Simon-Schäfer (†), Dr. Ines Weinrich, Prof. Dr. Rotraud Wielandt und Lorenz Zellner. Ihre wertvollen Hinweise, freundlichen Anregungen und kritischen Anmerkungen haben es ermöglicht, die notwendigen sprachlichen und argumentativen Korrekturen vorzunehmen. 11 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Danksagung

Herrn Marianus Hundhammer danke ich für seinen freundlichen Einsatz für die Erstellung des Registers dieser Arbeit. Herrn Prof. Dr. Ulrich Rudolph gilt mein herzlicher Dank für seine einleitenden Worte. Den Herausgebern und dem Verlag Karl Alber möchte ich herzlich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Welten der Philosophie« danken, sowie meinen Kollegen und Kolleginnen am Department Islamisch-Religiöse Studien Erlangen, die der finanziellen Förderung dieser Arbeit aus BMBF-Mitteln zugestimmt haben. Erlangen, Januar 2013

Reza Hajatpour

12 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Bemerkungen zum System der Umschrift

Die Umschrift des Arabischen und Persischen folgt dem System der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Die arabischen Daten (Kalenderdaten) sind mit »q« (qamari) gekennzeichnet. Die Zitate werden so wiedergegeben, wie sie im Originaltext stehen. In den übersetzten Zitaten aus dem Arabischen bzw. Persischen sind die Erläuterungen des Autors oder Originalbegriffe in [ ] gesetzt. Auslassungen in den Übersetzungen sind mit […] gekennzeichnet. Kurze arabische Sätze, Namen, Buchtitel und einzelne Begriffe werden nicht vokalisiert, mit Ausnahme persischer Iḍāfa. Die Koranzitate orientieren sich an der Übersetzung von Rudi Paret. Die Abkürzung »Arab.« steht für Arabisch und »Pers.« für Persisch. Auf diese Abkürzungen wird bei den arabischen Schriften Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs und den persischen Schriften von ʿAzīz ad-Dīn Nasafī verzichtet. Eigennamen mit dem adjektivischen Suffix »sche« wie sadraisch oder nasafisch werden transkribiert. Die Bibliographie ist alphabetisch geordnet und es wird keine Trennung zwischen Originalschriften und Sekundärliteratur vorgenommen.

13 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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Vorwort

Wenn von Philosophie in der islamischen Welt die Rede ist, denkt man in der Regel an einige prominente, frühe Autoren. Zu ihnen zählen alKindī (gest. um 865) und al-Fārābī (gest. 950), aber vor allem Ibn Sīnā (lat. Avicenna; gest. 1037) und Ibn Rušd (lat. Averroes; gest. 1198). Ihre Namen sind in Europa seit langem bekannt, denn ihre Werke wurden im 12. und 13. Jahrhundert (zumindest teilweise) ins Lateinische bzw. ins Hebräische übersetzt und fanden danach eine breite Rezeption im europäischen Mittelalter. Das sicherte ihnen einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Europäer und hatte zur Folge, dass sie auch in der modernen Forschung, die im 19. Jahrhundert einsetzte, immer wieder Gegenstand von Untersuchungen geworden sind. Völlig anders verhält es sich dagegen mit Autoren, die nach Ibn Rušd, also nach 1200, in der islamischen Welt gewirkt haben. Ihre Werke wurden weder (im Mittelalter oder der frühen Neuzeit) in eine europäische Sprache übersetzt noch von der modernen Forschung studiert. Was noch gravierender sein dürfte: Die europäische Islamwissenschaft ist lange Zeit davon ausgegangen, es habe in der islamischen Welt nach 1200 überhaupt keine Philosophie mehr gegeben. Bis vor kurzem jedenfalls konnte man diese These allenthalben lesen, wobei teilweise externe politische Faktoren (z. B. die Reconquista in Spanien oder die mongolischen Eroberungen im Nahen und Mittleren Osten), teilweise interne Entwicklungen (z. B. die angebliche Opposition der ›islamischen Orthodoxie‹ gegen die Philosophie wie überhaupt gegen die Wissenschaften) als Begründungen für den vermuteten ›Tod‹ der Philosophie nach Ibn Rušd ins Feld geführt worden sind. Dass diese These nicht der historischen Wahrheit entspricht, kann inzwischen als gesichert gelten; diesen Nachweis haben zahlreiche Untersuchungen erbracht, die während der letzten beiden Jahrzehnte publiziert wurden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir über die Entwicklung der Philosophie in der islamischen Welt nach 1200 15 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Vorwort

nach wie vor nur sehr schlecht informiert sind. Sie ist zwar mittlerweile in den Fokus der Forschung gerückt. Aber die Forschung wird einige Zeit brauchen, um die früheren Versäumnisse nachzuholen und ein verlässliches Bild über diese Entwicklung zu erarbeiten. Das hat auch mit dem immensen, oft nur in Handschriften zugänglichen arabischen, persischen usw. Quellenmaterial zu tun, das erst noch erschlossen, analysiert und konzeptuell durchdrungen werden muss. Angesichts dieser Situation ist jeder Beitrag, der Licht in das Dunkel in die Zeit ab dem 13. Jahrhundert bringt, hochwillkommen. Das gilt nun auch für die Studie Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, die Reza Hajatpour vorgelegt hat. Sie dürfte sich sogar in besonderer Weise eignen, ein neues, die bisherigen Konventionen der Forschung überschreitendes Licht auf die Philosophie in der islamischen Welt zu werfen. Denn Hajatpour beschränkt sich in seinem Buch nicht darauf, mehrere Denker des 13. bis 17. Jahrhunderts zu untersuchen und damit die traditionelle Forschungsagenda in zeitlicher Hinsicht auszudehnen. Er geht auch in thematischer Hinsicht deutlich über die bislang gepflegte Forschungspraxis hinaus. Zwei Punkte erscheinen mir in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Der eine betrifft die Auswahl der Autoren, die in seiner Studie behandelt werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur Philosophen im engeren Sinn des Wortes zur Sprache kommen (wie Ibn Sīnā oder der 1640 verstorbene Mullā Ṣadrā, der im Zentrum seiner Untersuchung steht). Vielmehr werden auch Lehren vorgestellt und in die Analyse einbezogen, die auf Sufis oder sufisch-theologisch orientierte Autoren zurückgehen (wie Ibn ʿ Arabī oder ʿ Azīz ad-Dīn Nasafī). Dieses Vorgehen ist nicht ohne Brisanz: Es könnte die Leser vielleicht zu der Annahme verleiten, dass Philosophie, Mystik und Theologie in der islamischen Welt vom 13. Jahrhundert an ohnehin zusammenfielen. Dann wäre die Philosophie nach 1200 zwar nicht ›gestorben‹, aber sie hätte ihre Eigenständigkeit als Wissenschaft verloren und nur noch in einer Symbiose mit anderen, spezifisch islamischen Denkformen ›überlebt‹. Darauf will Hajatpour aber nicht hinaus. Er trennt vielmehr zwischen den verschiedenen intellektuellen Traditionen und zeigt dann, wie sie interagiert haben. Damit ergibt sich ein historiographisches Bild von hoher Plausibilität. Denn es spricht vieles dafür, dass die verschiedenen Diskurse – der philosophische, der theologische, der sufische, aber auch andere – nach 1200 (wie teilweise auch 16 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Vorwort

zuvor) im ständigen Austausch miteinander gepflegt wurden. Das führte natürlich zu Berührungspunkten und wechselseitigen Einflussmöglichkeiten, die bei einer historischen Kontextualisierung berücksichtigt werden müssen. Ein zweiter Punkt kommt hinzu. Er ist noch auffälliger als der erste und bricht noch stärker mit den Konventionen, die bislang in der Forschung beachtet wurden. Gemeint ist die Tatsache, dass Hajatpour seine Studie nicht nur aus der Perspektive der historisch-kritischen Forschung, d. h. als Islamwissenschaftler, sondern auch als islamischer Philosoph und Theologe geschrieben hat. Sein Anliegen beschränkt sich nämlich nicht auf die Rekonstruktion von Ideen und historischen Zusammenhängen. Er will nicht nur wissen, was Ibn Sīnā, Ibn ʿ Arabī und ʿ Azīz ad-Dīn an-Nasafī über den Menschen gedacht haben und wie ihre Konzepte von Mullā Ṣadrā aufgenommen und weiterentwickelt worden sind. Mindestens ebenso beschäftigt ihn ein anderer Punkt, nämlich die Frage, ob die Überlegungen der untersuchten Autoren systematisch überzeugen können und ob ihnen möglicherweise auch in der gegenwärtigen Debatte über die biologisch-genetischen und die ethischen Bedingungen des Menschseins noch eine Relevanz zukommen kann. Dieser Problemhorizont ist für europäische Leser sicher überraschend. Wir halten es zwar für selbstverständlich, dass in heutigen Diskussionen über Gentechnik, Ethik, Freiheit und Verantwortung des Menschen Autoren wie René Descartes oder Immanuel Kant zitiert werden. Aber es käme uns kaum in den Sinn, zur Klärung solcher Fragen Texte von Mullā Ṣadrā heranzuziehen (der im übrigen ein Zeitgenosse von Descartes war!). Genau das tut aber nun Hajatpour, und es gelingt ihm durchaus auf überzeugende Weise. Denn er zitiert Mullā Ṣadrā und die anderen Autoren nicht als Gralshüter einer unhinterfragbaren, vom Islam festgelegten Wahrheit, sondern als Denker, deren Konzepte und Argumente vernunftbasiert und einer kritischen Prüfung zugänglich sind. Ob sie diese Prüfung bestehen, muss jeder Leser für sich entscheiden. Dabei spielt es zunächst einmal keine Rolle, ob er sich selbst einer bestimmten Religion bzw. Weltanschauung zurechnet oder nicht. Gleichwohl dürften Hajatpours Ausführungen für muslimische Leser besonders relevant sein. Denn sie erhalten hier die Möglichkeit, ihre reiche intellektuelle Tradition besser kennenzulernen und im Lichte ihres eigenen, gegenwärtigen Lebens zu reflektieren. So entsteht schließlich ein neues Diskursfeld: Positionen, die von bedeutenden 17 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Vorwort

muslimischen Denkern entwickelt worden sind, werden Teil der Debatte, die heute in Europa und anderswo über die Bedingungen des Menschseins geführt wird. Und das ist gewiss nicht das geringste Verdienst, das sich Reza Hajatpour mit seiner Studie erworben hat. Zürich, im Januar 2013

Ulrich Rudolph

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Einleitung

A. Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte und die Kontinuität des Menschenbildes im Islam Das Projekt des »neuen Menschen«, wie es im gegenwärtigen westlichen Kulturraum zur Debatte steht, ist ein Phänomen, das in einem religiösen Weltbild nicht in gleicher Weise als Diskussionsangebot aufgenommen werden kann. 1 Viele Religionen gründen ihre Weltanschauung auf eine heilige und übernatürliche Schöpfungsmacht (Gott), deren Werk einzigartig und unantastbar ist. So wissen wir zum Beispiel, daß die monotheistischen Religionen die Erschaffung des Menschen in seiner physischen Form für abgeschlossen halten. Die Erschaffung des Menschen ist demzufolge Sache Gottes; und Neuerschaffung bzw. Neuschöpfung unterstehen dem göttlichen Schöpferwillen. Betrachtet man als Ziel des menschlichen Lebens und Tuns die Glückseligkeit und das Heil im Angesicht Gottes, so müssen das Klonen, die wissenschaftliche und medizinische Verwertung embryonaler Stammzellen, die Beeinflussung des menschlichen Erbmaterials bzw. die Manipulation der menschlichen Gene und ähnliche naturwissenschaftliche Schritte oder Experimente als (unzulässige) Eingriffe in das göttliche Werk gelten. Auch wenn die konkreten religiösen Vorstellungen und Lebensführungsideale unterschiedlich sind und je nach den kulturellen Besonderheiten mannigfaltig erscheinen, entspringt ihre Substanz einer grundsätzlichen Vorstellung des menschlichen Geistes: der Idee vom Menschen als einem begrenzten Wesen mit einer über ihn hinausreiZur Idee des neuen Menschen siehe Hondrich, Karl Otto (2001): Der Neue Mensch. Frankfurt/M.; Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. Fankfurt/M.; Dawkins, Richard (42002): Das egoistische Gen. Hamburg; Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M; Gerhardt, Volker (2001): Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität. München.

1

19 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Einleitung

chenden Existenz, und nur diese kann letztlich die spezifische Form und das Maß der menschlichen Perfektibilität bestimmen. Sofern zum Beispiel die Legitimation moderner wissenschaftlicher Experimente die Aufhebung bestimmter religiöser Grundvorstellungen nach sich zieht, wirft sie nicht nur ethische und rechtliche Probleme auf, sondern definiert auch die Frage nach dem Urheber ihrer Möglichkeit neu. Insbesondere im gegenwärtigen islamischen Welt- und Menschenbild steht die Diskussion der physischen Perfektibilität grundsätzlich im Gegensatz zum traditionellen theologischen Schöpfungsentwurf, und alle politischen und ethischen Debatten kann man im islamischen Kontext als Ausdruck und Teil einer theologischen oder juristischen Auseinandersetzung begreifen. 2 Auch wenn die Frage des »neuen Menschen« in der Form, in der sie derzeit im Sinne von genetischen und physischen Veränderungen und Optimierungen gestellt wird, bisher kein direkter Gegenstand religiöser Erwägungen und Interpretationen war und ein solches Vorgehen bei einer großen Mehrheit der religiösen Denker auf Ablehnung stößt, haben diese Probleme der praktischen Ethik und das Projekt des »neuen Menschen« also eine Relevanz in der heutigen islamischen Welt. 3 Sie werden allerdings auf einer anderen Ebene ausgelegt und diskutiert, wie bereits angedeutet. So kennt der Islam den homo novus, wie das Christentum auch, als Teil einer »eschatologischen« bzw. »metanatürlichen« Diskussion. Er ist schon lange mehr oder weniger in beiden Religionen als »innerer Mensch«, »Über-Mensch«, als »wahrer« oder »inwendiger Mensch« bekannt. 4 Diese Konzepte werden uns noch häufig begegnen. Auch wenn die dringenden Fragen der physischen Perfektibilität für diese Arbeit nur als Hintergrund dienen und ich sie hier nicht beantworten kann, spiegelt sich in ihnen deutlich eine grundsätzliche Spannung zwischen den im islamischen Kontext verwendeten Begriffen von In der islamischen Welt finden Diskussionen über die Frage des Klonens und der menschlichen Genoptimierung und über die Ethik bezüglich der modernen Medizin statt. Siehe dazu Eich, Thomas u. Reifeld, Helmut (Hrsg. 2004): Bioethik im christlichislamischen Dialog. Sankt Augustin; Eich, Thomas (2005): Islam und Bioethik. Eine kritische Analyse der modernen Diskussion im islamischen Recht. Wiesbaden; Eich, Thomas (2008): Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der islamischen Rechtstradition. Freiburg u. a. 3 Siehe dazu Eich, Islam und Bioethik. 4 Vgl. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried (Hrsg. 1971): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. V. Stuttgart, S. 1061–1112. 2

20 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte

Tradition (womit hier die kontinuierliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit, insbesondere aber des religiösen Erbes gemeint ist) und Perfektion: Zunächst steht »der Islam« nicht nur für eine Religion, sondern nicht zuletzt auch für eine intellektuelle, gesellschaftliche und politische Kultur. Die Muslime zeigten schon seit der Frühzeit des Islam ein hohes Potential an kultureller Anpassungs- und Austauschfähigkeit. In den Begegnungen mit »fremden« Kulturen und Religionen erkannte die islamische Gemeinschaft sehr schnell die Vorteile einer politischen und kulturellen »Globalisierung«, die über Jahrhunderte das islamische Reich begleitete. Der Islam war bald nicht mehr nur eine isolierte Religion oder nur eine monotheistische und eschatologische Weltanschauung, sondern Träger und Übermittler eines Kultur- und Wissenschaftsgeflechtes. Seine intellektuelle Elite erhob den Anspruch, in allen weltlichen und geistigen Belangen präsent, also im wahrsten Sinne des Wortes gegenwärtig zu sein. Daher mußte sich der Islam im Laufe der Geschichte auch allen Herausforderungen explizit stellen, die die neuen bzw. fremden Kulturen für ihn darstellten. Ob er ihnen gerecht wurde oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Die Frage ist vielmehr, ob es sich die Muslime ihrem Anspruch nach heute leisten können, die Debatte über den neuen Menschen ohne eigenes Konzept, sei es philosophisch oder ethisch, zu übergehen und die damit verbundenen Fragen unbeantwortet zu lassen. Mit der Idee des neuen Menschen geht – neben ihrer eschatologischen und heilsgeschichtlichen Bedeutung – der »Mythos der Perfektion« einher. Mit einem solchen Ansatz werden in manchen Untersuchungen die Ziele der »neuzeitlich-säkularen Konzepte« verknüpft. Hier heißt es, daß die »Umformung der ›religiösen Idee des Neuen Menschen … zur profanen‹ [auch] eine qualitativ-inhaltliche Neubestimmung« ist, die sich an den »Perfektibilitätsvorstellungen« unserer Zeit zeigt. 5 Die »Suche nach einem neuen Menschen« wird immer als die Suche nach einem »Neuen und Anderssein« verstanden und als ein zentrales »Heils- und Erlösungsziel« gesehen. 6 Die Frage der Perfektibilität oder Degeneration war präsent in dem geistigen und wissenschaftlichen Klima der abendländischen Zivilisation seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere im Kreis der Naturwissenschaft und Pädagogik. 5 6

Küenzlen, Der neue Mensch, S. 61. Ebd., S. 19 f.

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Einleitung

Eidenbenz zeigt an den Beispielen Darré, Schultze-Naumburg, Buffon, Blumenbach, Johannes und Johann Rudolph Ith (Vater und Sohn) und Morel die unterschiedlichen Facetten dieses Klimas. 7 1822 hielt Johann Rudolph Ith (Sohn) seine Antrittsrede »über die physische Vervollkommnung des Menschengeschlechtes«. Ith verstand darunter allerdings eine allseitige Perfektionierung der menschlichen Person. 8 Der Perfektionierungsgedanke fand nach Oelkers zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem neuen Erziehungsprogramm Ausdruck. Man nannte es »das Jahrhundert des Kindes«. 9 Ellen Key (1849–1926) erhoffte sich mit ihrer Veröffentlichung die Bildung eines »neuen Menschen und höheren Menschengeschlechtes«. Die Pädagogik wird als eine Art Züchtungsprogramm für eine »Massenveredlung« verstanden und sollte im Anschluß an die im 19. Jahrhundert weitverbreitete Idee biologischer Perfektion, nämlich durch gute Zucht den Anteil positiver Erbanlagen zu verbessern, wofür man den Begriff »Eugenik« benutzte, 10 den »neuen Menschen« hervorrufen, um im Dienste des Kindes die Heiligkeit seiner Gattung zu sichern. 11 Oelkers zählt die Eugenik zu den Ersatzreligionen, die Gegenbewegung, die ebenfalls die Perfektionierung des Menschengeschlechtes anstrebte, war stattdessen »esoterisch« und auf dem Boden der christlichen Spiritualitätslehre gewachsen. Oelkers versucht mit den folgenden Sätzen die spirituelle Bewegung zur Perfektionierung darzulegen: »Der ›neue Mensch‹ ist spirituell neu, d. h. eine Geburt ohne Abhängigkeit. ›Neu‹ im Sinne innerer Perfektion, die sich letztlich auf Erziehung zurückführen lassen muß. Erziehung wäre Erleuchtung, die ›neue Erziehung‹ muß das Kind beseelen und körperlich rein halten.« 12 Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist nicht, einen logischen Vergleich oder den Unterschied zwischen den beiden Perfektibilitätsbestrebungen, den biologistischen und geistig-spirituellen, aufzuzeigen. Eidenbenz, Mathias: Perfektionierung und Degeneration. Bemerkungen zur Genese wertender Begriffe im evolutionistischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kubli, Eric u. Reichardt, Katharina (Hrsg. 2001): Die Perfektionierung des Menschen. Bern u. a., S. 13–42. 8 Ebd., S. 38. 9 Oelkers, Jürgen: Erziehung als Perfektionierung des Menschen, in: Kubli u. Reichardt, Die Perfektionierung, S. 44. 10 Ebd., S. 45. 11 Ebd., S. 60 f. 12 Ebd., S. 50 f. 7

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Vielmehr geht es hier darum, den Grundgedanken des Vervollkommnungswunsches anhand der Beispiele aufzuspüren, speziell hier ihre Formen in der geistigen Tradition zu zeigen und ihre Bedeutung für ein modernes Verständnis des Menschenbildes im Islam aufzuwerten. In welcher Form man auch immer von einem »neuen« Menschen gesprochen hat, der den »alten« Menschen ersetzen oder ergänzen sollte – man ging von der Grundannahme aus: Der Mensch, so wie er ist, ist nicht gut genug. Das ist die erste Prämisse, die wir der Idee der Perfektibilität für unsere Untersuchung entnehmen können. Der Mensch soll sich, etwa mithilfe der Führung durch eine heilige Person oder durch eine religiöse und sittliche Lebensweise oder durch eine rationale und wissenschaftliche bzw. moderne und säkulare Lebensart, als individuelle Person und als Teil einer Gesellschaft fortentwickeln, erneuern und vervollkommnen. Damit kommen wir zur zweiten Prämisse für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Man setzt mit der Idee der Perfektion die Tatsache voraus, daß der Mensch das Potential zur Perfektibilität und zur Selbststeigerung besitzt. Dies bezieht sich sowohl auf seine existentielle Anlage als auch, was genauso wichtig ist, auf das menschliche Wissen und die menschliche Führungskraft. In seiner Entwicklung und Vervollkommnung wird der Mensch aber immer als Subjekt und Akteur seiner Selbstverwirklichung betrachtet. Auch nach der religiösen Vorstellung, nach der der Mensch primär ein Gottesentwurf ist und ohne Gottes Gnade nicht vollkommen werden kann, wie wir beispielsweise bei einigen führenden Anhängern der Mystik Ibn ʿArabīs (gest. 1240) feststellen können, wird letztlich der Mensch dazu aufgefordert, sich religiös und sittlich für einen Entwurf der »Neuwerdung« zu betätigen. Als These möchten wir daher aufstellen, daß diese Selbstbeteiligung am eigenen Entwurf die Bedingung dafür ist, daß der Mensch eine »ontologische Begründung« seiner selbst versuchen kann 13 und daß sie als Begriff im Menschenbild des Islam traditionell bereits angelegt ist. Auch wenn der Mensch hinsichtlich seiner Existenz gott- oder naturbezogen argumentiert, kann er die Tatsache nicht ignorieren, daß er als freies und verantwortliches Wesen in der Schöpfung Jüngel behauptet: »Ontologisch ist der Mensch das ganz und gar nicht in sich selbst begründete Wesen. Er kann gar nicht zu sich selber kommen, ohne schon immer bei einem anderen zu sein«. Siehe Jüngel, E.: Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: Gadamer, Hans-Georg u. Vogler, Paul (1975): Neue Anthropologie. Bd. 6. Philosophische Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart, S. 351.

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Einleitung

so verankert ist, daß er die Welt, in der er lebt und handelt, nach seiner eigenen Vorstellung und seinem eigenen Handeln gestaltet und darin seine Person zu verwirklichen sucht. Sogar als religiöses Wesen kann der Mensch die Vervollkommnung nicht ungewollt und untätig erwerben. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu fragen, ob, was und in welcher Form die islamische Gelehrtenkultur zur Entstehung der Idee eines Selbstentwurfes des Menschen beigetragen hat. 14 Möglicherweise war sie nicht Initiator einer eigendynamischen kulturellen Selbstreflexion, trotzdem können dabei ihre sozialen Gebilde, gesellschaftlichen Formen, religiösen Bewegungen und politischen Institutionen eine Rolle gespielt haben. Umgekehrt ist es ebenso gut möglich, daß neue wissenschaftliche Disziplinen oder abweichende Lehrmeinungen immer ein tradiertes religiöses Menschenbild in ihre Konzepte und Wertungen einbeziehen mußten. Diese Sichtweise legt allerdings nahe, daß solche Wechselwirkungsprozesse die Entstehung eines neuen und offenen Entwurfes behinderten oder zu verschwommenen Konzepten geführt haben. Aber auf jeden Fall müssen die muslimischen Denker (gerade heute) eine Antwort auf die Frage bereithalten, welchen Begriff von sich selbst der Mensch in seiner epistemischen, physischen und auch religiösen Endlichkeit bilden kann – und es wird zu untersuchen sein, wie sich dieser Begriff mit unserer These verträgt (oder sogar wechselseitig bedingt), daß der Mensch sich selbst als (sittlichen und religiösen) Auftrag begreift. Daher ist es besonders heute wichtig, die Frage zu beantworten, wie der Mensch in seiner Beziehung zu Gott konzipiert ist. Dies alles ist bedeutsam für die Erwartungen, die die Muslime mit der Zukunft des Menschen verknüpfen können. Um dieses Vorhaben zu bewältigen, werden exemplarisch verschiedene geistige Schulen und Disziplinen der islamischen Mystik und Philosophie zu betrachten sein. Dabei wird unser Interesse von zwei Untersuchungsgegenständen geleitet:

Wir wollen hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Begriff »Selbstentwurf« keinen Eingang in die islamische Wissenskultur gefunden hat. Dieser Begriff wurde in den 50er Jahren im Westen im Rahmen der Emanzipations- und Frauenbewegung benutzt. Man findet eine andere Variation dieses Begriffes bei Jean-Paul Sartre. Wir verwenden diesen Begriff nun im Rahmen unserer Untersuchung als eine inhaltliche Umschreibung der ontologischen Selbstkonzipierung.

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Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte

I.

Das allgemeine Menschenbild im Islam und seine mögliche Kontinuität

Um die Frage zu beantworten, ob und wie »der Islam« das Problem des »neuen Menschen« kohärent angehen kann, muß geklärt werden, ob es ein allgemeines religiöses Menschenbild gibt, dessen Merkmale sich in der Tradition kontinuierlich erhalten haben. Dafür spricht, daß es ein gemeinsames islamisches Erbe mit normativem Anspruch gibt: So erhebt der Koran als Schrift der göttlichen Offenbarung den Anspruch auf zeitlose Gültigkeit und Universalität. Die Überlieferungen des Ḥadīṯ gelten ebenso als normative Quellen und Richtmaß für die Lebens- und Weltdeutung der Muslime. Vordergründig könnten Begriffe wie »Mensch«, »Ideal« und »Perfektion« also als eindeutig festgelegt gelten – das heißt, es dürfte nur einen Weg geben, ein menschliches, gutes, richtiges oder gottgefälliges Leben zu führen, das mehr oder weniger immer gleich ausfällt. Demgegenüber fällt aber auf, daß das Bewußtsein und die Meinungsbildung im Islam hinsichtlich der islamischen Offenbarung und Tradition sowohl von Konsens als auch von Dissens geprägt waren und sind. Ein grundsätzlicher Konsens besteht bezüglich des normativen Anspruches des islamischen Menschenbildes. Von vielen Experten wird jedoch zu Recht betont, daß wir uns dadurch eine »adäquate Vorstellung vom Verständnis des Menschen im Islam nicht bilden« können. »Denn islamische Anthropologie hat sich seit jeher im interpretierenden Umgang von Muslimen mit dem Korantext entfaltet, und dieser führte im Laufe der Geschichte nicht immer zu denselben Ergebnissen.« 15 Die religiösen Wissenschaften gründen sich gerade auf die grundsätzliche Möglichkeit eines Dissenses bei der Interpretation der Offenbarung und Überlieferung, was immer wieder eine neue Auslegung der Vergangenheit impliziert, die über die herkömmliche Intention der Tradition als Vergegenwärtigung des Vergangenen hinausreicht. 16 Somit scheint eine permanente Neuschöpfung geistiger Prozesse im Glaubensleben mit angelegt zu sein. Gibt es folglich eine tatsächliche WanWielandt, Rotraud: Quelle islamischer Anthropologie, in: Andreas Bsteh (Hrsg. 1994): Christentum in der Begegnung. Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie. Mödling, S. 97. 16 Es gibt zahlreiche Arbeiten über die Möglichkeiten unterschiedlicher Koranauslegung und diverse Betrachtungsweisen des Korans als Text. Siehe z. B. Wild, Stefan (Hrsg. 1996): The Qur’an as Text. Leiden u. a. 15

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Einleitung

delbarkeit des Menschenbildes im Islam? Meine These hierzu ist, daß eine grundsätzliche Kontinuität dieser Wandelbarkeit und Entwicklungsfähigkeit mit ständigen Brüchen mit bisherigen traditionellen Formen der Begründung (bei gleichem Begründungsanspruch) einhergeht. Diese Brüche lassen sich anhand der unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Interpretationen der Offenbarungstexte, durch die Rezeptionen der geistigen Tradition der griechischen und islamischen Denker und nicht zuletzt durch die Entstehung unterschiedlicher Denkrichtungen im Islam, die wir seit dem Frühmittelalter beobachten können, nachweisen. Auch in den Untersuchungen, die von zeitgenössischen abendländischen Christen vorgenommen wurden, beobachten wir unterschiedliche Ansätze und Deutungen des islamischen Menschenbildes, wie man der umfangreichen vergleichenden Studie von Andreas Renz entnehmen kann. 17 Hier soll der Frage nachgegangen werden, ob es Anzeichen dafür gibt, daß die religiöse Grundauffassung und ihre Auslegung einen theoretischen Rahmen für die Überzeugung liefern können, daß der Mensch nicht nur als intellektuelles und spirituelles, sondern auch als ein im Gegensatz zum göttlichen Sein kontingentes Wesen aufgrund seiner religiösen Bindung verpflichtet ist, sich zu vervollkommnen und nach einer würdigeren Stufe des Menschseins zu streben. Worin sich diese »Verpflichtung« zur Vervollkommnung äußert, möchte ich hier kurz skizzieren. Zum einen geht man im Islam von der Perfektionierbarkeit des Menschen aufgrund der Eigenschaften aus, die in seiner geschöpflichen Konstitution bereits angelegt sind. Sie zeichnen ihn vor allen anderen als ein besonderes Wesen aus. Der Mensch trägt damit seine ursprüngliche Würde in sich, und zugleich ist sein Wesen unbestimmt und daher offen für Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung. 18 Zum anderen geht man in der mystischen Weltanschauung, wie bei Ibn ʿArabī und seinen Anhängern, von der Annahme aus, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das in sich sämtliche Namen und Attribute Gottes verkörpert. Er wird als ein Ausdruck der »Weltidee« verstanden, denn er trage den Hauch des göttlichen Geistes in sich: »Der Renz, Andreas (2002): Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie. Würzburg. 18 Vgl. Leaman, Oliver (1999): A Brief Introduction to Islamic Philosophy. Malden, S. 83. 17

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Mensch stellt die Grenzlinie zwischen göttlicher und geschöpflicher Stufe dar.« 19 Außerdem werde er dazu aufgefordert, sich zu vervollkommnen. Manche Theologen und Mystiker wie Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) sprechen von einer Art Pflicht, Gott nachzuahmen und sich mit Gotteseigenschaften zu charakterisieren. 20 So glaubt man sogar, daß, wenn die Menschen ihre göttliche Veranlagung bzw. göttliche Gestaltung (»their own divine form«, wie Chittick formuliert) nicht aktualisierten, sie ein Wesen unterhalb der Stufe des Menschseins blieben. 21 Dieser Absturz aus dem Reich des Menschseins würde für sie existentielle Konsequenzen hervorrufen. Daher wäre die Ansicht, daß der Mensch seine Würde nicht verlieren könne, nur dann korrekt, wenn man die Würde als eine ursprüngliche Gabe Gottes ansieht und damit nicht die spezifische Bedeutung des Menschseins meint, sich diese Würde zu erwerben. Denn seine Würde hängt davon ab, inwiefern er das mögliche Ideal des Menschseins aus seinem Wesen heraus verwirklicht. 22 Damit bezieht sich die Frage nach dem Wesen des Menschen weniger auf seine ursprüngliche Würde, sondern vielmehr auf seine Person, die im Kontext seiner Selbstverwirklichung als Mensch steht. In diesem Sinne wird die Frage nach der Perfektibilität des Menschen auch die Frage nach der Selbstaufgabe des Menschen sein, mit der er an seiner Verwirklichung als Mensch beteiligt ist. Es ergibt sich daher eine weitere und ergänzende These zu der vorherigen, und das insofern, als daß die Verpflichtung des Menschen zur Vervollkommnung aus der Annahme resultiert, daß der Mensch sich erst als vollständige Person begreifen kann, wenn er das Potential seiner vollen Personalität gänzlich ausgeschöpft hat. Dieser geistige und religiöse Aspekt wird von vielen führenden islamischen Philosophen und Mystikern in den Mittelpunkt entsprechender Untersuchungen gestellt, die wir in der vorliegenden Arbeit noch vertiefen werden. Die menschliche Erfahrung von Schimmel, Annemarie: C. J. Bleeker (Hrsg. 1955), Zur Anthropologie des Islam, in: Anthropologie religieuse. L’homme et sa destinée à la lumière de l’histoire des religions. Supplements to NUMEN II. Leiden, S. 150. 20 Siehe Renz, Der Mensch, S. 374; siehe Watt, Montgomery W.: Created in His Image. A Study in Islamic Theology, in: Transactions of the Glasgow University Oriental Society 18, 1959–60, S. 46, Anm. 5. 21 Siehe Chittick, William C. (1994): Imaginal Worlds. Ibn Arabī and the Problem of ʿ Religious Diversity. New York, S. 37 f. 22 Siehe Wielandt, Rotraud: Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: J. Schwartländer (Hrsg. 1993): Freiheit der Religion. Mainz, S. 191. 19

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Einleitung

Unwissenheit, Irrtum, Begrenzung, Unzulänglichkeit, Unfreiheit und auch Schuld 23 bleibt jedoch nicht beschränkt auf das individuelle Verhältnis einer Person zu sich selbst und zu ihrem Glauben. Denn die Idee der Perfektion beinhaltet notwendigerweise, daß der Mensch unter sehr verschiedenen Aspekten als ein Wesen betrachtet werden kann, das sich vervollkommnet bzw. einer »Neuschöpfung« unterzieht. Demzufolge läßt sich das Problem der Perfektibilität des Menschen nur dann angemessen behandeln, wenn man auch nach der Bedeutung dieser verschiedenen Weisen der Unvollkommenheit fragt und die Erfahrung des Selbst als »Mängelwesen«, den praktischen Sinn jeder Optimierung, die Möglichkeit individueller Rechtfertigung und den Zweck menschlicher Erziehung nicht vernachlässigt. Diese Themen sollen in dieser Arbeit in den Abschnitten zum Problem der menschlichen Freiheit und zur Rechtleitung des Menschen behandelt werden. Die religiöse Voraussetzung der menschlichen Unvollkommenheit gegenüber Gott muß hier aber nicht ausschließlich als beschränkende Perspektive begriffen werden. Es ist daher zu fragen, ob die herkömmliche Lehre von der Unvollkommenheit des Menschen nicht auch Anhaltspunkte für ein Konzept des »neuen Menschen« liefert.

II.

Der ontologische Status und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen

Die Unvollkommenheit des abhängigen, geschaffenen Menschen ist zugleich ein zentrales Thema der islamischen Geisteskultur und der Kern eines wichtigen ontologischen und erkenntnistheoretischen Problems (das auch bisher in der modernen Islamwissenschaft am umfangreichsten untersucht wurde): Es geht um die – innerhalb des angedeuteten religiösen Weltbildes – grundsätzliche Frage, wie der endliche Mensch seine Schöpfung (sein Geschaffensein) durch eine unendliche und vollkommene Instanz begreift. Denn die Art, wie er den Schöpfungsvorgang versteht, wird letztlich Auswirkungen auf sein Verständnis des Der Islam kennt die Schuldfrage, genauer gesagt die Frage der »Erbsünde« nicht in der Form, wie sie im Christentum thematisiert wird. Daher wäre es angebracht, stattdessen von der menschlichen Erfahrung von Unvollkommenheiten zu sprechen. Annemarie Schimmel ist der Ansicht, daß die Negation der Erbsünde dem Islam die Möglichkeit gebe, eine natürliche Religion anzuerkennen, in welcher der Mensch geboren sei. Siehe Schimmel, Zur Anthropologie des Islam, S. 141.

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Der neue Mensch in der gegenwärtigen Debatte

Geschaffenen und dessen Möglichkeiten haben. Dieser ontologischepistemische Aspekt der Perfektionsidee stellt den zweiten, ja im Grunde den zentralen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit dar, wobei uns die Frage nach dem Selbstverständnis der geschaffenen Vernunft, ihrer Vorstellung der Perfektion und ihrer möglichen Anlage dabei helfen soll, den Blick auf unseren allgemeinen ersten Untersuchungsgegenstand, die noch nachzuweisende Kontinuität des Menschenbildes im Islam, zu begrenzen und zu schärfen, das heißt zu präzisieren. Es soll daher betont werden, daß es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, sich der Frage des Menschenbildes im Islam in seiner gesamten Breite zu widmen. Wir wollen uns dieser Frage nur insofern widmen, als sie für die Entwicklung der Idee der Perfektibiliät im Islam von Bedeutung ist. Die drei bereits kurz problematisierten Begriffe der Universalität (als normativer Anspruch von Offenbarung und Überlieferung), des Konsenses (die Übereinstimmung der zeitlosen Gültigkeit der Offenbarungstexte und der Aussagen des Propheten) und des Dissenses (die Differenzierbarkeit und die Interpretierbarkeit des Offenbarungstextes) lassen sich nicht nur auf die öffentliche Diskussion in der Glaubensgemeinschaft beziehen, sondern finden ihre Entsprechungen auch in einer wichtigen ontologischen Unterscheidung 24 bezüglich göttlicher und geschöpflicher Vernunft, wie sie einige für unser Vorhaben relevante islamische Denker (wenn auch unterschiedlich deutlich) treffen und wie wir sie auch bei den führenden islamischen Neuplatonikern und Philosophen einschließlich Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī finden. In ihrer Seinsweise entspricht Universalität in der islamischen Philosophie der Zeitlosigkeit eines umfassenden Prozesses der stufenweisen Entfaltung des Intellekts, einer prozessualen Entwicklung des Intellekts in der Fortdauer der Schöpfung, und bezeichnet im Sinne der klassischen Intellektlehre einen rein universellen Intellekt. 25 Mit dem Konsens wird die Einheit des Intellekts identifiziert. Im Dissens dagegen zeigt sich die Möglichkeit der Vielfalt, die der partikularen bzw. der imaginativen Vernunft entspricht. In diesem Sinne erweist sich die Hiermit soll keineswegs nahegelegt werden, daß Aspekte der öffentlichen Diskussion in der Schöpfung und in der Struktur des menschlichen Geistes irgendwie vorgezeichnet sind und notwendigerweise zum Ausdruck gebracht werden. Es handelt sich hier lediglich um eine Analogie, die ein komplexes ontologisches Konstrukt verdeutlichen soll. 25 Zur Intellektlehre siehe Hendrich, Geert (2005): Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt u. a., S. 44–47; 65 ff.; Morewedge, Parviz (1992): Neoplatonism and Islamic Thought. New York, S. 116–123. 24

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Einleitung

Offenbarung als universelle Vernunft, als Geist Gottes, in einer Welt des Absoluten bzw. Undifferenzierten zeitlos, ungegenständlich und daher universell. Für diese Welt wird hier der Terminus des Unthematischen verwendet. Ihre Einheit verdankt sie dem Zustand der Absolutheit des Seins. Auf der Ebene der Vielfalt bzw. des Differenzierten, für die wir hier den Terminus des Thematischen verwenden, macht sich die Offenbarung zum Gegenstand der imaginativen und damit der partikularen Vernunft. 26 Wie die Welt des Unthematischen die Welt des Thematischen hervorruft und in sie eingreift und welche Bedeutung diese Prozesse für die Welt der Entstehung und für die Welt des Menschen haben, werden wir im einzelnen in der vorliegenden Arbeit untersuchen. Es ist sinnvoll, im Vorfeld kurz auf die Bedeutung dieser beiden Begriffe für unsere Untersuchung der hier behandelten muslimischen Autoren einzugehen. Der Welt des Unthematischen entspricht in der philosophisch-mystischen Sprache eines ʿAzīz ad-Dīn Nasafī beispielsweise die »summarische Welt« (ʿ ālam-i iǧmāl) bzw. die »reine oder unvermischte Existenz« (wuǧūd-i maḥḍ), eine Welt, die unbestimmt und in sich absolut und konzentriert und für alle Möglichkeiten offen ist. Der Welt des Thematischen entspricht dagegen die »detaillierte Welt« (ʿ ālam-i tafṣīl) oder, wie in der Sprache Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs die »ausgebreitete Existenz« (al-wuǧūd al-munbasiṭ). 27 Sie ist der Beginn der Entstehung der Welt der Vielfalt und Detailliertheit. 28 Dieser kurze Vorgriff zeigt bereits, daß es sich lohnt, unsere Untersuchung mit der Klärung des ontologischen Status von Mensch und Vernunft zu beginnen. Denn wenn sich herausstellt, daß die menschliche Seele, der Geist oder die Vernunft, wie man diesen vorrangigen Aspekt des menschlichen Wesens in der islamischen Philosophie genannt hat, 29 Siehe zu den beiden Begriffen »thematisch« und »unthematisch« im weiteren Sinne Coreth, Emerich (1994): Grundriß der Metaphysik. Innsbruck u. a., S. 48 f. 27 Gemeint ist hiermit der absolute ausgedehnte Seinsakt im Sinne von Aktualisierung (taḥaṣṣul) und Aktivität (fiʿ līya). Zunächst ist er unbestimmt, definiert sich aber danach durch die Gesamtheit der effektiven Seinsakte und konkreten Aktualisierungen. Auf diesem ausgedehnten Seinsakt beruhen das Universum, der Himmel des Lebens und der Thron des Barmherzigen. Vgl. Jambet, Christian (2002): L’acte d’être. La philosophie de la révélation chez Mollā Ṣadrā. Paris, S. 173 ff. 28 Siehe dazu auch Rahman, Fazlur (1975): The Philosophy of Mullā Ṣadrā (Ṣadr ad-Dīn al-Shirāzī). Albany, S. 82 ff. Ridgeon, Lloyd V. J. (1998): ʿAzīz Nasafī. Richmond, S. 22 ff. 29 In der islamischen Philosophie wird der Mensch als »vernunftbegabtes Lebewesen« (ḥayawān nāṭiq) definiert. Entsprechend, worauf wir im ersten Kapitel zu sprechen kom26

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Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker

vornehmlich als ein den Menschen transzendierender Prozeß begriffen wird, kann »Perfektibilität« nicht mehr als in zwei einfachen Stufen – unvollkommen und vollkommen – faßlich beschrieben werden. Dies würde, da die islamische Philosophie den Menschen wesentlich mit seiner Seele identifiziert, eine grundsätzliche Flexibilität und eine Offenheit des Menschenbildes (trotz physisch abgeschlossener Schöpfung durch die Allmacht Gottes) im Islam nahelegen, die es hier zu untersuchen gilt.

B. Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ermöglicht, die verschiedenen Zugangsweisen zur Frage der menschlichen (Un)vollkommenheit zur Sprache kommen zu lassen. In diesem Sinne wird zunächst die Frage nach den ontologischen Besonderheiten des Wesens des Menschen (Kap. I) in den Vordergrund treten. Diese Frage kann in der islamischen Welt nicht isoliert von der Frage nach der Existenz per se diskutiert werden. Dem ersten Kapitel folgt dann die Behandlung einiger wichtiger Fundamente des Menschen zwischen Erkenntnis, Vernunft und Wille (Kap. II). In diesem Kapitel wird der Blick auf den menschlichen Intellekt und seine Erkenntnisfähigkeit gerichtet, die eine zentrale Bedeutung für die Stellung des Menschen beanspruchen. Außerdem soll dabei die Willensfähigkeit des Menschen im Hinblick auf seine Entfaltungsmöglichkeiten gemäß des Existenzprozesses thematisiert werden. Anschließend wird die Bedeutung der Freiheit und der Umgang mit ihr im menschlichen Selbstperfektionierungsprozeß in den Mittelpunkt gestellt (Kap. III). In diesem Kapitel wird auf die zentralen Anliegen der vorliegenden Arbeit eingegangen. Damit sind folgende Fragen verbunden: In welchem Sinne strebt der Mensch nach einer Vervollkommnung seines Lebenswandels? Inwiefern sind für ihn Optimierung und Selbststeigerung erstrebenswerte Ziele? Beansprucht der Mensch die Herrschaft über sein eigenes Leben aufgrund seines existentiellen und rationalen Selbstverständnisses? Ist der Mensch erziehbar, und men werden, besitzt der Mensch eine »Seele« (nafs), die die Fähigkeit hat, sich zu einer sogenannten nafs nāṭiqa zu entwickeln, was man als »Vernunftseele« übersetzen kann, und diese hat eine Beziehung zum absoluten Geist, der im Göttlichen mündet.

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Einleitung

wenn ja, was soll die Erziehung bei ihm bewirken oder erwecken? Braucht der Mensch für die Legitimität seines Daseins und für seine Entwicklung einen Gott bzw. eine Religion? Dies sind einige der Fragen, die uns in den genannten Kapiteln beschäftigen werden. In diesem Sinne wollen wir auch der Frage nachgehen, ob sich in der islamischen Wissenskultur eine »bewußte« Haltung nachzeichnen und ein Konzept herauskristallisieren läßt, das den Menschen sowohl in seinem Wesen als auch in seiner geistigen, moralischen und gesellschaftlichen Gestaltung einem Prozeß unterzieht, der auf einen »neuen Menschen« ausgerichtet ist. Kurzum: Versteht man im Islam den Schöpfungsakt als bereits abgeschlossenes ontisches Faktum, in dem bereits alle Möglichkeiten vorgegeben sind, oder gilt die Schöpfung dort als eine offene Welt der Modalitäten, in der der Mensch seine Existenz als einen Auftrag versteht, der mitschöpferisch zur Vollendung seiner Person tätig ist? Angesichts dieser unterschiedlichen Fragen können wir unsere zentralen Fragen im Folgenden so formulieren: Ist der Mensch so beschaffen, daß er von Natur aus auf eine Perfektionierung angelegt ist? Wenn ja, was sind die Motive und Ziele der Perfektion? Und die daran anknüpfende weitere Frage lautet: Ist der Mensch aufgerufen, den Vervollkommnungsprozeß zu einem möglichst vollkommenen Lebenswandel aus eigener Kraft zu vollziehen oder ist er dabei auf göttliche Gnade angewiesen? 30 Wie bereits angedeutet, werden die normativen Quellen »der islamischen Religion« in einer einseitigen Auslegung keine befriedigenden, homogenen Antworten und Lösungen zu den bisher skizzierten Problemfeldern liefern, da »Islam« keineswegs als Sammelbegriff für einen unbedingten Konsens aufgefaßt werden kann. Eine solche Übereinstimmung gilt für meine Begriffe nur im Bereich des formalen Glaubensbekenntnisses. »Die islamische Religion« soll hier im weitesten Sinne, nämlich als ein Diskurs (oder eine Erscheinung, ein Phänomen) pluraler, kumulativer und wechselseitiger Wissens- und Erfahrungsformen aufgefaßt werden. Andernfalls müssten wir uns entscheiden und defiIn diesen Kontext fällt auch die Frage, ob es im Islam einen Zusammenhang zwischen den traditionellen Fragen der Perfektibilität des Menschen und dem biotechnischen Perfektionswunsch des Menschen gibt, und ob sich vielleicht sogar aus der herkömmlichen Lehre von der Unvollkommenheit des Menschen die Merkmale eines »neuen Menschen« ableiten lassen.

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nieren, was in der islamischen Wissenskultur unislamisch ist. Demzufolge läßt sich die Frage der Perfektibilität des Menschen nur dann angemessen behandeln, wenn vor der inhaltlichen Analyse der philosophischen und religiösen Vorstellungen, die wir exemplarisch anhand einiger wichtiger Vertreter der islamischen Tradition heranziehen wollen, jeweils die wichtigsten Quellen der Offenbarung berücksichtigt werden, die sich als Untersuchungsgegenstand eignen. Dieser Schritt ist wichtig, um zu sehen, welche Rolle Koran und Überlieferung für die Entstehung der religiösen und philosophischen Systeme im Islam gespielt oder nicht gespielt haben. Genauso wichtig ist auch die Analyse der philosophischen und religiösen Interpretation der Offenbarungstexte und der philosophischen und religiösen Vorstellungen. In der vorliegenden Arbeit werden hauptsächlich philosophische, ethische und mystische Traktate herangezogen, die für die genannten Themen relevant erscheinen. Dabei handelt es sich um die Hauptwerke der hier zu behandelnden ausgewählten Denker, worauf wir noch eingehen werden. Es geht in diesen Werken zum einen um das Verhältnis vom Menschen zur Existenz per se und zum anderen um sein Verhältnis zu seiner eigenen Existenzform in einer gesamtphilosophischen, mystischen oder ethischen Darlegung. Denn hier wird, im Gegensatz zu den theologischen und juristischen Texten, der Blick entschieden auf die Frage des Wesens des Menschen, seiner Entwicklung, seiner Endlichkeit, seines Anspruches und seiner geistigen und moralischen Fähigkeiten und Visionen gerichtet. In diesem Zusammenhang und in bezug auf die bereits skizzierte Themenfülle ist es sinnvoll, ein besonderes Gewicht auf die ontologischen und anthropologischen Vorstellungen von zwei Denkern zu legen: ʿAzīz ad-Dīn Nasafī (gest. um 1281) und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī, bekannt als Mullā Ṣadrā (1572–1640). Nasafī kommt aus einer mystischen Tradition und gehört offiziell der sunnitisch-hanafitischen Schulrichtung des Islam an. Mullā Ṣadrā dagegen kommt aus der philosophischen Tradition und gehört der Zwölferschia an. Beide sind von der Schule des andalusischen Mystikers Ibn ʿArabī beeinflußt, die vor allem über seinen Schüler Ṣadr ad-Dīn Qunawī (gest. 1274) weitergetragen wurde. Auch Šihāb ad-Dīn Suhrawardīs (gest. 1191) illuministische Philosophie spielte dabei eine wichtige Rolle. Die beiden erstgenannten Autoren wurden ausgewählt, weil sie trotz ihrer unterschiedlichen geistigen Schulen und Richtungen und ihrer Methodik bezüglich des Vollkommenheitsbegriffs ähnliche Konzepte und Inhalte einführen und ge33 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Einleitung

meinsame Ziele verfolgen, wie sich im Einzelnen zeigen wird, 31 zum anderen, weil wir anhand ihrer Ansichten zeigen können, daß in der islamischen Kultur eine reiche und flexible Umgangweise mit dem Wesen und Lebensziel des Menschen erkennbar ist, die ebenso für ein modernes Menschenbild mit einer starken Betonung der individuellen Freiheit und dem ethischen und religiösen Selbstentwurf offen sein kann. Einen solchen Ansatz findet man vor allem in den jüngsten Untersuchungen, die Mullā Ṣadrās Philosophie dafür öffnen wollen, daß man »unter Wahrung islamischer ›Rechtgläubigkeit‹ einen individuellen Weg der ›Erleuchtung‹ zu gehen« vermag. Seine Philosophie grenzt sich, wie Geert Hendrich betont, epistemologisch sowohl gegen eine »autoritätsgläubige, traditionsfixierte Islamauslegung ab […], als auch gegen die Verkürzung des Erkenntnisbegriffes auf einen strengen Rationalismus«. 32 In diese Tradition kann man ebenfalls Nasafī einordnen, der sich mit der Autoritätsgläubigkeit nicht abfinden konnte. Fritz Meier stellt, trotz der Unterschiede, eine innere Verwandtschaft zwischen Nasafī und seinen Vorgängern wie Šihāb ad-Dīn Suhrawardī und Ibn ʿArabī fest. Diese Verwandtschaft ist für ihn dadurch gekennzeichnet, daß Nasafī den Gedanken der Unmittelbarkeit des Erlebens und des »direkten Wahrnehmens religiöser Wahrheit« vertritt, der alle drei Denker von den orthodoxen Rechtsgelehrten erheblich unterscheidet. 33 Fritz Meier geht sogar weiter und zieht in Betracht, Nasafī als einen Vorläufer der modernen Religionsphilosophen anzusehen, weil er sich überparteilich und realistisch der Frage der Wahrheit und Religion widmet. 34 Mit Hilfe dieser beiden islamischen Denker, auf die wir in den kommenden Abschnitten ausführlicher eingehen werden, wäre es daher eine sinnvolle Aufgabe, neben den oben genannten UntersuchungsHenry Corbin ist sogar der Meinung, daß die Idee des geistigen und evolutionären Prozesses bei Mullā Ṣadrā von Nasafīs mystischer Weltanschauung herrührt. Siehe Corbin, Henry (1993): History of Islamic Philosophy. Übertragen ins Englische v. Laidain Sherrard. London u. a., S. 299. Wir können bei den Werken Ṣadrās nicht feststellen, ob er Nasafīs Schriften kannte. Die Ähnlichkeit zwischen den Auffassungen beider Denker bezüglich des evolutionären Prozesses, obwohl sie bezüglich der Existenz sehr ähnlich sind, kann zufällig sein oder, wie es wahrscheinlicher ist, mit der geistigen Tradition zu tun haben, in der beide Denker stehen. 32 Vgl. Hendrich, Arabisch-islamische, S. 151. 33 Vgl. Meier, Fritz: Die Schriften des ʿAzīz-i Nasafī, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes. Bd. 52, Wien 1953, S. 126 ff. 34 Vgl. Meier, Fritz: Das Problem der Natur im esoterischen Monismus des Islams, in: Eranos-Jahrbuch XIV, 1946. Hrsg. v. Olga Fröbe-Kapteyn (1947), Zürich, S. 150. 31

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Themen, Methode der Untersuchung und Auswahl der Denker

gegenständen auch die Frage der Personalität bzw. die Selbstbeteiligung des Menschen an seinem eigenen Entwurf näher zu behandeln. Die Auffassung, 35 daß jede Betonung der Personalität gegenüber Gott mit der islamischen Lehre unvereinbar ist, muß auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden. Diesbezüglich zeigen die Ergebnisse einiger anthropologischer Studien eine bemerkenswerte Stellungnahme insofern, als daß der Mensch und das Verhältnis von Gott und Mensch im Islam als reziprok gesehen wird, und sie erhalten unter dem Aspekt der Personalität, der Freiheit und der Souveränität eine zentrale anthropologische Bedeutung. 36 Um die wichtigen Zusammenhänge herzustellen, werde ich darüber hinaus die hier relevanten Ansichten einer begrenzten Auswahl islamischer Denker berücksichtigen, die verschiedenen Epochen und Räumen angehören. Zu den wichtigsten Quellen der islamischen Tradition gehören beispielsweise die Werke von Abū Bakr Zakarīyā ar-Rāzī (gest. 925 oder 932), Ibn Miskawaih (gest. 1030), Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Šihāb ad-Dīn Suhrawardī, Ibn Ṭufail (gest. 1185), Afḍal ad-Dīn Kāšānī (gest. ca 1213/14) und einigen islamischen Mystikern. Die in der vorliegenden Arbeit vorkommenden Denker und geistigen Schulen stehen, wie gesagt, nicht konstitutiv für »den Islam«. Sie repräsentieren eine Betrachtungsweise und zeigen zugleich die Möglichkeit dieser Betrachtungsweise auf. Ihre Sichtweisen können allerdings repräsentativ für andere Denkrichtungen stehen. Ihre Philosophie und Weltanschauung sind hier jedoch nicht primärer Untersuchungsgegenstand. Sie können aber dazu beitragen, die Ansichten Nasafīs und Mullā Ṣadrās in der geistigen Tradition im Islam etwas genauer zu platzieren. Es mag überraschen, wenn hier Philosophen und Denker aus verschiedenen Epochen und Schulen in eine Reihe gestellt werden. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß sich Zakarīyā ar-Rāzī mit denselben griechischen Denkern verwandt gefühlt hat, die auch zum Teil bei Suhrawardī, Ibn Ṭufail und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī ihre Spuren hinterlassen haben. Auch al-Ġazālī und al-Fārābī (gest. 950), die mehr oder weniger von aristoteNicholson, einer der bekanntesten Kenner der islamischen Mystik, ist der Meinung, daß der Mensch sich im Islam gegenüber Gott mit völliger Hingabe verhält, was das Verschwinden der eigenen Persönlichkeit bedeutet. Siehe Nicholson, A. Reynold (1923): The Idea of Personality in Sufism. Cambridge; ders. (1975): The Mystics of Islam. An Introduction to Sufism. New York, S. 167 f. 36 Siehe dazu z. B. die Ansichten Wilfred Cantwell Smiths und Kenneth Craggs, die in der Dissertation von Renz, Der Mensch, S. 36–201 ausführlich behandelt wurden. 35

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Einleitung

lischen und neuplatonischen Lehren beeinflußt waren, haben sich auf das Denken späterer Mystiker und Philosophen im Islam ausgewirkt. Auch mit Afḍal ad-Dīn Kāšānī, einem ismailitischen Philosophen, war Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī vetraut, wie Chittick vermutet. 37

C. Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und Übersicht über den Forschungsstand I.

ʿAzīz ad-Dīn Nasafī: Leben, Werke und Forschungen

Über ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs Leben ist uns wenig bekannt. Fritz Meier hat den ersten Bericht über ihn und seine Gedankenwelt veröffentlich. 38 Nasafī ist in Nasaf (bzw. Nakhshab), einer kleinen Stadt im heutigen Usbekistan in der Nähe Bucharas, geboren und verbrachte sein Leben zunächst in Buchara, bevor er nach Abarqū (oder Abarkūh) in der Nähe von Yazd und Schiraz in den Süden Irans flüchtete. Sein Geburtsdatum wird auf 1200 geschätzt. 39 Im Februar 1220 drangen die Heere Dschingis Khans nach Buchara ein, während des Sommers lagerte Dschingis Khan außerhalb von Nasafīs Geburtsort auf den Ebenen von Nasaf. Wo sich ihm Widerstand entgegenstellte, wurde er mit äusserter Gewalt bekämpft. 1254 kehrten die Mongolen zurück unter Hülägü Khan. Sie eroberten Bagdad und brachten den Kalifen um. Diese zweite Invasion wurde zur Besetzung. 40 Die mongolischen Herrscher mischten in ihrem Glauben Buddhismus und Schamanismus. Interessant ist die positive Einstellung der Mongolen gegenüber den nestorianischen Christen. Hülägü Khan und sein Sohn Abaqa hatten christliche Frauen. Ein Christ war auch Abaqas Gesandter nach Rom. In dieser Zeit wurden die Evangelien ins Persische übersetzt. Einige Mystiker, darunter auch Nasafī, zitierten Passagen, die auffällige Ähnlichkeiten zu Teilen der Vgl. Chittick, William: The Partinence of Islamic Cosmology: Reflection on the Philosophy of Afḍal al-Dīn Kāshānī, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. II. Mullā Ṣadrā and Transcendent Philosophy, S. 529–542. 38 Vgl. Meier, Das Problem der Natur, S. 149–227; Meier, Die Schriften des ʿAzīz-i Nasafī, S. 125–182. 39 Siehe Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 1 f. 40 Ebd. 37

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Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und der Forschungsstand

Evangelien haben. 41 Nasafī lebte also in einer Zeit der Extreme. Einerseits entwickelte das 13. Jahrhundert eine Tradition des Wissens, dessen Vermächtnis von Millionen nicht nur im Orient als ein Schatz betrachtet wurde, andererseits litt es unter den Verheerungen der Mongolen. 42 Zu Nasafī gibt es nur wenige nennenswerte Untersuchungen, in denen ein Zusammenhang zwischen seinen Gedanken zur Schöpfungstheorie und seinem Menschenbild hergestellt wird und diese mit seinen Vorstellungen von der Perfektibilität des Menschen verknüpft werden. 43 Das wichtigste Werk Nasafīs, welchem wir uns im Rahmen unseres Vorhabens speziell widmen wollen, ist neben »Die Enthüllung der Wirklichkeiten« (Kašf al-ḥaqāʾ iq) das Buch »Der perfekte Mensch« (Kitāb al-insān al-kāmil), das von dem französischen Orientalisten Marijan Molé unter Mithilfe von Henry Corbin im Jahre 1963 herausgegeben wurde. 44 Molés Einleitung gibt einen ausführlichen Überblick über die Schriften und das Leben Nasafīs und eine kritische Analyse, in denen er zum Teil auf die Werke Nasafīs und zum Teil auf die Forschungsergebnisse F. Meiers zurückgreift. Der große Teil der Schriften Nasafīs und sein Leben sind von einer Zeit geprägt, die von Gewalt und mongo-

Ebd., S. 3 f. Ebd., S. 7. 43 Das akademische Interesse im Westen richtete sich schon in früheren Jahrhunderten auf ihn: 1665 wurde eine türkische Version von »Maqṣad-i aqṣā« (Das letzte Ziel) mit einer lateinischen Übersetzung veröffentlicht. 1821 veröffentlichte F. Tholuck in Berlin das Handbuch »Die pantheistische Theosophie der Perser« (wohl auf lateinisch). 1867 paraphrasierte Palmer »Maqṣad-i aqṣā« auf englisch unter dem Titel »Oriental Mysticism«. Zu dieser kleinen Schrift siehe Palmer, Edward Henry (o. J.): Oriental Mysticism. A Treatise on Sufiistic and Unitarian Theosophy of the Persians. London. Fritz Meier setzte sich in seinen bereits genannten Aufsätzen mit Nasafīs Schrift »Kašf al-ḥaqāʾ iq« auseinander. Dann wurde in der neueren Zeit die Aufmerksamkeit auf das Buch »Kitāb al-Insān al-kāmil« gerichtet. Allen anderen Schriften Nasafīs wie »Tanzīl«, »Bayān-i tanzīl«, »Manāzil as-sāʾ irīn«, »Kašf-i ṣirāṭ« und »Zubdat al-ḥaqāʾ iq« wurde in der Forschung wenig Beachtung geschenkt. Siehe Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. xi-xiv; 10 ff. Derselbe Autor hat eine Auswahl von Nasafīs Schriften übersetzt und in einem Band veröffentlicht. Siehe Ridgeon, Lloyd V. J. (2002): Persian Metaphysics and Mysticism. Richmond. Zuvor hat sich Hermann Landolt in einem Aufsatz mit dem Paradox in Nasafīs Lehre vom Antlitz Gottes beschäftigt. Landolt, Hermann: Le paradoxe de la »Face de Dieu«: ʿAzīz-e Nasafī (VIIe/XIIIe Siècle) et le »Monisme Esoterique« de l’Islam, Studia Iranica, 25, 1996, S. 163–192. 44 Wir benutzen hier folgende Ausgabe: Nasafī, Azīz ad-Dīn: Kitāb al-Insān al-kāmil. ʿ Hrsg. u. eingel. v. Marijan Molé (51379/2000). Mit einer Einleitung von Henry Corbin. Teheran. 41 42

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lischer Invasion überschattet war. 45 Außerdem sind seine Werke von höchstem Interesse, weil sie die unterschiedlichen islamischen Positionen seiner Zeit präsentieren. Nasafīs essayistischer und allgemein verständlicher Sprachstil, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schreibart Aḥmad al-Ġazālīs aufweist, zeichnet ihn als einen populären Autor aus. Man darf seine Werke jedoch nicht mit der traditionellen, systematischen philosophischen Gattung gleichsetzen, auch wenn er seine philosophischen Gedanken möglichst argumentativ darlegt. Mit einem äußerst eleganten Stil, wie er in der iranisch-islamischen Literatur selten ist, geht Nasafī in seinem Buch »Der perfekte Mensch« auf die Entstehung des Menschen ein und beschreibt ausführlich die Entwicklung seines geistigen Wesens und seiner Zustände. Er versteht sich selbst nicht als Philosoph und verwendet auch keine diskursive und analytische Methode. Er legt seine Gedankenwelt in Lehrsätzen dar. Er legt Wert auf eine gewisse Sprachästhetik, die das Lesen und die Aufnahme der Lehrsätze erleichtert. Dadurch kann auch der Eindruck entstehen, der Autor spreche von intuitiven Erlebnissen. Trotzdem unterlegt er seine Lehre mit einer gewissen argumentativen Systematik. So zeigt er, daß er die Ansätze der Philosophen und Theologen sowie einiger Mystiker sehr gut kannte. Darüber hinaus sind Nasafīs Schriften unter dem geistigen Einfluß der mystischen Tradition entstanden, die stark von Ibn ʿArabī geprägt war. Saʿ d ad-Dīn Ḥammūya (gest. 1252), der Lehrer Nasafīs, war ein Schüler von Naǧm ad-Dīn Kubrā (gest. 1221), und es wird vermutet, daß er Ibn ʿArabī durch seinen Lehrer oder auch unmittelbar kannte. Das Buch »Kašf al-ḥaqāʾ iq« wird mitunter als ein Kommentar zu Ibn ʿArabīs seinsmonistischer Weltdeutung betrachtet. 46 Doch bevor Nasafī sich der Mystik widmete, ja vielleicht während seiner mystischen Bestrebungen, absolvierte Nasafī offenbar ein Medizinstudium, dessen Wirkung in seinen Werken als Hintergrund für die Darlegung seiner Kosmologie und der Erschaffung des Menschen nicht zu übersehen ist. Sein Todesdatum ist unklar. Man vermutet, daß er bis Ende des 13. Jahrhunderts gelebt hat. 47 Siehe Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 1–15. Siehe Nasafī, ʿ Azīz bin Muḥammad: Kašf al-ḥaqāʾ iq. Hrsg. v. Aḥmad Mahdawī Dāmġānī (21359/1980). Teheran, S. 8. Für Meier liegt die Bedeutung dieses Werkes eher darin, daß es »eine kleine Enzyklopädie des islamischen Denkens« darstellt. Siehe Meier, Die Schriften des ʿAzīz-i Nasafī, S. 162. 47 Ridgeon schätzt sein Todesdatum auf etwa 1281. Siehe Ridgeon, Azīz Nasafī, S. 7. ʿ 45 46

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Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und der Forschungsstand

II.

Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī: Leben, Werk und bisherige Forschungen

Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī (bekannt als Mullā Ṣadrā bzw. Ṣadrā) ist gewiss der bedeutendeste Philosoph des 16. Jahrhunderts, der in der islamischen Welt bekannt war. Über sein Leben haben wir äußerst spärliche Informationen. 48 Gewiss ist, dass er in einer einflußreichen Familie – sein Vater war Gouverneur der Provinz Fars – in Schiraz geboren ist, möglicherweise als einziges Kind. Sein Geburtsdatum wird auf das Jahr (979) 1571 geschätzt. Sein vollständiger Name ist Muḥammad ibn Ibrāhīm ibn Yaḥyā, und er ist in einer Zeit geboren, in der seine Heimat Iran von einer neuen Dynastie, der der Safaviden, regiert wurde. Iran erfreute sich wieder einer Art Blütezeit des geistigen Lebens und speziell der Philosophie. Schiraz und Isfahan wurden zu den wichtigsten Zentren einer neuen philosophischen Schule. In dieser Zeit wurde die Schia zur offiziellen Religion erklärt. Mullā Ṣadrā studierte zunächst in Schiraz und Qazwīn. Dann ging er nach Isfahan und studierte bei dem Theologen Bahāʾ ad-Dīn ʿ Āmilī (Scheich Bahāʾ ī, gest. 1622), der als Mathematiker und zugleich als Architekt bekannt war. Scheich Bahāʾ ī war dafür bekannt, daß er die Offenbarung mystisch und allegorisch interpretierte. 49 Er hatte vermutlich in einem gewissen Umfang bei dem Peripatetiker Mīr Findiriskī (gest. 1641) studiert, der einerseits als Mystiker und andererseits als Anhänger der peripatetischen Schule und als Mediziner bekannt war. Mīr Findiriskī war mit der indischen Geisteskultur vertraut und verfaßte einen Kommentar zu dem Werk Yoga Vasíṣṭha. 50 Sein hauptsächlicher Lehrer aber war der Philosoph und Theologe Mīr Dāmād (gest. 1631). Mīr Dāmād war ein Denker von Bedeutung und Originalität. Er war der eigentliche Gründer der Isfahaner Schule und brachte vor allem eine Philosophie hervor, die im Lichte der schiitischen »Imamognosis« interpretiert wurde. In den philosophischen Themen wurden neue PrioRahman, The Philosophy, S. 1. Hossein Nasr vergleicht ihn mit Leonardo Da Vinci, St. Anselm und St. Bernard. Vgl. Nasr, Hossein (21997): Ṣadr al-Dīn Shirāzī and his Transcendent Theosophy. Background, Life and Works. Teheran, S. 33. 50 Nasr ist der Meinung, daß aus Mīr Findiriskīs Werken klar wird, daß er sich mit Ṣadrās Ideen von der substantiellen Bewegung und der imaginativen Welt nicht anfreunden konnte. Ebd, S. 34. Akbar Ṯubūt versucht anhand zahlreicher Beispiele, die Einflüsse Indiens auf Ṣadrā und ebenso die Wirkung der Philosophie Ṣadrās in Indien zu belegen. Siehe Ṯubūt, Akbar (1380/2001): Filsūf-i Širāzī dar Hind. Teheran. 48 49

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ritäten gesetzt, die sich stark an den Geist der Offenbarung und des Propheten sowie vor allem an die hermetische Weisheit anlehnten. 51 Es scheint, dass, als unser Philosoph (genannt Muḥammad, betitelt Sadr al-Dīn, und allgemein bekannt als Mullā Ṣadrā oder kurz Sadrā) in Erscheinung tritt, Philosophie, wie sie allgemein gelehrt wurde, in der peripatetisch-neoplatonischen Tradition von Ibn Sina und seiner Nachfolger gelehrt wurde. In Mullā Ṣadrās Denken verbanden sich verschiedene geistige Strömungen: die peripatetische Schule Ibn Sīnās (lat. Avicenna, gest. 1037) mit ihren aristotelischen und neuplatonischen Vorstellungen, die mystische Schule von Ibn ʿArabī und die illuministische Schule von Šihāb ad-Dīn Suhrawardī mit ihrer gnostischen Gedankenwelt und ihrer altpersischen Lichtmetaphysik. Ḥaidar Āmulī (gest. nach 1385) und Ibn Turka (gest. 1427) hatten Ibn ʿArabīs Gedankenwelt an das schiitische Glaubenssystem angepaßt. Die peripatetische Schule wurde längst unter dem Einfluß von Mīr Dāmād, dem Lehrer Mullā Ṣadrās, und schon zuvor und noch stärker von Ṣadr ad-Dīn Daštakī (gest. 1552) und seinen Schülern aus dem Kreis der Schirazer Schule, vom illuministischen Geist Suhrawardīs durchdrungen. Doch die neuzeitliche geistige Bewegung im Abendland blieb Ṣadrā verborgen. Ṣadrā und René Descartes (1596–1650) waren Zeitgenossen, die offenbar jeweils keine Kenntnis vom anderen und dessen geistigen Umfeld hatten. Dann kehrte Ṣadrā angeblich nach Schiraz zurück und wurde Philosophielehrer. Eines der wichtigsten Ereignisse in Ṣadrās Leben ist seine über sieben Jahre währende Zurückgezogenheit in Kahak, einem kleinen Ort in der Nähe des heutigen religiösen Hochschulzentrums Ghom (Qum). 52 Diese Zurückgezogenheit wird in der Geschichte als »Exil« dargestellt. Mullā Ṣadrā hat sich aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den orthodoxen Gelehrten, die ihn als Apostaten verurteilten (das war sicherlich nicht der einzige, aber gewiß der entscheidende Grund), von seiner Heimat entfernt. E. G. Brownes Beobachtungen bestätigen diese unversöhnliche Beziehung zwischen den Orthodoxen Siehe Fakhry, Majid (1970): A History of Islamic Philosophy. New York u. London, S. 339–346; Nasr, Hossein (1996): The Islamic Intellectual Tradition in Persia. Richmond, S. 239–270; Corbin, History of Islamic Philosophy, S. 338–348. 52 Nādir Ibrāhīmī hat einen historisch-biographischen Roman geschrieben, der sich mit dem Leben und den Gedanken Mullā Ṣadrās beschäftigt. Siehe Ibrāhīmī, Nādir (31383/ 2004): Mardī dar tabʿ īd-i abadī. Bar asās-i dāstān-i zindagī-yi Mullā Ṣadrā Šīrāzī, Ṣadr alMutaʾ allihīn. Teheran. 51

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und Ṣadrās Positionen. 53 Hossein Nasr bringt zwar Belege über diese Auseinandersetzung; sie aber als einzigen Grund für seine Zurückgezogenheit zu sehen, lehnt er ab.54 Diese Einsamkeit wird auch als eine Reaktion gegenüber der weltlichen Machtgier seiner Zeitgenossen gesehen und von manchen Kritikern als ungewöhnlich interpretiert. Ṣadrā hat sich im Gegensatz zu seinem Lehrer Scheich Bahāʾ ī und vielen anderen Geistlichen von der politischen Bühne der Safavidenzeit zurückgezogen. Christian Jambet spricht in diesem Zusammenhang von einer Überschreitung der Kompetenzen der Geistlichkeit, die auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen islamischen Revolution im Jahre 1979 zu erkennen sei. Ṣadrā hätte diese Auffassung teilen können, das Gegenteil jedoch sei der Fall gewesen, so Jambet. Denn er engagierte sich nicht am königlichen Hof und sah ganz klar den Konflikt zwischen dem juristisch-politischen Schiismus und der schiitischen Gnosis, 55 die seiner Meinung nach die einzig wahre Lehre darstellte. 56 Jambet zieht daher den Schluß, daß die Hinwendung zu Gott eine Folge der Verfolgung ist, die ihn zur Askese, zum Rückzug in die Einsamkeit und zu spirituellen Übungen führte, ohne die es keine Erleuchtung gebe. Ṣadrā beklagte sich bitterlich über die Dummheit der Unwissenden, die ihn letztlich dazu veranlaßten, sich aus dieser Welt zurückzuziehen. Er verheimlichte sogar seine religiöse Haltung vor den »Söhnen der Zeit«. Jambet fragt sich, wer diese Söhne seiner Zeit sein könnten, die kein Verständnis für die innere Einkehr von Ṣadrā hatten. Er meint, daß es sich nicht um die Sunniten handelt, sondern einfach um die der diesseiE. G. Browne, der Ṣadrā als »the greatest Philosopher of modern times in Persia« bezeichnet, schreibt darüber hinaus über die religiöse Lage Ṣadrās folgendes: »in constant conflict with the ›clergy‹ and whose ›speculations‹ were not conditioned by and subordinated to revealed Religion«. Siehe Newman, Andrew J.: The Legacy of Mullā Ṣadrā in the Writing of Western Scholars in Iranian and Shīʿ ī Studies: Use or Abuse, in: IslamWest Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. I. Mullā Ṣadrā and Transcendent Philosophy, S. 194 f. 54 Vgl. Nasr, Ṣadr al-Dīn Shirāzī, S. 35 ff. 55 Es muß hier darauf hingewiesen werden, dass der Begriff »Gnosis« im Sinne Corbins und Jambets verwendet wird und damit keine religiöse Bewegung gemeint ist. Dennoch hat diese Bewegung einen starken Einfluss auf die schiitische Religionsphilosophie und Mystik gehabt. Dieser Begriff steht in der schiitischen Welt für eine bestimmte Art der Erkenntnis (maʿ rifa), bei der es sich ebenso wie beim Christentum um ein esoterisches Phänomen handelt, wobei Erkenntnis keinesweg rational gedacht ist, sondern intuitiv. Zur Gnosis siehe Iwersen, Julia (2001): Gnosis zur Einführung. Hamburg. 56 Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 20 f. 53

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tigen Welt zugewandten Menschen, die die Auslegung der Šarīʿ a verachten. 57 In dieser Zeit der Abgeschiedenheit hat Mullā Ṣadrā einige wichtige Teile seiner Hauptwerke verfaßt bzw. vorbereitet. 58 Er kehrte wieder nach Schiraz zurück, wo er als Lehrer in der Schule Allāhverdī Khans (pers. Madrasa-yi Ḫān, bekannt als die Schule Khan), bis an sein Lebensende tätig war. In dieser Zeit schrieb er zahlreiche Werke. Vor allem verfaßte er in dieser Zeit neben zahlreichen Schriften sein Hauptwerk »al-Ḥikma al-mutaʿ āliya fī l-asfār al-ʿ aqlīya al-arbaʿ a« (Die transzendentale Philosophie über die vier intelligiblen Reisen), 59 bekannt als »alAsfār«, 60 das hier neben »Asrār al-āyāt« (Die Geheimnisse der Verse) 61 und »Risāla fī l-ḥudūṯ« (Traktat über die zeitliche Entstehung) 62 besonEbd., S. 24. Die wichtigsten Werke Ṣadrās findet man in der Untersuchung von Hossein Nasr mit einer kurzen Beschreibung. Siehe Nasr, Ṣadr al-Dīn Shirāzī, S. 39–50. Bezüglich Ṣadrās Schriften und Untersuchungen hat Nahīd Bāqirī Ḫurramdaštī eine umfangreiche Bibliographie vorgelegt. Siehe Bāqirī Ḫurramdaštī, Nahīd (1378/1999): Kitābšināsī-i ǧāmiʿ -i Mullā Ṣadrā. Mit der Beteiligung von Fāṭima ʿAsgarī. Teheran. 59 Siehe aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm: al-Ḥikma al-muta āliya fī lʿ asfār al-ʿ aqlīya al-arbaʿ a (al-Asfār). 9 Bde. Hrsg. v. Riḍā Luṭfī u. Muḥammad Riḍā Muḏaffar (21387q/1967). Ghom. In diesem Werk stellt Ṣadrā vier intellektuelle Reisen dar, in der sich Gott und Mensch in einem Kreis des existentiellen Prozesses befinden, ohne einander gegenüberzustehen. Ṣadrā beginnt seine Philosophie mit der Ontologie (Metaphysik) und beendet sie mit der Seelenlehre. Die Reise beginnt mit dem Aufstieg des Menschen in die Welt Gottes (»as-safaru min al-ḫalqi ilā l-ḥaqq« und »as-safaru bi-lḥaqqi fī l-ḫalq«, das ist die erste und zweite Reise) und kehrt mit Gott in die Welt zurück (»as-safaru min al-ḥaqqi ilā l-ḫalqi bi-l-ḥaqq«, das ist die dritte Reise). In der letzten, der vierten Reise (»bi-l-ḥaqqi fī l-ḫalq«) müsste es dann dem Menschen gelingen, als vollkommener Mensch in das Reich der vollkommenen Existenz einzudringen. Siehe ašŠīrāzī, al-Asfār, Bd. I, Ghom, S. 13 f. 60 Im Folgenden werden wir Ṣadrās Hauptwerk »al-Ḥikma al-muta āliya fī l-asfār alʿ ʿ aqlīya al-arbaʿ a« mit der Abkürzung »al-Asfār« bezeichnen. 61 In »Asrār al-āyāt« beschäftigt sich Ṣadrā mit göttlichem Wissen und Handeln und der Auferstehung, die angesichts der menschlichen Schöpfung und seiner besonderen Stellung im Kosmos dargelegt werden. Dieses Buch ist im Gegensatz zu »al-Asfār« keine systematische Philosophie, sondern eine freie Interpretation der koranischen Verse und Überlieferungen. Siehe aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm (Mullā Ṣadrā): Asrār al-āyāt. Hrsg. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1413/1993). Beirut. 62 »Risāla fī l-ḥudūṯ« setzt sich mit der Entstehungsfrage auseinander und geht vor allem auf die vorsokratische Philosophie ein. Siehe aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm (o. J.): Risāla fī l-ḥudūṯ. o. O. Dazu die Übersetzung von M. Bagher Talgharizadeh (2000): Die Risāla fī l-ḥudūṯ (Die Abhandlung über die Entstehung) v. Ṣadr adDīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm aš-Šīrāzī (1572–1640). Berlin. 57 58

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ders beachtet wird. Mullā Ṣadrā starb während seiner Pilgerfahrt in Basra im Jahr 1641. Ṣadrās Schriften wiederholen oft dieselben Ideen und Themen und haben ähnliche Themen und Argumentationstrukturen mit Ausnahme einiger kleiner Schriften und Kommentare. 63 Dazu gehört sein philosophisches Werk »Šarḥ al-Hidāya al-aṯīrīya«, ein Kommentar zu »al-Hidāya al-aṯīrīya« von Aṯīr ad-Dīn Abharī, das die für die peripatetische Philosophie typische Themenaufteilung aufweist, die der klassischen Reihenfolge entspricht: zuerst Naturkunde, dann das Buch der Theologie. 64 Ṣadrās Hauptwerk »al-Asfār« wurde jedoch die meiste Aufmerksamkeit zuteil, sowohl im traditionellen Unterricht in Iran als auch in den Untersuchungen im Ausland. Trotzdem haben Ṣadrā und seine philosophische Schule, in der mehr über Ṣadrā als über Nasafī geforscht wurde, im Westen nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die man anderen islamischen Philosophen vor ihm, wie Avicenna (Ibn Sīnā) und Averroes (Ibn Rušd), geschenkt hat. Dennoch gibt es über Mullā Ṣadrā mittlerweile zahlreiche Untersuchungen, von denen wir hier nur einige Beispiele anführen, die für das Verständnis des Themas der vorliegenden Arbeit relevant erscheinen. Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich mit Ṣadrās Philosophie im allgemeinen. Es gibt auch einige Werke Ṣadrās, die ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt wurden. 65 Dazu gehört z. B. »Šarḥ uṣūl al-kāfī«, die wichtige traditionelle Ḥadīṭsammlung, die er philosophisch-mystisch kommentiert hat. Ebenso gehören dazu die Korankommentare. Siehe dazu aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm: Šarḥ uṣūl al-kāfī. Kitāb alw ʿ aql wa-l-ǧahl. Bd. I. Hrsg v. Muḥammad Ḫ āǧawī (1988). Teheran; ders: Šarḥ uṣūl alkāfī. Kitāb faḍl al-ʿ ilm wa-kitāb al-ḥuǧǧa. Bd. II. Hrsg. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1988). Teheran; ders: Šarḥ uṣūl al-kāfī. Kitāb at-tauḥīd. Bd. III. Hrsg. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1991). Teheran; aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm: aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Tafsīr al-Qurʾ ān al-karīm. Bd. I–VIII. Hrsg. u. kommentiert v. Muḥammad Gaʿ far Šams ad-Dīn (Dār at-Taʿ āruf li-l-maṭbūʿ āt 1998–1999). Beirut. 64 Das Buch »Šarḥ al-Hidāya« wurde von Aḥmad Ibn Muḥammad Ḥusainī Ardakānī (gest. ca. q1242) ins Persische übersetzt und kommentiert. Siehe Ḥusainī Ardakānī, Aḥmad Ibn Muḥammad: Mirʾ āt al-akwān. Taḥrīr-i šarḥ-i Hidāya Mullā Ṣadrā Šīrāzī. Hrsg. v. ʿAbdallāh Nūrānī (1375/1996). Teheran. 65 Max Horten hat sich bemüht, durch Übersetzungen die Philosophie von Mullā Ṣadrā im Westen bekannt zu machen. Auch Henry Corbin hat sich mit Ṣadrā im Rahmen der Übersetzungsaktivität und in der Geschichte der islamischen Philosophie beschäftigt. Hier nennen wir eine wichtige Auswahl davon: Siehe Horten, Max (1912): Der Gottesbeweis bei Schīrāzī. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Theologie im Islam. Bonn; ders. (1913): Das philosophische System von Schīrāzī. Straßburg; aš-Šīrāzī, Ṣadr 63

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Einleitung

Eine der früheren Untersuchungen verdanken wir Hossein Nasr. Er hat mit seinen Beiträgen einen beachtlichen Einblick in das Leben und die Werke und vor allem in das philosophische System Ṣadr adDīn aš-Šīrāzīs geleistet. 66 In Anlehnung an Corbin hält er an der These fest, daß Ṣadrās Philosophie nicht im engen Sinne als Philosophie bezeichnet werden dürfe, sondern eher als »Theosophie«. Denn man könne nicht den Begriff der Philosophie für »both Quine and Mullā Ṣadrā in the same sense« verwenden. 67 Dieser Sicht stehen Forscher wie Hossein Ziai und Fazlur Rahman kritisch gegenüber. 68 Sie verweisen auf das Mißverständnis, das der Begriff »Theosophie« hervorrufen kann, denn dieser Begriff werde im Westen für eine moderne esoterische Richtung verwendet. Ziai unterstützt Rahmans Auffassung, daß der Begriff »metaphysical Philosophy« hier eher zutreffend wäre. Rahman gibt »alḤikma al-mutaʿ āliya« von Ṣadrā als »sublime wisdom« wieder, 69 was, wie Açikgenç zu Recht betont, eine rein wörtliche Übersetzung ist. Für ihn soll der Begriff »al-Ḥikma al-mutaʿ āliya« inhaltlich und methodisch im Kontext des philosophischen Systems Ṣadrās verstanden werden. Es sei eine »intellectual vision«, wie Açikgenç formuliert, welche die mystische Erfahrung und die Rationalität als eine Art »rationale Intuition« miteinander verbinde. 70 ad-Dīn: Kitāb al-Mašāʿ ir. Übersetzung vom Arabischen ins Persische von Badīʿ al-Mulk Mīrzā ʿ Imād ad-Daula und ins Französische und hrsg. v. Henry Corbin (1363/1984). Teheran; Mullā Ṣadrā: The Elixir of the Gnostics (Iksīr al-ʿ ārifīn). A parallel EnglishArabic text translated, introduced and annotated by William C. Chittick (2003). Provo Utah; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ; Morris, James W. (1981): The Wisdom of the Throne. An Introduction to the Philosophy of Mullā Ṣadrā. New Jersey. Darüber hinaus gibt es noch weitere Versuche, Ṣadrā im Westen im Rahmen der Geschichte der islamischen Philosophie vorzustellen. Siehe Fakhry, A History, S. 339–346; Rudolph, Ulrich (2004): Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München; Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie. 66 Nasr, Ṣadr al-Dīn Shirāzī; Nasr, The Islamic Intellectual, S. 271–303; Nasr, Hossein (2006): Islamic Philosophy from its Origin to the Present. Philosophy in the Land of Prophecy. New York, S. 209–233. 67 Vgl. Nasr, Ṣadr al-Dīn Shirāzī, S. 9. Siehe auch Nasr, Hossein: Mullā Ṣadrā: His Teachings, in: Nasr, Hossein/Leaman, Oliver (Hrsg. 1996): History of Islamic Philosophy. Part I. London u.a, S. 645; 659. 68 Siehe Ziai, Hossein: Mullā Ṣadrā: His life and works, in: Nasr, Hossein/Leaman, Oliver (1996), History of Islamic Philosophy. Part I. London u. a., S. 636; 642. 69 Vgl. Rahman, The Philosophy, S. 19. 70 Vgl. Açikgenç, Alparslan: Ṣadrā’s Philosophical System as a Model in Islamic Philosophy, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress

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Dieses System ist für diese Arbeit insofern von Bedeutung, als hier von einer Philosophie die Rede ist, die nicht rein demonstrativ bzw. diskursiv ist, sondern auf eine »geistige Lebensart« abzielt, von der eine existentielle Vervollkommnung erwartet wird. Die Philosophie in diesem Sinne ist tatsächlich die Suche nach einem besonderen Weg zur Selbstverwirklichung. Man kann von einer Art »gelebtem Diskurs« sprechen. Denn sie beruht auf einer Vorstellung, die von etwas begleitet wird, das man als eine intensive geistige und seelische Therapie beschreiben kann. Sie dient dazu, den Menschen geistig wie praktisch zu einem besseren Wesen zu machen. Wir werden in der vorliegenden Arbeit gelegentlich den psychologischen Effekt einer solchen Metaphysikphilosophie hervorheben, die von der Idee der Perfektibilität nicht zu trennen ist. Es ist möglich, daß Corbin und Nasr und auch andere diesen charakteristischen Aspekt der sadraischen Philosophie vor Augen hatten, auch wenn sie ihn nicht näher analysieren. Vielleicht deutet die Formulierung »He, however, uses the symbolism of journey or safar to depict the intellectual process whereby man gains perfect knowledge rather than the ›existential‹ transformation alluded to in classical Sufi Works«, mit der Nasr die philosophische Absicht Ṣadrās beschreibt, 71 auf die bereits erwähnte Beziehung von Perfektion und Philosophie bei Ṣadrā hin. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß der französische Philosoph Pierre Hadot (1922–2010) die antike Philosophie als einen »Lebensweg« dargestellt hat. 72 In neueren Untersuchungen verweist man zu Recht auf die Ähnlichkeit dieser Konzeption mit der islamischen Philosophie. Man bringt dies durch eine Verbindung von Philosophie und Mystik zum Ausdruck. In diesem Sinne bezeichnet Rizvi, der in einem Aufsatz Ibn ʿArabī mit Mullā Ṣadrā vergleicht, letzteren als einen »mystical philosopher« par excellence. 73 Der amerikanische Mystikforscher William Chittick hat diese Idee on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. I. Mullā Ṣadrā and Transcendent Philosophy, S. 34 f., 52. 71 Nasr, Ṣadr al-Dīn Shirāzī, S. 57. 72 Siehe dazu Hadot, Pierre (2002): Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Aus dem Französischen von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch. Frankfurt/M.; ders. (1999): Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Berlin. 73 Vgl. Rizvi, Sajjad H.: Mysticism and Philosophy: Ibn Arabī and Mullā Ṣadrā, in: Peter ʿ Adamson/Richard C. Tylor (Hrsg. 2005): The Cambridge Companion to Arabic Philosophy. Cambridge, S. 225.

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Einleitung

mit Blick auf die Erkenntnistheorie von Ṣadrā deutlich zum Ausdruck gebracht. Chittick betont: »Mullā Ṣadrā’s primary philosophical project is to map out the path of achieving the soul’s perfection«. 74 Die Vervollkommnung der Seele hänge von dem Grad ihrer Erkenntnis ab, die der Mensch in Ṣadrās Philosophie als seine Aufgabe verstehen muß, die daraus besteht, die Dinge so zu betrachten, wie sie wirklich sind. Chitticks Analyse der Perzeption in Ṣadrās Verständnis führt zu dem Schluß, daß der Vervollkommnungsprozeß der Seele die Aktualisierung ihres »unlimited potential to know« ist. Diese Potentialität der Seele trägt die Möglichkeit der Perzeption allerdings in allen Stufen der »formal existence« in sich. 75 Um ein Mensch zu werden, müsse der Mensch nach einer Erkenntnis seiner selbst streben, die sein Menschsein steigere. Denn »the fullness of being is identical with the fullness of selfawarness«. 76 Diese Beziehung zwischen Erkenntnis und Perfektion ist eine notwendige Folge der Idee des sogenannten taškīk al-wuǧūd, was man – wie weiter unten erklärt wird – mit »Äquivozität der Existenz« übersetzen kann 77 und was, wie Ziais Untersuchung zeigt, von Suhrawardīs Epistemologie und Lichtäquivozität beeinflußt ist. 78 Sie sei die Abkehr von aristotelischer und avicennischer Methodologie. 79 Daraus geht deutlich hervor, daß Ṣadrās Analogie zwischen Licht und Existenz einerseits und die Äquivozitität der Existenz andererseits die Vorstellung von einer »evolutionären Epistemologie« unverzichtbar machen. Vor allem eine wichtige Arbeit zu Ṣadrās Philosophie wollen wir hier nicht unerwähnt lassen: Fazlur Rahmans Untersuchung des philosophischen Systems Ṣadrās ist ein Werk, das kurz vor der iranischen Revolution von 1979 veröffentlicht wurde. 80 Sein Buch ist eine kritische Siehe Chittick, William: On the Teleology of Perception, in: Safavi, G. (Hrsg. 2002): Perception According to Mullā Ṣadrā. London, S. 221. 75 Ebd., S. 239. 76 Chittick, The Partinence, S. 531, 524. 77 Siehe Anm. 89. 78 Vgl. Ziai, Hossein: Ṣadr al-Muta allihīn and the Question of Knowing and Being, in: ʾ Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. IV. Mullā Ṣadrā and Comparative Studies, S. 191–222. Mit dem Verhältnis von Erkenntnis und Licht und Existenz beschäftigt sich Ziai, Hossein (1990): Knowledge and Illumination. A Study of Suhrawardī’s Ḥikmat al-ishrāq. Atlanta, Georgia. 79 Vgl. Ziai, Ṣadr al-Mutaʾ allihīn, S. 205 f. 80 Vgl. Rahman, The Philosophy. 74

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und analytische Studie zu Mullā Ṣadrā, die heute immer noch als Standardwerk betrachtet wird. Er konzentriert sich hauptsächlich auf Ṣadrās Hauptwerk »al-Asfār«, weil es ihm »highly original« erscheint. 81 Dieses Werk reflektiert für Rahman am ausgeprägtesten die Ideen Ṣadrās. 82 Rahman hebt »al-Asfār« als einen philosophischen Versuch hervor, der die Fortsetzung der Philosophie nach al-Ġazālī in der islamischen Welt bedeutet. Rahmans Buch folgt inhaltlich den Strukturen von »al-Asfār«, wobei er den zweiten Band außer acht läßt. Rahman erwähnt in seinem Werk kaum andere Forschungen (er nennt beiläufig nur Corbin und Horten) und sieht daher seinen Versuch als den ersten, der dem philosophischen Sinn von Ṣadrās Werk gerecht werden könne. Rahman hält es nicht für angebracht, Ṣadrās Philosophie den Vorwurf des Eklektizismus zu machen, weil gerade in dieser eklektizistischen Art das besondere Charakteristikum seiner Philosophie, ja seine Originalität liege. Rahman sieht in Ṣadrās Werk den Versuch, zwei unterschiedliche Vorgehensweisen der Wahrheitsfindung miteinander zu verbinden, weshalb es als ein philosophischer Versuch gesehen werden sollte. Es geht nämlich um den kognitiven Inhalt von philosophischer und mystischer Wahrheitsfindung, zu der Rahman als Vergleich Henry Bergson heranzieht. 83 Denn Ṣadrā lehnt es ab, daß man Erkenntnisse rein kognitiv (rational) ohne philosophische Betrachtung und vom Intellekt gesteuerte Erfassung gewinnen könne. Rahman sucht gerade die philosophische Stärke Ṣadrās darin zu finden, daß er die intuitive Erfahrung nicht als Hindernis der intellektuellen Anschauung sieht, sondern als eine positive und konstruktive Form von formaler Vernunft. Rahman zeigt die Gemeinsamkeiten, die Ṣadrās Philosophie mit der seiner Vorgänger aufweist, aber auch die Aspekte seiner Philosophie, die ihn von Ibn ʿArabī, Suhrawardī und Ibn Sīnā unterscheiden, denen Ṣadrā kritisch gegenübersteht. Er zeigt auch, daß diese Vereinigung der unterschiedlichen geistigen Strömungen eine Art neuen Diskurs eröffnet, der zur Entstehung neuer Vorstellungen beigetragen hat, auch wenn diese nicht kritisch verfolgt wurden. »Ṣadrās master stroke lies in combining these two ideas closely by perceiving their fuller implications for each other and making them yield his unique doctrine of the motion-in-substance: 81 82 83

Ebd., S. vii. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 4 f.

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Einleitung

existence moves continuously and successively through higher and higher forms or evolutionary ›modes‹ of being, culminating in the Perfect Man.« 84 Rahmans Untersuchung ist die Grundlage für zahlreiche Untersuchungen Ṣadrās geworden, die sich speziell und kritisch mit seiner Philosophie auseinandersetzen und wie Rahman die Absicht verfolgen, Ṣadrā dem modernen Leser zugänglich zu machen. Alparslan Açikgenç gehört zu der jüngeren Generation der ṢadrāForscher. Sein Verdienst ist es, daß vor allem mit seiner vergleichenden Studie zu Mullā Ṣadrās und Heideggers Existenztheorie die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Dialogs mit der abendländischen Philosophie demonstriert wurde. 85 Er ist ein Schüler Fazlur Rahmans und in seiner Laufbahn von dem existentialistischen und phänomenologischen Geist beeinflußt. Interessant ist für unseren Zweck, daß seine Untersuchung die Aspekte von Ṣadrās Philosophie berücksichtigt, die für die Idee der Perfektibilität von Bedeutung sind. Açikgençs Gegenstand der Untersuchung ist die Existenz im engen Sinne, wobei er Ṣadrā und Heidegger miteinander verbindet. Es geht ihm um den Begriff des Seins und die Erkenntnis der Existenz. In diesem Sinne werden beide Philosophen, trotz der kulturellen und methodischen Unterschiede zwischen ihnen, zu den Existentialisten gezählt. 86 Açikgenç bezeichnet Mullā Ṣadrā als den ersten islamischen Philosophen, auf den im wahren Sinne die Bezeichnung »Existentialist« zutrifft. Das Besondere an Ṣadrās Philosophie, worauf Açikgenç Wert legt, ist die Bedeutung der Individualität der Existenz, die als Konsequenz einer solchen Existenzphilosophie betrachtet werden könne. 87 Eine weitere Folge dieser Philosophie ist die Erkenntnistheorie. Die Erkenntnis der individuellen Existenz hängt von der Erkenntnis der Existenz per se ab. In Ṣadrās Philosophie ist die Existenz die einzige Wirklichkeit, die tatsächlich existiert. 88 Ebenso hängen davon die Psychologie, die Ethik, die Anthropologie und andere wichtige moralische und gesellschaftliche Aspekte der Existenz ab. Ebd., S. 12. Siehe Açikgenç, Alparslan (1993): Being and Existence in Ṣadrā and Heiddegger. A Comparative Ontology. Kuala Lumpur. 86 Ebd., S. 6 f. 87 Die gesellschaftsphilosophische Folge der modernen existentialistischen Bewegung sieht Açikgenç ebenso als eine unvermeidbare Entwicklung der Existenzphilosophie. Ebd., S. 6 ff. 88 Siehe aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 39. 84 85

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Denn alles Existierende ist für Ṣadrā auch in unterschiedlicher Erscheinungsweise ein und dieselbe Existenz. Dieser Aspekt der Existenz, der in der Philosophie Ṣadrās dem Prinzip »Äquivozität der Existenz« (taškīk al-wuǧūd) entspringt, ist eine seiner zentralen Thesen, die unseres Erachtens mit der Idee der Perfektibilität einhergeht. Die menschliche Existenz ist in diesem Sinne von einer bestimmten Form der Existenzerscheinung abhängig und, wie Açikgenç zu Recht betont, abhängig von »his will to elevate his Being to ever higher modes of existence«. 89 Açikgenç ist der Auffassung, daß das Prinzip der »Äquivozität der Existenz«, besser formuliert: die »Vielschichtigkeit des Seins« 90 einen der zentralen Unterschiede zwischen Heideggers und Ṣadrās Existenzphilosophie erkennen läßt. Heideggers »Hermeneutik« und Ṣadrās »Äquivozität der Existenz« kennzeichnen für Açikgenç eine Differenz in »existential Açikgenç, Being and Existence, S. 44. Der Begriff taškīk hat zwei Bedeutungen: 1.) die des Zweifelns, des Skeptizismus und 2.) die der Serie, der Reihe, der Graduierung. Das Existierende ordnet sich in der Hierarchie der Welten, die Ausdruck der Intensität des Seinsaktes sind. Gleichzeitig verleiht der Seinsakt den Dingen Wirklichkeit und entzieht diese Wirklichkeit den Dingen auch wieder. Damit zieht er die Wirklichkeit dieser provisorischen Stationen immer wieder in Zweifel. Corbin bezeichnet diese Bewegung des In-Zweifel-Ziehens als eine Unruhe. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 164. Açikgenç, und so auch Fazlur Rahman, übersetzt taškīk als »systematic ambiguity«. Ebd., S. 129. Auch Muhammad Kamal übernimmt diese Übersetzung. Siehe Kamal, Muhammad (2006): Mullā Ṣadrā’s Transcendent Philosophy. Ashgate, S. 64 ff. Gemeint ist damit die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Existenz, wofür ebenso der Begriff »Äquivozität« im Sinne von Johannes Duns Scotus zutreffend ist. Im logischen und philosophischen Sinne bedeutet der Begriff Äquivokation, das Gegenteil von Univokation. Siehe dazu Honnenfelder, Ludger (21989): Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus. Münster, S. 268 ff. Taškīk verwendet Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī, indem er die Vielfalt, die Relationen der unterschiedlichen Existenzstufen, die Besonderheiten des Existierenden, die Verhältnisse bezüglich der Kausalität, der Substanz und den Akzidentien, aber auch bezüglich der Begriffe zum Ausdruck bringen will. Gemeint ist damit eine semantische Ausdrucksweise, die einen Begriff in seinen verschiedenen Erscheinungen umfaßt, wie den Begriff »Licht« für das Licht der Sonne, des Mondes und der Lampe. Siehe dazu aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 36, 423–446. Siehe ebenso Ḥāʾ irī Yazdī, Mahdī (21360/1981): Kāwišhā-yi ʿ aql-i naẓarī. Teheran, S. 71 ff. Wir verstehen darunter einen Begriff des Seins, der bei Gott und anderen Wesen univok angewandt werden kann. Das bedeutet, daß das Sein trotz unterschiedlicher Ausprägungen und Erscheinungsweisen (auch von seiner Essenz her) dieselbe Bedeutung für die gesamte Existenz hat. Die Unterschiede machen sich nur durch ihre Art und Weise der Erscheinung und Entwicklung bemerkbar. Daher sind wir der Auffassung, daß wir es mit einem Begriff zu tun haben, welcher die Pluralität und Vielschichtigkeit der Existenz und damit die Vielfältigkeit der Existenz darstellt. 89 90

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Einleitung

characterization«. Açikgenç hält zugleich Ṣadrās Ausführungen, um die Einheit der Existenz mit der Vielschichtigkeit der Existenz in Einklang zu bringen, für unzureichend. 91 Wir werden zeigen, daß der sadraische Existenzbegriff die Frage nach der Einheit durch die nach der Vielschichtigkeit und Pluralität der Existenz erweitert. Die Idee des Primats der Existenz (aṣālat al-wuǧūd) bei Ṣadrā, in der Weise, wie er sie vertritt, und seine radikale Ablehnung des Primats der Essenz (aṣālat almāhīya) begünstigen die Vorstellung, daß die Existenz trotz ihrer Einheit und Einfachheit in einer dynamischen Vielschichtigkeit des Lebensprozesses begriffen ist. Die essentialistische Vorstellung würde dagegen die existentielle Entwicklung von festen unveränderbaren Archetypen abhängig machen, was dem sadraischen Konzept von der Individualität des Seins einerseits und der dynamischen Einheit der Existenz andererseits widerspricht. Die Dynamik der Existenz ruft daher eine weitere konzeptionelle Konsequenz hervor. Die substantielle Bewegung (al-ḥaraka al-ǧauharīya) wurde zum ersten Mal zum festen und unverzichtbaren Bestandteil seines philosophischen Systems. Dieser Gedanke spielt insofern für unsere Arbeit eine wichtige Rolle, als wir zeigen werden, daß sie die Idee der Perfektibiliät zu einer unverzichtbaren Konsequenz der Existenzphilosophie Ṣadrās macht. Denn sie stellt einen unverzichtbaren Bestandteil der menschlichen Existenzerfahrung dar. 92 Hier sollen die Aufsätze von John F. Quinn und Ernest Wolf-Gazo erwähnt werden. 93 Beide stellen in ihrer Untersuchung Ṣadrās Existenzphilosophie als eine Prozeßphilosophie dar, nach der die menschliche Erfahrung im Seinsprozeß begriffen ist. Quinn ist sich der Differenz zwischen dem westlichen Weltverständnis und dem von Açikgenç, Being and Existence, S. 132. Açikgenç vertritt die Auffassung, daß Nietzsches Idee des »Übermenschen« eine natürliche Folge seiner Betrachtung des individuellen Selbst »at the level of manifesting individual existence« und seiner Kritik der modernen technischen Lebensart ist. Siehe ebd., S. 5. 93 Vgl. Quinn, John F.: Mullā Ṣadrā’s Theocentrism and Trans-Substantial Motion. A Critique of Western Cosmology, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. III. Mullā Ṣadrā and Comparative Studies, S. 273–294; Wolf-Gazo, Ernest: The Transformation of Substance in Whitehead and Ṣadrā, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. III. Mullā Ṣadrā and Comparative Studies, S. 255–272. 91 92

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Ṣadrā bewußt, versteht aber, anders akzentuiert als bei Wolf-Gazo, die substantielle Bewegung als treibende Kraft in der Welt und im Menschen als eine individuelle Existenzerfahrung zur Vervollkommnung. 94 Açikgenç stellt in seiner Untersuchung die spezifische Bedeutung der Existenz in Ṣadrās Philosophie heraus, was wir als einen wichtigen Ansatz für die Entwicklung der Idee des vollkommenen Menschen betrachten. Das hat vor allem damit zu tun, dass er besonders deutlich auf die dynamische Funktion der Existenz aufmerksam gemacht hat, ohne die Idee der Perfektibilität zu seinem Thema zu machen. 95 Die Idee der Vollkommenheit ist und bleibt daher der wichtigste Aspekt einer Existenzphilosophie im Sinne Mullā Ṣadrās, mit der die Frage des Menschenbildes und der Erkenntnis neu gestellt werden muß. Açikgençs Studie läßt die Frage offen, ob die Existenzphilosophie Ṣadrās die Grundlage eines neuen Existentialismus liefert, die der ethischen, epistemologischen und anthropologischen Tradition neue Bedeutung verleiht. Açikgenç ist der Meinung, daß sich eine solche neue Entwicklung in der abendländischen Tradition durch den modernen humanistischen Existentialismus bemerkbar mache. 96 Hier wird die Hypothese vertreten, daß Ṣadrās Existenzphilosophie die notwendigen philosophischen Grundgedanken anbietet, mit welchen die spirituelle, geistige, religiöse, ethische und persönliche Erfahrung neu überdacht werden muß. 97 Die enge Beziehung von Existenz und Mensch einerseits und Vgl. Quinn, Mullā Ṣadrā’s Theocentrism, S. 282. Açikgenç, Being and Existence, S. 129 ff. 96 Wir möchten hier allerdings darauf hinweisen, daß gerade Menschen, die in den Nationalsozialismus involviert waren, Kritik am bisherigen Begriff des Humanismus üben, wie Heidegger es getan hat, weil für ihn der Maßstab an den klassischen Humanismus nicht hoch genug angesetzt worden war, wie er argumentiert. Heidegger ist der Ansicht, daß die wahre Humanität mit der Seinszuwendung herstellbar sei. Siehe dazu Wolters, Gereon: Parkwächter? – eine philosophische Nachlese zur sogenannten Sloterdijk-Debatte, in: Kubli u. Reichardt, Die Perfektionierung, S. 167–188. In Anschluß an Heideggers Kritik am Humanismus hat sich Sloterdijk für die Formulierung eines »Codex der Anthropotechniken« für die neue Art der Menschenzähmung stark gemacht, womit er eine kritische Debatte zur Bioethik provoziert hat. Siehe Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M., S. 45. 97 Açikgenç zeigt mit Hilfe systemtheoretischer Ansätze, daß wir dann von einem philosophischen System sprechen können (was bei Ṣadrā der Fall ist), wenn die Betrachtungen, das Weltverständnis und die entwickelte Doktrin Theorien und Ansätze des sozialen und menschlichen Verhaltens, die als Teilsysteme gesehen werden, nicht ausschließen. Vgl. Açikgenç, Ṣadrā’s Philosophical System, S. 31–54. 94 95

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die Frage nach dem Wissen und Willen des Menschen andererseits macht die Rolle des Menschen als autonomes und selbstkonstituiertes Wesen für die Existenzerfahrung notwendig. Denn der Mensch ist in Ṣadrās Existenzphilosophie durch seine eigene Existenz konstituiert, welche nicht von der Existenz per se zu trennen ist. Der Mensch unterscheidet sich aber hinsichtlich seiner spezifischen Art der Existenz und Aktivität nur durch den Grad der Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Daher vertreten wir hier die These, daß die Existenz per se zwar die Basis für die Kosmologie und Anthropologie in Ṣadrās philosophischem System darstellt, daß aber auch – im Gegensatz zu Açikgenç – in Ṣadrās Philosophie die menschliche Aktivität als die vollendende Kraft des Schöpfungsprozesses als maßgebend anzusehen ist. 98 Die Frage nach der Existenz in Ṣadrās Philosophie ist eine Frage nach der eigentlichen Art des Daseins des Menschen, wobei Selbstbetrachtung und Existenzbetrachtung eine psychologische Betrachtung des Ichs mit sich bringen. Die metaphysische Dimension des Existenzbegriffes, die Açikgenç zu Recht als Unterschied zum »anthropomorphistischen« Aspekt Heideggers betont, 99 ist keineswegs isoliert von der realen Welt zu betrachten. Mit diesem Ansatz nähern wir uns der Feststellung, »the meaning of Being is to be investigated in terms of Being of conscious entities«, 100 mit der Açikgenç Heideggers »eigentliche Existenz« und Ṣadrās Begriff der Existenz zu verbinden sucht. Wir wollen im Gegensatz dazu aber auch zeigen, inwiefern die ontologische Vorstellung Mullā Ṣadrās, trotz einiger Widersprüche, die Frage nach der Existenz in ihrem »eigentlichen« Sinne auf die menschliche Existenz verlagert. Dieser Ansatz relativiert insofern Quinns Ansatz, 101 als daß er Ṣadrās Philosophie als »anthropocentric metaphysics« oder, wie er es selbst nennt, »cosmological theocentrism« und keineswegs als »humanistic universe« betrachtet, so daß wir den theozentrischen Ansatz bei Ṣadrā nicht von seinem Anthropozentrismus trennen wollen. Denn wir werden zeigen, daß die theozentrische Philosophie Ṣadrās ohne eine Erweiterung zu einer anthropozentrischen Vorstellung nicht vollständig ist. Ṣadrās Philosophie wird heute als ein Beispiel für die Kontinuität der theozentrischen Tradition gesehen. Sie versucht, das Açikgenç, Being and Existence, S. 88 f. Ebd., S. 160. 100 Ebd., S. 90. 101 Vgl. Quinn, Mullā Ṣadrā’s Theocentrism, S. 290 f. 98 99

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Leben, dessen Phänomene und den Sinn der Weiterentwicklung bzw. der existentiellen Selbststeigerung des Menschen von ihrem Ursprung, d. h. von der vertikalen Ursache her zu erklären. Aber ob eine solche theozentrische Vorstellung von der Existenz und vom Menschen einen Platz für die Welt und vor allem für die Freiheit des Menschen übrig läßt, ist eine wichtige Frage, der sich der amerikanische Philosoph George F. McLean widmet. Er versucht in einem Aufsatz diese Frage in Anbetracht der Existenzphilosophie Ṣadrās zu beantworten, die für unsere Untersuchung nicht unerheblich ist. 102 Der Mensch war nach McLean in der theozentrischen Sichtweise abwesend, denn »humankind searched in God for its fullfillment«, 103 während der Mensch in der modernen anthropozentrischen Sichtweise auf der Suche nach seinem Platz in der Welt war. Er habe die Existenz durch seine Essenz ersetzt. Doch die Suche nach der Utopie wurde nicht aufgegeben. Dieses Ziel hat der Mensch »not only by subduing and harnessing the physical powers of nature, but by transforming humankind through genetic and social engineering«. 104 McLean versteht zu Recht die existentialistische Philosophie Ṣadrās als eine logische Folge der Abkehr von der essentialistischen Position seiner Vorgänger, und es ist daher kein Wunder, daß die Wesenheit (māhīya) gegenüber der Existenz (wuǧūd) in Ṣadrās Philosophie nur als Begriff anwesend ist. Ṣadrās Existenzphilosophie ist für McLean durch und durch antinihilistisch, denn er räumt dem Nichtsein keinen realen Platz ein. Dagegen steht er vor dem Problem, das Verhältnis der absoluten Existenz zu dem begrenzten und endlichen Existierenden zu erklären, das für die Idee der Freiheit zentral ist. Ṣadrās Abkehr vom Essentialismus ist McLean zufolge die Befreiung der Existenz von der eingegrenzten Essenz. McLean sieht dies als Grund dafür, daß Ṣadrā eine Prozeßphilosophie konzipiert hat. Ähnliche Versuche stellt er bei der modernen Philosophie, wie bei Whiteheads Prozeßphilosophie fest, wobei letzterer befürchtete, »human progress would then be considered marginal rather than central«. Anhänger der Whiteheadschen Prozeßphilosophie haben die Befürchtung, Vgl. McLean, George F.: The Contemporary Significance of Mullā Ṣadrā’s Philosophy of Existence: Islamic and Christian Contributions, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. IV. Mullā Ṣadrā and Comparative Studies, S. 565–584. 103 Ebd., S. 572. 104 Ebd., S. 567. 102

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Einleitung

»God as absolute would not be able to take account of, or be affected by, the heroic struggle and real achievement of people«. Daraus zieht McLean den Schluß: »they think of being as process and of derivation from God similar to a ›particular structure of events‹ … things are particular segments of this continuous process regarded as a particular ›event system‹ for purposes of description«. 105 Von den neuesten Arbeiten über Ṣadrā sollen hier das Buch »Mullā Ṣadrā’s Transcendent Philosophy« von Muhammad Kamal, das Buch »Revelation, Intellectual Intuition and Reason in the Philosophy of Mullā Ṣadrā« von Zailan Moris und nicht zuletzt das Werk »L’acte d’être« von Christian Jambet erwähnt werden. Kamals Untersuchung stützt sich auf die vorherigen Forschungen, vor allem auf die Nasrs und Fazlur Rahmans. Kamals Analyse sucht Paralellen zwischen Ṣadrās und Heideggers Existenzphilosophie, die er ausführlich behandelt. 106 Er spricht von einer »ontologischen Wende« (gemeint ist die Wende vom Wesen zum Sein). Kamal ist der Meinung, daß diese ontologische Wende ohne den Einfluß von Ibn Sīnā und Ibn ʿArabī nicht hätte eintreten können. 107 Er macht ebenso auf die Dialektik des Seins in Ṣadrās Philosophie aufmerksam, indem er sie als eine Abkehr von der neuplatonischen Emanationslehre betrachtet, denn diese beginne beim höchsten Grad des Seins und ende bei seinem niedrigsten Grad. Dies könne aber nicht als Fortschritt bezeichnet werden. In Ṣadrās Prozeßphilosophie sei das Werden des Seins, genau umgekehrt, ein »irreversibles Fortschreiten« (Bewegung) vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Damit spannt der Autor einen Bogen von der sadraischen Bewegungslehre zur dialektischen Bewegung des Geistes zum Absoluten bei Hegel, den wir hier nicht kommentieren wollen. 108 Welche Folge Ṣadrās Philosophie für das Menschenbild hat, kommt in Kamals SchlußfolgeEbd., S. 580. Solchen Vergleichen gegenüber sind manche Experten skeptisch. Hermann Landolt betont die Sicht Corbins, daß Ṣadrā weder mit Heidegger noch mit Darwin oder Einstein verglichen werden sollte. Er sieht in Ṣadrā eine Mischung von Thomas von Aquin und Jacob Böhme. Siehe Landolt, Hermann: Henry Corbin’s Understanding of Mullā Ṣadrā, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. I. Mullā Ṣadrā and Transcendent Philosophy, S. 168. 107 Siehe Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 42. 108 Ebd., S. 1–11, 61 f. 105 106

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rung zu kurz. Er betont, daß Mullā Ṣadrā die Welt nicht als eine Ansammlung ontisch Seiender oder als Behälter dafür begreift, sondern: »Mullā Ṣadrā sees the world as an organic body in which the evolutionary process of trans-substantial change takes place towards perfection.« 109 Er zieht daraus den Schluß, das Ziel des Hauptwerkes Ṣadrās sei: »to move away from the ›darkness of illusion‹ to the daylight of the turn of existence«. 110 Christian Jambet beginnt sogleich mit grundsätzlichen Analysen und dementiert vorab, daß mit dem Begriff der »Identität« das Sein und die Idee des einen Gottes gemeint ist, was bei Ṣadrā mit dem hegelschen Begriff »des absoluten Geistes« vergleichbar sei: 111 Glaubensinhalt ist Wahrheit. Jambet fragt danach, wie Mullā Ṣadrā den Sinn der Offenbarung aufgefaßt hat und wie er die Begründung jeder Wirklichkeit in einem Wirklichen, das eins ist, vermittelt hat. Es geht dem Autor nicht um eine geschichtliche Entwicklung vom Altertum über das Mittelalter zur Neuzeit, sondern um die Beziehung der islamischen Philosophie zur prophetischen Offenbarung der Wahrheit des Wirklichen. 112 Er hebt daher hevor, daß der Islam in Ṣadrās Philosophie eine immanente Ontologie in sich trägt, anders als in der ismailitischen Theologie, in der der Urgrund, nämlich Gott, als eine Wirklichkeit aufgefaßt wird, die jenseits des Seins und des Nicht-Seins liegt. Bei Ṣadrā ist das Sein mit der Urkraft, dem Göttlichen, identisch. 113 Jambet nimmt als Ausgangspunkt seiner Forschung Ṣadrās Hauptwerk »al-Asfār«, wobei er die Aktualität Ṣadrās unter Hinweis auf zahlreiche internationale Kongresse in Teheran betont. Seine philosophische Haltung betrachtet Jambet als eine Art Abschluß, was auch seinen Platz in den geistigen Strömungen der islamischen Philosophie kennzeichnet. Das ist die radikale Neubesinnung gegenüber seinen Vorgängern, die er unter dem Gesichtspunkt der Präeminenz des Seinsaktes deutlich macht. 114 Jambets Untersuchung zeigt den besonderen Charakter der sadraischen Philosophie im Unterschied zu seinen Vorgängern und seinen antiken Vordenkern der aristotelischen Schule. Ṣadrās Philosophie wird vor allem vor dem Hintergrund ihres hermeneutischen Charakters 109 110 111 112 113 114

Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12 f.

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Einleitung

gesehen. Die exegetische Philosophie erfüllt sich in der eschatologischen Metaphysik. Diese Lehre der Bestimmung der Gesamtheit der geschaffenen Existierenden begründet die mystische Psychologie. 115 Ṣadrās Gnosis führt vom wörtlichen Sinn des Textes zum verborgenen Sinn. Ohne diesen hermeneutischen Horizont wäre die ganze Metaphysik sinnlos. 116 Erforscht wird auch die Rolle der individuellen Heilssuche und der Weisheit zur Entdeckung der inneren Wirklichkeit und der Selbstvervollkommnung. Die Idee der Vervollkommnung rückt in Jambets Untersuchung somit in den Mittelpunkt. Vollkommenheit wird verstanden als Praxis der Selbstverwirklichung und der Vertiefung des Selbst. Der Weg, der zur vollkommenen Aktualisierung des Einsehbaren führt, ist das Heil, nicht eine Vorbedingung zum Heil. 117 Jambet sieht Ṣadrās Philosophie daher im Lichte einer Weisheit, die eine Art angewandte Metaphysik ist, wobei er sich stark an Corbin anlehnt. Die Weisheit sei Offenbarung der Wirklichkeit der Dinge, angefangen beim immateriellen Geist bis hin zu den sich fortpflanzenden und sich zersetzenden Wesen. Die Gnosis führt zur Transfiguration des Subjekts (Jambet vergleicht sie mit Foucaults Hermeneutik des Subjekts) von der Diesseitigkeit zum Übernatürlichen. 118 Erwähnt werden soll hier auch Zailan Moris, deren Buch im Jahr 2003 erschienen ist. Ihre Untersuchung beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Werk »al-Ḥikma al-ʿ aršīya« (Die Weisheit über den Gottesthron) von Ṣadrā. Darin sind die Hauptthemen des philosophischen Systems zusammengefaßt, die wir auch mit Ausnahme der Naturphilosophie in Ṣadrās Hauptwerk »al-Asfār« finden können. Das Ziel ihres Buches ist es, die Frage zu beantworten, ob es eine Synthese der Offenbarung, der intellektuellen Intuition und der Vernunft gibt. Die Autorin betont, daß ihre Untersuchung keine philosophische Analyse Mullā Ṣadrās sei; vielmehr handele es sich um eine philosophiehistorische und textkritische Auseinandersetzung mit dem Thema, die sich auf die Untersuchung von Fazlur Rahman stütze. Moris kommt in ihrer Untersuchung zu dem Resultat, daß in Mullā Ṣadrās Philosophie, Ontologie, Psychologie, Epistemologie und Eschatologie in Wechselbeziehung zueinander stehen. Dies entspringt aus der zentralen Lehre Ṣadrās von der 115 116 117 118

Ebd., S. 38. Ebd., S. 34. Ebd., S. 45 f. Ebd., S. 40.

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alleinigen Realität des Seins. 119 Wie Rahman ist sie der Meinung, daß Mullā Ṣadrās Philosophie eine Synthese der Offenbarung und der philosophischen Systeme seiner Vorgänger ist, aber sie betont zugleich, daß damit keineswegs gesagt werden soll, daß Mullā Ṣadrā kein eigenständiger Denker gewesen sei. Vielmehr bestehe Mullā Ṣadrās Leistung in der Verschmelzung der verschiedenen philosophischen Systeme und der Offenbarung zu einem neuen und insofern originellen System, das lange nach ihm und noch bis heute wirke. 120 Die Autorin zeigt, daß Ṣadrās Suche nach der Wahrheit jenseits der Theologie auf seiner eigenen persönlichen Erfahrung beruht. Sie hebt den zentralen Aspekt der Philosophie Ṣadrās hervor, indem sie sagt, daß die Frage nach dem Menschen und seinem Streben nach Vollkommenheit in metaphysischem System Ṣadrās zu suchen sei, da die Psychologie und Epistemologie und damit auch die Frage nach der Individualität nicht von der Metaphysik zu trennen seien. Sie merkt diesbezüglich an, daß, obwohl Mullā Ṣadrās Sichtweise des Seins und der Schöpfung dynamisch sei, seine Evolutionstheorie sich von der modernen Evolutionstheorie unterscheide. Denn in seiner Philosophie werde die individuelle Spezies von ihrem Herrn oder Archetypen, der permanent und unveränderlich ist, beherrscht. 121 Schließlich sollen die beiden führenden Ṣadrā-Kenner mit ein paar Worten zur iranischen Szene vorgestellt werden. Muḥammad Ḫāmanaʾ īsʾ (geb. 1314/1935) und Ğalāl ad-Dīn Aštiyānīsʾ (1925–2005) Arbeiten gehören zu den wichtigsten Untersuchungen schiitischer Gelehrsamkeit, die für Ṣadrās Erforschung im Westen Beachtung gefunden haben. Vor allem muß hier das Buch »Šarḥ-i ḥāl wa ʾ ārāʾ -i falsafī-yi Mullā Ṣadrā« von Aštiyānī erwähnt werden, das neben seinem Buch »Hastī az naẓar-i falsafa wa ʿ irfān« eine vollständige und vertiefte Analyse der Existenzphilosophie Ṣadrās bietet. 122 Muḥammad Ḫāmanaʾ ī ist der Herausgeber der Zeitschrift »Ḫiradnāma-yi Ṣadrā«, eines philosophischen Forums, in dem man sich mit Ṣadrā und seiner philosophischen Tradition im Islam auseinandersetzt. Zum Leben und Werk Mullā Ṣadrās hat er zudem das Buch »Mullā Ṣadrā. Zindagī, šaḫṣīyat wa 119 Moris, Zailan (2003): Revelation, Intellectual Intuition and Reason in the Philosophy of Mullā Ṣadrā. An Analysis of the al-Hikmah al-ʿArshiyyah. London u. a., S. 114 ff. 120 Ebd., S. 116 ff. 121 Ebd., S. 123. 122 Siehe Āštiyānī, Ğalāl ad-Dīn (31378/1999): Šarḥ-i ḥāl wa ārāʾ -i falsafī-yi Mullā Ṣadrā. Ghom; ders. (31376/1997): Hastī az naẓar-i falsafa wa ʿ irfān. Ghom.

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Einleitung

maktab-i Ṣadr al-Mutaʾ allihīn« veröffentlicht 123 und kürzlich das Buch »Mullā Ṣadrā. Hirminūtīk wa fahm-i kalām-i ilāhī« verfaßt. 124 Außerdem hat er bei der Herausgabe der zwölfbändigen Publikation: »The World Congress on Mullā Ṣadrā«, die sich in Zusammenarbeit mit zahlreichen interessierten Ṣadrā-Forschern aus aller Welt entwickelt hat, stark mitgewirkt. 125

III. Die Idee der Perfektibilität in der Forschung Im Anschluß an unsere einleitenden inhaltlichen Feststellungen und Überlegungen sollen Publikationen vorgestellt werden, die sich mit der Idee der Perfektibilität im Islam auseinandersetzen. Bis hierher wurde versucht, die Diskussion menschlicher Perfektibilität vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für das moderne Menschenbild nachzuzeichnen. Die Frage der Perfektibilität des Menschen wird in der islamischen Welt zur Zeit selten diskutiert, am wenisten vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für das moderne Menschenbild. Auch im Westen zeigt man kaum Interesse für die Idee der Perfektion im Islam aus philosophischer Sicht. 126 Vielmehr stehen der historische Hintergrund und die traditionellen mystischen Lehren vom »perfekten Menschen« (al-insān al-kāmil) im Vordergrund, wie sie vor allem Ibn ʿArabī und seine Interpreten formuliert haben. Bei einer näheren Betrachtung der bisherigen Untersuchungen kann man feststellen, daß die Idee der Vollkommenheit im Rahmen einer philosophischen Disziplin im islamischen Kulturkreis Siehe Ḫāmanaʾ ī, Muḥammad (1379/2000): Mullā Ṣadrā. Zindagī, šaḫṣīyat wa maktab-i Ṣadr al-Mutaʾ allihīn. Bd. I. Teheran. 124 Siehe Ḫāmana ī, Muḥammad (1385/2006): Mullā Ṣadrā. Hirminūtīk wa fahm-i kaʾ lām-i ilāhī. Teheran. 125 Siehe dazu Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. I-X. 126 Es gibt Versuche, anhand der abendländischen Mystiker die Vollkommenheitsfrage im Zusammenhang von Gottesbild und Menschenbild darzustellen. Siehe bspw. Benz, Ernst (1937): Der vollkommene Mensch nach Jacob Boehme. Stuttgart. Darüber hinaus möchte ich hier auf ein Werk aufmerksam machen, das sich mit der Philosophie der Vollkommenheit beschäftigt. Siehe Ingrisch, Hugo (1978): Philosophie der Vollkommenheit. Philosophie als Erkennen. Bd. I. Salzburg; ders. (1980): Philosophie der Vollkommenheit. Philosophie des Wertens. Bd. II. Salzburg; ders. (1983): Philosophie der Vollkommenheit. Die praktische Philosophie als Ergebnis der theoretischen. Bd. III. Graz. 123

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selten als Problem behandelt wurde, weder der theoretischen noch der praktischen Philosophie, sondern vorwiegend als mystisch-theologische Weltanschauung oder im Kontext der religiösen Morallehre. Hinzu kommt, daß die Frage der Perfektibilität im Zusammenhang mit der Idee des perfekten Menschen und vor allem mit Ibn ʿArabīs Vorstellung davon behandelt wird. Anhand einiger Untersuchungen, die sich mit Ibn ʿArabī befassen, kann man sowohl im Westen als auch im islamischen Raum eine deutliche Tendenz dahingehend beobachten, einerseits die Perfektionsfrage mit der Frage des Mensch-Gott-Verhältnisses und andererseits anthropomorphistische Vorstellungen mit einer monistischen Existenzvorstellung zu verbinden. Somit bleibt die Idee des perfekten Menschen im Islam weitgehend eine Frage der Begrifflichkeit aus einer mystischen Sichtweise. Selten sind philosophisch-anthropologische Ansätze erkennbar, die wir hier an einigen Beispielen kurz darstellen wollen. Hierzu ist die Arbeit von Yaḥyā Kabīr von der Universität Teheran zu erwähnen, die er kürzlich mit dem Titel »Anthropologie (der perfekte Mensch): In der mystisch-philosophischen Schule von Ṣāʾ in ad-Dīn Ibn Turka« veröffentlicht hat. Er verfolgt dort die Fortführung der Idee des perfekten Menschen von Ibn ʿArabī und die Idee der »Wirklichkeit Muḥammads« als perfektes Abbild der göttlichen Attribute und Namen in der islamischen Tradition. 127 Kabīr vertritt die Meinung, daß das Menschenbild im Islam mit der Idee des perfekten Menschen sehr eng verbunden sei, wie er aus den Werken eines der bedeutendsten Verbreiter von Ibn ʿArabīs Mystik, Ṣāʾ in ad-Dīn Ibn Turka (gest. 1427), folgert. Der perfekte Mensch wird als »Sinn des Lebens« und als das Entwicklungsziel des Lebensprozesses verstanden. Die Perfektibilität ist z. B. nach seiner Auffassung nicht auf Männer beschränkt, denn das Kriterium der Perfektion sei das Menschsein und die Verkörperlichung der göttlichen Gestalt, nicht der Männlichkeit. 128 Hier ist zu bemerken, daß Kabīr, wie Corbin und Nasr auch, Ibn Turkas Einfluß als einen der wichtigsten Faktoren auf das philosophische Denken Mullā Ṣadrās sieht. 129 Diese geistige Verbindung zwischen Ibn ʿArabīs Mystik und 127

Siehe Kabīr, Yaḥyā (1384/2005): Insānšināsī (insān-i kāmil). Dār maktab-i falsafī-

ʿ irfānī-yi Ṣāʾ in ad-Dīn Ibn Turka. Ghom.

Ebd., S. 2. Siehe Kabīr, Insānšināsī, S. 4, 87; siehe ebenso Corbin, Henry (1990): L’Iran et la Philosophie. Paris, S. 89; ders., History of Islamic Philosophy , S. 292. 128 129

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Mullā Ṣadrās Transzendentalphilosophie wird in den Werken Henry Corbins nur andeutungsweise aufgezeigt. 130 Corbin sieht neben Ibn ʿArabīs Gedankenwelt vor allem die starke Beteiligung der illuministischen Schule Šihāb ad-Dīn Suhrawardīs auf die Entwicklung der geistigen Schule von Isfahan. Das Buch »Die smaragdene Vision. Der LichtMensch im persischen Sufismus« ist, auch wenn hier selten der Begriff des »perfekten Menschen« fällt, eine Studie, in der sich Corbin vertieft mit der Eigenart der illuministischen Philosophie zur Idee des Menschen in seiner besonderen Art beschäftigt. 131 Auf den »perfekten Menschen« (Anthropos teleios) und dessen Bedeutung in der islamischen Tradition geht er am Rande seiner Arbeit ein. 132 Die besondere Relevanz der Idee der Perfektion für ein islamisches Menschenbild können wir in der Untersuchung von Masataka Takeshita finden. 133 Diese Untersuchung hat stark historische Züge und geht auf den geistigen Einfluß der theologischen Tradition im Islam auf das Denken Ibn ʿArabīs ein. 134 Abdul Ela Affifi, ein ägyptischer Ibn ʿArabīForscher an der Universität Alexandria, versucht stärker den philosophischen Aspekt des Menschenbildes zu betonen und diesen Aspekt angesichts von Ibn ʿArabīs Vorstellung vom perfekten Menschen zu untersuchen. 135 Dagegen betont Hossein Nasr die mystische und kosmische Bedeutung der Idee des perfekten Menschen Ibn ʿArabīs und stellt die spezifische Rolle des perfekten Menschen für ein Menschenbild in der islamischen Mystik dar. 136 Obwohl er wie Corbin die besondere Rolle zum einen der mystischen Schule Ibn ʿArabīs und zum anderen der illuministischen Vorstellung Suhrawardīs in der sadraischen »Transzendentalphilosophie« betont, läßt sich doch in seiner UnterSiehe Corbin, Henry (1969): Creative Imagination in the Sufism of Ibn ʿArabī. Übers. v. Ralph Manheim. Princeton, S. 23. 131 Siehe Corbin, Henry (1989): Die smaragdene Vision. Der Licht-Mensch im persischen Sufismus. Aus dem Französischen übertragen und hrsg. v. Annemarie Schimmel. München. 132 Ebd., S. 131 ff. 133 Masataka Takeshita ist Professor an der »Graduate School of Humanities and Sociology, Faculty of Letter Division of Asian Studies Islamic Studies« in Japan. 134 Siehe Takeshita, Masataka (1987): Ibn Arabī’s Theory of the Perfect Man and its ʿ Place in the History of Islamic Thought. Tokio. 135 Siehe Affifi, Abdul Ela (1974): The Mystical Philosophy of Muḥyid Dīn-Ibnul ʿArabī. Cambridge. 136 Siehe Nasr, Hossein (1976): Three Muslim Sages. Avicenna, Suhrawardī, Ibn ʿArabī. New York, S. 110 ff. 130

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suchung keine eindeutige Verbindung zur Entwicklung der Idee des perfekten Menschen in Ṣadrās Philosophie feststellen. Ebenso fehlt die philosophische anthropologische Bedeutung der Idee der Perfektion, mit der sich der amerikanische Mystikkenner William Chittick, in seinen Untersuchungen über Ibn ʿArabī auseinandergesetzt hat. Als Beispiel sei hier auf sein Buch »Imaginal Worlds« verwiesen. Chittick zeigt anhand von Ibn ʿArabīs Vorstellung von der Perfektibilität und der imaginativen Erkenntniswelt (d. h. der schöpferischen Erkenntniskraft der imaginativen Welt) eine zwingende Beziehung zwischen dem kosmischen Wirken und dem menschlichen Wesen einerseits und der Erlangung der wahren Erkenntnis andererseits. Die imaginative Welt ist die Zwischenwelt, in der eine Erkenntniskorrespondenz zwischen der sichtbaren und der transzendentalen Welt ermöglicht wird. Ohne diese imaginative Kraft kann weder die Vervollkommnung des Menschen noch die perfekte Erkenntnis zustande kommen. 137 Die imaginative Welt ist auch eine Erklärung für die Veränderungen in der Welt, denn die wahre Welt ist unveränderbar. Chitticks Untersuchung zeigt, daß der Vervollkommnungsprozeß in enger Verbindung mit dem kosmischen Geschehen steht. Alles, was in der Welt existiert, ist reine »Illusion« (ḫayāl), denn nur das Vollkommene ist wahr und nur der Vollkommene sieht das wahre Leben und besitzt Erkenntnisse. 138 Die Veränderungen und die Perfektionierung können dann in diesem Sinne bedeuten, daß der Mensch im kosmischen Geschehen eine Aufgabe übernimmt. »Everything other than the Essence of God stands in the station of transmutation, speedy and slow. Everything other than the Essence of God is intervening imagination and vanishing shadow, … undergoing transformation from form to form constantly and forever.« 139 Die Perfektion ist die Enthüllung der Wahrheit und die Auslöschung der imaginativen Welt. 140 Noch konzentrierter und umfassender als Chitticks Darstellung scheint mir die Untersuchung von Toshihiko Izutsu (gest. 1993), einem der führenden japanischen Orientalisten. In einer vergleichenden StuChittick, Imaginal Worlds. Ähnliche Untersuchungen im Zusammenhang mit ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī, einem bedeutenden Interpreten der mystischen Gedanken von Ibn ʿArabī, liefert der bekannte Sufikenner Reynold A. Nicholson. Siehe dazu Nicholson, Reynold A. (1978): Studies in Islamic Mysticism. Cambridge/London u. a. 139 Chittick, Imaginal Worlds, S. 28. 140 Ebd., S. 20–29. 137 138

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die läßt er sich auf die metahistorische Bedeutung der Idee der Perfektion aus der Sicht Ibn ʿArabīs und Lao-Tzŭs und Chuang Tzŭs ein. Ein solcher Vergleich erzeugt einen interkulturellen Dialog, wie Izutsu bereits in seiner Einleitung betont. Obwohl ihm klar ist, daß es sich hier um zwei unterschiedliche Weltsichten handelt, die kulturell weit voneinander entfernt sind, ist Izutsu der Meinung, daß zwischen dem sufischen Islam und der taoistischen Lehre gemeinsame Angelpunkte und Grundstrukturen zu erkennen sind. Tao und seine Präsenz in der Welt der Vielfalt seien vergleichbar mit dem sufischen Begriff »Ḥaqq« (göttliche Wahrheit) und ihrer Manifestation (taǧallī) in der Welt des Möglichen und »shĕng jĕn« (geheiligter Mensch) bzw. »chĕn jĕn« (wahrer Mensch) mit dem perfekten Menschen (al-insān al-kāmil). 141 Die »Erfahrung der Existenz« und nicht die »Existenzbegründung« ist nach Izutsu die zentrale philosophische Botschaft in beiden Weltsichten der Perfektibilität. Diese Erfahrung findet auf eine »supra-sensible« Weise statt und ist mehrschichtig. 142 Sie kann jedoch, wie auch Chittick betont, durch den perfekten Menschen geschehen. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Menschen kann der perfekte Mensch die wahre Existenz als wahre Realität erkennen. Der gewöhnliche Mensch befindet sich in der Welt der reinen Illusion, denn er könne die Strukturen nicht durchbrechen und nicht in die Welt des »Chaos«, frei von jeglichen Strukturen der weltlichen Dinge, eintreten. Wichtig ist für Izutsu, daß hier eine »philosophische Vision der Existenz« als besondere spirituelle Art zu beobachten ist. 143 Wichtig erscheint jedoch der psychologische Aspekt der Idee der Perfektibilität in der spirituellen Weltsicht, den Izutsu in seiner Untersuchung nur am Rande angedeutet hat. Der Prozeß des »Entwerdens« (fanāʾ ) bedeutet nicht die völlige Auslöschung des Ichs. Der Mensch verliert zwar die Scheinwelt, gewinnt durch das »Selbst-Entwerden« jedoch ein neues Leben, eine neue Realität bzw. ein neues Selbst. Das ist sein eigenes Ich »in the very midst of the Divine Essence«. 144 Der Mensch verabsolutiert sich durch seine Perfektionierung. 145 Die Perfektibilität ermöglicht diese existentielle Selbsterleuchtung bzw. Selbsttranszendenz und damit den Anspruch auf eine perfek141 Vgl. Izutsu, Toshihiko (1983): Sufism and Taoism. A Comparative Study of Key Philosophical Concepts. London/Berkeley, S. 1–4. 142 Ebd., S. 479. 143 Ebd., S. 478. 144 Ebd., S. 476. 145 Ebd., S. 227.

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te Erkenntnis der Dinge. In der Selbsterkenntnis kann der Mensch den wahren Kern seines Wesens erkennen. 146 Der evolutionäre Charakter der Idee der Perfektibilität ist ein fruchtbarer Ansatz, dem sich der pakistanische Mystikforscher Khalifa Abdul Hakim in seiner Untersuchung zu dem islamischen Dichtermystiker Ğalāl ad-Dīn ar-Rūmī widmet. Durch den Vergleich vor allem mit antiken und neuplatonischen Vorstellungen, aber auch mit der darwinistischen Lehre, zeigt der Autor, daß die Idee der Perfektibilität in den Werken ar-Rūmīs eine eigene und in der islamischen Tradition zu begreifende ist. Für Hakim steht die Idee der Personalität in einer engen Beziehung mit der Idee der Perfektion. 147 Die Fortsetzung und Radikaliserung dieses evolutionären Menschenbildes, wie wir es später bei ʿAzīz ad-Dīn Nasafī und in der sadraischen Schule beobachten können, werden in seiner Untersuchung nicht erwähnt. 148 Auf eine andere Art beschäftigt sich Hans Heinrich Schaeder in einem langen Aufsatz mit der Frage der Herkunft der Idee des vollkommenen Menschen im Islam. Er sucht sie zunächst in der iranischen Kultur, genauer gesagt in der hellenistisch-aramäisch-iranischen Gesamtkultur, die er als eine »magische Kultur« bezeichnet. Er führt die Idee des perfekten Menschen auf die mythologische Vorstellung einer vorislamischen Zeit vom »Ur-Menschen« zurück. Dieser Ur-Mensch wurde in einer rein »kosmologischen«, nicht aber, wie in der hellenistischen Periode, religiösen bzw. soteriologischen Funktion begriffen, wie Scheader betont. 149 Mit Ibn ʿArabī soll dann diese Idee des perfekten Menschen in ihrer gnostischen Prägung zu einem geistigen System geworden sein, das der »gnostischen Prophetologie« im Islam einen eigenen Stellenwert gab und an die schiitische »Imamgnosis« anknüpfte. Was für Schaeder in Ibn ʿArabīs Denken als Besonderheit erscheint, ist die Loslösung der Idee des perfekten Menschen von der Person Muḥammads. Ibn ʿArabī stellt sie nach Schaeders Auffassung »in ganz all-

146 Die Erkenntnis wird als ein wichtiger Aspekt in der mystischen Vorstellung im Islam gesehen, die die Beziehung von Gott und Mensch und seine Fähigkeit darstellt. Siehe dazu die Ansichten Louis Massignons in Nicholson, The Idea of Personality, S. 31 ff. 147 Siehe dazu Khalifa, Abdul Hakim (1933): The Metaphysics of Rumi. A critical and historical sketch. Lahore, S. 27–35. 148 Ebd., S. 72–88. 149 Schaeder, Hans Heinrich: Die islamische Lehre vom vollkommenen Menschen, ihre Herkunft und dichterische Gestaltung, in: ZDMG 79 (1925) 4, Leipzig, S. 204.

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gemeiner Fassung an die Spitze seines Systems«. 150 Schaeder verfolgt in seiner Untersuchung die nachfolgenden Wirkungen der Idee des vollkommenen Menschen in der persischen Lyrik und Geisteswelt, welche von den großen Dichtermystikern wie Ǧāmī, Ḥāfiẓ, Ğalāl ad-Dīn Rūmī und Maḥmūd Šabistarī (gest. 1321) getragen wurde. Der evolutionäre Seinsprozeß und die Einheit der Existenz sind die wichtigsten Themen der Gedichte Maḥmūd Šabistarīs, von dem auch Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī beeinflußt war. Ḥusain Razmǧū beschäftigt sich in seiner Dissertation mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Bedeutung der Idee der Perfektion in der klassischen mythologischen persischen Literatur und mystischen Tradition. Er legt besondere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Perfektion für die Idealität des Selbstbildes des Menschen, die in beiden Traditionen sichtbar wird. Die Suche nach dem ewigen Leben und die Selbstaktualisierung als vollkommene Person stellen die wichtigen Ziele dar, die die Idee der Perfektibilität zum besonderen Merkmal für ein ideales Menschenbild machen. 151 Manche modernen islamischen Denker stellen die anthropologische Bedeutung des perfekten Menschen in seiner soziokulturellen Rolle im Hinblick auf sein politisches, weltanschauliches und religiöses Umfeld dar. Oft sind solche Arbeiten in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Humanismus und der marxistischen Idee des »totalen Menschen« entstanden. 152 Andere dagegen haben die religiöse Sphäre nie verlassen, obwohl sie sich mit den unterschiedlichen westlichen philosophischen Schulen auseinandergesetzt haben. Ein Beispiel dafür ist eine Schrift von Murtaḍā Muṭahharī (gest. 1979), auf den wir hier auch gelegentlich eingehen werden. 153 In solchen Arbeiten hat man versucht, die Idee der Perfektibilität in einer religiös-anthropologischen Weltanschauung zu thematisieren, die mehr oder weniger apologetische Zwecke verfolgt. In wenigen neuen Untersuchungen wird der Versuch bemerkbar, einen deutlichen Bezug auf die philosophische Tradition herzustellen. ʿAbdallāh Naṣrī beispielsweise legt Wert darauf, die Idee der Perfektibilität des Menschen unter dem Aspekt der Schöpfungsfrage und im KonEbd., S. 239 f. Siehe Razmǧū, Ḥusain (21375/1996): Insān-i ārmānī wa kāmil dar adabīyāt-i ḥamāsī wa ʿ irfānī-yi fārsī. Teheran. 152 Siehe hierzu beispielweise die Arbeiten von Šarī atī, Alī (21372/1993): Insān-i bīʿ ʿ ḫwud. Maǧmūʿ a-yi āṯār. Bd. 25. Teheran. 153 Vgl. Muṭahharī, Murtaḍā (61371/1992): Insān-i kāmil. Teheran. 150 151

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text der Existenzphilolosophie im Islam zu thematisieren. Er versucht, den Sinn des Strebens nach Vollkommenheit mit dem Sinn der Schöpfung in Einklang zu bringen. In Anlehnung an einen der wichtigsten Interpreten der sadraischen Schule, Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī (gest. 1998), auf dessen Philosophie wir in der vorliegenden Arbeit auch eingehen werden, stellt er die besondere Bedeutung der Perfektibilität in der islamischen Religion dar, was hier meines Erachtens aber systematisch-philosophisch unzureichend dargelegt wird. Naṣrī spricht aus der Sicht der transzendentalen Existenzphilosophie und stellt eine islamische Vorstellung vom Verhältnis von Mensch, Schöpfung und Perfektibilitätsfrage dar, die seiner Meinung nach der westlichen Vorstellung gegenübersteht. Sein Versuch besitzt keine philosophische Relevanz bezüglich der Infragestellung des menschlichen Selbstentwurfes. 154 Im Zusammenhang mit der Frage der Perfektibilität in bezug auf ihre Relevanz für das Menschenbild selten beachtet und kaum erforscht sind die Untersuchungen, die sich mit ʿAzīz ad-Dīn Nasafī und Mullā Ṣadrā beschäftigen. Zusammenfassend können wir folgende Herangehensweise in der Perfektibilitätsforschung im Islam benennen: 1.) Die Frage der Perfektibilität wird vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bedeutung dieses Konzepts in der mystischen und mythologischen Literatur behandelt. 155 2.) Sie wird aus der rein traditionellen mystischen Sichtweise heraus thematisiert, die sehr stark Ibn ʿArabīs Konzept des vollkommenen Menschen und dessen Rezeptionen in den Vordergrund stellt. 156 3.) Daneben existieren auch Ansätze religiösideologischer und weltanschaulicher Natur als Abgrenzung zum modernen westlichen Menschenverständnis. 157 4.) Die Frage der Perfektibilität wurde auch im Rahmen der neuen philosophischen Aspekte und mystischen Interpretationen sowie im Rahmen der Darlegung der mystischen oder philosophischen Geschichte behandelt. 158 Siehe Naṣrī, ʿAbdallāh (1382/2003): Falsafa-yi āfarīniš. Teheran. Siehe Razmǧū, Insān-i ārmānī. 156 Kabīr, Insānšināsī; Takeshita, Ibn Arabī’s; Chittick, Imaginal Worlds; Izutsu, Sufism ʿ and Taoism; Al-Massri, Angelika: (1998): Göttliche Vollkommenheit und die Stellung des Menschen. Die Sichtweise ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlīs auf der Grundlage des »Šarḥ muškilāt al-futūḥāt al-makkīya«. Stuttgart. 157 Muṭahharī, Insān-i kāmil. 158 Siehe Khalifa, The Metaphysics; Iqbal, Muhammad (1908): Development of Metaphysics in Persia. London; Iqbal, Muhammad: Die Entwicklung der Metaphysik in Per154 155

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Einleitung

IV. Perfektibilitätsforschung angesichts der bioethischen Debatte Das Thema der Perfektibilität ist in den bisherigen Diskussionen über die Bioethik, wie wir bereits angedeutet haben, zu kurz gekommen. Die Frage nach dem Menschen steht hier oft in einer starken Verbindung mit ethischen und rechtlichen Aspekten. 159 Generell geht man davon aus, daß die islamische Welt das Klonen und ähnliche physische Optimierungsversuche nicht als Eingriff in das Vorrecht Gottes zur Schöpfung sieht. Denn das Klonen sei »kein ›Gott spielen‹, da es keine Neuerschaffung von etwas aus dem Nichts darstellt«. 160 Für manche Rechtsgelehrte ist das Klonen die Entdeckung neuer Formen der Fortpflanzung, die im Rahmen der von Gott gegebenen Schöpfungsregeln erfolgen. 161 ʿAbd al-Waḥīd al-ʿAlwānī argumentiert darüber hinaus, daß das Klonen kein ḫalq (Schöpfung) bzw. ibdāʿ (Schöpfung) sei, 162 die im Koran als schöpferische Kreation Gottes aus dem Nichts bezeichnet werden. Es ist ausschließlich ein wissenschaftlicher Versuch. 163 Ebenso sieht der kritische Philosoph Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī in den biotechnischen Versuchen keine Gefahr, Gott als Schöpfer aus der physischen Welt zu verbannen. Denn es sei keine Erschaffung des Lebens, obwohl er nicht ausschließen will, daß man dem natürlichen Prozeß des Lebens Schaden zufügen könnte. 164 Auf die Frage, ob der Mensch das Recht sien. Aus dem Englischen übers. v. Annemarie Schimmel (1982). Bonn; Al-Shaibi, Kamil Mustafa (1991): Sufism and Shiʿ ism. Surrey; Schaeder, Die islamische Lehre, S. 192–268; Massignon, L.: »L’Homme parfait en Islam et son originalité eschatologique«, in: EranosJahrbuch, Zürich 1947. Diese beiden Abhandlungen liegen als Übersetzung vor in: Badawī, ʿAbd ar-Raḥmān (21976): al-Insān al-kāmil fī l-islām. Dirāsāt wa-n-nuṣūṣ ġair manšūra. Kairo. 159 Siehe dazu Eich, Bioethik; Eich, Islam und Bioethik. Siehe ebenso Ǧa farī, Muḥamʿ mad Taqī (1381/2002): Ṭarḥ-i inūm-i insāni. Teheran; Rizq, Hānī (Hrsg. 2000): al-Istinsāḫ. Ǧadal al-ʿ ilm wa-d-dīn wa-l-aḫlāq. Beirut; Nūr Muḥammadī, Ġulām Riḍā (1384/ 2005): Šabīh-sāzī-yi insān. Bīmhā wa umīdhā. Teheran. 160 Eich, Bioethik, S. 14. 161 Vgl. Eich, Islam und Bioethik, S. 95 f. Siehe dazu auch die Ansichten des libanesischen Gelehrten Faḍlallāh, Ḥusain: al-Istinsāḫ wa-d-dīn, in: Rizq, al-Istinsāḫ, S. 99 f. 162 Trotz der unklaren Differenzierung zwischen ḫalq und ibdā stellt man einen Unterʿ schied fest. Ibdāʿ ist eine Schöpfung aus dem Nichts, und ḫalq ist allgemeiner als ibdāʿ . 163 Siehe Rizq, al-Istinsāḫ, S. 155–160. 164 Gerade deswegen lehnt der ehemalige Mufti von Ägypten Aḥmad aṭ-Ṭayyib das Klonen ab, weil ihm die Scharia nach dem Prinzip des Nutzens und der Abwehr des Schadens nicht zustimmen kann. Vgl. aṭ-Ṭayyib, Aḥmad, Die Gentechnologie aus der Sicht des Islam, in: Eich, Bioethik, S. 71 ff.

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Zur Person und zum Werk der ausgewählten Denker und der Forschungsstand

habe, seine Evolution selbst zu bestimmen, antwortet Ǧaʿ farī skeptisch. Die Gentechnik sei keine Einmischung in die Evolution, und er betrachte die Perfektionierung als einen bewußten und willentlichen Akt innerhalb der Existenz, der aus materiellen und technischen Versuchen nicht hervorgehen kann. Ǧaʿ farī meint, daß die bisherigen Versuche aller großen Denker und Wissenschaftler keine klare Definition und Vorstellung darüber geben, was eine wirkliche Evolution bzw. Perfektion sei. 165 Andere dagegen befürchten sogar, daß Klonen als »Anmaßung gegen das schöpferische Attribut Gottes« verstanden wird. 166 Darüber hinaus sehen manche Gelehrte außer sozialen, ethischen und rechtlichen Konsequenzen eine »Beeinträchtigung der Disposition (fiṭra) des Menschen«. Denn die Schöpfung soll nicht geändert werden, sondern so bleiben, wie sie von Gott erschaffen wurde. 167 Im Westen hat man begonnen das alte Problem der Perfektibilität im Zusammenhang mit der neuen Vorstellung der Genoptimierung näher zu untersuchen. Die Debatte über Peter Sloterdijks »Regeln für den Menschenpark« und die Diskussionen über das »Human Genom Project« von Colin Macilwain und Elizabeth Pennisi sind lebendig verlaufen. 168 Die Beiträge, die in dem Buch »Die Perfektionierung des Menschen« gesammelt wurden, sind beispielsweise aus diesem Anlaß entstanden. Darin zeigt man z. B. die Vielfalt und die Brisanz dieses Themas einerseits und den Zusammenhang der Sichtweise der alten Utopie der Perfektionierung zu den neuen »Menschenversuchen« andererseits. 169 Der Ansatz, der in der vorliegenden Untersuchung entwickelt wird, unterscheidet sich von der bereits genannten Herangehensweise darin, daß die Frage der Perfektibilität in Anlehnung an den evolutionären Prozeß der Existenz in der islamischen Philosophie und Mystik die Idee des Menschen als eines sich selbst entwerfenden Wesens zum Ausgangspunkt macht. Es wird versucht, die Idee der Vollkommenheit Vgl. Ǧaʿ farī, Ṭarḥ-i inūm-i, S. 57 ff., 89 ff. Adanali, Hadi, Klonen beim Menschen: Ethische Prinzipien und Zukunftsperspektiven – ein islamischer Standpunkt, in: Eich, Bioethik, S. 46. 167 Ebd. 168 Vgl. Wolters, Gereon: Parkwächter? – Eine philosophische Nachlese zur sogenannten Sloterdijk-Debatte, in: Kubli u. Reichardt, Die Perfektionierung, S. 167–188, sowie Hergersberg, Martin: Das Humane-Genome-Project: Wie wird die menschliche Erbinformation entziffert und wie wird diese Information genutzt?, in: Kubli u. Reichardt, Die Perfektionierung, S. 111–144. 169 Siehe Kubli, Die Perfektionierung. 165 166

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Einleitung

nicht allein aus der transzendentalen Vorstellung des Gottesbildes heraus zu begründen, sondern aus einem inneren Selbstbild des Menschen. Es geht hier neben dem mystischen, ethischen und philosophischen Aspekt auch um die psychische Dimension des Perfektibilitätdranges, die wir aus der traditionellen Weltsicht erkennen können. Die Idee der Perfektion geht mit der Vorstellung der Selbstwerdung einher, aus dem Abgrund der existentiellen Vergänglichkeit heraus die Idee der Vollkommenheit postulierend. Man kann sie als eine Art »Neurosebewältigung« verstehen bzw. als »einen Ausweg aus der menschlichen Neurose«, wie der amerikanische Philosoph John Passmore (1914) im Anschluß an seine psychoananalytische Interpretation der Idee der Vollkommenheit feststellt. Er sieht zwischen dieser psychoanalytischen Interpretation bzw. der neuen Mystik und der klassischen Mystik Parallelen. 170 Unter der zeitgenössischen Mystik versteht Passmore, wie er am Beispiel der »Körper-Mystik« von Norman Browns »Life Against Death« darstellt, alle Formen von Erlebnissen, die Unmittelbarkeit zum Ausdruck bringen, da selbst bei denen, die ihre Erlebnisse mit dem sinnlichen Genuß identifizieren, Mystizismus ein Versuch ist, »über die Verdrängung hinaus zu einem Zustand der sorglosen Freude oder des ›Spiels‹ zu gelangen«. 171 Die Motive der klassischen Vollkommenheitsgedanken, wie z. B. das Streben nach Einheit und Reinheit, sind nach Passmore wieder aktuell. Man kann sie in der »neuen Mystik«, beispielsweise bei »Digers«, einer Hippie-Gruppe in Kalifornien, beobachten. 172 In diesem Sinne weisen die klassischen mystischen und philosophischen Vorstellungen in ihren Grundmotiven Gemeinsamkeiten mit dem neuen »mystischen« Verhalten auf. Der klassische Mystiker sucht die Nähe Gottes in einer Einheit, er begreift die körperliche Liebe sowie körperliche Anstrengungen und Veränderungen als Symbol für einen asketischen Zustand und ist mit seinem gewöhnlichen Ich und dem alltäglichen Leben unzufrieden. Er verlangt Freiheit, Ewigkeit, zeitlose Einheit und paradiesische Gleichheit. 173 In diesen geistigen Kontext sind 170 Passmore, John (1975): Der vollkommene Mensch. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden. Stuttgart, S. 313. 171 Ebd., S. 312. 172 Ebd., S. 320. 173 Passmore ist der Meinung, daß das Zeitgefühl in der neuen psychoanalytischen Betrachtung mit einer Neurose einhergehe. Sie mache sich in der »Sorge« bemerkbar. Ebd., S. 329.

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auch die Strukturen der materiellen Welt und die Kategorien des Verstandes eingebunden, die man in der islamischen Mystik im Gegensatz zur »chaotifizierten Welt«, wie bereits von Izutsu dargelegt, durchbrechen muß, um die Einheit erblicken zu können. Hier wird daher die These aufgestellt, daß die Idee der Vollkommenheit des Menschen nicht primär einer moralischen oder technischen, beruflichen oder rituellen Denkart verhaftet ist. Sie trifft vielmehr auf den Menschen als solchen zu, der für sich neben seinem beruflichen oder moralischen Perfektionierungsstreben auch eine geistige und existentielle Höhe sowie bestimmte Ideale von sich und anderen erwartet. Eine solche Vorstellung setzt zum einen eine ambivalente Vorstellung des Menschen voraus, der einerseits schwach ist und andererseits das Potential besitzt, sich zu verbessern und zu vergrößern. Das bedeutet, dass der Mensch sich in seinem Wesen als Geschöpf Gottes unvollendet sieht und er dennoch von der Annahme ausgeht, dass Gott in ihm die Voraussetzungen angelegt hat, dass er seine Existenz in idealer Form vollendet. Zum anderen wird vorausgesetzt, daß der Mensch unbestimmt, frei und im Grunde »gut« ist und die Fähigkeit hat, sich aus eigener Kraft heraus zu vervollkommnen. Die vorliegende Studie knüpft an die Vorstellung an, die John Passmore in seinem Buch »Der vollkommene Mensch« thematisiert hat: Die Idee der Vollkommenheit ist so alt wie das Denken des Menschen selbst, d. h. daß sie nicht von der menschlichen Geschichte zu trennen ist. Als Kritiker der Idee der Vollkommenheit vertritt Passmore die These, daß die Idee der Perfektion schon immer den Menschen ausgezeichnet und ihm einen Sonderstatus eingeräumt hat, da die Perfektion über das einfache Wachstum, die Reifung und die gesellschaftliche Prägung hinausreicht. Vollkommenheit ist der Zustand, der das menschliche Wesen wertvoll macht und ihm einen Daseinswert und einen transzendentalen Lebenssinn verleiht. In der Geschichte hat die Idee der Vollkommenheit mannigfaltige Formen angenommen und sie variieren je nach Definition, Aufgaben, Anspruch und Zielen, die Passmore von Homer bis zur neuen Mystik verfolgt. Schon am Anfang seines Buches stellt er folgende Bedeutung für die Vollkommenheitsfähigkeit des Menschen fest: »1. Es gibt eine Aufgabe, in bezug auf die sich alle und jeder technisch vervollkommnen können, 2. der Mensch kann sich dem göttlichen Willen völlig unterordnen, 3. er kann seinen Naturzweck erreichen, 4. er kann von jedem moralischen Fehler frei sein,

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Einleitung

5. er kann sich aus eigener Kraft zu einem metaphysisch vollkommenen Wesen entwickeln, 6. er kann sich aus eigener Kraft zu einem harmonischen und geordneten Wesen entwickeln, 7. er kann wie ein vollkommener Idealmensch leben, 8. er kann gottähnlich werden.« 174

In der religiösen Welt des Islams spricht man ebenfalls von der Vollkommenheit des Menschen. Die Idee der Perfektibilität variiert je nach geistiger Deutung und Schule und nach den Erwartungen an den Menschen. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit wird zunächst die Begründung der These sein, daß der Mensch aus islamischer Sicht die Fähigkeit besitzt, sich zu vervollkommnen, und dass er selbst maßgeblich an seiner Vervollkommnung beteiligt ist. Mit der Vervollkommnung des Menschen ist das Neuwerden als eine »autonome Selbstkonstituierung« gemeint, die, wie Küenzlen annimmt, zum augustinischen Ansatz vollkommen in Widerspruch steht. Denn nach Augustinus sei der Mensch »Werk und Geschenk der Gnade Gottes, die im Glauben an Christus erkennbar und erfahrbar ist«. 175 Ein solcher Ansatz ist der existentialistischen Philosophie Ṣadrās nicht vollkommen fremd. Die Gnade Gottes wird erst durch die Selbsttranszendenz des Menschen erfahrbar, und zwar im Prozeß der (auch individuellen) Existenz. Sie ist zugleich seine unendliche existentielle Möglichkeit, wie Küenzlen in der Anthropologie Kierkegaards feststellt, autonom »einen Entwurf von sich selbst zu suchen«. 176 Damit ist ein Menschenbild verbunden, das die Vollkommenheit als eine Aufgabe bzw. einen Auftrag des Menschseins impliziert. Die Vervollkommnung wird vordergründig als eine existentielle Aufgabe gesehen und geht über die reine Form hinaus. Sie impliziert die Idee des Idealen bzw. das Ideal der Vollkommenheit, mit dem sich die Menschen als solche verbinden und wodurch sie sich existentiell selbst zu begründen versuchen. Daher hält die vorliegende Arbeit die Sicht einiger christlich-abendländischer Denker auf das anthropologische Verständnis des Islams für statisch. 177 In der islamischen Wissenskultur wird das Verhältnis von Gott zu den Menschen über einen rein »theologischen« Aspekt hinaus artikuliert. Der We174 175 176 177

Passmore, Der vollkommene Mensch, S. 29. Küenzlen, Der neue Mensch, S. 56. Ebd., S. 31. Vgl. die Debatte hierzu in Renz, Der Mensch.

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sensunterschied zwischen Gott und Mensch, den Andreas Renz betont, 178 wird beispielsweise in der Tradition der islamischen »Existenzphilosophie« nicht statisch gesehen. Denn die Existenz verbindet Gott und Mensch sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Ebene, wie Ṣadrā darlegt. In solch einem dynamischen Existenzdenken waren die meisten islamischen Gelehrten stark verhaftet. Passmore nimmt den Vervollkommnungsgedanken der antiken Philosophen auf. Er spricht von der Perfektion als einem Vorgang, der das Potentielle zur Aktualität werden läßt, eine Vorstellung, die er mit Aristoteles verbindet, die auch später bei Thomas von Aquin und Spinoza auftaucht. Ihnen geht es darum, daß alle Dinge »unverwirklichte Möglichkeiten« innehaben, die verwirklicht werden können. Damit gilt der Satz, daß »jedes Ding aber nur insoweit zu vervollkommnen ist, als es verwirklicht ist«. 179 Diese Vorstellung setzt den Grundgedanken voraus, daß das Potentielle gegenüber dem Aktuellen immer unvollkommen ist. Diese Unterscheidung, die auf Aristoteles zurückgeht, findet sich auch bei Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī und dem Mystiker ʿAzīz ad-Dīn Nasafī – womit wir begrifflich schon mitten in unserer Untersuchung zur Ontologie des Menschen stehen. Unter dem Gesichtspunkt der Idee der Perfektibilität macht es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, zu überprüfen, ob im Islam ein dynamisches Menschenbild ableitbar ist und es wird diesbezüglich auch anhand ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs Thematisierung der Idee der Vollkommenheit deren Erklärungswert und philosophisches Potential im Islam beleuchtet.

178 Ebd., S. 312–316. Renz betont allerdings, daß seine Arbeit auf die theologische Tradition beschränkt ist und daher die schiitische, philosophische und mystische Tradition in die Untersuchung nicht einbezieht. 179 Ein Zitat von Thomas von Aquin. Vgl. Passmore, Der vollkommene Mensch, S. 20.

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Kapitel I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele in der islamischen Philosophie

I.

Die Frage nach der Ontologie des Menschen

Die Ontologie als Lehre vom Seienden fragt allgemein danach, was es bedeutet, von etwas zu sagen, daß es dies oder das bzw. so oder anders ist. Als spezielle Ontologie fragt sie, um welche Art von Entität es sich bei einem bestimmten Gegenstand handelt. In diesem Sinne läßt sich die Frage »Was ist der Mensch?« als eine ontologische Frage verstehen. Man hat in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen versucht, diese Frage zu beantworten. In naturphilosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Ansätzen befragte man die Stellung des Menschen im Kosmos 1 und verglich den Menschen mit anderen Lebewesen, 2 vor allem hinsichtlich seines Lebensraums, seiner physischen Ausstattung und seiner besonderen seelischen Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, nach einer ihm angemessenen besten Lebensform zu suchen. In vielen spirituellen, aber auch rationalistischen Ansätzen beantwortete man die Frage nach dem eigentlichen Sein des Menschen mit dem Hinweis auf die seelischen Fähigkeiten, durch die der Mensch Zugang zur Welt des Geistigen besitzt und dadurch die materielle Welt zu übersteigen vermag. Auch religiöse Vorstellungen betrachten den Menschen aufgrund dieser Eigenschaften als höchstes Geschöpf und infolge dessen oft auch als Herrn der Erde: Der menschliche Geist bestimmt den Menschen; als vernunftbegabtes Wesen stellt er sich in die Mitte des Kosmos »als die Welt im kleinen«. 3 Aufgrund seiner Geistnatur sieht er sich auch in

Siehe: Scheler, Max (1928): Die Stellung des Menschen im Kosmos. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Maria Scheler u. Manfred S. Frings (1954–1993). Bd. 9. Bern u. München. 2 Siehe: Gehlen, Arnold (101974): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg (1978 ff.) Bd. III. Frankfurt/M. 3 Pannenberg, Wolfhart (31987): Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie. Göttingen, S. 5. 1

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

seiner irdischen Verfassung allen anderen Wesen überlegen. 4 Diese Perspektive bleibt in der islamischen Geisteskultur seit der Neuzeit bestimmend. Die Frage nach dem Sein des Menschen unterscheidet sich von allen anderen Fragen der speziellen Ontologie dadurch, daß im Fall des Menschen Subjekt und Objekt zusammenfallen, das heißt, der Fragende und Befragte ist der Mensch selbst. Der Existierende fragt im Dialog mit sich selbst nach seiner eigenen Existenz, und jede allgemeine Antwort betrifft ihn konkret – sein Sein, sein Leben und seine Geistigkeit. Auch umgekehrt sind alle Aussagen über sich selbst Aussagen über das Sein, das Leben und den Geist allgemein. Deswegen haben grundsätzlich nicht nur Aussagen über die Endlichkeit des menschlichen Geistes, sondern auch alle Aussagen über die Endlichkeit und Unvollkommenheit des Lebens in der Welt Bedeutung für das ontologische Verständnis der Unvollkommenheit bzw. die Perfektionierungsmöglichkeit des Menschen. In der islamischen Welt ist die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im Dasein sehr eng mit dem Gott-Mensch-Verhältnis verbunden. Dieses Verhältnis hat wiederum mit dem Gottes- und Menschenbild zu tun. Man nimmt an, daß der Islam eine Religion der Allmacht (Gottes) und der Demut (des Menschen) sei. 5 Dieses Bild ist vordergründig von der Offenbarung und der Lehre ihrer Verkünder geprägt. Als erster Schritt ist daher sinnvoll, daß wir uns dieses »Offenbarungsbild« näher anschauen, um den Grad des Einflusses der koranischen Lehre auf den Menschen in bezug auf die Perfektibilitätsfrage zu erkennen. Damit hängt dann die Frage nach dem Wesen des Menschen, seiner Erkenntnis und seiner Willensbildung zusammen, die ontologisch erörtert wird.

Zur anthropologischen Idee siehe Gadamer, Hans-Georg u. Vogler, Paul (Hrsg. 1975): Neue Anthropologie. Bd. 6. Philosophische Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart; Weiland, René (Hrsg. 1995): Philosophische Anthropologie der Moderne. Weinheim; Matzker, Reiner (1998): Anthropologie. Theorie, Geschichte und Gegenwart. München; Renz, Der Mensch; Bouman, Johan (1977): Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie anhand des Beispiels Allah und Muhammad. Darmstadt; Schimmel, Zur Anthropologie des Islam, S. 140–154. 5 Ebd., S. 140 4

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Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran

II.

Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran

Wie bereits angedeutet, werden der Mensch und die Welt in der islamischen Theologie und Philosophie wesentlich als Schöpfung Gottes verstanden. Mehr als 240mal wird der Begriff »Mensch« im Koran erwähnt; 6 dabei finden sich auch Beschreibungen, die auf sein Wesen und seine (biologische) Natur Bezug nehmen. Aber es geht in den entsprechenden Kontexten nicht vorrangig darum, eine biologische oder gar ontologische Wesensbeschreibung des Menschen vorzunehmen. Der Koran geht vielmehr auf die Eigenschaften, Fähigkeiten, Zustände, Stellungen und die sonstigen sozialen und spirituellen Lebensformen des Menschen ein, sofern die praktischen Belange des Menschseins bestimmt werden, d. h. die menschlichen Pflichten, das Schicksal, die Beziehungen und vor allem die Stellung des Menschen gegenüber der Schöpferkraft Gottes. Aus den unterschiedlichen Aussagen und der Gegenüberstellung von Mensch und Schöpfer läßt sich durchgehend die Auffassung entnehmen, daß der Mensch zunächst ein irdisches, materielles Wesen ist, wobei der Mensch im Koran nicht das »beste« Geschöpf genannt wird. Denn die Erschaffung des Himmels und der Erde sei größer bzw. ein größeres Wunder als die Erschaffung des Menschen. 7 Der Mensch ist aus Nichts, aus Erde, Staub, Lehm und feuchter Tonmasse erschaffen. Begriffe wie nafs (Seele), fiṭra (Disposition, Naturanlage) und rūḥ (Geist), 8 die im Koran in Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen stehen, werden nicht als ontologische Bestimmungen eingeführt, sondern dienen der näheren Beschreibung der Schöpfer-Geschöpf-Beziehung. Die menschliche Schöpfungsgeschichte ist eng mit der Offenbarungsgeschichte verknüpft. 9 Der Mensch ist an sich kein edles WeVgl. Bannerth, Ernst: Der Mensch im Islam, in: Gadamer, Hans-Georg u. Vogler, Paul (Hrsg. 1975): Neue Anthropologie. Bd. 6. Philosophische Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart, S. 279. 7 Siehe Koran 40/57. Ebenso gibt der Koran zu bedenken, daß die Erschaffung des Menschen nicht schwerer war als die Dinge, die Gott außerdem erschaffen hat. Ebd. 37/11. Oder daß der Mensch nicht höher als alle anderen Geschöpfe ausgezeichnet wurde. Ebd. 17/70. Ich verwende die Koranübersetzung nach Rudi Paret. 8 Wir ziehen hier die Übersetzung »Geist« für den Begriff rūḥ vor, obwohl er gelegentlich, auch im Zusammenhang mit dem Geist anderer Lebewesen, mit »Seele« übersetzt werden kann. 9 Bouman, Gott und Mensch, S. 15. 6

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

sen. Die Sure 76 mit Namen »Der Mensch« (al-insān) betont z. B., daß Gott aus einem »nicht nennenswerten« Wesen etwas Besonderes gemacht hat. Der Mensch in der Form und Weise, in der er sich befindet, erscheint zwar auch als lobenswert; dieses Lob kommt ihm aber nur indirekt zu, weil er als Werk Gottes in ein Selbstlob Gottes eingebunden wird. Aber trotz der Abwertung der Materie und seiner relativen Unvollkommenheit ist der Mensch in »bester Form« 10 erschaffen und wird sogar »Stellvertreter Gottes auf Erden« (ḫalīfat Allāh fī l-arḍ) 11 genannt. Hinzu kommt auch die Religion – hier der Islam – als Disposition (fiṭra), in der Gott den Menschen geschaffen hat. 12 Das Besondere an diesem Gotteswerk ist, daß Gott den Menschen hervorgehend aus einem »natürlichen«, unentwickelten Zustand, aus einem nicht nennenswerten Wesen bzw. aus einem Mängelwesen erschaffen hat und sodann einen anderen, ja einen neuen Menschen macht: »Wir haben doch den Menschen (ursprünglich) aus einer Portion (?) Lehm (oder: aus einem Extrakt (?) aus Lehm) geschaffen. Hierauf machten wir ihn zu einem Tropfen (Sperma) in einem festen Behälter (d. h. im Koran 94/4. Siehe Koran 2/30. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass der Begriff ḫalīfa von islamischen Denkern und einigen Islamwissenschaftlern unterschiedlich interpretiert und aufgefasst wird. Einige tendieren dazu, den Begriff als »Nachfolge der Engel« zu interpretieren, während andere ihn als »Stellvertreter« oder »Statthalter« Gottes auf Erden verstehen. Die muslimischen Exegeten schließen keine der beiden Bedeutungen aus. Ausführlicher dazu siehe: Paret, Rudi: Signification coranique de ḫalīfa et d’autres dérivés de la racine ḫalafa, in: Studia Islamica 31 (1970), S. 212–217; Hartmann, Angelika: Kalifat und Herrschaft im Islam. Erinnerung an Vergangenes und Zukünftiges, in: dies. (2004): Geschichte und Erinnerung im Islam, Göttingen, S. 226 f. Der Begriff ḫalīfa, wie er in den bereits erwähnten Koranvers gebraucht wird und im Kontext der Stellung des Menschen in der Schöpfung, legt es nahe, die Nachfolgeschaft als Stellvertreterschaft zu deuten. Siehe dazu Nagel, Tilmann (1983): Der Koran. Einführung, Texte, Erläuterungen. München, S. 240. 12 »Richte nun dein Antlitz auf die (einzig wahre) Religion! (Verhalte dich so) als Hanif! Das (d. h. ein solches religiöses Verhalten) ist die natürliche Art, in der Gott die Menschen erschaffen hat«. Siehe Koran 30/30. Der Begriff ḥanīf kommt im Koran einige Male vor. Er bedeutet ar-Rāġib al-Iṣfahānī zufolge die Abwendung vom Irrtum und die Hinwendung zum ebenmäßigen Weg. In dem Werk al-Muʿ ǧam al-wasīṭ, dessen Autor unbekannt ist, wird der Begriff mit der Abwendung vom Bösen und der Hinwendung zum Guten beschrieben. Ausdrücklich wird auch ḥanīf gleichgesetzt mit der Religion des Islam. Belegt wird dies mit einem Koranvers (3/67). Siehe ar-Rāġib al-Iṣfahānī: Muʿ ğam al-mufradāt li-alfāẓ al-Qurʾ ān. Hrsg. v. Nadīm Marʿ ašlī (q1392/1972). Beirut, S. 133; Madkūr, Ibrāhīm u. Muṣṭafā, Ibrāhīm (Hrsg. 1985): al-Muʿ ǧam al-wasīṭ. Bd. I. Kairo, S. 210. 10 11

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Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran

Mutterleib). Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, diesen zu einem Fötus und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues (w. anderes) Geschöpf entstehen. So ist Gott voller Segen. Er ist der beste Schöpfer (den man sich denken kann).« 13

Der Begriff ḫalq āḫar (eine neue bzw. andere Schöpfung), was man als Hinweis auf »den neuen Menschen« verstehen kann, ist nach diesen Versen das Ergebnis eines natürlichen Vorgangs von einem Zustand in den nächsten, der aber von Gott gesteuert und bestimmt wird. Ähnlich wie hier wird an einer anderen Stelle im Koran auf diese natürliche Entwicklung des Menschen hingewiesen. 14 Die Erschaffung all dieser Stadien ist für einen höheren Zweck bestimmt. Obwohl sich aus diesem Vers und anderen vergleichbaren Versen nicht eindeutig herauskristallisieren läßt, ob die Erschaffung des Menschen einer gesetzmäßigen Ordnung folgt oder ob eine logische Beziehung zwischen diesen Stadien vorhanden ist, stellen sie doch ein Ziel dar, auf das die menschliche Erschaffung gerichtet ist, nämlich: Der Mensch wird nach all diesen körperlichen Stadien zu einem anderen Wesen erhoben, das nach Ṣadrās Auffassung einer höheren Ordnung unterworfen ist. 15 Der neue Mensch steht am Ende eines zweckmäßigen Schöpfungsaktes, bei dem die Fähigkeiten und die Macht des Schöpfers im Vordergrund stehen. Auch die Wiederbelebung des Menschen nach seinem irdischen Tod wird im Koran »neue Schöpfung« (ḫalq ǧadīd) genannt. 16 Aber auch hier geht es primär nicht um eine ontologische Aussage über den Menschen, sondern um die schöpferische Macht Gottes. Der Koran verweist ausdrücklich auf die Schwäche und Labilität des Menschen. Diese Mangelhaftigkeit bedeutet aber keineswegs, daß der Mensch aus der Sicht des Korans biologisch ein unvollkommenes und noch zu vervollständigendes Wesen ist. Vielmehr heißt es, daß der Mensch und alle anderen Wesen »in der besten Form«, »ebenmäßig« und »wohlgestaltet« geschaffen wurden. Er zeigt, daß jedem Wesen seine kreatürliche Art gegeben ist und daß Gott den Menschen so rechtgeleitet habe. 17 Vor allem wird ausdrücklich hervorgehoben, daß es in Koran 23/12–14. An einer anderen Stelle wird laut dem Koran die Nachkommenschaft des Menschen aus einem »verächtlichen Wasser« erschaffen. Siehe ebd. 32/8. 14 Ebd., 22/5. 15 Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 126–131. 16 Koran 14/19, 17/49,98, 32/10, 34/7, 35/16, 50/15. 17 Ebd., 20/50, 25/2, 32/7, 38/72, 82/7, 95/4. 13

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

der Art und Weise der Schöpfung, in der Gott die Menschen – und die Welt – geschaffen hat, keine Abänderungen geben darf (lā tabdīla liḫalqi-llāh, wörtlich: keine Abänderung für die Schöpfung Gottes). 18 Wichtig ist vielmehr, daß der Mensch in seinem Sein und Befinden, in welcher Form auch immer, nicht von göttlicher Bestimmung, Rechtleitung und Macht befreit ist. Ohne Gottes Gnade, Erbarmen und Hilfe ist der Mensch verloren und dem Verderben ausgesetzt. Gott hat dem Menschen aber noch eine besondere Auszeichnung zukommen lassen: Der Mensch gewinnt an Stärke und Besonderheit, insofern Gott ihm alle Namen beigebracht und ihn damit über die Engel erhoben hat. Daraufhin befahl er den Engeln, sich vor dem Menschen niederzuwerfen. 19 Ob »damit dem Menschen ein höherer Rang als den Engel zuerkannt« wurde, 20 ist fragwürdig. Denn man darf nicht vergessen, daß diesbezüglich im Koran von dem speziellen Menschen, nämlich von Adam als Vater des Menschengeschlechts, gesprochen wird. Hinzu kommt, daß der Mensch mit dem Geist (rūḥ) aus der Welt des (göttlichen) Befehls (ʿ ālam al-amr), die man auch als »Schöpferwelt« bezeichnen kann, versehen wurde, was ihn, wenn das auch nicht direkt betont wird, vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. 21 Dieser Geist, der im Koran nicht näher als »Logos vom Herrn« definiert wird, ist etwas Himmlisches aus dem Reich Gottes. Der Teufel verweigerte sich dem Koran zufolge dem Befehl Gottes, sich vor dem Menschen niederzuwerfen, denn der Mensch sei aus Erde (turāb) 22 gemacht und befände sich von seiner natürlichen Anlage her nicht auf dem gleichen Rang wie er. 23 In diesem Vers, obwohl es primär nicht darum geht, die Bedeutung der menschlichen Existenz in den Vordergrund zu stellen, wird doch ein Vergleich gezogen, der implizit die Frage nach der existentiellen Stellung der Menschen in der Schöpfung aufwirft und dem so indirekt eine Ebd., 30/30. Ebd., 2/30–34 u. 15/30. Mit den Namen sollen die Namen eines Dinges gemeint sein. Es gibt aber andere Interpretationen, auf die wir später eingehen werden. 20 Siehe Schimmel, Zur Anthropologie des Islam, S. 140. 21 Ebd., 15/29–30 u. 32/9 u. 38/72. 22 Viele Koranverse deuten auf die Erschaffung des Menschen aus Erde bzw. aus einem erdartigen Stoff hin. Sie zeigen eindeutig, daß der Mensch ursprünglich ein materielles Wesen war. Man kann jedoch daraus primär keine theoretische Begründung der Natur des Menschen ableiten. Diese Verse geben meist Auskunft über die Schöpfermacht Gottes und die eschatologische Folge dieser Art von Schöpfung. Siehe Koran 3/59, 13/5, 18/ 37, 22/5, 30/20, 40/67. 23 Denn der Satan wurde laut Koran aus Feuer (nār) erschaffen. Siehe Koran 38/71–84. 18 19

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Das ontologische Verständnis des Menschen im Koran

ontologische Grundauffassung über das Wesen des Menschen entnommen werden kann: Der Mensch ist demnach ein irdisches Wesen, das von Gott aus Materie geformt und mit dem Geist Gottes belebt würde. Aber ob man hieraus eine dualistische Ontologie von Körper und Geist ableiten kann, ist fragwürdig. Denn es wird nicht ausdrücklich gesagt, daß der Mensch aus Körper und Geist besteht oder daß der Geist als Form den Körper begleitet. Es heißt nur, daß der Geist als »Mittel« zum Beleben des Menschen verwendet wird. Die wenigen Stellen, in denen im Koran von »Gestalt« bzw. »Form« die Rede ist, 24 geben keine spezifischen Hinweise auf eine ontologische Besonderheit des Menschen, die für die Perfektibilität des Menschen von Bedeutung sein könnten. Sie weisen lediglich auf Gottes schöpferische Allmacht und Tätigkeit hin. 25 Zum anderen kann man dem Koran keine direkte Gegenüberstellung von Menschen und anderen Wesen entnehmen, in der andere Wesen und Geschöpfe (Tiere, Pflanzen, Gesteine und der ganze Kosmos) durch ihre Natur, ihr Wesen und ihre Form vom Menschen abgehoben werden, 26 zumal alle geschaffenen Lebewesen als »Zeichen Gottes« gelten. 27 Daß der Mensch »Stellvertreter Gottes« genannt wird und sämtliche »Namen« (asmāʾ ) zu erlernen vermochte, scheint keine Konsequenzen bezüglich der Frage zu haben, ob er eine besondere ontologische Stellung beanspruchen darf, weil ihm im Schöpfungsakt göttlicher Geist eingehaucht wurde. Oder wurde der Mensch willkürlich von Gott auserwählt und genießt nur deshalb eine Sonderstellung, weil Gott es aufgrund eines besonderen gnadenhaften Aktes so wollte? 28 Man kann sagen, daß die Erschaffung des Menschen durch Gott und seine Belebung durch den Geist Gottes den Menschen mit einer metaphysischen Welt verbindet und so auch den Ansatz zu einer Lehre schafft, die in der islamischen Theologie und Philosophie entwickelt wurde und dem Menschen schließlich doch eine ontologische Sonderstellung einräumt. So finden sich trotz der weithin undeutlichen oder unbefriedigenden koranischen Beschreibungen des menschKoran 7/11, 3/6, 59/24, 40/64, 64/3, 82/7–8. Wir werden an einer anderen Stelle darauf zurückkommen. 26 An einer Stelle wird der Mensch vor vielen anderen Geschöpfen ausgezeichnet. Das bezieht sich allerdings auf allgemeine materielle Lebensvorteile, die Gott dem Menschen durch seine Gnade verlieh. Siehe Koran 17/70. 27 Ebd., 30/20–22, 45/3–4. 28 Wir werden an einer anderen Stelle auf die Bedeutung der Namen eingehen. 24 25

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

lichen Wesens zahlreiche Überlieferungen im Bereich der philosophischen und theologischen Tradition des Islam, die, wie wir sehen werden, die Entwicklung einer Ontologie des Menschen entscheidend bestimmt haben.

III. Ontologische Grundaussagen über den Menschen im H.adīt und ihre philosophische Auslegung Es gibt wenige Ḥadīṯe, die den koranischen Aussagen über den Menschen etwas hinzufügen oder denen man eine eigenständige Aussage entnehmen kann. Wir beschränken uns hier auf zwei Überlieferungen, die uns für unsere Untersuchung wichtig erscheinen. Die erste besagt, daß Gott Adam nach seinem Bilde erschaffen hat (inna llāha ḫalaqa Ādama ʿ alā ṣūratihī). 29 Auf diese Überlieferung geht die Idee der »Gottebenbildlichkeit«, ein zentraler anthropologischer Schlüsselbegriff, zurück, die ebenso in der christlichen Theologie von Bedeutung ist. Josef van Ess hat sich mit der Herkunft dieser Überlieferung und ihrer Auslegung in der frühislamischen Theologie befaßt. 30 Diese Überlieferung ist insofern von Bedeutung, als daß sie von vielen islamischen Denkern als Metapher aufgefaßt und entsprechend unterschiedlich – je nach ihrem ontologischen Grundansatz – in ihre Lehre integriert wurde. 31 Im folgenden werfen wir nun einen Blick auf die Auffassungen einiger islamischer Gelehrter, die sich mit dieser Diese Aussage wird dem Propheten zugeschrieben. Sie wird vor allem von vielen Mystikern zitiert. Siehe Rāzī Dāya, Naǧm ad-Dīn Abū Bakr Ibn Muḥammad Ibn Šāhwar Ibn Anūširwān: Mirṣād al-ʿ ibād. Hrsg. v. Muḥammad Amīn Riyāḥī (61374/1995). Teheran, S. 2; 411; 650; Kāšānī, ʿ Izz ad-Dīn Maḥmūd Ibn ʿAlī: Miṣbāḥ al-hidāya wa miftāḥ alkifāya. Eingel., ed. und hrsg. v. Ǧalāl Humāʾ ī (21365q/1956). Teheran, S. 95; Maulawī Rūmī, Ǧalāl ad-Dīn: Aḥādīṯ-i maṯnawī. Hrsg. v. Badīʿ az-Zamān Furūzānfar (1334/ 1955). Teheran, S. 114, 213. Im biblischen Schöpfungsbericht wird ein ähnlicher Ausdruck verwendet. Aber auch in der hellenistischen Philosophie wird der Mensch als Ebenbild Gottes dargestellt. Ob diese Ähnlichkeit auf einen historischen Zusammenhang hinweist oder ob sie von den Anhängern beider Religionen gleichermaßen verstanden wird, soll uns hier nicht interessieren. Es wäre meines Erachtens nicht übertrieben, wenn man diese Überlieferung als Einfluß der jüdisch-christlichen Lehre auf den Islam betrachten würde. 30 Vgl. Ess, Josef van (1997): Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens in frühen Islam. Bd. IV. Berlin u. New York, S. 377 ff. 31 Renz, Der Mensch, S. 373 ff. 29

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Ontologische Grundaussagen über den Menschen im H.adīt

Überlieferung auseinandersetzten, bevor wir uns die Interpretationen ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs näher anschauen. Mit dieser Überlieferung wird die Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen bekräftigt, die in der islamischen Welt mit der »Stellvertreterschaft des Menschen«, die einen der zentralen anthropologischen Begriffe im Koran darstellt, nicht eindeutig wiederzugeben ist. Als repräsentativ für das weithin übliche Verständnis kann die Auffassung von ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. q503/1110) gelten, der davor warnt, die Idee der Schöpfung des Menschen nach dem Bilde Gottes und seiner Beseelung durch den göttlichen Geist als einen Schritt in Richtung einer Gleichsetzung von Mensch und Gott (tašbīh), also eines Anthropomorphismus, bzw. einer partiellen derartigen Gleichsetzung (hier als baʿ ḍīya bezeichnet) 32 zu verstehen. Es gehe weder um eine Vermenschlichung Gottes noch um eine Vergöttlichung des Menschen. Das Gleichnis von der Gottebenbildlichkeit sei vielmehr eine Metapher, um die von Gott an den geschaffenen Menschen verliehene Würde (tašrīf) und seine besondere Beziehung zum Schöpfer zu verdeutlichen. 33 Anthropomorphistische Ansätze aus der Mystik, die die Welt für eine detaillierte Erscheinung der göttlichen Gestalt und den vollkommenen Menschen für eine Gestalt Gottes insgesamt halten, 34 werden aus theologischer Perspektive zumeist zurückgewiesen, da der Islam eine (auch implizite) Gleichsetzung von Mensch und Gott ablehnt. 35 Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) verbindet mit einer zunächst theologischen Bedeutungsebene eine mystisch-illuministische Vorstellung. 36 Ihm geht es darum, daß sich der Mensch aufgrund seines Geistes, der ihm aus dem Reich des göttlichen Geistes verliehen worden sei, mit Gott identifiziert. So kann man auch sagen, daß der Mensch sich von Gott angezogen fühlt. 37 Dieser Prozeßcharakter in al-Ġazālīs Ansatz wird uns sogleich noch beschäftigen. Tašbīh und baʿ ḍīya bezeichnen die Vorstellungen, die Gott und den Menschen entweder völlig oder nur bezüglich einiger körperlicher Glieder vergleichen. 33 Ar-Rāġib al-Iṣfahānī, Mu ğam, S. 297. ʿ 34 Hwārazmī, Tāǧ ad-Dīn Ḥusain Ibn Ḥasan: Šarḥ Fuṣūṣ al-ḥikam Šaiḫ Muḥyi ad-Dīn Ibn ʿArabī. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Hirawī (21368/1989). Bd. 1. Teheran, S. 73. 35 Van Ess zeigt in seiner Studie die frühen anthropomorphistischen Ansätze im Islam. Vgl. Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. IV, S. 373 ff.; 378. 36 Vgl. al-Ġazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad: Miškāt al-anwār. Hrsg. v. Badī as-Sayyid alʿ Laḥḥām (1990). Beirut, S. 29; 63 f. 37 Al-Ġazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad: Kīmīyā-yi sa ādat. Hrsg. v. Ḥusain Ḫadīw Ǧam ʿ 32

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Eine andere Interpretation der genannten Überlieferung findet sich bei ʿ Izz ad-Dīn Kāšānī (gest. ca. q736/1336), einem bedeutenden Mystiker, der ebenso wie al-Ġazālī der šāfiʿ itischen Schule angehörte. Er stellt in seinem Werk »Miṣbāḥ al-hidāya wa-miftāḥ al-kifāya«, das Ǧalāl Humāʾ ī zur bedeutendsten klassischen mystisch-ethischen Literatur nach der mongolischen Zeit zählt, eine schöpferische Beziehung zwischen dem »Geist« (rūḥ) und allen anderen seiner Geschöpfe heraus. Gott habe alle Geschöpfe mittels des Geistes geschaffen, während der Geist das erste Wesen sei, das Gott unmittelbar geschaffen habe. 38 Daher kommt dem Geist, der Kāšānī zufolge das edelste Wesen ist, eine Sonderfunktion zu. ʿ Izz ad-Dīn Kāšānī zufolge entspringen dem Geist zwei Betrachtungsmöglichkeiten: In Bezug auf die Betrachtung der »Herrlichkeit der ewigen göttlichen Allmacht« der »intuitive Intellekt« (pers. ʿ aql-i fiṭrī, wörtl. instinktive Vernunft) und in Bezug auf die Betrachtung der »Ästhetik der ewigen göttlichen Weisheit« der »schöpferische und lenkende Intellekt« (pers. ʿ aql-i ḫalqī wa-mudabbir). Das Ergebnis der ersten Betrachtung sei die Gottesliebe (pers. maḥabbat-i ilāhī) und die Folge der zweiten die »universale Seele« (pers. nafs-i kullī, wörtl. das universale Ich). Somit geht diese universale Seele unmittelbar auf den Geist zurück. Von der universalen Seele gehen dann die unmittelbaren Wirkungen, Einflüsse und Aktivitäten auf das gesamte Geschehen und auf alle Entwicklungen aus. Der Geist ist somit die Quelle der Beseelung und Belebung aller anderen Wesen, und die Seele bzw. das Leben ist Quelle aller anderen Bewegungen. Der Mensch als irdisches Wesen wird von der »Gestalt des Geistes« (pers. ṣūrat-i rūḥ) reflektiert, und in ihr spiegeln sich alle Namen und Attribute Gottes im Menschen. Dies stellt für Kāšānī nicht nur die vollkommene Verkörperung sämtlicher ästhetischer und erhabener Attribute und der Namen Gottes dar, 39 sondern auch genau den Grund, warum der Mensch über die Engel erhoben wurde. Denn der Mensch ist dadurch vollkommen. 40 Mit dieser Interpretation führt Kāšānī das neu(81378/1999). Teheran, Bd. I, S. 52, Bd. II., S. 532. Al-Ġazālī greift damit das Aufstiegsmotiv auf, das Platon in seinem Dialog »Symposion« entfaltet hat. 38 Das erste Wesen, das von Gott geschaffen wurde, wird in verschiedenen Überlieferungen unterschiedlich benannt. Einmal kommt das Wort ʿ aql (Intellekt), einmal nūr (Licht), ein weiteres Mal qalam (Schreibrohr) und auch rūḥ (Geist) vor. Siehe Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 379; Rāzī Dāya, Mirṣād al-ʿ ibād, S. 37 f.; 46; 52; 133; 159. 39 Kāšānī, Miṣbāḥ al-hidāya, S. 96. 40 Ebd., S. 94 ff.

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platonische Schema der drei Hypostasen (hen, nous, psyche) und ihrem Auseinanderhervorgehen in die religiöse Schöpfungsvorstellung ein (nach Plotin). Die Erscheinung der göttlichen Namen und Attribute im Geist des Menschen wird von Naǧm ad-Dīn Rāzī (gest. 1261) als Reflexion des göttlichen Lichts verstanden. 41 Dessen Erscheinung belegt er mit einer anderen Überlieferung: »Gott schuf Adam und dann erschien er in ihm (inna llāha ḫalaqa Ādama fa-taǧallā fīhi).« 42 Naǧm ad-Dīn Rāzī interpretiert somit die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit einem zentralen Motiv der platonischen Lichtmetaphorik, die ihren Ursprung im platonischen Sonnengleichnis hat, aber auch in der platonisch orientierten Rezeption der Vernunft-Lehre des Aristoteles eine bedeutende Rolle spielt. In derselben Tradition befindet sich ʿAzīz ad-Dīn Nasafī, der jedoch noch stärker als bisherige Gelehrte seine mystischen Gedanken mit dem philosophischen Vokabular der islamischen Neuplatoniker darlegt. Nasafī sieht den Intellekt als Ausgangspunkt für die Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Er stellt die gesamte Schöpfung als eine Reihe von Abbildern dar, d. h. in einem seinsmonistischen Korpus. Letztlich wurde der Mensch nach dem Bild Adams und dieser nach dem Bild des ersten Intellekts geschaffen. 43 Adam sei ein Akt des ersten Intellekts und in der mystischen Sprache Nasafīs der erste Stift (qalam) Gottes, nach dessen Bild er erschaffen worden sei. 44 Gemeint ist damit das Erste, das aus Gott hervorging. Der erste Intellekt ist daher die Ursache alles Geschaffenen und hat alle vollkommenen Eigenschaften Gottes inne. 45 Er ist der unmittelbare Akt Gottes. Aus Nasafīs Aussagen wird jedoch nicht ganz deutlich, ob man den Menschen als Ebenbild Gottes betrachten kann, oder ob diese Aussage nur unmittelbar auf den ersten Intellekt zutrifft. Fest steht jedoch, daß der irdische Mensch – und mit ihm die ganze irdische Welt (mulk) – seiner ontologischen Hierarchie nach Naǧm ad-Dīn Rāzī Dāya, der Schüler des Großmeisters Naǧm ad-Dīn Kubrās (gest. 1221) war eine der führenden Figuren der mystischen Lehre. Er verließ wie viele seiner Zeitgenossen mit der Beendigung der Dynastie von Khawarazmiyan durch die Mongolen seine Heimat. 42 Rāzī Dāya, Mirṣād al- ibād, S. 122; 316; 328; 411. ʿ 43 Vgl. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 381 f. 44 Ebd., S. 247. 45 Vgl. Nasafī, ʿAzīz ad-Dīn: Zubdat al-ḥaqāʾ iq. Hrsg. v. Ḥaqwardī Nāṣirī (1985). Teheran, S. 63. 41

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über die himmlische Welt (malakūt) mit der Welt der Allmacht Gottes (ǧabarūt) verbunden wird. Demnach ist mulk nach dem Bild von malakūt und diese nach dem Bild von ǧabarūt geschaffen. Da ǧabarūt verborgen ist und malakūt und mulk zwei Erscheinungsweisen ein- und derselben Welt sind, gehen wir davon aus, daß Nasafī den Menschen als Ebenbild Gottes betrachtet. Damit ist jedoch der Gedanke der Vollkommenheit verbunden, weil sie als ein notwendiger Akt der Schöpfung gesehen wird. Nasafī meint, daß die Existenz sich deswegen in einer permanenten Bewegung befindet, ein Gedanke, den wir dann bei Ṣadrā finden. Diese Bewegung geschieht aus einem leidenschaftlichen Verlangen (šauq) des Menschen nach Gott, was aufgrund der menschlichen Selbstliebe stattfindet. Darunter versteht man primär den Ausdruck eines moralischen Selbsterhaltungstriebes, der generell im Islam negativ besetzt ist. Diese Selbstliebe hat eine andere Bedeutung als die »Selbstliebe«, die in der islamischen Mystik eine zentrale Rolle in dem Ab- und Aufstiegsprozeß des Menschen spielt. Die Selbstliebe hat aufgrund ihres instinkthaften und existentiell verhafteten Aspektes (als fiṭra) eine anthropologische Bedeutung, die fast in allen mystischen und in vielen philosophischen Schriften thematisiert wird. 46 Diese Selbstliebe nennt z. B. ʿAzīz ad-Dīn Nasafī den Grund für die Selbsterscheinung der Substanz des Mikrokosmos. Die Liebe ist hier ein ontologischer Akt der Schöpfung. Sie beginnt mit der Liebe der ǧabarūt zur malakūt und setzt sich fort von malakūt zu mulk, denn jeder sieht seine Schönheit in den anderen, die ihm als Abbild dienen. 47 Ṣadrā bezieht sich ebenso auf die genannten Überlieferungen und versucht, durch sie die mystische Auslegung der göttlichen Ebenbildlichkeit des Menschen mit seiner evolutionären Existenzphilosophie in Einklang zu bringen. Einerseits versucht er, aus der Gegenüberstellung von Mensch und Satan eine anthropologische Erklärung zu der Frage zu ziehen, warum der Mensch, obwohl er aus Erde geschaffen ist, als Ebenbild Gottes betrachtet werden soll. Andererseits gibt er der »feuchten Tonmasse« (ṭīn), aus der der Mensch geschaffen sei, gegenüber dem Feuer, aus dem der Satan geschaffen sei, den Vorzug. Dafür nennt er zwei Gründe: Zum einen gehöre zu den Besonderheiten der feuchten Tonmasse »Vegetation, Wachstum und Entwicklung«. Denn sie bestehe aus Wasser und Erde und trage damit Leben (ḥayāt) in sich. Sie sei 46 47

Auf die ästhetische Dimension der Liebe werden wir in Kapitel III eingehen. Vgl. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 246 f.

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daher das Mittel, die »vegetative Seele« hervorzubringen, so daß in einem evolutionären Prozeß der Weg zur »animalen und menschlichen Seele« führe. Zum anderen habe Gott den Stoff (ṭīna), aus dem der Mensch gemacht ist, mit seiner »eigenen Hand« 48 erschaffen und ihn für den Empfang des göttlichen Geistes und damit für die göttliche Erscheinung vorbereitet. 49 In seinem Werk »Asrār al-āyāt«, in dem er sich intensiv mit Texten aus dem Koran und den Überlieferungen beschäftigt, verbindet Ṣadrā den theophanischen Charakter der oben genannten Überlieferungen mit seiner Vorstellung des existentiellen Vervollkommnungsprozesses. Denn die menschliche Existenz befindet sich zwischen Finsternis und Licht. Nur durch die Erscheinung des göttlichen Lichts im Menschen werde es möglich, daß der Mensch die Welt der Potentialität verläßt und seine Aktualität erlangt. 50 Außerdem bezieht sich Ṣadrā auf den koranischen Vers, nach dem der Mensch als Stellvertreter Gottes auf der Erde betrachtet wird. Der Sinn des Schöpfungsprozesses ist Ṣadrā zufolge der Mensch als göttlicher Stellvertreter. 51 Diese Herrschaft, durch die der Mensch auf der Erde ausgezeichnet wird, ist keine politische Herrschaft. Sie ist eine existentielle Kraft, der der Mensch seine Vervollkommnungsfähigkeit verdankt. Sie variiert je nach dem Grad der existentiellen Vollkommenheit. Die Existenztheorie Ṣadrās, auf die wir noch eingehen werden, schafft eine anthropologische Basis, wobei die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies als ein Vorgang des evolutionären Schöpfungsprozesses gesehen wird. 52 Ṣadrā versteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen also in einem dreifachen Sinne: Der Mensch besitzt erstens eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott als dem Schöpfer, insofern auch der Mensch wesentlich aus einem schöpferisch wirksamen Material besteht. Der Mensch ist zweitens dem Schöpfer ähnlich, insofern der göttliche Geist auch vom Menschen empfangen werden kann. Und drittens ist der vollendete Mensch Gott in besonderer Weise ähnlich, weil Gott keinen Mangel und daher auch keinerlei Potentialität in sich hat, son48 Dies verweist auf Koran 38/75 und widerspricht der Behauptung Izz ad-Dīn Kāšānīs, ʿ demzufolge nur der Geist unmittelbar geschaffen wurde. Siehe Kāšānī, Miṣbāḥ al-hidāya, S. 95. 49 Aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Mafātīḥ al-ġaib. Hrsg. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1363/1984). Teheran, S. 220 f. 50 Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 163 f. 51 Ebd., S. 108 ff. 52 Ebd., S. 166 ff.

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dern ganz Aktualität ist, und der Mensch mit Hilfe des göttlichen Lichts die Fülle der ihm möglichen Aktualität erreichen kann. Damit wird auch deutlich, daß das Verständnis der Gottebenbildlichkeit bei Ṣadrā vornehmlich auf zentralen Motiven der aristotelischen Tradition beruht. Der ontologische Aspekt der Gottebenbildlichkeit beruht demnach im Wesentlichen darauf, daß der Mensch ein irdisches und zugleich ein intellekthaftes Wesen ist. In seiner irdischen Existenz liegt seine Unähnlichkeit und in seiner intellektuellen Begabung eine begrenzte Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wesen, und in seinem vollkommenen Zustand verbindet er sich mit Gott als Ebenbild Gottes in der Aktualität seiner Existenz. Von allen irdischen Wesen kann nur der Mensch eine intellektuelle Beziehung zu Gott aufnehmen und das, was Gott ihm mitteilt, befolgen und weiter verkünden. Dadurch wird er über alle anderen Lebewesen erhoben und als Stellvertreter Gottes auf der Erde geehrt. Auf diesem prophetischen Ḥadīṯ (»Gott hat Adam nach Seinem Bilde geschaffen«) beruht auch Ṣadrās epistemologisches Prinzip der Einheit des Erkennenden mit dem Erkannten, worauf wir noch eingehen werden. Bezogen auf den Inhalt dieses Ḥadīṯ, ist, wie Moris zutreffend formuliert, Ṣadrā, wie die Sufis, nicht nur in der Lage, zu behaupten, daß der Mensch innerhalb der Schöpfung das zentrale und direkte Symbol bzw. eine Theophanie Gottes ist, sondern auch Ziel und Bestimmung der menschlichen Schöpfung sind definiert und bestimmt dadurch, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde. 53 Die zweite wichtige Überlieferung, die für das ontologische Verständnis des Menschen im Islam, vor allem für die Schiiten, von besonderer Bedeutung ist, betrifft das Problem des ontologischen Dualismus, insofern der Mensch sowohl einer irdischen als auch einer himmlischen Welt angehört. In einem Text des schiitischen Ḥadīṯwerkes »Tuḥfat al-ʿ uqūl« beschreibt der sechste Imam der Schia Ǧaʿ far aṣ-Ṣādiq (gest. 757 oder 765) detailliert die Natur und die unterschiedlichen Kräfte des Menschen und deren Funktionen. Von diesem Imam wird die Auffassung überliefert, daß der Mensch an zwei Welten teilhat: einer diesseitigen und einer jenseitigen. Nach dem Tod kehrt der himmlische Teil zum Himmel und der irdische Teil zur Erde zurück, genau wie jedes Element zu seinem Ursprung zurückfindet. Der irdische Teil wird dabei Körper (badan) und der himmlische Teil Seele (ǧān) bzw. Licht (nūr) genannt. 53

Vgl. Moris, Revelation, S. 193 f.

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Letzterer kehre zur ersten (absoluten bzw. abstrakten) Quelle zurück. 54 Das Licht entspricht hier dem »göttlichen Geist« (wie in einigen anderen Überlieferungen auch). Die genannte Aussage wird in der islamischen Tradition auf zwei unterschiedliche Weisen ausgelegt. Šihāb ad-Dīn Suhrawardī, dem man die Wiederbelebung der altiranischen Lichtphilosophie zuschreibt und von dessen illuministischer Schule Ṣadrā viel entlehnt hat, 55 verknüpft sie mit einer weiteren Überlieferung. Er teilt das menschliche Wesen in zwei Grundformen ein: den Körper (badan), den er als Finsternis (ẓulma) bezeichnet, und den Geist (rūḥ) bzw. die Seele (nafs), die er Licht (nūr) nennt. Dies belegt er durch eine Aussage, die dem Propheten zugeschrieben wird: »Wahrlich, Gott, erhaben sei er, schuf die Lebewesen in einer Finsternis, dann bestrahlte (rašša, wörtl. bespritzte) er sie mit seinem Licht« (inna llāha ḫalaqa l-ḫalqa fī ẓulmatihī ṯumma rašša ʿ alaihim min nūriḥī). 56 An diese Überlieferung knüpft Ṣadrā, wie bereits erwähnt, seine Vorstellung von der Möglichkeit zur Aktualität des Menschen. Die genannte Überlieferung wird mit einem koranischen Vers in Zusammenhang gebracht, in dem Gott als das Licht des Himmels und der Erde bezeichnet wird. 57 Auf diese Überlieferung berufen sich auch zahlreiche Mystiker und ihnen nahestehende Philosophen. 58 So erscheint der Mensch als ein zweigeteiltes Wesen: Als irdisches Wesen ist er unvollkommen und dem Nichtsein ausgesetzt. Als ein Wesen Ibn Šuʿ ba Ḥarrānī, Abū Muḥammad Ḥasan ibn ʿAlī: Tuḥfat al-ʿ uqūl. (Rahāward-i ḫirad). Hrsg. u. übers. v. Parvīz Atābakī (1376/1997). Teheran, S. 360 ff. Ibn Qutaiba berichtet in seinem Werk »ʿ Uyūn al-aḫbār« ausführlich über die natürlichen Anlagen und Kräfte des Menschen. Darin erkennt man ebenfalls die Sonderposition der menschlichen Seele. Siehe Ibn Qutaiba ad-Dīnawarī, Abū Muḥammad ʿAbdallāh Ibn Muslim: ʿ Uyūn al-aḫbār. Bd. II. Manšūrāt aš-Šarīf ar-Raḍī (q1415/1994). Kairo u. a., S. 62 ff. 55 Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 104. 56 Suhrawardī, Šihāb ad-Dīn: Āwāz-i parr-i Ǧabra īl, in: Maǧmū a-yi siwwum-i muṣanʾ ʿ nafat-i Suhrawardī. Maǧmūʿ a-yi āṯār-i fārisī-yi Šaiḫ-i išrāq. Bd. III. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. Ḥusain Naṣr u. Henry Corbin (1970), Teheran, S. 221. 57 Koran 24/35. 58 Unter anderem: Faḫr ad-Dīn Arāqī (gets. 1290) in seinem »Luma āt« ( Arāqī, Faḫr adʿ ʿ ʿ Dīn: Lumaʿ āt. Hrsg. u. ed. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1363/1984). Teheran, S. 54), Tāǧ adDīn Hwārazmī (gest. ca. 1435/36) in seinem Kommentar des Werkes »Fuṣūṣ al-ḥikma« von Ibn ʿArabī (Hwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ, Bd. 1, S. 527), Muʾ ayyad ad-Dīn Ǧandī (gest. 1292) in seinem Buch »Nafḥat ar-rūḥ wa-tuḥfat al-futūḥ« (Ǧandī, Muʾ ayyad ad-Dīn: Nafḥat ar-rūḥ wa-tuḥfat al-futūḥ. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Hirawī (1362/1983). Teheran, S. 31) und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī in seinem Buch »Mafātīḥ al-ġaib« (aš-Šīrāzī, Mafātīḥ, S. 206); der zweite Teil der Überlieferung fehlt bei ihm. 54

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aber, das mit Intellekt ausgestattet ist, besitzt er eine himmlische Gestalt und hat damit einen Anteil am Unvergänglichen. Diese Dualität paßt jedoch nicht zu dem monistischen Konzept der Seinsabbilder Nasafīs. Denn man kann die Frage stellen, in welcher Form das Irdische und Vergängliche ein Abbild der himmlischen und unvergänglichen Welt ist. Nasafī argumentiert nicht; er schreibt Lehrsätze, in denen die Einflüsse des vorislamischen dualistischen Weltbildes von Licht und Finsternis sowie des monistischen Geistes von Ibn ʿArabī nicht zu übersehen sind. 59 Licht und Finsternis sind zwei Manifestationen der ǧabarūt. Es sind die bereits genannten malakūt und mulk, die wir auch bei Ṣadrā finden. Die erste ist das Himmlische, nämlich die intelligible Welt, die Nasafī den ersten Intellekt (ʿ aql-i awwal) nennt, und die zweite ist die erste Himmelssphäre (falak-i awwal). 60 Ohne ein existentialistisches Konzept zu entwickeln, meint Nasafī, daß diese beiden Welten (Licht und Finsternis) die zwei Seiten derselben Existenz seien, nämlich die innere und die äußere Seite, denn es gibt nur eine einzige Existenz. Daher ist die Existenz sowohl anfangslos als auch in der Zeit entstanden. Nasafī zieht aus seiner Existenzlehre die ontologische Grundlage für die anthropologische Bedeutung der Perfektibilität. Denn dieser Existenz entspringen unzählige Formen, und der Mensch sei die vollkommenste Form der Existenz, weil er Intellekt besitzt. Der Mensch ist die Manifestation des Wissens der Existenz. Damit will Nasafī die existentielle Bedeutung des Menschen durch seine Perfektibilitätsfähigkeit gegenüber anderen Wesen aufzeigen. 61 Diese Dualität des menschlichen Wesens will Ṣadrā hingegen als zwei Seiten des einen Menschen verstanden wissen, und er bemüht sich, wie seine geistigen Vorgänger Suhrawardī, Ibn ʿArabī und Nasafī, einen ontologischen Dualismus zu vermeiden. Sein Ziel ist es, den Seinsmonismus Ibn ʿArabīs, die Existenzlehre Ibn Sīnās und die koranische Vorstellung vom Menschen miteinander in Einklang zu bringen, womit die Grundlage einer eigenen transzendentalen Philosophie intendiert ist. Anders als Nasafī stellt Ṣadrā seine Lehre vom Menschen in seinem philosophischen Gesamtkonzept vor. Er vermeidet, vom dualistischen Begriffpaar Licht und Finsternis zu sprechen. Ṣadrā hinterfragt bewußt den Dualismus, denn so kann er die Dichotomie von Leib 59 60 61

Vgl. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 91 f., 199 f., 268 ff. Ebd., S. 246. Ebd., S. 268–274.

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Ontologische Grundaussagen über den Menschen im H.adīt

und Seele überwinden, die vor ihm unzureichend philosophisch dargelegt wurde. In seinem Korankommentar geht Ṣadrā näher auf den Begriff des Menschen ein und erklärt ihn im Licht seiner Existenzphilosophie. »Mensch« faßt er als einen allgemeinen Begriff auf, der zugleich eine diesseitige/äußere und eine jenseitige/innere Welt umfaßt. 62 Diese zwei Aspekte der menschlichen Existenz gehen jedoch mit seiner Vorstellung vom Sein einher. Wie das Sein zu sämtlichen Existenzformen, so verhält sich die Vernunftseele des Menschen in bezug auf alle Zustände und Stufen der seelischen Entwicklungen. Denn nach seiner Lehre der Einheit des Seins geht Ṣadrā davon aus, daß zwischen dem Sein und den Seienden 63 eine Art »Vielschichtigkeit« (taškīk) besteht, d. h. das Sein befindet sich in absoluten pluralistischen Erscheinungsformen. Demnach ist es mit dem Akzidens akzidentiell und mit der Substanz substantiell. In diesem Sinne ist auch die Vernunftseele materiell mit der Materie, intellekthaft mit dem Intellekt usw. Diese Vorstellung geht auf Ṣadrās Lehre der Existenz und der substantiellen Bewegung zurück, der wir uns in einem Exkurs widmen werden (siehe Kap. I, V, VI). Es gelingt Ṣadrā auf diese Weise, das menschliche Wesen als in einen dynamischen Prozeß eingebunden zu erklären. Daher kann man hier nicht von einem Dualismus im engen Sinne sprechen. Der Mensch vereint beide Aspekte in sich, die sich je nach seiner Erscheinungsform als Seiendes manifestieren. Nach der Existenzlehre Ṣadrās befinden sich die Existierenden in einer Existenzweise, die ihrer Stufe und ihrem Entwicklungszustand entspricht. Hier vereinigen sich das Vergängliche und das Unvergängliche. Man könnte beim Menschen von einem geist- und naturhaften Wesen sprechen, in dem zwei unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Lebensformen in Erscheinung treten. Der Ursprung des himmlischen Teils des Menschen liege allerdings, wie erwähnt, in der Schöpferwelt (ʿ ālam al-amr) Gottes und ist nach dem Koran nicht näher definierbar. 64 Hier wird der Einfluß der Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 135 f., 144–149. In der islamischen Philosophie verwendet man den Begriff wuǧūd für die Existenz per se und mauǧūdāt für die Existierenden, d. h. »die seienden Dinge« oder »alles, was ist« als getrennte Substanzen, insofern sie am Sein und an der Einheit Anteil haben. In der sadraischen Sprache wird wuǧūd für alle Formen der existentiellen Erscheinungsweise und für die absolute Existenz verwendet. Daher wird die Existenz per se von den seienden Dingen nur durch den Grad und die Erscheinungsweise unterschieden. Siehe Duġaim, Samīḥ (2004): Mausūʿ at muṣṭalaḥāt Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī. Beirut, S. 1169–1228. 64 Nach dem Koran nimmt »der Geist« Menschengestalt an. »Der stellte sich ihr dar als 62 63

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

Ontologie und der Leib-Seele-Konzeption der aristotelischen Tradition greifbar.

IV. Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt Mit dem Problem der ontologischen Dualität des Menschen hängt eine weit grundsätzlichere Frage zusammen, die den dualistischen Charakter der geschaffenen Welt insgesamt betrifft: Die Frage ist, wie die Gegensätze von Sein und Nichtsein, Geist und Materie, Seele und Körper, Licht und Finsternis, die für das Verständnis der natürlichen Welt als Schöpfung eine wesentliche Rolle spielen, zu verstehen sind. Handelt es sich jeweils um zwei getrennte Wesen oder sind es nur zwei Formen ein und desselben Wesens? Für die Muʿ taziliten 65 beruht die Welt auf der in ihr verankerten Ordnung, die dem göttlichen Schöpfungswillen entsprang. Der göttliche Willensakt ist ein Schöpfungsakt, und manche Muʿ taziliten haben die Schöpfung sogar als ein »In-Bewegung-Setzen« verstanden. 66 Ursprünglich ist sie aber aus dem »Nichtsein« (ʿ adam) 67 ins Leben gerufen worden, durch die »Verleihung« des Seins aus der göttlichen Welt. Man muß erklären, was es heißt, daß Gott die Welt aus dem »Nichtsein« geschaffen habe. 68 Im Koran findet sich auch die Aussage, Gott sei die ein wohlgestalteter (w. ebenmäßiger) Mensch.« Somit soll er ein formbares Wesen sein und keine rein abstrakte Form. Es sei darauf hingewiesen, daß es sich hier um einen Engel handelt. Siehe Koran 19/17. 65 Zu den Ansichten der Mu taziliten siehe aš-Šahrastānī, Muḥammad Ibn Abd al-Kaʿ ʿ rīm Ibn Abū Bakr Aḥmad: Kitāb al-Milal wa-n-niḥal. Hrsg. v. Muṣṭafā Ḫālaqdād Hāšimī u. Muḥammad Riḍā Ǧalālī (41362/1983) Bd. I. Teheran, S. 66–109; al-Fāḫūrī, Ḥannā u. al-Ǧarr, Ḫalīl (21358/1979): Tārīḫ al-falsafa al-ʿ arabīya. Übers. v. ʿAbd al-Ḥamīd Āyatī. Teheran, Bd. I, S. 114–137; an-Naššār, ʿAlī Sāmī (91995): Našʾ at al-fikr al-falsafī fī lIslām. Bd. I. Kairo, S. 373–524; De Boer, T. J. (1901): Geschichte der Philosophie im Islam. Stuttgart, S. 42–55; Ess, Josef van (1984): Une lecture à rebours de l’histoire du muʿ tazilisme. Paris; Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. IV, S. 445–477. 66 Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. IV, S. 445 f., 451. 67 Der Begriff des »Nichtseins« in der islamischen Philosophie ist als sehr komplex anzusehen. Meint man ein Wesen neben dem Sein oder ist es ein reiner Begriff? Wenn man von der Verleihung des Seins spricht und von der Welt als Potentialität, die das Sein empfängt, dann muß sie (die Welt) bzw. das Nichtsein etwas sein, was noch nicht geworden ist. 68 Der iranische Philosoph Mīrdāmād geht auf diese Frage ein und stellt verschiedene

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Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt

Quelle des Lebens und der Lebensverleihung. Laut der islamischen Tradition ist daher auch das Leben kein Bestandteil des natürlichen Wesens, sondern ein »übernatürliches Phänomen«. Denn alles außer Gott besitzt in der islamischen Theologie kein Leben; es gibt nichts Lebendiges, das sein Leben nicht »direkt« von Gott erhalten hätte. Insofern muß man eigentlich das Leben auf der Erde entweder als etwas Übernatürliches betrachten oder aber als etwas, das erst nach der Materie und als eine besondere »Eigenschaft« der natürlichen Wesen geschaffen wurde. 69 Im zweiten Fall müßte man dann sagen, daß das Leben der materiellen Welt nicht mit dem wahren bzw. absoluten Leben (al-ḥayāt al-ḥaqīqīya bzw. al-ḥayāt al-muṭlaqa) identisch ist. In beiden Fällen ist der Mensch, als natürliches Wesen betrachtet, aus sich selbst heraus nicht lebensfähig. Im Koran wird zwar auch das Wasser als Quelle des Lebens bezeichnet; dies bedeutet aber nicht, daß der Natur ein selbstständiger und eigendynamischer Schöpfungsprozeß zugeschrieben würde. 70 Viele islamische Philosophen und Mystiker sind bestrebt, die Welt als eine Gesamtheit zu verstehen und dabei auch der Frage nach dem Ursprung der natürlichen Welt auf eine Weise nachzugehen, die über den Rahmen der koranischen Aussagen und den des Ḥadīṯ hinausgeht. 71 Denn die Frage lautet: Wenn allem Seienden etwas Ewiges bzw. Erklärungsversuche an. Das absolute, ewige und himmlische Leben steht auch in seinen Andeutungen dem absoluten Nichts entgegen. Siehe Mīrdāmād, Muḥammad Bāqir: Kitāb al-Qabasāt. Hrsg. und eingel. v. Mahdī Muḥaqqiq, T. Izutsu u. a. (1374/1995). Teheran, S. 18 f. 69 Nach koranischer Vorstellung wurde das Leben ebenso wie der Tod geschaffen. Siehe Koran 67/2. 70 Die Aussagen im Koran können meistens sehr differenziert interpretiert werden, zum Beispiel der Satz: »Haben diejenigen, die ungläubig sind, nicht gesehen, daß Himmel und Erde eine zusammenhängende Masse waren, worauf wir sie getrennt (oder: gespalten) und alles, was lebendig ist, aus Wasser gemacht haben«? Wir können nur aus anderen Versen ableiten, daß Gott zuerst alles geschaffen hat, worauf er dann Schritt für Schritt weitere Maßnahmen ergriffen hat. Siehe Koran 21/30 f. 71 Die Philosophen und Mystiker gehen allerdings verschiedene Wege, um das Phänomen der Existenz zu definieren. Manche (die Essentialisten) verleihen der Wesenheit (māhīya) und manche (die Existentialisten) der Existenz (wuǧūd) das Primat. Andere (die Illuministen) erklären das Sein als göttliches bzw. erstes Licht, von dem alles Seiende seinen Ursprung habe. Ob nun von der Wesenheit oder vom Sein bzw. Licht ausgegangen wird, versucht man, einen »logischen« Zusammenhang von Ursache und Wirkung des Lebens darzustellen, in dem der Einheitsglaube, also die Einheit der Existenz, als Ziel gesetzt wird. Diese Vorstellung ist ein Annäherungsversuch an das erste Glaubensprinzip der Muslime, den Monotheismus.

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

Anfangsloses und aktuell Wirkliches vorausgeht, dem die Geschöpfe ihr Sein und ihr Leben verdanken, wie ist dann die Beziehung des Anfangs zu allem, was aus diesem Anfang hervorgegangen ist, zu denken. In den Antworten der islamischen Gelehrten auf diese Frage wird in erheblichem Umfang der Einfluß der platonischen Kosmologie, 72 der aristotelischen Metaphysik und der neuplatonischen Emanationslehre deutlich. Die neuplatonische Emanationslehre sollte das Problem der Beziehung zwischen dem Einen und dem Vielen vor dem Hintergrund der Notwendigkeit plausibel machen: Da allem Seienden etwas Ewiges bzw. Anfangsloses und Wirkliches vorausgeht, dem man das Leben verdankt, muß man auch erklären, wie die Beziehung des Anfangs zu allem daraus folgenden Existierenden und zu allen daraus folgenden Phänomenen vorstellbar ist. Die peripatetische Schule, der Ibn Sīnā, Ibn Miskawaih, Ibn Rušd (lat. Averroes, gest. 1198) und andere Anhänger der rationalen Methode angehörten, stellt die Weltentstehung nach der neuplatonischen Emanationslehre als einen ewigen, intellektuellen Prozeß dar, 73 der seinen Ursprung aus dem göttlichen Einen nimmt und sich in Form eines Emanationsprozesses entfaltet, denn aus Einem geht Eines hervor. Auch al-Fārābī, der als Platoniker bekannt ist, hat diese Lehre, die vor ihm von al-Kindī thematisiert wurde, übernommen. 74 Dieser sogenannte intellektuelle Prozeß ist stufenartig und fungiert sukzessiv bis in die materielle Welt hinein auf gleiche Weise, er ist in allem präsent. 75 Aus dem Einen geht ein aufeinander folgender zehnfacher Intellekt hervor, wie ihn vor allem al-Fārābī und später Ibn Sīnā annehmen. 76 Dabei entstehen ebenso die Himmelssphären wie die Universal-Seelen. 77 Dieterici Vgl. hierzu Paulsen, Thomas (Hrsg./Bearb 2003): Timaios. Stuttgart. De Boer, Geschichte, S. 106. 74 Vgl. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 34 f. 75 Siehe Dieterici, Friedrich (2004): Über den Zusammenhang der griechischen und arabischen Philosophie. Hrsg. v. Verena Mayer. München, S. 93 ff. 76 Im Unterschied zu al-Fārābī, Ibn Sīnā und Ibn Miskawaih geht Averroes wie Aristoteles davon aus, daß Gott selbst der erste Intellekt sei, wodurch der erste Himmel in Bewegung gesetzt und der Welt die Existenz verliehen wird. Über die Frage, wie wichtig die neuplatonische Vorstellung in Averroes Methaphysik ist, gehen die Meinungen auseinander. Siehe Kügelgen, Anke von (1994): Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden/New York u. a., S. 41 ff. Zu Averroes Ansichten siehe auch Fakhry, Majid (2001): Averroes. Ibn Rushd. His Life, Works and Influence. Oxford. 77 Diese drei Existenzformen entstehen nach der rationalistischen Schule aus der drei72 73

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Die ontologische Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt

spricht von einer Gesamtzahl von neunzehn: Zehn ideale und neun reale Sphären. 78 Aus dem letzten Intellekt (also dem zehnten) entsteht die Welt des Möglichen (ʿ ālam al-imkān), in der sich auch der Mensch befindet. Dem letzten Intellekt verdanken die materielle Welt ihre Existenz und Form und der Mensch seinen Geist bzw. die Vernunftseele (an-nafs an-nāṭiqa, wörtlich die sprechende Seele), was man als sein »geistiges« bzw. »intellekthaftes Ich« verstehen kann. 79 Šihāb ad-Dīn Suhrawardī, ein Gegner der peripatetischen Schule und Verfechter der altiranischen Philosophie, 80 der laut Corbin eine Verbindung zwischen griechischer, hermetischer und altiranischer Tradition herstellte, 81 verwandelt hingegen die von seinem Vorgänger entworfene stufenweise Entfaltung des Intellekts in einem Prozeß, der von einem Urlicht ausgeht. Dieser Prozeß läßt sich aber nicht (wie in der Lehre seiner peripatetischen Anhänger) auf zehn Stufen begrenzen. 82 Suhrawardīs Lichtlehre 83 war die philosophische Wende in der islafachen Betrachtungsweise des ersten Intellekts, die aus dem Verhältnis zum Einen resultiert: Bezüglich der Ursache, seines Wesens und des Möglichseins seiner Existenz gegenüber dem Einen. 78 Siehe Dieterici, Über den Zusammenhang, S. 95. 79 Zur Entstehung der Welt siehe al-Kindī, Abū Yūsuf Ya qūb Ibn Isḥāq: Rasā il al-Kindī ʿ ʾ al-falsafīya. Hrsg. v. Abū Rīda, Muḥammad ʿAbd al-Hādī (1419q/1999). Frankfurt u. Kairo, S. 58–74, 201–207, 214–237; al-Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad: Ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila wa-muḍāddātuhā. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. ʿAlī Bū Mulḥim (1995). Beirut; al-Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad: Andišihhā-yi ahl-i madīna-i fāḍila. Hrsg. u. übers. v. Ǧaʿ far Saǧǧādī (21361/1982). Teheran; Ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥusain Ibn ʿAbdallāh: alIšārāt wa-t-tanbīhāt. Mit den Kommentaren v. Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī u. Quṭb ad-Dīn arRāzī. Bd. II, hrsg. v. Našr al-bālaġa (1375/1996). Ghom; Nāṣir Khusraw: Knowledge and Liberation. A Treatise on Philosophical Theology. Hrsg. v. Faquri M. Hunzai (1998) und eingel. v. Parviz Morewedge. London; aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ. 80 Landolt, Hermann: Les idées platoniciennes et le monde de l’image dans la pensée du Šayḫ al-išrāq Yaḥyā al-Suhrawardī (ca. 1155–1191), in: Miroir et Savoir. La transmission d’un thème platonicien, des Alexandrins à la philosophie arabo-musulmane. Edité par Daniel de Smet, Meryem Sebti et Godefroid De Callatay (2008). Leuven University Press, S. 233–250. 81 Vgl. Corbin, Die smaragdene Vision, S. 12. Siehe auch Amin Razavi, Mehdi (1997): Suhrawardi and the School of Illumination. Surrey, S. 4, 10. 82 Siehe Šahrazūrī, Šams ad-Dīn Muḥammad: Šarḥ Ḥikmat al-išrāq. Hrsg. u. kommentiert v. Ḥusain Ḍiyāʾ ī Turbatī (1372/1993). Teheran. Die Entstehung seiner illuministischen Philosophie geht, wie Iqbal glaubt, auf die Emanzipation der islamischen Denker von den Vorbildern der griechischen Philosophie zurück, was man auch anhand von Suhrawardīs kritischen Werken beobachten kann. Vgl. Iqbal, Development, S. 121 ff. 83 Der Name, der zuerst mit dieser Philosophie identifziert wird, ist Šihāb ad-Dīn Suhrawardī. Die Lichtmetaphysik hatte vor allem seit dem 12. Jahrhundert, als die Werke der

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

mischen Welt, die die Existenzphilosophie von Ṣadrā erst ermöglichte, von der ebenso Nasafī beeinflußt war. Suhrawardīs Existenzlehre zufolge entsteht aus dem Licht der Lichter (nūr al-anwār) das erste abstrakte (reine) Licht an-nūr al-muǧarrad und aus diesem alle anderen Wesen, die entweder dem Licht oder der Finsternis nahestehen: Denn alles in der Welt geht entweder auf das Licht oder auf die Finsternis (das NichtLicht) zurück. Das sind die beiden Seiten der Welt des Existierenden. Im Grunde ist nur das Licht der Lichter bzw. das Eine, das bei den islamischen Gelehrten Gott genannt wird, in seinem Wesen nicht der Welt des Möglichen ausgesetzt. Die göttliche Existenz per se ist aber notwendig und ist die Quelle der Entstehungen und Bewegungen. Denn das Licht ist das Leben. 84 Um einen Dualismus zu vermeiden, beschreibt Suhrawardī die Finsternis als etwas, worin das Licht abwesend ist bzw. nur schwach leuchtet. Somit entspringt für ihn die Manifestation bzw. die Erscheinung der Welt aus der Existenz der Essenz des Urlichtes. Dem gegenüber befinden sich die Nichtexistenz bzw. das Nichtlicht, die als Ort der Reflexion des Lichts dargestellt werden. Die Differenz der Lichter – die neben Suhrawardī auch weitere islamische Philosophen annehmen – ist von der Relation ihrer Vollkommenheit und Mangelhaftigkeit abhängig, die sich jeweils aus der Stufe ihrer Erscheinung ergeben, nicht aber aus ihrer Gattung. 85 Denn alles, was in der Welt existiert, ist seinem Wesen nach Licht. Daher nimmt Suhrawardī auch an, daß alles hinsichtlich seiner Existenz und seiner Essenz mit Gott verbunden ist. 86 Das Universum mit all seiner Vielfalt ist ein partieller Anhänger der peripatetischen Schule unter den Muslimen im Westen bekannt wurden, ihre vollständige Form angenommen und damit die neue philosophische Richtung in Iran repräsentiert. Sie stellt eine Mischung aus der altiranischen, platonischen und hermetischen Weisheitsphilosophie dar. Mit ihr wurde vor allem die altiranische Vorstellung vom ersten vollkommenen Menschen in die Idee eines »Lichtmenschen« (insān-i nūrānī) umgewandelt. Dieser Ansatz wird uns im Laufe dieses Kapitels noch beschäftigen. 84 Das Leben (ḥayāt) ist, wie Suhrawardī in seinem Werk »Ḥikmat al-išrāq« beschreibt, etwas, das durch sich selbst lebendig ist: »Das Leben ist etwas, das durch sich selbst evident ist, und das Lebendige [ḥayy] bedeutet das aktiv Perzeptionierende [ad-darrāk al-faʿʿ āl] […]. Der Akt des Lichts ist evident und seinem Wesen nach emanierend [fayyāḍ, überströmend, ausströmend]. Also ist das absolute Licht lebend und das Lebendige das absolute Licht.« Suhrawardī, Šihāb ad-Dīn: Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi duwwum-i muṣannafāt Šaiḫ-i išrāq. Bd. II, hrsg., eingel. u. kommentiert v. Hossein Nasr u. Henry Corbin (1952), Teheran, S. 117. 85 Ebd., S. 119. 86 Vgl. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 84.

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Ausdruck des Urlichtes, aus dem unendliche Möglichkeiten und Aktivitäten hervorgehen können. 87 Auch der Mensch befindet sich daher in einem Spannungsverhältnis zwischen Sein und Nichtsein, Licht und Finsternis. Suhrawardī zufolge hat er einerseits aufgrund seines Geistes bzw. des geistigen Ichs (an-nafs an-nāṭiqa) Anteil am Licht, insofern er vom »leitenden, lenkenden Licht« (an-nūr al-mudabbir) »beleuchtet« wird. 88 Andererseits hat er aufgrund seines Körpers, hier als »Gefängnis« (ṭilasma) bezeichnet, Anteil an der Finsternis. 89 Die Vollkommenheit ist in Suhrawardīs Darstellung der Ausgangspunkt des illuminativen Prozesses. Das Verhältnis der Lichtquelle zu ihren Strahlungen, aus denen alle Lebewesen entstehen, ist beherrscht durch die Vollkommenheitshierarchie. Die Unterschiede zwischen den Dingen und Stufen geht auf die Lichtintensität zurück, ein Gedanke, den wir später in der Existenzlehre von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī finden. Die Rückkehr der Strahlungen zum reinen und vollkommenen Licht wird begründet durch ihr Perfektionsstreben. Das Ziel der Perfektionierung ist die Erkenntnis Gottes und die Betrachtung der intelligiblen Welt, 90 welche nur durch die Befreiung von der körperlichen Welt ermöglicht werden kann. Der Erkenntnisakt und das menschliche Streben nach der höchsten Stufe des Seins sind im Grunde ein ontologischer Akt, mit dem Ziel der Befreiung des Lichtes von der Finsternis, wie es auch ʿAzīz ad-Dīn Nasafī annimmt. 91 Die menschliche Seele verdankt ihr Leben dem Intellekt, der für Suhrawardī unmittelbar aus Gott hervorgeht, und ihre Intellektualität dem göttlichen Licht, das im Gegen-

Vgl. Iqbal, Development, S. 129. »Leitendes, lenkendes Licht« (an-nūr al-mudabbir) ist Ziai zufolge vergleichbar mit dem »zehnten Intellekt«, nämlich dem aktiven Intellekt, der peripatetischen Schule. Vgl. Ziai, Knowledge and Illumination, S. 153. 89 Vgl. Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 214. 90 Das Intelligible ist das Gegenteil von sinnlich erfahrbaren Dingen. Darunter versteht man in der islamischen Philosophie insbesondere die begrifflich erkennbaren Dinge bzw. die materiefreien Urwesenformen. Mit dem Intelligiblen verbinden wir die von der Materialität unabhängigen Dinge. Siehe dazu Horten, Max (1928): Indische Strömungen in der islamischen Mystik II. Lexikon wichtigster Termini der islamischen Mystik. Heidelberg, S. 53. Diwald, Susanne (1975): Arabische Philosophie und Wissenschaften in der Enzyklopädie. Kitāb Iḫwān aṣ-ṣafāʾ (III). Die Lehre von Seele und Intellekt. Wiesbaden, S. 203 ff.; al-Fārābī, Abū Naṣr: Siyāsa madanīya. Kommentiert u. übers. v. Ǧaʿ far Saǧǧādī (1358/1979). Teheran, S. 79. 91 Vgl. Iqbal, Development, S. 150. 87 88

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

satz zur materiellen Welt notwendig ist. 92 Die illuministische Ontologie versucht (wie Ziai zu Recht anmerkt), den Bruch zwischen dem zehnten Intellekt und dem geistigen Ich zu vermeiden. 93 Das ist ein Vorwurf gegen die peripatetische Philosophie, denn es bedeutet einen Erkenntnis- und Bewußtseinsbruch, womit die Theorie der Vereinigung mit der intelligiblen Welt provoziert wird. Die Konsequenz dieser Kritik an der aristotelischen Philosophie und ihrer Anhänger in der islamischen Welt führt zur Entstehung der Äquivozitätslehre (taškīk) bzw. der Lehre von der Vielschichtigkeit des Lichts in Suhrawardīs Lichtphilosophie, die dann zur Grundlage der sadraischen Existenzphilosophie wird. In beiden Philosophien ist die Entstehung eine kontinuierliche und graduelle Ausbreitung aus dem Einen, nämlich aus dem Urlicht bzw. der Existenz per se. 94 Diese Gedanken nimmt Nasafī in seine Existenzlehre auf, mit der er die monistische Position darstellt. Nasafī spricht nicht von der »Vielschichtigkeit des Seins«, aber von der »Entfaltung« (inbisāṭ) und »Ausdehnung« (imtidād) des Seins. Darunter versteht er keine Ausdehnung, die sich physisch äußert – wofür er die Begriffe »Wachstum und Entwicklung« (našw wa-namā) verwendet – Inbisāṭ ist eine »Entfaltung des Seins« (basṭ-i wuǧūd). Sie nennt er »Seele« (nafs), die eine von drei »Stufen« (Sg.: martaba) des Seins ist, nämlich »Essenz« (ḏāt, das Innere), »Antlitz« (waǧh, das Äußere) und »Seele« (nafs). »Essenz« ist der Beginn und das Wesen eines Dinges und daher potentiell. »Antlitz« ist die Existenz der Dinge und daher aktuell. Die Seele ist die Entfaltung des Seins, die die Potentialität und Aktualität miteinander verbindet. 95 Eine solche Vorstellung hält immer noch an der Essentialität fest und widerspricht der Idee der »dynamischen« Funktion des Seins, welche zugleich wie ein fließendes Wasser ist. 96 Eine solche Zweideutigkeit will Ṣadrā mit seiner Theorie des »sich selbst Entfaltens« der Existenz und der »Unwirklichkeit von Essenzen« umgehen, was Fazlur Suhrawardī, Šihāb ad-Dīn: Hayākil an-nūr. Eingel. und hrsg. v. Muḥammad ʿAli Abū Rayyān (1376q/1956). Kairo. S. 64 f. 93 Vgl. Ziai, Knowledge and Illumination, S. 143–145, 145. 94 Ebd., S. 170 f. 95 Vgl. Nasafī, Azīz ad-Dīn: Kašf al-ḥaqā iq. S. 40 f. ʿ ʾ 96 Ebd., S. 54 f. Es soll darauf hingewiesen werden, dass Nasafīs Lehre keineswegs essentialitisch verankert ist wie man es bei Suhrawardī kennt. Siehe Landolt, Hermann: »ʿAzīz-i Nasafī and the Essence-Existence Debate«, in: Āštiyānī, Sayyid, Akiro Matsumoto et al. (Hrsg. 1998): Consciousness and Reality: Studies in Memory of Toshihiko Izutsu. Tokyo, S. 387–395. 92

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Rahman die Besonderheiten der Philosophie Ṣadrās nennt, und er kritisiert Ibn ʿArabī dafür, daß er noch an Essenzen festhält. 97 Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī vertritt im Gegensatz zur essentialistischen Position Suhrawardīs eine existentialistische Philosophie. Diese Position ist nicht primär die Folge seiner Lichtphilosophie, sondern gegen den peripatetischen Existenzbegriff gerichtet. Die Abkehr von der essentialistischen Position stellt die Grundlage einer Existenzphilosophie dar, mit der Ṣadrā die Beziehung der veränderbaren zur unveränderbaren Welt als einen dynamischen Vorgang der Perfektibilität darzustellen versucht. Auch Ṣadrā bedient sich der Lichtmetapher, wobei er Licht und Sein gleichsetzt. Gott ist für ihn das höchste Licht, wie er formuliert, Licht der Lichter, das alle seine Erscheinungen umfaßt. Er geht (wie auch Suhrawardī) davon aus, daß die Ursache aller Existenzen alle Wirkungen und Eigenschaften, die sie verursacht, selbst enthalten muß, denn sonst wäre es unmöglich, eine schöpferische Beziehung zwischen Ursache und Wirkung anzunehmen. Diese Ursache-Wirkungsbeziehung stellt sich in Ṣadrās Existenzphilosophie als eine dynamische Korrespondenz dar, denn Ursache und Wirkung sind zwei Formen derselben Existenzerscheinung. 98 Die Existenz ist in Ṣadrās Philosophie das einzige Reale. Was wahr ist, ist die Existenz! Existenz erscheint mit allen ihren Modi (Wissen, Kraft, Wille, Intellekt) unterschiedlich. Daher gibt es keinen essentiellen Unterschied zwischen den Seienden. Daher enthalte auch das schwache Seiende wie z. B. der Stein dieselben Modi wie alle anderen Existenzformen, aber sie sind verborgen. 99 Ṣadrā stellt sich daher gegen den Essentialismus. Unterschiede faßt er nur als graduell auf und glaubt, die essentielle Gegensätzlichkeit zwischen den Dingen vermeiden zu können, wodurch auch die Einheit des Seins nicht verloren geht. So versucht er, die Idee der Perfektibilität ontologisch zu begründen. Die Konsequenz dieser Existenzphilosophie ist, daß die Wesenheit nur auf die reine geistige Konstruktion und Grenze zwischen den Existierenden reduziert wird. Daher ist Existenz einmal Ursache und einmal Verursachtes. Was man darunter verstehen soll, erklärt Kamal folgendermaßen: Abhängigkeit und Vertrauen auf etwas anderes als auf sich selbst ist der Charakter der Wirkungen: »The existence of a 97 98 99

Vgl. Rahman, The Philosophy, S. 12. Vgl. Nasr, The Islamic Intellectual, S. 281. Ebd., S. 279.

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I Die ontologische Bestimmung des Menschen und seiner Seele

cause does not rely on its effects, because it is independent and selfsubsistent. Dependence and reliance on something other than itself is the character of the effects«. Die Wirkungen seien sowohl notwendig, wenn sie mit ihrer vollkommenen Ursache verbunden sind, als auch unmöglich in Abwesenheit dieser vollkommenen Ursache. Wenn eine Ursache eine Wirkung schafft, dann ist diese Wirkung Anlaß für ihre eigene Wesenheit im Geist, und auf diese Weise ist die Wesenheit von der Existenz der Wirkung abgeleitet. 100 Damit macht Kamal aber nicht deutlich, welche ontologische Folge diese Position für die Idee der Perfektion in Ṣadrās Existenzphilosophie hervorruft. Scheinbar will Kamal betonen, daß die Wesenheit nicht verursacht ist, sondern die Seienden nur begleitet, denn er fragt, ob die Wesenheiten vom Sein verursacht sind, und gibt zu bedenken: »What is important to remember here is that essences have no reality for Mullā Ṣadrā. They exist in the mind or intellectually.« 101 Um das Verhältnis zwischen der illusorischen Wesenheit und der realistischen Existenz zu definieren, kennt Kamal nur eine plausible Erklärung. Er benutzt dafür Hegels Analyse der äußeren Realität und seine Interpretation der Welt als eine Selbstmanifestation des Geistes. 102 In diesem Sinne wird das Sein als eine objektive Realität verstanden, die sich selbst in verschiedenen Formen entfaltet und Ursache für die vielen Seienden und ihre Wesenheiten ist. Sein in diesem Sinne ist eine dynamische Quelle (»dynamic fountainhead«) aller Dinge wie auch ihrer Wesenheiten. 103 Die Unterschiede der Erscheinungen entsprechen damit dem Grad der Vervollkommnung und der Art der Erscheinung der jeweiligen Existenzformen. Deshalb sind die Differenzen nicht essentiell. Das Licht der Lichter verhält sich daher in bezug auf Existenzen wie das Verhältnis des Sonnenlichtes zu allen Farberscheinungen. Die Differenzerscheinungen ergeben sich je nach Nähe und Ferne, nach Vollkommenheit und Mangel oder je nach Schwäche und Stärke und beruhen daher nicht auf der Essenz des Lichts der Lichter, sondern entsprechen vielmehr der Art und Weise, wie die Ursache im Verursachten in Erscheinung tritt. 104 Die Stufenfolge der Wirkungen setzt sich Ṣadrās Meinung nach bis in die niedrigste Stufe des Lebens, Siehe Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 62. Ebd., S. 62. 102 Ein Vergleich, den Christian Jambet nicht vertreten kann: Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 9. 103 Siehe Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 61. 104 Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašā ir, S. 180 f.,189. ʿ 100 101

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S.adrās Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte

die materielle Stufe, fort. Umgekehrt hat nun aber die letzte Materie die Anlage, sich zu vervollkommnen, bis sie ihren Ursprung erreicht hat. Ihr Vervollkommnungsprozeß führt sie zur Welt des Intellekts und letztlich zu Gott. Um Ṣadrās Philosophie und ihre Bedeutung für die Idee der Perfektibilität zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle näher auf die zentralen Begriffe in seiner Existenzphilosophie wie Existenz, Essenz, Bewegung, Werden und Seele eingehen, um den anthropologischen Bezug zur ontologischen Weltsicht in der islamischen Welt begreifen zu können. Die Frage nach dem Wesen und der Entwicklung des Menschen geht in der islamischen Philosophie eng mit der Frage nach dem Sein einher und wird vom Seinsprozeß nicht getrennt betrachtet. Ṣadrās Lehre vom Sein und der substantiellen Bewegung soll uns jetzt als Perspektive dienen, um diese Frage vertieft zu untersuchen.

V. S.adrās Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī verdanken wir die Begründung einer philosophischen Schule, in der er den Versuch unternimmt, die Beziehung von Seele und Natur als notwendige Folge des Entstehungsprozesses innerhalb einer Existenzphilosophie zu deuten. Ṣadrās Theorien liefern Grundlagen, anhand derer wir deutlich machen können, daß die islamische Philosophie, obwohl sie sich der aristotelischen Logik bedient, eher ein geistig-asketisches Ziel vor Augen hat, als daß sie anstrebt, eine formale und demonstrative Wissenschaft zu sein. 105 Seine Transzendentalphilosophie (al-ḥikma al-mutaʿ āliya) ist deutlich darum bemüht, die unterschiedlichen philosophischen Richtungen unter Vermeidung von Widersprüchen zu vereinen. 106 Alles muß einer Intention unter105 Wir werden noch darauf zurückkommen, daß dieser Ansatz mehr oder weniger für die meisten islamischen Philosophen des Mittelalters gilt und auch für viele ihrer Nachfolger der Neuzeit, die sich vor allem im schiitischen Raum befinden, obwohl nicht bestritten wird, daß es Aussnahmen gibt. Eines der wichtigsten Ziele der Philosophie im Islam war, daß der Mensch sich durch die Erkenntnis zu einem vollkommenen Wesen entwickelt. Dies schafft er nicht nur durch die rationalen bzw. deduktiven Beobachtungen, sondern durch die Verinnerlichung der Philosophie als einen praktischen Prozeß der seelischen Steigerung. Siehe darüber Pierre Hadots Studie zur antiken Philosophie; Hadot, Philosophie als Lebensform. 106 Vgl. Fakhry, A History, S. 341 f., 346.

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worfen werden, daher stellt sich Ṣadrā für die Welt des Vergänglichen eine ewige, für das Zeitliche eine anfangslose und für das Unvollkommene eine vollkommene Seite als Gegenstück vor. In all seinen Werken kommt die intentionale Übereinstimmung des Partikularen und des Universellen zum Ausdruck, die in ein Mikro-Makro-Weltverständnis und in eine Einheitsvorstellung des Daseins umgedeutet werden. Die Idee der Notwendigkeit der Perfektibilität ist damit in seinem Gesamtkonzept mit einkalkuliert. Fazlur Rahman hat in seiner Untersuchung die zentralen Intentionen von Ṣadrās Philosophie zusammengefaßt, in denen sich »the Self-Unfolding Existence« und die Idee von »motionin-substance« ihr Ziel suchen: »The result ist that (1) ›grades‹ of being are no longer fixed and static but ceaselessly move and achieve higher forms of existence in time; (2) ›existence‹ is applicable to all evolutionary stages bi’l-tashkik, i. e., with systematic ambiguity, and no other concept has this character: only existence is that principle which ›by virtue of being simple and unitary (basīṭ) creates differences‹ ; (3) this movement of the universe (which is irreversible and unidirectional) ends in the ›perfect man‹, who becomes a member of the Divine Realm and becomes unified with the Attributes of God;«. 107

Die Selbstentfaltung der Existenz von einem einzigen und reinen Sein hin zu einer Welt der Vielfalt einerseits und die permanente Bewegung im Schöpfungsgeschehen und dessen evolutionärer Charakter andererseits sind Züge, die Ṣadrās Existenzphilosophie für die Idee des Perfekten prädestinieren und von der höchsten Stufe hin zur niedrigsten Stufe des Daseins gleichermaßen von Bedeutung sind. Sie schaffen die Grundlagen für eine Prozeßphilosophie. In seiner transzendentalen Philosophie stellt der Entwurf der »substantiellen Bewegung« (al-ḥaraka al-ǧauharīya) einen Glückstreffer für das Vorhaben dar, das Problem der zeitlichen Entstehung der Welt und die Existenz der Seele in der materiellen Welt neu zu definieren (obwohl hier nicht behauptet werden soll, daß seine Theorie das Rätsel des Lebens und die Probleme der Entstehung der Welt gelöst hat). Doch bevor wir uns darauf einlassen, soll kurz sein Begriff der Existenz vorgestellt werden, auf dem sein gesamtes philosophisches System aufgebaut ist: Wie viele seiner Vorgänger hält Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī an der tra107

Rahman, The Philosophy, S. 11.

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ditionellen Vorstellung des »Primats der Existenz« (aṣālat al-wuǧūd) fest. Im engen Sinne trifft diese Position, wie Açikgenç zu Recht betont, am ehesten auf Ṣadrā zu. 108 Die Existenz ist für Ṣadrā »evident« und zeigt sich in verschiedenen Seienden analog: »Denn der Intellekt findet zwischen einem Existierenden und einem anderen Existierenden etwas an Verwandtschaft und Ähnlichkeit.« 109 Die Existenz, die in der Philosophie Ṣadrās für das Sein (arab. wuǧūd, pers. hastī) steht, umfaßt alle Formen der Existierenden. Somit ist Gott »das Bewirkende« für das, was in der Welt geschieht, und somit »das Prinzip des Existierens und des Existenzverleihenden«. 110 Das Sein ist das Herz seiner transzendentalen Philosophie, worauf er seine gesamte Vorstellung von der Entstehung und der Hierarchie des existentiellen Gesamtbildes der Welt aufbaut. Man darf die Philosophie Ṣadrās nicht auf eine reine Ontologie reduzieren. Das Sein ist die Grundlage des philosophischen Denkens, welches in allen Bereichen präsent ist. Nach Ṣadrā muß man zwischen dem Begriffsinhalt von »Sein« und dessen Extension unterscheiden. Der Begriff des Seins ist eine geistige Abstraktion, wobei das Sein selbst eine reale Extension (miṣdāq) hat, die selber »ist«. Daher ist eine Definition des Seins unmöglich, da es durch sich selbst und nicht durch einen Gegenstand Realität hat. Das Sein hat weder Gattung noch Genus noch Differentia. Es umfaßt alle Seinsformen, es geht allen Existenzen voraus, die durch das Sein definiert werden, deshalb wird das Sein (entspricht »ist«) in einem Satz in unserem Sprachgebrauch immer als Prädikat (maḥmūl) verwendet, keineswegs als Gegenstand (mauḍūʿ ). Es ist selbst intuitiv wahrnehmbar, man kann jedoch seine Wesenheit (māhīya) nicht erkennen. Ṣadrā argumentiert sowohl gegen jene Philosophen, die dieser Wesenheit das Primat zuschreiben, 111 als auch gegen die Existentialisten, die das Sein als eine Homonymie (ištirāk-i lafẓī) betrachten. Für Ṣadrā ist der Begriff »Sein« nur ein Begriff für eine Abstraktion des Geistes, ihre Homonymität geht über das rein Begriffliche hinaus, und das Sein erfaßt die gesamten in der Außenwelt real existierenden Existenzen (ištirāk maʿ nawī). 112 Siehe Açikgenç, Being and Existence, S. 3. Zitat nach Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 20. 110 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 13 f. Vgl. Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 63. 111 Für Suhrawardī als Essentialist gilt, daß alles Seiende nur Wesenheiten, also bloße Verstandesbegriffe (mentale Begriffe) sind. Der Begriff māhīya wird je nach Kontext mit Wesenheit, Essenz oder Quiddität übersetzt. 112 Siehe aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašā ir, S. 129 ff. ʿ 108 109

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Ṣadrā glaubt, daß alles, was in der Außenwelt existiert, eine Form des Seins und keine Wesenheit (māhīya) ist. Genauer gesagt: Die Seienden sind Modi des Seins. Daher gibt es zwischen Wesenheit und Sein keine ontologische Trennung. Sie sind ontologisch untrennbar und unterscheiden sich nur im Denken. Existenz ist weder vor noch nach der Wesenheit, noch sind beide gleichzeitig. Kamal nimmt Heideggers Unterscheidung zwischen Phänomen und Erscheinung als eine Parallele zu Mullā Ṣadrā. So wie sich das Phänomen durch seine Erscheinungen (im Sinne von Zeichen) zum Ausdruck bringt und dadurch das Phänomen erst erkannt wird, so soll dasselbe Verhältnis zwischen Sein und seinen Modi gelten. Das Sein drückt sich in vielfältigen Modi aus. 113 Für Ṣadrā besteht der Bruch zwischen Existenz und Wesenheit nur scheinbar. Das Sein richtet sich auf seinen göttlichen Gehalt. Zu existieren heißt für das Existierende, im Sein eingerichtet zu sein oder das Sein als Existenzakt erhalten zu haben. Jambet weist darauf hin, dass schon Avicenna die Gegenwart einer platonischen Idee in seinem System weit von sich weist. Der konzeptuelle Bruch zwischen Wesenheit und Existenz ist kein Spiel des Geistes, sondern der Brennpunkt, der die konkrete Hierarchie der Existierenden hervorbringt, vom Notwendigen bis zu den letzten Graden des Möglichen. 114 Die Analyse des Seins setzt voraus, daß das Sein eine Begründung und eine Rechtfertigung besitzt, anders als bei den modernen Philosophen, bei denen es um »Geworfenheit und Zufälligkeit« geht. 115 Die Wesenheit hat bei diesen also keine eigene Realität in der Außenwelt und ist nur eine Abstraktion des Geistes, die die Grenzen der Existenzen markiert. Diese Vorstellung vom Sein hat sich bis in die neueste Zeit erhalten. 116 Ṣadrā geht davon aus, daß das Sein sowohl eine extensionale bzw. objektive Existenz (arab. wuǧūd ʿ ainī, pers. wuǧūd-i ʿ ainī) als auch eine intensionale bzw. subjektive Existenz (arab. wuǧūd ḏihnī, pers. wuǧūd-i ḏihnī) besitzt. Das Sein im Geist hat eine begriffliche Existenz, die dem Realen entspricht. Die subjektive Realität nennt Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 7. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 111. 115 Ebd., S. 107 ff. 116 Mullāh Hādī Sabzawārī (gest. 1878), ein bedeutender iranischer Interpret der sadraischen Schule des 19. Jahrhunderts, ist daher der Meinung, daß das Sein als Begriff evident und in der höchsten Offensichtlichkeit sei, aber seine Essenz in höchster Verborgenheit liege. Vgl. Sabzawārī, Hādī: Šarḥ-i Manḏūma. Kommentiert von Murtaḍā Muṭahharī (41376/1997). Teheran u. a., S. 26. 113 114

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er auch die Schattenexistenz (pers. wuǧūd-i ẓillī), womit er eine Existenz meint, die im Schutz bzw. Schatten einer anderen Existenz besteht, was auf die Sinnbildlichkeit der wahren und objektiven Realität im Geist als eine Art Spiegelbild verweist und ein Seinsentwurf der Seele ist. 117 Daher erfaßt das Sein sowohl seine Objekte in der Außenwelt als auch als allgemeiner Begriff seine Begriffe. Ṣadrā verleiht damit dem Sein das Primat und die Apriorität, die vor allen Existenzen steht, gleichgültig, ob der Begriff »Sein« als Kopula (rābiṭ) in einem Satz steht (wie im Satz »X ist Student«) oder als Prädikat (maḥmūl) für ein Subjekt (»X existiert«). Die Existenzen in Sein und Wesenheit zu differenzieren, ist nur ein Akt des Geistes, der allen Existenzen zukommt, während das absolute Sein nur eine objektive Realität in der Außenwelt hat, da sein Wesen mit seinem Sein identisch ist. Das Sein ist in seiner Essenz rein und einfach (basīṭ), d. h. nicht zusammengesetzt, und es ist bestimmt bzw. etwas Individuelles durch seine Essenz (fa-huwa fī ḏātihī amrun basīṭun mutašaḫḫiṣ biḏātihī). 118 Das Sein an sich, d. h. das absolute Sein, nimmt keine Dinglichkeit, Universalität, Partikularität, Substantialität, Akzidentialität, Gattung usw. an. Es handelt sich hierbei um Begriffe, die der abstrahierten Wesenheit entnommen werden, die Ṣadrā zu den sekundären bzw. aposteriorischen Intelligiblen (arab. al-maʿ qūlāt aṯ-ṯānīya, pers. maʿ qūlāt-i ṯānawīya) zählt. Er spricht von einem Ding in der Außenwelt, und dies ist das Sein selbst, das sich in verschiedenen Stufen und Aspekten manifestiert. 119 Wie er mit einem solchen ontologischen Konzept zwei Aspekte des Daseins, einerseits die Reinheit und Einheit des Seins und andererseits die Vielheit der Existenz, zu erklären glaubt, bleibt unverständlich. Denn um von der reinen Einfachheit und Absolutheit die Vielfalt abzuleiten, muß man entweder die Vielfalt für unreal erklären oder die Absolutheit für widersprüchlich. Fazlur Rahman weist ebenso auf den Widerspruch in Ṣadrās Existenzlehre hin, die den Seinsmonismus Ibn ʿArabīs mit seiner »Äquivozität des Seins« (taškīk) zu vereinbaren sucht. 120 Die Besonderheit dieser Vorstellung führt auf je-

Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār. Bd. I, S. 263 ff.; ders., Kitāb al-Mašāʾ ir, S. 7. Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʾ ir, S. 7, 44. 119 Zu den Ansichten Ṣadrās über das Primat des Seins siehe: aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 38 ff.; Açikgenç, Being and Existence; Rahman, The Philosophy; Āštiyānī, Šarḥ-i ḥāl; ders., Hastī; Leaman, A Brief Introduction. 120 Rahman, The Philosophy, S. 37 f. 117 118

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den Fall zu »unterschiedlichen ontischen Konsequenzen«. 121 Ṣadrā unterscheidet sich damit von seinen Vorgängern (al-Fārābī und Ibn Sīnā) darin, daß die »göttliche Selbstreflexion«, wie Rudolph formuliert, nicht nur eine einzige Entität bewirkt. Denn das erste Sein, das durch göttliches Denken hervorgebracht wird, bleibt nicht auf sich beschränkt. Es kann »mit und in den Dingen (die es hervorbringen wird) existieren«. Das ist »das Sein, das sich selbst entfaltet« (al-wuǧūd al-munbasiṭ), das mit »dem Ewigen ewig und mit dem Zeitlichen zeitlich ist«. 122 Schon am Anfang wurde der Kern der Vielheit in der Einheit »vorprogrammiert«. Die zweite Konsequenz der göttlichen Reflexion wäre dann die Vielheit der Dinge, die die Manifestation der göttlichen Attribute darstellt. Damit ist die Welt in all ihren Aspekten die Manifestation und Spiegelung des Einen, das vollkommen ist. »Aber das heißt nicht, daß er (der Kosmos) in einem Zustand der Vollendung wäre und keine innere Dynamik mehr, kein Streben nach Vollkommenheit besäße«, wie Rudolph betont. 123 Durch den Begriff der Vielheit wird der Begriff des Werdens miteinbezogen. Werden wird als ein intentionales Fortschreiten vom Unbestimmteren zum Bestimmteren hin bezeichnet, d. h. das Sein manifestiert sich in unterschiedlichen Modi und Abstufungen. 124 Kamal spricht daher von einer »ontologischen Wende«, denn Ṣadrās Existenzphilosophie sei eine Abkehr von der neuplatonischen Emanation hin zu einer Manifestationslehre. Das Werden des Seins sei genau umgekehrt ein »irreversibles Fortschreiten« vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. 125 Ḥāʾ irī Yazdī (gest. 1999), ein von Ṣadrās Existenzphilosophie beeinflußter zeitgenössischer iranischer Philosoph, vertritt sogar die Auffassung, daß das Sein nicht durch das Adjektiv »absolut« bedingt werden darf: Das Sein muß frei sein von jeglicher Bedingtheit. 126 Damit möchte Ḥāʾ irī die Pluralität und die Idee der Einheit plausibel machen. Dieses Sein, d. h. das absolute Sein, das bei Ṣadrā ebenso den Aspekt der »Selbstentfaltung« enthält, sei al-wuǧūd al-munbasiṭ das Erste, was Rudolph, Ulrich, Islamische Philosophie, S. 102. Ebd., S. 103 123 Ebd. 124 Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 8 125 Ebd., S. 8. 126 Siehe Hajatpour, Reza (2002): Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus. Wiesbaden, S. 241 f. 121 122

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Gott aus seinem Wesen hervorbringe. Dies sind der erste Akt Gottes und sein Spiegelbild, welches der Ursprung alles Seienden ist. Daraus resultiert die Vorstellung, daß in Gott der Seinsakt frei ist. In den abgeleiteten Existierenden ist er aber gebunden. Gott ist nicht der absolute Seinsakt, wie auch Jambet Ṣadrā versteht. Der Seinsakt ist jenseits des Absoluten und des Bestimmbaren, auch wenn Ṣadrā Gott mitunter als »absolutes Sein« bezeichnet. Das Sein kann eben nicht bestimmt und definiert werden, auch nicht als absolutes Sein. Denn aus dem Seinsakt geht alles hervor: Fluß, Hierarchie und Unterschiede. 127 Ṣadrās Lehre von Einheit und Vielheit, die im Kontext seiner Existenzphilosophie zu verstehen ist, ist, wie Jambet es versteht, eine Gleichsetzung des Wirklichen, des Seins und des »Einen«: Das Wirkliche aufgefaßt als unendliche Energie seiner selbst, die Einheit aufgefaßt als Ursprung und Ziel der Wirklichkeit, das Sein aufgefaßt als Effektivität des Seienden. 128 Gegenüber Avicenna und Kant, so meint Jambet, ist für Ṣadrā die Wahrheit des Seins (wuǧūd) die konstitutive Voraussetzung der Wirklichkeit des Existierenden, und eben der Sinn dieser Wahrheit muß das Subjekt der metaphysischen Reflexion sein. 129 Mit seiner Lehre der »Selbstentfaltung des Seins« versucht Ṣadrā, die drei Weltzustände, das heißt die »triadischen Seinsarten«, die Mystiker wie ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī (q767–832/1365–1428), 130 Nasafī und andere Interpreten des geistigen Erbes Ibn ʿArabīs aus einem »Abstiegsprozeß« des Göttlichen ergeben lassen, in einen dynamischen Existenzprozeß umzuwandeln. Sie unterscheiden sich voneinander formal und zum Teil auch inhaltlich, wobei die inhaltlichen Differenzen von Bedeutung sein können. Nichts darf bei Ṣadrā die Einheit der Existenz beeinträchtigen. Das gilt ebenso für Ibn ʿArabī und seine Interpreten. Daher teilt Ṣadrā die Welt in eine »Einsheit« (aḥadīya), die den von al-Ǧīlī verwendeten Begriffen wie »Essenz« (ḏāt), »dunkler Nebel« (ʿ amā, Dunkelheit, Trübsein) und »Verborgenes im Verborgenen« (ġiyāb alġuyūb) entspricht, und in eine Vielheit, wofür al-Ǧīlī die Begriffe »Einsheit« (aḥadīya), 131 »Erheit« (huwīya) und »Ichheit« (innīya) verwenVgl. Jambet, L’acte d’être, S. 74. Ebd., S. 14. 129 Ebd., S. 60. 130 Zu Leben und Werk al-Ǧīlīs siehe al-Massri, Göttliche Vollkommenheit, S. 11 ff. 131 Aḥadīya könnte man auch als anfangslosen Anfang wie den Begriff azal verstehen, denn aḥadīya ist die erste Erscheinung, die aus der absoluten Essenz hervorgeht, und zugleich deutet dieser Begriff auf die Einheit, Einzigkeit und Absolutheit Gottes hin. Die 127 128

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det. 132 Es sind drei Schritte in den triadischen Seinsarten des Höchsten, die sich von der Essenz her zur Konkretisierung der Einheit vollziehen. Wie bei Ṣadrā ist die Welt auch bei al-Ǧīlī die Erscheinung göttlicher Essenz (aḏ-ḏāt). 133 Diese befindet sich in höchster Verborgenheit, die wir als die »Urfinsternis« 134 oder die »einsame Dunkelheit« (so Pico della Mirandola) 135 bezeichnen können. Ṣadrā verwendet dafür auch den Begriff »das absolute Sein« (al-wuǧūd al-muṭlaq). Die Essenz befindet sich in einem Zustand des Unthematischen, den al-Ǧīlī als die »Realität der Realitäten« (ḥaqīqat al-ḥaqāʾ iq) bezeichnet. 136 Darin haben Stufen, Relationen, Gegensätze, Eigenschaften, Namen, Wahrheit und Geschöpfe keinen Bestand. Diese »Urrealität« befindet sich jenseits der Erscheinungen, des Konkreten und des Bewußten. 137 Zu ihr gehören die »Existenz« (wuǧūd) und die »Nichtexistenz« (ʿ adam), das »Werden« (ḥudūṯ, zeitliche Entstehung) und die »Zeitlosigkeit« (qidam). Diese »Urrealität« ist die Essenz selbst, allerdings verhüllt, in einer Art »nicht Vorhandensein« (maʿ dūm) bezüglich ihrer Essenz, und existiert bei sich. Mit diesem »Verhülltsein« oder »Abwesendsein« drückt al-Ǧīlī das Unthematische als Grund alles Seienden aus. Das ist eine Seinsart, der meines Erachtens eine Ontologie der Macht und Machbarkeit zugrunde liegt. Sie ist die Möglichkeit alles Werdenden und die Notwendigkeit alles Seienden. Sie ist der anfangslose Anfang und das endlose Ende. Sie ist der Grund des Selbstseins und der Selbstübersteigerung. Die »Einsheit« entsteht, wenn sich die Essenz von sich selbst entfernt. Diese Einsheit ist zunächst eine Art »Konkretisierung des Absoluten«. Übersetzung aḥadīya als Einsheit geht stark auf die Einheit Gottes zurück. Wir übernehmen hier Iqbals Übersetzung dieser drei »Abstiegsprozesse«. Iqbal, Die Entwicklung der Metaphysik, S. 58 f. Siehe Iqbal, Development, S. 153. Siehe ebenso Nicholson, Studies in Islamic, S. 95 ff. 132 Vgl. al-Ǧīlī, ʿAbd al-Karīm: al-Insān al-kāmil fī maʿ rifat al-awāḫir wa-l-awāʾ il. Bd. I. Eingel. u. hrsg. v. Raǧab ʿAbd al-Munṣif ʿAbd al-Fattāḥ al-Mutanāwī (q1419/1999). Kairo, S. 152. 133 Ebd., S. 90. 134 Es muß darauf hingewiesen werden, daß der Begriff »Finsternis« in der illuministischen und altiranischen Philosophie negativ besetzt ist. Mit dem Begriff der »Urfinsternis« ist hier keineswegs ein ethischer Wert verbunden, sondern nur ein Zustand höchster Unbestimmtheit. 135 Siehe Hajatpour, Iranische Geistlichkeit, S. 324. 136 Vgl. al-Ǧīlī, al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 125. 137 Ebd., S. 125 ff.

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Gemeint ist hier, daß die Essenz aus ihrer »untätigen, in sich ruhenden und verhüllten Insistenz« 138 ausbricht und ihr Absolutsein als Essenz enthüllt. Diese »Einsheit« ist die Essenz selbst bezüglich ihrer höchsten Manifestation, die im Verhältnis zur »Erheit«, die ihr folgt, das Selbstsein darstellt. Hier geschieht die reine Selbstbetrachtung, die durch Selbstentfernung hervorgeht. Wir können von einer »göttlichen Selbsterkenntnis« reden, einer Bewußtwerdung der absoluten Einheit. Die »Einsheit« ist somit der Ausdruck des Absoluten in sich. Mit der »Erheit« enthüllt sich die Essenz bezüglich der Manifestation dessen, was anders ist als er selbst. »Erheit« ist die »Konkretisierung des Verhüllten« hinsichtlich seiner äußeren Manifestation. Das ist eine Betrachtung der Essenz, die sich ihrer selbst und der Möglichkeit der Betrachtung eines anderen bewußt wird. Die Beendigung des »In-Sich-Seins« der Essenz beginnt mit der »Ichheit«. Hier vollzieht sich die Konkretisierung der Einheit und vollendet sich die Manifestation. Diese ist eine Manifestation Gottes vom Verborgenen zum Sichtbaren, vom Unbedingten zum Bedingten, vom Indifferenten zum Bestimmten, vom Unbewußten zum Bewußten und vom Unthematischen zum Thematischen. Dieser Manifestationsprozeß entspringt einer triadischen Seinsart, die wiederum einen Perfektionsprozeß einleitet. Es ist eine Art »von sich fortbewegen und zu sich kommen« bzw. »sich thematisieren« und »sich entthematisieren«, was in der Sprache der Mystik »Abstieg« (nuzūl, hubūṭ) und »Aufstieg« (ʿ urūǧ, miʿ rāǧ) genannt wird. Der Zustand des »Bei-Sich-Seins« ist selbst kein Zustand. Denn darin sind das Sein und das Nichtsein gleichbedeutend. Notwendigkeit, Unmöglichkeit und Möglichkeit gehen aus dieser Konstellation des Urgrunds des Daseins hervor. Alle Existierenden haben daher das Prinzip der Möglichkeit und der Notwendigkeit inne. Ihre Existenz und Fortbewegung machen ihre Notwendigkeit aus, und ihr Werden und Vergehen ihre Möglichkeit. In der »Triadizität« der Daseinsarchitektonik finden drei Seinsarten ihren Ausdruck, die das Unvollkommene möglich machen und die Vervollkommnung notwendig. Der »Abstiegsprozeß« ist daher der Manifestationsprozeß vom Unthematischen hin zum Thematischen. Mit Muḥammad Iqbal können wir sagen: »here the darkness of Pure Being is illuminated, nature comes to the front, the Ab138 Der Begriff Insistenz kommt aus der Lehre des argentinischen Philosophen Ismael Quiles. Siehe Schadel, Erwin (1996): In-sistenzphilosophie. Eine systematische Einführung in den Denkansatz des Ismael Quiles. Cuxhaven u. a.

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solute Being has become conscious«. 139 Diese Erleuchtung und das Bewußtwerden des Absolut-Seins zeichnen eine schöpferische Kraftquelle ab. Die »Ichheit« ist somit ein Selbstentwurf, der durch göttlichen »Abstieg« bzw. die Ausdehnung des Seins hervorgerufen wird. Gott betrachtet sich selbst und die Welt (das Andere) aus der Distanz: von »reiner Indifferenziertheit« zum »Selbstsein«, zum »Ersein« und letztlich zum »Ichsein«. Dieser Entwurf vollzieht sich im Menschen durch die Aussprache des »Ich«. 140 Dem »Abstieg« folgt ein »Aufstieg«, bei dem sich diese manifestierte Einheit bzw. die konkrete bzw. personhafte Einheit mit ihrem Ursprung zu vereinen suchen. Der »Aufstiegsprozeß« muß ebenso die eben genannten drei Seinsarten vollenden. Während beim Abstieg die Selbsterkenntnis auch die Erkenntnis des Anderen hervorruft, setzt sich nun im Aufstieg ein Einheitsprozeß in Gang, in dem Erkenntnis und Liebe ein und dasselbe werden. Gott leitet mit dem »Abstieg« bzw. einem »Sich-Distanzieren« einen Erkenntnisprozeß ein, in dem seine Essenz, seine Attribute und seine Namen in ein Verhältnis von »Selbst, Er und Ich« übergehen und so die Vervielfältigung ermöglichen und Iqbal, Development, S. 154. Die Erheit ist die Manifestation des göttlichen Namens »Allāh«, wie al-Ǧīlī durch Auslegung der Buchstaben dieses Namens und unter Verweis auf Koran 112/1 illustriert: »Der fünfte Buchstabe dieses Namens lautet H, und er verweist auf die Erheit der göttlichen Wahrheit (huwīyat al-ḥaqq), was der Wesenskern des Menschen ist. Gott, erhaben sei er, sagt [im Koran]: ›Sprich‹ (qul), o Muḥammad, ›er‹ (huwa), das heißt der Mensch, ›ist ein einziger Gott‹ (Allāhu aḥad).« Al-Ǧīlī, al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 100 f. Al-Ǧīlī ist der Ansicht, daß »Er« das Subjekt des Verbs »Sprich« [qul] ist und »Er ist Du« [wa-huwa anta], denn sonst würde das Personalpronomen [huwa] nicht auf etwas zurückgeführt, was nicht erwähnt wäre. Nach dieser Darstellung ist das »Ich« (anā) der Name des »Er«, der wiederum die Essenz bzw. die Identität des Ichs darstellt. Al-Ǧīlī verweist ebenso auf die Allgemeinheit dieses Personalpronomens, wie er anhand eines Beispiels im Koran zeigt. »Du« in dem Koranvers »Du siehst« (tarā, vgl. Koran 6/30) beziehe sich nicht nur auf Muḥammad, sondern auf alle Zuschauer (laisa al-murādu bihī Muḥammadan waḥdahū, bal kullu rāʾ in), die die Auferstehung erleben. Diese Abstufung von Essenz und Ichsein und zugleich die Einheit von »Ich« und »Du«, die im Menschen zum Ausdruck kommt, ist für al-Ǧīlī die Erscheinung der Existenz in ihrer unterschiedlichen Art in einem Kreis: als die göttliche Wahrheit (ḥaqq) und als die Schöpfung (ḫalq). »Wenn Du willst, sage, der Kreis ist Gott und sein Inneres ist das Geschöpf, und wenn Du willst, sage, der Kreis ist das Geschöpf und das Innere ist Gott. […] Das Schöpfungsanliegen des Menschen kreist zwischen dem, daß er Geschöpf ist und [so] ihm die Sklaverei und Ohnmacht gebührt, und dem, daß er der Gestalt Gottes [ṣūrat ar-raḥmān] [entspricht] und so ihm die Vollkommenheit [al-kamāl] und die Macht [al-ʿ izz] gebührt.« Al-Ǧīlī, al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 101. 139 140

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sich darin manifestieren. Der Mensch befindet sich aber im Aufstieg als personhafte Einheit in einem Distanzierungsprozeß. Die Überwindung dieser Distanz ist die Rückkehr zu sich selbst. Denn das Ich und das Er bzw. das Du sind der Grund der Selbstdistanzierung, d. h. die Aufgabe des Menschen ist es, beim Aufstieg das Verhältnis von Ich und Du zu überwinden. Selbstsein ist das Ziel seiner Perfektionierung, indem er »in das Leben der Dinge« (Wordsworth) sieht. 141 Muḥammad Iqbal beschreibt diesen Zustand als Ende der Vervollkommnung. 142 Vielheit gibt es bezüglich der Existenz nicht essentiell. Die Vielheit ist eine »irreale« Erscheinung, die sich auf die »Wesenheit« (māhīya) der Dinge bezieht. Im Kern gibt es nach dieser Auffassung keine Vielheit ohne Einheit. So ist die Vielheit reine Relation und besitzt nur eine hypothetische Existenz. Sie ist in bezug auf sich selbst ein Nichtsein, aber in bezug auf die reine Existenz, also Gott, Existenz. 143 Dies bedeutet, wie Jambet richtig formuliert, daß der Seinsakt den göttlichen Imperativ immer in sich trägt, denn alles, was außerhalb des Seinsaktes ist, erwirbt eine ḥaqīqa, eine Wirklichkeit. 144 Nach diesem System ergeben sich bei Ṣadrā drei Existenzarten. Der bereits erwähnten »Einsheit« folgt bei Ṣadrā eine weitere Stufe der Existenz, die er die »bedingte Existenz« (al-wuǧūd al-muqayyad) nennt. In dieser Seinsart befindet sich die Existenz nicht bei sich, sondern wird durch die hinzugefügten Attribute und Betrachtungen eingegrenzt. Sie hat eine äußerliche Bedingtheit und bildet eine Stufe, in der die Ideen der Existierenden sich 141 Übernommen hat Iqbal diese Formulierung von dem englischen Dichter William Wordsworth. Siehe Iqbal, Development, S. 100. 142 »In correspondence with these three stages of the absolute development, the perfect man has three stages of spiritual training. But in his case the process of development must be the reverse; because his is the process of ascent, while the Absolute Being had undergone essentially a process of descent. In the first stage of his spiritual progress he meditates on the name, studies on which it is sealed; in the second stage he steps into the sphere of the Attribute, and in the third stage enters the sphere of the Essence. It is here that he becomes the Perfect Man; his eye becomes the eye of God, his word the word of God and his life the life of God – participates in the general life of Nature and ›sees into the life things‹.« Ebd., S. 154 f. 143 Es wäre nicht richtig, Ṣadrā die Meinung zuzuordnen, die Welt der Erscheinung besitze keine Realität. In Ṣadrās Philosophie sind die Dinge in der Außenwelt reale Objekte und nicht eine reine Imagination des Geistes. Denn die Dinge können nur dann existieren, wenn sie eine konkrete Form gefunden haben. Ihre Existenz erhält sie jedoch nicht durch sich selbst, denn was man in der Außenwelt sieht, ist eine Ausdrucksform des Seins, das in allen Dingen vorhanden ist. 144 Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 64.

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wie Himmelskörper, Intellekte und Elemente manifestieren. Die dritte Seinsart bezeichnet er als die »absolute und ausgedehnte Existenz« (alwuǧūd al-muṭlaq al-munbasiṭ). 145 Sie ist im Gegensatz zur ersten Seinsart »ohne Bedingung« (lā bi-šarṭ). Denn die reine Existenz ist »unbedingt« (bi-šarṭ lā), frei von Namen, Attributen, Negationen und Gegensätzen. Diese Stufe, die bei Ṣadrā als dritte Stufe vorkommt, ist das Erste, was Gott hervorbringt. Demnach ist sie in der Tat die erste Erscheinung, in der die Existenz aus der reinen Essentialität heraustritt und in die Sphäre der Aktivitäten übergeht. 146 Ihr verdanken sämtliche Existierende ihre Existenz in der Außenwelt. Die zweite Stufe muß daher die nachfolgende Stufe sein, der die thematische und universelle Seinsart vorausgeht. 147 Im Gegensatz zu den Mystikern vermeidet Ṣadrā mit seinen Definitionen dieser drei Arten die Mißverständnisse, die durch unterschiedliche Bezeichnungen unter den Philosophen und Mystikern hervorgerufen werden. 148 Für ihn beginnt die Vielfalt bereits mit der Manifestation der Ideen. Sie steht als ḫāṣṣ (speziell) der wuǧūd al-muṭlaq (puren Existenz) gegenüber. Daher besteht die Existenz in einer von zwei Seinsformen: Entweder in einer Form, die ewig, dauerhaft und rein ist, für sich existiert und die Vollkommenheit ihrem Selbst verdankt, oder in einer Form, die ihre Existenz den Aktivitäten des puren Seins verdankt. Die Existenz und Vervollkommnung dieser bedingten Lebensform wird durch die erste Erscheinung bzw. durch das erste Hervorgegangene, das heißt die bereits genannte »thematische und universelle Existenz«, die dem ersten Intellekt entspricht, hervorgerufen. Zwar bestehen zwischen der Ursache und dem Verursachten bezüglich ihrer Stufen Unterschiede, nicht aber bezüglich ihrer existentiellen Einheit. Denn letztlich sind im puren Sein Existenz und Essenz identisch. 149 Daher wirft Ṣadrā Suhrawardīs Essentialismus vor, daß er inkonsequent sei, denn es stelle sich die Frage: Wie soll das Sein Licht sein, eine lebendige und offenkundige Effektivität, wenn Suhrawardī das Sein als eine begrifflich subjektive Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. II, S. 327 f. Siehe ebenso aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: aš-Šawāhid ar-rubūbīya. Übers. u. kommentiert v. Ǧawād Muṣliḥ (1366/1987), Teheran, S. 219. 147 Die Reihenfolge der Manifestationen, wie Ṣadrā sie ausführt, kann in dieser Weise nicht stimmen. Die hier genannte dritte Stufe ist die intelligible Welt und die zweite die sichtbare Welt. 148 Aš-Šīrāzī, al-Asfār. Bd. II, S. 335 ff. 149 Ebd., S. 332 f. 145 146

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Betrachtung (amr iʿ tibārī) vom Wirklichen sieht, und wie soll gleichzeitig die Wesenheit das Primat über die konkrete Existenz beanspruchen? Die Einheit zwischen dem Seinsakt und der Wesenheit ist keine Dialektik, sondern eine Spannung zwischen dem Licht der Wirksamkeit und der Dunkelheit ihrer Grenze. 150 Die Differenzen führt Ṣadrā auf die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der göttlichen Existenz zurück. Sie zeigt sich bald »für Gott selbst und in ihm selbst« und bald »durch Gott selbst in seinen Taten« (er schreibt: fa-li-l-wuǧūdi l-ḥaqqi ẓuhūrun li-ḏātihī fī ḏātihī … wa-ẓuhūrun bi-ḏātihī li-fiʿ lihī). 151 Von dieser Erscheinung aus ist die Vielfalt nur eine Betrachtung seitens der Manifestierten. Die Unterschiede der Wesenheiten und ihre Vollkommenheiten sind Gründe der Vielheit. Die Existenz ist demnach keine Eigenschaft der Wesenheiten, und die Vielfalt der Existenz ist akzidentiell. Ṣadrās Vollkommenheitslehre geht auf diese Differenz zurück. Zum einen stellt er das höchste Wesen, das von sich aus vollkommen ist, den Wesenheiten gegenüber, die ihr Leben und ihre Vollkommenheit nur in Beziehung auf das höchste Wesen sicherstellen können. Zum anderen stellt er das höchste Sein als eine äußerste Verborgenheit (ġaib al-ġuyūb) dar, die er mit dem gleichsetzt, was in einer Überlieferung des Propheten als der »verborgene Schatz« (al-kanz al-maḫfī) bezeichnet wird, und sieht die Manifestationen (al-maẓahir) dieses Seins in der »Welt des Erkennbaren« (al-maʿ arūfīya), wo sie die Selbsterkenntnis und Selbstbetrachtung für das göttliche Wesen darstellen. 152 Daraufhin sagt er: »Und diese zweite Erscheinung ist die Schau des Wesens des beständigen Gottes [mušāhadat aḏ-ḏāt al-qayyūmīya] in geistigen und wesenhaften Spiegeln durch die geistigen Reflexionen jedes Betrachtenden und Gnostikers und durch die Bewußtseinsempfindungen jedes Klugen und Dummen, Wissenden und Unwissenden in bezug auf die Ränge der Erscheinungen, seien sie sichtbar oder verborgen, und in bezug auf ihre Stufen der geistigen Reflexionen, seien sie vollkommen oder unvollkommen. Die Vielheit in den Erscheinungen und die Unterschiede in den Gegebenheiten schmähen nicht die Einheit des [göttlichen] Wesens und verunglimpfen nicht die Vollkommenheit des Notwendigen. Dadurch wird die anfangslose und beständige Existenz, so wie sie immer dem ent-

150 151 152

Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 66 f. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. II, S. 340. Ebd., S. 347.

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spricht, wie sie ist, nicht verändert, jetzt ist sie auch so, wie sie immer war, und mit ihr war nichts anderes.« 153

Veränderung bedeutet daher nichts anderes als die Vervollkommnung hin zur ewigen Idee, die nach der Einheit mit dem Idealen strebt. Sie ist letztlich eine Folge der Manifestation, sonst müßten wir die Einheit der Existenz aufgeben. Die Vielheit der Wesenheit sind die Potentialitäten und ihre Aktualität und ihre Erscheinungen gemäß ihrer existentiellen Gegebenheiten. Daher betont Ṣadrā immer wieder, daß die Unterschiede und Gegensätze nicht von der Seite des puren Seins herrühren, sondern von Seiten des Gewordenen, und dies ist darauf zurückzuführen, daß das Leben der Existierenden nicht a priori ist, sondern bedingt und begrenzt durch die Möglichkeiten und ihre Aposteriorität. 154 Tatsächlich muß man nach dieser Einheitsvorstellung auch zugeben, daß im Geist Gottes diese Unterschiede der Existierenden notwendigerweise vorhanden waren. Sonst können wir nicht von einer Einheit ausgehen, deren Erscheinung nur in der Vielfalt möglich sein kann, sondern von einer Einheit, zu der die Idee der Vielfalt in Widerspruch steht. Ṣadrā begründet dies damit, daß im Wissen Gottes die Ordnung nach ihrer höchsten und würdigen Existenz betrachtet wird. 155 Ṣadrā möchte mit dieser Lehre vom Sein die Vielfalt erklären, die trotz ihrer Differenzen eine Einheit besitzt. »Das Sein, das sich entfaltet« wäre damit die Seele dieser Einheit, die in allen Formen des Existierenden vorhanden ist. »Das Sein in der Ausdehnung« ist der Schlüsselbegriff, wie Jambet zu Recht formuliert. Die Benennung des Seins als »ausgedehntes Sein« geht auf Ṣadr ad-Dīn Qūnawī zurück. 156 Der Seinsakt wird also Ausdehnung und Fluß. Das Ur-Existierende ist somit reiner Seinsakt. Es gibt nichts Vollständigeres als es selbst. Es hat unendliche Intensität, unendliche Macht, und es steht jenseits des Unendlichen, weil es selbst unendlich ist. Es ist der »lebendige Ewige« (al-ḥayy al-qayyūm). 157 Die Einfachheit des Seinsaktes in jedem konkreten Existierenden bildet eine

Ebd., S. 347. Ebd., S. 353. 155 Ebd., S. 354. 156 Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 81 ff. Qūnawī ist der Schwiegersohn von Ibn ʿArabī, dessen Lehre er systematisierte. (Er starb 671/1272 oder 673/1273–1274.) Auf seine kapitale Bedeutung für Ṣadrā geht Jambet in seinem Buch ein. 157 Koran 20/110 f. 153 154

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Einheit mit der letzten Einfachheit Gottes. Sie ist nicht nur Bedingung der Ausdehnung, sondern steht in Einheit mit ihr. Wir können bei Ṣadrā von einer ausgedehnten Einheit sprechen, die dynamisch ist. Anders als bei Avicenna, der das Sein nie als höchste Gattung aufgefaßt hat, geht diese Idee nach der Auffassung Jambets letztlich auf Ibn ʿArabī zurück. Daher weigert er sich, Ṣadrā in das Spannungsfeld zwischen Nominalismus und Realismus einzuordnen. Seiner Meinung nach umfaßt der Seinsakt bei Ṣadrā jede einzelne Sache in der Ausdehnungsbewegung des Wirklichen. Die Einzelverwirklichungen des Seinsaktes gehen aus dem Ur-Verströmen hervor, das in das Sein die göttlichen Namen setzt und das Ibn ʿArabī den »Atem des Barmherzigen« nennt. Der Begriffslogik, die in der Auffassung des Seins in den von Aristoteles bezeichneten zehn Kategorien gipfelt, setzt Ṣadrā die nicht-darstellende Wahrnehmung des »Fließens« (sarayān) entgegen. Dieses Strömen heißt »Ausdehnung« (inbisāṭ). Dasselbe Wort heißt auch Freude, Verbreitung, Ausstrahlen von Freundlichkeit. Der Seinsakt umfaßt alles wie eine Freude, die man auf dem Gesicht ablesen kann und die Freude an andere weitergibt. Dadurch wächst ihre Kraft. Diese Gedanken erinnern Jambet an Spinoza, dessen Ausgangspunkt bei Avicenna ansetzt und der die Kraft bzw. Potenz auffaßt als eine Freude. 158 Die Spannung zwischen der Gebundenheit und der Beweglichkeit des Seins äußert sich in den ethischen Brüchen und den Schwerfälligkeiten des Existierenden und trägt es fort in der unwiderstehlichen Aufwärtsbewegung jenseits seiner selbst, zu einer höheren Freude, seiner Metamorphose, wie es Jambet interpretiert. 159 Ṣadrā nennt dies die »substantielle Bewegung« (al-ḥaraka al-ǧauharīya), die keine äußere Veränderung der Substanzen hervorruft, sondern die Substantialität selbst betrifft, wie Jambet zutreffend formuliert. Die Strömung des Seins kann jedoch genauso wenig durch den Begriff definiert und erfaßt werden, wie die Ausdehnung durch die Vorstellung begriffen werden kann. Die vorstellende Kenntnis ist unfähig, den Fluß des Seins zu begreifen, der Ausdruck der reinen Einfachheit der göttlichen Einheit ist. In der unerreichbaren Singularität des konkreten Existierenden kann diese Einfachheit erahnt werden. 160 Ṣadrā leugnet damit, daß das Sein einzigartig oder universal ist. 158 159 160

Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 83. Ebd., S. 84. Ebd.

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Aber er führt einen Begriff ein, der nicht in das Netz der Logik des Universalen und des Einzigartigen paßt: das Wort šaḫṣ (Person/Individuum). Ohne diesen Begriff wäre die Idee des taškīk überflüssig. Die einfache Individuation findet Ausdruck in der Einheit, die das göttliche Eine in der Pluralität seiner Ausströmungen verkörpert. Ṣadrā meint damit, daß es keinen Gegensatz zwischen Universalität und Einzigartigkeit gibt, beide finden ihre Vereinigung im Ausströmen der Einheit Gottes, gehen auf denselben Ursprung zurück, eine Ontologie, die unmittelbar eine epistemologische Folge mit sich bringt. Der Mensch kann diese äußerliche Inkompatibilität nicht mit seiner Logik erkennen, sondern nur durch besondere religiöse Techniken und Übungen »erahnen«, durch »Intuition« erfassen. Er will, und hier trifft Jambets Formulierung zu, auf die Monaden anspielen, die auch in ihrer Individuation immer wieder die Einheit Gottes widerspiegeln. Ṣadrā prägt daher den Begriff taškīk, der die Einheit des göttlichen Eins in der Vielheit seiner Ausstrahlungen ausdrückt. Dieses Strömen in der Gesamtheit bildet eine Existenzmonade. Daher ist Jambet der Auffassung, daß wir im Sinne Spinozas sagen können: »Wer die einzelnen Dinge kennt, kennt Gott.« 161 Die Singularität setzt aber die Besonderen frei, indem sie der Bewegung eine Richtung gibt, die sie durchdringt und zu einer größeren Kraft zum Handeln und zum Erkennen führt. Ṣadrā nennt das al-wuǧūdāt, etwa Existenzmonaden. 162 Die »Existenzen« sind immer einzelne Biegungen des Stromes, der selbst die Singularität des Seins, die »monadisierende Monade« ist, die alles durchströmt. Die Existenzmonade erinnert Jambet an Leibniz und Proclus: »Alles, was unaufhörlich zum Sein kommt, enthält eine unendliche Kraft, zum Sein zu kommen« (Proclus). 163 Die Monaden des Seinsaktes, in ihrer Singularität, weisen auf die Grundeinheit zurück, die die Quelle ihres Strömens ist, nämlich Gott. Ṣadrā ist hier nach Auffassung Jambets Proclus sehr nahe: »Alles ist in allem, aber in jedem Einzelnen in seiner eigenen Weise.« 164 Jambet bringt hier auch den Begriff wuqūʿ (wörtlich Ausbruch oder Erscheinung), den Ṣadrā verwendet, ins Spiel. 165 Dieser Begriff darf nicht im Sinne Heideggers mit Zitat nach ebd. Der Begriff wuǧūdāt kommt übrigens bei Nasafīs Lehrer Saʿ d ad-Din Hammūya ebenso vor. Siehe Meier, Die Schriften des ʿAzīz-i Nasafī, S. 147. 163 Zitat nach Jambet, L’acte d’être, S. 85. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 86. 161 162

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»Geworfenheit« (Jambet übersetzt »occurence«) übersetzt werden. Er drückt eine »Kristallisation« – ein In-die-Welt-Kommen des Seinsaktes – aus, weil er in einer Station unter den Stationen (maqāmāt) für den Seinsakt konstituierend ist. Nach dem Verständnis von Ṣadrā bestimmt sich der Seinsakt aus Vorhergehendem und Nachfolgendem, durch Perfektion und Imperfektion, Bedürfnis und Selbständigkeit sowie durch stoffliche Verwirklichungen. Daher versteht man wuqūʿ als Ausstrahlung des Seins. Sie findet ihren Niederschlag in der Hierarchie der Seinsebenen, die von der dichtesten (d. h. niedrigsten) Stofflichkeit bis zur subtilsten Körperlichkeit (höhergestellt in der Rangordnung), ja bis zur Geistigkeit reicht. Die unterschiedlichen Seinsebenen spiegeln die Wirkungskraft der Unterscheidung je nach den Intensitätsgraden des Seinsaktes wider. Die Vielheit gehört in den Bereich der sensiblen Eindrücke, die die Einheit verschleiern. Der Verstand ist mächtiger als die Vorstellung. Aus der Welt der Vielheit der Eindrücke kristallisiert der Verstand die Einheit heraus, die ihr zugrunde liegt. Im Seinsakt gibt es keine Gegensätzlichkeit und keinen Widerspruch. Die Unterscheidung der Seinsakte kennt keine Opposition. Die Existenzeinheiten bestehen nebeneinander, ohne Negativität, und haben nur verschiedene Positivitätsgrade je nach ihren Vervollkommnungen. 166 Diese Einheit-Vielheit in Ṣadrās transzendentaler Philosophie zielt darauf, daß die Vervollkommnung und die Überwindung der materiellen Welt als Aktivität des Seins betrachtet werden sollen. Das Sein wird in der Philosophie Ṣadrās zwar einerseits in seiner individuellen Seinsweise verstanden, andererseits aber als eine allgemeine Eigenschaft, die allem Seienden zukommt. Nach dem Prinzip »Kein Ding, das nicht individualisiert ist, existiert« (aš-šayʾ u mā lam yatašaḫḫaṣ lam yūǧad) 167 ist die Frage nach dem Sein bei Ṣadrā eine Frage nach den Existierenden in ihren spezifischen Seinsweisen, die den Grad und die Stufe des Seins spiegeln. Das heißt, ohne Individuation (tašaḫḫuṣ) keine Existenz und damit meint man, daß die Wesenheit eines Dinges erst existieren kann, wenn alle Aspekte des Nichtseins verhindert sind. 168 Diese Eigenschaft des Seins nennt Ṣadrā taškīk, das das Sein sowohl in seiner Begrifflichkeit wie auch in seiner extentionalen Ausdrucksweise erfaßt. Die Lehre von der Einheit der Existenz bei Ṣadrā ist somit auch eine Lehre von der 166 167 168

Ebd., S. 76. Zu diesem Prinzip siehe aš-Šīrāzī, al-Asfār. Bd. I, S. 409 ff.; ebd., Bd. II, S. 8–16. Āštiyānī, Hastī, S. 132.

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»Vielschichtigkeit der Einheit« (im Sinne der ausgedehnten Einheit), denn es ist die Eigenschaft des Seins, in seiner Entfaltung in unterschiedlicher Weise hinsichtlich der Intensität der Nähe und Ferne zum absoluten Sein zu erscheinen. Jambet ist der Auffassung, daß Ṣadrā die Manifestation der Wesenheit dadurch begründet, daß der Seinsakt sich in einem Individuum aktualisiert. Die Rose ist z. B. zunächst nicht Rose, um danach die konkrete Existenz zu erhalten, sie ist vielmehr eine »Biegung des Wirklichen«: göttliche Rose, denkbare Rose, vorstellbare Rose, fühlbare Rose, entsprechend den mehr oder weniger intensiven Modalitäten ihres Seinsaktes. 169 Im Gegensatz zu Ibn Sīnā und Suhrawardī stellt sich Ṣadrā auf die Seite al-Fārābīs und ist der Auffassung, daß die Individuation eines Seienden seiner Existenz selbst entspringt. 170 Daher liegt sie nicht in dessen Wesenheit wie bei Suhrawardī und ist nichts, was durch dessen akzidentielles Attribut verursacht ist, wie bei Ibn Sīnā. 171 Die Existenz selbst konstituiert die Realität seiner individuellen Existenz, auch in einer materiellen Form. 172 Das Sein ist sowohl die Identität der Existierenden und zugleich der Grund der Individuation, die die Art und Weise der Erscheinung ist; und es ist der Grund für die Vielschichtigkeit des Seins. Die Seinsebenen sind damit auch die individuellen Erscheinungsweisen. Jambet erkennt den Einfluß von Aristoteles darin, daß Ṣadrā Gott als reinen Akt versteht, die energeia als die Wahrheit des Seins, wogegen das Existierende in der Hierarchie des platonischen Modells gegliedert ist. 173 Die hierarchische Ordnung der Seinsakte führt uns zur Wiederherstellung der effektiven Ordnung, so daß Gott nicht nur der erste der Existierenden, sondern die konstitutive Wirklichkeit eines jeden Seinsaktes wird. Die Ontologie wird dadurch zur Theologie, wie Jambet betont, die in einer geistig begründeten Moral mündet. Diese wiederum ist das Gebäude der Universen und die Philosophie der Wiederauferstehung. 174 Für die Beziehung von Individuation und Vollkommenheit ist die Rolle der »Vielschichtigkeit des Seins« sehr wichtig, da, wie Kamal ver-

169 170 171 172 173 174

Jambet, L’acte d’être, S. 147. Vgl. aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 182 f. Āštiyānī, Ǧalāl ad-Dīn (31376/1997): Hastī az naẓar-i falsafa wa ʿ irfān. S. 129 ff. Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 68. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 16. Ebd., S. 37.

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S.adrās Existenzlehre und die hierarchische Ordnung der Seinsakte

mutet, mit ihr die Unvollkommenheit der Individuation auftritt. 175 Wir können auch anstelle von Unvollkommenheit von unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden sprechen, die die Unvollkommenheit implizieren. Nach dem Prinzip der »Vielschichtigkeit des Seins« werden alle Seienden einem Wandlungsprozeß zur Vervollkommung unterzogen, und in diesem Sinne bedeutet jede erreichte Seinsstufe eine Vollkommenheit und Unvollkommenheit zugleich bezüglich der nächsten Seinsweise. Daher erscheint uns die Ansicht Kamals, der die Vollkommenheit als Gegensatz zur Individuation sieht, nicht nachvollziehbar. Diese Ansicht geht aus der Vorstellung Kamals hervor, der die Paradoxie des Seins in seiner Erscheinungsweise für unlösbar betrachtet. Das Sein – als die innere transzendente Realität aller Seienden – ist, wie Kamal seinen Widerspruch erklärt, nicht völlig in diesen evolutionären Prozeß involviert, aber gleichzeitig ist es nicht von ihm getrennt. Die Idee der Vielschichtigkeit des Seins betont gerade die Seinsweise bzw. die unterschiedlichen Modalitäten des Seins, so daß das Sein in seiner höchsten Form ebenso eine Individuation ist. Der Lehre der Vielschichtigkeit des Seins geht eine weitere Lehre voraus, die Ṣadrā das »Prinzip der substantiellen Bewegung« nennt, mit der er die menschliche Seele und ihre Entstehung in der Welt zu begründen versucht. Kamal markiert das Sein in Ṣadrās philosophischem System mit vier Charakteristika: 1.) Sein steht als einheitlicher Grund für seine Modifikationen, 2.) Sein und Wesen (Essenz) sind nur im Denken trennbar, 3.) Sein ist zweideutig bzw. systematisch zweideutig (»systematically ambiguous«), 4.) Sein ist dynamisch und verändert sich substantiell. 176 Die Wandelbarkeit des Seins einerseits und zugleich dessen permanente Beziehung zum absoluten und unveränderbaren Sein zählt Leaman zur Besonderheit der Existenzlehre Ṣadrās, die für die Idee der Perfektibilität von Bedeutung ist. 177 Ṣadrā entwickelt daher in seiner Ontologie einen Begriff der Veränderung und Zeitlichkeit, mit dem er der bisherigen aristotelischen Position in der islamischen Welt widerspricht. 178 Für Mullā Ṣadrā befindet sich die Welt in ständigem Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 68. Ebd., S. 6. 177 Leaman, A Brief Introduction, S. 93. 178 Anders als viele islamische Denker, die nach aristotelischem Verständnis die Bewegung als einen Zustand der Unbeständigkeit erklären und damit die erste Ursache für unbeweglich halten, vermeiden andere wie Muʾ ayyad ad-Dīn Ǧandī den Fehler, die Bewegung als Eigenschaft der Natur bzw. des Körpers zu bezeichnen. »Bewegung« wird bei 175 176

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Fluß, eine Vorstellung, die wir von einem antiken Denker wie Heraklit (er stand im Gegensatz zu Parmenides und Zenon) kennen. Damit entwickelt Ṣadrā einen seiner zentralen Begriffe, nämlich den des existentiellen Werdens (sairūra bzw. sarayān al-wuǧūd). Unter dieser Art von Werden, welche eine Veränderung hervorruft, versteht Ṣadrā eine aufwärts gerichtete Entwicklung zur Vollkommenheit hin, die das Gegenteil der abwärts gerichteten Bewegung ist, die man in der islamischen Tradition als »Emanation« bezeichnet. Daraus ergibt sich scheinbar ein ontologisches Problem in Ṣadrās Lehre, indem man Werden als Gegenteil des abwärts gerichteten Prozesses der Individuation des Seins verstehen könnte. 179 Hätte sich Ṣadrā den Essentialisten angeschlossen, hätte er die Einheit des Seins aufgeben müssen, und hätte er die Existenz statisch dargestellt, hätte er auf seine Prozeßphilosophie verzichten müssen. Doch Ṣadrā will die theozentrische Erklärung über den Prozeß der Entstehung mit einem irreversiblen Prozeß des Seins zu verbinden. Um den menschlichen Drang nach einem Selbstprozeß zu erklären, stellt er die Welt in einen immerwährenden dynamischen Fluß, wie sie auch von Nasafī gedacht wurde. So kam Ṣadrā auf einen neuen Gedanken, der seine Philosophie von allen seinen Vorgängern – sowohl von der existentialistischen Position des peripatetischen Neuplatonismus und des Monismus islamischer Mystik als auch von der antiaristotelischen essentialistischen Lichtphilosophie – unterscheidet. Das erklärt seine kompromißlose Ablehnung der essentialistischen Positionen, die mehr oder weniger von allen Mystikern und am stärksten von Suhrawardī vertreten wurden. Somit war der Entwurf der Idee der »substantiellen Bewegung« ein notwendiger Schritt, sich von der starren Position der essentialistischen Tradition zu distanzieren.

solchen mystischen Denkern allerdings nicht explizit an eine bestimmte theoretische Grundlage gebunden. Vielmehr handelt es sich um die einfache Gegenüberstellung des Lebendigen und des Leblosen. Ǧandī äußert sich unmißverständlich über die dualistische Natur des menschlichen Wesens. Er definiert den Geist (rūḥ) als eine einfache lichtgestaltige, feine, edle Substanz, die unter anderem Leben und Bewegung innehat. Dagegen ist der Körper (ǧism) eine Substanz, die unter anderem dicht, zusammengesetzt, vielfältig, dunkel, unbelebt und bewegungslos ist. Diese erhält ihr Leben von jener. Siehe Ǧandī, Nafḥat ar-ruḥ, S. 79. 179 Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 69.

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Die Wandlungsfähigkeit des Seins, der Evolutionsprozeß der Seienden

VI. Die Wandlungsfähigkeit des Seins, der Evolutionsprozeß der Seienden und die menschliche Seele als höchste Entwicklungsform Neben dem Primat der Existenz kommt daher der substantiellen Bewegung (al-ḥaraka al-ǧauharīya) eine Schlüsselrolle in Ṣadrās Philosophie zu. Die substantielle Bewegung hat, wie bereits angedeutet, zunächst einen transzendentalen Zweck: Sie verbindet die diesseitige mit der jenseitigen Welt. Sie führt die Materie zum Intellekt, das Viele zum Einen, die Erscheinung zur wahren Realität, das Mangelhafte zur Perfektion, und verbindet somit die in sich unruhige Natur in permanenter Erneuerung mit dem ewigen Leben. Sie ist das Mittel, das Gott für das Hervorbringen der neuen Schöpfung in der Natur verankert hat. Aber die substantielle Bewegung, wie auch die permanente Kreation haben nicht nur eine eschatologische Bedeutung im engen Sinne, sie stellen in der islamischen Mystik vor allem die Beziehung zwischen dem unvollkommenen, unbeständigen und dem absoluten, perfekten Wesen her. Das mangelhafte und dem Nichtsein verhaftete Wesen kann sich nur durch eine fortdauernde Erneuerung und Selbststeigerung ein ewiges Leben erhoffen. 180 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern behauptet Ṣadrā, daß die Welt (die Körperwelt mit ihren Formen) in einem Kontinuum und in jedem Augenblick in einer sich erneuernden Form (mutaǧaddid) existiert, jedoch nicht voneinander getrennt (mutafāṣil) und benachbart (mutaǧāwir), »so daß die Zusammensetzung von Quantitäten und Zeit [-abschnitten] aus den unteilbaren Dingen (Atomen, arab. ġair munqasimāt) erfolgen würde«. 181 Wie Aristoteles und Ibn Sīnā ist Ṣadrā der Meinung, daß jede Bewegung ein Bewirkendes benötige, denn: »das Bewegte bewegt sich nicht selbst«. 182 Der Ursprung der Bewegung ist allerdings für Ṣadrā weder die reine Vernunft noch die Seele, sondern die Natur als eine fließende Substanz. 183 Die Natur (ṭabīʿ a) ist die »Speziesform« (ṣūra 180 Vgl. Izutsu, Toshihiko (1994): Creation and the timeless order of things. Ashland, Oregon, S. 158 ff. 181 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 18; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 76. 182 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 17; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 73. 183 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 18 f.; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 81 ff. Abū ar-Rayḥān al-Bīrūnī (gest. 1030) versteht die Natur ebenso als etwas, das in sich eine lebendige Kraftquelle hat, um die Formen und die Ordnung der Dinge selbständig zu

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nauʿ īya) des Körpers. Die Unterschiede unter den Spezien sind durch substantia forma gekennzeichnet, 184 und die Bewegung der Dinge geht auf die Fähigkeit des Wandels und der Steigerung dieser Form zurück. Bekannte Beispiele sind die Reife- und Wachstumsstadien eines Kindes und das Wachstum eines Apfels, deren evolutionärer Prozeß hin zur Vollständigkeit der substantiellen Bewegung zu verdanken sei. Das Reifen eines Apfels ist dann abgeschlossen, wenn Farbe, Geschmack, Essenz und alles, was dazu gehört, ihre Vollständigkeit erlangt haben. Diesem Reifungsprozeß liegt eine Bewegung zugrunde, die substantiell ist, und die akzidentiellen Veränderungen sind ihre Folge. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī betont, daß diese substantielle Bewegung in allen Phänomenen der Welt zu beobachten ist. 185 Ein Mensch kann ohne die substantielle Bewegung nicht erwachsen, nicht alt werden und nicht sterben, auch wenn die Vernunftseele ihre Intellektstufe erreicht. Die substantielle Bewegung ist der Grund für die »Wandlung des Menschen (fī taqallubi al-insāni), indem er Stadien der Existenz« (fī aṭwāri al-wuǧūd) durchläuft, und für die »Umwälzung des Ganzen« (fī inqilābi alkull), eine Rückkehr zu Gott im Kleid eines neuen Menschen. Sie ist zugleich ein Zeichen der Unbeständigkeit. 186 Bewegung bedeutet darüber hinaus in Ṣadrās transzendentalem Existentialismus vor allem, »von etwas angezogen zu sein«, womit hier keine rein passive Angelegenheit bezeichnet wird: Zwar kann es ohne Gott, dem Erschaffer der Bewegung, keine Entwicklung geben, doch ist die Bewegung zu Gott eine aktive Beteiligung der Seele, die sie der Substanz ihrer Natur verdankt. In Ṣadrās Philosophie finden sich weitere Versuche, die unterschiedlichen Bewegungsformen zu erklären. Er unterscheidet drei Bewegungsarten nach ihrer Ursache: Die natürliche Bewegung (ḥaraka ṭabʿ īya), die zwingende Bewegung (ḥaraka qasrīya,), die sich der natürbestimmen. Er verwarf aber wie viele andere Philosophen die Ewigkeit der Welt. Ṣadrās Position unterscheidet sich jedoch von der der Theologen, die ebenso die Zeitlichkeit der Entstehung der Welt betonen. Siehe dazu aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn (o. J.): Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 8 ff. Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 44 ff.; aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 61 ff., 152–166, 244 ff. 184 Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašā ir, S. 65. ʿ 185 Von dieser Theorie ausgehend hatten jedoch weder Ṣadrā noch seine Anhänger bis in die Gegenwart hinein einen Akzent für ein neues Verständnis der »Naturwissenschaft« gesetzt. 186 Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 150 ff.

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lichen Bewegung entgegensetzt und die willentliche Bewegung (ḥaraka irādīya). Die naturveranlagte Bewegung geht auf ihre unmittelbare Quelle zurück, die Natur. Die zweite Bewegung geht ebenso auf die Natur zurück, aber mit einer Wirkung von außen, wie man einen Stein unter Anwendung von Gewalt in die Luft wirft. Daher ist das unmittelbare logische Subjekt dieser Bewegung der Akt von etwas anderem als der Natur selbst. Ṣadrā spricht hier von einer gebrochenen Bewegung, die von einem gewollten oder ungewollten Ereignis ausgeht. Die willentliche Bewegung geht ebenso auf die Natur zurück, auch wenn man hier meinen könnte, daß die Seele das unmittelbare Subjekt dieser Bewegung sei. Ṣadrā nennt diese letztere Bewegung daher auch die »seelische« (nafsānī) bzw. die »leidenschaftsgeleitete« (šauqī) Bewegung. Dieser Begriff spielt neben dem Begriff »Liebe« bei Ṣadrā eine entscheidende Rolle für die Perfektionierung. Liebe und die leidenschaftliche Bewegung gehören zu den instinkthaften Kräften des menschlichen Wesens, die ihm zu seiner Vervollkommnung dienen. 187 Den Sinn der Bewegung versteht Ṣadrā als einen Akt der Liebe, mit der er die erste Perfektion bewahrt, und die leidenschaftliche Bewegung erweckt das Verlangen nach der zweiten Perfektion, die alle Geschöpfe zum Vollzug ihres Wesens hin zum Endziel alles Seienden führt. Ṣadrā meint, daß die Seele sich dieser natürlichen Bewegungen bedient und sie sogar in der Lage ist, sie zu beherrschen. Für ihn gibt es jedoch in der Tat nur eine Bewegung. Und diese ist in der Natur der Dinge substantiell und hat nur ein Ziel: die Vollkommenheit. Alle anderen Bewegungen, die von diesem Bewegungsziel abweichen, sind daher quasi »genötigte« Bewegungen. Daher ist die Seele zwei Bewegungen ausgesetzt, einer, die ihrer Natur entspricht, und einer, die sie nur für Lebensnotwendigkeiten einsetzt. Mit seinen Ausführungen will Ṣadrā einerseits eine notwendige und sich nach der Perfektion sehnende Bewegung als Ursprung der Bewegungen voraussetzen, die letztlich auf Gott zurückgeht und den Prinzipien des Seins unterworfen ist, und andererseits ihre partikularen Erscheinungen und ihre Wechselwirkung im Schöpfungsprozeß nicht außer acht lassen. Er sieht daher die materielle Welt als den Ort der Gegensätze, der Unzulänglichkeit und der Vergänglichkeit. Dagegen kennt das Sein nur einen Weg und eine Form des beständigen Lebens, nämlich den, der in der Natur veranlagt ist. 187

Aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 164.

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Wir sehen, daß für eine solche transzendentale Philosophie die Verselbständigung der Seelenaktivität ohne den Bezug auf einen ursprünglichen Ausgang nicht plausibel erscheint. Für Ṣadrā gehen alle anderen Formen der Bewegung letztlich in der substantiellen Bewegung auf und sind daher nicht eine Bewegung für sich. Die Seele ist in ihrer Anfangsphase, wie der Körper, einer solchen substantiellen Bewegung unterworfen. Dadurch erreicht sie ihre höchste Entwicklung, nämlich ihre Transzendentalität. Die Seele bedient daher die körperlichen Aktivitäten, und die natürlichen Kräfte stehen in ihrem Dienst. Wir können jedoch eine willentliche Bewegung tatsächlich als die letzte Stufe der substantiellen Bewegung sehen, die im Menschen in Erscheinung tritt. Nach dieser Vorstellung ist eine moderne biologische Idee vom »ewigen Menschen«, der durch Genmanipulation erreicht werden könne, nicht plausibel. Zwar befindet sich die Welt durch die substantielle Bewegung in einer permanenten schöpferischen Erneuerung, sie ist aber zugleich der Grund, warum die »Natur der Natur«, anders als die intelligible Welt, keine Dauerhaftigkeit in ihrer Existenz hat. Nur so kann die in sich ruhelose und unbeständige Welt ihren existentiellen Anschluß an die beständige, dauerhafte und wirkliche Welt finden. Ṣadrā versucht, die veränderbare, in der Zeit entstandene Welt mit der ewigen und zeitlosen Welt zu verbinden. Durch die essentielle Erneuerungsfähigkeit der Natur, die ihre Substanz der forma spezia verdankt, sieht Ṣadrā in der Welt eine Beständigkeit trotz ihrer Veränderlichkeit. Die Bewegung kann daher nicht das Bindeglied dieser zwei Welten sein, sondern es ist die substantielle Formspezies, die der Welt der Materie vorausgeht. Sie ist das konstante Abbild ihrer Gattungen. 188 Die Welt zerfällt zwar in Teile, Einzelzustände, Individuen und insofern in unbeständige Existenzen, aber »sie hat eine Einheit, welche alle (ihre) Teile durchdringt, weil sie eine umfassende Einheit (waḥda ǧāmiʿ a) ist«. Die Einheit und die Vielfalt der Welt sind quasi ein und dasselbe: »Wenn wir also sagen, sie (die Existenz) sei eine, glaube uns, und wenn wir sagen, sie sei vielfach, glaube uns! Wenn wir sagen, sie bestehe vom Anfang bis zum Ende der Umwandlung fort, glaube uns! Und wenn wir sagen, sie entstehe in jedem Moment, glaube uns!« 189 188 189

Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʿ ir, S. 65. Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ,30; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 112.

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Die Natur ist aber das unmittelbar Bewirkende der Bewegung, da Gott die Natur als sich immer erneuernd und sich in einer permanent substantiellen Bewegung befindlich erschaffen hat. Auch die Seele ist Ṣadrā zufolge zunächst körperlich; die körperliche Seite der Natur ist jedoch mit allen ihren bestimmenden Kategorien von Bewegung und Zeit vergänglich. Die Zeit wurde nämlich von Gott geschaffen als quantitatives »Maß, und somit ist sie die Zahl der Bewegung«. 190 Auf die substantielle Bewegung geht auch die Entstehung der Seele (nafs) 191 zurück. Sie ist Folge einer körperlichen bzw. materiellen Entwicklung, die dem Prinzip der substantiellen Bewegung unterworfen ist, aber sie verewigt sich in einem geistigen, d. h. immateriellen Fortbestehen, demnach Ṣadrā das Prinzip »die Seele ist körperlich zu Beginn ihrer Existenz und geistig am Ende ihres Werdeganges« (an-nafsu ǧismanīyatu l-ḥudūṯi wa-rūḥānīyatu l-baqāʾ ) formuliert. 192 Diese Seele ist sozusagen in ihrem Anfang eine Potentialität (quwwa), deren Entstehungs- und Entwicklungsort die Natur ist, in der sie durch die substantielle Bewegung aktuell wird. Der Mensch ist seinem Wesen nach, wie die Welt, dem Prinzip der »Vielschichtigkeit des Seins« ausgesetzt. Seine Natur, seine Person als Individuum und seine intellekthafte Seele sind die drei Seinsformen, die die Potentialität, Vielfalt, Partikularität und Einheit des Seins widerspiegeln. 193 Die Vernunftseele des Menschen kann, wie erwähnt, erst zu ihrem vollen Wesen gelangen, wenn die Entwicklung sowohl der körperlichen als auch der geistigen Prozesse abgeschlossen ist. Die Vernunftseele ist in einem Kind zunächst nur schwach ausgebildet. Sie erreicht ihre Stärke, ihre Souveränität, ihre Intellektualität und ihr Potential zum perfekten Dasein erst durch die Möglichkeit ihrer Form- und Veränderbarkeit. Ṣadrā weist unmißverständlich auf den Irrtum seiner Vorgänger hin, die die Seele als ein unabhängiges Wesen betrachten, das vor der Ent190 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 40; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 139. Die Zeit ist sozusagen die Uhr der Existenz, ein Gedanke, der aus der vorislamischen Zeit übernommen wurde. 191 Ṣadrā verwendet für die menschliche Seele den Begriff »Seele« (nafs) bzw. »Vernunftseele« (an-nafs an-nāṭiqa). Auch die Tiere sowie die Pflanzen besitzen eine Seele. Sie haben allerdings keine Vernunftseele. 192 Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VIII, S. 333 ff. 347 ff. Ṣadrā hat sich intensiv mit der Frage der Seele beschäftigt und hat diesem und den daraus folgenden Themen die vierte Reise seines Buches gewidmet. Siehe aš-Šīrāzī, al-Asfār. Bd. VIII; ders., al-Asfār, Bd. IX. 193 Vgl. Açikgenç, Being and Existence, S. 101 f.

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stehung der Natur existierte. Denn es ist unverständlich – so eines seiner Argumente –, daß ein abstraktes und intellekthaftes Wesen sich der Veränderung und Wandlung aussetzt und so in eine körperliche Welt absteigt. 194 Er beharrt aber darauf, daß ihr Ursprung im Himmel ist, in der göttlichen Schöpferwelt (ʿ ālam al-amr). Die Natur hat zwar bei Ṣadrā eine in sich relativ geschlossene Eigendynamik, sie ist aber nicht der Schöpfer der Seele. Was die Philosophen mit Potentialität konkret meinen, ist hier noch unklar: Bedeutet es, daß es ein empfangendes neben einem verleihenden Wesen gibt, oder ist die Potentialität etwas, das sich von ein und demselben Wesen in die Welt hineinbegibt? In diesem Sinne sind dies dann zwei Funktionen ein und desselben Dings: Die des Verleihers und die des Empfängers. Die Welt, wie sie ist, ist Ṣadrā und einigen anderen islamischen Philosophen zufolge in einem »evolutionären« Prozeß entstanden; in ihrer Entstehung ist sie aber keineswegs selbständig. Denn eine solche Vorstellung negiert die Existenz eines Gottes bzw. setzt ihn mit der Natur gleich. Die Empfänglichkeit der Natur für ein geistiges Wesen ist die Endphase der materiellen Entwicklung. Hier beginnt nun eine neue Entwicklungsform: »Die menschlichen Seelen haben also in der Anfangsphase ihrer Entstehung (in der die rationale Hyle noch nicht von der Potenz zur Aktualität gekommen ist) die Form eines einheitlichen Genus [Species, arab. Nauʿ ], das man »Mensch« nennt (in dieser Phase sind alle Individuen ein Genus, und es besteht kein Unterschied zwischen ihnen). Aber da sie aus dem potentiellen Zustand des Menschseins herausgingen und zum aktuellen Menschen wurden und ihr hyletischer Intellekt [al-ʿ aql al-hayūlānī] den aktuellen Intellekt [al-ʿ aql al-faʿʿ āl] erreichte, wurden sie zu unterschiedlichen Spezies, vom Genus der Engel oder des Satans oder der Tiere.« 195

So betrachtet, erreicht die Materie ihre höchste Form dort, wo der »animalische Geist« (ar-rūḥ al-ḥayawānī) den Boden für die Entstehung des menschlichen Geistes und für seine Ewigkeit bereitet. Das Leben, das in der Natur vorhanden ist, ist also die Quelle des Entwicklungsund Entstehungsprozesses. Aber durch die göttliche Emanation strömt das Leben in die Welt hinein, wodurch alles lebendig wird. Und die Erscheinung des Lebens zeigt sich für Ṣadrā durch Wachstum, Bewe194 195

Aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 331. Ebd., S. 332.

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gung, Entwicklung, durch Eindrücke aus der Sinnenwelt und geistige Aktivitäten. Mit der Welt der Vegetation, wird die Welt des Wachstums in Gang gesetzt, mit der Welt des Animus zeigen sich die Bewegung und das Sinnesleben, und mit der Welt des Intellekts, dem die Vernunftseele entspricht, die Willensfreiheit und das geistige Leben. Diese geistige Lebensform signalisiert den Zweck der existentiellen Lebenserscheinung, die essentielle Vervollkommnung. 196 Der Mensch als solcher, der den Zustand der Intellekthaftigkeit erlangt hat, ist eine »metanatürliche Lebensform« und wird als geistiges Wesen ewig, nachdem er sich vom Körper gelöst hat. Ṣadrā ist sich der Tatsache bewußt, daß er die Trennung der Seele vom Körper bzw. ihre gemeinsame Entwicklung argumentativ nachweisen muß. Mir scheint, daß ihm die Schwierigkeit bewußt ist, direkte rationale Zusammenhänge aufzuzeigen, um die Existenz eines metaphysischen Wesens in einer Welt der Vergänglichkeit zu erklären, denn Ṣadrā hat die Frage der Vergänglichkeit und Umwandlung der Existenzerscheinungen nie losgelöst vom absoluten Sein beantwortet, und ebensowenig gelingt es ihm, das absolute Sein von der veränderbaren Welt unangetastet zu lassen. Eine Folge solcher Widersprüche ist die Frage der Seelenwanderung, die, wie Fazlur Rahman betont, ein Problem im Islam darstellt. 197 Da der Islam eigentlich keine Seelenwanderung kennt, muß sie dann in Ṣadrās Existenzphilosphie als eine seelische Reise bzw. Transformation der Seele betrachtet werden. Ṣadrās Aussagen über die Seelenwanderung scheinen auch Kamal widersprüchlich. Wenn es eine Seelenwanderung gibt, dann kann sie aus Sicht Mullā Ṣadrās nur in eine Richtung gehen, nämlich zur Vollkommenheit hin. 198 So bleibt ihm als religiösem Gelehrten nichts anderes übrig, als Wege bzw. Methoden in Betracht zu ziehen, in denen ein Sinn für die Existenz der materiellen Welt vorgezeichnet ist. Ihr Sinn kann natürlich als etwas Übernatürliches konstruiert und definiert werden. Die absolute Wirkursache in der Natur hat daher noch einen zweiten Gesichtspunkt: »Diese Sache ist eigentlich die Seele der Himmelssphäre. Ihre intelligible Natur macht die Seite ihrer Einheit und die körperliche Natur die Seite ihrer Vielfalt und Erneuerung aus«. 199 196 197 198 199

Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʿ ir, S. 66. Vgl. Rahman, The Philosophy, S. 248. Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 82 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 44; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 151.

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Der intellekthaften Natur fällt die einzige aktive Substanz mit unendlichen Aufgaben zu. »Ihre Aufgaben aber sind die Schatten der Aufgaben der ersten Wahrheit«, also Gottes. 200 So ist die Ursache der Zeit nicht die Seele, sondern »der größte Geist«, »der Befehl Gottes«, also das Wort Gottes, das von seiner sogenannten »Befehlswelt« (ʿ ālam alamr) ausgeht. Diese Konstruktion ist vergleichbar mit der platonischen Ideenwelt, von der sich Ṣadrā nach der Auffassung Kamal abzukehren versuchte. 201 Das Verhältnis vom Befehlsreich Gottes zu ihm selbst ist wie das des Lichts zur Lichtquelle und das Verhältnis von ihm zu seiner Schöpfung wie das des Schreibers zur Schrift, 202 ja von Wirklichkeit und Vorstellung. Und die Wirklichkeit alles Existierenden ist ewig und befindet sich bei Gott. 203 Ṣadrā assoziiert somit die bereits in der iranischen mystischen Tradition verankerte Idee des Licht-Menschen, 204 die er einerseits mit der formalen theologischen Tradition zu verbinden sucht. Darin verbirgt sich die ontologisch-anthropologische Bedeutung der Idee der Perfektion, die Ṣadrā andererseits in seine transzendentale Existenzphilosophie zu integrieren versucht. Diese Analogie zwischen Licht und Existenz bildet die ontische und epistemische Basis der menschlichen Seele. Licht und Existenz sind in beiden Philosophien evident und unsichtbar und nicht definierbar, wodurch aber alles andere definiert, erkannt und sichtbar wird. Dieser Existenzbegriff bildet das Fundament der transzendentalen Existenzphilosophie von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī. 205 Aus den bisherigen Ausführungen können wir zu dem Schluß kommen, daß für Mullā Ṣadrā das Sein das Prinzip und den Grund alles Existierenden darstellt und in diesem Sinne Gott bzw. das NotwendigSeiende nicht nur Quelle und Ursache aller existierenden Dinge, sondern auch Ziel und Ende der Schöpfung ist. 206 Von der fundamentalen Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 47; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 158. Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 42. 202 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 48; Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 160. 203 Durch seine Theorie der substantiellen Bewegung nimmt Ṣadrā einen besonderen Platz in der Geschichte der islamisch-iranischen Philosophie ein und findet bis heute im schiitischen und persischen Raum eine große Anhängerschaft, auch weil man damit (mit der substantiellen Bewegung) gegen den Dualismus von Körper und Seele in der islamischen und abendländischen Tradition argumentiert (vor allem gegen die cartesianische Tradition). 204 Corbin, Die smaragdene Vision, S. 146 f. 205 Vgl. Morris, James W., The wisdom of the Throne, S. 63 f. 206 Siehe Moris, Revelation, S. 98. 200 201

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metaphysischen Lehre ausgehend, daß das Sein bzw. Existenz die einzige Realität darstellen und das Sein zugleich einem dynamischen Prozeß unterworfen ist, bewegt sich Ṣadrā mit dem Postulat des Prinzips der äquivoken Abstufung und des aufeinander folgenden Prozesses der transsubstantiellen Bewegung auf die Idee der Perfektion zu, bei der die Rolle der seelischen Kraft und der Konstitutionen des Menschen große Bedeutung gewinnt. Denn die Seele, die eine Form des Seins ist, wie auch alle Existenzmodi, die sich in der sensitiven und imaginativen Welt befinden, haben Anteil am stetigen Prozeß der transsubstantiellen Bewegung, und das mit dem Ziel, ihre Unvollkommenheit zu überwinden und eine »Katharsis von der Materie und Potentialität« zu erreichen, um zu ihrer transzendenten und unveränderlichen Quelle zurückzukehren. 207 Daher ist es notwendig, uns nun der Seelenlehre bei Ṣadrā und Nasafī zu widmen, um anschließend der Frage der Perfektibilität des Menschen aus seiner eigenen existentiellen Kraft nachgehen zu können.

VII. Die ontologische Konstitution der Seele Wie gesagt, wird in der islamischen Philosophie die Seele als der eigentliche Mensch aufgefaßt – und als Grund dafür, daß er sich nach Perfektion sehnt. Um uns sinnvoll mit der Rolle der Seele in der Selbstperfektionierung des Menschen beschäftigen zu können, ist es nötig, uns erst kurz der Definition der Seele zu widmen. Die islamischen Philosophen sprechen allgemein von einer unkörperlichen, denkenden, »sprechenden Seele«, 208 die zur übernatürlichen Welt gehört, die man ebenso eine einfache (nicht zusammengesetzte), aus sich selbst bestehende »Substanz« (ǧauhar) nennen kann. Sie heißt auch, wie bereits erwähnt, die »Vernunftseele« bzw. die »denkende Seele« (an-nafs al-ʿ āqila). 209 Die Lehre der Immaterialität der Seele herrschte in vielen wichtigen Schulen vor, so auch in der ismailitischen Schule und bei den Muʿ taziliten. Die Bedeutung von beiden für die Entwicklung der islamischen Philosophie und für die Theologie der Schiiten ist sehr groß. Ebd., S. 116. Siehe Ibn Miskawaih, Aḥmad Ibn Muḥammad: Tahḏīb al-aḫlāq wa-taṭhīr al-aʿ rāq. Hrsg. v. Ibn al-Ḫaṭīb (q1398/1979). Kairo, S. 13 ff. 209 Ebd., S. 16 ff. 207 208

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Die islamischen Philosophen verwenden, wie bereits erwähnt, oft den Begriff nafs für die Seele. Auch der Begriff rūḥ (Geist) spielt für das menschliche Wesen eine zentrale Rolle. Daher möchte ich versuchen, den Unterschied zwischen Seele und Geist aufzuzeigen. Oft werden nafs und rūḥ undifferenziert als Synonyme gleichgesetzt. 210 Ob mit rūḥ der »Intellekt« (ʿ aql), das »Leben« oder sogar ein »Engel« gemeint ist, ist nicht eindeutig. Im Koran wird der Begriff rūḥ für verschiedene Dinge verwendet. 211 Auch die islamischen Gelehrten verwenden rūḥ vielfältig, 212 für die menschliche Seele verwenden sie jedoch oft den Begriff nafs. 213 Schimmel ist der Meinung, daß der Begriff nafs im Gegensatz zu rūḥ nie mit Gott in Verbindung gebracht wird. 214 In vielen bekannten Ethiktraktaten, die unter dem Einfluß der aristotelischen Ethik entstanden, steht der Begriff nafs im Vordergrund, ohne daß er spezifisch von rūḥ abgegrenzt wird. 215 Die menschliche Vernunft ist quasi eine Erscheinung der nafs, die wiederum die Emanation des Intellekts ist. 216 Für die Muʿ taziliten war jedoch der Intellekt eine Ausdrucksform des rūḥ. 217 Für Ibn Miskawaih ist nafs die Substanz, die das Wesen des Menschen ist und nach dem natürlichen Tod bestehen bleibt. 218 Ähnliches über das menschliche Wesen können wir von Ibn Sīnā erfahren. 219 In seinem Traktat zur »Himmelfahrt« (Miʿ rāǧ-nāma) unGelehrte wie Mahdī Narrāqī sehen einen Erklärungsbedarf für einen solchen »Begriffsstau«. Für ihn gehen all diese Begriffe auf ein und denselben Inhalt zurück. Ihre unterschiedlichen Verwendungen und Bezeichnungen sind den unterschiedlichen tätigen Konstellationen und Funktionen unterworfen: »und für sie [nafs, die Seele] gibt es verschiedene Bezeichnungen hinsichtlich der Standpunkte. Manchmal nennt man sie Geist [rūḥ], da das Leben des Leibes von ihm abhängig ist. Manchmal nennt man sie Vernunft [ʿ aql], da sie das Intelligible perzipiert, manchmal Herz, da sie sich durch die Emotionen [al-ḫawāṭir] beeinflussen läßt.« Narrāqī, Muḥammad Mahdī: Ǧāmiʿ as-saʿ āda. Hrsg. v. Muḥammad Riḍā Albānī al-Kāšānī (1417/1997). Bd. I. Ghom, S. 30. 211 Siehe dazu Calverley, Edward E.: Nafs, in: EI2. Bd. 7, S. 880 ff. 212 Siehe Schimmel, Zur Anthropologie, S. 143 ff. 213 Siehe dazu Ess, Theologie und Gesellschaft, S. 513–541. 214 Siehe Schimmel, Zur Anthropologie, S. 144. 215 Vgl. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 13–20, 56–65. 216 Siehe Diwald, Arabische Philosophie, S. 443. 217 Ess, Theologie und Gesellschaft, S. 518. 218 Vgl. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 220–224. 219 Ihm verdanken wir überhaupt eine systematische Philosophie in Anlehnung an Aristoteles und Anhänger. Seine Ansichten über die »Seele« (nafs) können den folgenden Werken entnommen werden: Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. II, S. 289 ff., Bd. III, S. 263–363; 210

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terscheidet er zwischen der »Vernunftseele« (pers. nafs-i nāṭiqa), dem »animalischen Geist« (pers. rūḥ-i ḥayawānī) und dem »natürlichen Geist« (pers. rūḥi ṭabīʿ ī). 220 Wir können von drei Arten der Seele sprechen: der Vernunftseele, der Tierseele und der Naturseele. Für die »Vernunftseele« verwendet er den Begriff rawān, was auch mit »Psyche« wiedergegeben werden kann. Diese ist für Ibn Sīnā unsterblich, und sie setzt den »Körper« (pers. badan) sowie eine gewisse »feine körperliche Materie«, die er ǧān nennt, in Bewegung. Denn rawān ist im Gegensatz zu ǧān eine Kraftquelle. 221 Somit haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das einerseits über der Körperwelt steht, denn es ist in gewissem Grad feine Materie, und das andererseits niedriger ist als die Vernunftseele, denn durch diese ist der Mensch edler und vollkommener als die Tiere. 222 Was allerdings von Ibn Sīnā klar hervorgehoben wird, ist die Bedeutung des Menschen, den er durch rawān gegenüber anderen Lebewesen abgrenzt. Durch die Tier- und Naturseele, die die animalischen und natürlichen Kräfte des Menschen versorgen, verbindet sich der Mensch mit den Tieren. Das intellekthafte Ich trennt den Menschen von den Tieren, da er mit dem Intellekt verbunden wird. Die Vernunftseele steht daher unter der Einwirkung des Intellekts, durch den die Vernunftseele Erkenntnis, was eine Schau der intelligiblen Welt ist, und damit auch die Glückseligkeit erlangen kann. 223 ders.: an-Naǧāt fī l-ḥikma al-ilāhīya. Hrsg. v. Muḥyi ad-Dīn Ṣabrī al-Kurdī (2q1357/ 1938). Ghom, S. 258–299; ders.: Risālat-i Tuḥfa, in: Rasāʾ il-i Ibn Sīnā. Übers. u. hrsg. v. Ḍiyāʾ ad-Dīn Durrī (21360/1981), Teheran, S. 181–262; ders.: Risāla-yi nafs. Hrsg v. Mūsā ʿAmīd (1331/1952). Teheran; de Boer, Geschichte, S. 122–128. 220 Siehe Ibn Sīnā, Abū Alī al-Ḥusain Ibn Abdallāh: Mi rāǧ-nāma. Nach Šams ad-Dīn ʿ ʿ ʿ Ibrāhīm Abarqūhī. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. Naǧīb Māyil Hirawī (1365/1986). Teheran, S. 82 f. 221 Zu Beginn seines Buches benutzt er allerdings den Begriff ǧān, der über den Körper herrscht. Es ist nicht ganz klar, welche Rolle und Bedeutung diesem Begriff zukommt. Nach seiner Darstellung ist die ǧān wie der Körper sterblich. 222 Ǧān kann daher meines Erachtens nur der Lebensgeist der animalischen und natürlichen Welt sein. An einer anderen Stelle wird ǧān mit dem Begriff rūḥ ersetzt. Šams adDīn Ibrāhīm Abarqūhī, der ein eigenes »Miʿ rāǧ-nāma« verfaßte, stellt an die Stelle von ǧān den Begriff rūḥ und unterscheidet zugleich zwischen ǧān und rawān. Ebd., S. 123 f. 223 Auch bei Suhrawardī ist nafs ein zentraler Begriff, wenn es ihm darum geht, das menschliche Wesen und andere Lebewesen zu definieren. Eine klare Differenzierung zwischen rūḥ und nafs kann seinen Aussagen aber nicht entnommen werden. Mit geringen Unterschieden übernimmt er die Seelenlehre Ibn Sīnās. Als Philosoph des Illuminismus verwendet er für die menschliche Seele den Begriff an-nūr al-isfahbadī, einen Begriff aus dem vorislamischen Persien. Zu seiner Seelenlehre gehört auch die »anima-

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Vom bedeutendsten Kommentator der avicennischen Philosophie und dem führenden Theologen der mongolischen Zeit, Naṣīr ad-Dīn aṭṬūsī (gest. 1273), erhalten wir folgende Bestimmung des menschlichen Ichs: »Die menschliche Seele ist eine einfache Substanz. Ihm [dem menschlichen Ich] ist die Gabe [šaʾ n] eigen, daß es durch sein Wesen selbst [ḏāt] die Intelligiblen [maʿ qūlāt] wahrnimmt und durch Kräfte [quwā, Vermögen] und Mittel den sinnlich wahrnehmbaren Körper, den die meisten Leute als Mensch bezeichnen, verwaltet [pers. tadbīr] und über ihn verfügt [pers. taṣarruf]. Die Substanz selbst ist weder Körper noch körperlich und auch nicht wahrnehmbar durch die Sinne.« 224

Ebenso findet man in beiden Richtungen die Elemente der altiranischen Lichtmetaphysik sehr deutlich wieder, die wiederum auch bei ihren Gegnern, wie etwa bei al-Ġazālī, zu finden sind. Suhrawardī nimmt einen anderen Weg, um den Zusammenhang zwischen der Entstehung und dem Erkennensprozeß als eine plausible und unmittelbare Beziehung zu erklären. Die ontologischen Aspekte der Seele in der Lichtphilosophie, die für die Idee der Perfektion in Nasafīs und vor allem in Ṣadrās Existenzphilosophie eine zentrale Rolle gespielt haben, konstituieren den Menschen als ideales Wesen. Die Vernunftseele, wie sie von Suhrawardī dargestellt wird, ist eine Art Potentialität (quwwa), eine Kraftquelle, die ihr Vermögen aus dem göttlichen Licht schöpft. Alles Vermögen des Menschen und all seine Kräfte sind somit Ausstrahlungen des »Isfahbad-Lichtes« (an-nūr al-isfahbadī), was ein anderer Name für das »lenkende Licht« (an-nūr al-mudabbir) ist. 225 Das menschliche Ich, nämlich die Vernunftseele, nennt Suhrawardī »lenkendes

lische Seele« (ar-rūḥ al-ḥayawānī), die die Welt der Phänomene und die »intellekthafte Seele« verbindet. Er ist sich sicher, daß der Mensch eine »animalische Seele« besitzt und eine Beziehung zur intelligiblen Welt hat, die auch an die Welt des Lichtes der Lichter angeschlossen ist. Vgl. Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 198–211; siehe den Kommentar von Šahrazūrī, Šarḥ Ḥikmat, S. 473–502. 224 Aṭ-Ṭūsī, Naṣīr ad-Dīn: Aḫlāq-i Nāṣirī. Hrsg. u. kommentiert v. Muǧtabā Minawī u. ʿAlī Riḍā Ḥaidarī (41369/1990). Teheran, S. 48 f. 225 Der Begriff Isfahbad bzw. Ispabad kommt in »Burhān-i qāṭi « vor. Er bezeichnet den ʿ absoluten Heerführer und ist eine Bezeichnung für die persischen Könige. Er bedeutet zusammen mit dem Begriff Haura, also spahpat Xvarenô bzw. Kavaenem Xvarenô bei den persischen Illuministen die intellekthafte Seele. Siehe Muḥammad Ḥusain Muḥammad Ḫalaf Tabrīzī: Burhān-i qāṭiʿ . Hrsg. u. kommentiert v. Muḥammad Muʿ īn (1342/ 1963). Bd. I. Teheran, S. 122, 131.

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Licht« (an-nūr al-mudabbir). 226 Durch dieses Licht besteht eine Verbindung »between the human and the cosmic realms«. 227 Dagegen ist der menschliche Körper eine ṭilasma, ein Gefängnis. 228 In seinem Werk »Hayākil an-nūr« führt Suhrawardī weiter aus, daß auch die menschliche »Vernunftseele« 229 selbst wiederum eine Lichtquelle ist, aus der sich die »animalische Seele« ernährt. Die Vernunftseele hat die eigentliche Verfügungsgewalt über den Körper, kann jedoch ohne die animalische Seele diese Verfügungsgewalt nicht ausüben. Die animalische Seele, die aus einem feinen, dampfartigen, körperlichen Stoff besteht, ist somit das Mittel, durch das sich das geistige Ich des Körpers bemächtigt. Würde sie behindert, so würde das betreffende Körperglied sterben, denn durch sie verteilt sich das Leben im ganzen Körper. Die Vernunftseele entspringt im Gegensatz zur animalischen Seele unmittelbar dem göttlichen Licht und geht Suhrawardī zufolge zu ihm zurück. So handelt es sich bei der menschlichen Seele letztlich um das Licht Gottes, welches sich selbst fundamentiert. 230 Die animalische Seele besitzt dagegen jedes Tierwesen. Aus dieser ontologischen Vorstellung von der menschlichen Seele geht die illuministische Epistemologie hervor, die den Erkenntnisprozeß als einen aktiven Akt des Lichts sieht. In diesem Sinne kann man sagen: Die »individuelle Seele, die selbst eine Illumination ist, beleuchtet das Objekt im Akt der Erkenntnis«. 231 Ziai sieht in Suhrawardīs Lichtphilosophie eine epistemologische Wende in der islamischen Welt, mit der die philosophische Grundlage seiner peripatetischen Vorgänger zusammenbricht. Denn nach der peripatetischen Philosophie sei sicheres Wissen unmöglich, während die illuministische Philosophie die Erkenntnis sogar als notwendig begreife. 232 Suhrawardīs Epistemologie und seine Ontologie des Lichtes liefern die Grundideen für die sadraische Existenzphilosophie. Ziai zeigt in seiner Untersuchung zwar die Bedeutung der Lichtphilosophie für die epistemologische Wende auf, die anthropologische Folge Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 198–203; Ziai, Knowledge and Illumination, S. 153. 228 Vgl. Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmū a-yi, Bd. II, S. 214. ʿ 229 Nafs (Seele), rūḥ (Geist), aql (Intellekt) und nūr (Licht) werden oft analog für den ʿ Teil des Übernatürlichen im menschlichen Wesen verwendet. Außer nūr sind diese Begriffe auch in anderen Zusammenhängen gebräuchlich. 230 Suhrawardī, Hayākil, S. 49–56. 231 Vgl. Iqbal, Die Entwicklung der Metaphysik, S. 50. Vgl. Iqbal, Development, S. 132. 232 Ziai, Knowledge and Illumination, S. 130 ff. 226 227

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dieser Philosophie für die Idee der Perfektion bleibt jedoch unbesprochen. Wir werden im Kapitel über die Erkenntnis (Kap. II) noch darauf eingehen. Suhrawardī ist der Auffassung, daß die menschliche Seele zwar nicht körperlich, doch mit dem Körper entstanden sei, sobald dieser für die Aufnahme des geistigen Ichs ausgereift und geeignet ist, denn »was nicht Körper ist, kann nicht geteilt werden.« 233 Die Seele entsteht folglich mit dem Körper, sobald er bereit ist, sie aufzunehmen. Dieser Auffassung schließt sich Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī an. Obwohl es das Leben vom Geist empfängt, stellt das geistige Ich die Machtquelle dar, aus der heraus der Mensch als »illuministisches Wesen« (pers. insān-i nūrānī) 234 seine Personalität gestaltet und den Weg zum Ursprung selbständig findet. Auch der Körper sehnt sich nach Erleuchtung, die durch die Seele ermöglicht werden kann. 235 Im Rahmen einer platonisch orientierten Weltdeutung und einer Neubegründung der altiranischen Lichtmetaphysik versucht Suhrawardī dem Menschen einen illuministisch zu erklärenden Wesenszug zuzuschreiben, der ihn in die Lage versetzt, sich aus seinem eigenen Wesen heraus mit der höchsten Stufe des Daseins zu verbinden. Suhrawardī zweifelt nicht daran, daß sich in einem begrenzten und zeitlich entstandenen Wesen wie im Menschen ein grenzenloses und zeitloses Wesen befinden kann. Die Bedeutung der illuministischen Weisheitsphilosophie für die Idee der Vervollkommnung des Menschen ist sehr groß, wie wir bereits dargestellt haben. Suhrawardīs Philosophie bindet die Vervollkommnungsmöglichkeit des Menschen unmittelbar an das göttliche Licht, denn der Mensch ist hier Strahlung des Lichts des Engels. Der Engel 233 Suhrawardī, Hayākil, S. 56. Dazu ebenso Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 201 ff. 234 Suhrawardī verwendet den Begriff al-anwār al-mudabbira al-insīya (die leitenden menschlichen Lichter). Sie sind nichts anderes als an-nafs an-nāṭiqa (die Vernunftseele), die er auch isfahbad an-nasūt bzw. an-nūr al-mutaṣarrif nennt. Siehe Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 201. Siehe Anm. 445/6. Diese Betrachtung des Menschen hat Corbin zufolge, der dem Thema eine eigene Abhandlung gewidmet hat, in der persischen philosophischen Tradition ihren Ursprung und wurde auch in der islamischen Zeit von den Philosophen und Denkern gepflegt. Siehe Corbin, Henry (1971): L’homme de lumière dans le soufisme Iranien. Paris; für die deutsche Übersetzung siehe Corbin, Die smaragdene Vision. 235 Vgl. Iqbal, Die Entwicklung der Metaphysik, S. 54. Vgl. Iqbal, Development, S. 140.

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Gabriel steht für die Gattung des Menschen oder, wie ein Interpret es formuliert: »Humanity is an image of this archangel who is the mediator between man and the higher world and the focus in which the lights of the Orient are concentrated.« 236 Durch diese Beziehung zum Licht hat der Mensch die Möglichkeit, Wissen zu erlangen und zum Lichtwesen zu werden. Dieser epistemologische Aspekt weist auf die enge Verbindung zwischen der ontischen Beschaffenheit des Menschen und der Seele hin, die für eine Anthropologie der Perfektion, die bisher unzureichend in Forschungen reflektiert und angedeutet wurde, von Bedeutung ist. Mit Suhrawardīs Lichtmetaphysik geht das Wissen bzw. das Bewußtsein mit einem ontologischen Akt des Lichts einher. 237 Wissen ist eine ontische Verbindung von erkennendem (bewußtem) Subjekt und erkanntem Objekt. 238 Denn das menschliche Ich, nämlich die Seele, steht unter der permanenten Strahlung des Urlichts. Die Selbsterkenntnis der Seele ist nur unter dieser Bedingung möglich. 239 Daher wird sie mit Manifestation und »light-as-such« als identisch gesehen. 240 Ziai sagt: »Self-consciousness, both as a cosmic principle and as a psychological principle, constitutes the foundation of illuminationist knowledge«, was in der illuministischen Philosophie als »activity of the soul« gesehen wird. 241 Mit dieser Erklärung versucht man, den Menschen in eine unmittelbare Verbindung zur Quelle der Vollkommenheit zu bringen. Die Vervollkommnung ist damit der menschlichen Seele unmittelbar gegeben und der Mensch hat den notwendigen Drang, sein wahres Wesen zu erreichen, denn sonst würde er in der Welt der Finsternis versinken. Diese ontische Beziehung zwischen der Seele und der Existenz kommt auch in den Werken der Anhänger der peripatetischen Schule, die die nachfolgenden Generationen stark beeinflußt haben, zum Ausdruck. 242 Schon vor Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī hat der ismalitische Denker Afḍal ad-Dīn Kāšānī, bekannt als Bābā Afḍal Kāšānī, 243 auf diese BezieNasr, The Islamic Intellectual, S. 140. Vgl. Ziai, Knowledge and Illumination, S. 147 ff. 238 Ebd., S. 142 f. 239 Ebd., S. 149. 240 Ebd., S. 151. 241 Ebd., S. 149. 242 Vgl. Chittick, The Partinence, S. 529 ff. 243 Zu seiner Philosophie siehe Chittick, William C. (2001): The Heart of Islamic Philosophy. The Quest for Self-Kowledge in the Teachings of Afḍal al-Dīn Kāshānī. Oxford. 236 237

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hung aufmerksam gemacht. Was in der Ontologie von Suhrawardī, einem Zeitgenossen von Kāšānī, Licht ist, ist bei Kāšānī und Ṣadrā Existenz. Existenz und Seele nehmen in Kāšānīs Kosmologie, wie Chittick feststellt, eine identische Funktion ein, nämlich die »perfection of self and existence«, wie bei Ṣadrā auch. In »their actualization, self and existence are identical«. 244 Kāšānī betont daher auch die Bedeutung der Seele (nafs) als eigentliches Wesen des Menschen. Er schreibt, »daß sie der Ursprung [aṣl] und die Wirklichkeit [pers. ḥaqīqat] der Menschen ist. Ihr liegt das Menschsein des Menschen zugrunde: ein göttliches Licht, das durch sich selbst leuchtet und alles andere durch es«. 245

Der Mensch steht auch in dieser Darstellung mit dem göttlichen Licht in enger Beziehung, das sein Wesen und seine Ziele bestimmt. Durch dieses Licht ist der Mensch zum Menschen geworden. Diese Analogie zwischen Licht und Existenz bildet, wie gesagt, die ontische und epistemische Basis der menschlichen Seele. Nach der Existenzlehre Ṣadrās bewegt sich das Sein zwischen zwei Polen: von der absoluten Existenz hin zur materiellen Welt. Von ihm gehen daher zwei Prozesse aus, in denen das Sein aktiv involviert ist. Es konstituiert den absteigenden Bogen (al-qaus an-nuzūlī) der Schöpfung, und die Rückkehr der relativ Seienden zu ihrer Quelle konstituiert den aufsteigenden Bogen (al-qaus as-suʿ ūdī). 246 Der absteigende Bogen repräsentiert die Abstufung des Seins von einem vollkommeneren und intensiveren Modus bzw. einer Stufe des Seins zu einem unvollkommeneren und weniger intensiven Stadium des Seins in Richtung des Nichts (ʿ adam) bzw. der Dunkelheit; und der aufsteigende Bogen, die Transformation des Seins von einem unvollkommeneren oder weniger intensiven Zustand des Seins zu einem vollkommeneren und intensiveren Grad des Seins in Richtung des reines Seins. Das bedeutet für den Menschen, daß er als Mikrokosmos und kraft seines substantiellen Vermögens für die Vollendung des Seinsprozesses steht. Für den Menschen, der die geistige, seelische und körperliche Ebene der Realität darstellt, weil er aus einem Intellekt, einer Seele und einem Körper besteht, gilt, daß in seinem Sein alle Möglichkeiten der kosVgl. Chittick, The Partinence, S. 533. Kāšānī Maraqī, Afḍal ad-Dīn Muḥammad: Muṣannafāt. Hrsg. u. kommentiert von Yaḥyā Mahdawī u. Muǧtabā Mīnuwī (21366/1989). Teheran, S. 20. 246 Siehe Moris, Revelation, S. 98. 244 245

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mischen Existenz in einer synthetischen Art und Weise enthalten sind. Es sei durch sein vereinigendes und ontologisch-synthetisches Sein möglich geworden, daß die niedrigere Ebene des Seins, namentlich die Materie, zu höheren Ebenen des Seins aufsteigen kann, damit Seele und Geist zu Gott zurückkehren. Durch das Sein des Menschen kann die materielle Erschaffung, die die niedrigste Entwicklungsstufe und die mangelhafteste Bestimmung des Seins ist, zu ihrem Ursprung aufsteigen bzw. zurückkehren (maʿ ād). Der Mensch sei die höchste Vollendung der materiellen Erschaffung, und sein Sein markiert den Beginn wie auch das Ende des Prozesses des Aufstiegs bzw. der Rückkehr zum Sein. 247 Die Lehre der Bestimmung der Gesamtheit der geschaffenen Existierenden begründet, wie Jambet zu Recht formuliert, die mystische Psychologie. Denn sie überprüft die aufeinander folgenden Geburten der Seele, denkt die Geistigkeit des Körperlichen und die geistige Vereinigung mit der göttlichen Nähe. 248 Der Seinsakt hat keinerlei Determinierung, auch nicht die Negation der Determinierung, keinerlei Möglichkeit der Darstellung (taṣawwur, d. h. das Vorhandensein einer Idee bzw. ein Bild von einem sinnhaften Ding im Geist). Man kann ihn nicht zum Objekt des Denkens machen, er hat keine mentale Existenz. Er gehört in den Bereich der Seele, der Intuition, der sich vervollkommenden Seele, die wiederum in Gott ihre geistige Wiedergeburt erlebt. 249 Nach der Vorstellung von der Einheit des Seins und der Vielschichtigkeit des Seins, die sich dynamisch ausdehnt, läßt sich die Frage nach dem Leib-Seele-Problem zur Frage des Vervollkommnungsprozesses des Menschen machen. Denn nach Ṣadrās monistischer und evolutionärer Existenzphilosophie kann man von Körper und Seele nicht als zwei unterschiedlichen Dingen in einem Wesen sprechen, sondern von zwei Seinszuständen, die sich von unvollkommenen zu vollkommenen Wesen entwickeln. Die Seele ist demnach Körper, nicht von ihrem Ursprung her, sondern solange sie sich noch in einem Zustand des Potentiellen und Unvollkommenen befindet (fa-ṯabata anna n-nafsa yakūnu ʿ ainu l-badani). 250 Dies belegt Ṣadrā mit dem Argument, daß die Seele mit Eigenschaften, die dem Körper zugeordnet werden, 247 248 249 250

Ebd., S. 99. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 38. Ebd., S. 71. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. V, S. 286.

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beschrieben wird. Nach der Einheit des Seins als Identität aller Seienden kann man laut Ṣadrā die Attribute nicht vom Gegenstand trennen. Wenn man aber damit behaupten möchte, daß der Körper notwendigerweise die seelischen Eigenschaften und die Abstraktion beanspruchen könne, so müsse man die Seele in ihrer Anfangsphase als aktuell betrachten. Dies ist für Ṣadrā definitiv falsch, weil die Seele in ihrem aktuellen Zustand vollkommen ist und nicht mehr körperlich. 251 Solange die menschliche Seele noch nicht vollständig aktuell geworden ist, ist sie abhängig vom Körper, und in diesem Fall ist es besser, zu sagen, daß die Seele körperlich ist. Denn die Seele ist in ihrem Anfang eine natürliche Form, die mit der Materie vereint ist. In diesem Sinne kann man daher auch die Seele in ihrer Anfangsphase nicht, wie in den bisherigen Definitionen, als eine einfache und nicht zusammengesetzte Realität sehen, die dann zugleich mit verschiedenen Fähigkeiten und Funktionen ausgestattet ist. In Ṣadrās Philosophie durchläuft die Seele verschiedene Entwicklungsstadien. Sie erscheint, wie gesagt, zuerst als Körper, dann als vegetative, animalische Seele und schließlich als menschliche Seele (Vernunftseele). In dieser Entwicklung nehmen die Fähigkeiten der Seele zu. Gemeint ist nach der Existenzlehre, daß das Sein zu- und die Wesenheit abnimmt. Die menschliche Seele hat daher alle sinnlichen, animalischen und menschlichen Kräfte. Ṣadrā übernimmt die avicennische Seelenlehre und versucht sie seiner evolutionären Existenzlehre anzupassen. Daher muß sie auch neu interpretiert werden. 252 Insgesamt kann man dann nach Ṣadrā von fünf Fähigkeiten sprechen: Das sind die Fähigkeiten des Gemeinsinnes (ḥiss al-muštarak), bei dem die Perzeption der gemeinsamen Formen stattfindet, der Einbildung (wahm), die Bedeutungen erkennt bzw. Begriffe wahrnimmt, der Illusion (ḫayāl), die Formen bewahrt, des Gedächtnisses (ḏākira), das Bedeutungen bewahrt sowie die Fähigkeiten der Imagination (mutaḫayyila) und des Denkens (mutafakkira). 253 Allerdings dürfen nach Ebd., S. 289. Vgl. Puetra Vilchez, Jose Miguel: an-Nafs l-insānīya musāfir ilaihi taʿ ālā. Ṭabīʿ at annafs al-insānīya wa-quwāhā ladā al-Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī min ḫilāl muʾ allafaihi al-Asfār al-arbaʿ a wa-š-Šawāhid ar-rubūbīya, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001). Teheran. Vol. X. Eschatology, Exegesis, Hadith, S. 593–624. 253 Siehe Moris, Revelation, S. 106. 251 252

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der Prozeßphilosophie Ṣadrās die Fähigkeiten, die die Seele erwirbt, nicht in dem Sinne verstanden werden, daß der Seele etwas hinzugefügt wird. Vielmehr gilt, daß die Fähigkeiten potentielle Aspekte der Seele sind, die in der Seele aktualisiert werden. Da die Entwicklung hier die Zunahme an Sein und die Abnahme an Wesenheit bedeutet, kann man von einem Prozeß der Intellektualisierung des Körpers und der Seele reden. Das führt zu dem Schluß, daß die Seele in ihrem Anfang nicht einfach ist und das Kind keineswegs bereits in der Gebärmutter eine intellekthafte Seele hat, wie Ibn Sīnā behauptet. 254 Die Vernunftseele ist nur potentiell vorhanden und muß sich dann im Laufe des Lebens entfalten. Die Aktualität der Vernunftseele kann durch eine völlige Lösung von der Materialität erreicht werden, und solange der Mensch diese Stufe nicht erreicht hat, befindet er sich in einem Zwischenzustand, nämlich in dem des Tiermensches, der mit Hilfe der wahm, ḫayāl und partikulärer Vernunft die Welt perzipiert. Die Vervollkommnung des Menschen bedeutet demnach die Abstraktion der Seele. Das bedeutet, daß sich die seelischen Kräfte ebenso abstrahieren und der Mensch bei jeder Entwicklung ein neues Kleid der Existenz annimmt, die vollkommener ist als die vorherige Stufe. 255 Der Mensch wird somit in Ṣadrās Philosophie als ein Wesen verstanden, das durch seinen Aufstieg zum Ursprung die Stufen seiner materiellen Natur überwindet. Das bedeutet, daß der Mensch durch die Selbstperfektionierung den Grund seiner Vollkommenheit erkennen und damit dem wahren Kern der Dinge näher kommen kann. Der Mensch ist in Ṣadrās Philosophie als das Wesen anzusehen, das die Anlage hat, sich intellekthaft zu perfektionieren. Die Intellektualiät des menschlichen Wesens ist jedoch in seiner Anfangsphase nicht ausgeprägt, d. h. im aristotelischen Sinne nicht aktuell. Sie muß durch einen Prozeß erworben werden. Dieser Prozeß geht durch alle Naturreiche von dem der Mineralien, durch das der Pflanzen und der Tiere; der Mensch steht in Ṣadrās Philosophie in diesem Natur- und Intellektprozeß als ein Wesen, das das Tiersein überwindet. Durch seine Vervollkommnung erreicht er am Ende die Stufe des aktiven Intellekts und verbindet sich mit dem höchsten Gut und mit seinem Ursprung. 256 Diese Entwicklung verdankt der Mensch seiner Seele. Die Seele (nafs) ist für Ṣadrā eine Substanz aus Feuer, allerdings 254 255 256

Vgl. Puetra Vilchez, an-Nafs al-insānīya, Bd. 10, S. 41. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VIII, S. 223. Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʿ ir, S. 219 f.

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keinem materiellen Feuer. Die Seele hat vielmehr einen transzendentalen Ursprung. Durch die substantielle Bewegung befreit sie sich aus der Materialität und entwickelt sich zum Rang des Geistes, in dem sie sich der Intellektwelt zuwendet. Ṣadrā glaubt, daß sich die Seele durch diesen Prozeß wieder in reines Licht verwandelt, nachdem sie zuvor durch den Fall aus der Intellektwelt in die naturhafte Welt getrübt und in verbrennenden Stoff verwandelt wurde. 257 Jambet sieht in der Seelenlehre Ṣadrās einen Prozeß des »Sich-Unsterblich-Machens«, in dem sich die menschliche Seele befindet. Jede substantielle Individualität hat eine fließende, sich erneuernde Natur und der menschliche Geist ist »permanent« wegen seiner Nicht-Stofflichkeit. Der Seinsakt der stofflichen Naturen ist abgestuft (tadrīǧī), während der geistige Seinsakt permanent ist, was an die platonische Ideenlehre erinnert. Das Aufsteigen vom Stofflichen, Vergänglichen zum Geistigen, Göttlichen, Ewigen ist die Grundbewegung des Seins. 258 Das vom Stofflichen völlig losgelöste Geistige ist nicht in Bewegung, aber die Seelen bewegen sich, ihre Seinsakte unterliegen dem Wandel. Am Ende des physischen Werdens beginnt für die Seele ihr metaphysisches Werden, das sie zur Schwelle der geistigen Welt bringt. Die geistige Dimension der Seele gewinnt hier die Oberhand, und die Seele wandert hin zum getrennten Licht. Die Beziehung zwischen der geistigen und materiellen Welt kann damit nicht als eine Beziehung zwischen zwei getrennten Welten gesehen werden, sondern wie die »Beziehung der Perfektion zum Mangel, wie die Beziehung der Wurzel zum Zweige«. 259 In seinem Buch »Risālat al-Ḥašr« (wie auch in seinen übrigen Werken) stellt Ṣadrā die Art der Begegnungen der Seelen mit der Transzendenz dar, wobei er zwischen einer vollkommenen und einer unvollkommenen Seele unterscheidet. Die vollkommene Seele ist die, deren Intellektualität Aktualität gefunden hat und sich so mit dem transzendentalen Intellekt verbindet, der frei von jeder Materie ist. Daher, so Ṣadrā, wird diese Art der Seele Gott begegnen können. Die unvollkommene Seele ist für Ṣadrā die, die noch als Tierwesen lebt oder noch niedriger steht. Denn die Seele des Menschen befindet sich, wie erklärt, in ihrer Anfangsphase in größter Unvollkommenheit und Un257 258 259

Vgl. aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 298. Vgl. hierzu Jambet, L’acte d’être, S. 203 Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 95.

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vollständigkeit und wird von Ṣadrā zum Nichtsein bzw. als Möglichseiendes (d. h. reine Potentialität und Wesenheit) gezählt. Die Seele entwickelt sich allmählich aus diesem unvollkommenen Zustand heraus, kann dann aber alle Stufen, die sieben Himmelreiche und darüber hinaus die ewige Welt erreichen. 260 Ṣadrā beschreibt den Ab- und Aufstieg als die zwei Seiten des Seins, die sich zwischen Intellekt und Materie befinden. Der Abstieg beginnt zuerst mit dem Intellekt, dann mit der Seele, dann mit der Natur und endet mit der Materie. Um wieder zum Ursprung zu gelangen, muß das Seiende unterschiedliche Gestalten annehmen und sich auf eine Stufe begeben, von der aus es wieder in die Welt des Intellekts aufsteigen kann: auf die der Welt der Körper, Pflanzen und Tiere, die mit dem Leben und der Seele versehen ist, dann der Welt der Menschen, welche mit der Vernunft und dem Bewußtsein versehen ist. Denn der Aufstieg der Seienden 261 beginnt mit der Vernunft und endet beim Denkenden (ʿ āqil), das der erste Intellekt und die Essenz Gottes ist. Zwischen der Vernunft und dem Denkenden gibt es für Ṣadrā unterschiedliche Stufen und Stadien hinsichtlich der Würde und der Vervollkommnung. Der Grund der Würde und Vollkommenheit ist die Nähe zu Gott. Das bedeutet, daß das Erste in der Welt der Existenz mehr Anteil an der Vollkommenheit hat als das Letzte; und umgekehrt hat dieses mehr Anteil an der Unvollkommenheit als das Erste. Diejenigen Existenzen, die sich von der letzten Hyle 262 fortbewegen und ihr fern sind, stehen der Befreiung von der Finsternis und dem Bösen näher. 263 Dem Prozeß des Ab- und Aufstiegs entspringen zwei Formen der schöpferischen Tätigkeit. Die eine schöpferische Kreation ist unmittelbar, wobei Gott die Dinge frei von Mitteln und aus dem Nichts schafft. Das nennt er ibdāʿ . Die zweite schöpferische Tätigkeit, die er takwīn nennt, setzt die Anlage, Empfängnisfähigkeit und Tauglichkeit voraus. Im letzteren Fall geht eine Kreation der anderen Kreation voraus. Ṣadrā ist der Auffassung, daß die Materie und ihre Fähigkeit der Formaufnahme unzählige schöpferische Entwürfe ermöglichen. Ein Vervollkommnungsprozeß kann jedoch ohne die Möglichkeit, die schöpferische AnVgl. aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Risālat al-Ḥašr. Arabisch-persische Ausg. Hrsg. u. übers. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (1362/1983), Teheran, S. 90 f. 261 Ṣadrā spricht auch von »den Existierenden«. 262 Ṣadrā übernimmt diesen Begriff für die materielle Substanz eines Dings von Aristoteles. 263 Vgl. aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 271 f. 260

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lage, die Veränderbarkeit sowie die Bewegung und immerwährende Erneuerung zu nutzen, nicht vollzogen werden. Gott schuf die ersten schöpferischen Prinzipien und die Grundlagen und verankerte darin die möglichen Vervollkommnungsstufen und danach die Wesen, die sie durchlaufen können. Der Mensch ist für Ṣadrā die Schlüsselgestalt für die Vollendung des schöpferischen Prozesses, da er mit der Welt des reinen Intellekts verbunden ist. Aufgrund dieser Beziehung hat er einen Aspekt der Verewigung inne, der durch die substantielle Bewegung immer wieder eine neue und höhere Form annimmt, bis er sich mit der höchsten Stufe des intellektuellen Daseins verbindet. Dies geschieht in einem ontologischen Akt »from perfection to imperfection and then from imperfection to perfection; from Being to its own particularization and then from particularization of Being back to Being«. 264 Ziel ist das höchste Sein als die reine Vollkommenheit, Ewigkeit und Reinheit. Vor diesem Hintergrund wird das Motiv der vier intellektuellen Reisen (al-asfār alʿ aqlīya al-arbaʿ a) der Seele im Hauptwerk Mullā Ṣadrās verständlich, und somit stellt die Seele einen zentralen ontologisch-anthropologischen Begriff in seiner Existenzphilosophie dar. Die ontologische Wende, von der Kamal spricht, ist eine Abkehr von der platonischen Ideenlehre, die, wie Kamal meint, die platonische Metaphysik auf Wesenheit reduziert. 265 Daher stellt Kamal eine Ähnlichkeit der Gedanken von Heidegger und Ṣadrā fest. Diese ontologische Wende bedeutet eine Wende vom Wesen zum Sein, wobei die Seele als ein Modus der Existenz dargestellt wird. 266 Gott hat, wie Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī formuliert »die Seele des Menschen als Sinnbild [miṯāl, Ebenbild, Bildnis] seiner Essenz, Attribute und Handlungen erschaffen, denn er [Gott], erhaben sei er, ist frei von Ähnlichkeit [miṯl, im koranischen Sinne: »Es gibt nichts, das ihm gleicht«, Koran 42/11], nicht aber vom Sinnbild [miṯāl]. So schuf er die menschliche Seele als Sinnbild seiner Essenz, Attribute und Handlungen, damit ihre Erkenntnis als Leiter zu seiner Erkenntnis dient. So machte er ihre Essenz frei von materiellen Existenzen, Räumlichkeiten und Richtungen. Er stattete sie mit Fähigkeit, Wissen, Willen, Leben, Hör- und Sehvermögen aus und machte ihrer Essenz ein Weltreich ähnlich wie das göttliche Reich, er erschafft, wie er will, und bestimmt frei, was er sich vornimmt, aber sie [Seele] ist, obwohl sie von 264 265 266

Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 74. Ebd., S. 42 f. Ebd., S. 58.

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Der Mensch – ein Wesen aus Licht oder eine Lichtgestalt?

dem Ursprung her vom Himmelreich, von der Welt der Macht und der Quelle der Majestät und Stärke ist, hinsichtlich ihres Seins schwach und haltlos.« 267

VIII. Der Mensch – ein Wesen aus Licht oder eine Lichtgestalt? Die evolutionäre Entstehungslehre der menschlichen Seele bei Nasafī Die ontologische Darstellung des menschlichen Wesens in der Existenzphilosophie von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī und ihre Verbindung mit dem Zweck der existentiellen Selbstentfaltung des Seins überhaupt zeigen, daß die Idee der Vollkommenheit des Menschen in ihrem metaphysischen Sinne nicht allein diskursiv und rational begründet werden kann. Denn sie setzt immer ein übergeordnetes Prinzip voraus, das die Vollkommenheit in der Welt möglich und sogar notwendig macht. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn die islamischen Philosophen nicht auf die mystischen und asketischen Begründungen verzichten wollen. So sehen wir oft, daß in den metaphysischen Begründungen Begriffe wie Gott, Wahrheit, Vollkommenheit, Intellekt und Licht gleichgesetzt werden. Die Philosophie von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī und auch von vielen seiner Vorgänger muß man daher im Lichte der intuitionistischen Begründungen der mystischen Lehre der Vollkommenheit betrachten. Sie hat in der islamisch-orientalischen Tradition tiefe Wurzeln, womit unlösbar eine Anthropologie der Perfektion verbunden ist. 268 Es gibt eine unzertrennliche Beziehung zwischen dem Kosmos und der Seele des Menschen, eine Mikro-Makro-Anthropologie. Die mystische Tradition bemühte sich sehr, das Verhältnis von einer kosmischen Vorstellung des vollkommenen Lichtes mit der Idee des Licht-Menschen (pers. saḫṣ-i nūrānī), was mit dem griechischen Ausdruck photeînos ánthrôpos vergleichbar ist, nicht aus den Augen zu verlieren. 269 Hier sollen die Ansichten eines führenden Mystikers, ʿAzīz ad-Dīn Nasafī, vorgestellt werden, um zu verdeutlichen, wie stark die Lehre der Vollkommenheit in der Mystik mit der der Philosophie korrespondiert. 270

267 268 269 270

Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 265. Corbin, Die smaragdene Vision, S. 33 f. Ebd., S. 34. Über ähnliche Versuche vgl. Rizvi, Mysticism and Philosophy, S. 226–246.

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Ähnliche Gedanken wie bei Ṣadrā können wir bei ʿAzīz ad-Dīn Nasafī beobachten, bei dem man einen eindeutigen Rückgriff auf die vorislamische iranische Lichtmetaphysik feststellen kann. 271 Nasafī ist stark sowohl von Ibn ʿArabīs Schule und dessen gnostischen Überlieferungsquellen als auch von den Ismailiten beeinflußt. Die Ähnlichkeit von Nasafīs Lehre der Perfektibilität des Menschen mit der von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī hat Henry Corbin zu der Überzeugung geführt, daß Nasafī bei der Entwicklung der Idee des existentiellen Evolutionsprozesses von Ṣadrā eine wichtige Rolle gespielt hat. 272 Seine Vorstellungen können wie folgt skizziert werden: Im Menschen befinden sich alle Stadien des Lebens, und Nasafī geht davon aus, daß das Menschsein ein Stadium des Himmlischen ist. Die Menschheit hat jedoch seiner Ansicht nach nur einen rūḥ, ob vollkommen oder unvollkommen, der je nach Stufe unterschiedlich bezeichnet wird. 273 Nasafī zeigt eine ähnliche Ausführung über die Seele wie Ṣadrā, wobei Nasafī seine Gedanken in mystischen Lehrsätzen formuliert. Vor allem taucht das gleiche Prozeßdenken bei Nasafī auf, wie man es auch später in den systematisch-philosophischen Abhandlungen von Ṣadrā beobachten kann. Auch Nasafī ist der Meinung, daß die Seele, wofür er auch den Begriff rūḥ verwendet, 274 eine Substanz ist: »(20) Wisse, daß die vegetative Seele eine Substanz ist. Sie ist naturgemäß der Vollender und Beweger des Körpers. Die animalische Seele ist eine Substanz und willentlicher Vollender und Beweger des Körpers. Die menschliche Seele ist eine einfache Substanz und willentlicher und geistiger Vollender und Beweger des Körpers. Wenn du diesen Satz nicht verstehst, sage ich ihn dir mit anderen Worten. Wisse, daß die animalische Seele die Partikularen wahrnimmt, und die menschliche Seele nimmt das Partikulare und das Kollektive wahr. Die animalische Seele erfaßt den Vorteil und den Nachteil. Die menschliche Seele erfaßt den Vorteil und den Nachteil und das noch Vorteilhaftere und Nachteilhaftere.« 275

Ebenso verhält es sich mit dem Körper (ǧism). Beide (Körper und Seele) befinden sich in einem Prozeß und stellen darin die zwei Seiten der vier Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) dar: die Form (ṣūrat, die Außenseite) und die Substanz, wofür Nasafī den Begriff maʿ nā verwendet. 271 272 273 274 275

Wie es gelegentlich auch bei Suhrawardī, Ibn Sīnā und Ibn Miskawaih auffällt. Siehe Corbin, History, S. 299. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 96. Er verwendet den Begriff nafs in der Bedeutung von Triebseele. Ebd., S. 92.

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Nasafī nennt diese Substanz auch die Natur (ṭabīʿ at) der Dinge, wie wir es auch bei Ṣadrā gesehen haben. Die Form und die Substanz setzt er ebenso mit den Begriffen Finsternis und Licht gleich, die bei Ṣadrā nicht in dieser Form vorkommen. 276 Durch die Vermischung dieser vier Elemente entsteht eine dritte Dimension der Dinge, die er Temperament (mizāǧ) nennt, welches sich sowohl im Körper wie auch im Geist befindet. So besteht jedes Ding in der Welt aus genau einem Körper und genau einem Geist und steht als Einheit für die Form und die Natur der vier Elemente. Die unterschiedlichen Bezeichnungen der geistigen und körperlichen Welten stellen nur ein Stadium bzw. eine Stufe der jeweiligen Existenzformen dar. Der Mensch als solcher ist für Nasafī jedoch eine Gattung aus dem Reich des Tieres (ḥayawān), und der Geist des Menschen hat unterschiedliche Aspekte und Namen in seinen jeweiligen Erscheinungsstadien. »Er bekommt einen neuen Namen, je weiser er wird«, sagt Nasafī. 277 Nasafī unterscheidet daher vier Arten des rūḥ; den vegetativen (nabātī), den animalischen (ḥayawānī), den personhaften (nafsānī) und den menschlichen (insānī), eine Aufteilung, die man auch bei Ṣadrā findet. Der letzte, d. h. der menschliche Geist, kommt aus der Welt der Engel, aus der himmlischen Welt, die er auch Licht nennt (auch Ṣadrā zufolge ist der menschliche Geist eine Substanz aus Licht). Die anderen drei Arten des Geistes sind dagegen aus der »unteren« Welt. Der Mensch besteht aus einer Substanz, die Nasafī auch »Keimzelle« (nuṭfa) nennt. Diese ist die erste Substanz des »Mikrokosmos« (ʿ ālam-i ṣaġīr, wörtl. kleine Welt). Die Keimzelle, die sich zunächst wie das Wasser in einer Rundform befindet, entwickelt sich durch die in ihr vorhandene Temperatur. Dann trennen sich die dichten bzw. die kondensierten von den durchlässigen bzw. feinen Teilen. Die kondensierten Teile bewegen sich zur Mitte und die feinen zur Oberfläche hin, woraus sich nach dem gleichen Rhythmus vier Stufen der Keimzellen entwickeln. Vom Zentrum bis zur Oberfläche entstehen der Reihe nach die vier Elemente (ʿ anāṣir) der Natur, also Erde, Wasser, Luft und Feuer und die ihnen entsprechenden vier Naturanlagen (ṭabāʿ iʿ ), also der dunkle Körpersaft (saudā, auch melancholisches Temperament), Schleim (balġam, auch phlegmatisches Temperament), Blut (ḫūn, auch sanguiBei Ṣadrā ist die Wesenheit Finsternis und die Existenz Licht. Es ist möglich, daß Nasafī ebenso mit der Form die Erscheinungen meint, nämlich die Modi der Existenz. 277 Ebd., S. 97. 276

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nisches Temperament) und Galle (ṣafrā, cholerisches Temperament). Aus diesen vier Elementen und Anlagen entstehen dann die drei Naturgattungen: die Mineralien, die Vegetativen und die Animalen. Aus den Mineralien entwickeln sich die inneren und äußeren Glieder der Menschen. Danach entstehen die verschiedenen Kräfte und Vermögen: Anziehung (ǧāḏiba, die anziehende Kraft), Kontinenz (māsika, die festhaltende Kraft), Verdauung (hāḍima, verdauende Kraft), Immunsystem (dāfiʿ a, abstoßende Kraft), Transformationskraft (muġayyira), Nahrung (ġāḏiya, nährende Kraft) und Wachstum (nāmiya, Wachstumskraft). Diese werden als »Engel« bezeichnet. 278 Sobald ein Kind, gemeint ist der Fötus, damit beginnt, Nährstoffe zu sich zu nehmen, bildet sich der vegetative Geist, der für das Wachstum zuständig ist. 279 Nach der Vollendung des vegetativen Geistes, dessen Essenz das Herz (dil) an sich zieht, tritt das Leben ein. Dies ist der Beginn der Entstehung des animalischen Geistes, und sein »Ort« ist das Herz. Die Essenz des animalischen Geistes wird vom Gehirn (dimāġ) an sich gezogen, und aus dessen Essenz entsteht der »personhafte Geist« (rūḥ-i nafsānī). Dieser verteilt von seiner Essenz über das Nervensystem alle Organe und Glieder, und so kommen die willentliche Bewegung und die Sinneswahrnehmung (die fünf inneren und die fünf äußeren Wahrnehmungsvermögen) zustande. Das ist Nasafī zufolge das Wesen des wahren »Lebens« (ḥayawān), 280 und danach folgt nichts mehr. Dies alles dauert Nasafī zufolge vier Monate, und so vollenden sich die Schöpfung der menschlichen Gestalt und das Leben mit dem »animalischen Geist« und damit auch mit dem »personhaften Geist«. Der menschliche Geist stammt also Nasafī zufolge nicht aus der irdischen Welt, sondern aus der Schöpferwelt, nämlich aus der »Welt 278 Ebd., S. 88. Die Engellehre der islamischen Mystik, die wir auch in der Existenzlehre der islamischen Philosophen als ein vergleichbares Beispiel finden können, geht, wie Corbin vermutet, auf die zoroastrische Engellehre des alten Persien zurück. Siehe Corbin, Die smaragdene Vision. 279 Dieser Geist ist die Essenz des Chymus, die das Kind durch Mesentéron/Mésentére/ Mesenterium (māsārīqā, gemeint ist wahrscheinlich die Nabelschnur) an sich zieht. Im Text steht der Begriff Kīmūs. Es ist aber möglich, daß es sich um Xulós (lat. Chylus) handelt, was inhaltlich nichts ändert. Das ist in der medizinischen Sprache ein milchigtrüber Inhalt der Darmlymphgefäße. Kīmūs ist in der Leber vorhanden. Als Kīmūs wird die im Magen vorhandene Essenz des Essens bzw. der noch nicht zu Ende verdaute Speisebrei bezeichnet, der noch nicht ins Blut aufgenommen wurde. 280 Nasafī verwendet den Begriff ḥayawān im Sinne des Korans und versteht ihn als wahres »Leben«. Siehe Koran 29/64.

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des Befehls« (ʿ ālam-i amr), und er ist ein engelhaftes Wesen. So muß er, anders als drei oder vier andere Geistesarten, außerhalb des Körpers existieren. Dies würde der Vorstellung Ṣadrās widersprechen. Dafür, wie man sich die Existenz des menschlichen Geistes im diesseitigen Leben vorstellen soll, gibt Nasafī keine eindeutigen Hinweise. Dieser Geist wurde einmal aus der Welt des Himmlischen und der Engel zur Vervollkommnung des Menschen auf die irdische Welt herabgesandt, und ein anderes Mal ist er die höchste Entwicklungsform der menschlichen Substanz bzw. rūḥ-i ḥayawānī im Sinne Nasafīs, der aufsteigt und wissend, hörend und sehend wird. Für Nasafī ist es gleichgültig, ob man ihn »Nährstoff« (ġiḏā, wörtl. Essen) oder »das dem Nährstoff innewohnende Licht« nennt. Für Nasafī spielt es keine Rolle, wie man diesen Prozeß darstellt, denn letztlich sind die untere und die obere Welt zwei Aspekte einer Essenz. Die Seele begibt sich damit in Zustände und Stufen als eine Art Wanderung durch die Welt, die die Möglichkeit besitzen, sich zu vervollkommnen. Letztlich ist dies eine Eigenschaft der Existenz, die in einem Ab- und Aufstiegsprozeß bzw. in einem stufenartigen Vervollkommnungsprozeß erscheint: »(12) Wisse, […], daß der Mensch mit anderen Tieren Gemeinsamkeiten hat und zwar bezüglich dieser drei Arten der Seele [rūḥ], die genannt wurden: die vegetative, die animalische und die personhafte Seele. Dadurch, daß der Mensch durch die menschliche Seele ausgezeichnet ist, wurde er über andere erhoben. Die menschliche Seele ist nicht von dieser Sorte der drei Seelen. Denn die menschliche Seele stammt aus der himmlischen Welt und die vegetative, die animalische und die personenhafte Seele stammen aus der unteren Welt. Man ist sich nicht darüber einig, ob sich die menschliche Seele im Körper befindet oder nicht. Die Religionsgelehrten sagen, daß sie im Körper sei wie das Fett in der Milch. Die Philosophen sagen, daß sie nicht im Körper und auch nicht außerhalb des Körpers sei. Denn die Vernunftseele befindet sich an keinem Ort und braucht auch keinen Ort. Da sie keinen Ort hat, so kann man nicht sagen, ob sie im Körper oder außerhalb des Körpers sei. Außerdem sind Innen und Außen Eigenschaften des Körpers, und die Vernunftseele ist nicht Körper und ist nicht körperhaft. Aber alle sind sich einig, daß die vegetative, die animalische und die personenhafte Seele im Körper und die Essenz der Nahrung sind. Die Nahrung stieg durch ihre [die] Aufzucht und Entwicklung und erschien in Stufen und wurde wissend, hörend und sehend.« »(13) Oh Derwisch! Wenn man sagt, daß es die Nahrung ist, die steigt und sich in Stufen aufteilt und wissend, sehend und hörend wurde,

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ist das richtig. Wenn man sagt, daß es das Licht ist, das in der Nahrung ist, daß das Licht steigt und sich in die Stufen aufteilt und wissend, sehend und hörend wird, ist das richtig.« 281

Man kann aus Nasafīs Existenzlehre allerdings die Vorstellung ableiten, daß Geist und Körper sich zwar auf drei Welten beziehen, sie aber zugleich einer und derselben Substanz entspringen. Diese drei Welten sind, wie erwähnt, die Welt der ǧabarūt (Welt der Allmacht Gottes), der malakūt (himmlische Welt) und der mulk (irdische Welt). Die erste hat im Gegensatz zu den beiden anderen keinen Bestand in der äußerlichen Existenz und ist aus sich selbst Seiende. Sie ist die Essenz (ḏāt) der beiden anderen Welt, nämlich des Intelligiblen und des Sensitiven, und diese sind das »Gesicht« (waǧh) des ersten, die ihre Ursachen nicht in sich selbst haben. Doch diese drei Welten sind miteinander und ineinander verwoben und existieren somit nicht getrennt. Nasafī vergleicht sie mit einem Baum: ǧabarūt ist die Wurzel, malakūt und mulk der Stamm, und die Welt der Mineralien, Vegetativen und Animalen sind seine Früchte. Nach diesem Muster geht er auch in bezug auf die menschliche Gestalt vor und überträgt den Makrokosmos auf den Mikrokosmos: Die Keimzelle sei die Erscheinung der ǧabarūt, Geist und Körper seien jeweils malakūt und mulk. Damit ergibt sich die Vorstellung, daß der Mensch seinem Wesen sowie seinen inneren und äußeren Erscheinungen nach der kosmischen Erscheinung des Wahren ähnlich ist. 282 Die Welt überhaupt besteht nach dieser Vorstellung quasi aus ḏāt und waǧh. Diese Vorstellung bewahrt zugleich eine monistische Betrachtungsweise. Denn zwei Substanzen sind durch die Erscheinung bzw. Widerspiegelung der ǧabarūt entstanden: das Licht (nūr) und die Finsternis (ẓulma). Diese beiden Substanzen sind allerdings miteinander vermengt wie das Fett in der Milch, und jede von ihnen ist der Schutz der anderen: »Oh Derwisch! Die Welt besteht aus zwei Dingen, aus Licht und aus Finsternis, d. h. es gibt das Meer des Lichts und das Meer der Finsternis. Diese beiden Meere sind ineinander vermengt. Man soll das Licht von der Finsternis trennen, damit die Attribute des Lichts sichtbar werden.« 283 281 282 283

Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 90. Vgl. Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 23. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 91.

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Wie diese Trennung aussehen soll, ist eine andere Frage. Nasafī widerspricht sich, wenn er an einer anderen Stelle meint, daß man das Licht von der Finsternis nicht völlig trennen kann: »Die beiden sind miteinander und waren miteinander und werden miteinander bleiben.« 284

Jede der oben genannten Substanzen, Licht und Finsternis, die er ebenso »erster Intellekt« (ʿ aql-i awwal) und »erster Himmelskörper« (falak-i awwal) nennt, wird von Nasafī »erste Substanz« genannt. Das Licht bzw. der »erste Intellekt« ist die Substanz der malakūt, und die Finsternis und der »erste Himmelskörper« sind die Substanz der mulk. An einer anderen Stelle meint er allerdings, die Welt sei aus einer einzigen Substanz geschaffen: »Als Gott, erhaben sei er, beabsichtigte, die Welt [ʿ ālam], die Substanzen und Akzidenzien beinhaltet, zu erschaffen, schuf er zunächst eine Substanz, und diese nennt man die erste Substanz. Als der erhabene Gott beabsichtigte, die Welten der Seelen [arwāḥ] und der Körper [aǧsām] zu erschaffen, fing er an, jene erste Substanz zu erblicken. Jene erste Substanz begann zunächst zu schmelzen und zu kochen. Das, was Auslese und Essenz jener Substanz war, stieg an die Oberfläche wie die Zuckeressenz, und das, was Bodensatz und dunkler Rest jener Substanz war, setzte sich am Boden ab wie Melasse. Gott schuf von dieser lichtgestaltigen Essenz [zubda-i nūrānī] die Stufen der Welten der Seelen und vom Rest der Dunkelheit die Stufen der Welten der Körper. Oh Derwisch! Diese lichtgestaltige Essenz ist Adam, und der dunkle Rest ist Eva.« 285

Diesem Zitat zufolge handelt es sich um eine einzige Substanz, nämlich um die erste. Nach anderen Erklärungen ist jedoch von zwei Substanzen die Rede. Es ist daher nicht klar, ob es sich bei Nasafīs Theorie um eine dualistische Existenzlehre nach der Art der altiranischen Ontologie handelt oder um eine monistische Ontologie nach der Vorstellung von Ibn ʿArabī. Es scheint, daß er beabsichtigte, beide Vorstellungen zu verknüpfen. Denn einerseits beharrt er auf der Einheit, und andererseits greift er auf die altiranische dualistische Kosmologie zurück, was er auf der Basis der neuplatonischen Emanationslehre die Vielfalt nennt und mit der Einheit zu erklären versucht. Allerdings stellen solche Erklärungen ein ontologisches Problem dar, in dem die Vielfalt immer im

284 285

Ebd. Ebd., S. 113.

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theozentrischen Geist dargelegt wird. Die psychologischen Aspekte dieser Vorstellung sind jedoch nicht zu übersehen. Die mystische Einheitsvorstellung in Verbindung mit einer iranischen Lichtmetaphysik bot in einer Zeit der Unruhe und Fremdherrschaft der Mongolen, in der sich Nasafī befand, sicher eine geistige Basis, die Weltverachtung einerseits und die geistige Einheit andererseits in der iranischen Bevölkerung zu wecken. Daß die Erscheinung der Welt das Ergebnis zweier Substanzen ist, wird von den islamischen Denkern nicht bestritten. Ob diese zwei Substanzen schon von Beginn an aus einer oder aus zwei Substanzen entstanden, bedarf jedoch einer zusätzlichen Interpretation. Wenn die Finsternis von Nasafī als Nische und Deckung des Lichts betrachtet wird und immer das Licht begleitet, so sollte man entweder von einem »Ding« in zwei Ausdrucksformen, Sinn/Wesenskern (maʿ nā) und Gestalt (ṣūra), sprechen oder es handelt sich um zwei Existenzformen, die aber als eine einzige erscheinen. Es läßt sich allerdings bei einer solchen ontologischen Weltdarstellung nicht vermeiden, daß viele ungeklärte Fragen bleiben, die nicht frei von Widersprüchen beantwortet werden können. Wie ist es zum Beispiel möglich, einem Wesen zwei oder mehrere Eigenschaften zuzuschreiben, wenn man es zugleich für »einfach« (also nicht zusammengesetzt), »unteilbar« und »ort- und zeitlos« hält? Und wenn man doch wie die Theologen von der Existenz eines Gottes bzw. eines grenzenlosen, zeitlosen und einfachen Seins vor allen Dingen spricht, wie kann man eine Welt der Vielfalt und des Vergänglichen und vor allem etwas, was anders ist als das Eine selbst, erklären? Wenn man von einem einzigen Wesen ausgeht, so muß das Phänomen »Nichtsein« in der Welt der absoluten Existenz einerseits und der Schöpfungsprozeß andererseits in einem indirekten Vorgang geklärt werden. Wenn man Nasafīs Darstellung Glauben schenken möchte, bleibt nur eine Möglichkeit, die dualistische »Licht-Finsternis-Lehre« zu interpretieren oder sie gar zu überwinden: Die Verdoppelung oder Vervielfachung der Existenzformen sind eine Möglichkeit des einen Wesens. 286 Dieses Wesen kann im Körper und Geist vielfältig erscheinen bzw. sich umwandeln, so wie es auch in der Lage ist, wieder zu einer Einheit zu werden. 287 Die ontologische Problematik einer solchen Lehre 286 287

Vgl. Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 23. Ebd., S. 31 f.

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soll uns hier nicht interessieren. Entscheidend ist, ob und wie man mit den Problemen des Dualitätsdenkens die Idee der Perfektibilität verbinden kann. Da das Licht und die Finsternis zwei Aspekte des Einen und in allen Stadien der Schöpfung vorhanden sind, so versucht man die beiden Ausgangspunkte eines Prozesses zu begreifen. Die Idee der Perfektibilität würde dann beinhalten, den Ursprung zu erlangen, der für die Ewigkeit, Unveränderbarkeit und Vollkommenheit steht. Doch ohne die Vergänglichkeit, Veränderbarkeit und Unvollkommenheit würde die Perfektion bedeutungslos bzw. unerkennbar. Damit stellt man den Schöpfungsprozeß ontologisch zwischen das Sein und das Werden. Der Ursprung alles Seienden wird letztlich das Endstadium der Vollendung sein, in dem alles Potentielle in die Aktualität gesetzt werden soll. Da der Mensch in Nasafīs Vorstellung eine Ausdrucksform der ersten Substanz ist und damit die erschienenen Attribute und die Namen Gottes in sich trägt, wird der Mensch als ein Wesen betrachtet, das von Natur aus auf Perfektionierung hin angelegt ist. 288 Demnach geht die Perfektionierung auf die Erscheinungsweise der Existenzstufen zurück, die der ersten Substanz entspringen. Die Vergänglichkeit bzw. die Veränderlichkeit des Menschen ist für Nasafī somit Ausdruck der immerwährenden Neuschöpfung, von der im Koran die Rede ist. 289 Der Mensch bekommt den Auftrag, durch seine Fähigkeiten und Möglichkeiten diesen Prozeß zu seiner höchsten Stufe zu führen, worauf wir in den folgenden Kapiteln ausführlich eingehen werden. Der Mensch hat sozusagen den »Zustand des Sich-Wandelns« inne und ist, um es in der Sprache Nasafīs und auch Ṣadrās zu formulieren, zum Wandel vom Zustand des iǧmāl zum tafṣīl und umgekehrt fähig, was wir als ein Wandeln des »Unthematischen« zum »Thematischen« verstehen. Denn die Welt, wie sie uns erscheint, ist in ihrer Form vielfältig und zeigt zugleich ein Bild von der Einheit des Lebens. Hierfür müssen sich die Philosophen eine neue Definition von Bewegung und Zeit suchen, die dieser Wandelbarkeit des Lebens entspricht und diese mit der Kontinuität und Dauerhaftigkeit in Einklang bringt, welche Ṣadr adDīn aš-Šīrāzī wahrscheinlich dazu veranlaßt hat, seine Lehre der »Vielschichtigkeit des Seins« (taškīk) zu entfalten und die Welt nach der substantiellen Bewegung zu erklären. 290 An solchen mystischen und 288 289 290

Ebd., S. 33 ff. Siehe Koran, 50/15. Siehe auch Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 34 f. Siehe Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 68 ff.

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philosophischen Erklärungen zeigt sich, daß in der islamischen Philosophie der Versuch unternommen wurde, das Sein und den Menschen nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Demnach ist der Mensch in seinem ganzen Dasein dem Prinzip der existentiellen Vollentfaltung unterworfen und hat die Aufgabe, gemäß seinem seelischen Vermögen, einen möglichst vollkommenen Lebenswandel nicht nur religiös zu erreichen, sondern darüber hinaus seine Endlichkeit und Unvollkommenheit zu überwinden und dem Göttlichen näher zu kommen, worauf wir im zweiten und dritten Kapitel näher eingehen wollen.

IX. Zusammenfassung Die Vergänglichkeit des Menschen und seine Unvollkommenheit scheinen Gründe dafür zu liefern, daß die meisten traditionellen islamischen Denker neben der dem Menschen sichtbaren und erscheinenden Welt eine andere, anfangslose, ewige und übernatürliche Welt konstruieren. Sie entziehen dadurch der sogenannten materiellen Welt jegliche Lebensdynamik, Souveränität, Beständigkeit und Unabhängigkeit. Diese Welt wird als eine äußere Hülle begriffen und wird zu einer Welt der Erscheinungen, quasi zu einer »Scheinwelt« – das heißt, dass das Leben in ihr für sich keinen Wert tragen kann, sondern nur in auf die andere Welt gerichteten Zielen und Absichten. Ein selbst organisierter Lebenszyklus, der seinen »Sinn«, seine »Ästhetik« und seine »Göttlichkeit« in einer immerwährend immanenten schöpferischen Bewegung und Selbsttätigkeit behaupten und darin seinen Sinn finden könnte, hat keinen Platz in einer subjektiven Lebensvorstellung und Betrachtung der Welt insgesamt. Das Leben bekommt nur einen Sinn, indem es seinen diesseitigen Sinn verliert. In der vorstehend rekonstruierten ontologischen Weltdeutung steht der Mensch in dreifacher Beziehung zu einer übernatürlichen Welt, zu Gott oder wie man es sonst nennen mag: einmal über das Leben (er ist ein Teil des Kosmos bzw. des Existierenden), einmal als Ort des Empfangens bzw. der Entstehung des göttlichen Geistes bzw. des Lichts, und einmal über das Jenseits. Wir können noch einen weiteren Grund für diese Bindung aufzählen: Der Mensch ist der Auserwählte. Damit erreichen wir eine metaphysische Natur- und Seinslehre des Menschen, die den Menschen als ein metaphysisches Wesen als Einheit und Ganzheit begreift. Gott schuf zwar den Menschen wie 150 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Zusammenfassung

die anderen Dinge auch, machte ihn aber zum Zweck der Schöpfung und zu seinem Ebenbild. Der Mensch als Ebenbild Gottes ist eine Metapher, die die Bedeutung der Schöpfung des Menschen unmittelbar mit der göttlichen Idee des Menschen verbindet. Die Bedeutung dieser Ebenbildlichkeit für die Sonderstellung des Menschen ist eindeutig. Wir können daraus jedoch nicht unmittelbar die Dynamik der schöpferischen Selbstdarstellung des Menschen ableiten, auch wenn sich eine solche Möglichkeit nicht ausschließt. Die Frage, ob der Mensch von seiner Natur aus auf eine Vervollkommnung hin angelegt ist, haben wir in diesem Kapitel versucht aus ontologischer Perspektive zu beantworten. Obwohl sie durch koranische Aussagen nicht beantwortet werden konnte, konnte sie mit Hilfe der Überlieferungen und durch philosophische und mystische Auslegungen begründet werden. Die Stellung des Menschen als Geschöpf Gottes wurde durch eine Philosophie der existentiellen Vollentfaltung in die Gesamtschau des Lebensprozesses einbezogen. Wie wir bei Ṣadrā und Nasafī beobachtet haben, ist das menschliche Wesen aber, anders als sein Schöpfer, einer dauernden Wandlungsmöglichkeit und Entwicklungsfähigkeit unterzogen. Diese Prozesse begleiten es in seiner geistigen wie ethischen Lebensgestaltung hin zu einem spirituellen und vollkommenen Gestaltungswesen. Diese Betrachtungsweise ist vor allem in der ontologischen Lehre Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs erkennbar. Das Wesen des Menschen hat einen transzendentalen Bezug, den es seiner Vervollkommnungsmöglichkeit verdankt. Ṣadrā geht es darum, daß der Mensch sich in einem Prozeß der Vollverwirklichung des Seins befindet. Seine Existenzphilosophie bewegt sich in zwei geistigen Sphären, in der die Existenz, in welcher Form sie sich auch immer befindet, einerseits eine Realität zur Außenwelt hat und dabei mit dem Prinzip der Wandelbarkeit zur Perfektibilität konform geht. Andererseits behält die Existenz, die bei Ṣadrā »Sein« heißt, ihre Transzendentalität bei. Tatsächlich wird hier von einer Realität gesprochen, die Gegenstand des menschlichen Seinsbewußtseins ist, was ein Bewußtsein von der Bedeutung des Seins impliziert. 291 Ṣadrās transzendentale Philosophie ist damit eine Prozeßphilosophie, die rein metaphysische Ziele anstrebt. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß die Welt und der Mensch in ihrer Vergänglichkeit und Unbeständigkeit überwunden werden müssen. Dies kann durch die Per291

Siehe dazu die Ausführungen von Açikgenç, Being and Existence, S. 89 f.

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fektionierung erreicht werden, auf die die Seele hin angelegt ist. Daher wird in der Philosophie Ṣadrās und in allen ihm nahe stehenden Denkrichtungen die Natur des Menschen auf eine Vervollkommnung hin interpretiert, die sich im Kontext des Seins analog entfaltet. Den Keim dieser auf Vollkommenheit ausgerichteten Selbstentfaltung hat Ṣadrās Philosophie in den Entwurf der substantiellen Bewegung eingebunden, einen Ansatz, den wir ebenso in Nasafīs Lehre beobachten können. Das Sein ist das höchste Ziel, das aus eigener kreativer Dynamik heraus die Möglichkeit zur existentiellen Vervollkommnung des Menschen vorbestimmt, und das Sein in seiner höchsten Stufe ist die reine Vollkommenheit, Ewigkeit und Reinheit. Wie erwähnt, versucht Ṣadrās transzendentale Philosophie die mystische Lehre mit der peripatetischen Schule zu verbinden, wenn er sich einerseits der Argumentationen seiner von Aristoteles beeinflußten Vorgänger al-Fārābī, Ibn Sīnā und Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī bedient und andererseits den Lebensprozeß als die Vielschichtigkeit und Manifestation des Einen und Selben sieht. Dieser Prozeß läßt sich in einem geistigen und spirituellen Ab- und Aufstieg durchwandern, so wie es Nasafī und die meisten mystischen Denker auffassen. Diese Philosophie geht auf die Vorstellung zurück, daß das Sein eine reale Extension hat und sich den unterschiedlichen Formen des Existenzwerdens anpassen kann. Auch die illuministische Philosophie zielt darauf ab, den Menschen als das Wesen einzustufen, das die Anlage hat, sich intellekthaft zu perfektionieren. Wir wollen hier nicht näher auf die Problematik solcher ontologischen Vorstellungen eingehen. Es genügt zu fragen, wie und wo die Grenze des Lichts im menschlichen Wesen ist und wo und wie man in ein- und demselben Ding Vollkommenheit und Mangel voneinander trennen soll, können wir uns doch kaum etwas vorstellen, das außerhalb von Raum und Zeit liegt. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß aus der Dualität heraus neue existentielle Weichen gestellt werden, die für den menschlichen Lebensprozeß von Bedeutung sind. Denn der Mensch befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Licht und Finsternis, ein Zustand, der seine Rolle für seine Existenzbestimmung unverzichtbar macht. Wir haben bisher die Frage nach dem Wesen des Menschen im Zusammenhang mit dem Entstehungsprozeß der Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandelt. Anhand der Lichtmetaphysik Suhrawardīs und der Prozeßphilosophie Nasafīs und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs haben wir gezeigt, daß der Mensch ontologisch im Schöpfungprozeß in 152 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Zusammenfassung

einer Weise eingebunden ist, in der der Ab- und Aufstieg einen dynamischen und evolutionären Charakter und zugleich ein metaphysisches Ziel hat. Wir werden mit diesen Erwägungen auf andere Aspekte der menschlichen Möglichkeiten der Lebensgestaltung eingehen, in der der Mensch auf der Basis seines geistigen Lebens und des ontologischen Prinzips agiert. Denn die Frage ist nun, ob der Mensch die Vollkommenheit gewollt hat und bewußt anstrebt oder ob sie eine prädestinierte Bestimmung der Existenz ist, der man nicht entrinnen kann.

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Kapitel II Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

I.

Der Wesenszustand des Menschen

In der islamischen Philosophie ist eine Anthropologie außerhalb des Rahmens einer ontologischen Fragestellung kaum vorstellbar. Um das Wesen des Menschen zu ergründen, war man daher methodisch und inhaltlich auf die ontologische Reflexion angewiesen. Im ersten Kapitel wurde aufgezeigt, daß das Wesen des Menschen aufgrund seiner Seele einen besonderen Zugang zum transzendentalen Intellekt und zum perfekten Seinszustand hat. Damit wurde ihm die existentielle Möglichkeit zur Selbstperfektibilität aus der Welt des Perfekten mitgegeben. Ferner war davon die Rede, daß der Mensch als natur- und intellekthaftes Wesen eine doppelte Bindung an die sogenannte »metaphysische Welt« hat. Das wurde damit begründet, daß das Sein nach der Existenzphilosophie in der islamischen Tradition die gesamte existierende Schöpfungswelt umfaßt. Es geht hier also nicht allein um die Natur des Menschen und den Zustand, in dem er sich physisch und psychisch befindet, sondern um eine onto-kosmische Betrachtungsweise, bei der es um das Ganze bzw. um eine transzendentale Identität geht, in der die Selbsterfahrung bzw. Selbsterkenntnis von der Seinserfahrung bzw. Seinserkenntnis nicht zu trennen ist. Die Frage ist nun: Wenn der Perfektionstrieb in der Existenz des Menschen und sogar in der gesamten Existenz von der Schöpfung aus angelegt wurde, in welcher Form kann dann von einer bewußten Selbstgestaltung des Menschen die Rede sein? In diesem Sinne ist zu fragen, wie der Mensch seine fundamentalen Eigenschaften, Handlungen, Ziele, Werteorientierungen und Erwartungen an sich selbst im Islam definiert. Kurzum: Wie bestimmt er seine Identität und Personalität unter dem Aspekt der bewußten Selbstperfektionierung, die er sich als geschaffenes Wesen zum Ziel gesetzt hat? Daher ist es sinnvoll zu fragen, in welcher Weise und Beziehung er sich in der Welt und zu ihr begreift. 154 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt

In diesem Kapitel wollen wir uns mit dem Menschen als geschaffenem Wesen, seinem existentiellen Zustand in der Naturwelt und deren Bedeutung für seine Entwicklung beschäftigen. Dazu gehört das sogenannte »Leib-Seele-Problem«, das wir bereits im letzten Kapitel thematisiert haben. Damit ist die Frage nach der Erkenntnis und Vernunft des Menschen verbunden. Auf Grundlage der Existenzlehre ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs wollen wir sehen, wie der Mensch seine Person in der geschaffenen Welt erfährt, wenn er zugleich als Teil des Seins immer in bezug auf das absolute Sein begriffen werden kann und damit in der Welt der göttlichen Manifestation verankert bleibt. Um diese Fragen zu beantworten und damit im nächsten Schritt die Grundlagen und Möglichkeiten zum freien Denken und zur freien Erkenntnis überprüfen zu können, ist es sinnvoll, zunächst kurz das religiöse Selbstbild des Menschen zu untersuchen. Davon ausgehend werfen wir einen Blick auf seinen Wesenszustand: Wir fragen zum einen nach dem seelischen Urzustand des Menschen und nach seiner Beziehung als geschaffenem Wesen zur diesseitigen Welt und zum anderen nach dem Sinn und Zweck seiner natur- und geistesbezogenen Lebensverbundenheit.

II.

Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt und befindet sich in einem unabgeschlossenen moralischen Urzustand

Wie wir im letzten Kapitel erläutert haben – und darin sind sich die führenden islamischen Theologen einig 1 –, bleibt der Mensch in seiner physischen Gestalt und in seinen natürlichen Fähigkeiten unveränderbar. Gemeint ist damit, daß die Schöpfung des Menschen in der Art und Ausführlich geht Saʿ d ad-Dīn at-Taftāzānī (gest. 1390) auf die physische und geistige Entwicklung des menschlichen und nichtmenschlichen Vermögens sowie auf die unterschiedlichen Lebensstufen und Naturanlagen in seinem bekannten theologischen Buch »Šarḥ al-maqāṣid« ein. Er läßt sich allerdings kaum darauf ein, die Entwicklungsstufen des Menschen in bezug auf den Einfluß seiner Umwelt zur Debatte zu stellen. Im Mittelpunkt steht, wie wir es von vielen anderen Theologen kennen, die geistige Verbindung des Menschen zu seinem Schöpfer und Lenker. Siehe at-Taftāzānī, Saʿ d ad-Dīn: Šarḥ almaqāṣid. Kommentiert, eingel. und hrsg. v. ʿAbd ar-Raḥmān ʿ Umaira (1989). Bd. 3. Kairo, S. 228–373; siehe dazu ebenso: Ibn ʿAbd Rabbihi al-Andalusī, Aḥmad Ibn Muḥammad: al-ʿ Iqd al-farīd. Bd. 6. Eingel. u. hrsg. v. ʿAlī Šīrī (1420/1999). Beirut, S. 233–304. 1

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Weise, wie er sich befindet, abgeschlossen ist. Der Mensch wurde mit dem Einhauchen des göttlichen Geistes ein neues bzw. ein anderes Geschöpf, als er zuvor war, ein »neuer Mensch« mit göttlichem Geist und seelischen und geistigen Fähigkeiten, dem nichts mehr hinzuzufügen ist. So können wir mit Gewißheit behaupten, daß es in der Offenbarung keinen Hinweis auf eine physische Optimierung und Vervollkommnung gibt, solange der Mensch sich im irdischen Naturzustand befindet. Unter diesem Aspekt ist hier zu sagen, daß der Mensch ein »unüberwindbares Wesen« hat. Diese Unüberwindbarkeit betrifft jedoch sein Gattungswesen als Mensch, das in der philosophischen Sprache Ṣadrās māhīya (Wesenheit) genannt wird. 2 Der Mensch bleibt immer Mensch, so wie er als solcher erscheint. Wenn der Mensch in seinem Wesen als Mensch unveränderbar bleibt, wie erklärt man dann die Veränderungen, Entwicklungen, geistigen Entfaltungen und seine existentiellen Steigerungen und Verbesserungen, die in Nasafīs mystischer Lehre und in Ṣadrās Existenzphilosophie thematisiert werden? In der philosophischen Sprache heißt es nicht, daß der Mensch sich zu einem »Übermenschen« zu entwickeln oder sich körperlich zu steigern verpflichtet ist. Er muß aber alles daran setzen, seinen ursprünglichen Seinszustand wiederherzustellen, wie man der traditionellen Existenzphilosophie entnehmen kann. Diesen Zustand kann er dann erreichen, wenn er sich von allem Materiellen und von dessen Eigenschaften befreit hat. In diesem Sinne stellt sich die Welt für den Menschen als ein Ort dar, in dem er sich in einem Prozeß befindet, in dem seine Existenz, seine Person und seine Entwicklung eingebettet sind. Welche Rolle die materielle Welt für die Seele des Menschen und ihre Perfektibilität hat, ist verbunden mit der Frage: Was sind die wichtigsten Fundamente für die Sonderstellung des Menschen in der geschaffenen Welt, die seinem Wesen zugrunde liegen, um seinen perfekten Zustand wiederherzustellen? Hier sollen drei Begriffe hervorgehoben werden, die diese Fundamente für den Menschen darstellen: Vernunft, Erkenntnis und Wille. Wie bereits dargelegt, ist der Intellekt ein besonders auszeichnendes Merkmal des menschlichen Wesens. Hinzu kommt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Nicht zuletzt versteht man den Akt der Erkenntnis nicht als einen mechanischen, sondern als einen bewußten und gewollten Prozeß. Diese drei genannten Fundamente sind die be-

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Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. II, S. 1–8.

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Die menschliche Seele ist ein unbeschriebenes Blatt

sonderen Eigenschaften der menschlichen Seele, und ohne sie wäre der Mensch in der islamischen Wissenskultur nicht mehr als ein Tier. Wie wir aber im ersten Kapitel die Existenzphilosophie nach Ṣadrā geschildert haben, befindet sich die Seele in ihrem Anfangzustand in der geschaffenen Welt in einem potentiellen Zustand, der in der Lage ist, sich zu aktualisieren. Die Seele wurde daher in unterschiedlichen Existenzstufen dargestellt. Die Seele kommt in unterschiedlichen Wesen (Pflanzen, Tiere, Menschen) auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck – beim Menschen ist sie sogar qualitativ und quantitativ veränderbar, wie wir der Philosophie Ṣadrās entnommen haben. 3 Zwar ist der Geist der König im menschlichen Leib, aber dieser König hat keine widerstandsfreie herrschende Macht über den Menschen. Er muß sie erwerben, indem er in dieser materiellen Welt die Erkenntnis Gottes erlangt. Und das kann geschehen, wenn der Mensch sich über die materielle Welt erhoben hat. In diesem Sinne stellt sich die diesseitige Welt für den Menschen als unverzichtbar dar, wie dies auch von manchen Theologen wie alĠazālī ausdrücklich formuliert wurde. Der Mensch ist ihm zufolge in seinem Anfangszustand als geschaffenes Wesen unvollkommen und schlicht (pers. sādih, wörtl. einfach) erschaffen 4 und besitzt keinerlei Kenntnis. 5 Genauer gesagt, der Mensch wird als unvollkommenes Wesen in einer unvollkommenen Welt bezeichnet. Wie im Koran wird auch hier betont, daß alles andere angesichts Gottes unvollkommen und dem Untergang geweiht ist. 6 Obwohl der Mensch nach al-Ġazālī in seinem natürlichen Leben unbeholfen ist, hat er doch Veranlagung dazu, nach Vollkommenheit zu streben. 7 Für al-Ġazālī liegt der Schlüssel zur Vervollkommnung des Menschen darin, daß er in dieser sinnlichen Welt die Selbsterkenntnis erlangt, die der Schlüssel der Gotteserkenntnis ist, 8 denn die Möglichkeit der Perfektibilität hängt gerade von seiner Entwicklung in der diesseitigen Welt ab, in der die AbhänVgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VIII, S. 5. Al-Ġazālī, Kīmīyā-yi saʿ ādat, Bd. 1, S. 71. 5 »Die menschliche Substanz [ǧauhar al-insān] ist in ihrer »ursprünglichen Disposition« [fī aṣl al-fiṭra] leer (ḫālin) und schlicht (sāḏiǧ) geschaffen, ohne jegliche Kenntnis von den Welten des erhabenen Gottes.« al-Ġazālī, Abū Ḥāmid: al-Munqiḏ min aḍ-ḍalal. Hrsg. v. ʿAbd al-Ḥalīm Maḥmūd (1955). Kairo, S. 133. 6 Siehe Koran 28/88. 7 Al-Ġazālī, Abū Ḥāmid: Kīmīyā-yi saʿ ādat, S. 71. 8 Ebd., S. 71 f. 3 4

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

gigkeit der Seele vom Körper in seinem guten und schlechten Zustand zum Ausdruck gebracht wird. Von Gelehrten, die al-Ġazālī folgen, hört man noch deutlichere Aussagen über die unverzichtbare Bedeutung der Körperwelt für die Seele. 9 Denn die Perfektionierung des Menschen wurde in einem traditionellen Verständnis im Islam primär davon abhängig gemacht, daß der Mensch sich ethisch und moralisch der göttlichen Ordnung unterwirft. In der sadraischen Existenzphilosophie und auch in der Lehre des perfekten Menschen bei Nasafī werden aber die sittliche Handlung und die existentiellen Entwicklungen nicht voneinander getrennt betrachtet. Denn der Mensch verdankt die Perfektionierungsfähigkeit seiner Existenz, die er auch in der diesseitigen Welt innehat. Nach der Existenzphilosophie sind Wissen, Macht und Wille die wesentlichen Attribute des Seins, an denen auch die Seele des Menschen Anteil hat, die aber ihre vollkommene Aktualität im Menschen erst durch die existentielle Vollkommenheit des Menschen erreicht. Die Seele wird von Ṣadrā, Nasafī und vielen anderen islamischen Denkern als wahre Identität des Menschen bezeichnet. Es wurde bereits im ersten Kapitel deutlich gemacht, daß die menschliche Seele nach Ansicht vieler aristotelischer Neuplatoniker erst mit der Erschaffung des Körpers entstanden ist, was einen signifikanten Unterschied gegenüber jenen Ansichten bedeutet, die die Entstehung der Seele vor dem Körper betonen. Was ist tatsächlich die menschliche Seele? Ist sie die unveränderbare Substanz des Menschen? 10 Auf diese Fragen wurde bereits im letzten Kapitel eingegangen. Nun ist es vor allem wichtig, die Seele bezüglich ihres Zustands und ihrer Wirkungskraft in der diesseitigen Welt näher zu betrachten. Mahdī Narrāqī (gest. q1209/1800), der Vater von Aḥmad Narrāqī (gest. q1245/1843) – beide zählen zu den bedeutenden Ethikern und Sufigegnern in der Zeit der Qadscharendynastie in Iran –, verweist in seinem Ethikbuch ausdrücklich auf die Abhängigkeit der Seele vom Körper, was ihre Bedürfnisse betrifft, während er zugleich behauptet, daß die Seele in ihrem Wesen abstrakt ist: »Das, was wir über die Abstraktion der Seele erkannten, ist jene essentielle Abstraktion [at-taǧarrud fī ḏ-ḏāt, die nicht zusammengesetzte Essenz], nicht aber eine Abstraktion hinsichtlich der Handlung, da die Seele hinsichtlich ihrer Handlung den Leib und Instrumente braucht. Die Definition der Seele ist folglich, daß sie eine himmlische Substanz ist, die für ihre Bedürfnisse den Leib benutzt [yastaḫdimu], und das ist die Wirklichkeit des Menschen und seine Essenz«. Narrāqī, Ǧāmiʿ assaʿ āda, Bd. I, S. 30. 10 Im Koran kommen zwei Begriffe vor, die für die Erschaffung und die Identität des menschlichen Wesens zentral sind: Der Begriff nafs, der oft als »Person« übersetzt wird und der Begriff rūḥ, der als »Geist« übersetzt wird. 9

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In der islamischen Philosophie wird, wie erwähnt, oft der Begriff nafs für die Seele verwendet. Der Begriff nafs wird ebenso oft mit der Triebseele in Verbindung gebracht. Uns scheint, daß der Begriff »Ich« für nafs zutreffend ist, denn er ist neutral und wertfrei und kennzeichnet in der islamischen Philosophie die Personalität des Menschen. Die Triebseele wäre damit eine Eigenschaft des menschlichen Ichs. Die Debatte um das Verhältnis von Seele und Körper war umso wichtiger, wenn es darum ging, die Stellung der Seele in bezug auf ihr weltliches Leben in den Mittelpunkt zu stellen. 11 Man sprach daher auch von »Seelentypen«, die bestimmte Aspekte des menschlichen Wesens zum Ausdruck bringen, wie dies Nasafī und Ṣadrā gemacht haben. Zugleich sind alle Seinsstufen der Seele, in denen sie ihre menschlichen, animalischen und vegetativen Lebensfunktionen übernimmt, ein natürlicher Teil des Lebewesens. Nach der Existenzphilosophie Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs manifestiert sich die Essenz der Seele wie das Sein und das Wissen trotz ihrer Einheit unterschiedlich in Stufen und Erscheinungsformen, die den Grad der jeweiligen Existenzvollkommenheit darstellen. 12 Trotz der unterschiedlichen Varianten und Abstufungen der Seele hat sie bei den führenden islamischen Philosophen ein und denselben Ursprung. Das Problem, das allerdings im Zusammenhang mit den verschiedenen Anwendungen des Begriffes nafs zu betrachten ist, scheint eine inhaltliche Verschiebung und Komplexität für die Seelenlehre zu kennzeichnen. Nach Ansicht mancher Mystiker sind sogar alle Lebensformen ihrer Form und ihrem Inhalt nach bestimmt. 13 Die Veränderungen des seelischen und persönlichen Zustands kommen, was sogar im Koran angesprochen wird, nur dort vor, wo das Wesen moralisch und geistig agiert. 14 Und dies kann nur der Fall sein, wenn das Wesen geistiger Natur ist. Nach der Definition der Seele wurde klar, daß sie von ihrer Substanz her unveränderbar ist oder im Ursprung immateriell, wie es bei Ṣadrā heißt. Daß sie sich aber zugleich entwickeln und sich neue Dinge Al-Fārābī verbindet zum Beispiel die aristotelische Version der Seele als Form des Körpers mit der des Geistigen. Auch bei ihm ist die Seele etwas völlig Wandelbares. Sie ist sogar in einem bestimmten, moralisch niedrigen Zustand wie dem des körperlichen sterblich. Siehe dazu al-Fārābī, Ārāʾ , S. 140; ders., Siyāsa madanīya, S. 161. 12 Siehe dazu den Vergleich zwischen dem göttlichen und menschlichen Atem. Izutsu, Toshihiko (1971): The Concept and Reality of Existence. Tokio, S. 144. 13 Ǧandī, Nafḥat, S. 61. 14 Koran 2/185, 13/11, 74/38. 11

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aneignen kann, hat theoretische Konsequenzen für die sadraische Existenzphilosophie. Denn es geht hier um die zwei Seiten des Menschen: einerseits um den Perfektionierungsbedarf und andererseits um die unwandelbare Intellektwelt im göttlichen Geist, dem das menschliche Wesen verbunden ist, und dies betrifft nicht zuletzt die bereits genannten drei Fundamente des Menschen, die sich in Vernunft, Erkenntnis und Wille ausdrücken. Ṣadrā ist sich dieses Widerspruchs bewußt, den er mit seinen neuen philosophischen Prinzipien lösen will. Die meisten Philosophen haben dieses Problem dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie äußerten, die Seele sei erst mit dem Körper entstanden. In diesem Zusammenhang geht z. B. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī noch weiter und meint, daß sich das Wesen der Natur insgesamt auch physisch in jedem Moment substantiell verändert und erneuert. Man könnte davon ausgehend auch zu einem anderen Ergebnis kommen, als es die Überlegungen Ṣadrās zeigen: Die menschliche Seele ist, wie die Seelen anderer Lebewesen, ein Produkt der Natur, die bei Ṣadrā die Substanz der geschaffenen Welt ist. Durch die substantielle Bewegung sind sowohl die Eigenschaft als auch das Wesen in ständiger evolutionärer Veränderung. So befindet sich der Mensch in einem kontinuierlichen Erneuerungsprozeß, der sich physisch und psychisch erkennbar macht, was aber scheinbar keinen Einfluß auf seine »Identität« ausübt. 15 Diese Veränderung des menschlichen Wesens, die wir später auch im epistemologischen Zusammenhang besprechen werden, ist im Grunde, wie bereits dargestellt, die Folge einer substantiellen Veränderung, mit der Ṣadrā die Dichotomie der Leib-Seele zu überwinden sucht. Ṣadrā löst das Problem, indem er seine Philosophie auf einen sich wandlungsfähigen Gesamtprozeß des Seins gründet. Der Emanationsbegriff Mullā Ṣadrās, besser gesagt: das Manifestationskonzept, unterscheidet sich von dem Platons und Suhrawardīs, da er daran festhält, daß es eher Seiende gibt, die auf einer höheren Seinsstufe stehen, als Wesenheiten. 16 Kamal ist nicht überzeugt von Mullā Ṣadrās Begründung für die Identität der Seele im Übergang von einem Körper zum anderen Lebenszustand, denn nach seiner Sicht glaubt Ṣadrā einerseits, daß die Ṣadrā betont ausdrücklich, daß der Unterschied zwischen einem Kind und einem vollkommenen Scheich nicht akzidentiell ist (laisa bi-umūrin ʿ araḍīya zāʾ ida min aḥwāl almazāǧ […]), sondern der Unterschied betrifft ebenso die Stufen des Menschseins (almarātib al-insānīya). Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. IV, S. 273. 16 Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 66. 15

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Identität einer Person auf einer intellektuellen Form dieser Person beruht, die im Geist Gottes existiert. Andererseits wird die Seele derart gedacht, daß sie den evolutionären Wandel überlebt und daß dieser Prozeß der Person hilft, eine Identität zu behalten. Diese Lösung, die Ähnlichkeit hat mit Descartes’ Sicht der menschlichen Seele als einer Selbst-Substanz (»self-substance«), widerspricht seiner Meinung nach der Implikation des »trans-substantiellen« Wandels. 17 Kamal ist der Meinung, daß Mullā Ṣadrā bezüglich dieser, wie er es nennt, »teleological metaphysic« Hegel näher steht als Heidegger, denn für Hegel ist die Welt die »Selbst-Objektivierung des Geistes« in Form einer dialektischen Bewegung: These, Antithese, Synthese. Kamal weiß jedoch, daß dieser Vergleich nicht bestehen kann, denn die Lehre Mullā Ṣadrās von al-ḥaraka al-ǧauharīya läßt sich von der dialektischen Bewegung Hegels trennen, und dies auf dreierlei Weise: 1.) Mullā Ṣadrā vertritt nicht die Idee einer dialektischen Bewegung in der Welt; 2.) Obwohl die Emanation der Welt eine zeitliche Erzeugung der Modalitäten des Seins ist, so berühren Zeit und Veränderung nicht das Sein; 3.) Gott sei nicht immanent, sondern transzendent, so sollte die Metaphysik Mullā Ṣadrās eher im Sinne eines Panentheismus als eines Pantheismus verstanden werden, wobei die erstere die metaphysische Sichtweise sei, in der die Welt eher ein Teil Gottes sei als mit ihm identisch. 18 Es muß hier darauf hingewiesen werden, daß es zwar richtig ist, daß Gott in Ṣadrās Lehre transzendent ist, daß aber das Sein die Identität alles Seienden bildet und überreal mit Modi vorhanden ist, denn die Zeit ist das Maß der Bewegung und die Bewegung die Wirkung des Seinsaktes. Die Bewegung findet damit in »Mitten des Seins« (matn al-wuǧūd) statt, und das ist in einer immerwährenden Erneuerung (taǧaddud) und in einem fließenden Zustand (sarayān/sayyāl) begriffen. 19 Dies stellt auch Kamal dar, der in Anlehnung an Fazlur Rahman die Veränderung in der Ontologie Mullā Ṣadrās, wie in der von Heraklit, als eine stetige Erneuerung und einen evolutionären Prozeß zur Vollkommenheit hin versteht. In diesem Sinne geht die Bewegung mit dem jeweiligen Zustand der menschlichen Existenzerscheinung einher, die quantitativ, qualitativ, substantiell und existentiell sein kann. Kamal ist daher der Ansicht, daß es keine Bewegung von einem Ort zum an17 18 19

Ebd., S. 82. Ebd., S. 65 Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 61 ff., 84.

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deren ist 20, und daß die Basis dieser Veränderung in den Seienden nichts Stabiles oder Unveränderbares ist wie die Substanz in der aristotelischen Metaphysik, sondern die Ursache der Veränderung ist für Mullā Ṣadrā eine selbstbewegende (»self-moving«) Substanz, genannt die »innere Realität des Seins«. 21 Denn da sie mit einem Anwachsen und Abnehmen der Intensität des Seins einhergeht, ist sie nach Kamal eine »existentielle Bewegung«. Dieser Begriff ist mißverständlich, denn Ṣadrās Existenzphilosophie betrachtet das Sein frei von jeglicher Bewegung. 22 Da Ṣadrā von der Aktivität des Seins spricht, sogar ausdrücklich von der »Intensität des Seins« (al-wuǧūd al-ištidādī) 23 und von der »Erneuerung des Seins«, kann diese sogenannte »existentielle Bewegung« nur in diesem Sinne verstanden werden, wie es Kamal erklärt. Diese Bewegung zeigt sich an einem Seienden in einer Intensivierung des Seins und weniger in einem Wandel der Wesenheit. Die Veränderung ist auch keine stetige Intensivierung einer Qualität oder Quantität eines bestimmten Seienden, sondern eine Ersetzung durch ein Neues. 24 Diese Vorstellung verstärkt Ṣadrā in seinem philosophischen System dadurch, daß er im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Bewegung zu den Themen der Metaphysik macht. Er hebt damit nach dem Verständnis Jambets die Auffassung des Seins, die in den zehn Kategorien gipfelt, hervor und setzt ihr die nicht-darstellende Wahrnehmung des »Fließens« (sarayān) entgegen. Dieses Strömen heißt in der sadraischen Existenzphilosophie Ausdehnung (inbisāṭ). 25 Diese ist die erste Bestimmung des absoluten Seins und die Realität der Realitäten. Sie bedeutet, wie bereits erwähnt, »Freude«, »Verbreitung«, »Ausstrahlen von Freundlichkeit«. Der Seinsakt umfaßt alles, dehnt sich aus und ist in allem Seienden vorhanden. 26 Diese Potentialität, die man energetisch verstehen soll, fließt bis in die niedrigste Stufe der Daseinsmöglichkeit. Jambet spricht daher von einer Bewegung in der »Hierarchie der Essenzen«. Denn die Ausbreitungsbewegung, die die abgeleitete Existenz beseelt und mit Leben erfüllt, die absteigende Bewegung, bereitet die aufsteigende Bewegung, die Umwandlung vor, die im Menschen alle 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 70. Ebd., S. 71. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 424. Vgl. Ebd., Bd. III, S. 83 f. Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 73 Siehe Kapitel I. Siehe Anmerkung 336.

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Stationen beinhaltet bis zur größten Nähe der göttlichen Essenz. Es handelt sich hier um eine absteigende Ausbreitungsbewegung, die die Perfektionierung als aufsteigende Umwandlung in Existenzen, denen das Göttliche innewohnt, mit sich bringt. Mit anderen Worten: Der Seinsakt bewegt sich hinab zur materiellen Wirklichkeit, und von der materiellen Wirklichkeit geht die Bewegung zurück zum Seinsakt. Der Seinsakt ist der Agent der Agenten, die Form der Formen, das Ziel der Ziele, wie Jambet interpretiert. 27 Diese Aktivität, das Urleben, geht auf den göttlichen Imperativ zurück, der sich im Fließen des Seinsaktes entfaltet. 28 Ṣadrā unterscheidet sich von Avicenna nach Einschätzung Jambets durch die Auffassung, daß das Sein ein Synonym der Intensität (šidda) ist, und somit versteht man Gott auch als reinen Seinsakt, der als Kraft bzw. als potentielle Energie definiert und als höchstes und vollkommenstes Seinswesen betrachtet wird. 29 Gott ist der Fürsorgende (alqayyūm), die Quelle und der Ursprung des Seinsstromes. Die Welt ist zeitlich begrenzt, nicht, weil das Sein nicht ewig wäre, sondern, wie Jambet zu Recht interpretiert, weil der Stoff als Aufbewahrungsort, als Gefäß bzw. in seiner Aufnahmefähigkeit nicht für die Ewigkeit taugt. 30 Die Kritik, die man an der sadraischen Ontologie übt, wie durch Aḥmad Aḥsāʾ ī, der sie als unvollständig betrachtet, 31 stellt sich auch bei Jambet als eine Grundfrage. Vergänglichkeit, Neugeburt und Erneuerung sind Ausdruck der Bewegung. Wie kann Bewegung vom Sein ausgehen, ohne daß das Sein selbst davon betroffen ist? Nach Jambets Auffassung löst Ṣadrā das Problem, indem er das gesamte Universum der Vergänglichkeit unterwirft, aber das Zeitliche in Ewigkeit verwandelt, die Endlichkeit aufhebt: Die Welt ist vergänglich, weil sie sich hinein entwickelt in die andere Welt, in die letzte Stabilität der göttlichen Namen. Die natürliche Bewegung ist die unabgeschlossene Suche nach Perfektion. 32 Die Bewegung betrifft alle Dinge, denn sie gehen über Jambet, L’acte d’être, S. 160 f. Ebd., S. 198. 29 Ebd., S. 87. 30 Ebd., S. 88 f. 31 Siehe die Ansichten von Šaiḫ Aḥmad Aḥsā ī und nähere biographische Angaben, ebd., ʾ S. 183 f. 32 Das erinnert an Teilhard de Chardin, der von einer Entwicklung und Bewegung der Schöpfung spricht, die sich auf einen Punkt Omega hinbewegt, der die Vereinigung mit Gott darstellt und die Bewegung beendet. Demnach können wir von einem höheren Seinszustand sprechen, der ein »umfassenderes Vereintsein« bedeutet. Dies geht mit einem »steigernden Bewußtsein« einher. Siehe dazu Chardin, Teilhard de (1978): Der 27 28

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von der Welt der Potentialität in die Welt des Aktes. Ausgenommen davon bleibt das Sein selbst, das absolut in Aktion ist. Im Gegensatz zu Avicenna hält Ṣadrā an der Idee der substantiellen Bewegung fest, weil die Substanzen aus der Geistesaktivität hervorgehen. Diese Aktivität geht, wie bereits dargelegt, auf den göttlichen Imperativ zurück, der sich im Fließen des Seinsaktes entfaltet. Diese substantielle Bewegung findet auf dem »Rennplatz« (miḍmār) des Geistes statt. 33 Sie ist nach der Auffassung Jambets kreisförmig, denn sie hört nicht mit dem Begriff des Abstiegs bis zum rein Stofflichen auf, sondern steigt wieder über alle Etappen bis zum rein Göttlichen auf, wie wir dies auch bei der Existenzlehre Nasafīs finden. Das nennt Jambet die »spirituelle Wiederauferstehung der Dinge«, die Ṣadrās Vorstellung von der Auferstehung wiedergibt. 34 Daher sind die Seele und die Natur Bewegung. Die Seele liegt inmitten des Spannungsfeldes, sie richtet ihren Blick nach oben, zum geistig Vorstellbaren, nämlich zum Intelligiblen und gibt den Überfluß des Seins nach unten ab zum körperlich Stofflichen. 35 Jambet verweist hier auf den Unterschied zwischen dem Zwölferschiismus und dem Ismailismus. Demzufolge lehnt Ṣadrā die Welt der Seele bzw. die Seele der Welt ab. Denn Ṣadrā geht von den Körpern in Bewegung aus und von den Potentialitäten, die in ihnen enthalten sind. Hier unterscheidet er vier Kategorien: 36 1.) die natürliche Potentialität, ohne Einfluß des Willens (z. B. Naturgesetze) 2.) die himmlische Seele, die einen Willen besitzt 3.) die vegetative Seele mit verschiedenen Tätigkeitsbereichen, aber ohne den Einfluß des Willens 4.) die tierische (instinkthafte) Seele (Wut, Empfindlichkeit, Gefühlswelt), die mit dem Willen verbunden ist.

Mensch im Kosmos. Übers. v. Othon Marbach. Zürich: Ders. (1978): Die Entstehung des Menschen. Übers. v. Günther Scheel. 33 Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 198 f. 34 Diese spirituelle Auferstehung, worauf Jambet hinweist, widerspricht nicht der Vorstellung der körperlichen Auferstehung, an der auch Ṣadrā festhält, weil sie die Umwandlung der körperlichen Welt zum Ausdruck bringt, die den Dualismus von Körper und Geist aufhebt. Es gibt allerdings einige islamische Philosophen, die der Meinung sind, daß die Auferstehung des Menschen nicht körperlich sei, sondern geistig. Siehe de Boer, Geschichte, S. 127 f. 35 Jambet, L’acte d’être, S. 199 ff. 36 Ebd., S. 201.

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Sobald der Mensch die Stufen des Intellekts erreicht hat, verbindet er sich mit dem bewußten Willensakt, der mit der Erkenntnis des Wahren einhergeht. Die Frage der Entstehung der Seele kann deshalb nur mit den Eckpfeilern Ṣadrās Existenzphilosophie verstanden werden. Das Prinzip der »systematischen Vieldeutigkeit« des Seins, womit Kamal das Prinzip taškīk deutet, ist ein weiterer (neuer) Weg bei Ṣadrā, um das Prinzip der Identität in der Verschiedenheit auszudrücken, was durch den abwärts gerichteten Prozeß der Emanation vom Sein zu den niedrigsten ontisch-Seienden bestimmt ist. Sein als die Realität aller Stufen und Grade ontisch-Seiender ist eins und identisch in seiner Beziehung zu ihnen, aber zugleich wird es vielfach und verschieden. 37 Kamal macht ebenso darauf aufmerksam, daß zum einen Unvollkommenheit und Mangel Eigenschaften sind, die nur für Seiendes gelten und nicht zum Sein gehören, zum anderen die Welt der Vielheit und Verschiedenheit aber eine zeitliche Erscheinung und ein Grad des Seins ist. In Ṣadrās Philosophie bleibt die Identität jedes Dings durch den unveränderbaren Aspekt des Seins erhalten. Dieser ist das Intellekthafte des Seins. Aber die Veränderung und Fortentwicklung der Dinge in der Welt, die der allgemeinen substantiellen Bewegung unterworfen sind, welche der Natur eigen ist – denn in allen Dingen fließt die Natur –, verdankt ihre permanente Bewegung der »Gnade« (faiḍ, Fülle, Überströmung) Gottes, wodurch das Potentielle zur Aktualität gelangen kann. Aufgrund dieser fließenden Natur entwickelt und verändert sich das Personhafte substantiell und akzidentiell. Dabei geht aber die Identität des Menschen, die seine Personalität ausmacht, nicht verloren. Wenn die Seele des Menschen sich verselbständigt und sich einem dauerhaften geistigen Zustand unterzieht, wie aus Ṣadrās Ausführungen hervorgeht, so darf man von Ṣadrā einen verständlichen Grund erwarten, der zum einen die Unsterblichkeit plausibel macht und zum anderen eine Verhältnisklarheit zwischen dem Geist und der Seele provoziert. Nach den Ansichten der Theologen ist sicher, daß der Körper stirbt und das, was weiterlebt, die Seele des Menschen ist. 38 Kompliziert wird es erst, wenn von Geist (rūḥ) und Seele (nafs) des Menschen als zwei übernatürlichen Phänomenen gesprochen wird. Der Koran verwendet den Begriff rūḥ entweder für ein geistiges Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 66. Van Ess hat sich diesbezüglich mit den Ansichten der Theologen auseinandergesetzt. Vgl. Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. IV, S. 521 ff.

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Wesen wie für den Engel Gabriel oder für eine geistige Quelle, die der göttlichen Schöpferwelt eigen ist. Im Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen steht rūḥ am Ende des Schöpfungsprozesses, der die Vollendung des menschlichen Wesens mit sich bringt. Daraus ergibt sich die Erklärung des Aktes des Einhauchens des Geistes aus der göttlichen Schöpferwelt, die Besonderheit der Beziehung von Mensch zu Gott, wodurch diese Gestalt wegen einer von Gott verliehenen Gabe von allen anderen abgesondert in den Mittelpunkt gestellt wird. Der Begriff nafs wird im Gegensatz zum Geist im Koran für die Personalität des Menschen verwendet. Der Mensch wird als Individuum angesprochen. Dies zeigt sich darin, daß die Person Mensch zu einem bestimmten Lebenssinn aufgefordert wird und ihm moralische und psychische Lebensziele als Herausforderung an seine Wandlungsfähigkeit auferlegt sind. 39 Aus dem Koran ergibt sich nicht eindeutig, ob die Seele an sich rein und vollkommen ist. Aber es wird zum Ausdruck gebracht, daß der, der sich rein hält, selig wird. 40 Es kommt also nicht darauf an, über das Wesen des Menschen nachzudenken, auch bei Gott, wie van Ess zu Recht betont, versagte man es sich, über sein Wesen nachzudenken, sondern es geht vielmehr darum, über die Bedeutung der Seele für das Verhältnis zwischen Gott und Menschen zu sprechen. Deswegen stellt sich die Frage nach der »Bewährung« des Menschen. 41 Dadurch trägt das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie van Ess formuliert, »einen stark personalen Charakter«, 42 und diese spezielle Art des Menschseins deute vielmehr auf den göttlichen Willensakt und die Folge für das menschliche Leben hin, nicht weil er gestalterisch ein »Supergeschöpf« 39 Die nafs wird gelobt oder getadelt, zu einer Aufgabe verpflichtet oder mit einem Verbot belegt, geführt oder verführt, zum Nachdenken oder Besinnen aufgefordert. Wichtig ist dabei, daß der Seele von Gott auch das »Gute und Böse« eingegeben wurde: »[U]nd bei einem (jeden menschlichen) Wesen (w. bei einer Seele) und (bei) dem, der es geformt und ihm seine Sündhaftigkeit und seine Gottesfurcht (oder: (je nachdem) die ihm eigene Sündhaftigkeit oder Gottesfurcht?) eingegeben hat! Selig ist, wer es (von sich aus) rein hält (oder: (von seiner Sündhaftigkeit) reinigt; […]«. Koran 91/7–8. 40 Manche Interpreten, darunter auch Muḥyi ad-Dīn Mahdī Ilāhī Qumša ī, ein Anhänʾ ger der geistigen Schule Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs, verstehen hier unter der Seele das »intellekthafte Ich«, das aber bei anderen eigentlich ein Lichtwesen ist, dem man keine böswilligen Akte zuschreiben sollte. Siehe Murtaḍā Farīd/Muḥammad Sādiq Saǧǧādī (Hrsg. 61368/1989): Aḫlāq az dīdgāh-i Qurʾ ān wa ʿ itrat. Teheran, S. 13. 41 Ess, Theologie und Gesellschaft, Bd. IV, S. 513. 42 Ebd.

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sei, sondern weil er trotz aller erscheinenden Mangelhaftigkeit ein »neues Kunstwerk« sei, das in der Lage sei, sein Wesen selbst zu bestimmen, und zwar nicht physisch, sondern seelisch. Er ist dazu bestimmt, trotz seiner unveränderbaren Naturanlagen seine geistige Natur selbst zu gestalten, was ein bewußter Willenakt ist. Das Leben in einem Naturzustand der diesseitigen Welt ist dennoch eine Herausforderung, das Unüberwindbare mit dem Überwindbaren in Einklang zu bringen. Dem stimmen auch viele Philosophen und die meisten islamischen Mystiker zu, darunter Nasafī und Ṣadrā. Die Frage nach den seelischen Entwicklungsprozessen und -zuständen scheint eine besondere Relevanz für die Fragestellung dieses Kapitels in bezug auf die Bedeutung einiger Fundamente der Stellung des Menschen in der Existenz zu haben, worauf wir noch eingehen werden. Denn es geht dabei um einen prozeßhaften Aufstieg der Seele, der sowohl moralisch als auch existentiell stattfindet. Nach der Darstellung mancher islamischer Gelehrter empfindet die Seele Schmerz und Lust, und kann krank und gesund sein. Die unterschiedlichen Kräfte und das geistige Vermögen, mit denen die Seele ausgestattet ist, benötigen entsprechende »Nahrung« bzw. »Befriedigung«. Noch interessanter erscheint, daß die Seele von ihrem Entstehungsursprung her ein unbeschriebenes Blatt ist. 43 Man findet ähnliche Formulierungen bei den Iḫwān aṣ-ṣafāʾ . 44 Für al-Ġazālī ist »das menschliche Gedächtnis« eine tabula rasa, auf die die Umwelt einwirkt. 45 In Anlehnung an al-Ġazālī behauptet man, wie Aḥmad Narrāqī, daß die Seele des Menschen ein unbeschriebenes Blatt sei, das erst nach entsprechenden und bestimmten Handlungen Formen und Wirkungen bekommt. »Wisse, daß jedes Wesen im Ursprung seiner Entstehung und am Beginn seiner Kindheit von allen Eigenschaften und Eingewöhnungen [malakat, Habitus] leer ist wie ein Blatt, das frei von Eindrücken [naqš] und Form ist. Der Eintritt der Eingewöhnungen und Eigenschaften erfolgt erst durch die Wiederholung entsprechender Handlungen und Tätigkeiten.« Narrāqī, Aḥmad: Miʿ rāǧ as-saʿ āda. Hrsg. v. Riḍā Marandī (21379/2000). Teheran, S. 24. 44 Siehe dazu al-Fāḫūrī u. al-Ǧarr, Tārīḫ, Bd. I, S. 232 f. 45 Vgl. al-Ġazālī, Kīmīyā-yi sa ādat, Bd. II, S. 27. Al-Ġazālī ist zugleich der Meinung, ʿ daß der Mensch von Natur aus ein vernünftiges Wesen ist, wodurch er sich von den anderen Lebewesen unterscheidet. Was allerdings bei ihm noch widersprüchlicher erscheint als bei anderen islamischen Denkern, ist die dualistische Darstellung des Geistes (rūḥ). Als ein gemäßigter Mystiker bevorzugt er den Begriff »Herz« statt »Geist«. Der Mensch ist nicht nur der dualen Welt von Körper-Geist unterworfen, sondern auch der Geist selbst ist seinem Wesen nach sowohl erschaffen als auch abstrakt, nämlich aus der Welt des göttlichen Willens bzw. Schöpferwelt (ʿ alam al-amr). Siehe al-Ġazālī, Kīmīyāyi saʿ ādat, S. 22 ff., 35. 43

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Die Frage ist nun, wenn die Seele ein unbeschriebenes Blatt ist, wie steht es mit ihrem ursprünglichen göttlichen Natur- und Erkenntnisvermögen? Nach der fiṭrat-Lehre, welche al-Ġazālī und viele andere Gelehrte heranziehen, um der »menschlichen Substanz« einen besonderen Platz in der Schöpfung zuzuweisen, erhält der Mensch ein ursprüngliches Erkenntnisvermögen und eine natürliche Disposition, die etwas Engelhaftes in sich trägt. 46 Daher muß die menschliche Substanz entweder als frei, autonom und selbstgestalterisch in allen ihren Entwicklungen betrachtet werden, oder es handelt sich dabei um eine andere Erkenntnisform, die mit sinnlichen und intellektuellen Erfahrungen und Erwerbungen nicht zu erreichen ist. 47 Wie bereits erwähnt, gehen die Aktivitäten des Seienden in Ṣadrās Existenzphilosophie aber auf die Aktivitäten der geistigen Welt zurück, und dies ist nichts anderes als der Akt des Seins. Die Intelligibilität wird als Ausdruck für das Leben interpretiert. 48 Der Geist kann daher Ausdruck für die Idee der Dinge sein, denn es scheint, daß er zugleich auf das Innere, den Sinn und die Bedeutung der Dinge hinweist. Er ist quasi eine Quelle, wodurch alles Materielle einen Sinn und eine Lebenserscheinung bekommt. 49 Obwohl er als ein lebendiger personifizierter Geist wie ein Engel dargestellt wird, ist er für manche Mystiker die Erscheinung göttlicher Eigenschaften und Namen. Der Geist hat unEbd., S. 242–234. Es ist darauf hinzuweisen, wie Zakī Mubārak zu Recht betont, daß al-Ġazālī und viele andere Theologen die natürliche Anlage des Menschen hinsichtlich der Erkenntnis und der ethischen Reflexionen nicht einheitlich darlegen. Vgl. Mubārak, Zakī (1924): al-Aḫlāq ʿ inda al-Ġazālī. Kairo, S. 153. Die unterschiedliche Beschreibung der menschlichen Naturanlage kann meines Erachtens zum einen daran liegen, daß der Mensch letztlich indifferent ist und sich offen gegenüber Veränderungen verhält, und zum anderen daraus, daß der Unterschied mit der begrifflichen Verwendung des menschlichen Gedächtnisses, der menschlichen Seele und der menschlichen Urgestalt zu tun hat. Demnach ist das menschliche Wesen mit der Idee des Guten veranlagt und besitzt eine Gotteserkenntnis, die jedoch ohne sein Zutun nicht aktuell werden kann. 47 Wäre es vielleicht nicht einfacher und einleuchtender, wenn man die Seele als ein Naturprodukt betrachten würde, das beliebig wandelbar und gestaltungsfähig ist, so daß wir nicht unbedingt einen Unterschied zwischen Körper und Seele benötigten? Darüber werden wir uns im Zusammenhang mit den Fragen der Erziehung, der Erfahrung, des Wissens- und Erkenntniserwerbs und der Erkenntnisvermittlung noch beschäftigen müssen. 48 Siehe dazu z. B.: Ǧandī, Nafḥat, S. 60 f. 49 Für manchen Denker ist das Leben ein Ausdruck dafür, daß es überhaupt denkt. Denken und Leben sind ein und dasselbe. Vgl. al-Fārābī, Ārāʾ , S. 36 f.; ders., Andišihhā-yi, S. 100–103. 46

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mittelbar im göttlichen Sein seinen Ursprung. 50 Wenn wir die Annahme akzeptieren, daß der Mensch seinen Geist aus der göttlichen Schöpferwelt hat, so ist der Mensch dadurch nicht nur lebendig, sondern auch ein Wesen, das die Möglichkeit zur Engelhaftigkeit hat. Der Mensch hat zugleich aber auch die Potentialität zum Tier und kann nach koranischer Aussage sogar niedriger als ein Tier werden. Demnach kann nicht der Geist für eine Rückentwicklung des Menschen verantwortlich gemacht werden, sondern nur die sogenannte Seele bzw. das menschliche Ich. Darunter versteht die Existenzphilosophie Ṣadrās, wie bereits erwähnt, nicht rein moralische Unterschiede, sondern es geht um die Existenzstufen des Menschen, die sich nach der Intensität und Entwicklung der Seinsentfaltung verhalten. 51 Die besondere existentielle Anlage der Seele und ihre geistige und moralische Fähigkeit einerseits und ihre Unbestimmtheit andererseits liefern Grundlagen, die in der philosophischen und mystischen Tradition im Islam weiter vertieft und interpretiert werden. Für Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī gibt es einen göttlichen Geist, der die Schöpferwelt (ʿ ālam alamr) ist. Dieser Geist verhält sich in bezug auf den »animalischen Geist« ähnlich wie das Verhältnis zwischen dem Körper und dem Schatten des Körpers. Denn der animalische Geist, der für die Lebendigkeit des Körpers und dessen Bewegung und Sinnesregungen verantwortlich ist, ist aus der Welt der Schöpfung (ʿ ālam al-ḫalq). Dieser Geist ist für das Ich bzw. für die Vernunftseele eine Art Reittier. Die menschliche Seele ist eine materiefreie Substanz, die, wie bereits dargelegt, als eine geistige Potenz nur im Menschen vorhanden ist. Für Ṣadrā ist sie die Form der Naturkörper, welche die Vollkommenheit für ihn ist und wodurch der Körper zu seinem eigentümlichen Leben fähig wird. 52 Aus seiner Ausführung erfahren wir, daß Ṣadrā der Seele die zentrale Lebensfunktion in der natürlichen Welt zukommen läßt und sie zugleich einer Substanz zuordnet, die nicht materiell ist. Ṣadrā zeigt mit einem Beispiel, daß die Seele sowohl die primäre als auch die sekundäre Vollkommenheit des Körpers darstellt. Sie ist als primäre Form wie das Schwert für das Metall oder der Stuhl für das Holz und als sekundäre Form die Art der Funktion und des Handelns. Im Schwert drückt sich z. B. das Schneiden aus und im Stuhl das Sitzen und im Menschen das 50 51 52

Ǧandī, Nafḥat, S. 60 ff., 81 ff. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. IV, S. 271 ff. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VIII, S. 5.

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Denken und die willentliche Bewegung. Daher folgen die funktionalen Fähigkeiten der primären Form, die mit Hilfe der körperlichen Organe eine bestimmte Funktion erscheinen lassen: »Es wurde nun klar, daß die Eigentümlichkeit der primären Vollkommenheit für den natürlichen Körper, welcher durch Mittel handelt, der Seelenzustand ist. Daher ist für uns jede Fähigkeit des natürlichen Körpers, die durch die Dienstbarmachung eines anderen Vermögens unter seiner Leitung eine Handlung begeht, die Seele.« 53

Die Seele ist damit für Ṣadrā immer ein Ausdruck der Vollendung jedes Dings in seiner höchsten Form, und so lassen sich auch ihre Handlungen definieren. Ṣadrā führt mit vielen Argumenten aus, warum die Seele eine materiefreie Substanz ist, worauf wir hier nicht näher eingehen wollen. Was uns jedoch für unseren Zweck wichtig erscheint, ist die Entwicklungsfähigkeit der Seele, von der der perfekte Seinszustand jedes Dings abhängig ist. Sie ist das, was jedes Ding von der Potentialität zur Aktualität führt. Wir sehen, daß der Körper eine Art »Gefäß« für die Seele darstellt, mit dessen Hilfe sie sich in einem Entstehungsprozeß zum Ausdruck bringen kann. Es ist daher auch nicht verborgen, daß die Seele für die Integration des Lebens in die Körperwelt zuständig ist. Jambet zeigt gerade, daß die Definition der Seele, die bei Ṣadrā zwar auf der aristotelischen Perspektive beruht, dennoch die vitalistische Komponente hervorhebt. Die menschliche Seele ist die Grundperfektion eines organisierten natürlichen Körpers, der das Leben als Möglichkeit besitzt, von einem Standpunkt aus gesehen, wo er die universellen Wirklichkeiten wahrnimmt und vernünftige Handlungen durchführt. 54 Das Leben hat gemäß den Seinsstufen verschiedene Ausdrucksformen, und ihre vollkommenste Form erscheint im Menschen als Vernunftseele, die in ihrer höchsten Form der Substantialität erscheinen kann, wenn sie die Stufe des höchsten Intellekts erlangt hat. Denn die Form der Vollkommenheit bildet die Seele. 55 Die sadraische Lehre der Entfaltung der Seele ist eine Konsequenz der These der Aktivitäten des Seins bei Ṣadrā. Darauf baut sich auch die Basis der menschlichen Existenz auf, die im Rahmen der »Vielschichtigkeit des Seins« und der »substantiellen Bewegung« als ihre eigene und individuelle Entwicklung im Kontext der bewußten Aktivität des Seins 53 54 55

Ebd., S. 17. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 221. Ebd., 223.

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fungiert. Daher erscheint klar, daß der Begriff der »Potentialität«, den Ṣadrā und seine Vorgänger aus der aristotelischen Tradition in ihre Existenzphilosophie aufgenommen haben, gerade mit der Vorstellung der existentiellen Einheit und Vollkommenheit nicht im Widerspruch steht. Der Mensch ist eingebettet in die ewige Aktivität des Seins, und diese Aktivität nimmt gemäß der Prinzipien des Seins ihren eigenen Lauf. Die menschliche Existenz erfüllt sich selbst stufenweise (»gradually«) durch eine Bewegung weg von der Potentialität zur Aktualität hin. Das materielle Leben für die Seele ist daher der Beginn im Bereich reiner Potentialität, ausgeströmt aus dem Sein (»emanated from being«), aber in einem »evolutionären Prozeß« vertikaler trans-substantieller Veränderung, wie Kamal formuliert. 56 Diese Ansicht ist übereinstimmend mit der, die die Schöpfung im Koran als einen »ständigen Prozeß« versteht. 57 Die Entwicklung der Seele findet von Beginn des menschlichen Daseins an statt und ist in ihrer Natur schwankend. Die menschliche Existenz bewegt sich durch diese Kraft hin zu ihrer Aktualisierung. Das bedeutet dann die Vervollkommnung, denn die Reise endet mit dem Auftauchen des vollkommenen Menschen (al-insān al-kāmil), der die Einheit mit den Intelligiblen bzw. den göttlichen Attributen erreicht. 58 Damit endet keineswegs die Bewegung, denn das Sein befindet sich in der Existenzphilosophie Ṣadrās in einer ewigen Aktivität. Kamal weist zu Recht darauf hin, daß al-ḥaraka al-ǧauharīya, die bei ihm »trans-substantial change« bedeutet, zwei Richtungen hat, eine vertikale und eine horizontale. Daher widerspricht diese Betrachtung der Auffassung, die Bewegung nur als kreisförmig (Jambet) zu verstehen. Die Vervollkommnung ist eine vertikale Bewegung von der niedrigsten zur höchsten Stufe und ist bestimmt von dem Ziel, Vollkommenheit zu erlangen bzw. den höchsten Rang des Seins zu erreichen. Die horizontale Richtung des Wandels bestimmt die Transformation der Welt durch eine Aufeinanderfolge (»succession«) bzw. durch unendliche Formen (»infinite forms«). Diese Bewegung ist in dem Sinne unendlich, daß sie kein Ende hat, und im Gegensatz zur vertikalen Bewegung ist sie nicht durch eine Realisierung eines Endes bestimmt. 59 Inwiefern wir hier von einer »kreativen Evolution« im Sinne Hen56 57 58 59

Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 74. Siehe Renz, Der Mensch, S. 266. Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 74. Ebd., S. 74.

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ry Bergsons sprechen können, die erkenntnistheoretisch für die Existenzphilosophie kennzeichnend ist, kann schwer beantwortet werden. Kamal sieht jedoch eine deutliche Ähnlichkeit. Denn in beiden philosophischen Konzepten ist die Konsequenz des evolutionären Prozesses »knowledge by presence«, worauf wir noch zu sprechen kommen werden. Kamal führt die Evolutionsthese von Bergson darauf zurück, daß Bergson mit den mechanistischen Erklärungen von Laplace und Darwin unzufrieden war. Mullā Ṣadrā unterscheidet sich aber von Bergson darin, daß Ṣadrā, seiner sogenannten »teleological conception« folgend, an eine zielgerichtete (zum vollkommenen Menschen hin) und planvolle evolutionäre Bewegung glaubt. 60 Kamal erklärt nicht den Widerspruch, der daraus resultiert, daß einerseits von einer planvollen Evolution gesprochen wird und andererseits von der menschlichen Freiheit in dieser Evolution. Dieser Aspekt entspricht keinesfalls der Vorstellung, die Kamal aus der Idee des Werdens bei Ṣadrā ableitet, indem er den Wandel im ontologischen Bereich der Geschichte auf Wahrheit, Wissen und moralische Werte überträgt. 61 Wenn diese Welt auf die Perfektibilität angelegt ist, dann muß erklärt werden, in welcher Form die menschliche Freiheit zu verstehen ist. Diese Frage spielt daher eine wichtige Rolle für die Idee der Perfektion, die die Rolle der Seele und ihre Entfaltung in der materiellen Welt kennzeichnet. Denn sonst müssen wir konsequenterweise die Rolle der materiellen Welt und deren Auflösung als eine Scheinrolle des Seinsspieles betrachten. Dies scheint mit Sadrās Lehre von der Stofflichkeit der Seele, worauf auch Jambet eingegangen ist, nicht konform zu sein. 62 Denn Seele und Form stimmen in einem bestimmten Zustand ihrer Wandlung überein, und somit verleiht die Seele dem Körper die Existenz. Zailan Moris macht, ohne das Problem der Freiheit anzusprechen, darauf aufmerksam, daß gerade die Entwicklungsfähigkeit der Seele für die Individualitätsbildung verantwortlich sei. Nach ihrer Auffassung vollzieht sich die Entwicklung der Fähigkeit der Seele durch die Aktualisierung der in der Seele vorhandenen potentiellen Aspekte. Zum Verhältnis zwischen Körper und Seele sagt Moris, daß, obwohl die Seele zuerst als Körper erscheint, der Mensch einen »sinnbildlichen Körper« Ebd., S. 75. Ebd., S. 79. 62 Jambet will damit vor allem zum Ausdruck bringen, daß sich Ṣadrās Lehre der Seele von der Ideenlehre Platons loslöst. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 227 f. 60 61

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bildet, den ein Individuum von seinem Seinsmodus, Denken und Handeln in dieser Welt erworben hat. Der erworbene Körper (ǧism) ist ein Bildnis, (miṯāl), nämlich ein sinnbildlicher Körper (ǧism miṯālī), der die Form des menschlichen Körpers besitzt, aber von einer feinen Substanz bzw. Materie ist. Moris betont, daß das Prinzip der menschlichen Identität und Individualität die Seele ist und nicht der Körper. Es ist die Seele, die den Körper individualisiert und nicht umgekehrt. 63 Um dies zu begründen, muß Ṣadrā ebenso von der Tatsache ausgehen, daß der physische Körper des Menschen sich im Laufe seines irdischen Lebens verändert, vom Kind zum Erwachsenen und schließlich zum Alten, ohne daß diese Veränderungen die Einheit und Identität des individuellen Menschen zerstören. Dieser Aspekt kommt auch seiner Theorie der Auferstehung der Seele zugute, indem er sich die Frage stellt, welche der menschlichen Aspekte in der materiellen Welt der Veränderung überleben kann. Ṣadrā ist sich bewußt, daß nur der Aspekt des menschlichen Wesens überlebt, der der Erneuerung und Steigerung im Sinne des existentiellen Prozesses gewachsen ist. Daher versteht Ṣadrā unter dem Tod keineswegs die Zerstörung der Körperwelt, sondern die Entstehung eines neuen Körpers, der gemäß der »Welt des Ebenbildes« beschaffen ist. Das bedeutet, daß in nachfolgenden Interpretationen des sadraischen Konzepts Gelehrte wie Mullā ʿAlī Mudarris Zunūzī das Prinzip der »substantiellen Bewegung« für den Körper auch nach dem Tod anwenden, um die Wiederbelebung der körperlichen Welt mit der Existenzphilosophie Ṣadrās in Einklang zu bringen. Nicht die Seele kehrt in denselben Körper zurück, wie man bisher angenommen hat, sondern der Körper nähert sich der geistigen Stufe der Seele an, so daß er in der Lage ist, sich der Seele anzupassen, denn sonst muß angenommen werden, daß die Seele sich in Bewegung befindet und der Körper unbeweglich bleibt. 64 Es ist dieser »imaginative Körper«, der überlebt und

Vgl. Moris, Revelation, S. 107. Vgl. dazu Mudarris Zunūzī, ʿAlī: Risālat sabīl ar-rašād fī iṯbāt al-maʿ ād, in: Maǧmūʿ ati muṣannafāt-i Ḥakīm muʾ assis Āqā ʿAlī Mudarris Zunūzī. Rasāʾ il wa-taʿ līqāt. Hrsg. v. Muḥsan Kadīwar (1378/1999). Bd. II. Teheran, S. 85–142. Mudarris Zunūzī ist einer der führenden und kritischen Anhänger der sadraischen Existenzphilosophie im 19. Jahrhundert, der auch mit der neuen westlichen Philosophie konfrontiert wurde. Siehe Mudarris Zunūzī (Ṭihrānī), ʿAlī: Badāyiʿ al-ḥikam. Hrsg. v. Aḥmad Wāʿ izī (1376/1997). Ghom. 63 64

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aufersteht. Die Seele ist die identitätsstiftende Instanz. 65 Daher spricht Moris von den Geburten der Seele, die erst in der materiellen bzw. sensitiven Welt, dann in der sinnbildlichen und zuletzt in der geistigen Welt zum Ausdruck kommen. 66 In jeder Welt projiziert die Seele einen geeigneten Körper von sich selbst. Daher halten die meisten Anhänger der sadraischen Schule wie Muḥammad Ḥusain Ṭabāṭabāʾ ī an der Idee fest, daß der Mensch nicht aus Geist und Körper zusammengesetzt ist, sondern daß nur eine Transformation vom Körper zu einer geistigen Lebensform stattgefunden hat. 67 Eine solche Vorstellung führt zu der Annahme, daß die Entwicklung der Seele im jeweiligen Grad des Seins, was aktuell und vollständig ist, der Idee der Vollkommenheit entspricht. Das Ziel des Menschen ist es, ein vollkommener Mensch zu werden und zu Gott zurückzukehren, und was Moris darunter versteht, ist, daß jeder vollkommene Mensch ein Archetyp seiner selbst ist. Mit der Aktualisierung des vollkommenen Menschen erfüllt sich die Schöpfung, die aus der Liebe Gottes und seiner Selbsterkenntnis entspringt. Die ontologisch-epistemologische Konsequenz dieser Philosophie, worauf noch eingegangen wird, ist, daß der vollkommene Mensch die Vollendung einer Selbstbewußtheit und Selbstreflektiertheit der Seinsform darstellt, die sich bei Ṣadrā in seinen tief religiösen Gedanken ontologisch als umfassende Theophanie verstehen läßt. Jeder vollkommene Mensch ist eine bestimmte und einzigartige Möglichkeit der unendlichen ontologischen Möglichkeit der göttlichen Manifestation. 68 Mit seiner Lehre der Seele stellt Ṣadrā das Leben des menschlichen Individuums in beiden Welten, im »In-der-Welt-Sein« und im Jenseits, in einen evolutionären Übergang. Dies bedeutet nicht, daß eine Welt in der anderen Welt verschwindet, sondern, daß vielmehr eine »Transformation des Subjektes« stattfindet, wie es Jambet im Sinne Foucaults

Vgl. Moris, Revelation, S. 107 ff. Ebd., S. 109. 67 Nach Ṭabāṭabā ī ist die Seele des Menschen nicht identisch mit dem, was im Koran als ʾ Geist vorkommt, zumal die Seele des Menschen nach ihrer Vervollkommnung eine solche geistige Stufe erreichen könne. Nach ihm ist dieser Geist im Koran die Schöpferwelt (pers. ʿ ālam-i amr) und nichts anderes als die Welt der Geschöpfe (pers. ʿ alam-i ḫalq). Zu Ṭabāṭabāʾ īs Ansichten siehe: Ḥusainī Ṭihrānī, Muḥammad Ḥusain (q1402/1981): Mihr-i tabān. Yādnāma wa muṣāḥibāt-i talmī¿ wa ʿ ālimi rabbānī-yi ʿ allāma-yi Sayyid Muḥammad Ḥusain Ṭabāṭabāʾ ī Tabrīzī. Ghom, Teheran. S. 150–160, 240 ff. 68 Vgl. Moris, Revelation, S. 115. 65 66

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formuliert. 69 Demnach ist die Gnosis nichts anderes als die Transfiguration des Subjekts durch die Aktualisierung ihrer verfügbaren Kräfte (»potentialités«), die sich nicht auf die Versprechungen im Diesseits bzw. auf die natürliche Vervollkommnung begrenzen, sondern die in sich übernatürliche Vervollkommnungen tragen, die Grundlage für die Wiederauferstehung des Leibes im Jenseits und den Aufstieg zu den erfaßbaren engelhaften Realitäten. Damit erreicht der Mensch die höchste Stufe der Weisheit, und die Weisheit ist ein Engelwerden des Menschen, so Jambet. So stellt sich die substantielle Bewegung als wichtigstes Fundament seiner Ontologie dar, mit der die Individualisierung im Sinne der Transformation gedeutet wird. Sie ist, wie Jambet formuliert, wie eine Energie, die sie »von Reich zu Reich« trägt, das Mineral in pflanzliches Leben und den Menschen in ein Engelwesen verwandelt. Die Welt der Erscheinungsformen ist Epiphanie, weil sie, so Jambet, eine Welt ist, die sich Gott vorstellt, weil er sich selbst in seiner Schöpfung vorstellt, die der erschaffene Gott ist. 70 Jambet versteht darunter den perfekten Gehorsam gegenüber der Ordnung des geschaffenen Gottes, der die Übereinstimmung mit der »imperativen Freiheit« des verborgenen Gottes ist. Diese totale Reversibilität des vollständigen Gehorsams und der unendlichen Freiheit ist laut Jambet der Sinn der sadraischen Eschatologie. Die absolute Freiheit des Ursprungs des Seins unterwirft sich der Kette des Existierenden durch den Hauch des Barmherzigen, der bei Ṣadrā das ausgedehnte Sein ist. Die Antwort auf die Freiheit des Mysteriums ist die Epiphanie seiner Spontaneität im perfekten Menschen, der sich ohne Vorbehalt unterwerfen kann, so wie die Engel einen Kreis in ewiger Anbetung um den göttlichen Thron bilden. Nach dieser Betrachtung steht die orientalische Denkweise eines Denkers wie Ṣadrā nach der Auffassung Jambets der westlichen Denkweise eines Denkers wie Hegel gegenüber. Bei Hegel gehen die Freiheit Gottes und die Ketten bzw. die Bestimmungen der Menschen eine SynVgl. Jambet, L’acte d’être, S. 40. Nach Foucault, Michel (2001): L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France, 1981–1982, Paris. 70 Corbin nach Jambet. Jambet, L’acte d’être, S. 176 f. Vgl. Corbin, Henry: L’Imagination créatrice dans le soufisme d’Ibn ʿArabī (2. Ausg., S. 144, 170). Vgl. Corbin, Creative. In diesem Zusammenhang wird auch M. Chodkiewicz zitiert: »Erst danach nimmt die Schöpfung Gestalt an in dem ʿ ālam al-khayāl. Erst danach bewohnt sie Bilder und Wörter, die sie denjenigen übermitteln kann, die keinen Zugang zu diesem Universum des reinen Lichts haben.« Siehe Jambet, L’acte d’être, S. 176 f. 69

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these ein im Gewand der Liebe und in den Ausformungen der Weltgeschichte. Das Zeitalter der Liebe ist das Zeitalter des Geistes, der in sich die Versprechungen des Sohnes verwirklicht. Hier bildet sich die Endharmonie der historischen Sphären, und der Widerspruch zwischen Irdischem und Geistigem wird aufgehoben. Dagegen vertritt Ṣadrā laut Jambet eine ganz andere Philosophie: Die Liebe ist die Erfahrung einer Spannung, einer nie abgeschlossenen Bewegung, einer Aufwärtsbewegung ohne Endpunkt. Das Reale bleibt unerreichbar versteckt, es sei denn in der Ekstase der Selbstauslöschung. 71 Gerade diese Unterschiede im Denken zwischen Hegel und Ṣadrā scheinen mir wichtig zu sein für die Perfektibilität, die in der tief islamischen Sicht eines Ṣadrā keineswegs ein Ende der Bewegung beinhaltet. Mit der Idee der substantiellen Bewegung setzt Ṣadrā nicht auf die Negation. Aus der Bewegung geht eine Auslöschung hervor, die die »Überexistenz« vorbereitet. 72 Damit ist gemeint, daß die Auslöschung keineswegs die Vernichtung ist, sondern sie kommt der Möglichkeit einer perfekten Stufe der Existenz gleich. Damit kommen wir zu der Frage zurück, die zu Beginn dieses Kapitels gestellt wurde: Wir wollen untersuchen, ob und inwiefern die Perfektion als ein bewußter und freiheitlicher Akt des menschlichen Wesens gesehen wird und von einem selbstgesteuerten Prozeß abhängt. Denn nur dadurch können wir erfahren, ob diese materielle Welt für die Perfektionierung eine unverzichtbare Bedeutung hat. Daher ist es wesentlich, die drei genannten Fundamente des menschlichen Wesens, nämlich Intellekt, Erkenntnis und Wille, etwas näher zu untersuchen, die für die Idee der Freiheit und Perfektion des Menschen zentral erscheinen und drei Eckpfeiler des vollkommenen Lebenswandels des Menschen in der islamischen Existenzphilosophie sind.

III. Der Intellekt des Menschen Schon in einer Überlieferung, die man dem Propheten Muḥammad zuschreibt, wird der Intellekt als erstes Geschöpf Gottes dargestellt. 73 Der Begriff ʿ aql, der in der philosophischen Sprache als »Intellekt« bzw. 71 72 73

Ebd., S. 178. Ebd., S. 193. Die Überlieferung lautet: »Das erste, was Gott schuf, war die Vernunft« (awwalu mā

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»Vernunft« gebräuchlich ist, kommt auch im Koran vor, 74 allerdings ausschließlich als Verb: Die Benützung des Intellekts bzw. der Vernunft erscheint als eine Tätigkeit des menschlichen Geistes. 75 In der Philosophie nimmt allerdings der Intellekt neben seiner ontologischen auch eine anthropologische und epistemologische Bedeutung an, denn mit ihm sind auch das Bewußtsein des Menschen und seine Perfektibilität eng verbunden. Neben dem universellen und von der materiellen Welt unabhängigen Wesen der Vernunft wird die personhafte Bedeutung der Vernunft im islamischen Verständnis leicht übersehen. 76 So wie es einen Gott gibt, gibt es nach den Philosophen auch eine erste Vernunft, aus der der zweite bis hin zum zehnten Intellekt entsteht. 77 Bei den Mystikern und bei vielen religiösen Denkern, auch unter den Philosophen, ist der Prophet die Vernunft selbst, bzw. seine Vernunft ist, laut einer Überlieferung und den islamischen Gelehrten, das erste Geschöpf. 78 ḫalaqa llāhu l-ʿ aql). Siehe as-Saǧǧāsī, Isḥāq Ibn Ibrāhīm Ibn Abī r-Rašīd Ibn Ġānim aṭṬāʾ ī: Farāʾ id as-sulūk. Hrsg. v. Nūrānī Wisāl/Ġulām Riḍā Afrāsiyābī (1368/1989). Teheran, S. 86. In einer weiteren Überlieferung wird die Vernunft als Krone der Schöpfung dargestellt: »Gott schuf keine Schöpfung, die besser ist als die Vernunft.« Siehe ar-Rāġib al-Iṣfahānī, Muʿ ğam, S. 354. Zur Erschaffung der Vernunft siehe auch Ibn ʿAbd Rabbihi al-Andalusī, al-ʿ Iqd al-farīd, Bd. II, S. 99. Das Beste, was Gott den Menschen verliehen hat, soll nach einer anderen Überlieferung die Vernunft sein. Siehe Anonym: Tuḥfat almulūk: Dar ādāb. (hrsg. v. Kitābḫāna-yi Tihrān 1317/1928). Teheran, S. 2. 74 Es gibt auch andere Begriffe, die man mit Aql sinngemäß verbinden könnte, wie ʿ Nachdenken (tafakkur), Bewußtsein (šuʿ ūr), die Einsichtigen (ūlū l-albāb), Unterweisung (tafaqquh) bzw. Verstehen (fiqh). 75 Der Koran nimmt eine pauschale Unterscheidung des Menschen hinsichtlich seiner rationalen Tätigkeit vor, die aber kaum als Sondermerkmal des Menschen taugt, welche ihn von allen anderen Wesen trennt. Nur an einer Stelle, an der die Ungläubigen im Koran mit Tieren verglichen werden, steht: »Sie sind taub, stumm und blind. Und sie haben keinen Verstand.« Siehe Koran 2/171. Mit dem Begriff »Verstehen« ist für den Menschen ein Aufruf bzw. Denkanstoß zu einem gewissen Nachdenken bzw. zu einer Bewunderung der göttlichen Macht verbunden, sogar eine Mahnung und Warnung für jenen, der sich Gott, seiner Schöpfung und seiner Macht gegenüber ignorant und nachlässig verhält. Doch wer verstehen oder nachdenken kann, muß ein vernunftbegabtes Wesen sein, und die Menschen werden im Koran als vernünftige Wesen angesprochen. 76 Dies wurde auch von al-Ḥillī, einem anerkannten Theologen, in seinem Kommentar zu dem Buch Kašf al-murād, Šarḥ Taǧrīd al-iʿ tiqād von Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī deutlich dargestellt. Al-Ḥillī, Ǧamāl ad-Dīn Ibn Muṭahhar: Kašf al-murād, Šarḥ Taǧrīd al-iʿ tiqād. Kommentiert, hrsg. u. übers. v. Abū l-Ḥasan Šaʿ rānī (61370/1990). Teheran, S. 229 ff. 77 Siehe Kapitel I. 78 Al-Ǧīlī, al-Insān al-kāmil, Bd. II, S. 33–36.

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Dies ergibt sich aus dem philosophischen Grundsatz »Vom Einen geht nur das eine hervor« (al-wāḥidu lā yaṣduru ʿ anhu illā l-wāḥid), 79 der besagt, daß die Vernunft das einzige ist, was hervorgebracht werden kann, und somit gilt sie als das, was den Ursprung alles Seienden ausmacht. 80 Obwohl die Vernunft einerseits als unkörperlich definiert wird, steht sie andererseits im Zusammenhang mit einer Vielfalt der geistigen Formen und Erscheinungen in der Welt. 81 Sie steht für die Person und ist zugleich Werkzeug des richtigen und guten Handelns und Denkens. Der »intellekthafte sprechende Geist« (pers. rūḥ-i nātiqa-i ʿ aqlīya), 82 den wir als »Vernunftseele« bezeichnet haben, zeichnet den Menschen unter allen Geschöpfen aus. Mit dessen Kräften nimmt der Mensch wahr, koordiniert die körperlichen Organe, vesorgt die Nahrungs- und Nervensysteme, setzt die Fortpflanzung in Gang, führt die Sinne, das Denken, die Einbildungskraft und die Erinnerung. 83 All diese Tätigkeiten werden unter drei Hauptkräften, die die Seele des Menschen innehat, subsumiert, nämlich die animalische, die personhafte und die naturhafte: In der sadraischen Philosophie wurden sie ebenso Tierseele, Vernunftseele und Naturseele genannt. 84 Die Einbildungskraft (quwwa ḫayālīya) ist das stärkste Vermögen der Seele, das dem Intelligiblen entspricht. Die Vorstellung einer »Vernunftseele«, die das menschliche Wesen auszeichnet, prägt damit das islamische Menschenbild. Der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Lebewesen durch diesen Intellekt, der keineswegs ein bloß diskursives, rationales oder partikulares, sondern ein umfassendes sinnfernes, intellekthaftes Siehe dazu al-Fārābī, Ārāʾ , S. 52 ff.; Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. 3. S. 122 ff.; aš-Šīrāzī, alAsfār, Bd. VII, S. 204 ff. 80 Muḥammad ibn Maḥmūd Hamadānī (gest. ca. 1300) definiert die Vernunft in seinem Werk »Die Wundersamen unter den Erschaffenen und die Fremdartigen unter den Existierenden« folgendermaßen: »Wisse, daß der Intellekt das edelste unter den Geschöpfen ist. Man sagt, daß die Seele [ǧān] Reittier des Intellekts ist. Der Intellekt ist eine Substanz aus Licht, einfach und umfassend allen Dingen gegenüber, und er ist das Erste, was Gott erschuf.« Muḥammad ibn Maḥmūd Hamadānī: ʿAǧāʾ ib-Nama. ʿAǧāʾ ib al-maḫlūqāt waġarāʾ ib al-mauǧūdāt. Hrsg. u. eingel. v. Ǧaʿ far Mudarris Ṣādiqī (1375/1996), Teheran, S. 73. 81 Zur Intellektlehre siehe Davidson, Herbert A. (1992): Alfarabi, Avicenna, and Averroes, on Intellect: Their Cosmologies, Theories of the Active Intellect, and Theories of Human Intellect. Oxford University Press. 82 Hamadānī verwendet rūḥ als Synonym für ǧān. 83 Ebd., S. 81. 84 Aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašā ir, S. 208 ff. ʿ 79

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(Entfaltungs-)Vermögen bezeichnet. Was in der islamischen Philosophie als Intellekt bezeichnet wird, ist primär ein transzendentales Vermögen, wofür man in der philosophischen Sprache ebenso den Begriff ʿ aql, der im Allgemeinen auch mit »Vernunft« übersetzt werden kann, verwendet. Ob der Intellekt auch das menschliche partikuläre Verstandesvermögen, mit dem der Mensch denkt und handelt, umfaßt bzw. ob die menschliche Vernunft, sei sie rational bzw. diskursiv, sei sie praktisch bzw. empirisch, auch ein Aspekt der transzendentalen Intellektwelt ist, ist eine Frage, die im Kontext der sadraischen Prozeßphilosophie nur zu beantworten ist, wenn sie im Zusammenhang mit seiner Lehre der evolutionären Seinsentfaltung gedacht wird. In seiner Existenzphilosophie unterscheidet Ṣadrā vier Intellektarten, die er in Anlehnung an Aristoteles in vier Stufen aufzeichnet: 85 der »potentielle Intellekt« (ʿ aql bi-lquwwa), der habituelle Intellekt (ʿ aql bi-l-malaka, intellectus in habitus), der aktuelle Intellekt (ʿ aql bi-l-fiʿ l) und der erworbene Intellekt (ʿ aql mustafād, intellectus aquisitus, aquisitiver Intellekt/epiktetos). Ṣadrā nennt in seinem Kommentar zu »Uṣūl al-kāfī« noch andere als diese vier Arten des Intellekts, die jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen Anwendungen in diesem Zusammenhang nicht weiter berücksichtigt werden. Die unterschiedlichen Stufen der Vervollkommnung der menschlichen Seele entsprechen den oben genannten vier Intellektarten. Der potentielle Intellekt hat nur die Fähigkeit zur Perfektibilität. Ṣadrā meint, dies sei ein Vermögen der Seele, ja die Seele selbst in ihrem Entstehungsbeginn. Der habituelle Intellekt ist gleichfalls ein Vermögen der Seele, sogar die Seele selbst hinsichtlich der Fähigkeit, die Formen der Existenzen von ihrer realen Extension zu trennen und sich mit ihnen zu vereinigen. Der aktuelle Intellekt ist jene Stufe der Seele, deren primäre Existenz sich in eine säkundäre Disposition bzw. Existenz (fiṭra ṯānīya oder pers. wuǧūd ṯanawī) verwandelt. Hier vereint sich die Seele mit den Intelligiblen (al-maʿ qūlāt), wodurch sie zum aktuellen Intellekt wird (ʿ aql bi-l-fiʿ l) und intelligibel in ihrem Wesen (maʿ qūla fī anfusihā). Hiermit werden Intellekt (ʿ aql), Intellegierende (ʿ āqil) und Intelligible (maʿ qūl) vereint. Der erworbene Intel-

Diesen aristotelischen Ansatz entnimmt er der Überlieferung von Alexander Aphrodis. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 418 ff., 428–432. Siehe dazu Rudolph, Islamische Philosophie, S. 35.

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lekt ist damit eine Stufe dieser Essenz, in der er jederzeit die Intelligiblen ohne Mühe und Bedarf an Trennung vor sich hat. 86 Mit dieser Aufteilung des Intellekts legt Ṣadrā eine Vernunftdefinition vor, die die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten und Vollkommenheitsstufen des Intellekts darstellt und den unterschiedlichen Aspekten und Vollkommenheiten der Seinsstufen entspricht. In der Philosophie von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī kommt diese konzeptionelle Gesamtheitsdarstellung der Existenz und ihre Verbindung mit der individuellen Selbstentfaltung deutlich zum Ausdruck, denn alle Entwicklungen, Entfaltungen und Vervollkommnungen finden auf dem Boden des Seinsaktes statt. Diese Intellektzustände stehen, wie bereits dargelegt, in einer sich ergänzenden Beziehung zueinander, die erst durch einen Prozeß, eine Art evolutionärer Entwicklung, ausgelöst durch den Menschen, erreicht werden kann. Dieser Prozeß wird auch von jenen Denkern, die eine substantielle Bewegung widerlegen, betont. Der Mensch ist insofern nicht primär reiner Intellekt, auch wenn er und die Welt generell aus dem ersten Intellekt erschaffen wurden. 87 Wie wir bereits bei Ṣadr adDīn aš-Šīrāzī gesehen haben, verdanken die gesamten Lebenserscheinungen ihr Dasein dem einzigen und notwendigen Sein, das sich in allen Stufen des Daseins befindet. Die materielle Welt ist die letzte Stufe, die sich zwischen Sein und Nichtsein befindet. Die Überwindung der Welt ist notwendig, da das Sein nur in seiner Vollkommenheit bestehen kann. Ṣadrā betrachtet daher, wie angedeutet, das Sein in drei Erscheinungsmodi: 1.) Es ist vollständig und gehört der Welt der reinen Transzendenz und des Intellekts an. 2.) Es ist unabhängig in seiner Substanz und ist die Welt der Lebensseele, die der Ideen und die der abstrakten Vgl. aš-Šīrāzī, Šarḥ Uṣūl, Bd. I, S. 226 f. Besonders bei dem Dichter und Mystiker Ǧalāl ad-Dīn Rūmī kann man die Vorstellung finden, daß der Mensch nicht als reiner Intellekt bestimmt ist. Der Mensch befindet sich zwischen der Welt des Intellekts und der Begierde: »Wahrlich, Gott schuf die Engel und legte in sie den Intellekt, und Er schuf das Vieh und legte in sie die Begierde, und Er schuf die Kinder Adams und legte in sie Intellekt und Begierde. Der, dessen Intellekt seine Begierde übersteigt, ist höher als die Engel, und der, dessen Begierde seinen Intellekt übersteigt, ist niedriger als das Vieh.« Rūmī interpretiert und ergänzt diese Zeilen mit einem Gedicht, in dem sich der Mensch in Unruhe und Kampf zwischen zwei Zuständen bzw. zwei Naturen befindet: »Der Engel ist voll Wissen, unwissend ist das Tier, im Kampf ist zwischen beiden das arme Adamskind!« Zitiert nach Rūmī, Ǧalāl ad-Dīn: Fīhi mā fīhi. Von Allem und vom Einen. Übers. von Annemarie Schimmel (1988). München, S. 150.

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Gestalten. 3.) Es ist unvollständig und in seinem Dasein abhängig von anderen Existenzen, wie auch die sensitiven Gestalten. All diese drei Seinsformen haben ihren Ursprung und ihr Leben im ewigen und perfekten Sein. 88 Alle körperlichen Aktivitäten und ihre Wirkungen befinden sich daher in einer niedrigen Seinsform, die substantiell veränderbar ist und sich zwischen Sein und Nichtsein bewegt. Diese kann nur existieren, wenn das Sein seine Gestalt aus der reinen Potentialität in die Aktualität versetzt und sich in eine Daseinsform begibt, die eine Steigerung in die Intellektwelt möglich macht. Genau diese Intellektkraft des Menschen ist das Instrument und die Möglichkeit der Steigerung und Perfektionierung in die Welt der transzendentalen Intellektwelt, die in der diesseitigen Welt zunächst mit der Seele als rein potentielle Kraft bzw. als Vermögen der Seele erscheint. Daher bereitet das Sein die Möglichkeit zur Perfektion vor wie eine Energie, die den Menschen den Anstoß gibt, sich der Welt des absoluten Intellekts anzuschließen. Ṣadrā spricht daher von einem »Intellektsvermögen« (quwwa ʿ āqila), das sich im niedrigsten Seinszustand befindet. Solange der Intellekt vom Körper abhängig ist und sich von der materiellen Welt führen läßt, ist er nicht aktuell und damit noch nicht vollkommen. Demzufolge ist die Seele in ihrer Anfangsphase die Form dieser Potentialität und die Zielrichtung der Aktualität und der Vervollkommnung dieser Potentialität. 89 Ṣadrā ist sich dessen bewußt, daß die Überwindung der materiellen Welt nur als ein geistiger Akt begründet werden kann, denn sonst könnte man von einer Tautologie, von einer Überwindung der Welt durch die Welt sprechen. Ebenso ist er sich dessen bewußt, daß die Vorstellung der Einheit des Seins einen einheitlichen Akt impliziert, der durch alle Stufen der Existenz geht, und daher stellt sich die Frage, die Ṣadrā scheinbar auch immer vor Augen hat, wie die Perfektibilität als ein vorprogrammiertes Gut des Seins und der Welt des Intellekts mit dem eines bewußten Akts des Menschen vereinbar ist. Wie kann man daher von einer bewußten und gewollten Selbstvervollkommnung sprechen? Ṣadrā stellt schon zu Beginn seines Werkes sein Verständnis der Vollkommenheit dar. Nach seiner Existenzphilosophie ist die Vollkommenheit nicht auf Menschen beschränkt. Jedes Lebewesen hat eine ei88 89

Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 500 f. Vgl. aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 303 ff.

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gene und ihm spezifische Vollkommenheitsstufe. Auch der Mensch befindet sich aufgrund seiner geistigen Fähigkeit auf einer Stufe der Existenz, die seine spezielle Vollkommenheit (kamāl ḫāṣṣ) ausmacht. Ṣadrā versteht darunter die Möglichkeit der »intellektuellen Rückkehr« des Menschen in die Welt der Intellegiblen (maʿ qūlāt), in der alle anderen Stufen und Möglichkeiten der Vollkommenheit, die für die anderen Lebewesen spezifisch sind, bereits vorhanden sind. 90 Denn der Mensch als solcher ist der Übergang von der letzten und höchsten Stufe und vom Vollkommenheitsgrad des Tierseins zum ersten Vollkommenheitsgrad des Menschseins. 91 Ṣadrā sieht diese spezifische Vollkommenheitsfähigkeit des Menschen allerdings in seiner Fähigkeit zur Erkenntnis, die er in dieser Welt für die Perfektionierung seines Wesens erwerben kann, was Jambet als eine Bekehrung zu Gott formuliert, die die Selbstvervollkommnung bedeutet und den Bruch mit allen Transaktionen beinhaltet. 92 Das ist für Ṣadrā die spezielle Aufgabe des Menschen, die er in der Einleitung seines Hauptwerks klar formuliert, und auch Jambet hebt an dieser Stelle hervor, daß derjenige, der vernünftig ist (al-ʿ āqil), sich den wichtigsten Beschäftigungen zuwendet und nicht nachläßt in seinem Verlangen, sein ganzes Leben der vollständigsten Selbstvervollkommnung zu widmen, nachdem er die anderen Wissenschaften und Kenntnisse erworben hat. 93 Jambet sieht in Sadrās Überlegungen eine klare Botschaft und nimmt an, daß Ṣadrā geradezu in Melancholie verfallen müßte, wenn er an die Situation in seinem Land denkt, in dem Verblendung durch Weltlichkeit vorherrscht. Das philosophische Ziel Ṣadrās ist es, die Welt zu vereinen, ihr zu ihrem Ursprung zu verhelfen, was Perfektionierung voraussetzt. Der menschliche Intellekt steht damit als Grenzlinie zu dieser Vollkommenheit. Denn er ist eine transzendentale Kraft. 94 Der menschliche Geist ist eins mit dem Herzen, die Liebe folgt aus der Wahrnehmung des Seins, weil dieses ganz rein ist, wie Jambet formuliert. Gott über den Geist zu erkennen heißt, sein eigenes Ich von allen sterblichen Banden, von allen Bedrängnissen der Materie und der Leidenschaften zu befreien. Daher kommt Jambet zu dem Schluß, daß der Intellekt in der sadraischen Phi-

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Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 1 f. Vgl. aš-Šīrāzī, aš-Šawāhid, S. 303. Jambet, L’acte d’être, S. 22. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 2. Jambet, L’acte d’être, S. 38.

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losophie nicht mit vernunftgesteuerter Gedankenführung verwechselt werden darf. Jambets Auffassung ist richtig, wobei darauf hingewiesen werden muß, daß diese intellektuelle Stufe bereits die vollendete Stufe der menschlichen Seele darstellt. Nach der Definition der Philosophie bei Ṣadrā stoßen wir auf eine Grundidee seiner Existenzphilosophie insofern, als daß sowohl die Erkenntnisstufe als auch die Existenzstufe des Menschen und seine Intellektstufe nicht voneinander getrennt gesehen werden dürfen: »Die Philosophie ist die Vollendung [istikmāl] der menschlichen Seele mit der Erkenntnis der Wesen der Existierenden, wie sie sind [ʿ alā mā hiya ʿ alaihā]. Die Zustimmung zu ihrer Existenz verwirklicht sich durch Beweise, nicht durch Vermutung [bi-ẓ-ẓann] oder durch Nachahmung [at-taqlīd], nach dem Ermessen der Möglichkeit des Menschen. Wenn du willst, kannst du sagen, die Ordnung der Welt ist eine geistige Ordnung [naẓm ʿ aqlīy] nach dem Ermessen des menschlichen Vermögens zur Erlangung der Ebenbildlichkeit [tašabbuh] mit dem erhabenen Gott.« 95

Ṣadrā meint damit, und das betont er auch in seinem Buch »aš-Šawāhid ar-rubūbīya«, daß die menschliche Seele die Grenzlinie zweier Welten ist, der Zusammenfluß zweier unterschiedlicher Meere, und da der Mensch die Mischung aus immateriellen und materiellen Substanzen darstellt, ist auch die Philosophie als Erkenntnismittel zweierlei Aspekten unterworfen: der theoretischen, abstrakten (von der Materie unabhängigen) und der praktischen, gebundenen (von der Materie abhängigen). Nach diesem Muster ordnet er auch die Welt der beiden Erkenntnisarten. Wenn der Prophet Gott darum bitte, daß Gott ihm die Dinge so zeige, wie sie seien, 96 dann sei damit der Bereich der theoretischen Philosophie, also die Kenntnis der abstrakten Welt, gekennzeichnet. Diese ist die Abbildung des Seins in der Seele, was ihre Ordnung, Vollkommenheit und Vollendung betrifft. Das heißt, die Seele verwandelt sich aufgrund ihrer Abbildfähigkeit, in der die Gestalt des wahren Seins widergespiegelt werden kann, zu einer Intellektwelt. Diese theoretische Philosophie erklärt also den Menschen als Teil einer geistigen Welt, die Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. 1, S. 20. Dies geht aus einer Überlieferung hervor, der zufolge der Prophet Gott darum bat, ihm die Dinge so zu zeigen, wie sie wirklich sind (Allāhumma arinī l-ašyāʾ a kamā hiya). Siehe ebd., S. 21.

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ähnlich wie die Welt des Realen ist, nicht aber der Materie, sondern der Form nach. Jambet ist sich dieses Ziels der sadraischen Philosophie bewußt, daß die Vervollkommnung ein intellektueller Akt ist und die Praxis seiner selbst und die Vertiefung seiner selbst. Der Weg, der zur vollkommenen Aktualisierung des Einsehbaren führt, ist das Heil. 97 Hier verweist Jambet auf die Beziehung von Ordnung und Ähnlichkeit, denn die Metaphysik ist in der sadraischen Philosophie die Entdeckung der göttlichen Ordnung. Wenn der menschliche Geist diese Ordnung erkennt und anwendet, ähnelt er Gott. Der Aufstand gegen das Chaos und die Unordnung sowie gegen die Finsternis hat nicht eine politische Umgestaltung der Gesellschaft zum Ziel, sondern das Erreichen des individuellen Heils, das wiederum zum Ferment einer gesellschaftlichen Metamorphose werden kann. 98 Im Unterschied zur Metaphysik von Avicenna 99 habe die Metaphysik von Ṣadrā im wesentlichen einen Aspekt der individuellen und nicht der »politisch-gesellschaftlichen Heilsfindung«, betont Jambet, worauf wir in dem Kapitel »der Umgang mit der Freiheit« zu sprechen kommen werden. Da die Philosophie die Ordnung der Welt aufdeckt, ahmt sie den Schöpfer nach und hat Ähnlichkeit mit den Handlungen Gottes, soweit das für den Menschen möglich ist (nach al-Kindī). Durch die Annäherung an Gott in seiner Ähnlichkeit mit dem Menschen geht die »sensible« Geburt zur »suprasensiblen Geburt« über. 100 Form und Materie trennen sich, um die Wiederauferstehung zu ermöglichen. Dadurch kann gleichzeitig die Form in ihre spirituelle Form zurückkehren, deren Quelle der Imperativ bzw. das göttliche Wort ist. Die Möglichkeit, diese Dualität von Materie und Geist zu überwinden, wird darin gesehen, daß der Mensch als einziges Wesen dazu in der Lage ist, sich über den Tod hinaus zu bewegen. Das verdankt er seinem Intellekt, der dem Geist Gottes entsprungen ist, und der es ihm ermöglicht, die völlige Einheit zu erlangen. So wie das Leben nur in der Perfektion vollkommen und ewig sein kann, so kann auch der Mensch nur in der Perfektion »überleben«. Nur in einem perfekten Menschen besteht das Leben in seiner vollen Form. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 44. Ebd., S. 49 f. 99 Zu Avicennas Darstellung von Metaphysik siehe Wisnovsky, Robert (2003): Avicenna’s Metaphysics in Context. London. 100 Jambet, L’acte d’être, S. 51. 97 98

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Ṣadrā zeigt damit, daß der Mensch sich mit der göttlichen Einsicht verbinden kann, weil der Mensch in sich die Spur dieser freien Totalität des Seins und des Denkens trägt. Und genau dadurch kann er sich von der Vernichtung bzw. Auflösung befreien, und der Schlüssel darin liegt in der Perfektion. Damit scheint mir, daß der menschliche Intellekt in der sadraischen Existenzphilosophie zum einen als Ersatz des verlorenen Seinsursprungs erfaßt werden kann und zum anderen die Möglichkeit zum freien Selbstentwurf des Menschen vorbereitet.

IV. Die Vernunft als Ersatz des verlorenen Seinsursprunges Mit der anthropologischen Bedeutung der Vernunft hängt eine weit grundsätzlichere Frage zusammen, die die Rolle der stufenweisen Entfaltung des Intellekts für die schöpferische Selbstgestaltung des Menschen betrifft. Die Frage ist, wie das Verhältnis von Vernunft und Freiheit einerseits und von Vernunft und Religion andererseits zu verstehen ist. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst überprüfen, ob und inwiefern die menschliche Vernunft angesichts der Existenzphilosophie autark sein kann. Wir fragen mit anderen Worten nach der Erscheinungsart des Intellekts im Menschen in seinem diesseitigen Leben. Wie bereits dargelegt, ist der Intellekt von der Seele des Menschen nicht zu trennen, und der Intellekt steht daher nach der Existenzphilosophie Ṣadrās mit der Entstehung der Seele im Menschen als Beginn des Menschseins in Zusammenhang, und zwar als ein menschliches Vermögen, mit dem der Mensch in der Lage ist, Mensch zu sein. Dieses Menschsein ist jedoch für einen Anhänger der mystischen Schule im Islam wie ʿAzīz ad-Dīn Nasafī gerade der Eintritt in einen Kampfzustand. Der Ausbruch eines solchen Kampfzustandes hängt damit zusammen, daß der Mensch sich des Intellekts bedient und sich zu einem Vernunftwesen gemacht hat, was ihn auffordert, sich zu verpflichten. D. h., daß der Mensch sich durch seine Intellekthaftigkeit von dem existentiellen Urzustand, in dem der Mensch in reiner Harmonie und Übereinstimmung mit der göttlichen Gehorsamspflicht engelhaft existierte und frei von jeglicher Moralität und Bedrohung durch die Nichtexistenz war, entfernte und damit in einen Zustand der Gegensätze und der Bedürfnisse verfiel, der nach Nasafī den Unterschied zwischen der diesseitigen Welt und dem paradiesischen Urzustand bedeutet, wie er es ontologisch darstellt. 185 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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Wie wir im letzten Kapitel ausgeführt haben, betrachtet Nasafī den Keim des Menschen als Substanz des Mikrokosmos, der den Makrokosmos widerspiegelt. Dieser Keim liebt sich selbst. Er will seine Schönheit (Ǧamāl) erblicken und seine Namen und Attribute anschauen, und so kam er in Erscheinung. Das ist für Nasafī die aktuelle Welt, die durch den Akt der Liebe aus dem Potentialitätszustand heraustritt. Daher ist für Nasafī diese detaillierte Welt, die wir die thematische Welt genannt haben, nichts anderes als die Folge der Selbstliebe, die den Keim aus der Welt des Unthematischen (iǧmāl), hervorgebracht habe. 101 Diese Selbstliebe steht einer vorübergehenden Selbstsucht gegenüber. Der Mensch befindet sich hier auf der Erde in einem permanenten Kampf mit der natürlichen Begierde und sucht die Befreiung des Geistes vom Gefängnis des Körpers bzw. der Finsternis. Mit dem Eintritt in die materielle Welt tritt der Mensch sozusagen in einen moralischen Zustand ein. Nasafī stellt mit seiner eigenen Sprache diese von der Moralität bzw. Pflicht freie Welt als erstes Paradies dar. Er betont, daß diesem Paradies keine Gegenwelt in Form einer Hölle gegenübersteht. Diese erste Welt ist mufradāt (Atome, nicht zusammengesetzte Teilchen), gemeint sind mit mufradāt auch die abstrakten Wesen, die noch nicht in den Zustand der zusammengesetzten Naturreiche eingetreten sind. Sie sind die singulären Formen des Geschöpfes in der Welt des Geschaffenen, 102 frei von Sinnlichkeit und Wissen, frei von Schmerz und Genuß. Dies ist für ihn eine Art unveränderbarer »Naturzustand«, frei von jeglichem Kampf. Adam und Eva waren in dieser Welt (allerdings nicht im Sinne von »Personen«). Als Gott Adam und Eva in die Welt des Daseins brachte, in das »sogenannte zweite Paradies«, das ebenfalls frei von Gegensätzen und materiellen Nöten war, war diese Welt für sie keine Welt der Gegensätze, keine Welt des Teufels (šaiṭān), sie war sogar nicht existent. Nasafī meint, sie seien lediglich dazu aufgefordert worden, sich nicht dem »Baum des Gemütes« (daraḫt-i mizāǧ, dem Baum der Mischung) zu nähern. 103 Da sie sich nicht an die Aufforderung hielten, kamen sie zusammen mit dem Teufel in das dritte ParaSiehe Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 86. Nasafī ist der Auffassung, daß die mufradāt beständig sein und herabsteigen können, aber sie können nicht hinaufsteigen, außer wenn sie den Zustand der Zusammengesetzten (murakkabāt) erreicht haben, die wiederum nicht beständig seien können. Siehe ebd., S. 279. 103 Über den Begriff siehe unten Anmerkung 574. 101 102

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dies. Dieses Paradies nennt er die »zusammengesetzte Erde«. Hier wiederum wurden sie aufgefordert, sich nicht dem Baum des Intellekts zu nähern. Als sie sich letztlich durch die Annäherung an den Baum des Intellekts in das vierte Paradies herabstuften, wurden sie nach Nasafī zu »Unterdrückern« bzw. »Frevlern« (ʿ ālim/Selbstverfehler). Nach dieser Ausführung geht Nasafī auf die normative Folge dieses Ereignisses ein. »Oh Derwisch! Sie wurden daher zu Frevlern [Unterdrückern], weil sie sich dem Baum des Intellekts näherten, sie wurden nicht dazu aufgefordert. Ihnen waren keine Gebote und Verbote vorgegeben, ihnen wurde weder das Tun noch das Unterlassen befohlen, sie wurden weder getadelt noch wurde etwas von ihnen verlangt. Was sie auch immer sagten, mit wem sie auch sprachen, was sie auch immer machten, mit wem sie es taten, was sie auch immer aßen, von woher sie auch aßen, sie waren keine Frevler. Nachdem sie sich dem Baum des Intellekts genähert hatten, wurden sie verpflichtet, und so entstanden Gebote und Verbote. Wenn sie nun den Geboten und Verboten nicht nachgingen, dann wurden sie ungerecht.« 104

Im vierten Paradies bilden sich nach Nasafī die sechs menschlichen Existenzaspekte, denn neben Adam, Eva, Satan, die aus dem zweiten Paradies in das dritte Paradies herabstürzten, kommen in dem vierten Paradies Diabolus (iblīs), Pfau und Schlange hinzu: Diese sechs Wesen entsprechen den sechs Existenzaspekten des Menschen: Geist, Körper, Natur, Illusion, Begierde und Zorn. Was vorher in einem paradiesischen Zustand unbedenklich war, ist nun bedingt erlaubt. Der Mensch muß sich sozusagen wieder neu einstellen. Nasafī geht es genau darum, was er in der Sprache der Mystik zum Ausdruck bringt. Er stellt eine analoge Beziehung zwischen den epistemischen Konstitutionen des Menschen und der achtstufigen Darstellungsweise des Paradieses her: »Wisse, manche sagen, daß die Türen der Hölle sieben sind und die Türen des Paradieses acht. Das ist auch korrekt, weil die Bewußtseinsstadien des Menschen acht sind, d. h. die Perzeptionen des Menschen acht sind, die fünf Sinnesorgane, die Imagination [ḫayāl], die Einbildung [wahm] und der Intellekt [ʿ aql]«.

Nasafī meint weiter: »Wenn diese sieben Organe nicht unter der Herrschaft des Intellekts agieren, unterwirft man sich der Natur, und sie werden die sieben Türen 104

Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 305.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

der Hölle sein. Und wenn diese Sieben [sieben Organe] sich der Herrschaft des Intellekts beugen, dann werden sie die acht Türen des Paradieses werden.« 105

Dieser existentiellen Transformation von einem paradiesischen zu einem höllischen Zustand in vier Paradiesstadien folgen noch weitere vier Paradiese, die von der Entstehung des Geschöpfes aus seinem irdischen Zustand hin zu der Erlangung der göttlichen Welt reichen. Den gesamten Prozeß der menschlichen Lebensentwicklung teilt er also in acht Paradiese ein, denen jeweils ein Baum zugeordnet wird. Es sind dies der Baum der Möglichkeit, des Seins, der Licht-Finsternis-Mischung (mizāǧ), 106 des Intellekts, der Schöpfung, der Erkenntnis, des Lichtes Gottes und des Vereintseins mit Gott. 107 Wie wir sehen, versteht die anthropologische Darstellungsweise Nasafīs das Paradies und die Hölle als zwei existentielle Zustände des Menschen, die eng mit der Idee der Vollkommenheit und Unvollkommenheit des Menschen einhergehen. 108 Nasafī zeigt mit seiner Ausführung, daß der Prozeß des menschlichen Daseins hin zu seiner Vervollkommnung ein Zustandsprozeß ist. Man bewegt sich zwischen der Welt des Reinen, Freien und Perfekten und dem Verhaftetsein der Welt mit dem Unreinen, Unfreien und Unvollkommenen. Man steigt als mufradāt in die Welt des Daseins hinab und steigt als murakkabāt in die Welt der Ewigkeit und Vollkommenheit hinauf. Die irdische Welt ist damit zum Ort des moralischen Aktes erhoben. Der Mensch befindet sich sozusagen in einem dualen Zustand, in dem er von gegensätzlichen Kräfte angezogen wird. Er ist geleitet von natürlichen Trieben und einem göttlichen geistigen und instinkthaften Vermögen. Diesen moralischen Zustand nennen wir einen »Kampfzustand«. Um ein besseres, beständiges und unbedingtes, nämlich das wahre Leben zu erreichen, befindet sich der Mensch in einem »geistigen Existenzkampf«. Der Mensch ist zwar diesseitig am Leben, aber nicht im Frieden. Diesen bekommt er durch zwei Dinge, wie Hamadānī formuliert: durch die

Ebd. In seiner Ontologie schildert er, daß durch die Vermischung der Natur und der Formen der vier Elemente ein Lebenszustand hervorkommt, den er mizāǧ nennt. Daher ist Nasafī der Meinug, daß mizāǧ (wörtl. Temperament) sich sowohl im Körper wie auch im Geist des Menschen befindet. 107 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 306. 108 Ebd., S. 302 f. 105 106

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Die Vernunft als Ersatz des verlorenen Seinsursprunges

Gnade Gottes (faḍl-i rabbānī) und das permanente »Sich-Bemühen«, den asketischen Kampf (muǧāhada). Ziel sei, daß der Ruheplatz im diesseitigen Leben zum Ruheplatz im jenseitigen Leben wird. 109 In diesem Sinne formuliert Saʿ d ad-Dīn Ḥammūya (gest. 1252), der Wegbegleiter und Lehrer ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs: »Der sich der Einheit zuwendet, sich von allem außer Gott abwendet, sich der Uneinigkeiten [tafriqa, wörtl. Teilung, Entzweiung] enthält und auf dem rechten Weg befindet, der erreicht das ewige Paradies und bekommt das ewige Leben [pers. ab-i ḥayāt, wörtl. das Wasser des Lebens].« 110

Der Mensch steht stets unter einem »Vervollkommnungstrieb«, der allerdings kein natürlicher ist. Sein »kämpferischer Geistes- und Vervollkommnungstrieb« ist gegen sich und auf sich selbst gerichtet. Er besteht aus Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle, Selbstüberwindung und höchster moralischer und geistiger Selbstoptimierung, worauf wir noch näher eingehen werden. Die Aufgabe des Menschen ist die Bewältigung der Notwendigkeit des Lebens und die Überwindung der äußeren und inneren Triebe zugleich. »Oh Derwisch! Je mehr Entwicklungsstufen [Entwicklungsschritte] der Mensch genommen hat, desto weiser und stärker in seiner Bereitschaft wird er. Die Arbeit wird für ihn jedoch etwas schwieriger. […] Wenn du meine Begegnung erlangt hast [hier läßt Nasafī Gott sprechen] und im wahren Paradies ankommst, wird dein Wissen vollkommen. Wenn du mich gefunden hast, hast du die beiden Welten gefunden, und du weißt alles. Es wird dir nichts von der materiellen, himmlischen und essentiellen Welt verborgen. Dieses Paradies ist das Paradies, und dieser Genuß ist der Genuß.« 111

Nasafī zeigt damit, daß die Erschaffung der materiellen Welt mit der menschlichen Unvollkommenheit und die Herstellung des paradiesischen Zustandes mit seiner Vollkommenheit und Beteiligung einhergeht. In diesem Paradiesverständnis verliert der koranische Vorwurf, der Mensch habe aufgrund seiner Annäherung an den verbotenen

Hamadānī, Yūsuf: Rutbat al-ḥayāt. Eingel. u. hrsg. v. Muḥammad Amīn Riyāhī (1362/1983). Teheran, S. 26–33. 110 Ḥammūya, Sa d ad-Dīn: Al-Miṣbāḥ fī t-taṣawwuf. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Hirawī ʿ (1362/1983). Teheran, S. 76. 111 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 307 f. 109

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Baum widerspenstig gehandelt, 112 seine negative Bedeutung. 113 Nasafī entscheidet sich unseres Erachtens bewußt für eine positive Formulierung. Er stellt das Paradies, wie es zu formulieren wäre, als einen »vormoralischen Zustand« dar, da der Mensch außer dem Verzicht auf jenen verbotenen Baum keine anderen Verpflichtungen, Tugenden und moralischen Normen vorgeschrieben bekam. Er lebte sozusagen sorglos und frei von äußeren und inneren Zwängen. 114 Seine einzige Tätigkeit war allein die Anbetung Gottes, die nicht näher dargestellt wird. 115 Das Paradies steht zudem als Ziel der menschlichen Vollkommenheit. Aus dem Absturz aus dem Paradies, womit auch die Entstehung der materiellen Welt möglich bzw. notwendig geworden ist, auch wenn es in der Formulierung Nasafīs an die christliche Vorstellung der Sünde erinnert, 116 entsteht ein Prozeß, an dem der Mensch eigenverantwortlich, aus eigener Natur heraus, beteiligt ist. Hier treffen der Anfang und das Ende zusammen. Der Schlüssel für das Ganze ist hiermit nicht die Sünde, sondern die Perfektion. Nasafī sucht hinter der koranischen Erzählung über das paradiesische Leben von Adam und Eva eine Idee, mit der er den Entstehungsprozeß, die Menschwerdung und die Idee der Vollkommenheit zur Wesensbestimmung des Paradieses macht. Zudem stellt dieser Prozeß Adam wird von Gott von der oberen Welt in die untere Welt, auf die Erde, verbannt, da der Mensch sich der einzigen »Verpflichtung«, die Gott ihm auferlegte, widersetzte. Er näherte sich nämlich dem verbotenen Baum und aß von dessen Früchten. Siehe Koran 2/35 ff., 7/19–27, 20/115–117. 113 Siehe Koran 20/121. 114 Gott sprach zu Adam, warnte ihn vor dem Satan und sagte: »Du brauchst darin weder zu hungern noch (aus Mangel an Bekleidung) zu frieren (w. nackt zu sein), weder zu dürsten noch unter der Sonnenhitze zu leiden«. Siehe Koran 20/118–119. 115 Vgl. Kāšānī, S. 109. Ob der Mensch, für den hier die Person Adam steht, in seinem paradiesischen Zustand natürliche Bedürfnisse oder Triebe hatte oder Gefühle besaß, kann man den Erzählungen außerhalb des Korans nur indirekt entnehmen. Ob die paradiesischen Bedürfnisse mit den irdischen identisch sind, dazu kann man nur Vermutungen anstellen. Muṭahhar Ibn Ṭāhir Muqaddasī schreibt in seinem Buch »Āfarīniš wa tarīḫ«, daß Adam sein Wissen von Gott direkt bekam und unmittelbar mit ihm sprechen konnte. Adam soll das schönste Wesen gewesen sein, das von Gott geschaffen wurde. Nach seiner Ausführung muß er bartlos gewesen sein. Sein Alter wurde auf etwa tausend Jahre geschätzt. Ein sexueller Trieb irdischer Art wird dem Menschen erst auf der Erde zugeschrieben. Vgl. Muqaddasī (al-Maqdisī), Muṭahhar Ibn Ṭāhir: Āfarīniš wa tarīḫ. Bd. 3. Übers. v. Muḥammad Riḍā Šafīʿ ī Kadkanī (1349/1970). Teheran, S. 8. 116 Siehe Schmaus, Michael (1965): Das Paradies. Festrede bei der Jahresfeier der Universität München am 21. November 1964. München. 112

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einen »Widerstand des Menschen« dar, 117 der die Idee der Willensfreiheit bereits als einen ontologischen Akt impliziert. 118 Für einen islamischen Philosophen wie Afḍal ad-Dīn Kāšānī, der wie Nasafī in der ismailitischen Tradition steht, bedeutet diese Rebellion die »Entbindung der Seele aus dem göttlichen Reich«. 119 Eine solche Entbindung der Seele, als ein bewußter Akt der Seele bzw. als ein bewußter Widerstand, ist ein praktischer Akt, der eine »Selbstkonstituierung« des Menschen zur Vollkommenheit impliziert. 120 Wie bereits erläutert, befand sich der Mensch nach Nasafī, bevor er in den diesseitigen Naturzustand eintritt, in einem moral- und naturfreien Lebenszustand, in einer Art »engelhaftem Lebenszustand«, im reinen fiṭrat-Zustand vor Gott. Vernunft, Moral und Instinkt waren dort wertfrei. Mit anderen Worten: Solche Werte gab es nicht in der 117 Dies ist ein Hinweis auf den Koranvers, in dem dem Menschen Widerspenstigkeit vorgeworfen wird, da er vom verbotenen Baum aß. Siehe Koran 20/121. 118 In einer modernen Auffassung gehen manche noch weiter und stellen die Widerspenstigkeit des Menschen im Sinne des »Rebellenmenschen« Camus’ dar, so daß der »Widerstand des Menschen« gegenüber der göttlichen Vereinbarung auf seinen Freiheitswillen und seine Verantwortung hindeuten. Vgl. Šarīatī, ʿAlī (21372/1993): Insān-i bīḫud. Gesammelte Werke. Bd. 25. Teheran, S. 234. Was allerdings zu diesem Widerstandskonzept nicht paßt, ist, daß wir es aus der Sicht der Offenbarung im Paradies mit einem gewissermaßen moralischen Wesen zu tun haben. Der Koran spricht allerdings von dem Eintritt einer moralischen Selbsterkennung, da Adam und Eva nach dem Essen der Früchte des verbotenen Baumes ihrer »Scham (Schlechtigkeit) kund« wurden, »sie begannen, Blätter (von den Bäumen) des Paradieses über sich zusammenzuheften«. Siehe Koran, 20/121. Eine solche Auslegung könnte erst dann zutreffen, wenn Adam und Eva sich »einer willenlosen und unbewußten Natur« gegenüber befinden würden. Der »Rebellenmensch« Camus’ steht, im Gegensatz zu Adam und Eva, »einer willenlosen und unbewußten Natur« gegenüber, und er hat ein Ziel für seine Rebellion. Man muß sich jedoch fragen, welche Ziele Adam mit seiner Rebellion erreichen wollte. Außerdem muß man auch deutlich machen, welche Bedeutung die Widerspenstigkeit des Menschen für das irdische Leben hat. Vgl. Šarīatī, Insān-i bīḫud, S. 60 ff. 119 Vgl. Kāšānī, Muṣannafāt, S. 293 f. 120 In diesem Sinne versteht sich auch der Paradiesforscher Michael Schmaus, wenn er sagt »Gerade die Erkenntnis des Guten und Bösen streben die Urmenschen an. Die Schrift bezeugt damit nicht einen Wunsch nach theoretischem Wissen, wie es an unseren Universitäten vermittelt wird […]. Es ist vielmehr ein praktisches Wissen gemeint, die Vollmacht, über Gut und Böse selbst zu entscheiden, zu bestimmen, was gut und was böse ist, also Herr über das eigene Ethos zu werden, das Leben in eigener Kraft ohne göttliche Gnade zu gestalten.« »[…] Paradies ist die Welt, wie sie beständig um jenen Menschen her wirkt, atmet, sich entfaltet, der Ebenbild Gottes ist und immer vollkommener dieses Ebenbild verwirklicht, der Gott liebt, ihm gehorcht und die Welt beständig in die heilige Einheit hereinholt.« Siehe Schmaus, Das Paradies, S. 19, 23.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Art, wie wir sie auf der Erde kennen, denn der Mensch war im Paradies bzw. in seinem Urzustand keinen Aufgaben im irdischen Verständnis verpflichtet. Das Leben im paradiesischen Zustand war erfüllt von Gottesschau, Gottesanbetung und Gotteserkenntnis. Der Mensch mußte sich nicht selbst um Erkenntnis- und Wissenserwerb bemühen. Alle seine himmlischen Besonderheiten verlor er aber, als er den paradiesischen Urzustand verließ und sich dem Baum des Intellekts näherte. Diese Darstellung legt nahe, daß die Vernunfthaftigkeit des Menschen als Ersatz dient, daß der Mensch aufgrund dieses Vermögens sich vor allen anderen Lebewesen nicht nur ausgezeichnet, sondern sich eine neue Pflicht auferlegt hat, nämlich sich zu vervollkommnen. Das ist eine Anspielung an den Urpakt zwischen Mensch und Gott, in dem der Mensch die Herrschaft Gottes angenommen hat. Nasafī meint daher, der Mensch habe sich durch seine Intellektualität von diesem harmonischen Urzustand in einen Zustand versetzt, in dem die Perfektionierung als notwendig erscheint. Für Ṣadrā stellt aber gerade dieser Intellekt den Schlüssel der Selbsterkenntnis und der Vervollkommnung dar, d. h. die Vernunft wird als Ersatz für den »verlorenen Seinsursprung« gesehen. Hier soll der himmlische Sonderzustand gemeint sein, in dem sich der Mensch angeblich befand. Anstatt des paradiesischen Zustandes erhält der Mensch nun sozusagen die Vernunft. Auch wenn sie unter der Einwirkung des absoluten bzw. des aktiven Intellekts agiert, so ist sie die einzige Kraft der menschlichen Seele, mit der der Mensch (im Gegensatz zu den Tieren) seine Lebensbedingungen und seine Lebensgestaltung meistern muß. 121 In seiner Einleitung zu »Uṣūl al-Kāfī« 122 hebt Ṣadrā hervor, daß die Schöpfung Disposition bedeutet; und Gott habe den Menschen vor den Tieren durch die Veranlagung des Auffassungsund Verstehensvermögens ausgezeichnet. 123 Während die Menschen jedoch auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind, sind die Tiere im Naturzustand in den primären Lebensnotwendigkeiten autark. Mit der Vernunft stellt Ṣadrā allerdings die Beziehung des Menschen zum Ursprung der Existenz her. Denn das Ziel ist die Vollkommenheit als Einheit mit dem reinen Intellekt. Zur Bewältigung seiner »Mängel« ist Aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Madaʾ wa Maʿ ād. Hrsg. v. ʿAbdallah Nūrānī (1962/1983). Übers. v. Aḥmad Ibn Muḥammad al-Ḥusainī Ardakānī, Teheran, S. 250. 122 Ein wichtiges kanonisches Überlieferungswerk der Schiiten. 123 Vgl. aš-Šīrāzī, Šarḥ Uṣūl, Bd. I, S. 191 f. 121

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Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit

der Mensch vor allem auf Gott angewiesen, wenn es darum geht, daß der Mensch durch seine »Mängel« bzw. sein »Leid« und seine Unfreiheit in der Bindung an die Materie an Gott erinnert wird.

V. Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit Obwohl der Mensch nach der islamischen Offenbarung als ein Wesen gesehen wird, das eine gewisse »optimale« physische Form hat und sich auf der Erde in einem instinkthaft-religiösen Naturzustand befindet, anhand dessen es einen optimalen seelischen und geistigen Zustand erreichen kann, ist der Mensch keineswegs frei von natürlichen Unzulänglichkeiten, einer mangelhaften Lebensnatur und von psychischen bzw. seelischen Konflikten. Das deutet nicht nur auf eine existentielle Mangelhaftigkeit hin, sondern dieses Mangelbewußtsein löst darüberhinaus ein die Entstehung eines von Minderwertigkeitskomplexen geprägten Selbstbildes aus. Die Anwendbarkeit des Begriffes der »Minderwertigkeit« auf den Menschen darf hier keineswegs psychologisch verstanden werden, 124 sondern eher religiös. Wie bereits dargestellt wurde, heißt es im Koran, der Mensch sei als schwaches Wesen geschaffen. 125 Physisch ist der Mensch auch nicht in der »besten Form«, auch wenn dem in der Sure 95/4 eine derartige Bedeutung beigelegt wird. 126 124 Der Begriff »Minderwertigkeit«, der den gesamten psychischen, geistigen und physischen Bereich des Menschen umfaßt, taucht in der modernen Psychologie oft auf. Ich möchte hier aber keineswegs einen modernen psychologischen Ansatz auf die traditionelle islamische Vorstellung vom Menschen anwenden. Die spezifische Ausprägung, die hier verwendet wird, verdanken wir vor allem dem Psychologen Alfred Adler (1870– 1937). Demnach gibt es zweierlei Formen des Minderwertigkeitsgefühls: eine physische und eine subjektive. Gewiß kann man das subjektive Minderwertigkeitsgefühl als Folge des physischen betrachten. Was Adler im Detail darunter versteht, kann der sehr informativen Einführung in seine Lehre entnommen werden.Vgl. Horster, Detlef (1984): Alfred Adler zur Einführung. Hannover. 125 Immer wieder macht der Koran den Menschen auf seine Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit aufmerksam. Not und Unheil begleiten den Menschen in seinem irdischen Naturzustand. Siehe Koran 4/28. 126 Dort heißt es: »Wir haben doch (seinerzeit) den Menschen in seiner besten Form (?) [arab. fī aḥsani t-taqwīm] geschaffen (oder: Wir haben doch (seinerzeit) den Menschen geschaffen und (dabei) mit den besten Weisungen versehen?)«. Ebd. 95/4. Wie wir der Übersetzung Parets entnehmen können, ist es nicht ganz sicher, ob man den Ausdruck fī aḥsani t-taqwīm mit »bester Form« übertragen sollte. In einigen anderen koranischen Versen kommt der Begriff ʿ adala oder vor allem sawwā vor. Beide Begriffe können mit

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Wir können im Koran keine Stelle finden, die den Menschen bei seiner Erschaffung als physisch und psychisch in einem perfekten Zustand schildert. Der Koran betont zudem, daß es nicht göttliche Absicht war, den Menschen zum Engel zu machen. 127 Die Erschaffung des Menschen in einer »ebenmäßigen und ausgeglichenen Form« besagt nichts im Hinblick auf die körperliche und psychische Perfektion. Wenn überhaupt, dann sagt dies etwas über eine bestmögliche Verfassung und Gestalt aus, in der der Mensch »Mensch« sein kann. Davon könnte man auch eine »Neutralität« des menschlichen Wesens ableiten. Denn der Mensch ist der Verzweiflung, der Unzulänglichkeit, dem Irrtum und der Angst ausgesetzt. Körperlich benötigt er schon von Geburt an Schutz, und seelisch ist er instabil, unterliegt der Verwirrung und ist vom Niedergang bedroht. 128 Der Mensch kann sogar unter den Rang der Tiere herabsinken. 129 Vor allem Leiden und Tod sind das stärkste Zeichen, daß der Mensch sich nicht selbst beherrscht und nicht der Herr über seine Existenz ist. Der Mensch wird sozusagen als Gattung und als Person verletzbar und veränderbar dargestellt. Diese Instabilität und Ohnmacht des Menschen bzw. die Begrenztheit der menschlichen Existenz, auf die der Koran oft verweist, erweckt beim Menschen ein Unsicherheitsgefühl. Die Beeinflußbarkeit und Beeinträchtigung des menschlichen Daseins und Lebens von inneren und äußeren Faktoren rufen das Gefühl der Verlassenheit hervor. Dieses Gefühl könnte man »Seinsverlassenheit« nennen, was im Sinne der Existenzphilosophie Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs das zum Ausdruck bringt, was er und auch seine Vorgänger unter der Verschleierung der wahren Welt verstehen, denn die Wesenheiten werden als eine Illusion der Optik gesehen 130 oder als eine »darkness of illusion«, die Ṣadrā Suhrawardīs Metaphysik zuordnet, ein Begriff, der nach Ansicht Kamals dem Begriff »Nihilismus« bei Heidegger entspricht. 131 der Übersetzung »ausgeglichen« oder »ebenmäßig« wiedergeben werden. »Du Mensch! Was hat dich hinsichtlich deines vortrefflichen Herrn betört (und zur Undankbarkeit verführt), (hinsichtlich deines vortrefflichen Herrn) der dich geschaffen und ebenmäßig geformt und in einer Gestalt zusammengesetzt hat, wie er sie (für dich haben) wollte? Siehe Koran 82/6–7. 127 Ebd., 43/60. 128 Ebd., 10/11 ff., 17/11, 83, 18/54, 70/19 f., 90/4. 129 Ebd., 7/179. 130 Jambet, L’acte d’être, S. 153 f. 131 Kamal meint, sowohl Ṣadrā als auch Heidegger würden eine neue Metaphysik grün-

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Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit

Die eben dargestellte Vorstellung könnte mit einer koranischen Vorstellung in zweierlei Form mit dem menschlichen Wesen in Zusammenhang gebracht werden: Zum einem mit seiner Beziehung zu Gott, und zum anderen zu sich selbst. Der Mensch hat einerseits das Gefühl, ohne Gottes Hilfe bzw. Gnade, wie es im Koran betont wird, nicht auszukommen. Er steht daher in einer permanenten Abhängigkeit zu Gott. Andererseits ist er allein auf sich selbst gestellt. 132 Er ist für sich verantwortlich und zuständig und ebenso auf sein gattungsähnliches Wesen angewiesen. Seine Ohnmacht zwingt ihn sozusagen in die absolute Abhängigkeit. Mit seiner Bindung an Gott verdrängt er sein Gefühl der »Seinsverlassenheit«. An deren Stelle tritt dann eine Orientierung, die ihm Lebenssinn gewährt. Es muß hier jedoch betont werden, daß das Minderwertigkeitsgefühl, das durch seine physische und psychische Unzulänglichkeit hervorgerufen wird, hier gar nicht im Vordergrund stehen kann. Denn durch den Gewinn eines göttlichen Lebenssinnes hat der Mensch nach koranischer Vorstellung nichts zu befürchten. Seine Stärke liegt gerade nicht in einer physischen, sondern eher in einer geistigen Optimierung, in der er nicht die physischen Mängel, wenn überhaupt möglich, zu beseitigen versucht, sondern sich seiner himmlischen Substanz, seinem menschlichen Geist, zuwendet. Logischerweise oder paradoxerweise strebt der Mensch gleichzeitig nach mehr Macht und zügelloser Selbständigkeit, was wiederum im Koran verurteilt wird. 133 Gott verleiht ihm jedoch die nötige Macht und Herrschaft über sein Leben in seinem irdischen Zustand. 134 Der schwache Mensch wird aber Gott nahe gestellt: 135 Der Begriff der Stellvertreterschaft (ḫalīfa), den Renz in Anlehnung an Cragg als allgemein anthropologisches Konzept sieht, ist ein zentraler Begriff, der die Beziehung des Menschen zu Gott und zu sich selbst in der Naturwelt definiert. Er macht den Menschen in seiner religiösen Vorstellung zum

den, um die »darkness of illusion« beziehungsweise den Nihilismus zu überwinden. Siehe Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 45 f. 132 Die Problematik um Freiheit und Determination bleibt daher auf der koranischen Ebene, wie Renz feststellt, in ungelöster Spannung. Siehe Renz, Andreas (2002): Der Mensch, S. 139. 133 Siehe Koran 20/120, 28/83, 33/36. 134 »Und er hat von sich aus alles, was im Himmel und auf der Erde ist, in euren Dienst gestellt. Darin liegen Zeichen für Leute, die nachdenken.« Siehe Koran 45/13. 135 Ebd., 2/30, 28/5 f.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

»Pächter« der Welt. 136 Daher scheint es nicht abwegig zu sein, wenn manche diesem Begriff ähnliche Inhalte wie dem biblischen Begriff »Imago Dei« zusprechen. 137 Trotz dieser Sonderposition in der Welt ändert sich allerdings nichts daran, daß der Mensch sich in einer Bedrängnis befindet und einer ständigen Veränderung ausgesetzt ist. Die Unbestimmtheit seines Wesens und seine Fähigkeit zur Selbstgestaltung geben ihm die Möglichkeit, in seinem irdischen Dasein sich seiner Schwäche und seiner Stärke bewußt zu werden und seine Lebenswelt bestimmen zu können. Er muß sozusagen seine Stellvertreterschaft Gottes auf der Erde als eine Welterfahrung im weitesten Sinne begreifen, indem er sich der Herausforderung der Welt stellt, sich als Ganzes sieht und sich in seinem »Inder-Welt-Sein« (Heidegger) zu verstehen versucht. Der irdische Naturzustand ist für ihn ein Zustand der Veränderung und Verbesserung, die ihn zu einem ständigen Kampf zwingen. Doch dieser Zustand des Kampfes ist, wie wir noch zeigen werden, kein Streben nach mehr Reichtum und Macht, sondern ein Kampf gegen seine Begierden und Triebe, also ein Kampf gegen sich selbst. Das, was ihm im Koran eher als Defizit bzw. als Mangel angerechnet wird, läßt sich durch göttliche Erleuchtung bewältigen. Am Ende steht dann die Optimierung, Vollendung und Perfektion durch die Überwindung des eigenen Ich. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī zeigt in seinem Buch »Asrār al-āyāt«, daß der Zustand des Menschen, den er über die körperliche Entwicklung durchmacht, keineswegs mit dem Zustand anderer Lebewesen zu vergleichen ist. Der Mensch hat einen bestimmten physischen und seelischen Entwicklungszustand mit den Tieren gemeinsam. Dann trennt er sich von den Tieren, indem er zu einem anderen Geschöpf aufsteigt. Dieser neue Zustand ist Ṣadrā zufolge eine Auszeichnung des Menschen vor den anderen Lebewesen, die durch die göttliche Erleuchtung verursacht wurde. Dabei geht es nicht um einen physischen Idealzustand, denn der Leib bleibt in seiner Vergänglichkeit mit der materiellen Welt zurück, während die Seele aufsteigt und zu Gott zurückkehrt. Der natürliche und evolutionäre Prozeß, dem der Mensch unterworfen ist, gehört für Ṣadrā zum Schöpfungsziel, das darin besteht, zum überragendsten bzw. »edelsten Wesen« (al-mauǧūd al-ašraf, das vorzüglichste Wesen) zu werden. Die Natur kann aber erst dann 136 137

Renz, Der Mensch, S. 135. Ebd.

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Göttliche Orientierung vs. natürliche Mangelhaftigkeit

zu dieser edelsten Stufe gelangen, wenn sie alle niedrigen materiellen Stufen hinter sich läßt. Denn das edelste Wesen, das bei Ṣadrā der perfekte Mensch ist, erhält alle Inhalte und Wesensmerkmale, die im niedrigen Wesen vorhanden sind, in höchster und feiner Form. 138 Die Welt in ihrer niedrigen Erscheinungsform ist damit eine Art der Entwicklung. Nach seiner Theorie der »substantiellen Bewegung« befindet sich die Welt, wie bereits beschrieben, in einer dauernden Erneuerung. Vergänglichkeit und neue Schöpfung sind zwei Seiten einer Medaille. Überhaupt haben alle Phänomene der Welt für Ṣadrā zwei Gesichter: Das eine ist veränderlich und das andere unveränderlich. Nach dieser Vorstellung gehören die Leiblichkeit und damit auch die Vergänglichkeit zum Prozeß, der zum perfekten Zustand führt. Denn nach der substantiellen Bewegung geht jeder neuen Schöpfung bzw. Entstehung ein Nichtsein voraus. In diesem Sinne können wir sagen: Ohne Vergänglichkeit gibt es keine Perfektion. Die Mangelhaftigkeit ist damit eine Eigenschaft der Natur, die das Leben durchdringt, was Ṣadrā mit faqr bezeichnet. Dieser Begriff geht aus seiner ontologischen Lehre hervor. Wenn die Existenz nicht per se notwendig ist, so stellt sie nur eine Möglichkeit (imkān) dar, die logischerweise in ihrer Essenz bedürftig ist. 139 Damit werden essentiell sowohl die Vollkommenheit als auch die Unvollkommenheit als zwei Aspekte des Seins mitgegeben, die notwendigerweise eine Bewegung auslösen, die diese beiden Aspekte in sich einschließt. Veränderung bedeutet demnach, eine neue Form anzunehmen, und dies betrifft die Seele. Solange die Seele nicht den geistigen Zustand erreicht hat, ist sie abhängig vom Körper. Die Perfektion ist dagegen die Überwindung der Vergänglichkeit und Mangelhaftigkeit, nämlich faqr. Das ist der Sinn des materiellen Lebens. 140 »Wisse, in die Welt zu kommen, bedeutet [dasselbe wie] von der Vollkommenheit zur Mangelhaftigkeit herunterzukommen [huwa an-nuzūlu mina l-kamāli ilā n-naqsi] und von der ersten Disposition herunterVgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 126 f. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 86 ff. 140 Diese prozeßhafte Darstellung des materiellen Lebens zeigt vielmehr die existentielle Abhängigkeit der Welt als ihre normative Verurteilung, die von vielen Theologen vertreten wird. Wie Aḥmad Narrāqī betont: »Wisse, Du lieber Bruder, die Welt ist ein Feind Gottes und seiner frommen Diener«. Narrāqī, Aḥmad: Miʿ rāğ as-saʿ āda. Hrsg. v. Reza Marandi (21379/2000). Teheran, S. 313. Es gibt sogar besondere Kapitel, die einen Titel wie »Tadel der diesseitigen Welt« (ḏamm ad-dunyā) tragen. Siehe dazu ebd., S. 311– 335. 138 139

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

zustürzen [wa-suqūṭi l-fiṭrati l-ūlā]. Daher ist die Hervorbringung der Geschöpfe von dem Schöpfer zwangsläufig nicht anders möglich, außer auf diesem Weg. Von der Welt zum Paradies zu gehen und danach unter seinem [göttlichen] Schutz und [seiner Anwesenheit] zu existieren, ist [dasselbe wie] die Rückkehr zur [ersten] Disposition und [die Entwicklung] von der Mangelhaftigkeit zur Vollkommenheit.« 141

VI. Vervollkommnung als kämpferischer Akt des Intellekts und des Willens Die Perfektibilität des Menschen hängt davon ab, mit welcher Stärke der Mensch in der Lage ist, seine Intellektkraft zu aktualisieren, um sich mit der absoluten und perfekten Welt zu vereinen. Das bedeutet zunächst, daß der Mensch von Natur aus eine Disposition hat, die auf dem Boden des Seins wissend und wollend verankert ist, und daraus folgernd hat der Mensch eine Art Urbewußtsein von seinen vorgeprägten existentiellen Anlagen. Die Frage ist nun, wie man von einer Potentialität reden kann, wenn der Mensch bereits durch seine menschliche Disposition sich seines Wesens und der Kräfte seines Wesens bewußt ist: Eine Frage, der die Frage nach einem freiheitlichen Willensakt vorausgeht. Ṣadrā ist sich dieser Kritik bewußt und er begegnet ihr dadurch, daß er, wie bereits dargestellt, das menschliche Wesen als eine Stufe des Seins bestimmt, die bereits alle vegetativen und tierischen Kräfte in sich trägt. Dazu gehören das Wachstum, die Bewegung und der Wille. Was den Menschen von anderen Wesen unterscheidet, ist der Intellekt (ʿ aql), mit dem eine Kraft des Seins ausgedrückt wird, die die Potentialität hat, bewußt Erkenntnis zu erwerben und bewußt willentlich zu handeln. Es wurde bereits nach Jambets Schilderung der Kategorien der Bewegung dargestellt, daß der Wille die gemeinsame Kraft der Seele zwischen Menschen und Tieren ist. Aber über was das Tier nicht verfügt, ist die Erkenntnis, und zwar eine willentliche und bewußte Erkenntnis, die mit einer bewußten und willentlichen Bewegung zur Perfektionierung einhergeht. Der Perfektionstrieb des Menschen findet damit auf dem Boden des Seinsaktes statt, dem auch alle anderen Lebewesen unAš-Šīrāzī, Asrār, S. 167 f. Für Ṣadrā sind Anfang und Rückkehr, obwohl sie einander gegenüberstehen, zwei identische Zustände, die von demselben Ziel geprägt sind (anna lmabdaʾ a hiya al-fiṭratu l-ūlā […] al-maʿ ādu huwa l-ʿ audu ilaihā). Ebd., S. 166 f.

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terworfen sind; jedoch mit dem Unterschied, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das den Willen hat, sich dieser Entwicklung zu entziehen. Daraus kann gefolgert werden, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das diese besondere Art der Perfektion vollziehen kann. Für die vorliegende Arbeit scheint es daher unabdingbar, die Stellung des Willens nach dem Perfektionsverständnis der Existenzphilosophie im Islam näher zu betrachten. In Mullā Ṣadrās Philosophie stoßen wir auf einen Perfektionstrieb, der das gesamte Geschehen in der Welt des Daseins erfaßt. Der Mensch ist in Ṣadrās Transzendentalphilosophie bereits von Natur aus einer existentiellen Rechtleitung unterworfen. Diese ist aber nicht nur der Vorzug eines geisthaften Wesens wie dem Menschen: Alle Geschöpfe tragen diese in sich und bewegen sich zum Absoluten und zum höchsten Gut hin. Eine solche Vorstellung geht von einer Definition des »Lebens« (ḥayāt) aus, das in einer spezifischen Form in dem jeweiligen Zustand des Seins in allen Etappen und Stufen des Lebens vorhanden ist. Denn das Leben bedeutet für Ṣadrā das Sein eines Dinges in der Form, aus der eine Handlung hervorgeht. Er ist der Meinung, daß diese Form des Lebens in allen Existierenden vorhanden ist. Doch das Leben ist für manche Wesen akzidentiell und für manche essentiell. 142 Er meint damit vor allem, daß der Mensch, anders als andere Geschöpfe, deren Entwicklung nach den natürlichen Gesetzen stattfinden und keinem Irrtum ausgesetzt sind, mit einer Kraft versehen ist, durch welche er sich seiner natürlichen Veranlagung widersetzen kann. Diese Kraft ist die Wahlfähigkeit und die Kraft, imaginär zu denken (wahmī), welche der Partikularität verhaftet ist. Für Ṣadrā untersteht der Mensch zwei Formen der Rechtleitung, der existentiellen bzw. naturgegebenen und der gottesgegebenen Rechtleitung (al-kaunīya wa-l-waḍʿ īya). 143 Hier handelt es sich um das Begriffspaar Physis und Thesis, die im Gegensatz zueinander stehen. In Sadrās Bewegungslehre, die sich an dieses Begriffspaar anlehnt, scheint es sich jedoch nicht um einen Gegensatz zu handeln. Demnach gibt es auch für Ṣadrā zwei Arten der Bewegung: die essentielle und die willentliche Bewegung. Im realen Leben erscheinen zwei Formen der Existenz: Existenzen, denen der menschliche Wille nicht zur Verfügung steht, und Existenzen, die ein Produkt der menschlichen Taten und Ein142 143

Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VI, S. 413–421. Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 149 f.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

bildungskraft sind. 144 Die letztere ist ein Vermögen der Seele, wodurch der Mensch seine schöpferische Eigentümlichkeit erhält. Denn die menschliche Vernunftseele, wie man es auch in der Formulierung Nasafīs findet, ist ein Zustand des Daseins, in dem der Geist (rūḥ) intellekthaft und selbstbestimmend ist. 145 Daher impliziert die allgemeine Bewegungskraft und der Schöpfungsentwurf die Möglichkeit, die Vollkommenheit nicht nur als ein ewiges Gesetz zu betrachten, sondern auch als eine Gegenbewegung, die in der sadraischen Sprache das Nichtsein bedeutet. Die substantielle Bewegung ist für Ṣadrā die Kraft der Natur, die dem Dasein essentiell verhaftet bleibt und die der Möglichkeit zur Vervollkommnung entspringt, bis alle Geschöpfe ihren Ursprung und ihre höchste existentielle Vollendung erreichen. Während in der substantiellen Bewegung selbst ohne Ausnahme kein Irrtum und kein Widerstand auftreten können, sind jedoch, wie es zu formulieren wäre, die »selbstgeschaffenen (oder konventionellen) Lebensentwürfe« von Irrtum und Widerstand nicht ausgeschlossen. Diese »willentliche Bewegung« (al-ḥaraka al-irādīya) zu Gott ist keine essentielle Bewegung, sondern eine Bewegung in der »seelischen Qualität« (fī l-kaif an-nafsānī). 146 Der Mensch hat die Wahl, sich gemäß der existentiellen ursprünglichen Disposition zu verhalten oder sich ihr zu widersetzen. Daher kommen dem Menschen die theoretischen und praktischen Fähigkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, zugute, mit denen er seine Vervollkommnung ermöglichen kann. D. h. er kann sich durch die geistige Askese, den Erwerb von Wissen und die praktische Realisierung seiner Erkenntnisse auf dem Weg zum höchsten Gut befinden. Es stellt sich nun die Frage, wie sich eine solche seelische Kraft der substantiellen Lebensbewegung widersetzen kann. Wenn man davon ausgeht, daß die gesamte Schöpfung einem essentiellen Perfektionierungstrieb unterworfen ist und hinzu kommt, daß Ṣadrā annimmt, es Aufgrund dieser Einteilung der Existenz kommt Ḥāʾ irī Yazdī, ein Anhänger der sadraischen Schule der modernen Zeit, zu dem Schluß, daß der Mensch Herr über die von ihm geschaffenen Werke ist. Da auch der Staat ein Produkt des menschlichen Aktes ist, so ist der Mensch selbst der Souverän über seine Lebensgestaltung. Darauf ist Ḥāʾ irī Yazdīs Staatstheorie aufgebaut und daraufhin seine Vertragslehre des »Gemeineigentums« entworfen. Siehe Hajatpour, Iranische Geistlichkeit, S. 231–304; ders. (2005): Mehdi Hairi Yazdi interkulturell gelesen. Nordhausen. 145 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil. S. 97. 146 Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 155. 144

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gäbe keine Bewegung, der die substantielle nicht vorausgehen würde, dann müßte man erklären, ob oder wie es sich jemals ein Geschöpf leisten kann, sich diesem Prozeß willentlich zu widersetzen. Das bedeutet, daß entweder alle Wesen zur Vollkommenheit prädestiniert sind oder nur diejenigen unter ihnen, die dem Gesetz der Natur folgen. Jambet hebt hervor, daß in der geistigen Tradition der islamischen Philosophie eines Avicenna nicht direkt über den freien Willen, der in der westlichen Welt so wichtig ist, gesprochen wird. Im Kern darf man den freien Willen und die göttliche Vorsehung (ʿ ināya) nicht miteinander verquicken, sondern muß die Freiheit als die Intensivierung der Existenz bzw. Verwirklichung der Prädestination auffassen. Dieser Gedanke entspricht nach Auffassung Jambets im Westen stärker der Philosphie Spinozas als der von Descartes oder Leibniz. 147 Jambet ist ferner der Auffassung, daß es auch Ṣadrā dementsprechend nicht um die Lehre des freien Willens geht, sondern um den Gedanken des Willens. Da der Wille eine Ursache haben muß, wird der Rückgriff auf Gott notwendig. Gott ist der Ursprung meines Willens, ohne daß dieser Wille deshalb aufhört mein eigener Wille zu sein. Jambet kommt zu dem Schluß, daß diese Philosophie wiederum im krassen Gegensatz zur modernen westlichen Philosophie steht, in der die Existenz als ein reiner, unbegründeter Akt aufgefaßt wird. 148 Wie die meisten islamischen Philosophen geht Ṣadrā hier auf das Problem der Vereinbarkeit von freiem Willen und göttlicher Bestimmung ein, das vor allem nach dem Konzept der existentiellen Einheit besonders schwierig zu lösen zu sein scheint. Denn hier muß man den klaren Unterschied zwischen dem eigenen Willen und dem in der Existenz herrschenden göttlichen Willen aufzeigen. Diese beiden Formen des Willensaktes miteinander so in Einklang zu bringen, wie dies Jambet tut, begründet zwar die Freiheit des Seinsaktes, reicht aber keineswegs aus, um die Freiheit des eigenen Handelns unabhängig von dem Seinsakt als eine Selbstkonstituierung des Menschen zu verstehen. Ṣadrā argumentiert in seinem kleinen Traktat über die Erschaffung der Handlungen (Risāla ḫalq al-aʿ māl) nicht anthropologisch, also von der Annahme ausgehend, daß die Willensfreiheit ein Ergebnis irdischer Unvollkommenheit sei, wie es manche früheren Theologen versucht

147 148

Jambet, L’acte d’être, S. 135 f. Ebd., S. 136.

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haben. 149 Er begründet die Idee der Willensfreiheit ontologisch. Ṣadrā ist der Meinung, wenn er die bei den Schiiten verbreitete Überlieferung »weder als Prädestination noch als freien Willen, sondern als eine Sache zwischen den beiden« (lā ǧabra wa-lā-tafwīḍa bal amrun baina amrain) interpretiert, 150 daß der Sinn dieser Überlieferung darauf hindeute, daß »der Mensch frei wählen kann, insofern er einem Zwang unterliegt, und einem Zwang unterliegt, insofern er frei wählen kann.« (bali l-muradu annahū muḫtārun min haiṯu huwa maǧbūrun wa-maǧbūrun min haiṯu huwa muḫtārun). Dieser Ansicht nach ist der Mensch frei aufgrund einer Vorbestimmung, weil er frei wählen kann und auch als freies Wesen Zwängen unterworfen ist. Im Angesicht der Einheit des Seins gibt es für Ṣadrā keinen freien Willen und keinen Zwang. Es gibt für ihn nur verschiedene Erscheinungsformen der Existenz. In welcher Form auch immer untersteht der Mensch in seiner natürlichen Erscheinung einem Willen, den Gott dem Menschen verleiht. 151 Ṣadrās Konzept des Willens stimmt in vielen Teilen auch insofern mit dem Ibn Rušds überein, als daß die Ursachen und das Vermögen im Menschen, die diese Handlungen hervorbringen, Gottes Werke sind. Daran zweifelt Ṣadrā nicht. Ibn Rušd versucht ebenfalls, die einander widersprechenden Ansichten innerhalb der islamischen Welt zu überwinden. Denn der Mensch ist zu seinen Handlungen nicht gezwungen. In seinem Willen ist er frei, auch dort, wo der allgemeine Wille wirkt. Es ist jedoch nicht zu umgehen, daß der Mensch für eine Handlung Mittel benötigt, die er selbst nicht geschaffen hat, z. B. beim Schreiben seine Hand zu benutzen oder die Feder, deren Urstoff von Gott erschaffen wurde. 152 Ess, Theologie und Gesellschaft, S. 500. Diese Überlieferung geht auf den sechsten Imam der Schia zurück. Siehe dazu: Ṭabāṭabāʾ ī, Muḥammad Ḥusain (1996): Die Schia im Islam. Ins Deutsche übertragen v. Farsin Banki. Hamburg, S. 94. Siehe auch Ess, Theologie und Gesellschaft, S. 492. 151 Vgl. aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm: Ḫalq al-a māl. Hrsg. u. komʿ mentiert v. Yāsīn as-Sayyid Muḥsin (1978). Bagdad; aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Ibn Ibrāhīm: Risāla ḫalq al-aʿ māl, in: Maǧmūʿ a-yi Rasāʾ il-i falsafī-yi Ṣadr al-mutaʾ allihīn. Hrsg. v. Ḥāmid Nāǧī Iṣfahānī (21378/1999). Teheran. S. 269–280. 152 »[…] d. h., daß das Dasein der von unserem Willen herrührenden existierenden Dinge [Handlungen] durch die beiden Dinge zugleich vollendet wird, das heißt: durch unseren Willen und durch die äußeren Ursachen [wa bi-l-asbābi llatī min ḫāriǧ, von außen kommenden Ursachen (Mittel)]. Wenn die Handlungen gänzlich einem der beiden Dinge zugeschrieben werden, so werden die erwähnten Zweifel eintreten.« Ibn Rušd, Abū alWalīd: al-Kašf ʿ an minhāǧ al-adilla fī ʿ aqāʾ id al-milla. Hrsg. u. eingel. v. Muḥammad 149 150

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Jambet sieht aber in der Philosophie Ṣadrās den Widerspruch dadurch aufgehoben, daß die Vorschrift und die Prädestination nicht dem Ausfluß der Freiheit und der Singularität widersprechen, denn sie sind selbst die Ordnung dieses Ausflusses. In ihnen finden die Notwendigkeit des Existierenden und die Freiheit der Existenz ihre Ureinheit, ihren gemeinsamen Ursprung. 153 Die natürliche Bewegung der Natur folgt daher der natürlichen Neigung als Ausdruck eines Willens, der ebenso nach unten wie nach oben gerichtet sein kann. Daraus folgt, wie Jambet meint, eine Art Glaubensbekenntnis von Ṣadrā: Aus der Selbstumwandlung, der jedes Individuum unterworfen ist, folgen ethische und eschatologische Schlußfolgerungen. Der Mensch in seiner Verwandelbarkeit hat die Aufgabe, nicht sich zu bewahren, wie er ist, sondern sich zu verwandeln, sich moralisch zu vervollkommnen. Wie jede Kreatur ist er Ausdruck des absoluten Willens. Er ist die Zusammenfassung der Schöpfung, gerichtet auf seine Rückkehr, hin zu seiner Endbestimmung, sich in Gott auszulöschen in einer Überexistenz und Vergöttlichung. 154 Dies geht aus einem ontologischen Verhältnis hervor, das die enge Beziehung von Mikrokosmos zu Makrokosmos erklärt und die Ṣadrā mit derjenigen des Kindes zum Vater vergleicht. 155 Wie Ṣadrā darstellt, ist der Mensch von Anfang an bis hin zu seiner personhaften Gestalt und seinem partikularen Befinden von dem universellen (irāda-i kullī) zum partikularen (irāda-i ǧuzʾ ī) Willensakt geleitet, der die letzte Erscheinung bzw. der niedrigste Abstieg der Existenz ist. 156 Ṣadrā beschreibt diese Entwicklungserscheinung in bereits erwähnten vier Phasen, die jedes Phänomen in der Welt von einer einfachen und unthematischen bis hin zu einer konkreten und thematischen Form bestimmen. Der Mensch als Produkt eines intellektuellen Prozesses, in dem er eine Reihe geistiger Entwicklungen bis hin zu seiner personhaften Entstehung durchmacht, wird mittels einer natürlichen und existentiellen kosmogenetischen Rechtleitung (mit)gestaltet, und damit gestaltet auch er seine eigene Person.

ʿAbid al-Ǧabirī (1998). Beirut, S. 190. In dieser Übersetzung wurde auch die Übersetzung von Marcus Joseph Müller berücksichtigt. Siehe Averroes: Philosophie und Theologie. Aus dem Arabischen übersetzt v. Marcus Joseph Müller (1974). Osnabrück, S. 100 f. 153 Jambet, L’acte d’être, S. 162. 154 Ebd., S. 214 f. 155 Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 109. 156 Ebd., S. 68 f.

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So scheint es, daß Ṣadrā mit seiner transzendentalen Existenzphilosophie hervorheben will, daß letztlich nur eine Form des Daseins lebensfähig ist, und diese ist das perfekte Sein. Aus den Vorstellungen Ṣadrās können wir ebenso schließen, daß er sich auf die Annahme bezieht, daß sich die Menschen (wie alle anderen Geschöpfe) in jeweils unterschiedlichen Seinsstufen befinden und entsprechend verschiedene Fähigkeiten in der seelischen Anlage besitzen. Es gibt für ihn sowohl äußere wie auch innere Gründe dafür. Ein Grund dafür ist vor allem die existentielle Stellung der Geschöpfe in bezug auf die höchste Seinsform. 157 Der Mensch in seiner natürlichen Welt ist der Bestimmung des perfekten Seins unterworfen. Aufgrund seines Wesens hat er auch die Möglichkeit, sich mit dieser Bestimmung in Einklang zu befinden oder sich zu widersetzen. Die menschliche Seele ist daher befähigt, ihre Kräfte zu gebrauchen und sich die Eigenschaften des höchsten Seins anzueignen. Hier geht die Überlegung auf die Existenzphilosophie von Ṣadrā zurück, daß zwischen Ursache und Wirkung eine Wechselbeziehung herrscht. Während die Wirkung den Eigenschaften der Ursache ausgesetzt ist, ist ebenso die Ursache nicht frei von den Eigenschaften der Wirkung. Zwar geht die Ursache der Wirkung voraus, doch haften an der Ursache die Eigenschaften der Wirkung, wie die Rückwirkung eines Porträts auf dessen Maler. Denn es gibt nur ein Sein bzw. das Sein in der Außenwelt, das äquivok von allen Stufen der Existenzerscheinungen reflektiert wird. Es gibt daher nichts außer dem Sein in seiner vielfältigen Manifestation und in seinen Wirkungen. Das bedeutet, daß alles Erschaffene und alle Dinge in der Welt die Eigenschaften des Seins als dessen Wirkung in sich tragen, und das Sein wird ebenfalls durch die Eigenschaften der Existenzen charakterisiert. Wir können diese Erklärung aufgrund ihrer Zirkularität allerdings nur bedingt akzeptieren. Trotzdem ist sie an dieser Stelle bedeutsam, da sie das Verhältnis zwischen der Welt und dem menschlichen Sein beleuchtet. Ṣadrā baut seine Auffassung auf die philosophische Tradition in der islamischen Welt auf, in der allen Lebewesen und sogar allen natürlichen Erscheinungen wie den Bewegungen der Himmelskörper und allem, was sich in der Welt befindet und in Erscheinung tritt, eine Art »Bewußtsein« zugeschrieben wird, auch wenn dieses in bezug auf die natürlichen Erscheinungen als ein »kosmogenetisches Bewußtsein«

157

Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 158.

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betrachtet wird. Wir finden diese Auffassung bereits bei Afḍal ad-Dīn Kāšānī, dem Anhänger der ismailitischen Schule, nach dem sich die Welt der Existierenden in zwei Sphären des Bewußtseins teilt, in denen das Geistige mit Willen versehen und das Materielle willenlos ist. Diese zwei Welten werden bezeichnet als die Welt des Universellen (pers. ʿ ālam-i kullī), dem das essentielle Bewußtsein zukommt, und die Welt des Partikularen (pers. ʿ ālam-i ǧuzʾ ī), dem das akzidentielle und mittelbare Bewußtsein zukommt. Demnach können willenlose und eigenmächtige Bewegungen und Tätigkeiten des Menschen voneinander unterschieden werden. Kāšānī zufolge geschehen alle geistigen Tätigkeiten im Menschen willentlich; die sinnlichen Wahrnehmungen fungieren dagegen lediglich unter der Herrschaft des Geistigen. 158 Wenn man der Seele im Menschen Intellektualität und Willensfreiheit zuschreibt, so muß es kein Hindernis geben, die willentliche Bewegung als ein entwickeltes und letztes Stadium des Seelenprozesses zu betrachten, wie aus dem ontologischen Konzept Ṣadrās deutlich geworden ist. Damit wäre der Mensch in seinem seelischen und geistigen Selbstentwurf autark und auf sich selbst gestellt, seine Perfektion gemäß seiner Möglichkeiten in seine eigenen Hände zu nehmen. Ṣadrā ist sich auch bewußt, daß man der Seele die Freiheit nicht absprechen kann. Er unterscheidet an anderer Stelle zwei Ausdrucksformen der Bewegung, die in den Dingen vorhanden sind. Neben der natürlichen Bewegung gibt es für ihn die seelische Bewegung, die einem willentlichen Bewußtsein entspringt. Diese Bewegung ist dem Menschen eigen und für die Seele substantiell wie die Bewegung für die Natur. In diesem Sinne spricht er im Einklang mit seiner Existenzvorstellung von zwei Formen der Willenstätigkeit, einer prädestinierten und einer selbstgewählten. Denn die natürlichen Kräfte haben für Ṣadrā keinen Willen 159, und ihre Bewegungen entsprechen daher entweder der Substanz, der Natur oder dem bewußten Akt der Seele in der Natur. Jede Bewegung hat ein Ziel (wohin sich etwas zu bewegen vermag), und innerhalb Ṣadrās Philosophie ist es ebenso selbstverständlich, daß diese Bewegung nicht mit einem materiellen Ziel abgeschlossen wird, sondern es geht Vgl. Kāšānī, Muṣannafāt, S. 197 ff., 272 f. Gemeint ist hier natürlich der bewußte Wille, denn sonst würde es seinem Konzept der Existenz widersprechen. Nach der taškīk-Lehre haben alle Seienden die Modi des Seins, nämlich Wissen, Wille, Macht. In den niedrigen Seienden jedoch können diese Eigenschaften nicht deutlich und bewußt zum Ausdruck kommen, da in diesem Bereich die Dinge mehr an Essenz als an Existenz besitzen. 158 159

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grundsätzlich darum, daß der Schöpfungsprozeß sich zwischen dem Sein und Nichtsein bewegt. Alles außer dem Sein und der Perfektion ist dem Nichtsein ausgesetzt. Wille, Erkenntnis, Macht und Liebe sind für ihn daher Ausdrucksformen des Ein und Desselben, das das Sein a priori ausmacht. Im Sein vereint sich die Einheit mit der Manifestation in seiner Stufenerscheinung, und die Idee der »Vielschichtigkeit des Seins« (taškīk) ist in diesem Sinne der Ausdruck für eine Philosophie, die die Realität und die Transzendentalität miteinander zu verbinden versucht. In Ṣadrās Existenzphilosophie wird eine Bedeutung des Seins hervorgehoben, die allen Lebenszuständen zugrunde liegt. Das Sein ist einerseits mit sich selbst identisch und andererseits nicht vollkommen von anderen Daseinsformen verschieden. Die menschliche Existenz wird als ein Aspekt und eine Stufe des kosmischen Daseins gesehen, und ebenso stellt sich auch sein Wille als ein solcher Aspekt dar. Die diesseitige Welt kann deshalb nicht als ein vom allgemeinen Lebensprozeß getrennter Zustand verstanden werden, ebensowenig der Wille des Menschen. Es geht um Umwandlungen, die in Ṣadrās Philosophie existentiell geschehen. Die Seele verwandelt sich aufgrund dieser beiden Bewegungen immer in einen neuen Zustand, und am Ende verläßt die Seele sich selbst, um reiner Intellekt zu werden. Dort vereint sie sich mit dem absoluten Willen. Diese spezifische Wandlungsfähigkeit des Menschen, die auch für die Idee der Perfektion in bezug auf Freiheit relevant scheint, geht aus der Definition der Seele hervor, wie wir bereits von dem ismailitischen Philosophen Afḍal adDīn Kāšānī erfahren haben, der ausführt, daß die Seele als Ursprung (aṣl) oder als Selbst (pers. ḫud) eines Dinges seine Identität ausmacht. Daß der Mensch Mensch geworden ist, verdankt er der Seele in ihrer spezifischen Form als ein Vermögen, das die animalische Seele übersteigt. Sie ist potentiell im Menschen als geistige und praktische Anlage vorhanden. 160 Mit der Aktualität ihrer potentiellen Veranlagung tritt die intellekthafte Seele hervor. Mit dem intellektuellen Zustand, nämlich dem Intellekt (ʿ aql) verschwindet dann die Seele (nafs). 161 Denn der Intellekt ist das Endziel der Entwicklung der menschlichen Seele. Wenn

160 In einem kurzen Satz gibt Kāšānī die nötige Definition: »Die Seele ist eine Substanz, die lebendig durch ihr Wesen ist, tätig durch ihre Veranlagung und wissend durch ihre potentielle Kraft.« Kāšānī, Muṣannafāt, S. 78. 161 Vgl. Kāšānī, Muṣannafat, S. 9–52, 65 ff.

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Wissen Intellekt bedeutet und wenn die Seele dieses Stadium erreicht hat, so wird sie Intellekt und ist nicht mehr Seele. 162 Daher ist die Idee der Perfektion ein ontologisch-anthropologischer Ausgangspunkt einer Existenzphilosophie, die in der islamischen Wissenstradition bis in die Gegenwart reicht. Sie zielt darauf hin, das existentielle Werden als einen dynamischen Prozeß zu sehen, der ein Seinsprozeß ist. Sein und Nichtsein sind daher zwei Aspekte des einzigen Lebensprozesses. Alle existentielle Aktivität ist ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung zum Nichtsein und zur Überwindung der Unvollkommenheit. Perfektionierung bedeutet nichts anderes als die Selbststeigerung des Seins hin zu seiner höchsten Ausdrucksform. Das ist das Sein, das in sich die Realität zu einem Schauplatz der Dynamik des existentiellen Selbstausdruckes verwandelt, und, wie Açikgenç zu Recht formuliert, »The theory of tashkīk (systematic ambiguity) suggests a movement in Being; […] It is a movement from the less perfect to the more perfect. There is this movement in reality-being because it is not static; it is dynamic […]« 163

Der Autor dieses Zitates betont einige Zeilen später, der perfekte Mensch sei derjenige, der es sich zum Verdienst gemacht habe, die niedrige Seinsstufe des Seins hinter sich gebracht und sich dem Höchsten angeschlossen zu haben, und somit wurde er »as the ›sample‹ of the universe«. Nur in der Überwindung des materiellen Zustandes und der Unvollkommenheit und nur im geistigen und seelischen Sieg über die Vergänglichkeiten der Welt kann der Mensch sein Wesen in Einklang mit dem Sein als eine Art Selbstfundamentierung im existentiellen Kontext sehen. Ṣadrās Theorie der Bewegung kann nur dann einen Sinn haben, wenn er die Perfektibilität vom Zustand der Welt abhängig macht, und damit scheint, daß ohne den Bezug auf die Welt diese Perfektibilität sinnlos erscheint. In diesem Sinne spricht auch Nasafī davon, daß nur die zusammengesetzten Existenzen (murakkabāt) aufsteigen können. Denn das Sein in seinem idealen Zustand ist perfekt, und die Perfektibilität im Kontext der Bewegung kann nur bedeuten, daß sich etwas von der Potentialität zur Aktualität bewegt. Ṣadrā versteht dies als die Bedeutung der Bewegung. Auch hat die Perfektibilität dort kei162 163

Ebd., S. 79. Açikgenç, Being and Existence, S. 60.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

nen Sinn, wo sich etwas in einer reinen Potentialität befindet, sondern nur dort, wo etwas eine Tendenz zur Aktualität hat. Daher ist die Welt ein Ort, in dem die Seele durch die substantielle Bewegung und geistige Selbstkonstituierung ihre Vollkommenheit erreichen kann, und das ist die Intellekthaftigkeit, die willentlich geschieht. In einem geistigen und spirituellen Kampf ist die natürliche Welt der Ort zwischen dem Sein und dem Nichtsein, wobei der Mensch nur in der Übereinstimmung von essentiell instinkthafter und dem eigenen Willen unterworfener Bewegungskraft die Perfektionierung zu einem Existenzkampf macht, der den Menschen zu einem (wohlwollenden und) erfüllenden Lebenszustand antreibt. Genau darauf beruht der Hinweis Jambets auf die Kämpfe der Seele. Die Geburten der Seele entwickeln sich seiner Meinung nach aus den Kämpfen zwischen göttlicher Moral und satanischer Verführung. 164 Jambet hebt zu Recht hervor, daß der Mensch das ewige Leben nicht auf friedlichem Weg erreicht, sondern über unaufhörliche »Kriege des Geistes«, und das verweist auch auf die Bedeutung der Welt für die Perfektion. Das Zentrum dieses Krieges ist das »Herz«, das geistige Organ, der Führer der Armeen und verantwortlich für den Kampf, der auf dem Weg zu Gott ausgetragen wird. 165 Dies ist als Anspielung auf die Rückkehr zu dem vereinbarten Urpakt zwischen Menschen und Gott zu verstehen, deren Verhältnis dem zwischen Diener und Herrn entspricht. Er ist die Voraussetzung zur Offenbarung Gottes in seiner Kreatur, seiner Anthropomorphose (Menschwerdung), die, worauf Jambet hinweist, eine Anspielung an die Doktrin des Herzens bei al-Ġazālī ist. Der Weg zu Gott wird beschrieben als eine Reise, auf der der Mensch mit sich selbst kämpfen und in sich die satanischen Verführungen besiegen muß. Der Körper wird hier nicht wie im Sufismus erschöpft, sondern gepflegt, um dadurch auch die Seele zu pflegen. 166 Diese Reise im sadraischen Sinne ist eine Intellektreise (al-asfār al-ʿ aqlīya), der er sein Hauptwerk »alAsfār« widmet. Hier scheint der zentrale Unterschied zwischen der sufischen Vorstellung von einer Selbstbekämpfung und einem philosophischen Ver164 Wie Jambet darlegt, gibt es hier drei Dramaturgien, die jeweils auf dem Koran, auf den Traditionen, die die Imame ihren Schülern lehren, und auf dem alten Dualismus persischer Religionen beruhen. Jambet, L’acte d’être, S. 237 f. 165 Ebd., S. 239. 166 Ebd., S. 240.

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ständnis der Askese zu liegen, wobei der philosophische Ansatz der geistigen Askese die Bedeutung des Intellekts deutlicher zum Ausdruck bringt. Ṣadrās Existenzphilosophie ist eine Philosophie des Intellekts und gründet genau auf diesen Unterschied, mit dem er deutlich macht, daß der kämpferische Prozeß des Intellekts allseitig ist. Denn dieser Prozeß findet auf dem Boden des Seinsaktes statt, der diskursiv und intuitiv, willentlich und wissend und lebendig fungiert. Dies zeigt er dadurch, daß seine Existenzphilosophie an ein Ideal der heimlichen inneren Einkehr anknüpft, die sich gegenüber den »Verneinern«, sowie gegen bestimmte Philosophen abgrenzt. 167 Ṣadrā zeigt damit, welche Bedeutung der Philosophie und damit den Philosophen zukommt, wenn es um die Wahrheit geht. Das bedeutet aber nicht, daß die wahre Hinwendung zu Gott den einfachen Menschen verschlossen bleiben muß, im Gegenteil. Ṣadrā kritisiere, so Jambet, die Verachtung des Volkes. Diese Kritik läßt sich dadurch erklären, daß die Welt in Ṣadrās Existenzphilosophie, wie Jambet treffend formuliert, als eine Art Kosmos verstanden wird, in dem alles, auch das Paradies und die Hölle, enthalten ist, jedoch nicht in Form eines Ortes, sondern als Land der Seele, und in dieser Welt der Seele finden die Qualen der Hölle und die Freuden des Paradieses statt. 168 Die einfachen Menschen verstehen das, und die Philosophen müssen dazu das Fundament legen. Ṣadrā will die Welt nicht tadeln, auch wenn er, wie die meisten Theologen, die Überlieferung, »die diesseitige Welt ist ein Saatfeld für das jenseitige Leben« (ad-dunyā mazraʿ atu al-āḫira) als einen Hinweis auf die Vergänglichkeit der Welt versteht, wobei das diesseitige materielle Leben als Mittel und Brücke für ein höheres Ziel zu begreifen ist. Für Ṣadrā ist das Leben schön, aber ein Leben im intellektuellen Zustand ist dazu noch perfekt. 169 Ein Leben ohne ein höheres Ziel, auch 167 Ebd., S. 25. Diese sind laut Jambet diejenigen, die die Wahrheit des koranischen Versprechens, die Wirklichkeit des Paradieses und der Hölle leugnen. Hier liegt eine Interpretation oder Vermutung der Bedeutung der »Neinsager« durch Jambet vor. Es folgt ein Zitat von Ṣadrā aus Asfār, Band 9. S. 201 ff., in dem er die wahre Religion, die über das Herz und die Erleuchtung geht, von einer Art Pharisäertum der Legalisten und der Menschen, die die Vernunft falsch anwenden, abgrenzt. 168 Die sadraische Eschatologie wird bei Jambet nur gestreift, da Henry Corbin diese ausreichend analysiert hat. Ebd., S. 26. 169 Was die geistige Tradition betrifft, können wir keinen religiösen Denker nennen, der das Leben in dieser Welt als einen Wert für sich betrachtet. Der Zeitgenosse Abū Ḥāmid al-Ġazālīs, Imām Abū Yaʿ qūb Ḫwaǧa Yūsuf Hamadānī (441–535/1049–1141), der zu den geistigen Führern der Naqshbandiyya-Orden gezählt wird, versteht unter dem Begriff

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

wenn die diesseitige Welt nach manchen Theologen nicht vernachlässigt werden darf, 170 kommt für einen modernen Anhänger der Philosophie Ṣadrās wie Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī (gest. 1998) nicht in Frage: »Nur ein Leben, das ein Ziel hat, kann das wahre Gesicht des Lebens zur Erscheinung bringen und nur so kann das Leben das rein gewöhnliche und reduzierte Phänomen […] überragen und es in den Bereich der Werte stellen.« 171

Ǧaʿ farī weist auf die Schwierigkeit hin, das Phänomen »Leben« über seine offensichtliche Erscheinungsform hinaus zu verstehen. Er kritisiert die Empiristen, die Materialisten, die modernen Existentialisten und Nihilisten und hält es für unmöglich, das Leben über seine Phänomene zu erklären: Das Leben könne sich selbst nicht zu seinem Gegenstand machen. 172 Nur über den »Sinn des Lebens« (pers. hadaf-i zindagī, wörtl. das Ziel des Lebens) könne man Einsicht erhalten. Und dies sei dann möglich, wenn der Fragende über sein materielles Wesen hinaus wachse und den Gegenstand der Frage erfasse. 173 Im Geist der sadraischen Philosophie steht Ǧaʿ farī zufolge das »menschliche Ich« für eine übernatürliche Dimension. 174 Das Endziel des menschlichen Lebens ist »das Leben« (pers. zindagānī) bzw. »das Lebendige« (pers. zinda) »das Ruhen« (pers. āsūdan) bzw. »die Ruhe« (pers. āsāyiš). Er unterscheidet zwischen einem Leben, das sich am diesseitigen Vergnügen orientiert (was für ihn eine niedrige Form ist), und einem Leben, das sich angesichts Gottes an der jenseitigen Güte, nämlich am ewigen Leben orientiert. Den Grund dafür sieht er im Unterschied zwischen den Menschen und Tieren, einem Unterschied, der durch Erkenntnis und Vernunft, durch das, was Gott dem Menschen anvertraute (amāna), und durch die Herrschaft gekennzeichnet ist. Siehe Hamadānī, Rutbat al-ḥayāt. 170 Ḥusain Maẓāhirī, der derzeitige Ethiklehrer an der theologischen Hochschule in Ghom/Iran, bezieht sich auf einige koranische Verse und Überlieferungen, in denen von der Vernachlässigung der Welt abgeraten wird. Siehe Maẓāhirī, Ḥusain (71379/ 2000): Aḫlāq dar ḫāna. Bd. 1. Ghom, S. 29–45. 171 Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (1375/1996): Falsafa wa hadaf-i Zindagī. Teheran, S. 174. 172 Ebd., S. 64. 173 Wie sein geistiges Vorbild Ǧalāl ad-Dīn Rūmī sieht auch Ǧa farī diesen Aspekt in ʿ einer Entwicklung des menschlichen Wesens hin zu einem »menschlichen Ich« (man-i insani), das allein »1. würdig ist, das Leben zum Gegenstand der Frage zu machen und nach seinem Ziel und seiner Philosophie zu fragen. 2. Wenn man die Größe des Lebens erkannt hat, dann hält es die Frage nach dessen Ziel für negativ und sinnlos.« Ebd., S. 66. Vgl. die Gedichte von Ǧalāl ad-Dīn ar-Rūmī (Maulawī), vgl. Schimmel, Annemarie (21992): Mystische Dimension des Islam. Die Geschichte des Sufismus. München, S. 444, 454. 174 Die Betrachtung der hiesigen Lebenserscheinungen als Schatten, denen das [wahre]

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Vervollkommnung als kämpferischer Akt des Intellekts und des Willens

Gott, und darin versteht Ǧaʿ farī den Sinn des Gottesdienstes, woraus eine Religion im Sinne eines existentiellen Prozesses zu verstehen ist. 175 Aus einer solchen Existenzphilosophie ergibt sich daher auch eine Vorstellung der Wahrheit und Unwahrheit sowie des Guten und Bösen, die nur in Zusammenhang mit der Mangelhaftigkeit und Perfektionierung des Seins zu verstehen ist. Jambet betont zu Recht, daß Ṣadrā hierin Avicenna treuer ist als man denkt. Im Geist des neuplatonischen Avicenna versteht Ṣadrā die Existenz nicht als ein Attribut, denn Gott besitze keine Existenz, sondern er ist Sein im Überfluss, so daß jede Existenz aus ihm herausströmt. 176 Daher hängen alle existentiellen Besonderheiten von seinem Wesen ab, dem man alle edlen Eigenschaften zuschreiben kann: Wissen, Leben, Wille, Freiheit, Güte usw. Die Existenz ist daher Güte, und die Perfektion der Existenz ist die Güte der Existenz. Deshalb hat das Böse keine Essenz, sondern ist Abwesenheit von Substanz bzw. Mangel an »ontologischer Gesundheit«. 177 Die Existenz besitzt in diesem Sinne ihren Grund nicht in sich selbst. Daraus ergibt sich eine relative Abschwächung der Existenz in der Bewegung des Willens und des Lebens. Je weiter wir uns von der Perfektion entfernen, desto mehr fehlt es an ihr, und es entsteht das Böse als Mangel an Perfektion. Jambet geht ferner davon aus, daß wir die Bedeutung der Liebe in der avicennischen Gedankenwelt auch bei Ṣadrā finden. 178 In der Hierarchie der Dinge, die vom am wenigsten Perfekten bis zum Intensivsten reichen (vom Fühlen über die Vorstellung und die Einschätzung hin zur geistigen Durchdringung), gelangen wir zur höchsten Perfektion des wahrgenommenen Gegenstandes. Die Intensivierung der Ziel des Lebens gegenüber steht, zeigt seine Sympathie für die platonische Weltanschauung. Diese Art zu philosophieren ist bei vielen islamischen Denkern ebenso verbreitet wie die aristotelische Philosophie. 175 Ǧa farī, Falsafa, S. 72–78; 94–98; 135; 152 ff. ʿ 176 Jambet, L’acte d’être, S. 121 f. 177 Ebd., S. 125. Nach Avicenna gibt es, wie Jambet darlegt, eine Einheit des Prinzips, aus der sich die Einheit der drei Hauptattribute ergibt: 1.) das Wissen bzw. der Geist (Gott erdenkt sich die Dinge, erschafft sie aus seinem Geist, er erdenkt sich selbst), 2.) der Wille (er ist nötig, damit aus ihm die Dinge »herausströmen«) und 3.) das Leben (das göttlich ist und aus Gott herausströmt). Die Herausbildung der Formen erzeugt eine Einheit mit der Immanenz der Formen in der göttlichen Einheit. Ebd., S. 126. 178 Ebd., S. 127 f. Das Überfließen an Perfektion ist bei Avicenna gekoppelt mit der Schönheit (Ǧamāl) und dem Glanz (bahāʾ ). Ordnung und Schönheit bestimmen die Existenz. Die Liebe sehnt sich nach Harmonie, Eintracht, Einheit mit sich selbst. Die Ästhetik der Wahrnehmung verbindet sich mit der Ethik.

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Wahrnehmung verläuft im Gleichschritt mit der Intensivierung der Liebe und mit der Vervollkommnung der Beziehung des liebenden Subjekts mit dem geliebten Objekt. Die Möglichkeit zu sein impliziert in den Seelen jenes Verlangen und jene Liebe, durch die die Perfektion der Existenz angestrebt wird, ja angestrebt werden muß. 179 Die Philosophie der Perfektion eines Ṣadrā gründet sich auf eine Vorstellung des Seinsaktes, der den Grund der menschlichen Willensfreiheit bedeutet, da darin die menschliche Seele ohne die Idee der Freiheit undenkbar ist, weil die Intellekthaftigkeit stets mit dem Menschsein verbunden ist. Somit läßt sich auch die substantielle Bewegung im Menschen als eine bewußte und selbstbestimmte Bewegung der Seele begreifen, die die Vervollkommnung als Vorstellung und Willensakt der Seele impliziert. Es ist gleichgültig, ob der Mensch aus einer positiven, leidenschaftlichen und willentlichen Neigung (šauq bzw. irāda) oder aus einem Zwang heraus (qasr) handelt, er ist selbst die Instanz, die selbstschöpferisch ihre Werke hervorbringt. Denn Ṣadrā sieht den Menschen als ein Spiegelbild Gottes, der in seiner Handlung frei und schöpferisch ist. »Gott – Er ist erhaben – hat die menschliche Seele hinsichtlich ihres intellekthaften Wesens (ḏātihā, auch Essenz), ihrer vollkommenen Eigenschaften und ihrer schöpferischen und dynamischen Taten als sein Ebenbild [miṯālan, Gleichnis, Bildnis] erschaffen. Deshalb sind ihr zwei Naturen unterworfen, von denen ihr die eine gutwillig [ṭauʿ an, freiwillig, gehorsam] und die andere gezwungen [karhan, übel] dient.« 180

Die Bewegung der menschlichen Seele entsteht aus reinem Verlangen (šauq) bzw. aus einer Freude, keineswegs aus Zwang. Damit meint Ṣadrā das freie Bestreben des Intellekts zu Gott. Er betont: »Der Zwang eines Erzwingenden kann sie bei dieser Anbetung und diesem Streben zur Annäherung an ihn nicht hindern.« 181 Dieses intellektuelle Verlangen nach der Ewigkeit ist eine bewußte und willentliche Bestimmung, die in einem Prozeß der Steigerung und stufenweisen Entfaltung des Intellekts zum Ausdruck kommt. Denn die Ewigkeit ist eine Eigenschaft des Intellekts – und nicht der Natur, wie Ṣadrā an einer anderen Stelle 179 In Gott ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Bei Avicenna heißt es: »Gott ist er selbst für sich selbst (›soi-même pour soi‹).« Zitiert nach Jambet, L’acte d’être, S. 128. 180 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 37. 181 Ebd.

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betont 182 – und dies in all seiner transzendentalen Erscheinung. Damit ist vor allem die Erkenntnis verbunden, die den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnen soll. Daher ist an dieser Stelle wichtig, daß wir nach der Natur der Erkenntnis fragen und ihre Bedeutung für eine willentliche und bewußte Selbstperfektionierung näher betrachten.

VII. Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung Die islamische Philosophie hat seit jeher die zentrale Bedeutung der Erkenntnis für die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Entwicklung erkannt, auch wenn sie nicht im Rahmen einer »Erkenntnistheorie« im heute gebräuchlichen Sinn als eigenständige, wenn auch recht junge, wissenschaftliche Disziplin behandelt wurde. Wie bereits ausgeführt, hat der Mensch als denkendes Wesen nicht nur die Potentialität, Erkenntnisse zu erwerben. Er ist vor allem aus der tiefen religiösen Sicht der Existenzphilosophie eines Ṣadrā in der Lage, sich die höchste Stufe der Erkenntnis anzueignen, die dem Menschen als besonderes Merkmal seiner Vervollkommnung eigen ist. Der Mensch hat bereits diese Möglichkeit durch eine übergreifende transzendentale Existenz, die alle Dinge durchdringt, die er aber individuell zu gestalten, weiterzuentwickeln bzw. zu vollenden in der Lage ist. Mit anderen Worten, er kann die Eigenschaften des absoluten Seins in seiner eigenen Existenz personhaft aktualisieren. Wie sich dies nach der Erkenntnistheorie Ṣadrās und nach den mystischen Vorstellungen Nasafīs thematisieren läßt, soll im Folgenden näher gezeigt werden. Was uns allerdings hier interessiert, ist die anthropologische Bedeutung der Erkenntnis für die Idee der Perfektibilität des Menschen. Das erkenntnistheorische System Ṣadrās im Kontext seiner Existenzphilosophie wurde in der Forschung bereits hinreichend behandelt. 183 Es soll zunächst daran erinnert werden, daß das Problem der Erkenntnis, worauf Kamal zu Recht hinweist, in Mullā Ṣadrās Philosophie aus seinem ontologischen System heraus entwickelt ist. Das bedeutet, daß wir sein Verständnis von der Erkenntnis im Lichte seiner Interpretation der Realität verstehen können, wobei er vom Vorrang des Seins Ebd., S. 47, 58. Siehe dazu Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent; Moris, Revelation; Jambet, L’acte d’être; Rahman, The Philosophy. 182 183

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als dem Fundament für die Möglichkeit von Erkenntnis spricht. Diese Auffassung läßt damit den Schluß zu, daß, um etwas zu erkennen, wir bei seiner Existenz beginnen müssen. 184 Die Realität der Erkenntnis ist nicht von der Realität der Existenz zu trennen. 185 Sein steht daher als eine ontologische Bedingung für Erkenntnis. Ṣadrā stellt eine systematische Übereinstimmung zwischen seiner Erkenntnistheorie und Existenzlehre dar, indem er die Erkenntnis auf die Grundlage des Seins stellt. So wie es drei Ebenen der Existenz gibt, wie bereits in seiner Existenzlehre dargelegt, gibt es auch drei Ebenen der Perzeption (idrāk): Perzeption durch die Sinne, imaginative Perzeption und intellektuelle Perzeption. Ṣadrā setzt das Wissen mit dem Sein gleich. Diese Übereinstimmung geht aus der Annahme hervor, daß er überrall in den Dingen die göttliche Gegenwart voraussetzt und damit die Einheit der Erkenntnis vor Augen hat. Açikgenç kommt allerdings zu dem Schluß, daß Ṣadrās Epistemologie nicht ganz mit seiner Ontologie übereinstimme. 186 Daß diese Ansicht nicht zutreffend ist, zeigt auch die Studie von Jambet. Denn bei Sadrā gibt es keinen Erkenntnisakt ohne den Seinsakt. Die Rückbesinnung auf sich selbst, die Vereinigung seiner selbst mit sich selbst ist die Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt, der Metaphysik und der Kenntnis des höchsten Seins: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.« 187 Durch die Erkundung seiner Seele kommt es zum Existenzakt, die Seele, losgelöst von jeder Stofflichkeit, kehrt zu ihrem Urprinzip, zu Gott, zurück. Damit scheint es, daß Ṣadrās Konzept vom Wissen sehr wohl mit seiner Vorstellung vom Sein eine untrennbare Einheit bildet und dies bedeutet vor allem, daß die Erkenntnis einen wichtigen Aspekt für die Perfektionierung darstellt, die die Transzendentalität der Erkenntnis unvermeidbar macht. Vor allem können wir durch Ṣadrās Philosophie erfahren, inwiefern die existentielle Perfektion der Seele zugleich einen geistigen Prozeß zur Selbstvollendung bedeutet. Wie wir bereits am Anfang dieses Kapitels nach der Interpretation Jambets dargelegt haben, hängt die Selbstvervollkommnung unmittelbar mit dem Erwerb der Erkenntnis zusammen. Jambet spricht deshalb von einer exegetischen Philosophie, einer philosophischen Exegese Got184 185 186 187

Vgl. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 88. Ebd., S. 93. Açikgenç, Being and Existence, S. 64. Jambet, L’acte d’être, S. 48 f.

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Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung

tes, einer Exegese des Buches und seiner Interpreten und einer Exegese seiner selbst, die er mit der Philosophie Ṣadrās verbindet. Daß diese Philosophie unmittelbar zu der Erkenntnis der unverzichtbaren Eckpfeiler der existentiellen Selbstentfaltung des Menschen führt, zeigt sich daran, daß die Selbsterkenntnis der Seele in der Existenzphilosophie Ṣadrās, die zu der Erkenntnis des Seins führt, als eine existentielle Umwandlung verstanden wird. Das menschliche Wissen von Gott ist zwar unvollkommen im Vergleich zur Weisheit Gottes selbst, aber es unterscheidet sich nicht wesentlich, wie Jambet es formuliert, es ist sein Abglanz im Spiegel unseres Geistes. Das Subjekt muß eine offensichtliche Wirklichkeit durch sich selbst haben, die nicht auf einer vorausgehenden Definition oder Beweisführung beruht. 188 Um diese einheitsbezogene Erkenntnistheorie zu verstehen, müssen wir die Beziehung von Sein und Wissen kurz skizzieren, wobei es unvermeidbar sein wird, daß wir wieder auf Ṣadrās Ontologie zurückgreifen. Für Ṣadrā ist das Wissen affirmativ, es ist keine »Relation« (lā iḍāfiyan) und daher auch nicht »potentiell« (lā bi-l-quwwa). Wissen ist für ihn ein reines »aktuelles Sein« (wuǧūdan bi-l-fiʿ l), das dem Nichtsein gegenübersteht. 189 Denn Wissen kann dann als Wissen betrachtet werden, wenn es sich nicht verändern läßt, daher muß es rein und frei von den Bedingungen der materiellen Existenz sein. Wenn Wissen ein »Aspekt des materiefreien Seins« ist (und zwar affirmativ), so versteht man jegliche Wahrnehmung nur im Kontext des Seins. 190 Denn alles, was real ist, ist das Sein, und das Wesen eines Dinges, das in der Außenwelt vorhanden ist, ist seine Existenz, wie wir bereits ausführlich dargelegt haben. In der Realität ist also das Wesen der Dinge das Sein selbst, das, wenn es sich auf das Sein bezieht, in objektiven, schriftlichen, geistigen und sonstigen Formen zur Erscheinung kommt. Man kann deshalb nur vom Sein in der Außenwelt sprechen. Diese Vorstellung führt zu der Annahme, wie Açikgenç richtig formuliert hat, daß zwischen dem »gedanklichen« bzw. »intensionalen« (subjektiven) und dem »außenstehenden« bzw. »extensionalen« (objektiven) Sein nicht unterschieden wird. Der Grund dafür ist, daß das »intensionale Sein« (pers. wuǧūd-i ḏihnī, lat. esse ententionale) ein Abbild des »objektiven Ebd., S. 35. Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 297. 190 »[…] bali l-ʿ ilmu ʿ ibāratun ʿ an naḥwi wuǧūdi amrin muǧarradin ʿ an l-mādda«: Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 294. Siehe auch Āštiyānī, Šarḥ-i ḥāl, S. 134 f. 188 189

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Seins« (pers. wuǧūd-i ʿ ainī, des realen und extensionalen Seins) ist, das in der Transformation lediglich nur seine Form ändert. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Ṣadrā keinen Unterschied zwischen den Formen sieht. 191 Die Frage ist, wie es möglich sein kann, daß eine real existierende Substanz, die durch sich selbst besteht, eine akzidentielle Daseinsform annimmt. Wie ist es weiterhin denkbar, daß etwas, was in der Außenwelt durch sich selbst besteht, im Geist akzidentiell wird? Ḥāʾ irī Yazdī vertritt die Ansicht, daß diese akzidentielle Relation ein Produkt der Seele sei. Das Wesen des Wissens ist daher, wie auch Fazlur Rahman betont, 192 eine »seelische Qualität«, die Ḥāʾ irī ebenfalls so versteht. 193 Diese existentielle Transformation findet mit Hilfe der Seele statt, die in der Lage ist, mittels äußerer und innerer Sinneskräfte das Abbild der real existierenden Dinge zu »erschaffen«. Ṣadrā und viele seiner Anhänger sind in der Tat der Auffassung, daß die Seele zwar abhängig von den sinnlichen Erfahrungen ist, die Formen der Dinge jedoch nicht das Produkt der »objektiven« Existenz (wuǧūd ʿ ainī) sind, sondern von der Seele produziert werden, wobei die Formen mit dem realen Ding in Übereinstimmung stehen. Diese Transformation bezeichnet Sadr adDīn Manṣūr Daštakī (gest. ca. q949/1542), ein Vordenker Ṣadrās, als eine »Umwandlung« (inqilāb, wörtl. Revolution) von der Objektivität zur Subjektivität, sie ist also ein seelischer Akt. Daher ist Daštakī der Meinung, daß es keine (ursächliche) Beziehung zwischen Außenwelt und Innenwelt gibt. 194 Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī akzeptiert diese Trennung nicht. Er sieht eine klare Beziehung zwischen dem, was in der Realität existiert, und dem, was im Geist abgebildet wird. Er betrachtet den Unterschied jedoch in bezug auf die jeweilige Seinsweise. 195 Der im Geist abgebildete Mensch ist »der Mensch« der Substanz nach, nicht jedoch seine reale Extension. Demnach gibt es zwischen dem subjektiven (inVgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʿ ir, S. 102. Rahman, The Philosophy, S. 223 f. 193 Vgl. Ḥā irī Yazdī, Mahdī (1379/2001): Naẓarīya šināḫt. Hrsg. v. Abdallāh Naṣrī. Teʾ ʿ heran, S. 122–127. 194 Ebd., S. 145. 195 Wenn wir z. B. das Feuer wahrnehmen, so stellt man zwei Formen der Beziehung her: Bezüglich des realen Gegenstandes ist der Bezug ein »synthetischer« (ḥamlu aš-šāyiʿ aṣṣanāʿ īyi) und bezüglich des Abbildes im Geist ein »analytischer« (al-ḥaml al-ūlā). Damit betont Ṣadrā, daß im Geist der Gegenstand und die Prädikation eine begriffliche Einheit bilden, bezüglich der Realität aber eine existentielle Einheit. 191 192

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tensionalen) und objektiven (extensionalen) Sein keine Identität der Gattung nach: Das Abbild des Feuers kann im Geist keine Verbrennung verursachen, 196 denn hier wurde, wie Ḥāʾ irī treffend formuliert, ein Abbild auf ein anderes Abbild bezogen. 197 Trotzdem ist das Feuer in der Realität und im Geist ein und dasselbe, es ändert sich nur die Seinsweise, denn sonst müßte das, was in der Realität existiert, etwas anderes sein als das, was im Geist ist. Die Unterschiede zeigen sich nur in bezug auf ihre eigentümlichen Wirkungen und Eigenschaften. Zudem gibt es eine spezifische Form der gedanklichen Existenz, die Ṣadrā zufolge in der Realität nicht als solche existiert, wie etwa die Unvereinbarkeit der Gegensätze oder die Ursache-Wirkung-Beziehung. 198 Wissen ist damit für Ṣadrā mit dem Sein identisch, auch wenn es im Geist eine andere Form einnimmt. Es ist eine »seelische Qualität« (kaifīya nafsānīya), denn Wissen kann nur durch die Seele hergestellt werden. Ṣadrā ist der Auffassung, wie dies Açikgenç richtig darstellt, daß das Sein mit den sinnlichen Kräften nicht wahrnehmbar ist; er faßt das Wissen ausschließlich als Qualität der Seele auf. In diesem Sinne geht Ṣadrā davon aus, wie Açikgenç kritisch anmerkt, daß »physical existents cannot be the actual object of knowledge because they both exist in different modes of being.« Açikgenç meint, daß Ṣadrā die Beziehung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung, von der die Seele abhängig ist, und der seelischen Perzeption, die selbständig geschieht, nicht deutlich erklärt hat. Wir wollen daher darauf hinweisen, daß eine solche Kritik dann zutreffend wäre, wenn man überhaupt den natürlichen Gegenständen ein eigenes materielles Dasein zuweist. Für Ṣadrā gibt es nur eine Realität, und diese ist die Manifestation des Seins. Daher ist alles Sinnliche nur ein Medium (Instrumentarium), das der Seele zur Verfügung steht, und die Seele ist die einzige legitime Instanz, die in der Lage ist, »the perceptible forms (al-ṣūra al-maḥṣuṣah)« zu kreieren. 199 »Gott hat die menschliche Seele so erschaffen, daß sie die Fähigkeit besitzt, die Formen der abstrakten und materiellen Dinge zu kreieren. Denn sie entstammt dem Himmel, der Welt der Macht und der Stärke. Vgl. aš-Šīrāzī, Kitāb al-Mašāʿ ir, S. 101–104. Ḥāʾ irī Yazdī kommentiert diese Vorstellungen sehr ausführlich. Ḥāʾ irī Yazdī, Naẓarīya šināḫt S. 151–157. 198 Siehe dazu die ausführliche Darlegung von aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 262–326. 199 Açikgenç, Being and Existence, S. 64. 196 197

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Die Himmlischen [Intelligiblen] haben die Macht zur Kreation der geistigen Formen, die durch sich [durch ihre eigenen Essenzen] subsistieren, und der Erschaffung der kosmischen Formen, die mit den Stoffen bestehen. Und jede Form, die aus dem Subjekt hervorgeht, ist für das das Subjekt aktuell, genauso wie das Subjekt selbst […].« 200

Demnach sieht Ṣadrā den Menschen im Rahmen seiner Einbildungskraft als Hervorbringer seiner Erkenntnisse. Doch als schöpferischer Geist kann er auch Dinge hervorbringen, die außerhalb seines geistigen Vermögens stehen. Hier verbindet Ṣadrā die Erkenntnis mit der inneren existentiellen Schöpferkraft. 201 Als geistige Erkenntnis ist das Wissen nur real, wenn eine Übereinstimmung zwischen Sein und Wissen existiert, und daher ist die Erfahrung der eigenen Existenz kein erworbenes Wissen. Sie ist ein Bewußtsein der Seele. Der Mensch hat bei Ṣadrā ein unmittelbares Wissen (»Präsentwissen«) vom Sein. Diese Seinserfahrung ist unmittelbar und liegt allen anderen Wissenserwerbungen zugrunde. Denn das Sein umfaßt all seine Erscheinungsformen und bewahrt sie in sich. Dadurch hat der Mensch einen klaren Begriff vom Sein. Das bedeutet nicht, daß er automatisch vom Wesen des Seins Erkenntnis gewinnen kann: Auch wenn alle Formen des Wissens auf dieses unmittelbare Wissen des Seins zurückgehen, muß der Mensch durch seine seelische Aktivität und Bereitschaft einen Zugang zur wahren Erkenntnis schaffen. Denn letztlich kann der Mensch die Dinge, wie sie in Wirklichkeit sind, nur im Rahmen seiner Möglichkeit erkennen. 202 Was man unter dem Rahmen der Möglichkeit versteht, kann von der Fähigkeit und der Entwicklung der Seele abhängig gemacht werden. Ṣadrā betrachtet Wissen und Existenz, die immer dem Grad des Seins in seiner jeweiligen Stufe entsprechen, als äquivok. Der Mensch ist aufgrund seines Seelenvermögens in der Lage, die Formen der Dinge mit seinem Geist zu erfassen. Die Erkenntnis der partikularen Dinge ist ohne eine verbindende innere Tätigkeit der Seele keine stabile Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 264 f. Mit Muḥyi ad-Dīn ibn ʿArabī, auf den Ṣadrā Bezug nimmt, stimmt er überein, wenn jener behauptet, daß »der Mensch mit der Imagination das, was nur in seiner Einbildungskraft vorhanden ist, kreieren kann. Das ist eine allgemeine Sache für alle Menschen. Der Gnostiker (al-ʿ ārif) aber erschafft mit seinem Einsatzvermögen [himmat, geistige Energie] das, was außerhalb seines Einsatzvermögens existiert.« Ebd., S. 266 f. 201 Himma kann auch in der mystischen Sprache als »Selbstverwirklichung« verstanden werden. Siehe Meier, Fritz (1943): Vom Wesen der islamischen Mystik. Basel, S. 13. 202 Eine weitverbreitete Auffassung der Philosophie. 200

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Erkenntnis. Letztlich sind die partikularen Erkenntnisse nur vereinzelte Vorstellungen, die durch die Seele eine Einheit finden. In diesem Sinne hat die Seele in ihrer »Anfangsphase« nur die Potenz des Wissens, welche sich in ihrer schwächsten Form befindet. Ṣadrā sagt, »je stärker das Vernunftvermögen ist, desto stärker ist sein Intelligibles (maʿ qūlāt), und je schwächer es ist, desto schwächer ist sein Intelligibles.« 203 Die Vernunftseele ist keineswegs der Ort des reinen Empfangs der intelligiblen Formen, sie nimmt eine aktive und keine rein reflektierende Rolle bezüglich des Wissensinhalts ein. Denn »die Seele verfügt in den Wissenschaften über Selbständigkeit und geht von einem Intelligiblen [maʿ qūl] zu einem anderen Intelligiblen über und erschließt sich aus den Ergebnissen und Prämissen durch die Zusammensetzung und Darlegung der Formen, die sie in sich hat. Dies sind Tätigkeiten und nicht passives Reflektieren [infiʿ āl, wörtl. Affekt]. Die Affektion der Seele ist das Vorhandensein der Formen. Man ordnet diese dem theoretischen Vermögen der Seele zu, und diese sind Aspekte der Verbindungen und Wirkungen mit dem Höchststehenden, d. h. mit den rationalen Axiomen. Man ordnet sie dem praktischen Vermögen zu wegen ihrer Verbindung mit dem Niedrigstehenden, d. h. mit den körperlichen Kräften.« 204

Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī schreibt damit der Seele die Funktion des eigentlichen Erkenntnisorgans zu, und zwar deswegen, weil der Sinnenwelt diese apriorische Position nicht zukommt. Das Wissen wird mit dem Sein verbunden und erhält damit eine Form, die sich durch die substantielle Bewegung vom Niedrigen zum Höheren ändern kann. Seine höchste Form ist die reine Intellektualität und dadurch die Vollendung der Substanz der Seele. Je vollkommener die Seele wird, desto vollkommener ist auch der Zustand des Wissens. In diesem Sinne nimmt das Wissen wie das Sein eine transzendentale Form an, die wie das Licht äquivok sämtliche Erscheinungen durchdringt, aber nur dort in vollkommener Weise existiert, wo sich das Sein in Vollkommenheit befindet. Dies geschieht rein intellektuell. Muḥyi ad-Dīn Ilāhī Qumšaʾ ī (q1280–1352/1901–1973), ein Anhänger Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs Schule, weist das Vorhaben zurück, das Wissen in eine Kategorie, substantielle oder akzidentielle, einbinden zu wollen. Das Wissen zählt zu den Inhalten, die mit dem Begriff »Existenz« zu vergleichen sind. Die Exis203 204

Aš-Šīrāzī, Madaʾ wa maʿ ād, S. 310. Ebd., S. 348 f.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

tenz ist nicht definierbar, sondern mit ihr wird alles andere definiert. 205 Dieser Ansicht nach können »Existenz« sowie »Wissen« mit den Definitionsmodi, nämlich Genus (ǧins) und Differenz (faṣl), um die Bedingungen einer Definition zu erfüllen, nicht definiert, sondern nur formal beschrieben werden. So müßte man also »Existenz« und »Wissen« als Genus und Differenz alles Seienden betrachten, denn durch sie wird alles andere definiert. Diese können daher aber nicht selbst definiert werden, und damit hat, was nicht definiert werden kann, weder Genus noch Differenz. 206 Mir scheint aber, daß es sich hierbei um eine irreführende Annahme handelt. Wenn man Existenz und Wissen Genus und Differenz abspricht, so können sie keineswegs die Definitionsmodi für andere Seiende sein. Wenn wir z. B. annehmen, daß die Existenz und der Mensch in dem Satz »der Mensch existiert« zwei unterschiedliche Dinge sind, so begehen wir einen logischen Fehler. Denn wir müssen uns zuerst einen Menschen vorstellen, der keine Existenz besitzt, sowie eine Existenz, die kein Objekt ist. Damit wäre sogar der Satz »Gott existiert« falsch. Wir können zwar den Begriff der Existenz abstrahieren, nicht jedoch das reale Sein ohne das konkrete Objekt. »Existenz« und »Wissen« als Kopula des Existierenden sind nichts anderes als die Dinge selbst, und das, was nicht existiert, kann weder definiert noch erkannt oder gedacht werden. 207 Mit Ṣadrās Vorstellung vom Wissen haben wir es mit einer Epistemologie zu tun, die den Wissenserwerb und die Erkenntnis als einen Zustand der Seele betrachtet. Wie das Sein wird auch der Grad des Vgl. Ilāhī Qumšaʾ ī, Muḥyi ad-Dīn Mahdī (1379/2000): Ḥikmat-i ilāhī. Ḫāṣṣ wa ʿ āmm. Hrsg. v. Hurmuz Būšahrīpūr. Teheran, S. 141; Ḥāʾ irī Yazdī, Mahdī (21360/1981): 205

Kāwišhā-yi, S. 116 f. Das bekannte Beispiel ist: »Der Mensch ist ein intellekthaftes Tier«. Der Mensch wird hier definiert durch die Angabe der Gattung, des »Genus«, also dem Tier, und dem ihn von den anderen Tieren unterscheidenden Merkmal (= Differenz), nämlich seine Intellekthaftigkeit. Zuerst setzt man die Existenz des Menschen voraus und auch die des Tieres, das intelligibel ist. Wenn wir aber auf die Frage eingehen, was die Existenz bedeutet oder der Begriff »Gott existiert«, so können wir dies nur mit dem Begriff der Existenz beantworten bzw. müssen eine Tautologie begehen. 207 Wenn wir z. B. sagen würden, X ist Biologe oder rot, haben wir ein existierendes X und eine Eigenschaft, die mit dem X sichtbar wird. »Ist« ist hier nichts anderes als ein existierendes X. Wenn X nicht existieren würde, so kann es weder definiert noch erkannt oder gedacht werden. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß sich die islamischen Gelehrten über die Definierbarkeit des Wissens, anders als zu Fragen der Existenz, nicht annähernd einig sind. 206

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Erkenntnis als Selbstentfaltung und Seinsentfaltung

Wissens auf den jeweiligen Grad der menschlichen Vervollkommnung bezogen. Daher geht Ṣadrā davon aus, daß die Seele, das Organ des Erkenntniserwerbs, in einem sinnlichen Zustand sinnlich, in einem imaginativen Zustand imaginär und in einem intellekthaften Zustand intellektuell wahrnimmt. 208 Da der Mensch im höchsten Grad seiner Seinsform nur intellekthaft ist, kann auch seine Erkenntnis nur in einem intellekthaften Zustand vollkommen sein. Der Weg zur höchsten Erkenntnis wird also als ein intellektueller Akt verstanden. Dieser Prozeß, auch wenn ihm ein diskursives Stadium des Erkenntniserwerbs vorausgeht, ist jedoch nicht diskursiv, sondern intuitiv. Die intellektuelle Erkenntnis ist letztlich, wie Ṣadrā betont, eine unmittelbare Erkenntnis, wie sie dem Sein nach ist. Diese Intuition der Erkenntnis bedeutet bei Ṣadrā und generell bei den führenden islamischen Philosophen, daß alles erworbene Wissen auf ein Präsenzwissen zurückgeht. Denn Ṣadrā stellt das Wissen mit dem Sein auf eine Stufe; beide gehören denselben Gattungen an. 209 So besteht dann zwischen dem Wissen und der Existenz der realen Dinge eine Einheit, wie z. B. beim Wissen des Menschen von seiner Existenz. Das intuitive Wissen vollzieht sich unmittelbar. Demnach ist das göttliche Wissen über sein Wesen und über die Dinge unmittelbar. Das Präsenzwissen wird daher in Ṣadrās Existenzphilosophie von einem Verhältnis von Ursache und Wirkung geleitet, denn alles Verursachte ist in der Ursache seinem Sein nach präsent. 210 Diese Art von Erkenntnis, die nicht repräsentativ oder in Begriffe übersetzt ist, ist absolut und vollkommen im Vergleich zur Erkenntnis durch Repräsentation oder zu wissenschaftlicher Erkenntnis. 211 Bei diskursiver Erkenntnis bzw. bei allen Formen des Wissens, die durch die Sinne sowie durch analytisches und logisches Verfahren erworben werden, wären sie nur ein Wissen der Form oder dem Begriff nach. Sie entstehen durch die Begriffe oder die Formen der Dinge im Gedächtnis. In diesem Sinne scheint Kamal die sadraische Darstellung Vgl. aš-Šīrāzī, Madaʾ wa maʿ ād, S. 310 Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 297 ff., 354. 210 Ebd., S. 403 ff. 211 Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 97 f. Der Autor nennt diejenige Erkenntnis, die durch Intuition erkannt wird, Erkenntnis durch Präsenz (»knowledge by presence«). Diese Art Erkenntnis zeichnet sich durch Unmittelbarkeit, Unvermitteltheit durch Begriffe und Unbezweifelbarkeit aus und unterscheidet sich von der Erkenntnis durch Repräsentation (»knowledge by representation«). 208 209

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

der Perzeption zu verstehen, die menschliche Seele sei für eine empirische Erkenntnis (»empirical cognition«) nicht vollständig abhängig von den äußeren Gegenständen. Eher gilt, daß, durch Vermittlung der Sinnesorgane, die Seele stimuliert wird, die erkannten Formen (»cognized forms«) zu liefern, so daß der Gegenstand in ein neues Seiendes, ein mental Seiendes, transformiert wird, oder in ein Seiendes, das durch die Seele erkannt wird. 212 Da die Möglichkeit einer Erkenntnistheorie auf der Ontologie beruht, gilt, daß was auch immer perzipiert und erkannt wird, nichts anderes ist als eine andere Form des Seins. 213 Im Gegensatz zur Sinneswahrnehmung ist die Imagination (Einbildungskraft) eine echte aktive Leistung der menschlichen Seele. Mullā Ṣadrā hat den Imaginationsbegriff von seinen Vorgängern übernommen, vor allem (wie Oliver Leaman feststellt) von Ibn ʿArabī, aber auch von Suhrawardī und Ibn Sīnā. 214 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern aber, die Imagination im Sinne von taḫayyul gebrauchten, verwendet Mullā Ṣadrā Imagination im Sinne von tawahum oder wahm. 215 Was hier sehr entscheidend für seine Erkenntnistheorie erscheint, ist, daß Ṣadrā, wie Kamal feststellt, nicht daran glaubt, daß eine imaginative Welt unabhängig von unserem Geist existiert, sondern im Gegensatz zu Suharwardī und Ibn ʿArabī der Auffassung ist, daß die Welt der Imagination subjektiv und vom Geist geschaffen ist, jedoch, wenn die geschaffenen Ideen der Imagination veräußerlicht werden (»externalized«), sich in objektive Realitäten verwandeln. 216 Damit scheint die Frage nach einer sicheren Erkenntnis vielschichtig und unterscheidet sich existentiell, je nach der Stufe, sinnlich, logisch, rational, imaginativ, intellekthaft und intuitiv. Nur in einem intuitiven Wissen kann die Erkenntnis fehlerlos, d. h. vollständig sein, denn sie steht in Übereinstimmung mit dem objektiven Sein der Dinge, Ebd., 94. In der Perzeption transformiert die menschliche Seele einen Gegenstand, der äußerlich existiert (al-wuǧūd al-ʿ ainī), in eine mentale Existenz (al-wuǧūd aḏ-ḏihnī), nach dieser Interaktion zwischen Verstand und äußerlicher Existenzform. Ebd. 214 Vgl. Leaman, A Brief Introduction, S. 98. 215 Nach der Einschätzung Kamals ist tawahhum bedeutsamer als taḫayyul aus drei Gründen: »Erstens ist es nicht durch Gegenstände der Sinneswahrnehmung bedingt; zweitens ist es näher an der intellektuellen Intuition (»intellectual intuition«), da es die allgemeinen Formen unabhängig von den körperlichen Objekten erkennt; und drittens, ist es eine schöpferische Kraft in der menschlichen Seele.« Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 95. 216 Ebd., S. 96. 212 213

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wie dies aus der Definition des intuitiven Wissens hervorgeht. 217 Wie Kamal schreibt, wird die intellektuelle Intuition als eine Quelle der Erkenntnis durch Präsenz zu einem mystischen Werkzeug des Erkennens (al-kāšif, enthüllend) oder, im bergsonischen Sinne, wird sie zu einer Quelle der metaphysischen Erkenntnis jenseits der Reichweite wissenschaftlicher Analyse. 218 »Sicheres Wissen« bedeutet jedoch nicht, daß es bereits vollkommen ist. Denn der Grad der Vollkommenheit hängt davon ab, wie frei die Seele von der Welt der Materie ist. Die intellektuelle Schau ist erst möglich, wenn die Seele ihre Intellektualität erreicht hat und frei von Einflüssen durch die Sinne und die Imagination ist. Ihre Erkenntnis ist entsprechend vollkommen, denn sie ist frei von Veränderungen und Zufälligkeiten. Hier betrachtet die Seele die Dinge unmittelbar. Eine solche intellektuelle Schau der Dinge suggeriert ein Verständnis von Erkenntnis, dem eine hohe Idealität vorausgeht. In der Philosophie Ṣadrās setzt das sichere Wissen nach Einschätzung Zailan Moris die Übereinstimmung der drei Hauptquellen der Erkenntnis voraus: Offenbarung, intellektuelle Intuition und Vernunft. 219 Die Synthese dieser drei Quellen resultiert scheinbar daraus, daß die Wahrheit durch eine intellektuelle Illumination verifizierbar ist. Wenn die Wahrheit der Offenbarung durch intellektuelle Illumination verifiziert wird, dann folgt die logische Frage: Wie kann die Wahrheit einer intellektuellen Illumination verifiziert werden? Mullā Ṣadrās Schriften können wir entnehmen, daß es zwei Wege gibt, den Wahrheitsgehalt oder die Authentizität einer intellektuellen Illumination zu verifizieren. Erstens durch Verweis auf die letzte und sichere Erkenntnisquelle, die Offenbarung und zweitens durch Überprüfung ihrer Kohärenz und Schlüssigkeit mit den Regeln der logischen Schlußfolgerung. 220 Die Ausführungen Moris', vor allem der Begriff »verify«, weisen einen Widerspruch auf, denn es wird bewiesen, was vorausgesetzt wird. Denn, wenn die Offenbarung durch Illumination verifiziert wird, dann kann umgekehrt die Illumination nicht durch die Offenbarung verifiziert werden. Die intellektuelle Illumination bedarf keines Beweises, denn in der intellektuellen Illumination wird ja die Siehe dazu Saǧǧādī, Ǧaʿ far (1361/1982): Farhang-i ʿ ulūm-i ʿ aqlī. Teheran, S. 414. Siehe ebenso aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 390 f.; dieser, al-Asfār, Bd. III, S. 382 ff. Duġaim, Mausūʿ at, S. 658. 218 Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 98. 219 Vgl. Moris, Revelation, S. 168. 220 Ebd., S. 169. 217

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Wahrheit durch eine unmittelbare Schau erkannt und nicht durch eine logische Schlußfolgerung. Außerdem ist die unmittelbare Schau eine individuelle und persönliche Erfahrung, die objektiv mit der allgemeinen rationalen Verifizierung nicht in Einklang steht. In seinen Erkenntnissen lehnt Ṣadrā den blinden Gehorsam ab, wie bereits angedeutet, zieht aber die Illumination ausgehend vom Licht des göttlichen Thrones mit heran. 221 Erkenntnis wäre also eine Verbindung aus mystischer Eignung und einsehbarer Erkenntnis. Die höchste Erkenntnis durch den Geist führt zu einem Begreifen der Gegenwart, das sich mit der Illumination vereint und in dem sich die Gegenwart des Seins enthüllt. Moris ist jedoch der Ansicht, daß der kognitive Gehalt einer illuminativen Erfahrung in der Sprache der phänomenalen Erfahrung ausgedrückt und mitgeteilt wird, wie auch Ṣadrā den noetischen Gehalt seiner Illuminationen in der Sprache und den Kategorien der islamischen philosophischen Tradition äußert. Mullā Ṣadrā bestätigt die Wahrheit oder Legitimität seiner intellektuellen Illuminationen, die in der Form philosophischer Prinzipien entwickelt sind, durch das Aufzeigen ihrer Konsistenz und Konformität mit der Offenbarung und ihrer intellektuellen Kohärenz und Schlüssigkeit mit den Regeln des logischen Schlusses. Folglich gibt es nach der Einschätzung Moris' in der Philosophie Mullā Ṣadrās eine Synthese der drei Erkenntnisquellen. Aus der Sicht Mullā Ṣadrās sind die drei Haupterkenntnisquellen nicht nur notwendig und wesentlich im Streben nach sicherer Erkenntnis und intellektueller Vollkommenheit, sondern sie können auch, in der Realisierung der Wahrheit, auf harmonische Weise zusammengefügt werden. Durch Zusammenfügen der drei Erkenntnisquellen vereine Mullā Ṣadrā die Wahrheitsansprüche der Offenbarung, Gnosis und diskursiven Philosophie in seiner transzendenten Philosophie. 222 Um diese Einheit zu begründen, kann seine Philosophie der Einheit der Existenz an der Vorstellung der Einheit der Erkenntnis nicht vorbeigehen. Mullā Ṣadrās epistemologisches Prinzip der Einheit des Erkennenden mit dem Erkannten beruht, wie bereits erläutert, auf den ḥadīṯ qudsī, nach der »Gott Adam (Mensch) nach seinem Bilde geschaf-

Jambet, L’acte d’être, S. 47. Im sechsten Kapitel ihres Buches geht Moris auf die Synthese der drei Erkenntnisquellen bei Ṣadrā ein. Vgl. Moris, Revelation, S. 169 f. 221 222

224 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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fen hat«. Dieses Prinzip gründet auf dem metaphysischen Prinzip der Einheit der Erkenntnis und des Seins und einer islamischen Lehre, die auf einem prophetischen ḥadīṯ beruht, das besagt, daß »Gott Adam (Mensch) nach Seinem Bilde geschaffen hat«. Laut Mullā Ṣadrā erkennt der Mensch wie Gott die Dinge durch Kontemplation oder Denken (taʿ aqqul) der intelligiblen Form (ṣūra ʿ ilmīya) der Dinge in seiner Seele. Wenn Gotteserkenntnis oder Kontemplation der Form eines Dinges zu seiner objektiven Existenz führt, dann führt die menschliche Erkenntnis der Form eines Dinges zu seiner mentalen Existenz. 223 Somit kann das Subjekt des Erkennens nicht getrennt von dem Objekt des Erkannten betrachtet werden. Ṣadrā entwickelt daraus seine Sicht der Erkenntnis als einen Modus des Seins, welches beides umfaßt, die Erschaffung einer intelligiblen Form eines Erkenntnisobjektes durch die Seele eines Subjektes, die es erkennt, und die notwendige Einheit des Erkennenden mit dem Erkannten im Erkenntnisakt. 224 Der Erkenntnisakt wird in diesem Sinne dem Seinsakt gleichgesetzt, der keinerlei Determinierung, auch nicht die Negation der Determinierung und keinerlei Vorstellungsmöglichkeit eines sinnhaften Dinges (taṣawwur) hat. Man kann ihn nicht zum Objekt des Denkens machen, er hat keine mentale Existenz. Damit wird der Seinsakt in den Bereich der Seele eingeordnet, in den Bereich der Intuition der sich vervollkommnenden Seele, die wiederum in Gott ihre geistige Wiedergeburt erlebt. 225 Die Kenntnis ist die Existenz selbst und sie enthüllt das zentrale immaterielle Licht, durch das das Existierende existiert. Gemäß der Unterscheidung der zwei Arten von Erkenntnis, die Ṣadrā trifft, stellt sich nach Jambet die konzeptuelle, repräsentative Kenntnis als eine Kenntnis durch die Formen (ʿ ilm ṣūrī) dar, während die »immanente Kenntnis« (ʿ ilm ḥuḍūrī) unnennbar ist, der man sich aber durch die göttliche Wissenschaft und die Metaphysik nähern kann in einer Art flüchtiger und höherer Erleuchtung. Beim vollkommenen Menschen wird sie zu einem Habitus der Seele. In Ṣadrās Philosophie können wir daher eine Analogie zwischen Sein und Wissen feststellen, in der dem Sein und der Erkenntnis die Bedeutung der Vollkommenheit gleichermaßen zukommt. Seinsentfaltung ist damit eine Erkenntnisentfaltung und geht aus seelischer Ent223 224 225

Ebd., S. 104. Ebd., S. 193 f. Jambet, L’acte d’être, S. 71.

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faltung hervor. Den perfekten Seinszustand zu erreichen, bedeutet zugleich, einen perfekten Erkenntniszustand zu erreichen, wie man auch heute noch betont. Ǧaʿ farī spricht im Kontext der sadraischen Existenzphilosophie von einer Art »Werdeprozeß«, wörtlich von einer »Erschaffung« (pers. takawwun) bzw. einem »Zirkulationsprozeß« (pers. gardīdan), der den Menschen von einem Zustand zum anderen transformiert, wobei dieser ein vollkommener oder ein unvollkommener sein kann. Dieser Prozeß wird nach Ǧaʿ farī von der Erkenntnis (pers. sināḫt) und dem »Erlangen« (pers. daryāft) des Seins begleitet, die er in sieben Dimensionen darstellt: wissenschaftliche, philosophische, intuitive, ethische, intellekthafte, gnostische und religiöse. Ohne diese Erkenntnisse und Erlangungen kann Ǧaʿ farī zufolge der Vervollkommnungsprozeß (pers. gardīdan-i kamālī) nicht stattfinden. 226 Diesem Vervollkommnungsprozeß geht für Ǧaʿ farī das Selbstbewußtsein voraus, das bei ihm das Seinsbewußtsein ist. Daher stellt sich die Frage, welche Rolle die Selbsterkenntnis für die Seinserkenntnis spielt und wie sie diese notwendig macht.

VIII. Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens Voraussetzung für die Vollkommenheit des Menschen hängt davon ab, daß die menschliche Seele sich selbst erkennt. Um sein Selbst zu erkennen, ist es für den Menschen unabdingbar, daß er um die Geheimnisse bzw. das wahre Gesicht seiner Existenz weiß. Die Idee der Selbsterkenntnis geht hier der Idee der Gotteserkenntnis voraus. Wir können natürlich in der Sprache der Existenzphilosophie von einer Seinserkenntnis sprechen. Ohne die Idee des perfekten Wesens bzw. des perfekten Seins würde der Selbsterkenntnis keine große Bedeutung zukommen, wie wir bereits Jambets Intepretation entnehmen konnten, und die Wissenschaft bzw. die Betrachtung, die diese Seinserkenntnis ermöglicht, war nach Ṣadrās Auffassung die transzendentale Weisheit. 227 Nach Ṣadrā ist sie, wie bereits angedeutet, eine geistige Askese

Siehe Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (31376/1997): Tarǧuma wa tafsīr nahǧ al-balāġa. Bd. 14. Teheran, S. 55. 227 Jambet, L’acte d’être, S. 43 f. 226

226 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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bzw. eine »Exegese des Selbst« (»exégèse de soi«), in der Formulierung Jambets ausgedrückt. 228 Die Erkenntnis ist damit eine Pilgerschaft. Denn die Selbsterkenntnis ist hier nicht Selbstzweck. Sie ist ein Prozeß, um seinen wahren Grund erblicken zu können. Jambet faßt sie in einigen Worten zusammen. »Der Mensch wird zum Pilger zwischen der materiellen Realität und der Gnosis. Auf diesem Weg geht eine Reinigung der Seele vonstatten, der materielle Tempel wird zum transfigurierten Tempel, der nicht ein Ort blinden Gehorsams, sondern das Ende einer gelebten und durch Illumination der Erkenntnis des Höheren umgewandelten Erfahrung ist.« 229 Die Selbsterkenntnis ist damit eine Umwandlung hin zum Guten und zum Sein. Die Metaphysik dient dazu, die Seele unsterblich zu machen: Die Seele versöhnt sich mit ihrer wahren Natur und wird schließlich den engelhaften Substanzen ähnlich. 230 Die Erkenntnis des eigenen wahren Grundes ist die Erkenntnis des Seinsaktes, denn dadurch erkennt der Mensch die Vollkommenheit, die Unbegrenztheit und die unendliche Intensität und Macht des Seins. Das ist eine unmittelbare Erfahrung, die über die Begrenztheit der Welt der Erscheinung hinausgeht. Wenn der Mensch diese Stufe, die die höchste Stufe der Erkenntnis bedeutet, erreicht hat, wird er erleuchtet, weil er sich mit dem Intellekt vereinigt. In der sadraischen Philosophie ist damit der Erkenntnisakt ein Akt der Perfektion, die mit dem Seinsakt einhergeht. Der perfekte Mensch erlangt damit die Stufe einer selbstbewußten, selbstreflektierenden und ontologisch umfassenden Theophanie Gottes. Jeder perfekte Mensch ist eine bestimmte und einzigartige Möglichkeit der unendlichen ontologischen Möglichkeit der göttlichen Manifestation. 231 In der Existenzphilosophie Ṣadrās geht es weniger um die körperliche oder seelische Perfektion, denn diese sind nicht vom Seinsakt zu trennen. Ein Mensch, als eine Vereinigung von Körper und Geist, wie Kamal Ṣadrā versteht, ist nichts anderes als eine Modalität des Seins; oder, genauer, eine »Individuation des Seins«, um seine eigene Transzendenz zu erlangen durch das Tor der Selbsterkenntnis und durch die Annäherung an das Sein. Die Existenzphilosophie Ṣadrās ist eine Philosophie der Vollkommenheit, in der es um die individuellen Belange 228 229 230 231

Ebd., S. 35. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Vgl. Moris, Revelation, S. 115.

227 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

des menschlichen Seinsprozesses geht. In diesem Veränderungsprozeß erhebt sich diese Modalität des Seins über die Grenzen der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit, soweit sie fähig ist, die Bedeutung der eigenen Existenz zu verstehen und die Wahrheit zu suchen. Auf der Grundlage dieser Ontologie und der Abstufungen der Modalitäten des Seins sollte die Bedeutung des Menschseins, innerhalb der Intentionalität der aufsteigenden Bewegung, verstanden werden. Die Art und Weise, wie Mullā Ṣadrā die Abstufungen der Seinsmodalität innerhalb der transsubstantiellen Veränderung, vom Unvollkommeneren zum Vollkommeneren hin, betrachtet, kann hierzu verwendet werden, wie Kamal richtig interpretiert, »to address humanity in plurality«. 232 Der Erkenntnisprozeß ist in der Philosophie Ṣadrās ein dynamischer Akt des Seins, und zwar nicht wie bei Nasafī in einer Zirkularität, sondern einer grenzenlosen Kontinuität des Seins. Vollkommenheit kann hier verstanden werden als ein »unvollendetes Projekt« des Selbstentwurfes. Die unvollständige Schöpfung, d. h. die sich in der Potentialität befindende Welt, ist ein Ausdruck dafür, daß durch den Akt der Selbstperfektionierung ein Prozeß in Gang gesetzt wird, der die Kluft zwischen reiner Potentialität und reiner Aktualität überwindet. Daher können wir in der Philosophie Ṣadrās von einem Seinsakt sprechen, in dem beide Komponenten des Seins vorhanden sind: Reinheit, Absolutheit und Unbegrenztheit einerseits und die Entfaltung der Modalität hin zur Vollkommenheit andererseits. Die Perfektibilität des Menschen ist in seiner Philosophie ein dynamischer und prozeßhafter Akt, der eine Form menschlicher Existenz auf verschiedenen ontischhistorischen Stufen und verschiedenen Arten des Menschseins darstellt. Kamal kommt zu dem Schluß, daß es uns im Lichte dieser Art von Wandel möglich wird, über mehr oder weniger Menschsein auf verschiedenen Stufen der Existenz zu reden, in derselben Weise, wie wir ein Seiendes als größer oder kleiner beschreiben. Mullā Ṣadrās Ontologie ist der Versuch, den Spalt zwischen Monismus und Pluralismus zu überwinden. 233 Es stellt sich die Frage, ob eine solche Selbsterkenntnis im Sinne Ṣadrās der traditionellen Vorstellung in der islamischen Religion entspricht und außerdem, was man darunter versteht, wenn man von Gotteserkenntnis spricht. Viele islamische Gelehrte sind der Meinung, daß 232 233

Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 73. Ebd., S. 73.

228 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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man Gott nicht erkennen kann, denn dies erfordert, daß man sein wahres Wesen erkennt, und dies sei unmöglich. Selbst Ṣadrā spricht von einer Unfähigkeit des Verstandes, die göttliche Gegenwärtigkeit zu erkennen. Daher scheint es, daß es sich um eine Selbsterkenntnis handelt, die eine moralische Orientierung aufweist. Nasafī gehört z. B. zu denjenigen Gelehrten, die, wie Marijan Molé ausführt, behaupten, daß die Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis führt. Jeder, der sich selbst erkannt hat, kann Gott erkennen, denn es gibt nur eine Existenz, sonst nichts. Daß nur Gott selbst Gott erkennen kann, 234 bedeutet, daß die Selbsterkenntnis nichts anderes ist als daß man das Wahre in sich erblickt, das einzig ist. Für Nasafī jedoch kann die Erkenntnis sehr verschiedenartig gestaltet sein, denn die Verschiedenheit geht auf die Verschiedenheit der Erscheinungen des Wissens im Dasein zurück. Der Mensch kann daher entsprechend seiner existentiellen Anlage den jeweiligen Grad des Wissens erlangen. 235 Das Gleiche vertritt, wie wir bereits erfahren haben, Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī dahingehend, daß die Gotteserkenntnis nur durch die Selbsterkenntnis möglich wird. Er versucht damit zugleich zu beweisen, daß die Reziprozität der Gottes- und Selbsterkenntnis zu der Annahme führt, daß zwischen Gott und der Seele eine gemeinsame substantielle Beziehung existiert. 236 Diese Vorstellung entnehmen wir einer Überlieferung, die bereits erwähnt wurde und auf die sich ein großer Teil der Erkenntnisdebatte im Islam gründet: »Wer sich selbst [seine Seele bzw. sein Ich] erkennt, hat seinen Herrn erkannt« (man ʿ arafa nafsahū fa-qad ʿ arafa rabbahū). Auch wenn diese Überlieferung an den sokratischen Satz »Erkenne Dich selbst« erinnert, wird sie dem Propheten zugeschrieben. Dieses Selbstbewußtsein oder Ichbewußtsein soll eigentlich schon nach dem Motto »Ich denke« im Menschen vorhanden sein. Die Aussagen über das »Ichbewußtsein« des Menschen von Ibn Sīnā und al-Ġazālī wirken teilweise cartesianisch, 237 und manche Interpreten vergleichen sie mit der Aussage, »Ich denke, also bin ich«. 238 Doch darauf wurde in der islamischen Geisteskultur keine neue und fortschrittliche Philosophie ge234 Siehe die Ansichten Marijan Molés in der Einleitung von Nasafīs Werk. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 26. 235 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 271. 236 Aš-Šīrāzī, Madaʾ wa maʿ ād, S. 354. 237 Siehe Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. 2, S. 291–300, 367 ff.; al-Ġazālī, Kīmīyā-yi sa ādat, Bd. I, ʿ S. 13 ff. 238 Muhammad Iqbal lobt al-Ġazālī, hebt seine Bedeutung hervor und ist der Ansicht,

229 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

gründet, wenn überhaupt die moderne Entwicklung im Westen auf eine solche Debatte zurückzuführen ist, wie dies mit Stolz in bezug auf Descartes’ Philosophie im Abendland behauptet wird. 239 Es ist allerdings nicht ganz klar, ob die Selbsterkenntnis am Anfang oder, wie bei manchen betont, am Ende des Erkenntnisprozesses steht. Laut al-Ġazālī geht das »Ich denke«, das der Seele zugeschrieben wird, allem anderen voraus, denn eine solche Selbsterkenntnis sei evident. Dieses Wissen, wie wir es bei Ṣadrā gesehen haben, ist eine unmittelbare Vorstellung von seiner Existenz. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Mensch dadurch das Wesen des Seins erfassen kann. Mit anderen Worten: Der Mensch hat ein Bewußtsein von sich vor allen anderen Dingen. Dies geht aus der Annahme hervor, daß Denken und Existenz wie bei Ṣadr ad-Dīn ašŠīrāzī und auch bei al-Ġazālī ein und dasselbe sind. Allerdings ist bei Ṣadrā das Sein dynamisch und evolutionär, und damit ist das Denken ebenso evolutionär angelegt. 240 Die Frage ist, wie die Seele sich selbst erkennt. Ist diese Erkenntnis, das »Ichbewußtsein«, bereits mit der Seele gegeben, oder wird es im Laufe der natürlichen Entwicklung erworben? Wenn es ihr gegeben ist, wie erklärt man zum einen die Vorstellung von der »tabula rasa« des Geistes 241 und zum anderen die Verarbeitung von Erfahrung in der Kindheit des Menschen und den Geist des Neugeborenen? Wenn es aber im Laufe der natürlichen Entwicklung zustande kommt, wie macht es sich bemerkbar und was sind die Mittel, die für seine Erscheinungsformen verantwortlich sind? Wir können ebenso nach der »Bedingung daß er methodisch Descartes und in mancherlei Ideen David Hume voraus war. Siehe Iqbal, Development, S. 73. 239 Zakī Mubārak stellt allerdings einen Unterschied zwischen Descartes und al-Ġazālī fest. Er hebt Descartes als Vernunft- und Wissenschaftsverfechter gegenüber al-Ġazālī hervor. Darauf führt er sogar die unterschiedlichen philosophischen Entwicklungen im Westen und im Osten zurück und macht al-Ġazālī für die Stagnation der Philosophie im islamischen Orient verantwortlich. Wörtlich meint er: »Damit war al-Ġazālī die Ursache für die Stagnation der Philosophie im Orient sowie Descartes die Ursache für die Aktivierung der Philosophie im Westen«. Mubārak, Zakī (1924): al-Aḫlāq ʿ inda al-Ġazālī. Diss. Kairo, S. 344. Ich halte nichts davon, die Stagnation einer Wissenskultur oder wissenschaftlichen Tradition auf eine einzige Person zurückzuführen. Stagnationen beziehungsweise eine Neubelebung wissenschaftlicher Blüte hängen von komplexen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umständen ab, unter deren Einfluß sich auch Theologen wie al-Ġazālī befanden. 240 Siehe ebenso Açikgenç, Being and Existence, S. 65. 241 Im Koran steht ausdrücklich, daß der Mensch im Leib der Mutter noch kein Wissen besitzt. Gott habe ihm Gehör, Gesicht und Verstand gegeben. Siehe Koran 16/78.

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Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens

der möglichen Erkenntnis« fragen, wie wir sie in der kantischen Formulierung finden. Außerdem könnte die Entwicklung des menschlichen Geistes von der Kindheit bis hin zum erwachsenen Menschen die Frage aufwerfen, ob nicht die Seele des Menschen und damit ihre Erkenntnisse veränderbar sind. 242 Demnach scheint es richtig zu sein, von der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis zu sprechen, was der Sichtweise vieler Theologen entspricht. Mit wenigen Ausnahmen halten die Theologen die Fähigkeit der menschlichen Vernunft zur Erfassung der Wirklichkeit der Dinge, der metaphysischen Wahrheiten und sogar der Logik und des Sinnes der religiösen Gebote und Verbote für begrenzt. Eine solche Fähigkeit schreiben sie nur den Propheten und in der Schia den Imamen zu. Daher spielt bei den Theologen für den Wissenserwerb die Nachahmung bzw. das Lernen mithilfe der Überlieferung eine zentrale Rolle. Denn das Ziel des Wissenserwerbs ist gemäß ihrer Auffassung die Wahrheit, und die Wahrheit ist die göttliche Wahrheit und die Prophetie. Das Prophetentum, die heiligen Imame und die religiösen Autoritäten übernehmen entsprechende Funktionen, denn man geht davon aus, daß der Mensch ohne die Hilfe und die Anweisungen der genannten Institutionen keine fehlerfreie Erkenntnis gewinnen kann. Diesem Problem wird im Buch »al-Bulġā fi al-ḥikma«, das Ibn Arabī zugeschrieben wird, 243 Rechnung getragen: Er hält eine vollkomʿ mene Erkenntnis über die Dinge, wie sie sind, für schwierig, ja sogar für unmöglich. 244 Diejenige Erkenntnis ist akzidentiell, die mit Namen (asmāʾ ) und Eigenschaften (auṣāf) gegeben wurde und nicht mit dem wahren Wesen der Dinge einhergeht. Hier sieht der Autor eine Verbindung 242 Dem Koran entnehmen wir keine Seelenlehre, in der wir über das Wesen der Seele, ihre Entwicklung, ihre Fähigkeiten oder die Beschaffenheit ihrer Substanz erfahren. Über den Koran können solche Fragen auch nicht beantwortet werden. Dafür gibt es aber eine Menge Literatur, in der die islamischen Autoren diese Fragen – nicht immer explizit – zu beantworten versuchen. 243 Zur Echtheit dieses Werkes siehe Daiber, Hans (1999): Bibliography of Islamic Philosophy. 1–2. Leiden. Nr. 6229. 244 Siehe dazu Meyer, Egbert: Sprache und Weisheit, in: Zimmermann, Albert (Hrsg. 1986): Aristotelisches Erbe im arabisch-lateinischen Mittelalter. Übersetzungen, Kommentare, Interpretationen. Berlin, New York, S. 131. Auch Spinoza gibt zu, daß die Erkenntnis von Gott, auch vom Körper, wie er wirklich ist, nicht möglich ist, wenngleich dieser nicht in einer Vereinigung mit ihm stehe. Siehe Spinoza, Baruch de: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück. Hrsg. v. Wolfgang Bartuschat (1991), Hamburg, S. 108.

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zu dem koranischen Vers (2/31), nach dem Gott die Menschen alle Namen lehrte. So müssen dann alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und logischen Urteile ebenfalls akzidentiell sein. Auch muß nach dieser Vorstellung jede Definition unvollkommen sein, denn sie beschreibt letztlich nicht, wie die Dinge in Wirklichkeit sind, sondern nur deren Attribute und Bezeichnungen. In einem Traktat, den Ibn ʿArabī für einen seiner Novizen geschrieben hat, vermerkt er jedoch, daß die Erkenntnis zwei Formen hat: Die Erkenntnis durch die Vernunft und die Erkenntnis durch die Wahrheit. Die erste Art ist eine Erkenntnis der Wirkungen und Eigenschaften, denn sie kann durch Argumente und theoretische Betrachtungen erlangt werden, die zweite Art ist die Erkenntnis der Wahrheit, denn hier, sei das Wissen intuitiv oder erworben, wird die Wahrheit durch die Wahrheit erkannt. Für Ibn ʿArabī genügt die Erkenntnis der Namen und Attribute Gottes für die Erkenntnis der Wahrheit, denn diese sind nicht außerhalb der Essenz Gottes. Ibn ʿArabī macht jedoch die Erkenntnis der Wahrheit abhängig von der Selbsterkenntnis des Menschen, und dies entspricht der Erkenntnis von sämtlichen äußeren und inneren Wissenschaften. 245 Die sadraische Philosophie hat aber gezeigt, daß der Intellekt in seinem Wesen und seinem Erkenntniserwerb autark ist. Es wurde bereits durch diese ontologische Besonderheit des menschlichen Geistes deutlich, daß es beim Menschen um einen intellekthaften Prozeß geht. Die Vernunftmerkmale wie Wissen und Wille zum vernünftigen Handeln, die al-Ġazālī zu den Besonderheiten des Menschen erhoben hat, dürfen keineswegs unmittelbar auf das arme Adamskind qua Kind bezogen werden. Die Vernunftbegabung ist im Kind, wie er erklärt, nur potentiell vorhanden (was dem transzendentalen Akzent bei Ṣadrā entspricht). Nur durch Pflege oder Erfahrung können sie entwickelt werden und in Erscheinung treten. Das Adamskind wird quasi erst durch das Lernen ein Vernunftwesen. Ṣadrā ist sogar der Meinung, es sei falsch, wenn man glaubt, daß die Seele ein Vorwissen von dem hat, was wir in unserem Leben lernen und das Lernen sei nur eine Art Erinnerung. 246 Denn, wie bereits gesagt, ist die Seele von ihrem Anfang her frei von Eindrücken. Ihr einziges Wissen bezieht sich auf ihre ExisSiehe Chittick, Imaginal Worlds, S. 35 f. Siehe dazu auch Muḥaqqiq, Mahdī, Nasr, Hossein u. Adams, Charles J. (Hrsg. 1977): Ǧašn-nāma-i Hīnrī Kurbin (Henry Corbin). Universität Teheran und McGill, S. 174 f. 246 Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 491. 245

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tenz. Denn der Intellekt ist in der Seele nur potentiell vorhanden. 247 Ṣadrā betont ausdrücklich, daß nur der Seele dieser Lern- bzw. Erfahrungsprozeß möglich ist, denn die sensitiven Fähigkeiten können die Existenz der Objekte nicht erfassen. 248 Daher läßt Ṣadrā die Philosophie eine wichtige Rolle bei der Vervollkommnung des Menschen spielen, indem er der Seele zwei Kräfte zuschreibt, die bei der Vervollkommnung des Menschen behilflich sind: die geistige und die praktische Kraft (ʿ ālima wa-ʿ āmila, wörtl. Wissende und Handelnde). Diese sind für Ṣadrā nicht voneinander getrennt. (Bei anderen Lebewesen ist das jedoch der Fall.) Sowohl die geistige Betrachtung wie auch die moralische Handlung sind miteinander eng verbunden. 249 Es gibt für Ṣadrā viele körperliche, seelische und geistige Hindernisse, die die wahre Funktion des Intellekts stören können, und er meint dazu, daß man sogar die Seele ärztlich behandeln muß, wenn sie die logischen Axiome und rationalen Grundsätze nicht verstehen kann oder sie zu widerlegen versucht. Denn es sei möglich, daß gewisse in seiner Materialität begründete Fehlfunktionen die Funktion des Geistes verderben. Denn ein solcher Mensch, »wenn er die Wahrheit leugnet und sich hartnäckig zeigt, [so tut er das] etwa nicht, weil er in seiner Schöpfung unvollkommen wäre, wie Kinder, manche Frauen und die Schwachen, sondern er tut es, weil er von einer Krankheit befallen ist, die durch sein Temperament [mizāǧ], durch die Überhandnahme des melancholischen Temperamentes [saudā], verursacht wurde, womit die Ausgewogenheit des Gehirns verloren ging [gestört ist]. Die Behandlung einer solchen Krankheit ist wie die Behandlung von Melancholie.« 250

Da sich Wissen und Sein für Ṣadrā auf allen Ebenen in identischer Weise widerspiegeln, ist für ihn das Wissen wie das Sein entweder vollkommen (tāmm) oder genügsam (muktafī, mit eigenen Mitteln auskommend) oder unvollkommen (nāqiṣ). 251 Die menschliche Seele kann erst dann die Stufe der unmittelbaren Schau erreichen, d. h. die Welt aus ihrem Wesen heraus erblicken und erkennen, wenn sie sich von der sinnlichen und imaginären Welt befreit hat und zum reinen Intellekt 247 248 249 250 251

Ebd., S. 461 ff., 498 f. Ebd., S. 498. Ebd., S. 418 f. Ebd., S. 445 f. Ebd., S. 500 f.

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geworden ist. Somit wird die Seele wissend. Wie bereits dargelegt, steht nach den islamischen Philosophen und auch vielen Mystikern die naturhafte Welt unter der Wirkung des aktiven, aktuellen Intellekts. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen befindet sich in diesem Prozeß unter der »Erleuchtung des aktiven Intellekts«, womit er in der Lage ist, sich dieser Intellektkette anzuschließen, d. h. der Mensch kann nur durch die geistige und individuelle Entwicklung zu diesem aktiven Intellekt aufsteigen, genauer gesagt, zurückkehren. Zunächst muß sich der Mensch vom potentiellen Intellektzustand zum habituellen Zustand entwickeln. Hierbei tritt der Mensch aus dem Zustand der tabula rasa heraus und beginnt, sich Wissen und geistige Bildungskraft anzueignen. Danach ist der Mensch in der Lage, das Gute und Richtige vom Bösen und Falschen zu unterscheiden. In diesem Zustand erreicht er die aktive Phase seines Geistes. Letztlich kann er auch diesen Zustand überwinden und zum erworbenen Intellekt (ʿ aql bi-l-mustafād, lat. intellectus acquisitus / epiktetos) kommen. In diesem sind sowohl das theoretische als auch das erlernte Wissen vorhanden. So vereint sich die Vernunftseele mit dem aktiven Intellekt. Der Mensch erreicht einen unmittelbaren Zustand der Erkenntnis. Um es in der mystischen Sprache zu formulieren: Er erwirbt das Vermögen der Schau, mit dem er das Wesen der Dinge unmittelbar erblicken kann. Ob man durch eine mystische Schau oder durch Weisheit, geistige Anstrengung und intellektuelle Betrachtungen zu dem Ergebnis kommt, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist, ist an dieser Stelle nicht entscheidend: Es ist im Grunde nur wichtig, zu beobachten, daß die Vernunft immer eine tätige Vernunft ist. Sie erschafft, sie nimmt wahr, sie koordiniert und organisiert, sie analysiert und kritisiert, sie ist im Dialog mit sich und mit der Umwelt, und zwar als das Mittel, mit dem der Mensch zur Glückseligkeit und Vervollkommnung strebt. Es gibt aber islamische Denker wie al-Ġazālī, bei denen das Herz, das innere Auge für die Betrachtung der Wirklichkeit und des Verborgenen zuständig sind. Dagegen gibt es jedoch kaum Gelehrte, bei denen die Vernunft keine entscheidende Rolle spielt. Auch bei al-Ġazālī ist die Vernunft, sofern sie rein ist, eine unverzichtbare Instanz. Aber für einen Mystiker wie Naǧm ad-Dīn Rāzī reicht Vernunft nicht aus, alle Vollkommenheiten zu erlangen, auch wenn er sie als Attribut des Lichtes und des Geistes sieht, in der sich sogar alle Qualitäten der oberen und unteren Welt, nämlich der geistigen und körperlichen Welt, vereinigen. Der Mensch hat, Naǧm ad-Dīn Rāzī zufolge, 234 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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zwei Entwicklungsarten bzw. Vervollkommnungspotentiale: In einer Möglichkeit hat der Mensch existentielle Eigenschaften und Wesensmerkmale aller anderen Lebewesen, nämlich von Gesteinen, Pflanzen, Tieren, Teufeln und Engeln, in ihrer vollkommenen Form inne. Die Vernunft ist jedoch die höchste Form der Vervollkommnung, die Engel und Menschen gemeinsam haben. Im Unterschied zu Engeln kann die Vernunft beim Menschen entwickelt werden. Mit der Erziehung der Vernunft kann der Mensch allen Potentialitäten in seinem Wesen Aktualität verleihen und zu höherer geistiger Entwicklung gelangen. Die zweite Möglichkeit der Vervollkommnung ist dem Menschen speziell eigen. Durch das »Licht Gottes« erhebt er sich über alle anderen Lebewesen. Nur der Mensch ist dieser Gabe würdig. Das ist für Naǧm adDīn Rāzī das, was Gott dem Menschen anvertraute (amāna) und der Mensch angenommen hat. Dieses letztere Vervollkommnungspotential ist seiner Meinung nach ein Privileg, das nicht jedem Menschen gegeben wird. Doch die Vernunft, durch die Gott den Menschen anspricht, ist allen Menschen gegeben. Naǧm ad-Dīn Rāzī vertritt die Auffassung, daß diese Vernunft souverän ist und zu ihrer Erziehung keinen Propheten benötigt, bis diese Vernunft vollkommen wird. Mit dieser Vernunft, glaubt er, haben viele Menschen und Denker eine Höherentwicklung in den Wissenschaften erreicht. Was die göttlichen Wissenschaften betrifft, so kann sie der Mensch nicht durch die Vernunft erlangen. Dafür benötigt der Mensch die unmittelbare Gnade. 252 Man sieht, auch dort, wo dem Glauben ein eigener besonderer Platz zugewiesen wird, ist die Vernunft als göttliche Gnade ein Instrument und Kennzeichen für diese Höherentwicklung. In der Mystik, der islamischen Jurisprudenz und den Wissenschaften der Überlieferung, in denen die Vernunft angeblich nachrangig zur Offenbarung und den überlieferten Aussagen des Propheten und der heiligen Imame (oder laut manch anderen Theologen zur Übereinstimmung der Gelehrten) positioniert ist, wird letztlich die Vernunft nicht für ungültig erklärt, sie wird lediglich anders bezeichnet, nämlich »reine Vernunft« oder »autoritäre Vernunft«. Alles in allem begleitet die Vernunft als Prinzip die Entscheidungen und Handlungen des Menschen. Letztlich entscheidet dieser selbst, ob er Nachahmer oder kritisch und souverän sein will. Unter diesem Aspekt wird verständlich, warum al-Fārābī vom »Abbild252 Rāzī Dāya, Naǧm ad-Dīn: Risāla-yi ʿ išq wa ʿ aql (Miʿ yār aṣ-ṣidq fī miṣdāq al-ʿ išq). Hrsg. und ediert v. Taqī Tafaḍḍulī (1345/1966). Teheran, S. 45 ff.

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charakter der Religion« spricht. Denn er sieht die Ge- und Verbote der Religion als vereinfachtes Abbild des Urbildes, an dem sich die Philosophen aufgrund ihrer Vernunfterkenntnisse orientieren können. Daher würden die Philosophen, im Gegensatz zum einfachen Volk, der religiösen Vorschriften nicht bedürfen. 253 Wie wir bereits erfahren haben, ist Wissen, trotz seiner vielfältigen Erscheinungsformen, stets die Folge einer inneren Tätigkeit der intellekthaften Seele und geht mit dem Seinsakt einher. Wir können es so formulieren: Das Wissen ist eine Selbstorganisierung des seelischen Kreationsvermögens. Für Philosophen wie Ṣadrā ist das Wissen um etwas entweder identisch mit dem Wesen desselben Objekts oder das Abbild des kollektiven Intelligiblen im Geist. In beiden Fällen scheint es, daß das Objekt des Wissens zwar mit dem Wissen identisch, aber keineswegs der Inhalt des Wissens ist. Auch wenn ohne die Individuation in der Welt der Existierenden nichts in Erscheinung tritt (aš-šayʾ u mā lam yatašaḫḫaṣ lam yūǧad), 254 werden die Dinge der Außenwelt als Gegenstand des Wissens bestehen bleiben, wenn ihre Existenz durch das Urteil des Geistes evident und als Anschauung verifiziert wird. Alles andere sind nur Individuen und Teile, die als solche kein Wissen im Geist produzieren können, sondern Elemente, die sich durch ihre Einheit im Geist als solche erweisen. Die Einheit des Intellekts, des Denkenden und des Gedachten ist daher die konsequente Folge der sadraischen Existenzphilosophie. Die Einheit der Existenz kommt allen Formen des Seins zu, in der Außenwelt und im Geist. Daher ist das Sein in Ṣadrās Philosophie, anders als die Wesenheit, nicht allgemein, sondern real, aktuell und äquivok, wodurch all seine Teile und Erscheinungsformen seine spezifische Individuation, Intensität und Einheit haben. Ṣadrā begreift infolgedessen das Wissen als eine Seinsform. 255 Ohne die Einheit zwischen den Dingen und Phänomenen wird kein Wissen und damit keine Erkenntnis zustande kommen, so kann man die Ansichten vieler islamischer Philosophen (auch wenn manche von ihnen durchaus nicht ignorieren, daß die intellekthafte Seele in ihrer

253 Siehe Griffel, Frank (2002): Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu alĠazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktionen der Philosophen. Leiden u. a., S. 245 f. 254 Siehe Anm. 344. 255 Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, S. 294.

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inneren Perzeptionstätigkeit auf die Sinne angewiesen ist) kurz formulieren. »Alle diese Gestalten und Formen der Kreationen und Erschaffungen [pers. sanāʿ āt, wörtl. Künste], die zunächst in der Seele und dann in der Außenwelt zustande kommen, sind das Ergebnis dieser Kreation [pers. ḫallāqīyat] der Seele und der geistigen Existenz. Die Majestät der göttlichen Einmaligkeit, seine Herrschaft sei erhaben, hat die Vernunftseele des Menschen als Manifestation seiner Kreation und als Lehrling seiner kosmogenetischen Namen bestimmt und hat durch die Werkstatt [pers. kārḫanih, wörtl. Firm, Fabrik] seines Geistesvermögens [pers. quwwa-yi fikrī, die geistigen Kräfte] tausend und abertausend Werke [pers. maṣnūʿ , Kunstwerk, Produkt] zustande gebracht. Der Mensch erlangt durch dieses kreative Vermögen über die Werkstatt der naturhaften Welt und der verborgenen und sichtbaren Kräfte die Einsicht [das Bewußtsein]. Demnach kann er sich orientieren und von einer Kreation sprechen [und es für eine Kreation halten]. So ist Gott voller Segen. Er ist der beste Schöpfer [den man sich denken kann].« 256

In diesem Abschnitt ist der Mensch nicht nur der neue Mensch, sondern auch das beste Geschöpf, wie es im Koran stolz hervorgehoben wird. In der obigen Formulierung ist allerdings etwas zu beobachten, was man sonst von vielen anderen islamischen Denkern vor Ilāhī Qumšaʾ ī nicht kennt: Er hebt das Kreationsvermögen des Menschen (pers. ḫallāqīyat-i insān) als ein Merkmal hervor, um Mensch und Gott sowohl in den geistigen als auch in den praktischen Fähigkeiten, wenn nicht als identisch, so doch als einander ebenbildlich darzustellen. Dieser Schüler der Isfahaner Schule nimmt Abstand von vielen seiner Vorgänger und unterstützt die transzendentale Philosophie Ṣadrās, seines Lehrers, mit einer modernen Interpretation. Wie Ṣadrā sieht er die Ansichten des griechischen Denkers Porphyrios mit dem, was Ṣadrā in seinem Hauptwerk »al-Asfār al-arbaʿ a« darstellt, in Einklang. Demnach gilt für Porphyrios wie für Ṣadrā die Einheit von Wissen, Objekt und Subjekt des Wissens. Diese Einheitsvorstellung von Subjekt und Objekt ist nach Ilāhī Qumšaʾ īs Interpretation die Einheit des Intellekts, die als Gedankenelement auch häufig in der neuplatonischen Emanationslehre Ilāhī Qumšaʾ ī, Ḥikmat-i ilāhī, S. 147. Den letzten Satz dieses Zitates, den Ilāhī Qumšaʾ ī dem Koran entnimmt, haben wir bereits im vorherigen Kapitel behandelt. Siehe Anmerkung 192, Koran 23/12–14. An einer anderen Stelle wird im Koran erwähnt: Die Erschaffung der Nachkommenschaft des Menschen aus einem »verächtlichen Wasser«. Siehe ebd. 32/8. 256

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der islamischen Philosophie auftaucht. Die Einheit des Intellekts ist zugleich die Einheit des Wissens (und damit die Einheit von Subjekt und Objekt). Gott hat dieser Ansicht zufolge das menschliche Wesen aus der Substanz des Wissens und der geistigen Gestaltung erschaffen, so als sei das Wesen des Menschen die Widerspiegelung des göttlichen Wissens selbst; d. h. die Vernunftseele (an-nafs an-nāṭiqa) ist nichts anderes als Wissen per se. Genau hier betont Ilāhī Qumšaʾ ī die Besonderheit der sadraischen These der »substantiellen Bewegung«, mit der er die Entwicklung und den Prozeß der Menschwerdung folgendermaßen zusammenfaßt: »Diese Meinung macht die substantielle Bewegung am besten ersichtlich; das Neugeborene ist zunächst in seinem Menschsein sehr schwach und unbeholfen, und je mehr es den Stand seines Wissen und seines Intellekts durch Natur, Disposition oder durch Betrachtung und Erwerbung erweitert, desto stärker und fähiger wird es in seiner wahren Menschlichkeit [gemeint ist das Wesen des Menschlichen]. Man könnte sagen, daß die Formen [Gestalten] des Wissens, die Wissenschaft, das Denken und der Intellekt Ziegel und Tonmasse des Gebäudes der menschlichen Seele sind, und so bildet die Errungenschaft der Formen des Wissens den Gipfel des Palastes des Menschenranges. Je mehr der Mensch im Rang des Wissens steigt (was selbstverständlich verstärkt in rationalen und theologischen Wissenschaften der Fall ist), desto höher wird der Palast der Vernunftseele, desto größer, stärker und vollkommener der Geist. Also ist Wissen keine akzidentielle Sache (die Qualität der Seele usw.), sondern die Substanz der Vernunftseele in der Seele und die Substanz des abstrakten [materiefreien] Intellekts im Intellekt.« 257

Erkenntnis ist nach dieser Vorstellung ein metaphysisches Phänomen. Ohne die Vernunftseele kann kein Wissen zustande kommen. Gewissermaßen kann man sagen: Ohne Intellekthaftigkeit der Seele ist der Mensch kein Mensch und Menschsein heißt, ein Erkenntniswesen zu sein. D. h. alle wissenschaftlichen Errungenschaften und Erkenntnisse sind Wahrheiten, die man nicht erst mit seinen Sinnen oder seinem Denkvermögen aus der Außenwelt, ja aus der naturhaften Welt, hervorsuchen kann. Auch wenn der Mensch in seiner naturhaften Welt auf Mittel, Instrumente bzw. auf materielle Kräfte wie die Sinnesorgane angewiesen ist und es ihm erst durch die leibliche Entwicklung ermöglicht wird, seine geistigen Fähigkeiten auszuüben und sich zu optimieren, ist er seinem Wesen nach ein Erkenntniswesen. Sein Geist denkt 257

Ilāhī Qumšaʾ ī, Ḥikmat-i ilāhī, S. 153.

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sich selbst und hat die Anlage und Potentialität, die Erkenntnis durch die Welt des Werdens zu konkretisieren und zu thematisieren. Schon bei al-Fārābī und seinem Nachfolger Ibn Sīnā sowie anderen Anhängern der peripatetisch-neuplatonischen Schule ist die Beteiligung des »aktiven Intellekts« (al-ʿ aql al-faʿʿ āl), der ohne Hilfe der Sinne zur Stufe des »erworbenen Intellekts« (al-ʿ aql al-mustafād, lat. intellectus acquisitus/epiktetos) gelangt, unverzichtbar für den Erkenntniserwerb. Auch bei Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī ist, wie man festellt, eine Epistemologie ohne die Einheit des menschlichen Geistes mit dem aktiven Intellekt nicht vorstellbar. 258 Die Wechselbeziehungen zwischen den drei Intellekten (al-Fārābī zählt den »potentiellen Intellekt« dazu) stehen direkt unter der Einwirkung des aktiven Intellekts. Wir können uns vielleicht die Feststellung zutrauen und die These formulieren, daß das Subjekt der Erkenntnis, sprich der Geist des Menschen ohne sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung, »formlos bzw. gegenstandslos« und ohne Vermögen des Geistes »inhaltslos« ist. 259 Nach den islamischen Philosophien dienen die Sinnesorgane und das Denkvermögen dem Menschen als »Streitkräfte« und »Werkzeuge«, um den Geist oder die Seele des Menschen, oder, man könnte es auch so ausdrücken, die »Ordnung der Dinge« thematisch zu erfassen und sich der inneren Ordnung seines Geistes bewußt zu werden. Nur in diesem Sinne kann man von einer »Selbsterkenntnis« sprechen. Die Ordnung der Dinge in der Außenwelt wird als ein Abbild der ewigen Ideen aufgefaßt, die nach Ansicht der islamischen Denker aus Gott hervorgehen und mit ihm in ihrer Notwendigkeit identisch sind. 260 Der Gegenstand der seelischen Tätigkeit ist insofern die »geistige Gottesschau« (al-Kindī) und die Erlangung der Glückseligkeit. 261 Wenn man die islamischen Philosophen richtig versteht, hat die Seele diesen

Vgl. Açikgenç, Being and Existence, S. 65. Kant meint, Begriffe ohne Anschauungen bzw. Gedanken ohne Inhalt sind leer und Anschauungen ohne Begriffe blind. Siehe Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Raymund Schmidt (1962). Würzburg, S. 95, B75, A51. 260 In der Deutung der Außenwelt sind die führenden islamischen Philosophen, auch wenn manche von ihnen, wie Ibn Sīnā, in ihren Darstellungen von Anfang und Schöpfung und von Materie und Form glaubten, Aristoteles zu folgen, letztlich im platonischen Denken verhaftet. 261 Siehe dazu al-Kindī, Abu Yūsuf Ya qūb Ibn Isḥāq: Rasā il al-Kindī al-fasafīya. ʿ ʾ Hrsg. v. Abū Rīda, Muḥammad ʿAbdulhādī (q1419/1999). Frankfurt u. Kairo, S. 272– 282, 293–311; De Boer, Geschichte, S. 90–97. 258 259

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geistigen Erkenntnistrieb nicht erst in der materiellen Welt erworben, sondern er müßte bereits vor der Entstehung der materiellen Welt existent gewesen sein. Das Problem, mit dem die Anhänger dieser Vorstellung zu kämpfen haben, besteht in der Rolle der Gegenstände für die Erkenntnisbildung, die als sekundär aufgefaßt wurde. Im Kern hätte der Geist kein Wissen, wenn er nicht ein solches Wissen von den Gegenständen a priori hätte. D. h. das, was im menschlichen Geist abgebildet wird, stimmt mit dem überein, was bereits als Bild bzw. Idee existierte. Ein ontologischer Monotheismus erlaubt nämlich nicht, daß die Welt der Phänomene mit dem, was sich im Geist abspielt, zu gleicher Zeit geschieht, denn Gott bzw. die erste Ursache ist allem Seienden zeitlich voraus. Man versucht, mit einer geschickten Interpretation die Beziehung zwischen den Phänomenen und dem Sein als solchem, zwischen denen notwendigerweise eine gewisse Übereinstimmung festgestellt werden muß, zu erklären. In diesem Zusammenhang vermittelt der Satz von Ibrāhīm Madkūr, wonach Wissen und Geschöpf gleichgesetzt werden, 262 eine mögliche Lösung, um die Dualität zwischen dem Sein an sich und den Phänomenen zu beheben. Mit dieser Vorstellung hätten selbst diejenigen Schwierigkeiten, die die Seele ihrer Entstehung nach materiell und ihrer Unvergänglichkeit nach als geistig interpretieren. Auf diese Problematik wurden die Anhänger des »Primates des Seins« (aṣālat al-wuǧūd) aufmerksam und unternahmen den Versuch, die unüberwindbare Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu lösen. Nach den bisherigen Ausführungen können wir uns im islamischen Denken eine Erkenntnisanthropologie nur im Zusammenhang mit der Metaphysik vorstellen. In den philosophischen Erzählungen Ibn Sīnās ist die genannte metaphysische Erkenntnisanthropologie am besten erkennbar. In den Traktaten »Risālat Ḥayy bin Yaqẓān«, »Salāmān wa-Absāl« und »Riṣālat aṭ-Ṭair« geht es darum, eine menschliche Erleuchtungshimmelfahrt durch eine Erkenntnisoptimierung zu thematisieren, die sich von »Westen« (ġarb), wo die Sonne abwesend ist, nach »Osten« (šarq), wo die Sonne bzw. das Licht sich befindet, begibt. Die Reise geht in die Welt des Absoluten, des Abstrakten und der Erleuchtung, nämlich in das göttliche Königreich. Noch deutlicher erkennt man diese Erkenntnisanthropologie bei Ibn Ṭufail, die wir speziell in seinem

Siehe dazu Madkūr, Ibrāhīm: al-Fārābī, in: Sharif, M. M. (Hrsg. 1963): The History of Islamic Philosphie. Bd. I. Wiesbaden, S. 458.

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philosophischen Roman »Ḥayy bin Yaqẓān« finden können. 263 In seiner Philosophie handelt es sich um einen Versuch, die mystische und intuitive Erkenntnis mit der avicennischen Rationalität des Erkenntniserwerbs und der Vervollkommnung der individuellen Seele miteinander zu verbinden. 264 Wie bei Ibn Ṭufail ist auch bei Ibn Sīnā die materielle Welt schlicht überwindbar. Die beschriebene Reise geht durch den »Westen«, also durch die Welt. In seinen drei Erzählungen wird die Darstellung der geistigen und mystischen Reise von solchen Metaphern geprägt. Ihr Ziel ist die absolute Erkenntnis oder »die Erkenntnis selbst«. Diese angestrebte Einheit mit der Erkenntnis setzt voraus, dem Weg zur Erleuchtung zu folgen, und Ḥayy bin Yaqẓān zeigt den Weg. Er verkörpert den Engel bzw. den spirituellen Wegweiser, nämlich das im Menschen vorhandene engelhafte Wesen, also »die intellekthafte Seele«. Deshalb ist der Mensch befähigt, in »Risālat aṭ-Ṭair« die besondere Sprache zu lernen, die Vogelsprache, wie es auch bei Salomon dargestellt wird. Aufgrund der sprachlichen Beziehung zur Logik (manṭiq) wird diese Fähigkeit gelegentlich die Wissenschaft der logischen Urteilskraft genannt, die einer inneren, seelischen Zustimmung untergeordnet sein soll. In »Risālat aṭ-Ṭair« gelingt es dem Vogel mit Hilfe der engelhaften und himmlischen Vögel den Weg zu beschreiten. In seinem philosophischen Roman »Salāmān und wa-Absāl« läßt Ibn Sīnā die Hauptfigur Absāl den Königsweg zu Ende führen. 265 Mit der Befreiung von der körperlichen Welt, die mit seinem Tod vollzogen wird, und mit seiner sittlichen und erkenntnisreichen Lebensart erreicht Absāl das göttliche Reich, die Welt der Erleuchtung, nämlich die »Einheit mit dem Osten«. 266 Hossein Nasr vergleicht diesen geistigen »Aufbruch nach dem Osten« 267 mit der »Verwandlung des unedlen 263 Siehe Ibn Ṭufail, Muḥammad Ibn ʿAbd al-Malik: Ḥayy Ibn Yaqẓān. Hrsg., kommentiert und eingel. v. Fārūq Saʿ d (q1394/1974). Beirut. 264 Siehe Rudolph, Islamische Philosophie, S. 68. 265 Zur Erzählung von »Salāmān wa Absāl« siehe Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. III, S. 364 ff. 266 Danach hat, wie es scheint, Ibn Sīnā seine Philosophie »Die illuministische Weisheit« (al-ḥikma al-mašraqīya) benannt. 267 Übernommen habe ich diesen Ausdruck von Strohmaier, Gotthard (1999): »Avicenna«. München, S. 89. Zu dieser Erzählung von Ibn Sīnā siehe ebd., S. 80–86; Dazu siehe auch Nasr, Hossein (1978): An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines. Conceptions of Nature and Methods Used for Its Study by the Ikhwān al-Safāʾ , al-Bīrūnī and Ibn Sīnā. London, S. 263–274; Ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥusain Ibn ʿ Abdallāh: Qiṣṣa-yi zinda-yi

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Metalls in Gold«, die als Kunst einem Alchimisten zugeschrieben wird. Dabei verliert der Mensch, wie bei dem unedlen Metall, seine »erste Natur« und es gibt keine Rückkehr mehr zu ihr. 268 Wir betrachten dieses Gleichnis als eine Hilfe für die Beschreibung der geistigen und seelischen »Verwandlung« oder anders formuliert, für den Steigerungs- und Vollkommenheitsprozeß des Menschen, aber wir können dieses Gleichnis kaum dazu heranziehen, den Mensch nach der islamischen Schöpfungsgeschichte seiner ersten Natur nach für ein materielles Wesen zu halten, das im Verlauf einer geistigen Evolution und seelischen Verwandlung eine »neue« bzw. »zweite« Natur bekommen habe. Diese Transformation der Person erfüllt hier den Zweck, dem Menschen seine Vollendung mit Hilfe des seelischen Vermögens, welches eine spezifische Qualität der menschlichen Natur darstellt, zu ermöglichen, wie man dies auch von dem platonischen Höhlengleichnis kennt. Diese seelische Kraft im Menschen steht unter der permanenten Wirkung des aktiven Intellekts (ʿ aql al-faʿʿ āl), d. h. dieser erleuchtet den rezeptiven Intellekt des Menschen. Er verleiht dadurch dem Menschen sowohl die existentielle als auch die willentliche und erkennende Möglichkeit, das Reich des Lichtes, des Intellekts bzw. der Vollkommenheit kraft eigenen Bemühens zu erlangen. Eine allmähliche Transformation von einem niedrigen hin zu einem vollkommenen existentiellen Zustand, um eine »neue« bzw. »zweite« Natur zu bekommen, verlangt eine Vorstellung von einer dynamischen Existenz. Sie stellt in jeder Stufe und in jeder Seinsform eine transformatorische Steigerung dar, aber keine unmittelbar adäquate Zuschreibung jeder Seinform, die von den peripathetischen Anhängern in der islamischen Welt vertreten wurde. 269 Eine solche Idee ohne die Idee der substantiellen Bewegung konnte nicht standhalten. Allein Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī ist es gelungen, einer solchen »Evolutionstheorie« mit Hilfe seiner Lehre von der substantiellen Bewegung Plausibilität zu gewähren.

bīdār, in: Suhrawardī, Šihab ad-Dīn Yaḥyā: Qiṣṣahā-yi Šaiḫ-i išrāq. Hrsg. v. Ǧaʿ far Mudarris Sādīqī (21377/1998). Teheran. S. 71–81. 268 Nasr, An Introduction, S. 266. 269 Vgl. Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, S. 66.

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Metaphysik als Quelle der Natur

IX. Metaphysik als Quelle der Natur und die Natur als Quelle einer evolutionären Erkenntnisanthropologie Allerdings lassen sich die oben genannten Interpretationen auf jene These zurückführen, der zufolge alle Lebewesen sich durch die substantielle Bewegung erneuern und die Welt in jedem Moment fortwährend von neuem entsteht. Ibn Sīnā wies eine solche These zurück, da sich seiner Meinung nach die Phänomene bzw. die Welt überhaupt in einem dauernden Prozeß der »Entstehung und des Vergehens« (kaun wa fisād) befinden, sonst würden sie ihre Identität oder ihr Sein verlieren oder immer etwas anderes werden als sie sind, bzw. im nächsten Moment nicht mehr existieren. 270 Wir haben bereits aufgezeigt, daß wir nach der These der substantiellen Bewegung, wie sie von Ṣadrā und seinen Anhängern vorgetragen wurde, auf einen ganz neuen Aspekt stoßen. An dieser Stelle soll auf die erkenntnisanthropologische Bedeutung der substantiellen Bewegung hingewiesen werden. Ṣadrā wollte mit dieser These das Perfektionsstreben der Welt als eine Notwendigkeit begründen. Dieser Perfektions- bzw. Vollkommenheitstrieb hat nur eine Richtung und ein Ziel. Es perfektioniert sich alles hin zum Ursprung, der das höchste Gut und die vollkommenste Stufe des Seins ist. Dieser Perfektionstrieb zeigt sich nicht zuletzt in einem Erkenntnistrieb. Denn der Ursprung ist nach Ṣadrā und ihm vorausgehenden Philosophen davor das reine Wissen. Ein solcher Perfektionstrieb setzt die Unvollkommenheit der Welt des Werdens voraus. Außer dem Ursprung und dem absoluten Sein ist alles andere in bezug zum Ursprung unvollkommen. Demnach nimmt das Wissen bei einem Kind in seiner organischen Entwicklung sowohl qualitativ wie auch quantitativ zu. Das Wissen, das ein Mensch vor dem geistigen Zustand, nämlich vor dem Zustand der Intellekthaftigkeit (taʿ aqqul), erwirbt, ist materiellen Ursprungs, und daher bedient sich die Seele der Sinnes- und Verstandesvermögen für den Erkenntniserwerb. Ist die Seele in einen geistigen Zustand eingetreten, so benötigt sie kein Sinnes- und Verstandesvermögen. Sie nimmt die Dinge in ihrer 270 Ibn Sīnā betrachtet die substantielle Bewegung auch als folgenreich für die menschlichen Handlungen, denn er soll als Antwort auf die Frage bezüglich der substantiellen Bewegung, die ihm sein Schüler Bahmanyar stellte, gesagt haben, daß er gar nicht verpflichtet sei, diese Frage zu beantworten, denn er sei während der Antwort nicht die Essenz, die gefragt wurde. Siehe Ǧaʿ farī, Tarǧuma wa tafsīr, Bd. 14, S. 64 f.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

geistigen Form und unmittelbar wahr. Da alles in der Welt eine geistige Gestalt in der Welt der ewigen Ideen hat, so scheint es, daß sich die materiellen Formen der Erkenntnisse durch die substantielle Bewegung verändern und einen neuen Erkenntniszustand erreichen. Alle wissenschaftlichen Bestrebungen sind demnach ein Mittel, das reinste, höchste und vollkommenste Wissen zu erlangen. Wissen und Sein sind damit ein und dasselbe, wie bereits dargelegt. Auch ein Anhänger der aristotelischen Schule wie Afḍal ad-Dīn Kāšānī kommt zu demselben Ergebnis. Selbst wenn er in der Tradition der Gegenposition zur Idee der substantiellen Bewegung steht, versteht er die Welt und das Leben als ein Zusammenspiel von Bewußtsein bzw. Erkennen (pers. agāhī wa-dānistan), Wille und leidenschaftliches Sehnen (irāda wa-šauq) und Bewegung: Denn kein Leben im Körper ist ohne Bewegung, keine Bewegung ohne Willen, kein Wille ohne Bewußtsein, und dieses Bewußtsein ist das Merkmal der Seele, das den Menschen zum Menschen macht. 271 Ein vollkommenes Sein ist Kāšānī zufolge die Vollkommenheit des Bewußtseins. »Das ist das vollkommene Sein, die beständige Freude und der bleibende Genuß. Denn Genuß ist nichts anderes als das Bewußtsein vom Erlangen mit dem sich in Übereinstimmung Befindenden [muwāfiq, wörtlich auch Parteianhänger]. Es gibt nichts Übereinstimmenderes als das vollkommene Sein, und es gibt [auch] kein Vollkommenes, das geringer ist als daß es alle Seienden umfaßt, und [auch] keinen Genuß, der beständiger ist als das Bewußtsein des vollkommenen Seins von seinem Selbst [von sich selbst]. Denn die Quelle der Ewigkeit und der ewigen Beständigkeit ist diese.« 272

Wir beobachten ein Verständnis von der Vollkommenheit, das die Einheit von Wissen, Wissendem und Gewußtem voraussetzt. Es setzt den höchsten Grad der Selbsterkenntnis voraus. Jene Einheit ist nichts anderes als die Einheit von Intellekt, Denkendem und Gedachtem, die Kāšānī zufolge für die Vollkommenheit der Aktualität des Denkens und des Wissens verantwortlich ist. Die Vervollkommnung der Welt ist einem Prozeß zu verdanken, der von dem bewußten Akt des Denkens hin zu aktiver »Produktion« (taulīd) und »Vervielfachung« (tafrīʿ , wörtl. Verzweigung), von »Erkennen« (dānistan), und zwar von bewußtem Erkennen, des Ganzen abhängig ist. Die Bewegung, die bei 271 272

Vgl. Kāšānī, Muṣannafāt, S. 14–18. Ebd., S. 51.

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Metaphysik als Quelle der Natur

Kāšānī keine substantielle ist, verbindet die Welt des aktiven Intellekts mit der Herstellung der natürlichen Welt. Sie entsteht durch wachsendes Leben und Empfinden, was dem Denken und Erkennen entspricht. Bei Ṣadrā haben wir eine Art der Bewegung beschrieben, die dem Ding vorausgeht. Sie ist eine Eigenschaft der Natur der Dinge. Die substantielle Bewegung setzt die Welt quasi in einen permanenten und evolutionären Erneuerungstrieb, ohne daß die Identität des alten Zustandes völlig verschwindet. Denn das Neue ist in dem vorherigen Zustand immer schon potentiell vorhanden. Nach Ṣadrā sind sogar Wissen und Perzeption die Bewegung von Potentialität (quwwa) zur Aktualität (fiʿ l). Im Menschen ist also das Wissen (und Nichtwissen) potentiell vorhanden. In jeder seiner Entwicklungsstufen erlangt der Mensch eine entsprechende Erkenntnisstufe. Durch den permanenten und ununterbrochenen Perfektionstrieb strebt der Mensch nach dem perfekten Wissen. Je höher die Erkenntnisstufe des Menschen ist, desto menschlicher wird er. Die substantielle Bewegung transformiert zwar die Substanz, nicht aber die Einheit und die Identität der Dinge. Denn diese sind durch eine »ununterbrochene Bewegung« (al-ḥaraka al-ittiṣālīya) gesichert. Daher ändert sich auch nicht das Wesen des Wissens, sondern es findet eine Umwandlung statt. Die bereits in der islamischen Mystik vorhandene Vorstellung von der »Verwandlung (Umwandlung) der natürlichen Phänomene« 273 findet bei Ṣadrā und auch bei vielen seiner Vorgänger und Anhänger Zuspruch und wird deren Philosophie der »monotheistischen Ontologie« zugrunde gelegt. 274 Von der menschlichen Keimzelle bis hin zum Verlassen seiner leiblichen Welt durchläuft 273 Ǧalāl ad-Dīn Maulawī, dem perso-türkischen Dichter werden folgende Verse zugeschrieben: »Siehe, ich starb als Stein und stand als Pflanze auf, Starb als Pflanz’ und nahm darauf als Tier den Lauf, Starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht’ ich dann, Da durch Sterben ich nie minder werden kann? Wieder, wenn ich werd’ als Mensch gestorben sein, Wird ein Engelsfittich mir erworben sein, Und als Engel muß ich sein geopfert auch, Werde, was ich nicht begreif, ein Gotteshaus.« Die Übersetzung habe ich von dem deutschen Dichter Friedrich Rückert (1788–1866) übernommen. Siehe Rückert, Friedrich: Übersetzungen persischer Poesie. Ausgewählt und eingel. v. Annemarie Schimmel (1966). Wiesbaden, S. 14. 274 Dieser Begriff wurde von Ḥāʾ irī Yazdī in seiner Metaphysiklehre eingeführt. Siehe Ḥāʾ irī Yazdī, Mahdī (1360/1981): Mitāfīzīk. Teheran, S. 37–47.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

der Mensch sämtliche vegetativen, animalischen und menschlichen Lebensformen. Der Mensch ist nach der substantiellen Bewegung bei seiner Geburt immer noch ein »Tier«, aber in ihm ist durch die Seele die Potentialität der Menschwerdung vorhanden. Diese Stufe der Menschwerdung ist nicht nur eine bescheidene mechanische Optimierung, wie sie heute im Westen durch die neue und moderne Technik zum Ausdruck gebracht wird. Sie ist eine Welt für sich, ein Abbild der ewigen Ideen, des Engelhaften und des reinen Intellekts, eine Vorstellung, die sich sehr stark im platonischen Weltverständnis bewegt. 275 Auch bei Ibn Sīnā muß der Mensch gemäß diesem Perfektionstrieb, trotz seiner Ablehnung gegenüber der substantiellen Bewegung, alle elementaren Zustände und die vier Lebensarten durchlaufen, um die mystische Reise in die Welt der Erleuchtung zu vollenden. 276 Für Ṣadrā ist diese Reise ein Prozeß hin zu einer intellektuellen Erleuchtung, die, wie Jambet zeigt, auf zwei Wegen stattfindet, um zur göttlichen Erleuchtung zu gelangen: 1.) über die Wahrheit des Glaubens, 2.) über die Wahrheit der Einsicht. Das heißt: Die Einsicht und die Tradition der Religion führen zum selben Ziel. Im Unterschied zum »zoon politicon« von Aristoteles ist in Ṣadrās Philosophie der Mensch an sich kein Gesellschaftswesen, sondern er ist geschaffen für die Kontemplation, die das praktische Leben erhellt und dadurch die Kontemplation vervollkommnet. Ziel ist das Glück oder die Glückseligkeit. 277 Zu diesem Schluß kommt Jambet, weil er den Vervollkommnungsprozeß bei Ṣadrā nicht als eine gemeinschaftliche Aufgabe versteht. Er bleibt individuell, allerdings nicht frei von der Gesamtwirkung des Seins. Daher darf man auch die niedrige Welt von diesem Prozeß nicht trennen. Die Welt des Menschen ist somit die Vorstufe der Erleuchtung. Sie ist nach ʿAzīz ad-Dīn Nasafī die Vollkommenheitsstufe, nach der alle Lebewesen streben. Diese Vervollkommnungstufe ist das Ende der Himmelfahrt. 278 Sie ist der Mikrokosmos, in dem alles Seiende sich widerspiegelt: 275 Auch wenn man nicht in der Tradition Platons philosophiert, muß man erklären, wie man sich einen solchen gesetzmäßigen Prozeß, in dem alle Zustände und Gattungen potentiell vorhanden sind, vorstellen soll, wenn man nicht gerade die Zufälligkeit der Welt behaupten möchte. 276 Nasr, An Introduction, S. 269 f. Vgl. ebenfalls Ibn Sīnā, Qiṣṣa-yi zinda-yi bīdār, S. 71–81. 277 Jambet, L’acte d’être, S. 41. 278 Vgl. Nasafī, Azīz ad-Dīn: Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 95. ʿ

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Metaphysik als Quelle der Natur

»The gnostic who has journeyed beyound the cosmos becomes the norm of the Universe and the channel through which all of Nature receives Divine grace. In his union with God, the whole Universe becomes once again integrated into its Transcendent Principle, as his life is the life of the cosmos and his prayers before the Divine throne, the prayer of all of Nature before the Divine artisan.« 279

Die Lehre der substantiellen Bewegung zeigt die Notwendigkeit des Perfektionstriebes, der in der ersten Natur, d. h. in der Ursubstanz vorhanden ist. Somit müssen auch alle Aspekte des Lebens wie Wille, Denken, Wissen, Wachen, Erneuern, Vergehen usw., die für die Vollkommenheit unverzichtbar sind, darin vorhanden sein. Und so kann diese Ursubstanz, die von Ṣadrā »Natur« genannt wird, nicht die vergängliche Materie sein. Nach der Lehre von der substantiellen Bewegung könnte man sogar die Möglichkeit annehmen, daß es in allen Dingen ein Streben nach einer höheren und intelligiblen Seinsstufe gibt. Daher müßte allen Erschaffenen in gleicher Weise Respekt und Würde zukommen. Offen bleibt jedoch, wenn man die Welt als einen Prozeß sieht, der das Potentielle zur Aktualität kommen läßt, und wenn die Welt der Phänomene und Gattungen nichts anderes ist als das Abbild der Urideen, aus welcher Notwendigkeit heraus einerseits von verschiedenen Gattungen und andererseits von einer Welt bzw. von einer Idealgattung die Rede sein kann: Die Stufe des Menschseins steht über allem anderen Erschaffenen. Sie ist das Endziel aller materiellen und geistigen Entwicklungen der vergänglichen Welt. Die Vollendung der Einheit kann nur auf diesem Weg, nämlich auf dem der Menschwerdung, stattfinden. Daher ist bei Ṣadrā nicht jeder ein Mensch, der als solcher erscheint. Letztlich scheint es, daß alles im Menschen aufgeht und der Mensch als Abbild und Ebenbild des göttlichen Geistes zum Ursprung zurückkehrt, wie die Form zur Substanz, und sich mit den Ideen des Einen vereinigt. Daher ist Menschsein die Vereinigung aller Aspekte der Schöpfung, die sich im Zustand des intellektuellen Daseins transzendiert. Auch wenn die substantielle Bewegung in den philosophischen Kreisen immer noch nicht als selbstverständlich angenommen wird, ist und bleibt die Idee der substantiellen Bewegung für eine neue Philosophie im Islam die These schlechthin, trotz vieler offenen Fragen bezüglich des Wissenserwerbs der Seele, der Entstehung der Bewegung in der 279

Nasr, An Introduction, S. 274.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Natur, der Natur als Triebkraft derselben und der Beziehung der veränderbaren Phänomene und unveränderbaren Ideen. 280 Von dieser These ist eine evolutionäre Erkenntnisanthropologie abzuleiten, die sich methodisch wie inhaltlich von den herkömmlichen Erkenntnistheorien unterscheidet. Der Mensch ist zwar einerseits an der Erschaffung seiner Welt und seiner Erkenntnis selbst beteiligt, er ist aber zugleich von einem Trieb geleitet, der ihm naturhaft, jedoch nur potentiell zu eigen ist. Ṣadrā spricht von der sich erneuernden Natur (aṭ-ṭabīʿ a al-mutaǧaddida). Die Dinge in der Welt haben zwei Aspekte: einen intellekthaften, der bei Gott ist und einen weltlich vorherbestimmten, der täglich in einer neuen Schöpfung entsteht. 281 Nach der Lehre von der substantiellen Bewegung ist der Mensch das Neue, das bereits potentiell vorhanden war. Daraus geht ein neuer und letztlich der perfekte Mensch hervor, in seinen ganzen Entwicklungsstufen durch die Zeit, fortwährend, ununterbrochen und unaufhörlich. Sobald der Mensch die höchste Stufe des neuen Menschen erreicht hat, erlangt er die höchste Vollkommenheit und diese ist somit nicht mehr veränderbar. Nach diesem Muster verläuft auch die Perfektionierung, Steigerung und Erneuerung der Erkenntnisse bis hin zum reinen, absoluten und perfekten Wissen. Der Mensch und das Wissen stehen nach dieser Vorstellung in einer existentiellen Analogie. Wie das Sein zu allem Seienden, so stehen der Mensch und die Erkenntnis in einem sogenannten »Einheits- und Äquivokationsverhältnis« (waḥda wa-taškīk). Somit wurde es islamischen Gelehrten wie Ṣadrā möglich, die Vielfalt und die Veränderungen und zugleich die Einheit alles Seienden, seien es die einzelnen Phänomene, seien es das unterschiedliche Wissen und die Wissensstufen, nach einer monotheistischen Ontologie zu erklären. Nach der Einschätzung einiger Forscher deutet diese philosophische Betrachtung der Dinge nach dem Prinzip der substantiellen Bewegung auf eine »theory of mathematical knowledge«, »which will avoid the pitfalls of apriorism and of crude empiricism.« 282 280 Wir können z. B. auch fragen, wie es sich mit Kindern bzw. Menschen verhält, die früh sterben oder jenen, die eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben, oder mit jenen Menschen, die einem anderen oder gar keinen Glauben anhängen usw. 281 »Wa tilka ṭ-ṭabī atu al-ḥāfiḏatu li-z-zamāni lahā waǧhāni, waǧhun aqlīyun inda ʿ ʿ ʿ llāhi wa huwa ʿ ilmuhū l-azalī wa ṣūratu qaḍāʾ ihi wa laisa mina l-ʿ alami, wa lahā waǧhun kaunīyun qadarīyun ḥādiṯun fī ḫalqin ǧadīdin kulla yaumin […]«. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. II, 394. 282 Doljinsurengiin, Battumur u. Momolyn, Otgonbayar: Mullā Ṣadrā’s Doctrine of Na-

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Ilāhī Qumšaʾ ī versucht sogar, die These der substantiellen Bewegung in einer in der islamischen Mystik nicht unbekannten Formulierung mit einer modernen Erklärung neutraler auszudrücken. Sie erinnert uns an Äußerungen Heraklits von Ephesos. Demnach, ob wir nun seien oder nicht seien, befindet sich alles in ewigem Fließen. 283 So stellt sich die kosmische Weltfunktion in einem Zustand der ewigen Veränderung dar, der sogenannten »Verflüssigung«. In dieser Vorstellung gibt es nur eine Bewegung in der Welt, nämlich die substantielle Bewegung. Denn Bewegung sei nichts anderes als »Zusammenschluß und Trennung« (iǧtimāʿ wa-iftirāq) des Existierenden auf der atomaren Ebene. Daher sei der Prozeß der »Entstehung und des Vergehens« (kaun wa-fisād) nichts anderes als die Bewegung selbst. 284 Für Ilāhī Qumšaʾ ī gibt es aber keinen »Entstehungs- und Vergehensprozeß« und erst recht keine »Verwandlung« (istiḥāla), kein »Wachstum« (numūw) und kein »Welken« (zubūl) in der Welt. Alle Veränderungen und Verwandlungen bzw. »Entstehungs- und Vergehensprozesse« sind Erscheinungen der Bewegung. Diese sind für Ilāhī Qumšaʾ ī vergleichbar mit dem Wasser, wenn es unter bestimmten Bedingungen zu Luft oder zu Eis oder zu Regen oder zu Wärme wird. »Verwandlung« (istiḥāla), »Wachstum« (nūmuw) und »Welken« (zubūl) sind nichts anderes als Stärke und Schwäche der Erscheinungsformen. Anders als Afḍal ad-Dīn Kāšānī, der die Bewegung als Folge von Willen (irāda) und starkem Verlangen (šauq) sieht, setzt Ilāhī Qumšaʾ ī nach Art einer neuplatonischen Emanationslehre die Bewegung mit der Liebe gleich und die ture and Authority of Nature on Mathematics, in: Islam-West Philosophical Dialogue. The Papers presented at the World Congress on Mullā Ṣadrā (May, 1999, Tehran), hrsg. vom Sadra Islamic Philosophy Research Institute (2001), Teheran. Vol. VII. Issues in contemporary Western Philosophy. Teheran, S. 193. 283 Zu Heraklits Gedanken s.: Geyer, Carl-Friedrich (1995): Die Vorsokratiker. Zur Einführung. Hamburg, S. 71–81. 284 Dieser Gedanke ist nicht neu, auch wenn er eher selten formuliert wurde. Vgl. Rahman, The Philosophy, S. 37. Schon Muḥyi ad-Dīn ibn ʿArabī, unter dessen Einfluß Ṣadrā, wie Fazlur Rahman feststellt, von seiner Idee der Perfektion inspiriert wurde, sprach von einer fortwährenden »neuen Schöpfung« (ḫalq-i ǧadīd) in der Welt, einer Art »fortwährenden Bewegung« [Kontinuum]. Vgl. Hwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ, Bd. 1, S. 448 f. Ibn ʿArabī und Ǧalāl ad-Dīn Maulawī, einige andere Mystiker – und vor ihnen manche älteren Griechen und die Buddhisten – betrachten die Welt als einen Fluß, der sich in einer dauernden und fortwährenden Bewegung befindet und widersetzen sich damit einem »Entstehungs- und Vergehensprozeß« im Sinne der zeitlichen Entstehung der Welt, in der der Welt das Nichtsein vorausgeht.

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Liebe mit dem Sein. Die Liebe ist sozusagen der in der Welt verankerte Instinkt, und Anziehung, Lust, Neigung, Leidenschaft, Freundschaft und Wille sind seine unterschiedlichen Ausdrucksformen. 285 Liebe ist das Prinzip der Existenz und kann genausowenig wie das Sein definiert werden. 286 Sie ist zugleich ein anderer Begriff für Licht, Sein, erste Ursache oder das Prinzip alles Seienden. Ohne Liebe wird es nichts geben, und je schwächer die Existenz ist, desto schwächer tritt dort die Liebe in Erscheinung. Liebe und Sein bilden, Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī zufolge, mit der Schönheit bzw. dem Guten eine Einheit und Identität. 287 Demnach existiert in dem Wesen die Liebe und die Sehnsucht nach Vollkommenheit, ein Prinzip, das nicht nur für die Menschheit gilt, sondern »exists equally in all beings«. 288 Wenn wir den Gedanken Ilāhī Qumšaʾ īs und seines Vorbildes Ṣadrā folgen, so müssen wir auch eine menschliche Seele, die dem Prinzip der substantiellen Bewegung in fortwährendem »Zusammenschluß« und einer »Trennung« (iǧtimāʿ wa-iftirāq) unterworfen ist, in Betracht ziehen. In diesem Sinne können wir auch den Prozeß der »Entstehung und des Vergehens« (kaun wa-fisād) verstehen. Wissen und Unwissenheit wie auch Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind somit der Welt bzw. dem Menschen potentiell gegeben. In diesem Sinne wird tabula rasa erklärt. Mit der Natur und ihren Gesetzen ist die Seele quasi die Bewegung selbst. Daher entsteht sie mit der Natur und ist dem Prinzip des Perfektionstriebes unterworfen. Sobald sie ihre höchste Entwicklung und Vollkommenheit erreicht hat, müßte sie den Körper, also die Materie, verlassen und der Welt der ewigen Ideen zugehörig sein. Nach einer solchen Vorstellung ist die Natur nichts anderes als der Ort der Entstehung der Erkenntnis und die Erkenntnis Quelle der Natur. Demnach können wir von einer evolutionären Erkenntnisanthropologie sprechen. Wir müssen allerdings darauf achten, daß solche Gedanken in der islamischen Geisteskultur letztlich eher ein mystisches als philosophisches oder theologisches Ziel verfolgen. Dieses mystische Ziel verfolgen auch jene Gelehrten, die zwar der Erkenntnis keine Grenze setzen, aber umso mehr der Entstehung der materiellen wie geistigen Phänomene. Die Interpretation der substan285 286 287 288

Vgl. Ilāhi Qumšaʾ ī, Ḥikmat-i ilāhī, S. 170, 206. Ebd., S. 166. Ebd., S. 165. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 80.

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Metaphysik als Quelle der Natur

tiellen Bewegung nach Muḥammad Ḥusain Ṭabāṭabāʾ ī (gest. 1981), den wir oben genannt haben, bedeutet jedoch nicht eine ständige neue Schöpfung. Denn im Rahmen einer monotheistischen Ontologie hält er jede Erscheinung für einmalig. Es gibt sozusagen keine »Wiederholung in der Erscheinung« (lā takrār fī t-taǧallī). 289 Vielmehr gibt es, trotz der substantiellen Bewegung, eine akzidentielle Veränderung. Denn durch die substantielle Bewegung verwandelt sich ein Körper in einen anderen bzw. in einen neuen Körper, nicht aber in eine neue Substanz, wie er anhand der Menschwerdung nach koranischer Vorstellung darzulegen versucht. Von der Erde hin zur Keimzelle, über den Fötus und schließlich hin zu einem beseelten Kind sind die Veränderungen des Menschen nicht von substantieller Art. Nach seinem Verständnis der substantiellen Bewegung entwickelt und vervollkommnet sich auch die Seele in ihrem existentiellen Weiterleben nach dem Tod des Körpers weiter. Es scheint, daß diese Dauerentwicklung und Dauerveränderung des Menschen auf die platonische Vorstellung einer Ideenwelt zurückgehen, in der alle Phänomene der Welt ihren himmlischen Ursprung haben. Afḍal ad-Dīn Kāšānī spricht von vier Seelenreichen, die nach den Engeln benannt werden. 290 Seiner Meinung nach unterliegt die Menschenwelt der Einwirkung der vier Seelenreiche: Die erste Seele ist die höchste Seele (nafs-i aʿ lā), die er Israfil nennt. Sie verleiht den Körpern den Geist. Die zweite Seele nennt er Michael. Sie ist für Ernährung und Lebensunterhalt zuständig. Die dritte Seele ist Gabrael (Gabriel) und für die Ankündigung göttlicher Botschaften verantwortlich und die vierte Israil, die für die Trennung von Substanz und Form zuständig ist. Auch bei al-Fārābī befindet sich die Seele des Menschen in einer fortwährenden Entwicklung. So platziert er die Seele in unterschiedlichen Erkenntnisstufen. In seinem »Musterstaat«, den er in Anlehnung an das platonische Utopia entwirft, wird den Weisen und Wissenden, die die Staatsführung übernehmen, ein besonderer Platz zugewiesen. 291 Trotz aller unterschiedlichen Interpretationen und vieler offener Fragen ist die Metaphysik für eine islamische Anthropologie unverzichtbar. Die Metaphysik stellt den Ursprung der Natur dar, und die Ein Satz, den Ṣadrā geprägt hat. Siehe aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. II, S. 358 f. Dazu siehe ders., al-Asfār, Bd. VII, S. 161; ders., al-Asfār, Bd. IX, S. 246. 290 Vgl. Kāšānī, Muṣannafat, S. 291 f. 291 Siehe dazu al-Fārābī, Ārā , S. 142 ff. ʾ 289

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Natur ist wiederum Triebkraft (Antriebsquelle) einer evolutionären Erkenntnisanthropologie. Demnach ist es nicht der Körper, der sich entwickelt, sondern die Seele. Sie ist die eigentliche Instanz und das Vermögen des Menschen, von dem die Vollkommenheit und die Unvollkommenheit der Erkenntnis des Menschen abhängig sind. Für Ṣadrā gibt es nur ein Ziel: Das körperlich – geistige Heil des Menschen, den wahren Stand des Paradieses und der Hölle zu ergründen, eine Vorstellung, die in Übereinstimmung mit Avicenna steht: »Le but de la philosophie théorétique est la connaissance du réel (maʿ rifatu al-ḥaqq)«. 292 Jambet weist darauf hin, daß man, laut Corbins Aussagen, nicht von einer Revolution Ṣadrās in der Philosophie sprechen könne, vielmehr habe er die aristotelische Philosophie, die über Jahrhunderte die Gedankenwelt beherrschte, radikal auf den Kopf gestellt. Nach Jambet ist diese Revolution jedoch nicht so radikal, wie es zunächst scheint. Ṣadrā entlehne vieles der Schule von Ibn ʿArabī und der suhrawardischen Tradition des Lichts. Es gehe um die Priorität des Seins und seine Philosophie des Primates des Seins habe daher ein metaphysisches Ziel.

X. Zusammenfassung Die Ergebnisse dieses Kapitels zeigen, daß die besondere Stellung des Menschen in der geschaffenen Welt dadurch gekennzeichnet ist, daß der Mensch in Ṣadrās Existenzphilosophie als ein Prozeß verstanden wird, der einem Prozeß des Intellekts gleichkommt. Dieser Prozeß ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil mit dem Intellekt die Idee der Freiheit des Willens und eines bewußten Erkenntniserwerbes in den Mittelpunkt gestellt wird. Denn der Mensch kann nicht losgelöst von einem Ziel gesehen werden, auf das hin er seine Entwicklung definiert. Im Menschen verkörpern sich Form und Inhalt der Schöpfung. Und seine Schöpfung dient einem Ziel, nämlich der Erlangung der Erkenntnis, die seine Intellekthaftigkeit voraussetzt. Erkenntnis bedeutet Selbsterkenntnis im Sinne von Einheit mit sich selbst. Es wurde bereits aufgezeigt, daß die Möglichkeit der Erkenntnis abhängig vom Perfektionspotential der Seele ist. Aus Sicht der Theologen scheint aber die Erkenntnis, nämlich die wahre Erkenntnis, ohne die Leitung der Prophetie und der heiligen und religiösen Autorität 292

Siehe dazu Jambet, L’acte d’être, S. 104.

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Zusammenfassung

unmöglich zu sein. Bei den Philosophen war auch von der Wirkung des aktiven Intellekts die Rede. Ibn Sīnā spricht sogar von einem Bereich der abstrakten und intelligiblen Welt, zu dem niemand Zugang hat. 293 Auch bei Ibn Ṭufail, in dessen Philosophie die Vernunft als eine in der Natur des Menschen verankerte Quelle diesen bei seinem Erkenntniserwerb begleitet und im Falle wissenschaftlicher Errungenschaften unverzichtbar für den Wissensfortschritt ist, steht die Vernunft als Erkenntnisquelle unter der Wirkung des aktiven Intellekts. Nach der mystischen und der evolutionären Erkenntnisanthropologie, die wir bereits ausführlich dargestellt haben, entsteht zwar die Erkenntnis ebenso wie die Seele mit der Natur, ihre Entstehung und Entwicklung kann jedoch ohne den vorgeprägten metaphysischen und ideellen Wissensund Seinsursprung nicht gedacht werden. Nach ʿAzīz ad-Dīn Nasafī soll nicht von einer menschlichen Vollkommenheitsstufe gesprochen werden, denn es gibt gegenüber der absoluten Vollkommenheit Gottes nur noch eine relative Vollkommenheit. Trotz dieser Abgrenzung besteht für ihn eine enge Verbindung zwischen Erkenntnis und Vollkommenheit: »Also, wenn man den Menschen vollkommen nennt, meint man es in Relation [nisbat, relativ, verhältnismäßig] […] Die Vollkommenheit des Menschen zeigt sich in vier Bereichen: in guten Ansichten, guten Taten, gutem Charakter und Erkenntnissen. Mit den Erkenntnissen ist die Erkenntnis der vier Dinge gemeint: die Erkenntnis des Diesseits, die Erkenntnis des Jenseits, die Erkenntnis seiner selbst und die Erkenntnis Gottes.« 294

Damit hat man die Erkenntnis des Wahren und Vollkommenen tatsächlich jenseits der wissenschaftlichen Untersuchungen, der philosophischen Betrachtungen und sogar der mystischen Anschauungen gestellt. Denn eine solche Erkenntnis kann nur auf der Ebene einer prophetischen Betrachtung definiert werden. Eine prophetische Betrachtung ist aber ihrerseits nicht unbegrenzt; denn der Prophet soll nach einer Überlieferung Gott darum gebeten haben, ihm die Dinge zu zeigen, wie sie in Wirklichkeit sind. 295 Daher stellt sich zwingend die Frage nach der Die Endstation des göttlichen Königreiches (mulk-i aqṣā) ist die Schöpferwelt (ʿ ālami amr), in der die Engel und der göttliche Wille tätig sind. Kein Mensch kann diese Stufe erreichen. Siehe Ibn Sīnā, Qiṣṣa-yi zinda-yi bīdār, S. 71–81. 294 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 95. 295 Aš-Šīrāzī, Asrār, S. 106. 293

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

Erziehung des Menschen, die seinen Umgang mit der Freiheit für seine Perfektibilität zeigen kann. Die sadraische Philosophie lehrt uns jedoch, daß es für ein naturhaftes Wesen wie den Menschen ohne die materielle Welt und den Prozeß der Natur keine Möglichkeit gibt, zur Erkenntnis zu gelangen, auch wenn es die Erkenntnis – wie die Existenz des Menschen – ohne göttliche Wirkung und die aus ihr entspringende transzendentale Welt nicht geben kann. 296 Daher gibt es ohne Metaphysik überhaupt kein Wissen und keine Erkenntnis und auch keine Existenz. Darin begründet scheint mir, daß wir es im islamischen Verständnis der genannten Gelehrten primär mit einer metahistorischen Erkenntnis zu tun haben, welche die historische in sich trägt. Denn in einer traditionellen islamischen Erkenntnistheorie ist die Seele am Ende immateriell, auch wenn in ihr zunächst die Abhängigkeit der Erkenntnis von der äußeren und materiellen Welt betont wird. Denn die Immaterialität ist, wie Iqbal meint, frei von Veränderungen, und alles, was nicht frei von Veränderungen ist, ist unbeständig. 297 Intellekt als Mittel und Inhalt der Menschwerdung und damit auch des Erkenntniserwerbes stellt sich daher als ein Entwurf des Vereintseins mit dem Ganzen dar. Hier fallen die Einheit der Erkenntnis mit der Einheit des Intellekts und des Seins zusammen. Erkennt man etwas, so ist man in Übereinstimmung mit dem Gedachten. Die Welt wird somit zum Prozeß. Alles Sein ist Werden, alles Werden ist Denken, alles Denken ist ein Prozeß. Die Intellektualisierung der Menschwerdung ist damit ein Entwurf des Selbstbildes. Ein kurzer Rückblick auf die bisherigen Ausführungen zeigt, daß die Menschwerdung nach den tiefen religiösen Vorstellungen der islamischen Denker wie Ṣadrā und Nasafī die Realität und die Idealität des Schöpfungsdenkens des Menschen stark bestimmt. Der denkende Mensch (al-insān al-ʿ āqlī) war bei Ṣadrā ein Prozeß, der den sensitiven Menschen zum aquisitiven Intellekt führt. Mit dem Intellekt (ʿ aql) nimmt alles Seiende willentlich seinen Lauf. Der Intellekt bestimmt das Verhältnis der Erschaffenen zum Schöpfer und setzt den Plan der Schöpfung fest. Die göttliche Vollkommenheit setzt das erste vollkommene Wesen frei, nämlich den ersten 296 Für die meisten religiösen und mystischen Gelehrten sind sogar Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis ohne normative und ethische, sprich ohne praktische Anweisungen und Handlungen nicht möglich. 297 Iqbal, Development, S. 28 f.

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Zusammenfassung

Intellekt, nachdem der Schöpfungsprozeß zu einer stufenweise Entfaltung des Intellekts wird. Der Mensch als göttlicher Entwurf, als sein Ebenbild und als Intellektwesen wird durch die stufenweise Entfaltung des Intellekts zum Selbstentwurf. Als freies und souveränes und zugleich als unbestimmtes Wesen nimmt er den Plan Gottes auf sich und trägt ihn in sich. Als Mikrokosmos versteht sich der Mensch als Abbild alles Seienden. Werden und Vergehen bestimmen seine Realität, Verewigen und Vereinen bestimmen seine Idealität. So sind seine Realität und Idealität unzertrennliche Bestandteile seines Wesens. In ihm sind alle natürlichen Formen und Wesensmerkmale anderer Seiender potentiell vorhanden. Auch die Vernunft ist eine natürliche Gabe, die Entfaltung und Erziehung benötigt, um ihre Vollkommenheit zu erreichen. Die Vernunft wurde dem Menschen nicht als Instinkt, sondern als ein Entwurfpotential gegeben, um sich zum Intellekt, nämlich zu einer denkenden Seele (nafs-i ʿ āqila) zu gestalten. Die Vernunftwerdung der menschlichen Seele wurde zur Essenz des menschlichen Selbstentwurfes. Daher wird der Mensch in Ṣadrās Philosophie als ein Wesen angesehen, das von Natur aus auf einen vollkommenen Lebenswandel hin angelegt ist. Er ist jedoch ebenso darauf angelegt, einen solchen aus eigener Kraft anzustreben und zu erlangen, denn ein solcher Akt ist ohne Wille unvorstellbar. Wer sich selbst entwirft und nicht von einem anderen bestimmt wird, macht sich zu einem freien Wesen. Der vernünftige Mensch ist damit ein freier Mensch. Ohne Freiheit ist man nicht vernünftig, denn Freiheit bedeutet, der Ewigkeit eine Grenze zu setzen. Diese Grenze ist in der Existenzphilosophie die Einheit mit dem Ganzen, die das Ende des Unthematischen bedeutet. Es geht um die Übereinstimmung mit sich selbst, um das Bewußtsein seiner eigenen Grenze, welches die unbegrenzte Individualität auflöst. Das ständige Werden und Vergehen soll damit nicht zu einem Selbstprozeß werden, sondern darüber hinaus zu einem Sinn- und Seinsprozeß. Die Menschwerdung als Plan göttlicher Schöpfung und das Menschsein als Ziel der geistigen und seelischen Entfaltung und Vervollkommnung des Individuums verstehen sich daher als ein Antrieb dieses Prozesses. Der Mensch kann nur dann als Prozeß verstanden werden, wenn er unter dem Gesetz der freien Willenstätigkeit seine Person entwirft. Wer sich entwirft, setzt sich eine Grenze. Die Idealität dieser Grenze ist die Möglichkeit, sich immer auf Neues einzulassen, die innere Freiheit nicht aufzugeben und sich keiner Illusion der Unbegrenztheit auszusetzen. Somit ist die Vernunft nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern 255 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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Die Stellung des Menschen zwischen Intellekt, Wille und Erkenntnis

auch Selbstzweck. Mit dem Intellekt verbindet Ṣadrā eine Lebensform und zugleich eine Idealität. Wenn der Mensch sich seines Menschseins bewußt wird, setzt er sich als Vernunftwesen in eine doppelte Funktion: Selbsterkenntnis und Selbstentwurf. Erkenntnis und Existenz bilden somit den Ritus und die Idealität der Menschwerdung. Die Idealisierungs- und Ritualisierungsfunktion der Vernunft ist zugleich Idealisierungs- und Ritualisierungsfunktion des Menschen. Da seine Aufgabe nicht nur reine Erkenntnis ist, sondern auch Suche nach Identität, wird die Intellektualisierung zu einem praktischen Prozeß. Der Ritus ist Ausdruck einer inneren Lebensweise des Menschen. Diese innere Lebensweise scheint eine Art der Glaubensform zu sein, denn sie geht mit der Intellektualisierung konform. Das Leben nach dem Glauben bedeutet in der Philosophie Ṣadrās demnach, sich in einen Prozeß des Intellekts zu begeben, und das bedeutet nichts anderes, als den Glauben als eine Seinsweise nach dem Prinzip des Lebens zu begreifen, worin er keinen Widerspruch zwischen der Vernunft und der Offenbarung sehen will. In diesem praktischen Lebensprozeß gestaltet der Mensch die innere Glaubensform, die dem Intellekt folgt. In diesem Sinne kann man Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs Idealisierung und Ritualisierung der Vernunft nachzeichnen: Die Vernunft als Erkenntnis des Guten und des Schlechten, als Vermögen zur Erfassung des Allgemeinen und der Gestaltung des Lebens, als Lenkerin des Körpers, als Wegweiser für das Glücksstreben im Jenseits, als Grund zur Erlangung der Vollkommenheit und der Einheit mit dem Ursprung. 298 Die religiöse Seinsweise kann sich daher keineswegs in einen reinen Gemeinschaftsritus einzwängen lassen. Somit stellt sich die Frage, auf welcher Weise sich die Religiosität und der Gedanke der Willensfreiheit und des individuellen Erfahrungsprozesses, wovon die sadraische Existenzphilosophie ausgeht, vereinbaren lassen. In das nächste Kapitel soll daher die Rolle des Glaubens für den Prozeß der Menschwerdung einbezogen werden. Wenn der Glaube einen besonderen Stellenwert in der Menschwerdung einnehmen soll, so muß erläutert werden, ob wir von einer Perfektibilität als einem Akt des freien Willens sprechen können. Der Umgang mit der Freiheit erweist sich daher für den Prozeß Menschwerdung nach dem existentiellen EntfaltungsproVgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. III, 500–519. Ṣadrā geht in diesem Band ausführlich auf die Bedeutung des Intellekts ein, seine unterschiedlichen Erscheinungsformen und sein Verhältnis zum Wissen und zur Weisheit. Ebd., S. 278–519.

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Zusammenfassung

zeß als eine notwendige Fragestellung, die auf die Natur des Glaubens hin gerichtet ist. Gemeint ist hier nicht nur die Formalität des Glaubens, sondern der Glaube selbst wird zu einem zentralen Aspekt der Selbstfindung. Wer glaubt, schafft sich eine innere Welt, die von den äußeren Gesetzen entbunden ist, und wer glaubt, befindet sich in einem inneren Werden, das eine Grenze sucht. Der Mensch als Prozeß befindet sich somit in einem Glaubensprozeß – und so kann er nicht mehr rein spekulativ sein. Denn wer sich im Werden befindet, kann nur bedingt spekulieren. Der Glaube wie die Vernunft dienen dem Menschen als selbstgesetzter Selbstzweck. Dabei spielt natürlich die Erkenntnis eine unverzichtbare Rolle, denn hier geht es nicht allein um die Erkenntnis der Glaubensprinzipien, sondern um eine Selbsterkenntnis, die der Seinserkenntnis gleichkommt.

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Kapitel III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

I.

Einleitung

Die Möglichkeit der Freiheit des Menschen setzt in der Existenzphilosophie voraus, daß der Perfektionsprozeß willentlich und bewußt angelegt ist. In diesem Sinne fragt der Aspekt der bewußten und willentlichen Selbstgestaltung des Menschen nach dessen fundamentalen Eigenschaften, seinen Handlungen, seinen Zielen und Werteorientierungen sowie Erwartungen an sich selbst. Das bedeutet, daß man unter dem Aspekt der bewußten Selbstperfektionierung eine genaue Definition der Identität und Personalität verlangt, die der Mensch sich als geschaffenes Wesen zum Ziel gesetzt hat. Daher ist es sinnvoll, in einem religiösen Weltverständnis zu fragen, in welcher Form sich die Idee der Religiosität und Erziehung mit der Freiheit verbindet. Wie frei ist man tatsächlich, wenn man die Perfektibilität in einer religiösen und metaphysischen Anschauung sucht, und wie geht man mit dieser Freiheit in seiner Werteorientierung und seinem religiösen und spirituellen Leben um? Um diese Frage zu beantworten, finden sich in den Abhandlungen von Ṣadrā wenig konkrete Anhaltspunkte, da diese meist ontologischer und eschatologischer Natur sind. Die Beantwortung dieser Frage setzt auch Kenntnisse über die politischen und sozialen Lebenskonzepte voraus, die wir in den Schriften Ṣadrās vermissen. Wir müssen uns daher auf wenige Ansätze beschränken und auf Ansichten einiger Anhänger der Schule Ṣadrās zurückgreifen. Wie bereits erwähnt, hat Jambet darauf hingewiesen, daß es Ṣadrā nicht primär um eine politische und soziale Freiheit geht, sondern eher um den Gedanken der Freiheit als Freiheit zu Gott, denn Freiheit wird aufgefaßt als die Intensivierung der Existenz, als Verwirklichung der Prädestination. Sie verlangt absoluten Gehorsam und die Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Sie ist eine Freiheit, die sich aus der 258 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Einleitung

Freiheit des Seinsaktes ergibt. 1 Da bei Ṣadrā die Essenz und die Existenz durch die unmittelbare Gegenwart der Sache miteinander verschmolzen werden, als Immanenz des Seinsaktes in der Realität des Existierenden, so ist die Identität der Essenz und des Seins die Identität der Existenz und des Existierenden, so daß die Wesenheit keine Bedeutung mehr hat, außer sie wird in einem Schema der Erscheinung aufgefaßt. Die ontologische Freiheit des Seinsaktes ist damit ein Prozeß zwischen Verschleierung und Entschleierung, zwischen Licht und Dunkelheit, Exteriorität und Interiorität, Sich-zeigen (Manifestieren) und Effektivität. Dies sind für Jambet die Kategorien einer Ästhetik des Absoluten. 2 Daher kommt Jambet zu dem Schluß, daß die Folge dieser Urfreiheit die absolute Unterwerfung und Gehorsamkeit in Form eines perfekten Menschen ist, der die Epiphanie der Spontaneität des Seinsaktes darstellt. In Ṣadrās Existenzkonzept spielt die Idee der Liebe als ein unerläßliches Fundament eine große Rolle, um die Idee der Freiheit als eine Erfahrung einer Spannung, einer nie abgeschlossenen Bewegung, einer Aufwärtsbewegung ohne einen Endpunkt zu verstehen und damit auch die ästhetische Seite der Freiheit zu erblicken. Die vollkommene Freiheit geht daher einher mit der absoluten Realität, die nach Jambet unerreichbar versteckt bleibt, außer in der Ekstase der Selbstauslöschung. 3 Dadurch wird verständlich, warum der Mensch in der sadraischen Existenzlehre im Unterschied zum »zoon politicon« des Aristoteles an sich kein Gesellschaftswesen ist, sondern geschaffen für die Kontemplation, die das praktische Leben erhellt und dadurch die Kontemplation vervollkommnet. Das Ziel ist das individuelle Glück. Darin sieht Jambet auch den Unterschied zwischen der Metaphysik von Ṣadrā und der von Avicenna begründet, denn bei Ṣadrā ist Zielpunkt der Metaphysik im Wesentlichen der Aspekt der individuellen Heilsfindung und nicht eine politisch-gesellschaftliche Heilsfindung. 4 Man entdecke bei Ṣadrā keine politische Theologie, weil sich für Ṣadrā das Existierende nicht aus einer jeglicher konkreten Präsenz entbehrenden Logik ergibt, sondern aus einer immanenten Logik. In diesem Sinne hierarchisieren sich die Wesen je nach ihrer Macht und ihrer Aktualität. 5

1 2 3 4 5

Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 147. Ebd., S. 147 ff. Ebd., S. 176 ff. Ebd., S. 50. Ebd., S. 106.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Betrachten wir die ontologische Analyse der sadraischen Lebenskonzepte, wie sie uns auch Jambet vorlegt, so zeigt sich ein Widerspruch. Er ergibt sich aus dem Verhältnis der ontologischen und psychologischen Freiheit einerseits und der religiösen und ethischen Freiheit andererseits. Die Frage ist also, ob die ontologische Freiheit des Seinsaktes und der Seele eine religiöse und ethische Freiheit impliziert – das heißt, ob der Mensch in der sadraischen existenzphilosophischen Anschauung den Grad seines Glaubens und seines ethischen Lebenskonzeptes frei und selbstgestalterisch bestimmen kann oder ob gerade die ontologische Freiheit eine Grenze des menschlichen Umganges mit dem Freiheitsleben zieht. Die Ontologie Ṣadrās zeigt nicht, inwiefern sich eine religiöse, politische und ethische Freiheit, wenn sie überhaupt in Betracht käme, unabhängig von dem ontologischen Freiheitsbegriff oder konform mit diesem verhält. Können wir überhaupt von einer Freiheit des Selbstentwurfes sprechen, oder müssen wir den Selbstentwurf im Kontext des Gottesentwurfes betrachten? Die Frage, die sich angesichts einer solchen ontologischen Unklarheit stellt und noch eine Rolle spielen könnte, betrifft das Konzept der Liebe im transzendentalen Sinne. Wie läßt sich die Freiheit angesichts einer leidenschaftlichen und kosmogenetischen Liebesanziehung (išq/šauq) definieren? Eine weitere Frage betrifft das Konzept der Freundschaft (wilāya) auch im transzendentalen Sinne. Verpflichtet sich der Mensch in seinem Perfektionierungstreben in der religiösen Vorstellung Ṣadrās oder Nasafīs zum Gehorsam, oder er ist vollkommen auf sich selbst gestellt? Kamal ist der Meinung, daß unter dem Einfluß des Stroms des Werdens (»flux of becoming«) im ontologischen Bereich der Geschichte auch Wahrheit, Wissen und moralische Werte in stetem Wandel sind, weil gerade nichts in der menschlichen Welt als ewig existierend gesehen werden kann. 6 Eben dieses Verständnis impliziert nach der Auffassung Jambets die Hinordnung der Ontologie auf die Theologie, die ihrerseits in eine geistlich begründete Moral mündet. Diese wiederum sei das Gebäude der Universen und die Philosophie der Wiederauferstehung. 7 Insofern ist die Frage nach der Selbstbestimmung bzw. Freiheit des Selbstentwurfes auch in bezug auf ein aktuelles politisches Thema von Bedeutung, nämlich den politischen Islam: Können wir von einem geis6 7

Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 79. Jambet, L’acte d’être, S. 37.

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Einleitung

tigen Einfluß der sadraischen Existenzphilosophie auf seine Sicht des politischen Islam ausgehen? Kamal bejaht diesen Einfluß auf Ṣadrās Verständnis von Politik, insbesondere des politischen Islams, der sonst, wie Kamal formuliert, die Göttlichkeit und Universalität seines Diskurses behauptet. Mullā Ṣadrā mache einen klaren Unterschied zwischen Religion und Politik oder religiösen und politischen Gesetzen und weise die Identität beider Bereiche zurück. Religiöse Gesetze seien charakterisiert durch Allgemeinheit und Notwendigkeit, politische Gesetze durch Partikularität und Abhängigkeit von einem menschlichen Zustand (»human situation«). 8 Nach Kamals Einschätzung stehe diese Unterscheidung zwischen Religion und Politik in der Philosophie Mullā Ṣadrās im Widerspruch zum schiitischen politischen Denken, das eine notwendige Verbindung zwischen Religion und Politik verlange, und erklärt, daß ohne religiöse Gesetze kein wahres islamisches politisches System errichtet werden kann. 9 Auch Ṣadrās Vorstellung von der individuellen Heilsfindung, wie Jambet formuliert, scheint die Ansicht Kamals, daß Mullā Ṣadrās Lehre auch die Vorstellung einer vollkommenen Gesellschaft und einer vollkommenen Führerschaft der Gesellschaft beinhalte, zu widersprechen, außer, daß damit die Entstehung der Bedingungen für eine freie und individuelle Heilsfindung gemeint sein könnte. Kamal vertritt die Ansicht, daß auch Ṣadrā, ähnlich wie al-Fārābī, daran festhält, daß alle Mitglieder einer vollkommenen Gesellschaft in Harmonie leben und zusammenwirken müssen, um das höchste Gut und die Verwirklichung der Wahrheit zu erreichen. Für Mullā Ṣadrā sollte der Führer ein Theosoph (ḥakīm) sein, der, sobald er in allen intellektuellen Fähigkeiten Vollkommenheit erreicht hat, zu einem Propheten wird. 10 Kamal zieht aus den Ansichten Ṣadrās das Fazit, daß Mullā Ṣadrā auch der Meinung ist, daß die Führung einer vollkommenen Gesellschaft die wahre Wächterin sozialer Gerechtigkeit und göttlicher Gesetze sei. Daher harmonisiert das politische und soziale Leben mit dem imperativischen (»imperative«) im evolutionären Prozeß der Existenz. Nach dieser Ansicht sind die Erlangung von Vollkommenheit und die Verwirklichung der Wahrheit in der Geschichte mögDies ist ein Argument, das viele religiöse Gelehrte anwenden, seit der Islam eine politische Rolle in Iran einnnimmt. Siehe Hajatpour, Iranische Geistlichkeit, S. 272 ff. 9 Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 85. 10 Vgl. ebd., S. 85. 8

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

lich. Inwiefern diese Ansicht mit dem sadraischen Transzendentalismus konform geht, ist ambivalent. Es soll nur daran erinnert werden, daß die Vollkommenheit bei Ṣadrā ein metaphysisches Gut ist, d. h. sie ist transzendental. So kann es eine vollkommene Gesellschaft hier im irdischen Leben nicht geben, da alles im Fluß ist. Aus diesem Grund kommt die Vollkommenheit nur in einer Form in Betracht, und zwar in Form der Überwindung des materiellen Lebens. Das weltliche Leben dient als Leiter, um zu einer anderen Form des Lebens im Jenseits aufzusteigen und zu einem anderen Aspekt der Existenz zu gelangen (worauf auch Kamal hinweist 11). Die ontologische Freiheit ist somit eine Freiheit zu Gott und nicht von Gott, und in diesem Sinne wird das Ziel der Metaphysik als Vollzug der Trennung des Menschen von der Materie und das Vordringen zur Weisheit und zur »Überexistenz« gesehen. 12 Jambet versteht darunter eine Lehre vom geistlichen Heil, das das lebendige Herz der Metaphysik und ihre wirklich gelebte Ethik ist, wie man der Definition der Philosophie nach Ṣadrā in »al-Asfār« entnehmen kann. In diesem Sinne kann die Notwendigkeit einer vollkommenen Gesellschaft bzw. Herrschaft nur bedeuten, daß damit die Entstehung der Bedingungen für eine freie und individuelle Heilfindung gemeint ist. Kamals Ansicht ist daher nicht ganz frei von Mißverständnissen. Aber das abschließende Fazit von Kamals Darstellung legt nahe, daß auch er an diese individuelle Heilfindung im Sinne Jambets denkt, indem er die Aufgabe der Philosophie in den Augen Ṣadrās als weit über eine rein begriffliche Übersetzung von der Realität hinausgehend betrachtet. Sie sei eher eine aktive Interpretation der Realität. Um dies zu erreichen, sollte die kreative Interpretation mit der Tradition brechen und den Weg für die Zukunft vorbereiten. Denn Kamal ist der Meinung, daß Mullā Ṣadrās Existenzphilosophie im Lichte dieser innovativen Interpretation beweist, daß sie weit von Dogmatismus und Vorurteil entfernt ist, weil für Ṣadrā jede philosophische Überzeugung vergänglich bleibt. 13 Wir wollen in diesem Kapitel auch zeigen, inwiefern die ontologische Vorstellung Mullā Ṣadrās, trotz einiger Widersprüche, die Frage nach der Existenz in ihrem »eigentlichen« Sinne auf die menschliche Existenz festlegt. Dieser Ansatz relativiert dabei John Quinns Ansatz, 14 11 12 13 14

Ebd., S. 87. Jambet, L’acte d’être, S. 45. Kamal, Mullā Ṣadrā’s Transcendent, S. 87. Vgl. Quinn, Mullā Ṣadrā’s Theocentrism, S. 290 f.

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Einleitung

demzufolge er Ṣadrās Philosophie als eine »anthropozentrische Metaphysik« oder, wie er es selbst nennt, als »cosmological theocentrism« betrachtet und keineswegs mit einem »humanistic universe« identifiziert wissen will, so daß wir den theozentrischen Ansatz bei Ṣadrā nicht von seinem Anthropozentrismus trennen können. Wir haben aber bereits in den vorherigen Kapiteln gesehen, daß die theozentrische Philosophie Ṣadrās ohne eine Erweiterung zu einer anthropozentrischen Vorstellung nicht vollständig ist. Quinn zeigt aber, wie sehr die theozentrische Philosophie Ṣadrās mit dem modernen westlichen »Bioengineering« in Widerspruch steht. Dem wollen wir im Grundsatz nicht widersprechen, wenngleich in Quinns Versuch der wichtigste Aspekt der sadraischen Philosophie, der am Ende seines Hauptwerkes »alAsfār« in Erscheinung tritt, nicht beachtet wurde. Dieser wichtige Aspekt ist meines Erachtens die Entwicklung der menschlichen Personalität und der existentiellen Selbstheit. Die vier intellektuellen Reisen, die Ṣadrā seinem Hauptwerk als Motiv zugrunde legt, kennzeichnen die menschliche Rolle sowohl in der Betrachtung als auch in der praktischen Vollendung eines notwendigen Teils des kosmischen Prozesses. 15 Dadurch wird der Umgang mit der Freiheit im Sinne der sadraischen Philosophie zu einem Beispiel für die Kontinuität der theozentrischen Tradition. Sie versucht, das Leben, die Phänomene und den Sinn der Weiterentwicklung bzw. der existentiellen Selbststeigerung des Menschen von ihrem Ursprung, d. h. von der vertikalen Ursache her zu erklären. Die Philosophie Ṣadrās versucht insofern sich als Transzendentalphilosophie zu zeigen, als sie ihre Kenntnisse direkt von der Strömung des Seins herleitet, was nicht begrifflich oder analytisch geschehen kann. Die Kenntnis, die der Vorstellung entspringt, ist unfähig, den Fluss des Seins zu begreifen, der der Ausdruck der reinen Einfachheit der göttlichen Einheit ist. In der unerreichbaren Singularität des konkreten Existierenden kann diese Einfachheit erahnt werden, wie Jambet formuliert. Ṣadrā widerstrebt es, das Sein als einzigartig oder universal zu bezeichnen. Darum führt er einen Begriff ein, der nicht in das Netz der Logik des Universalen und des Einzigartigen paßt: Das Wort šaḫṣ. Die einfache Individuation findet Ausdruck in der Einheit, die das gött-

Die vier intellektuellen Reisen, von denen Ṣadrā in seinem Werk spricht, stellen, wie bereits erwähnt, einen Existenzkreis dar. Siehe Anm. 58.

15

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

liche Eine in der Pluralität seiner Ausströmungen verkörpert. 16 Daher sieht Ṣadrā keinen Gegensatz zwischen Universalität und Einzigartigkeit; beide finden ihre Vereinigung im Ausströmen der Einheit Gottes, gehen auf denselben Ursprung zurück. Allerdings kann der Mensch diese äußerliche Inkompatibilität nicht mit seiner Logik erkennen, sondern nur durch besondere religiöse Techniken und Übungen »erahnen«, durch »Intuition« erfassen. 17 Das ist die Philosophie der Entschleierung und das Entschleiern bedarf einer besonderen Technik der Reinigung der Seelen, wie Jambet hervorhebt. Die Moral dient dann der Exegese des Lichtes und das Licht reinigt das Verhalten und die Sitten, um schließlich als das zu erscheinen, was es ist. 18

II.

Der Mensch – ein religiöses Wesen?

Zunächst beschäftigen wir uns mit der Frage der Religiosität des Menschen. Die Religiosität des Menschen, die dem tiefen Glaubensverständnis eines Ṣadrā entspringt, ist keineswegs als Folge eines gesellschaftlichen Gestaltungsprozesses oder als reiner historischer Prozeß zu sehen. Ihre Historizität hängt vielmehr von einer jenseitsorientierten Gottesvorstellung ab, in der die Idee eines »übermenschlichen Wesens« unverzichtbar wird. In den vorherigen Kapiteln wurde gezeigt, daß der Mensch von seiner Existenz her auf eine Vervollkommnung hin angelegt ist. Ferner hat sich die Freiheit des Menschen in seiner selbstschöpferischen Selbstgestaltung als ein notwendiger Bestandteil der Intellektentfaltung erwiesen. Daraus kann nicht abgeleitet werden, ob die Religion und Religiosität in diesen Prozeß eingeschlossen sind. Wenn aber die Religion im Islam, wie bereits erwähnt, als ein dem Menschen als einem geschaffenen Wesen gegebenes Gut gesehen wird, so muß erklärt werden, wie frei der Mensch ist, seine Art der Religiosität und Glaubensform selbstständig anzustreben. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit wird es unerläßlich sein, nach der spezifischen Rolle der Religion für die Perfektibilität zu fragen und deren Stellung angesichts der Freiheit des Menschen zu Jambet, L’acte d’être, S. 84. Jambet legt Ṣadrā in dieser Form aus. Er will hier auf die Monaden anspielen, die auch in ihrer Individuation immer wieder die Einheit Gottes widerspiegeln. 18 Ebd., S. 152. 16 17

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Der Mensch – ein religiöses Wesen?

überprüfen, wobei nicht vergessen werden darf, daß die Religion im Islam sowohl als Glaube und Spiritualität als auch als Ritualisierung der Lebensbereiche verstanden wird. Ist der Mensch von Natur aus religiös gebunden, oder ist die Religiosität eine Erfahrung, die sich der Mensch erst durch eigene freiheitliche und individuelle Anstrengungen und durch Askese aneignen muß? Nach den bereits erwähnten sadraischen drei Teilungen der Existenz befinden sich Religiosität und Moralität in unterschiedlichen Erscheinungen. Das gilt auch für die Offenbarung und den Intellekt. Körper, Seele und Geist spiegeln die drei Stufen einer immanenten Existentialität wider. Das reine Sein bleibt unberührbar und unbestimmt. Jambet nennt es die zentralste Stufe alġaib, die er im Sinne der Theosophie eines Jacob Böhme mit Mysterium übersetzt. Dieser unbestimmbare Bereich, auch das Absolute (im etymologischen Sinne = losgelöst von allem), bleibt daher außerhalb aller Art der Erfahrungsformen, selbst das intuitive Erfassen des reinen Seins muß immer im Schweigen verhaftet bleiben. Aber anders als die erste Stufe sind die zweite und dritte einerseits durch die Unbestimmtheit bedingt und andererseits durch konkrete und thematische Formen. Es ist die Ausdehnung des Ausströmens und der »Expansion« des Seins. Die dritte Stufe ist daher von Ṣadrā als substantielle Bewegung erahnt, so Jambet. 19 Demnach stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch in seiner Religiosität in das Existenzkonzept Ṣadrās eingebunden ist und ob er sich auch in Einklang mit dem allgemeinen Religionsverständnis im Islam sieht. Die Religion, für die im Koran der Begriff ad-dīn steht, bezeichnet den Glauben einer Nation und einer Gemeinschaft, wie z. B. die Religion Abrahams und Jacobs bzw. des Islams. 20 Im Koran kommt auch dieser Begriff als Religion Gottes vor; ein Hinweis, der auf eine Orientierung am Islam deutet. 21 In diesem Sinne wird die Religion im Islam ausschließlich als der Glaube an die Schrift und deren Befolgung bezeichnet. 22 In welcher Ausprägung auch immer der Begriff ad-dīn im Koran vorkommt, 23 der Glaube an Gott, an die Schrift, an die Prophetie und an das Jenseits ist immer an eine Art »Institution« gebunden. D. h. Ebd., S. 173–178. Siehe Koran 2/132, 3/18 f., 4/46, 6/161, 8/72, 12/76. 21 Ebd., 3/3/19, 83, 9/122. Der Koran verweist aber auch deutlich auf den Islam als Religion schlechthin. Ebd., 3/19, 85, 5/3. 22 Ebd., 9/29, 33, 36, 39/3. 23 Über die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffes »dīn« siehe ar-Rāġib al-Iṣfahā19 20

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

die Religion ist nicht nur eine Vorstellung oder das geistige »Überwältigtsein vom Ganzen«, die individuell und subjektiv sein können, sondern es steht vielmehr ihre praktische Orientierung im Vordergrund, welche in der Befolgung der Offenbarung zum Ausdruck kommt. Das reine Transzendenzbewußtsein bestimmt zwar den Grad der Religiosität bzw. des Glaubens, es rechtfertigt aber keineswegs die Verwendung des Begriffs der Religion für Religiosität ohne Offenbarung. Die Religion stellt das Bindeglied einer Gemeinschaft dar, die keine Differenzierung, keine Gruppierung und keine individuelle Weltanschauung duldet. 24 Die neueren Forschungen haben bereits die unterschiedlichen Anwendungen der Religion und ihre Beziehung zum Glauben und zur Religiosität gezeigt. 25 Wir wollen uns hier deshalb eher auf die Aspekte konzentrieren, die bezüglich der Religiosität für die Frage der freien und bewußten Perfektibilität wesentlich sind. Die Ausführungen der anerkannten Theologen lassen keinen Zweifel daran, daß der Glaube nicht eine reine »Zustimmung« (at-taṣdīq) des Herzens sei, sondern ihm auch bestimmte Handlungen folgen. 26 Zunächst beginnt der Glau-

nī, Muʿ ğam, S. 177 f.; ar-Rāzī, Muḥammad Ibn Abī Bakr Ibn ʿAbd al-qādir: Muḫtār aṣṣiḥāḥ. Eingel. und hrsg. v. Maḥmūd Ḥātir (1999). Beirut, S. 91. 24 Siehe Koran 8/39, 27/256, 30/32, 42/13, 49/15. Oft kommt im Koran der Begriff »die Gläubigen« (muʾ minūn) oder »diejenigen, die glauben« (āmanū) vor. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Glaube für die Gemeinschaft oder das Individuum als inhaltliche Praxisorientierung, aber auch als Identitätsdarstellung verstanden werden soll. In diesem Zusammenhang steht auch der Begriff »Glaube« (īmān). Der Glaube und die Praxis werden oft nebeneinander verwendet (āmanū wa ʿ amilū ṣ-ṣālihāt), auch wenn der Glaube als rein geistige Haltung, als eine »am Herzen« orientierte Angelegenheit (at-taṣdīq bi-l-qalb, wörtl. Zustimmung durch das Herz) gegenüber Gott begriffen wird. Ebd. 49/ 15 ff. Es gibt zahlreiche Verse, in denen die Praxis der Gläubigkeit unmittelbar folgt. Siehe ebd. 23/2–9. 25 Siehe Renz, Der Mensch. 26 At-Taftāzānī, Šarḥ al-maqāṣid, Bd. V, S. 175–217. Die Definitionen zweier klassischer Religionsgelehrter, Abū al-Baqāʾ und at-Tahānawī, auf die sich der syrische Philosophieprofessor ʿ Ādil al-ʿAwwā in seinem Buch »al-ʿ Umda fī falsafat al-qayyim« bezieht, beinhalten diese normativ-praktische Dimension. Demnach sei die Religion, wie at-Tahānawī formuliert, eine göttliche Bestimmung, die für die vernunftbegabten Wesen als Antrieb zur »Verbesserung des seelischen Zustandes« (ilā l-iṣlāḥ fī l-ḥāl) und dem Erfolg im Endziel (al-falāḥ fī l-maʾ āl) dient. Mit nur geringem Unterschied zeigt auch Abū alBaqā, daß die Religion die Erlangung des Guten durch seelische und körperliche Leistung beinhaltet. Al-ʿAwwā, ʿ Ādil (1986): al-ʿ Umda fī falsafat al-qayyim. Damaskus, S. 542.

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Der Mensch – ein religiöses Wesen?

be mit der Bestätigung durch den Wortlaut (al-iqrār bi-l-lisān) 27 und geht dann in konkrete Handlungen über (al-ʿ amal bi-l-arkān). Auch dort, wo der Glaube als Erkenntnis (maʿ rifa) den Gegenstand der Theologie bildet, deutet er nicht auf das reine Transzendenzbewußtsein hin, sondern das »Herz« dieses Bewußtseins wird von der Idee der »Anwesenheit eines Übersinnlichen« beherrscht. 28 Aus der Zustimmung, der Überzeugung und der Praktizierung der von der Offenbarung und der Prophetie geforderten religiösen Lebensführung heraus geht für Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī die Bedeutung des Glaubens hervor. Dieser ist der Auffassung, daß der Glaube der Ausgangspunkt der Fortbewegung zur Vollkommenheit sei. Die höchste Vervollkommnung dieser Religiosität ist für ihn aus dem Inhalt des koranischen Verses zu entnehmen. 29 Religion stellt sich daher für die große Mehrheit der islamischen Denker als eine Mischung von Glauben und Handlung dar, 30 und ihre Ritualisierung hat eine enge Beziehung zur geistigen und intuitiven Religiosität. Häufig wird ihr eine hohe Bedeutung für die Erlangung des Guten durch seelische und körperliche Leistung beigemessen. 31 Auch für diejenigen, die den ethischen Aspekt der Religiosität hervorheben, erfüllt der Glaube eine praktische Angelegenheit. 32 Der andalusische Philosoph Ibn Rušd zeigt ebenfalls, wie eng die Auch in den traditionellen schiitischen Werken der Theologie begegnet man ähnlichen Definitionen des Glaubens. Siehe al-Ḥillī, Kašf al-murād, S. 594. 28 At-Taftāzānī meint, die Erkenntnis bei der Schia sei der Gegenstand der Theologie und der Glaube heiße Erkenntnis. Er unterscheidet sie von Zustimmung (taṣdīq), so daß in der Zustimmung die Ergebenheit eingeschlossen ist. At-Taftāzānī, Šarḥ al-maqāṣid, Bd. 5, S. 176 ff. 29 Aṭ-Ṭūsī, Naṣīr ad-Dīn: Auṣāf al-ašrāf. Hrsg. v. Mahdī Šams ad-Dīn (1369/1990). Teheran, S. 9 ff. »Die Gläubigen sind Leute, deren Herz sich ängstigt, wenn Gott erwähnt wird, und die es in ihrem Glauben noch bestärkt, wenn ihnen seine Verse (w. Zeichen) verlesen werden, und die auf ihren Herrn vertrauen. (Leute) die das Gebet verrichten und von dem, was wir ihnen (an Gut) beschert haben, Spenden geben. Das sind die wahren Gläubigen. Sie haben (dereinst) von ihrem Herrn (besondere) Rangstufen und Vergebung und vortrefflichen Unterhalt (zu erwarten).« Siehe Koran 8/2 ff. 30 Siehe dazu Ḥamdī, Alī Aḥmad (1998): al-Insān wa-l-muǧtama fī-l-fikr al-islāmī. ʿ ʿ Kairo, S. 36 ff.; ʿ Utayya, Aḥmad ʿAbd al-Ḥalīm (1410q/1998): al-Aḫlāq fī l-fikr al-ʿ arabī al-muʿ āṣir. Kairo, S. 215. 31 Z. B. bei al- Awwā, al- Umda, S. 542. ʿ ʿ 32 Die Religion ist laut einer Überlieferung als ethischer bzw. normativer Ratschlag (addīn an-naṣīḥa) zu verstehen. Ibn ʿAbd Rabbihi al-Andalusī, Al-ʿ Iqd al-farīd. Bd. I, S. 25 f. Natürlich wurde damit keine allgemeine Definition der Religion beabsichtigt, vielmehr wurde versucht, eine besondere Eigenschaft der Religiosität hervorzuheben. 27

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Beziehung zwischen Glaube und Handlungen ist. 33 Im Geist der sadraischen Philosophie betont Miṣbāḥ die unabdingbare Beziehung von Glaube und Praxis, in der die Religiosität des Menschen zum Ausdruck kommt. 34 Für den libanesischen Gelehrten Muḥammad Ǧawād Muġnīya (1904) hingegen ist es wichtig, eine klare Grenze zwischen Religion und Ethik zu ziehen. Die Religion umfasse das Denken und den Glauben, und der Glaube sei Überzeugung und Tat, während die Ethik letztlich Praxis sei. Außerdem habe die Religion – und das ist das Entscheidende – ihren Ursprung ausschließlich in der Offenbarung. Demgegenüber habe die Ethik, die rational oder intuitiv reflektiert werde, ihre Wurzel nicht nur in der Offenbarung, sondern auch in der Natur des Menschen. 35 Muġnīya, der ebenso wie Miṣbāḥ der Existenzphilosophie Ṣadrās nahe steht, ist im Gegensatz dazu der Ansicht, daß sich Ethik und Religion gegenseitig ergänzen bzw. anziehen. Riḍā Dāwarī (1312/1933), Philosophieprofessor der Teheraner Universität, knüpft ebenfalls an die sadraische Existenzlehre an, ohne jedoch die Religion in ihrer Transzendentalität und Institutionalität voneinander zu trennen, wobei er die Auffassung vertritt, daß es sich bei Religion um eine transzendentale »Erkenntnis« (maʿ rifa) handle, deren Beziehung zur Ethik, zur Vernunft und zu Wissenschaftserkenntnissen sekundär sei. Denn die Religion sei Glaube, Liebe, Verbundenheit, Unterwerfung und Ergebenheit, und somit heilig. 36 In »Es gehört sich, zu wissen [daß du weißt], daß der Zweck des Religionsgesetzes [aššarʿ , es scheint, daß Ibn Rušd unter der aš-šarʿ die Religion insgesamt versteht] nur das Studium des wahren Wissens und der wahren Praxis ist. Das wahre Wissen ist aber die Erkenntnis Gottes und der übrigen existierenden Dinge, wie sie sind, besonders ihrem Rang nach [aš-šarīfa], und die Erkenntnis der jenseitigen Glückseligkeit und der jenseitigen Unseligkeit [aš-šaqā, auch Leid]. Die wahre Praxis besteht im Befolgen der Handlungen, welche Glückseligkeit hervorrufen [zur Folge haben] und in der Vermeidung der Handlungen, die Unseligkeit hervorrufen. Die Erkenntnis dieser Handlungen wird die praktische Wissenschaft genannt, und diese hat in zwei Formen […].« Ibn Rušd, Abū alWalīd: Faṣl al-maqāl fī-mā bain al-ḥikma wa-š-šarīʿ a min al-ittiṣāl. Kommentiert, eingel. u. hrsg. v. Muḥammad ʿ Imāra (21969). Kairo, S. 54. 34 Koranische Verse wie z. B. 16/97 u. 40/40 lassen für Miṣbāḥ keinen Zweifel daran, daß Ritus und Glaube nicht voneinander zu trennen sind. Miṣbāḥ Yazdī, Muḥammad Taqī (31377/1998): Aḫlāq dar Qurʾ ān. Hrsg. v. Muḥammad Ḥusain Iskandarī. Bd. I. Ghom, S. 131–138. 35 Muġnīya, Muḥammad Ǧawād (o. J.): Falsafat al-aḫlāq fī l-islām. O. O., S. 15 f. 36 Nach Dāwarīs Überzeugung entziehen Versuche (gemeint ist hier die Auffassung seines Zeitgenossen Dr. ʿAbdulkarīm Sorūš), die Religion zeitgemäß zu interpretieren, ihr die ihr innewohnende »Heiligkeit und Unmittelbarkeit«. 33

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Der Mensch – ein religiöses Wesen?

Wissenschaft, Vernunft und Ethik gelten diese Maßstäbe jedoch nicht unmittelbar. Dāwarī zufolge steht es dem Menschen nicht zu, die Welt Veränderungen zu unterziehen bzw. in der Welt Gestaltungen und Entwürfe herbeizuführen, wie er es will. 37 Die Welt steht uns nur ganz bedingt zu. 38 Selbst die religiösen Erkenntnisse ohne bedingungslose Ergebenheit und Verbundenheit zur Religion sind für ihn weder heilig, noch entspringt ihnen irgendeine Beziehung zur Religion. 39 Mit dieser Betrachtungsweise stehen wir tatsächlich in einer Beziehung zur Welt und zur Religion, in der die Möglichkeit eines Selbstentwurfes unbedeutend erscheint, nach dem Motto: Wer sich unterwirft, kann nicht gestalten, sondern er muß sich gestalten lassen. Nach Dāwarī beruhen die moderne Welt und der neue Mensch (bašar-i ǧadīd) bzw. die Moderne gänzlich auf einer Vorstellung, in der die Beziehung und Auffassung des Menschen zur Natur, Welt, Ethik und zu sich selbst verändert wurde. Der Mensch betrachtet sich selbst als Grund und Maßstab der neuen Welt und als das Maß der Dinge. 40 Denn Vernunft, Wissenschaft und sogar Ethik seien Maßstäbe, die außerhalb der Religion lägen. Der Wissenschaft oder Vernunft entspränge somit notwendigerweise kein Glaube. Dāwarī treibt den Kontrast zwischen Welt und Religion (dunyā wa-dīn) so weit, daß die Welt nur noch als ein stummes Gebilde und eine inhaltlose Gestalt erscheinen kann. Sie kann nicht einmal als ein Instrument in Betracht gezogen werden, mit dem und durch das man seine religiösen Ziele verwirklicht, seine Handlung bestimmt und seine immanente Gottesbezogenheit, seine innere Transzendenz entwirft. Denn Dāwarī zufolge gehört die Welt nicht uns, sondern wir gehören ihr. Siehe Dāwarī, Riḍā (1378/1999): Farhang, ḫirad wa āzādī. Teheran, S. 77–111. 38 Gerade durch dieses Prinzip versucht Volker Gerhardt zu begründen, daß die Menschen nicht frei von dieser Welt denken können. Daher erlaubt diese Verbundenheit, daß der Mensch in der Welt sein und auf sie wirken kann, wie sie auf ihn wirkt. Diese Wirksamkeit macht nach Gerhardt die Wirklichkeit der Welt aus. Siehe Gerhardt, Volker (2000): Individualität. Das Element der Welt. München, S. 39–64, 66 ff. 39 Vgl. Dāwarī, Farhang, S. 89. 40 Ebd., S. 90. Dāwarī beharrt, ohne die Relevanz der Welt, Wissenschaft, Vernunft und Ethik zu bestreiten (er betont sogar ihre Notwendigkeit), auf der Unabhängigkeit der Religion von der Welt, der Wissenschaft, der Vernunft und der Ethik. Die Religion kann daher nicht durch sie definiert werden. In diesem Sinne ist das Religiöse keine Form der Wissenschaft, auch nicht eine von der Vernunft beglaubigte oder geleitete Lebensform. Die Religion ist sozusagen ein Zustand, eine Erkenntnis und sogar eine Evidenz des Wirklichen: »Aber diese Erkenntnis ist nicht von der Sorte der wissenschaftlichen Erkenntnis. Mit anderen Worten, man kann den Glauben nicht in Teile zerlegen [taḥlīl, analysieren], so daß der Hauptteil [Kernbestand] darin ein wissenschaftliches Urteil wäre, denn wenn das wissenschaftliche Urteil eine neutrale Untersuchung der Dinge bedeutet, welche uns gegenüber und im Bereich unserer Macht und Gestaltung steht, so ist 37

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Religion ist nach dieser Vorstellung eine Transzendenz ins Jenseits. Nach diesem Gesichtspunkt scheint es, als ob sich die Quelle der religiösen Wahrnehmung inhaltlich von den sonstigen Wahrnehmungsquellen unterscheide, es sein denn, man würde das Denken und die Welt als eine transzendentale Erscheinung des Einen betrachten. 41 Diese Vorstellung scheint aber der sadraischen Existenzhierarchie nicht zu entsprechen. Nach der Vielschichtigkeit der Existenz und der hierarchischen Äußerung (Entfaltung) der Existierenden scheinen Wissenschaft, Vernunft und auch Religion in jeder Stufe der Existenz identisch zu sein. Darauf gehen auch die Untersuchungsergebnisse Zailan Moris’ zurück, wobei sie den Erfolg von Mullā Ṣadrās Bestreben, die drei Erkenntnisquellen und Wahrheitsansprüche von Offenbarung, Gnosis und diskursiver Philosophie zu vereinen, um eigenständig eine kohärente und originelle philosophische Sicht und Position zu schaffen, darin sieht, daß die interne Kohärenz seiner grundlegenden Prinzipien und ihrer logischen Wechselbeziehung wie auch ihrer Konsistenz untereinander eine Synthese bilden, um sowohl eine vereinheitlichte und zusammenhängende Sicht der Realität, als auch ihre Übereinstimmung mit der islamischen Religion zu liefern. Zudem soll darauf hingewiesen werden, daß die Beziehung zur Religion, wie Dāwarī es darstellt, durch eine Art Willenlosigkeit gekennzeichnet ist und dadurch eine Untätigkeit impliziert, die mit dem Konzept der existentiellen Perfektibilität des Menschen bei Ṣadrā nicht in Einklang steht. Denn das Handeln ist etwas, was einen Willensantrieb voraussetzt. Wenn der Willensantrieb transzendental bestimmt ist, erweist sich die Idee der Perfektibilität als absurd, da die Perfektion ohne die Idee der Freiheit keine Bedeutung haben kann. 42 Religion ist Dāwarī zufolge ein »Vertrag« (ʿ ahd), den man mit ›Glaube‹ Abhängigkeit, Ergebenheit, Demut und Gehorsam selbst. Außerdem ergibt sich die Wissenschaft durch die »Methode« [rawiš], aber die Religion ist ein Zustand [aḥwāl, wörtl. asketische Zustände]. Wenn sie auch Aussagen und Handlungen zur Folge hat, ist sie doch das Produkt von Zuständen und kann mit wissenschaftlichen Methoden nicht gemessen [untersucht] werden.« Ebd., S. 109. 41 Dieser Ansicht nach gibt es nur eine Betrachtungsweise, und die Religion, die Welt und das Denken wären ein Produkt ein und desselben Transzendenten, was der Idee der transzendentalen Einheit entspricht. 42 Dāwarī betont aber, daß man die Religiosität (diyānat) keineswegs auf Ethik (aḫlāq) und die spekulative Theologie (ʿ ilm-i kalām) reduzieren darf. Mit diesem Gedanken steht er nicht alleine. Die Handlung ergibt sich quasi durch die Natur der Umstände und den Grad der Ergebenheit gegenüber der Übermacht Gottes.

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Gott am Tag der Entstehung geschlossen habe. Nach Dāwarī ist der Mensch, in dem er seine Existenz angenommen habe, bereits mit Gott einen heiligen und religiösen Vertrag eingegangen. Nach der traditionellen Existenzphilosophie wäre dieser Gedanke damit verbunden, daß zum einen alles, was möglich wurde, in einen Urvertrag mit Gott eingegangen sei und daß zum anderen der Mensch an diesem Urvertrag willentlich mitgewirkt habe. Der Mensch sei durch den Vertrag, nämlich die ursprüngliche Bejahung auf die göttliche Frage »a lastu« 43 zum Menschen geworden, so Dāwarī. Dieser Vertrag erscheine im Glauben und in den Handlungen des Menschen. 44 Dāwarīs Religionsdefinition orientiert sich stark an einem Transzendenzbewußtsein, das keine Aussage über den Charakter der Religion macht. Es wäre aber nicht zutreffend, wenn seine Definition darauf reduziert würde, unabhängig von der Religionszugehörigkeit für alle Menschen zu gelten. Es wäre ebenso nicht korrekt, wenn sie ausschließlich als eine Art der individuellen Beziehung gesehen würde, die sich von jeder Art religiöser Bindung frei macht. 45 Dāwarī geht es nicht um eine mystische Weltleugnung und -untätigkeit, denn dann würde er nicht im Sinne Ṣadrās und Nasafīs philosophieren. Der Widerspruch, den Dāwarī in der Beziehung von Welt und Transzendenz sieht, ergibt sich aus den unterschiedlichen »Sprachen« der Religion. Somit ist kein Widerspruch darin zu sehen, wenn der Mensch in der Welt Herr seiner Handlungen und im Transzendenten gemäß seiner individuellen intuitiven Wahrnehmung Gestalter eigener Glaubensvorstellung und Glaubensführung ist. Denn in beiden Welten fungiert der Mensch nach dem Prinzip der Freiheit. Dāwarī ist sich bewußt, daß dem Koran zufolge der Mensch nur über seine »Leistung« beurteilt wird und nichts anderes zählt, außer dem Ergebnis seiner Taten und Bemühungen. 46 Daher kann die Religion ohne die Welt nicht gedacht werden. In-der-Welt-sein muß dann bedeuten, nicht stumm Dies bezieht sich auf einen Koranvers, demzufolge Gott die Menschen gefragt habe, ob er nicht ihr Gott sei. Daraufhin gaben die Menschen ihm ihre Zustimmung. Siehe Koran, 7/172. 44 Vgl. Dāwarī, Farhang, S. 127 f., 191. 45 Durch die Ablehnung des universellen Weltethos und die Eingrenzung der religiösen Zugehörigkeit weist er jedoch auf die Einbindung in eine bestimmte Art von Gemeinschaftsritus, hier den Islam, und den Wahrheitsanspruch dieser bestimmten Gemeinschaft hin. 46 »Laisa li-l-insāni illā ma sa ā wa-anna sa yahū saufa yurā«. Koran 53/39 f. ʿ ʿ 43

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

und untätig zu bleiben, sondern das Religiöse in der Welt in seine Gestaltungsmöglichkeit und Vollendung einzubeziehen. 47 Übertragen wir dieses religiöse Transzendenzbewußtsein auf das sadraische Konzept, so befindet sich die Philosophie als Denken und Praxis in einer normativen Rolle. Wir haben bereits nach der Auffassung Kamals darauf hingewiesen, daß bei Ṣadrā die Aufgabe der Philosophie die aktive Interpretation der Realität ist. Daher geht es hier nicht um eine Sprache, sondern um ein geistiges Erlebnis. 48 Dieses Erlebnis ist intuitiv und vielleicht vergleichbar mit dem, was Wittgenstein unter dem Unaussprechlichen des Mystischen versteht, mit dem er das »Religiöse« und die Erfahrung der Ästhetik des Daseins zum Ausdruck bringen wollte. 49 Für Wittgenstein muß »der Sinn der Welt […] außerhalb ihrer liegen«, [sowie die Lösung des Rätsels des Lebens]. Die »richtige« Anschauung der Welt findet außerhalb der Sprache und des Logischen statt: 50 »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man Dies liegt daran, daß Dāwarī der Religion, im Gegensatz zur Kritik der religiösen Erkenntnis seines zeitgenössischen Denkers ʿAbdulkarīm Suruš, eine eigene Sprache zuweist, die sich unabhängig von den Interpretationen der religiösen Wissenschaften artikulieren läßt. Demnach löscht jeder Versuch, der die Religion als unbestimmt bzw. stumm darstellt, um sie von der Sphäre der religiösen Wissenschaften zu trennen, gerade die Unabhängigkeit der Transzendenz von der diesseitigen Welt. Zu Surūšs Ideen siehe Hajatpour, Die iranische Geistlichkeit, S. 320–339. 48 Nach dem frühen Wittgenstein fällt der Glaube als ein rein mystisches Erlebnis in ein radikales Schweigen; Schweigen wird jedoch nicht im Sinne von »verzweifelter Sprachlosigkeit« verstanden, »[D]enn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.« Denn »wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« [Hervorhebungen im Original]. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Philosophische Untersuchungen. Hrsg. v. Peter Philipp (1990). Leipzig, S. 88 f. 49 Mir scheint, daß auch manche islamische Mystiker (z. B. bei al-Ġazālī sehr deutlich) unter dem »Schmecken« (ḏauq) das verstehen, was Wittgenstein unter einer »Sprachphilosophie« jenseits der Sätze, also jenseits der Sprache, versteht. Ähnliche Ausdrücke kann man in den mystischen und theologisch-philosophischen Werken der abendländischen Denker im Mittelalter beobachten. Pico della Mirandola (1463–1494) verwendet in seinem Werk »Oratio« zum Beispiel den Begriff »Unaussprechliches« bzw. »die einsame Dunkelheit« für das mystische Erleben. Siehe Monnerjahn, Engelbert (1960): Giovanni Pico Della Mirandola. Ein Beitrag zur philosophischen Theologie des italienischen Humanismus. Wiesbaden, S. 36 f. 50 Denn »die Welt ist alles, was der Fall ist«, und »alles Geschehen und So-Sein ist zufällig«. Daher ist das Mystische für Wittgenstein eine Art »Erlebnis des Unlogischen«. Es erlebt sich in der Anschauung der Welt »als – begrenztes – Ganzes«. Will man die Welt richtig erblicken, so müssen die Sätze überwunden werden, wie es Wittgenstein am Ende seines »Tractatus« unmißverständlich formuliert. Vgl. Wittgenstein, Tractatus, S. 86. 47

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schweigen.« 51 Anders als Wittgenstein glaubt aber ein islamischer Mystiker wie al-Ġazālī, auch wenn für ihn das Erlebnis des Religiösen etwas Unaussprechliches ist, daß es eine zweifelsfreie Erkenntnis gibt, die weder durch Logik, noch durch die Sprache der Mathematik oder Philosophie ausgedrückt werden kann. Die Rolle, die der Welt angesichts des Transzendenzbewußtseins des Menschen zukommt, ist daher verbunden einerseits mit einer Vorstellung, die den Menschen an seine Sünd- und Boshaftigkeit, seine Endlichkeit, seine Unvollkommenheit, seine Unbeständigkeit, seine Machtlosigkeit oder sogar an seine Mangelhaftigkeit erinnert. Andererseits setzt die Welt ihn ebenso in Erstaunen und Verwunderung, bewirkt Hoffnung, Sinnlichkeit, Verantwortung und Bewußtsein, verleiht ihm aber auch die Möglichkeit, in ihr zu ruhen, ihr einen Sinn zu geben, sich durch sie neu zu gestalten, sie, wie es in einer häufig zitierten Überlieferung zum Ausdruck kommt, als »Saatfeld« seines Fortbestehens in Vollkommenheit zu befruchten und die Früchte seiner Taten zu ernten (ad-dunyā mazraʿ atu l-āḫira). Genau hier zeigt sich die Bedeutung des Glaubens und der Religiosität, die den Menschen schon von Beginn an nicht nur als Vorstellung, sondern vielmehr in Ritus und Handlung begleitet hat. Durch sie versucht der Mensch, das Unaussprechliche zu artikulieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Auch wenn er dafür eine Sprache benötigt, hat sie eine allegorische, metaphorische Funktion. Das absolute Schweigen könnte vielleicht verstanden werden als ein Zustand des Glaubens, in dem das Schweigen das Ganze des Glaubens wiedergibt. Der Mensch erreicht in diesem Zustand die Vollkommenheit des Erlebens, in der man, wie die islamischen Mystiker sagen, sein Ich für ein absolutes Daseinsgefühl aufgibt. Für die Perfektibilität des Menschen ist die kontemplative Schau des Wahren eine Form des Glaubens, in der die aktive Rolle des Menschen als ein Bestandteil der geistigen Meditation betrachtet wird. Im islamischen Verständnis eines Ṣadrā, und v. a. für die Mystiker, gelten die Triebe und sämtliche weltlichen Abhängigkeiten als eine Belastung für die Menschen. Diese fordert aber zugleich den aktiven Einsatz und kreativen Widerstand des Menschen heraus und schafft die Voraussetzung für die höchste Vorstellungskraft, bei der nicht die Vernunft das letztentscheidende Mittel zur Mängelbeseitigung ist, sondern die intui51

Ebd., S. 89.

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tive Kraft der geistigen und religiösen Innenwendung. Fehlendes Wissen, mangelnde Erkenntnisse und die körperliche Unvollkommenheit des Menschen lösen eine Sichtweise des irdischen Zustandes aus, 52 in den der Mensch diesen in seiner religiösen Vorstellung als »körperliches Gefängnis«, als eine Belastung einstuft. Als unvollkommener Mensch und, wie bereits ausführlich diskutiert, als tabula-rasa-Wesen ist der Mensch durch die Unvollkommenheit (naqṣ) und Unwissenheit (ǧahl) belastet. Die innere individuelle Erfahrung der Unzulänglichkeit des Menschen gehört zu seinem existentiellen und kulturellen Leben zugleich. Der Mensch ist also absolut verhaftet in einer Dauermangelhaftigkeit und Dauerveränderung. In einer religiösen Welt »entlastet« sich der Mensch durch eine Jenseitsgebundenheit, wodurch er sich durch eine Optimierung der Seele, durch die Habitualisierung seiner religiösen und ethischen Handlungen und durch seine an die Institutionen gebundene Weisungslinie zu ersetzen und entlasten glaubt. Er muß sich nämlich durch den Glauben an Gott und an das Jenseits, durch die Offenbarung, durch verbindliche religiöse Handlungen und durch Verpflichtungen von der Welt entbinden und sich dem Jenseits öffnen. Öffnen bedeutet hier den Weg der Vervollkommnung. Der Mensch befindet sich dann in einem Zustand der religiösen Handlungsgebundenheit, in diesem Sinne versteht er sich als ein religiös handelndes Wesen. 53 Diese Handlung ist nach Mullā Mahdī Narāqī identisch mit Belohnung und Bestrafung. Denn die Seele des Menschen sei von Natur aus frei von irgendeiner Charaktereigenschaft, die sich erst durch Erziehung und habitualisiertes Handeln manifestiere. Demnach sei der Mensch zwar nicht von Natur aus ein religiös handelndes Wesen, wohl aber in der Lage, die Religiosität zu seiner Natur zu machen. 54 Aus diesem Grund kommen manche Gelehrten zu dem Schluß, daß auch die Handlungen im Diesseits und Jenseits, wie die Zustände dieser beiIn der Sprache Johann Gottfried Herders wird diese als »jenes elendeste der Wesen« und »verwaiseste Kind der Natur« beschrieben – gemeint ist der Mensch, der sich in einer begrenzten, bedingten, veränderbaren und unvollkommenen Welt befindet. Siehe dazu: Scharfe, Martin (2002): Menschenwerk. Erkundungen über Kultur. Köln u. a. S. 55. 53 Allerdings kann man diesen quasi als Entlastungsprozeß zu bezeichnenden Vorgang – anders als bei Gehlen – nicht als eine Chance begreifen, durch die die Menschen im Gegensatz zu den »weltgebundenen« und »triebgesteuerten« Tieren vor einer »Weltoffenheit« stehen. 54 Vgl. Narāqī, Ǧāmi as-sa āda, Bd. I, S. 20–24. ʿ ʿ 52

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den Welten, in einem Widerspruch und einem Kontrast zueinander stehen. Das, was dem Menschen in der Welt Genuß bereite, sei im Jenseits ein Schaden, und was in dieser Welt als Belastung erfahren werde, sei im Jenseits Genuß und Freude. Der schiitische Gelehrte Narāqī zeigt damit die Differenz zwischen der weltlichen Verführbarkeit und den schweren religiösen Pflichten und Ordnungen auf. Narāqī verweist damit auf einen sehr wichtigen Aspekt der Erkenntnistheorie, in dem die Handlung des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Selbsterkenntnis wird. Wie bereits dargelegt, ist die Erkenntnis Gottes abhängig vom Grad der Selbsterkenntnis. Im Jenseits erscheinen Narāqī zufolge mit dem Menschen auch seine Taten. Die Handlungen des Menschen würden durch seine Glieder, mit denen er die Tat begangen hat, Selbstzeugnis ablegen. 55 Würde man die Aussagen Afḍal ad-Dīn Kāšānīs metaphorisch auslegen, so erntete jede Seele bzw. jede Person im Jenseits, was sie im Diesseits gesät hat. 56 Laut eines Zitates des Isfahaner Philosophen Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī soll Pythagoras angeblich gesagt haben, daß der Mensch entsprechend seinen Gedanken, Aussagen und Handlungen eine geistige Gestalt annehme. Die Gestalt des Menschen entsteht nach Überzeugung Ṣadrās im Jenseits infolge seiner Taten: »Das Bild des Menschen im Jenseits ist (bestimmt durch) das Ergebnis seiner Handlung und das Ziel seines Tuns im Diesseits« (anna ṣūrata l-insāni fī lāḫirati natīǧatu ʿ amalihī wa ġāyatu fiʿ lihī fī d-dunyā). 57 D. h. der Mensch ist das, was seine Handlung aus ihm macht. 58 Handlungen beOb sie an seinem Hals hängen würden und der Mensch sie in Form einer Schrift vor Augen habe, die er laut lesen müsse, oder ob die Menschen getrennt in verschiedenen Gruppen im Jenseits hervorkommen werden, damit ihnen ihre Werke gezeigt werden, wie es aus einigen koranischen Versen hervorgeht (siehe Koran 3/30, 17/13 f., 99/6 f.), soll hier nicht entschieden werden. 56 Vgl. Kāšānī, Muṣannafat, S. 311. 57 Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 205. 58 Wir finden ähnliche Vorstellungen in der indo-iranischen Eschatologie. Der Mensch wird nach seinem Tod von seinem himmlischen Deana, einem geistigen Ich, empfangen, was nichts anderes ist als die Verkörperung seines irdischen Wirkens. Deana in Korrespondenz mit der irdischen Seele (urvan) bildet das ganze Ich des Menschen. War der Mensch ein sittliches Wesen, so erscheint ihm sein himmlisches Ich als ein fünfzehnjähriges Mädchen. War der Mensch unsittlich, so werden seine Handlungen in einem häßlichen Greis auftauchen. Siehe dazu Scheftelowitz, I. (1922): Die Entstehung der manichäistischen Religion und des Erlösungsmysteriums. Gießen, S. 52. Deana bedeutet ebenso Gewissen, was in der altiranischen Sprache die Religion des Menschen bedeuten kann. Die Iranisten sind sich jedoch nicht über eine exakte Bedeutung des Begriffes 55

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stimmen somit das gesamte Lebenskonzept und sind vor allem für die Gestaltung der eigenen Person im Jenseits entscheidend, wie Ṣadrā betont. Nur tue jeder die Arbeit auf seine Weise, wie Ṣadrā dies in Anlehnung an den Koran hervorhebt. 59 Ṣadrā legt vor allem auf die pädagogische Bedeutung des Handelns Wert. Keine Handlung könne eine Wirkung haben, wenn sie aus einer reinen Bewegung (pers. ḥarakat) oder nur aus Geräuschen (pers. ṣidā) bestehe. Sie müsse durch Wiederholungen und durch Training verinnerlicht werden. So entstehe die Anlage (malaka), welche die Wirkung des Handelns darstelle. Ohne diesen Veranlagungsprozeß, so Ṣadrā, sei Erziehung unmöglich. 60 Für Ṣadrā soll daher die Welt nicht, wie die Andeutungen Dāwarīs zunächst zu suggerieren scheinen, ein stummes Gebilde und eine inhaltlose Gestalt sein. Im Gegenteil, die Welt soll gerade den Ort des Handlungsentwurfes bilden, da dieser nur mit dem Entwurf seiner Welt einhergeht. Welche soziale Bedeutung dieser Entwurf hat, ist sich Ṣadrā auch bewußt. Kognitiv und existentiell brauche der Mensch den Gemeinsinn. 61 Ṣadrā ist der Auffassung, daß der Mensch als Tierwesen zwar schwächer als die anderen Tiere und daher bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die Kooperation, das Mitwirken und die Solidarität der anderen Mitglieder der Gesellschaft angewiesen ist. Durch die Intellektkraft ist er aber befähigt, über alle irdischen Lebewesen zu herrschen. Diesen besonderen Status verdankt er der Gnade Gottes, die seine Beziehung zu diesem bestimmt. Mit seinem Handeln und Denken ist der Mensch als Individuum und in der Gemeinschaft genötigt, Möglichkeiten zu erarbeiten, die ihn eine Antwort auf seine Frage nach dem Lebenssinn finden lassen. Mit seiner Seele ist der Mensch in seinem islamischen Sinne ebenso als Psychogenese des metaphysischen Entwurfes zu betrachten. Der Mensch kann daher in einer »Weltoffenheit« seine Handlungen beDeana einig. Siehe Widengren, Geo (1965): Die Religionen Irans. Stuttgart, S. 95, 103 f. 136 f. 59 Selbst in der göttlichen Schöpfungswelt gäbe es viele Tätigkeiten, die nicht unmittelbar von Gott kämen. Ṣadrā zeigt sogar die verschiedenen Stufen der Schöpfungstätigkeiten, in denen auch die Engel und die Menschen am Werk sind. Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 76 f. 60 Ebd., S. 202 f. 61 Siehe dazu aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Riṣāla aǧwiba al-masā il al-Kāšānīya, in: Maǧmū aʾ ʿ yi Rasāʾ il-i falsafī-yi Ṣadr al-mutaʾ allihīn. Hrsg. v. Ḥāmid Nāǧī Iṣfahānī (21378/1999). Teheran, S. 149 ff., 27 ff.

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stimmen und durch sie sein inneres Transzendenzbewußtsein zu Tage treten lassen. Man könnte daher meinen, daß die Transzendenz des Jenseits die Transzendenz des Diesseits voraussetzt. 62 Was allerdings nicht ganz deutlich aus der religiösen Vorstellung eines Ṣadrā hervorgeht, ist die Tatsache, daß diese ursprüngliche Existenzgebundenheit primär nichts über den dem Menschen innewohnenden Ritus aussagt. Demnach sind die menschlichen Handlungen nicht von Natur aus religiös, sondern vielmehr wird die Religiosität des Menschen durch Institutionen, seine Kultur und Umwelt bestimmt und erst durch seine Handlungen als sein Werk gestaltet. Man könnte auch sagen, daß der Mensch als ein von der Natur veranlagtes religiöses Wesen die Religiosität seiner Person erst mit seinen Handlungen entwirft und so auch den Grad und das Wesen seiner Religiosität prägt.

III. Der Glaube als eine architektonische Metaphysik? Bisher wurde aufgezeigt, daß der Mensch seine Religiosität durch seine selbst hervorgebrachten Handlungen, durch Ritus und Ordnung bestimmt und gestaltet. Wir sind aber auch zu dem Schluß gekommen, daß der Mensch nach den Ansichten islamischer Gelehrter in seiner Natur religiös ist, auch wenn dies nicht thematisch und konkret zum Ausdruck kommt. Erst durch die Thematisierung und Ritualisierung nimmt seine religiöse Form Gestalt an, welche dann durch Institutionen und andere kulturelle Medien weiter ausgeprägt wird. In einem wichtigen Vers, in dem die Absicht der Schöpfung dargestellt wird, steht das Gebet als Zweck der Schöpfung. So hießt es: Gott schuf den Menschen und Dschinn nur dazu, um ihm zu dienen. 63 Im weitesten Sinne versteht man darunter, sich völlig dem Willen Gottes zu unterwerfen. Hierbei sind alle Lebewesen und Phänomene der Welt naturgemäß oder willentlich dem Willen Gottes untergeordnet und dienen Gott in ihrer existentiellen Beschaffenheit. 64 In diesem Sinne wird Existieren mit BeDie Handlungen sind nach Narāqī Inbegriff der Realisierung des geistigen und ethischen Zustandes eines Menschen. Der Mensch ist in diesem Sinne jedoch nicht »weltoffen«, sondern jenseitsgebunden und zugleich weltgeschlossen. 63 Siehe Koran 51/56. 64 Mit »dienen« (ya budūn) ist hier zunächst Demut (ḫuḍū ) und Selbsterniedrigung ʿ ʿ (taḏallul) gegenüber Gott gemeint, was durch die rituellen Gottesdienste (ʿ ibādat), also Gebete, zum Ausdruck kommt. Daher bezeichnet man einen gläubigen frommen Men62

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ten gleichgesetzt. Dabei ist Beten eine Art Signalisierung der »Hinwendung zum Unbedingten« (Kierkegaard). 65 Denn alles in allem ist dies ein Ausdruck der Existenz, und in ihr und durch sie findet alles seine Gestaltungsformen. Eine solche Vorstellung scheint dem Verständnis einer substantiellen Existenzkontingenz nach einem islamischen Existentialismus, wie dieser von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī dargelegt wird, fremd zu sein. Da sich nach der Lehre der substantiellen Bewegung Ṣadrās alles fortbewegt, um die Kontingenz des menschlichen Daseins zu bewältigen und sich zu vervollkommnen, muß man den Schluß ziehen, daß sich der Mensch auch in einem kontinuierlichen Glaubensbekenntnis, d. h. in einer dauernden Selbst- und Glaubenserneuerung befindet. 66 Mehrfach führt Ṣadrā in seinen Werken unter anderem diesen Vers als Beleg dafür an, daß der einzige Sinn der Schöpfung die Erkenntnis Gottes sei. 67 Diese Definition behält bis in die Gegenwart ihre Gültigkeit. 68 Von Ṣadrā erhält man nur eine Antwort auf die Frage, warum diese Welt erschaffen sei, nämlich: Der Mensch und der Sinn seiner Erschaffung seien die Erlangung der Stufe des »erworbenen Intellekts« (al-ʿ aql al-mustafād, lat. intellectus acquisitus), und dies sei die Gotteserkenntnis, die Einstufung in die Welt der Engel und letztlich die existentielle Fügung (al-ʿ ubūdīya aḏ-ḏātīya, wörtl. die essentielle göttliche Verehrung), mit dem der Zustand der »Entwerdung« (fanā) in Gott erreicht werde. 69 Erkenntnis und gehorsame Dienerschaft sind für Ṣadrā eins. Dies kommt bei Murtaḍā Muṭahharī (gest. 1979), einem schen, wenn er seiner rituellen Pflicht gemäß der Vorschriften des Religionsgesetzes nachgeht, als einen Gottesdiener (ʿ ābid). Zur Bedeutung dieses Begriffes und der mit ihm verwandten Begriffe siehe ar-Rāġib al-Iṣfahānī, Muʿ ğam, S. 331; ar-Rāzī, Muḫtār aṣ-ṣiḥāḥ, S. 172. 65 Siehe Wuchterl, Kurt (1989): Analyse und Kritik der religiösen Vernunft. Bern u. Stuttgart, S. 208. 66 Für den dänischen Existentialisten Sören Kierkegaard (1813–1855) bedeutet dies, daß »er [der Mensch] sich als Einzelner in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten setzt.« Zitiert nach ebd., S. 209. 67 Siehe dazu aš-Šīrāzī, Asrār, S. 127 f.; ders., Mada wa ma ād, S. 322; 571 f.; ders., ašʾ ʿ Šawāhid, S. 372. 68 Der Korankommentator Ṭabāṭabā ī setzt den Begriff »dienen« (ya budūn) des eben ʾ ʿ zitierten Verses mit dem Begriff »erkennen« (yaʿ rifūn) gleich, und damit bedeutet ʿ ibāda vor allem Gotteserkenntnis. Siehe dazu Ṭabāṭabāʾ ī, Muḥammad Ḥusain (21366/1987): Tafsīr al-mīzān. Bd. XVIII. Übers. v. Muḥammad Bāqir Musawī Hamādanī. Teheran, S. 616. 69 Aš-Šīrāzī, Mada wa Ma ād, S. 322. ʾ ʿ

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Anhänger der sadraischen Philosophie, dadurch zur Geltung, daß dieser den Menschen als ein »betendes Wesen« begreift. Diese Darstellung entspringt der Annahme, daß sich der Mensch von Natur aus auf einer ständigen Suche nach der Vollkommenheit und dem Idealzustand befinde. Er suche nach etwas, was den Inhalt seines Idealwunsches verkörpere. 70 Wollen wir davon ausgehen, daß der Sinn der Schöpfung die Gotteserkenntnis ist, dann geht dieser Erkenntnis die Selbsterkenntnis voraus (vgl. Kapitel II). Im Rahmen dieser Betrachtung stellt sich die Frage nach der Freiheit gerade dann als selbstverständlich, wenn wir die Religiosität als Selbsterkenntnis erfassen würden. Nach dem philosophischen Roman »Ḥayy ibn Yaqẓān« 71 von Ibn Ṭufail (im Abendland bekannt als Abubacer) 72 geht man sogar von einer Autonomie der Selbsterziehung aus, weil der Mensch von Natur aus Vernunft und eine natürliche Gabe besitzt, seine innere Religiosität ohne eine äußere Rechtleitung (hidāya) bzw. pädagogische Führung, ohne rituelle und institutionelle Orientierung und sogar ohne sprachlichen Ausdruck erfahren zu können. Dort hieß es, daß seine mystische und anschauliche Religiosität und religiöse Erfahrung gleichzusetzen seien mit der prophetischen Offenbarung, die Muḥammad erbrachte. Seine unmittelbare Gottes- und Existenzerfahrung, welche im Gegensatz zu den Inselbewohnern (denVgl. Muṭahharī, Murtaḍā (21354/1975): Sairī dar nahǧ al-bālāġa. Teheran, S. 271. Dieser Roman kam mit dem lateinischen Titel »philosophus autodidactus« im Jahr 1671 (übersetzt von Edward Pococke) in die frühe europäische Aufklärung. Im Jahr 1708 folgte die englische Übersetzung von Simon Ockley und dann die deutschen Ausgaben von Pritius im Jahr 1726 und von Eichhorn unter dem Titel »Der Naturmensch« im Jahr 1783, der »rousseauisch die späte« beschloß. Siehe Bloch, Ernst (1963): Avicenna und die aristotelische Linke. Frankfurt/M., S. 25. Man geht ebenso davon aus, daß Lessing und Moses Mendelssohn Ibn Ṭufails Roman kannten. Vgl. Hendrich, Arabischislamische, S. 106 f. Von diesem Roman gib es seit 2004 eine ausgezeichnete Übersetzung von Patric O. Schaerer. Abu Bakr Ibn Tufail. Der Philosoph als Autodidakt. Hayy ibn Yaqzan Übers. u. hrsg. v. Patric O. Schaerer (2004). Hamburg. Ebenso wurde kürzlich von Jameleddine Ben Abdeljelil und Viktoria Frysak eine weitere Übersetzung von Ibn Ṭufails Roman mit wertvollen Kommentaren herausgegeben. Ibn Ṭufail: Hayy Ibn Yaqdhan. Ein muslimischer Inselroman. Ben Abdeljelil und Viktoria Frysak (Hrsg. 2007). Wien. 72 Der andalusische Denker und Arzt aus Granada, Ibn Ṭufail (ca. 1105–1185) – Zeitgenosse von Ibn Rušd (Averroes) und Šihāb ad-Dīn Suhrawardī –, der unter dem Herrscher von Granada als Arzt und Sekretär wirkte und später unter der Herrschaft der Muwaḥḥidūn, die Damaskus eroberten, Karriere machte, hinterließ mit Ḥayy ibn Yaqẓān ein Werk, das in der islamischen Geisteskultur eine Seltenheit darstellt. 70 71

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

jenigen Menschen, die nach dem Wortlaut der Tradition leben) keinem Zwang ritueller und institutioneller Begebenheit untersteht, läßt eine bestimmte Art der Religiosität zum Vorschein kommen, die nicht mit der herkömmlichen traditionellen Vorstellung der islamischen Religiosität gleichzusetzen ist. Zwar erlebt der Mensch nach Ibn Ṭufail die Welt und das Geheimnis »Leben« durch eine Sprache der Vernunft, es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Betrachtung des Ganzen eine Unmittelbarkeit der Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung ist, die mit dem Mystischen identisch ist. Diese Erfahrung hat keine Grenze, denn das Ziel der religiösen Erfahrung des Menschen ist die transzendentale Unbegrenztheit. Nicht weit entfernt von dieser Vorstellung bewegen sich die Akzente in Ṣadrās Darstellungen. Letztlich geht es ihm um die geistige und existentielle Vollkommenheit durch die transzendentale Erfahrung. Diese Erfahrung kann ohne eine praktische Umsetzung der Erkenntnis der Seele nicht erlangt werden. Die Erkenntnis der Seele kann nur eine göttliche Orientierung haben, da sie als Sinnbild bzw. Bildnis Gottes betrachtet wird. Im Glauben sieht Ṣadrā ein deutliches Kennzeichen für diese göttliche Erfahrung. Selbsterkenntnis ist Gotteserkenntnis. Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis der Transzendentalität des menschlichen Wesens. Ṣadrā sucht im Menschen den Aspekt, in dem Glaube und Selbsterkenntnis eine Einheit bilden. Das Wesen des Glaubens ist für ihn die geistige Erkenntnis der göttlichen Welt. Diese Erkenntnis kann jedoch ohne »seelische Zustände« (aḥwāl) nicht vollkommen sein. Daher muß sich der Mensch seelisch von Begierde und weltlichen Genüssen befreien. Dieser seelische Zustand wird durch Taten ergänzt. Die Gottesdienste sind Mittel, mit denen man sich dem Wahren annähert. Damit enthält der Glaube für Ṣadrā Erkenntnisse (maʿ ārif), Zustände (aḥwāl) und Handlungen (aʿ māl). Die Ritualisierung der Erkenntnis wird für den Menschen in seinem Streben nach der Vollkommenheit unvermeidbar, da Ṣadrā eine umgekehrte Reihenfolge intendiert: Man kann die wahre Erkenntnis und das Wesen des Glaubens erst erlangen, nachdem man durch die Handlungen einen seelischen Zustand erreicht hat, der auf die Erkenntnis Gottes vorbereitet. Man erreicht in der Tat dann das Wesen des Glaubens, wenn der Mensch vollkommen ein geistiges Wesen wird. Denn die Handlungen an sich sind Bewegungen; und der seelische Zustand kann entsprechend instabil sein. Erst wenn die Handlungen die Seele reinigen und die Seele einen Zustand erreicht hat, in dem sie die heiligen Wesen und die materiefreien Formen der Intelligiblen unver280 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Der Glaube als eine architektonische Metaphysik?

änderbar vor sich hat, wird die Wahrheit enthüllt, nämlich Gott in seiner Essenz, seinen Attributen und Handlungen. Man wird so mit dem Sein eins und sieht die Welt mit den Augen Gottes; und so handelt man im göttlichen Sinne. 73 Der Glaube (īmān) ist für Ṣadrā nichts anderes als eine Bewegung vom Potentiellen in die Aktualität, und diese Aktualität macht für den Menschen das wahre Wesen aus. Denn durch diesen Glauben wird der Mensch zum wahren Menschen, zum Intellektmenschen (huwa al-laḏī bihī yasīru l-insānu insānan ḥaqīqiyan ʿ aqliyan). 74 Mit dieser Erfahrung des Glaubens führt ihn Ṣadrā zu einem Erlebnis der Unbegrenztheit. Es ist ein Erlebnis des Perfekten und des Ewigen, das die Einheit mit dem höchsten Wesen ist. Mit der Religiosität und den Handlungen wird in Ṣadrās Denken der Weg zur Perfektibilität geöffnet, sie führen den Menschen zur Geistigkeit und zur Unbegrenztheit. Diese ist keineswegs mit einer Perfektibilität, mit Genoptimierung oder sonstigen naturwissenschaftlichen Methoden vergleichbar. Denn mit einer solchen Perfektion kann zwar nach Ansicht vieler religiöser Gelehrter eine kosmische, organische oder technische Optimierung erreicht werden, keineswegs jedoch kann sie die Seele des Menschen optimieren, denn diese ist nicht von dieser Welt, auch wenn sie sich in dieser Welt befindet. Die Idee der Perfektion geht damit mit der Idee der Religiosität einher. Mit Handlungen und Zuständen will man das Innere der Welt erlangen, in dem sich das Leben in seiner höchsten Form befindet. Der perfekte Mensch ist für Ṣadrā der wahre Diener Gottes (al-insānu lkāmilu huwa al-ʿ abdu l-ḥaqīqī). 75 Der Name »ʿAbdallāh« ist deshalb dem Propheten gegeben worden, weil er der perfekte Mensch war. Denn der perfekte Mensch ist derjenige, der »die Wahrheit mit sämtlichen geistigen Beobachtungen [mašāhid, geistige Schau] und Empfindungen [mašāʿ ir, auch geistige Kultstätten/Kultstationen] erkennt und sie in der Innenwelt und Außenwelt anbetet.« 76 Das Beten ist für den perfekten Menschen zugleich ein geistiges Leben. Beten heißt hier Gott unmittelbar erleben und mit dem höchsten Intellekt vereint werden. Damit werden Religiosität und Handlungen Ausdrucksformen der Ri73 74 75 76

Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. II, S. 88 f. Ebd., S. 101. Ebd., Bd. I, S. 53. Ebd., S. 55.

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tualisierung für einen höheren Seinszustand, der eine intellektuelle Lebensform, eine geistige Innenwendung und eine geistige Askese bedeutet. Diese Lebensform ist die höchste Form des religiösen Lebens, in dem der perfekte Mensch in Gott aufgeht und mit ihm am Leben bleibt. Und das ist eine »vollkommene Innenwendung«. 77 Im Rahmen einer solchen religiösen Weltvorstellung zeigt der Mensch durch den Ritus auch seine besondere Stellung im Kosmos. Wenn Ṣadrā sich am Wortlaut des Korans orientiert und den gottesdienstlichen Ritus (ʿ ibāda) im Islam als Ziel der Schöpfung annimmt, so deswegen, weil der Ritus ein Symbol für das seelische und ideelle Geschehen des Menschen darstellt. Mit dem Ritus spreche der Mensch zwar einerseits eine Bewunderung für die Macht Gottes und seine Handlungen aus (an yaʿ lama ʿ aḏamata-llāhi fī qudratihī wa-fī ʿ amalihī), so der libanesische Anhänger der sadraischen Philosophie Muġnīya, andererseits aber begreife er sich dadurch als die »Verkörperung göttlicher Macht und des Handlungsvermögens« (maẓharan li-qudratillāh), was ihn veranlaßt, sich für die »Kultivierung der Erde« (fī taʿ mīri l-ʾ arḍ) und »Nutzbarmachung des Kosmos« (istiġlāli l-kaun) und seiner Elemente für die »Errichtung eines musterhaften Lebens« (waašyāʾ ihī fī bināʾ i ḥayāti muṯlā) einzusetzen. Muġnīya verurteilt ausdrücklich denjenigen, der Versäumnis und Trägheit ausübt, »denn dieser weicht seiner Verpflichtung [Aufgabe] aus und bricht das Vertrauen Gottes«. 78 Diese Selbstverpflichtung und Selbsterhebung des Menschen ist im islamischen religiösen Diskurs nicht selten. Sie entspringt der Annahme, daß der Mensch das einzige würdige Wesen sei, das die Göttlichkeit auf der Erde vertreten könne. Denn »es gibt nichts über dem Menschen außer Gott«, so Muġnīya. 79 Nach dieser islamischen Sicht scheint es, daß die Vernunft, die in der Existenzphilosophie Ṣadrās das Wesen des Menschen bestimmt, auch eine »religiöse Vernunft« ist. 80 Mit der »Vernunft« ist hier nicht Ebd., S. 125 f. Muġnīya, Falsafat al-aḫlāq, S. 160. 79 Ebd., S. 77. 80 Diesen Begriff verwendet Kurt Wuchterl, Professor für Philosophie in Stuttgart, in seinem Werk »Analyse und Kritik der religiösen Vernunft«. Er definiert dort religiöse Vernunft als »das verständliche und kognitiv bestimmte Sprechen von Gott sowie den normativen adäquaten Umgang mit religiösen Phänomenen.« Wuchterl, Analyse, S. 11. Er meint ferner: »Wenn das Sprechen von Gott ›vernünftig‹ ist, läßt es etwas davon ahnen, daß das Gesagte nicht alles ist, daß im menschlichen Wort mehr liegt, als mit 77 78

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Der Glaube als eine architektonische Metaphysik?

eine logisch-rationale Schlußfolgerung gemeint, sondern eine intuitive, geistige Schau. 81 Wie bereits angedeutet, ist die Vernunft nach Sicht vieler islamischer Gelehrter nicht ausreichend für die Erfassung aller religiösen Erfahrungen. Vielleicht hilft es, den Begriff der »religiösen Vernunft« als einen Aspekt der Religiosität im Islam aufzufassen, um dadurch wiederum ein Licht auf die Aussage, der Mensch sei ein religiöses Wesen, zu werfen. Die Verbundenheit des Religiösen mit der menschlichen Disposition (fiṭra), auf deren Grundlage der Menschen erschaffen sein soll, legt nahe, daß die religiösen Erfahrungen den Menschen bis zu seinem Lebensende begleiten. 82 Ob er allerdings instinktiv bzw. intuitiv den Islam als wahre Religion erkennen kann, ist den Versen nicht direkt zu entnehmen. Der Koran merkt sogar kritisch an, daß die Befolgung der Religionen auf Nachahmung der Väter hin geschieht. 83 Darauf deutet auch die folgende Überlieferung hin: »Jedes Neugeborene [Kind] ist gemäß seiner Disposition [al-fiṭra, Beschaffenheit, Naturanlage] geboren. Es sind seine Eltern, die es zum Juden, Christen und Zoroastrier (Feueranbeter) machen.« (kullu maulūdin yūladu ʿ alā fiṭratihī fa-abawāhu yuhawwidānihī wa-yunaṣṣirānihī wayumaǧǧisānihī). 84 Nach dieser Überlieferung und den koranischen Versen gehören die Institutionen und deren Ritusvorschriften nicht zur menschlichen Natur. Der Mensch im Islam stellt sich auch kein »zeremonielles WeVernunft innerhalb der Semantik- und Referenztheorien auszumachen ist. Die Erfahrung des Religiösen meint stets dieses Zusammen von Vernunft und Transzendenz.« Ebd., S. 19. 81 Es ist also durchaus möglich, daß man subjektiv den Glauben »logisch« findet. Wenn wir unvoreingenommen darüber nachdenken, dann können wir feststellen, daß das Religiöse wie auch das Nicht-Religiöse zwei Seiten einer Medaille sind. Beide Seiten erhalten ihre Zustimmung oder Ablehnung oder das, was dazwischen liegt, ausschließlich von dem eigenen Geist. Ansonsten ließen wir uns auf eine Vernunftwelt ein, die entweder der Idee einer Universalvernunft gleichkommt oder unserer irrationalen Wunschwelt bzw. den rationalen Zweifeln entspränge. 82 Siehe auch Muġnīya, Falsafat al-aḫlāq, S. 220 f. 83 Siehe Koran 21/53, 31/21, 43/22 f. 84 Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 116, 255. Mūsawī Lārī zitiert diese Überlieferung nach dem schiitischen Gelehrten Mullā Muḥammad Bāqir Maǧlisī folgendermaßen: (kullu maulūdin yuladu ʿ alā l-fiṭrati ḥattā yakunu abawāhu yuhawwidānihī wa yunaṣṣirānihī). Siehe Mūsawī Lārī, Muǧtabā (41376/1997): Riṣālat-i aḫlāq dar takāmul-i insān. Ghom, S. 37. Mit einem kleinen Unterschied wird dies ebenso von einer der wichtigsten Überlieferungsquellen der Sunniten, dem »Ṣaḥīḥ al-Buḫārī« berichtet. Siehe dazu Ḥamdī, ʿAlī Aḥmad (1998): al-Insān wa-l-muǧtamaʿ fī l-fikr al-islāmī. Kairo, S. 37.

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sen« (im Sinne Wittgensteins) vor. Vor allem wird hier deutlich, daß die Institutionen und die Riten allein nichts über die wahre Religiosität aussagen, sondern die natürliche Anlage die Quelle ist, an der die Religiosität sich letztlich orientiert und durch welche sie sozusagen begutachtet und geleitet werden sollte. Obwohl das in der Naturanlage verankerte »Religionsgefühl« und der Islam für identisch gehalten werden, ist dem Wortlaut der bisher genannten Verse eine solche Identifikation nicht zu entnehmen. Wir erfahren jedoch aus einem anderen koranischen Vers, daß die Religion bei Gott nur der Islam ist (inna d-dīna ʿ inda-llāhī l-Islām). 85 Diese Identifikation des Islam mit der natürlichen Anlage des Menschen ist nach Muġnīya der Maßstab dafür, daß der Mensch als Mensch seine Person entwirft und rational sowie bewußt seinen Weg bzw. sein Schicksal, sein Ende bzw. seine Zukunft beschließt. 86 Dieser Akt ist die Vollendung seiner Person in voller Freiheit. Wie frei nach solchen Interpretationen der Entwurf einer eigenen religiösen Glaubenswelt auch klingt, scheint für einen Mystiker wie ʿAzīz ad-Dīn Nasafī die Natürlichkeit der Religion bereits in einem festen existentiellen Entwurf festgelegt, so daß man von einer »architektonischen Metaphysik« sprechen kann. Die Welt als Entwurf Gottes ist zugleich ein festgelegtes und gesetzmäßiges Gebilde der Ordnung, das dem Willen und der Gnade Gottes unterworfen ist. Genau nach diesem bereits erwähnten koranischen Vers bewertet ʿAzīz ad-Dīn Nasafī die Naturhaftigkeit der Religion. Sie sei eine Gnade, die nicht durch das Erlernen und die Erziehung erworben werden könne. Nasafī hebt zwar die Schriftzugehörigkeit der Religion hervor, die durch die sechs Propheten (Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus und Muḥammad) verkörpert werde. Zugleich markiert die Religion in seinem Konzept neun mystische Stufen: 1– Mit der Zustimmung und der Nachahmung der Propheten erreiche der Mensch die Stufe des Glaubens (muʾ min), 2– mit rituellem Gottesdienst (Gebet) die Stufe des Gottesdieners (ʿ ābid), 3– mit Enthaltsamkeit die Stufe der Frömmigkeit (zāhid, Asket), 4– mit der Erkenntnis der Dinge und göttlichen Welten die Stufe der Gnostik (ʿ ārif), 5– mit Verleihung der Gottesliebe und Gotteseingebung die Stufe der Führerschaft (walī), 6– mit Offenbarung, Wunder und Botschaft die Stufe der Prophetie (nabī), 7– mit der heiligen Schrift die Stufe des Gesandten (rasūl), 8– mit der Abrogationsbefugnis die 85 86

Siehe Koran 3/19. Muġnīya, Falsafat al-aḫlāq, S. 221.

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Stufe der Würdenträger des »festen Entschlusses« (ūlī l-ʿ aẓm, diejenigen Gesandten, die Entschlossenheit zeigen), 87 und 9– mit der Ergründung einer neuen Scharia (Religion) die Stufe des Abschlusses der Prophetie (ḫātam). 88 All diese Stufen spiegeln die unterschiedlichen geistigen Entwicklungen des Menschen wider, die allerdings nicht von jedem beliebigen Menschen erreicht werden können. Dieser Vorstellung liegt nahe, daß nach den existentiellen Stufen eine hierarchische Vollendung und Glaubensstufe vorgesehen ist, die der Idee der Freiheit widerstrebt und diese vor allem Konsequenzen für die Idee der Perfektibilität hat. Hier kommt noch dazu, daß Nasafī sich auf den koranischen Vers, in dem jedem ein bestimmter Rang zugewiesen wird, bezieht. 89 »Oh Derwisch! Als die Seelen abstiegen, sehnten sie sich nach der Vervollkommnung und da sie nun aufsteigen, vervollkommnen sie sich. Also gibt es im Ab- und Aufstieg viele Nutzen. Aber die Vollendung [Vervollkommnung] jeder [Person] ist [klar] bestimmt und die Stufe [der Rang] jeder [Person] ist [klar] bestimmt. Man kann sich seiner klaren Vollendung und seinem bestimmten Rang nicht entziehen.« 90

Der spirituelle Aufstieg, wie er von Nasafī dargelegt wird und welcher das Erreichen der menschlichen Perfektion bedeutet, erreicht seinen Höhepunkt mit dem Propheten Muḥammad. Mit der oben ausgeführten spirituellen Hierarchie schildert Nasafī eine klare Grenze der Perfektionierung, indem sogar die Station des Propheten von der des Freundes unterschieden wird. Ridgeon zieht den Schluß, daß nach dieser orthodoxen Vorstellung kein Individuum höher steigen kann als bis

Ein Begriff aus dem Koran, siehe Koran 46/35. Ūlī l-ʿ aẓm wird derjenige Prophet bezeichnet, in dessen Buch die letzte Sammlung heiliger Gesetze enthalten ist, womit er die Botschaften der früheren Propheten annulliert oder vollendet. 88 Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 93 f., 319 ff. 89 Siehe Koran 37/164. 90 Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 116. Auch in diesem Sinne kann man Abd al-Karīm ʿ al-Ǧīlī verstehen, der die Welt als Erscheinung der göttlichen Namen, Attribute bzw. der göttlichen Selbstheit sieht und demzufolge der Glaube eine Erscheinung des göttlichen Schöpfungsaktes ist. Denn er ist quasi das in der Schöpfung verankerte Prinzip. Gott habe die Menschen in einer Weise erschaffen, damit sie ihm nach der Grundlage ihrer erschaffenen Natur Dienste leisten. In diesem Sinne interpretiert al-Ǧīlī die Beziehung von Selbsterkenntnis und Erkenntnis Gottes. Al-Ǧīlī, al-insān al-kāmil, Bd. I, S. 184 ff., Bd. II, S. 150 f. 87

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zum fünften spirituellen Rang. 91 Mit Muḥammad schloß sich der Kreis der Propheten. Daher bleibt die Grenze der Perfektion beschränkt, und in diesem Sinn kann Nasafī zu dem Schluß kommen (wie Ridgeon feststellt), daß die Perfektibilität nach Nasafī relativ und verhältnismäßig ist. Die Anhänger der Scharia und entsprechende Philosophen halten an der Existenz der Perfektion fest, und für die Vertreter einer Einheit, zu denen auch Nasafī gehört, ist die Perfektion grenzenlos. 92 Ridgeon zieht sogar politische Konsequenzen aus Nasafīs Vorstellung der Perfektion, die er, wie er sagt, aufgrund seiner Nähe zur Schia, verborgen habe. 93 Dies läßt sich vor allem daran festmachen, daß die Positionen des Propheten und des Freundes eine rechtleitende Funktion einnehmen. Dem Propheten kommt die Funktion des Mahners und dem Freund die der Führerschaft zu. Hinzu kommt, daß es für Nasafī immer nur einen einzigen perfekten Menschen auf der Erde gibt, der das Herz der Erde ist, und »wenn der einzigartige weise Mann diese Welt verläßt, erreicht eine andere Person seine Stufe und wird sein Nachfolger, so daß die Welt nicht ohne Herz ist.« 94 Ridgeon weist darauf hin, daß auch Ibn ʿArabī den perfekten Menschen als Herz des Universums beschreibt. Ridgeon beschäftigt sich ausführlich mit der Stellung und den Merkmalunterschieden des Propheten und des Freundes. Die Prophetie endet mit Muḥammad. Aber die Existenz des perfekten Menschen geht in der Welt weiter. 95 Auch wenn die Perfektibilität beschränkt bleibt, erweitert sich für Nasafī das menschliche Wesen in der Sphäre der inneren Sinnwelt durch das menschliche Zutun. So wie der Mensch sich in einer religiösen Weltanschauung als Mikrokosmos einen metaphysischen Sinn verleiht, genauso bereitet er in einem Glaubensritus seinen Selbstentwurf vor. Denn dadurch wird lediglich seine Grenze der Perfektion hervorgehoben, nicht aber seine Autonomie in Frage gestellt. Nasafī zeigt mit seiner Lehre vom vollkommenen Menschen sehr deutlich, daß der Mensch an einen rituellen Prozeß gebunden ist, der ihn auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung begleitet. Für ihn als Mystiker ist dieser Weg die spirituelle Reise, die er sulūk nennt.

91 92 93 94 95

Vgl. Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 172. Ebd., S. 173. Ebd., S. 196 ff. Ebd., S. 176. Ebd., S. 177.

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»(2) Wisse – Gott verleihe dir Ehre in beiden Häusern –, daß sulūk im arabischen Wortgebrauch generell »gehen« bedeutet, d. h. der, der geht. Manchmal reist man in der äußeren Welt und manchmal in der inneren Welt. Bei den Mystikern bedeutet sulūk eine besondere Art des Gehens. Es ist die Reise zu Gott und die Reise in Gott.« 96

Durch diesen spirituellen Prozeß treten die Wesensmerkmale des Menschen in Erscheinung, und er vollendet sein Menschsein. Der Mensch ist somit an seinem Menschwerden beteiligt. Er kann durch den spirituellen Weg den vollkommenen Charakter und die vollkommene Erkenntnis erreichen und zum Stellvertreter Gottes im Makrokosmos werden. »(4) Oh Derwisch! Der Mensch hat Entwicklungsstufen, Attribute und eine Sittlichkeit, die in den Atomen des Menschen verborgen sind, (sie) erscheinen in jeder Stufe. Wenn die Entwicklungsstufen des Menschen gänzlich erscheinen, werden auch die Attribute und die Sittlichkeit des Menschen gänzlich ersichtlich, und der Mikrokosmos wird vollendet. Wenn dieser Reisende den Mikrokosmos vollendet hat, wird er im Makrokosmos der Stellvertreter Gottes. Seine Worte sind Gottes Worte, seine Taten sind Gottes Taten. Das ist die größte Manifestation, denn die Erscheinung der Sittlichkeit ist hier und die Erscheinung des Wissens ist hier. […] (6) Oh Derwisch! Es wurde klar, daß du selbst der Gehende bist, daß du selbst der Weg bist und daß du selbst das Ziel bist. Wenn die Stufen des Reisenden gänzlich erschienen sind, dann beginnt die Reise in Gott. Diese Reise hat kein Ende.« 97

In Nasafīs mystischer Philosophie bleibt der Mensch selbst für seine Entwicklung verantwortlich, aber er braucht die Erfahrungen anderer und soll dem Vorbild der Wegerfahreneren folgen. Daher hat die Befolgung der Prophetie und die Anleitung des mystischen Meisters ihren Sinn. Nasafī nennt jedoch zahlreiche Bedingungen, um diesen Weg zum Erfolg zu führen. »(14) Wisse, daß der Aufruf der Propheten und die Erziehung der Gottesermächtigten (Freunde Gottes) deswegen erfolgt, damit die Menschen den guten Worten, den guten Taten und der guten Sittlichkeit folgen und damit ihr Äußeres gerade wird. Denn solange das Äußere nicht gerade wird, wird auch das Innere nicht gerade. Denn das Äußere ist wie eine Form. Wenn die Form gerade ist, dann wird das, was man in sie

96 97

Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 137. Ebd., S. 138.

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hineingießt, auch gerade. Wenn die Form schief ist, dann wird das, was man in sie hineingießt, auch schief.« 98

Hier wird deutlich, in welcher Form der Glaube als architektonische metaphysische Gottesschau bezeichnet werden kann. Wie die Welt und die Vernunft, so ist auch der Glaube ein Entwurf. Doch vom Gottesentwurf wird der Glaube im Ritus menschlicher Selbstentwurf. Glaube ohne Tat ist nicht vollkommen. In diesem Sinne scheint der Glaube nach der Sicht der Existenzphilosophie nicht mehr nur ein Entwurf der geistigen Selbstauslegung des Menschen, sondern der Ausgangspunkt seiner praktischen Auslegung zu sein. Im Glauben (īmān) findet der Mensch, wie sich Mullā Muḥammad Bāqir Sabzawārī (q1090/1679), einer der bedeutendsten Religionsgelehrten in der Frühphase der safavidischen Dynastie, äußert, Selbstbefreiung, Erfüllung und Erlösung. Auch wenn bei Sabzawārī der Sinn der Schöpfung, wie bei vielen anderen religiösen Gelehrten, sich in einem Prinzip endloser Gotteserkenntnis offenbart, welche jenseits des rationalen und sprachlichen Ermessens der menschlichen Fähigkeit liegt, kommt letztlich im Ritus und Handeln das innere religiöse Sprachspiel des menschlichen Wesens zum Tragen. 99 In diesem Zustand stellen das Wissen und das Handeln zwei Aspekte der menschlichen Seele dar. Die Anhänger der neuplatonischen Schule in der islamischen Wissenskultur haben diese beiden Aspekte schon in der Definition der Philosophie als untrennbar dargestellt. Ibn Miskawaih ist der Ansicht, daß die Vollendung der Glückseligkeit des Menschen durch die Vervollkommnung des theoretischen und praktischen Vermögens ermöglicht werden kann. Wissen verkörpert die Form (aṣ-ṣūra) und die Praxis den Stoff (al-mādda), und daher »[kann] keiner sich vollenden […] ohne den anderen. Denn das Wissen ist der Ursprung [die Grundlage] und die Praxis [die Tat] das Endziel. Der Ursprung ohne Endziel geht verloren und das Endziel [die Vollendung] ohne Ursprung ist unmöglich.« 100

Diese beiden Ausdrucksformen (al-ʿ ilm wa-l-ʿ amal, Wissen und Praxis) sind für ʿ Ādil al-ʿAwwā, der das Werteverständnis nach al-Ġazālīs Ebd., S. 140. Siehe dazu Sabzawārī, Muḥammad Bāqir: Rauḍāt al-anwār-i ʿAbbāsī (dar aḫlāq wa šīwa-yi kišwardārī). Hrsg. u. editiert v. Ismāʿ īl Čangīzī Ardhāyī (1377/1998). Teheran, S. 115–127. 100 Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 50. 98 99

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Erziehbarkeit des Menschen

Ethikkonzept kommentiert, das Kennzeichen der Religiosität bei den islamischen Gelehrten. Durch die Verschmelzung dieser beiden Aspekte der menschlichen Seele ergibt sich ein praktisches Wissen (ʿ ilm ʿ amalī), das die asketische Seelenpädagogik einerseits und die Pädagogik der ethischen und politischen Lebensführung andererseits herbeiführt. 101 Auch ein Anhänger der aristotelischen Philosophie wie Ibn Rušd (Averroes) erweckt den Eindruck, daß er als Philosoph nichts anderes bezwecken will, wenn er am Schluß seiner Darstellung der drei Klassen des Religiösen, die aus der Art seiner Interpretationen und seines Verständnisses hervorgehen, die Frage des Glaubens mit dem ethischen und seelischen Zustand abschließt. 102

IV. Erziehbarkeit des Menschen Die innere Öffnung und die seelische Selbstverwirklichung nach dem religiösen Weltbild eines Ṣadrā und Nasafī werfen eine weitere Frage auf, die für die Perfektibilität des Menschen von Bedeutung sein kann. Nach den bisherigen Darstellungen wurden die notwendigen geistigen Anhaltspunkte dargelegt. Demnach kann an der Erziehbarkeit des Menschen nicht gezweifelt werden. Sowohl in der philosophischen Weltanschauung Ṣadrās als auch in der religiösen mystischen Lehre Nasafīs wurden die menschliche Freiheit und Willenstätigkeit als Voraussetzung für die Vervollkommnung erachtet. Doch der Entwurf des religiösen Lebens und der Glaubensform war zum einen eingebunden in das hierarchische Weltbild der Existenz. Zum anderen war die sprirituelle und religiöse Erfahrung primär eine individuelle Heilsfindung und kein gesellschaftlicher Gesamtprozeß. Somit stellt sich die Frage, in welcher Form wir von der Erziehung in einem solchen intuitiven und individuellen existentiellen Heilsprozeß sprechen können. Da die Erziehung ein Aspekt ist, mit dem die Frage nach dem Guten und Bösen und dem Schönen und Häßlichen einhergeht, ist damit Al-ʿAwwā, al-ʿ Umda, S. 545 f. Ibn Rušd, Faṣl al-maqāl, S. 62. Zwar sind für Averroes die Dialektik und Demonstration, vor allem die philosophische Interpretation, wichtig für den Grad des Glaubens – dem würde auch Ṣadrā nicht widersprechen – entscheidend ist jedoch die Öffnung des Inneren. »Die richtige Interpretation ist die Disposition [al-amāna, das Anvertraute], die dem Menschen zu bewahren aufgetragen wurde und [das er wirklich übernahm], […].« Ebd. 101 102

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auch nach der moralischen und ethischen und ästhetischen Selbstverwirklichung gefragt. Wir haben bereits festgestellt, daß das Böse, wie Jambet es dargelegt hat, die Abwesenheit der existentiellen Perfektion (kamālīya wuǧūdīya) darstellt und daß es keine Essenz hat, weil das Böse ein Mangel an »ontologischer Gesundheit« ist. Es ist nur die Grenze des Lichts des Seins. 103 Nach der Analyse der Erkenntnistheorie Ṣadrās sind wir zu dem Schluß gekommen, daß die Perfektion die Einheit von Subjekt und Objekt ist, die sich in einer gegenseitigen Kontemplation befinden. Aber der Weg der Kontemplation kann nur individuell gegangen werden und hat nichts zu tun mit einer allgemeinen Feststellung, die durch Geschwätz vermittelbar wäre. 104 Es handelt sich um die unmittelbare Erfahrung des Schönen, Guten und Wahren des Seins im ewigen Zentrum jedes konkreten Existierenden, wie Jambet feststellt. Dagegen ist die konzeptuelle Wahrnehmung (tafhīm, wörtl. Unterweisung) unausweichlich eine Abstraktion, eine Beweisführung (im Bereich der Logik), durch die man diese unmittelbare Erfahrung nicht erreichen kann. Auch der Glaube als Ritual war ein Weg zur wahren Verwirklichung des Selbst. Denn letztlich geht es um die Verwandlung zu einer höheren Existenz, in der kein Mangel, keine Grenze, kein Widerspruch, kein Glaube und kein Aberglaube herrscht. Gut und böse, schön und häßlich drücken die Formen der existentiellen Hierarchie aus. Um uns daher die Substanz der Erziehung nach der Existenzphilosophie Ṣadrās und seines Vorgängers Nasafī vorstellen zu können, ist es sinnvoll, uns die sadraische Sicht des Ethischen bzw. Metaethischen vor Augen zu führen. Gut ist in der islamischen Geisteskultur allgemein ausgedrückt das, was himmlisch ist, schlecht ist, was den Menschen vom Himmel entfernt. In den meisten Werken der islamischen Gelehrten wird, wie wir schon erwähnt haben, die Welt zwar nicht als böse dargestellt, aber auch nicht als Endziel der Schöpfung. Sie ist daher auch an sich nicht erstrebenswert. Die Welt gilt als Gefängnis und Verführerin, als wandelbar und vergänglich. Die materielle Welt kann allerdings per se nicht böse sein, denn sie ist ein Produkt des Guten, und aus Gutem kann nur Gutes hervorgehen. Ihr Schlechtsein ist nach den Ansichten vieler islamischer Philosophen durch die Absonderung vom Guten bedingt. Gemeint ist hier vor allem ihre Ferne von dem Absoluten und Reinen, nämlich dem 103 104

Jambet, L’acte d’être, S. 125. Ebd., S. 73.

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Erziehbarkeit des Menschen

einzigen Gott und seinem Reich. Wir können sagen: Da diese Welt nicht mit dem Absoluten identisch ist und da sie ihre Existenz und ihren Wert nicht durch sich selbst hat, steht sie, wie Šihāb ad-Dīn Suhrawardī und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī immer wieder betonen, aufgrund des Grads ihrer niedrigen existentiellen Stellung und Verfügbarkeit dem Guten gegenüber. 105 Das Gute ist, wie Ṣadrā aristotelisch definiert, der Ursprung, wonach alles Seiende sich sehnt. »Gut ist das, wonach jedes Ding verlangt [sich sehnt] und strebt, seinen Sinn richtet und wodurch es seinen Anteil von der machbaren Vervollkommnung, der ihm zusteht, vollendet.« 106

Nach der existentialistischen Sicht eines Ṣadrā ist alles, außer dem Notwendigen (Gott), möglich und daher existentiell unvollkommen und hat einen Hang zum Bösen. 107 Im sadraischen Sinne einer existentiellen Stufung zwischen der Vollkommenheit und Unvollkommenheit stoßen wir auf eine Auffassung, bei der das Gute steigerungsfähig scheint, denn es (das Gute) verhält sich im Ab- und Aufstiegsprozeß parallel zur Existenz. Es gibt daher wie das Sein und Nichtsein das absolute Gute und das absolute Böse. Alles, was dazwischen liegt, ist nur relativ, und das Gute wie das Böse ist abhängig von der Möglichkeit seiner Entwicklung. Daraus ergibt sich für Ṣadrā folgende Definition des Bösen: »Wenn du nachdenkst und die Bedeutungen des Bösen und seiner Zustände und Beziehungen näher anschaust [untersuchst], findest du alles, worauf die Bezeichnung des Bösen zutrifft, in zweierlei Form; es ist entweder ein absolutes Nichtsein oder tendiert zum Nichtsein. Man sagt, das Böse ist beispielsweise (wie) der Tod, die Unwissenheit, die Armut, die Schwäche [Dürftigkeit], die Verunstaltung der Schöpfung, das Fehlen eines Gliedes, die Dürre [der Mangel] und ähnliches von der Sorte des absoluten Nichtseins [ʿ adamīyāt, der Nichtseienden, Nichtheiten, Privativen] und es wird weiterhin gesagt: es gibt Böses in Form von Schmerz, Trauer und die absolute Unwissenheit [al-ǧahl al-murakkab, gemeint ist die komplexe Unkenntnis, d. h. man weiß nicht, daß man nicht weiß] und andere ähnliche Dinge, bei denen es sich um die Erfassung eines bestimmten Grundsatzes und einer bestimmten Ursache handelt, nicht um das bloße Verlieren eines bestimmten Grundsatzes bzw. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VII, S. 58. Ebd. 107 Das Mögliche ist, wie wir der avicennischen Definition und auch der Ṣadr ad-Dīn ašŠīrāzīs entnehmen können, ein Zustand der Existenz, dem das Sein und Nichtsein gleichermaßen zukommen kann. 105 106

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einer bestimmten Ursache, denn das Schädigende, die das Gute und das Vollkommene verneinende Ursache, die zum Erlöschen führt, läßt sich in zwei Bereiche einteilen.« 108

Ṣadrā führt weiter aus, daß das Gute und das Böse in vielfältiger Form zum Ausdruck kommen. Sowohl in himmlischen wie auch in natürlichen Bereichen können sich daher das Gute und das Böse zwischen dem Sein und Nichtsein befinden. Manchmal überwiegt das Gute vor dem Bösen oder umgekehrt. Ṣadrā bringt seine Vorstellungen vom Guten und Bösen auf den Punkt, auf dem sich die »Erziehung des Menschen« definieren läßt. Alles, was ein Hindernis zur Vervollkommnung ist, wird von dem Isfahaner Philosophen zu der Kategorie des Bösen gezählt. Die schlechten und unsittlichen Charaktere (al-aḫlāq al-maḏmūma) und die zu tadelnden Handlungen (al-afʿ āl aḏ-ḏamīma) stellen für ihn ein Hindernis für die Seele des Menschen dar, die ihre geistige Vervollkommnung behindert (al-māniʿ atu li-n-nufūsi ʿ ani l-wuṣūli ilā kamalātihā al-ʿ aqlīya). 109 Ṣadrā meint jedoch, daß auch diese schlechten Charaktere und die zu tadelnden Handlungen nicht an sich schlecht sind. Im Gegenteil, sie sind sogar für den Menschen existentiell positiv, jedoch nicht in bezug auf die intellekthafte Seite des Menschen, sondern in bezug auf die Notwendigkeiten der natürlichen Entwicklung und der Eigenschaften der animalischen Kräfte, die für die Lebenserhaltung unverzichtbar seien. 110 Alle religiösen und rationalen Gebote und Verbote bekommen dann die Bezeichnung des Guten und Schlechten, wenn sie einen Vorteil oder einen Nachteil für die Vollkommenheit und Existenz darstellen. Ṣadrā zufolge kann daher die Materie nicht wie das absolute Nichtsein etwas Schlechtes sein, »da sie (die Materie) die Potenz alles Existierenden ist, ist sie im Gegensatz zum Nichtexistieren (das reines Schlechtes ist) akzidentiell etwas Gutes.« 111

Wir sehen, daß der materiellen Welt in Ṣadrās Darstellung eine relevante Bedeutung für die uns real erscheinende Welt zukommt, der es in der theologischen Diskussion häufig mangelt: Aus ihr kann zumindest Ebd., S. 59. Ebd., S. 61. 110 Ebd., S. 104 f. 111 Risāla fī l-ḥudūṭ von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī nach Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 73 f. 108 109

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das Gute hervorgehen, und als Urstoff für die Notwendigkeit alles Seienden gehört sie ebenso zu der Welt des Notwendigen. Auch dort, wo die sittlich verwerflichen Charaktere auf einen materiellen Ursprung zurückgeführt werden, darf die Materie keineswegs an Wert einbüßen. Aus der Welt der Materie erhält der Mensch nach Meinung Ilāhī Qumšaʾ īs, der im Geist der Existenzphilosophie Ṣadrās philosophierte, die Einsicht des Guten. Wenn das Schlechte nicht gewesen wäre, würden wir das Gute verfehlen. Seiner Überzeugung nach hängt vom Bösen sogar die Ordnung der Welt ab: »Wir sagen hier auch, wenn in der Welt die Bosheiten [das Böse] und die partikularen Mängel [geringfügigen Mängel] – was alles auf das ganze Dasein bezogen absolut gut ist – nicht gewesen wären, würde das System dieser Existenz gänzlich in Desorganisation und Unordnung geraten. Der Grund liegt auf der Hand, da aus allem, was man für böse oder mangelhaft hält, so viel Gutes und Vollkommenes hervorgeht [hervorgehen], daß, wenn sie [Mängel und Bosheiten] fehlen würden, all dieses Gute fehlen [verborgen sein] würde. Wäre in der Welt kein Krieg gewesen, dann hätten Wettbewerb, Bewahrung der Souveränität und Beseitigung [Bekämpfung] des Schmerzes den Menschen nicht zu den tausend Wissenschaften, Techniken [Künsten] und Erfindungen geführt, deren Vorteile überwiegen und dauerhaft sind, und deren Nachteile geringfügig und begrenzt sind.« 112

Ṣadrā und seine Anhänger lehnen also einen moralischen Dualismus der guten und schlechten Tatsachen ab. Alles, was aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, ist gut, und das, was uns als böse, unangenehm und mangelhaft erscheint, ist auch gut, und zwar in doppelter Weise: Zum einen, weil es für die Natur notwendig ist und zum anderen, weil es für die Vollkommenheit eine besondere Bedeutung innehat. Genau unter dieser dualen Konstellation beschreibt Ṣadrā, der geistige Vater von Ilāhī Qumšaʾ ī, die Existenz des Menschen. Die Seele ist sich immer des Guten bewußt, und zwar aufgrund ihrer Beziehung zur himmlischen Welt, nämlich zur Welt der Intelligiblen (ʿ ālam almaʿ qūl). Ihre Beziehung zum Bösen ist dann beherrscht durch die Relativität, die auf zweierlei Weise betrachtet werden kann: Entweder ist das Böse für die Seele relativ, d. h. das Böse entsteht immer, wenn die Seele ein Bild des Guten vor Augen hat, oder die Seele hat ein Bild des Absoluten und des Guten durch die Betrachtung der Welt. Der Prozeß 112

Ilāhī Qumšaʾ ī, Ḥikmat-i ilāhī, S. 90 f.

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der intellektuellen Entfaltung ist ein ganz klares Beispiel dafür. Denn aus der Betrachtung des Absoluten und des eigenen Wesens entsteht ein Selbstbild, das bei den darauf folgenden Intellekten von Vollkommenheit und Unvollkommenheit bestimmt ist. Ein gutes Beispiel führt dazu Ṭabāṭabāʾ ī an: Der Mensch hält die Blindheit dann für etwas Schlechtes, wenn das Sehen als etwas Positives wahrgenommen wird. Im sittlichen Bereich steht nach Ṭabāṭabāʾ ī das Böse als etwas Negatives (ʿ adamī, Nichtsein, Privatives) und Mögliches (imkānī) dem Guten als etwas Positivem (wuǧūdī, wörtl. Existentiellem) und Notwendigem (ḍarūrī) gegenüber. Auf dieser Grundlage geht das Gute positiv und notwendig auf das höchste Gut zurück, während das Böse nur im Zusammenhang mit dem menschlichen Wollen und Handeln zustande kommt. 113 Der pädagogisch relevante Aspekt dieser Idee solle jedoch nicht übersehen werden. Der Mensch soll die Welt als Herausforderung begreifen, in der er das Gute und das Böse durch sein seelisches Vermögen und durch geistige Fähigkeiten erkennen kann. Ṣadrā meint, ohne das Hindernis des Bösen in der Welt könnte der Mensch seine höchste Entwicklung nicht erreichen und der Stellvertreter Gottes auf der Erde werden. 114 Erziehung steht damit schon am Anfang des Schöpfungsaktes, zusammen mit dem Menschen. Seine Gestalt ist »Ebenbild« Gottes, und er ist, wie wir gesehen haben, der Mikrokosmos, der dem Makrokosmos, der Gestalt der Welt, entspricht. Der Mikrokosmos ist ein »umfassendes Buch«, eine Abschrift des Makrokosmos. Ihr Verhältnis zueinander, d. h. Mikrokosmos zu Makrokosmos, vergleicht Ṣadrā mit demjenigen des Kindes zum Vater. 115 Der Mensch ist von Anfang an bis hin zu seiner personhaften Gestalt und seinem partikularen Befinden, wie Ṣadrā darstellt, von einem rechtleitenden Willensakt geleitet, sowohl von einem universellen Willen (irāda kullīya) als auch von 113 Muḥammad Ḥusain Ṭabāṭabā ī, ein bedeutender Anhänger der Existenzphilosophie ʾ Ṣadrās im 20. Jahrhundert, schreibt im fünften Band seines philosphischen Hauptwerkes »Uṣūl-i falsafa wa rawiš-i riʾ ālīsm«, daß das Böse eine negative Ausrichtung des Denkens sei, die dem Guten gegenüberstehe. Wenn der Mensch keinen Begriff vom Guten hätte, würde er nicht auf das Böse stoßen. Vgl. Ṭabāṭabāʾ ī, Muḥammad Ḥusain (1350/1971): Uṣūl-i falsafa wa rawiš-i riʾ ālīsm. Mit Einleitung u. Kommentar v. Murtaḍā Muṭahharī. Teheran. Bd. 5, S. 212 ff. 114 Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. III, S. 394. 115 Vgl. aš-Šīrāzī, Asrār, S. 109.

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einem partikularen Willen (irāda ǧuzʾ īya). 116 Der Mensch als Produkt eines intellektuellen Prozesses, in dem er eine Reihe geistiger Entwicklungen bis hin zu seiner personhaften Entstehung durchmacht, wird mittels einer natürlichen und existentiellen kosmogenetischen Rechtleitung (mit)gestaltet. Denn als personhafte Seele spiegelt er das Ganze wider. In diesem Vereintsein mit dem Ganzen ist er auch als Person, sei sie vollkommen oder unvollkommen, der Stellvertreter Gottes auf Erden. Daher wurde ihm auch als Individuum die Möglichkeit und das Vermögen verliehen, sowohl als sittliches Wesen als auch als Gesellschaftswesen seine Person und seine Lebensumwelt zu gestalten. Auch in niedrigen Zuständen ist der Mensch das Wesen, das das Göttliche widerspiegeln kann. Während die vortrefflichen (höheren) Menschen die Attribute Gottes in ihrer göttlichen Sittlichkeit widerspiegeln, erscheinen die göttlichen Werke und schöpferischen Künste durch die handwerklichen Tätigkeiten der niedrigen Menschen. Diese Möglichkeit umfaßt alle Bereiche des Lebens, wie Ṣadrā mit Beispielen deutlich macht: »Jeder Mensch innerhalb der Menschheit, vollkommen oder unvollkommen, hat einen Anteil an der Stellvertreterschaft im Rahmen seiner menschlichen Kontingenz. Die Aussagen des erhabenen Gottes: ›Er ist es, der euch als Nachfolger auf der Erde eingesetzt hat‹, deutet darauf hin, daß jeder, sei es der vorzügliche oder der niedrige Mensch, einer seiner Stellvertreter auf der Erde ist. Die niedrigen Menschen manifestieren die Schönheit seiner [göttlichen] Künste und die Vollkommenheit seiner originellen Schöpfung im Spiegel ihrer Berufe und Künste. Was ihre Stellvertreterschaft betrifft, hat Gott sie [die niedrigen Menschen] für die Kreation vieler Dinge zu Stellvertretern gemacht, als Bäcker [Brot], Schneider [Schneiderei] oder Maurer. Denn Gott, erhaben sei er, hat nur den Weizen geschaffen. Der Mensch auf der Grundlage seiner Stellvertreterschaft mahlt ihn und macht ihn zu Teig und Brot.« 117

Stellvertreterschaft deutet hier einen gewissen Lern-, Lehr- und Gestaltungsprozeß an. Wie der Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurde, so ist er ebenso dazu geschaffen, sich durch die nötige Veranlagung, durch Rechtleitung und geistiges Vermögen, nämlich durch seine Vernunft und das Vermögen der Weitergabe von Wissen, erzieherisch und gestalterisch zu vollenden. Ṣadrā widersetzt sich der Meinung, die 116 117

Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 110.

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den Menschen im Vergleich zu den Tieren für ein schwaches Wesen hält. Diese Meinung wäre seiner Überzeugung nach nur dann richtig, wenn der Mensch wegen der Aktualität (fiʿ līya) der Existenz und der Vergewisserung der Form (taʾ akkud aṣ-ṣūra) daran gehindert werden würde, die höchste Vollkommenheit zu erlangen. Ṣadrā meint, daß dieser Zustand der Schwäche nicht den ganzen Menschen erfasse und daß der Mensch sich erst zum Menschen machen muß, und zwar mit Werkzeugen, die ihm Gott von Natur aus verliehen habe. Er schreibt über seine akademischen Gegner: »Diese haben gedacht, daß diese [Schwäche] der ganze Mensch wäre und haben nicht verstanden, daß diese der Beginn der Erschaffung, seines Wachstums und seiner Vervollkommnung ist. Es ist wie ein Korn im Verhältnis zum Baum [ka-l-ḥabba bi-l-qiyās ilā aš-šaǧara]. Es ist wie ein Keim im Verhältnis zum Tier. Wenn das Korn die Härte des Steins hätte, wäre es unmöglich gewesen, seine höchste Entwicklung zu erlangen. Wenn der Keim das Vermögen eines Baumes hätte, wäre es unmöglich gewesen, das Leben [al-ḥayāt] zu erlangen. Denn, wenn der Mensch aufgrund seiner ersten Disposition nicht frei [al-ḫulūw, wörtl. das Leersein] von jeder Tugend und jedem Wissen wäre, wäre er in seinem Wesen [fī ǧauhar-i ḏātihī] nicht würdig, sich Tugend und Wissen anzueignen.« 118

In der Phase des Menschwerdens ist der Mensch autark und muß die Hindernisse durch seelische Askese und geistige und praktische Meditation selbst aufheben. So kann er die materielle Form überwinden und die Formen der intelligiblen Welt annehmen. Anhand dieses transzendental-intellekthaften Vervollkommnungsideals zeigt sich, daß die islamische Philosophie eines Ṣadrā einen besonderen Zweck verfolgt, der nicht immer mit den wissenschaftlichen Zielen im engen Sinne korrespondiert. Ṣadrā macht schon zu Beginn seines Hauptwerkes deutlich, daß die praktische Funktion der seelischen Potenz ihre Vollkommenheit dadurch erlangen kann, daß sie den Menschen bei der Bewältigung der diesseitigen und jenseitigen Belange hilft. Diese Aufgabe kann die Seele durch ihre Herrschaft über den Leib erlangen, um einen sittlichen Zustand zu erreichen, der dem göttlichen ähnlich sein muß. 119 Da die Philosophie bei Ṣadrā in der Übereinstimmung von Denken und Praxis ihre Vollkommenheit findet, erfüllt auch die Seele dann vollständig ihre 118 119

Ebd., S. 157. Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 21.

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Funktion, wenn sie den Erkenntnissen Realität verleiht. Gerade in der Fähigkeit zur Umsetzung der individuellen Erfahrung unter freiheitlichen Bedingungen liegt für Ṣadrā der Unterschied zwischen Mensch und Tier, und nicht allein in der natürlichen Anlage, denn nach der Auffassung Ṣadrās, wie Jambet hervorhebt, besitzen die Tiere a priori eine Einsicht von dem, was gut und was schlecht für sie ist. Diese Einsicht wird also nicht durch die Sinne erworben. Eine fallende Katze, mit ihren ausgebreiteten Pfoten, kann nicht wissen, was sie damit anstellen kann, aber die Einsicht ihrer eigenen Existenz hat sie trotzdem. 120 Die Seele wurde für diesen Zweck mit den notwendigen physischen und geistigen Anlagen ausgestattet, die die Seele im Verlauf ihrer Entwicklung zu einer souveränen Instanz machen. In ihr vereinen sich sämtliche Kräfte, die zu der einzigen Quelle der Wahrnehmung, der Bewegung und des Bewußtseins führen und damit zu ihrer eigenen geistigen und ethischen Verwirklichung beitragen. »Die menschliche Bewegung ist willentlich [eigenmächtig], so muß der Bewegende auch eigenmächtig sein. Der Ausgangspunkt [Ursprung] der Bewegung jedes frei Handelnden ist dessen Bewußtsein hinsichtlich des Bewegungszieles, sei es eine geistige oder sinnlich-begehrliche oder zornhafte Bewegung.« 121

Diese Bewegungen sind für Ṣadrā Ausdruck des aktiven und selbst gewählten Einsatzes des geistigen, imaginären und sinnlichen Vermögens der Seele. Wie wir schon dargestellt haben, baut Ṣadrā das Lebensprinzip auf diese Bewegungen, die zur Natur der Dinge gehören, denn sonst gäbe es kein Leben. 122 Mit einem Beispiel zeigt Ṣadrā, daß die Seele in ihrer ethischen und ästhetischen Gestaltung wie auch in ihrem Erkenntniserwerb einerseits von den essentiellen Bewegungen und andererseits von der Außenwelt abhängig ist. Ṣadrā ist der Meinung, daß es diesbezüglich keinen Unterschied zwischen Propheten und einem normalen Menschen gibt, denn sie haben beide dieselben Voraussetzungen als Mensch. 123 Der Unterschied müßte demnach im Grad des existentiellen Zustandes zu finden sein und in diesem Sinne erkennt Ṣadrā

Jambet, L’acte d’être, S. 229. Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VIII, S. 222. 122 Ebd., S. 255 f. 123 Z. B. ist das Verdauen oder ein sittliches Handeln beim Propheten von denselben Voraussetzungen abhängig wie bei jedem anderen. 120 121

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einen essentiellen Unterschied zwischen der Seele eines Kindes und der eines Propheten. 124 Der freiheitliche Umgang des Menschen mit seinen Kräften, Erkenntnissen und Handlungen ist demgemäß im freiheitlichen Umgang des Seinsaktes mit seiner Essenz begriffen. Neben dem natürlichen Prozeß muß sich die Seele durch eigene Kräfte und bewußten Einsatz dem Endziel der substantiellen Bewegung anschließen. Ihre Aufgabe ist, sich vor dem Verfall jener Eigenschaften und Zustände zu schützen, wodurch die wahre Sittlichkeit und die Erkenntnisse behindert werden. Das Gute und das Böse sind Begriffe, die erst in der Begegnung der Seele mit der Welt von Bedeutung sein können. Die Seele ist also Subjekt und Objekt der natürlichen und sittlichen Aktivitäten und der Charakterbildung. Zu ihr verhält sich die Welt als Lieferant der Perspektive und als Herausforderung für den Vollzug der Menschwerdung. Die Seele soll zwar nach der traditionellen Vorstellung der islamischen Mystiker und Gelehrten ein Spiegel werden, in dem die Idee des Guten und das Göttliche erscheinen sollen, dies kann aber erst dann vollzogen werden, wenn die Welt sich ebenso als Spiegel der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis der Werte zur Verfügung stellt. Demnach ist die Welt alles, was sie widerspiegelt. Sie muß dennoch geistig bzw. seelisch überwunden werden. Auch wenn Ṣadrā der Welt existentiell die Kategorie des Nichtseins [ʿ adamī] zuspricht, stellt er sie grundsätzlich als Spiegel und als eine (positive) Herausforderung dar. Die Welt ist nach Ṣadrā alles, worin man den Primat und die wahre Existenz erblicken könne. »Was für eine schöne Allegorie ist der Vergleich der Welt mit einem Spiegel, denn die Oberfläche des Spiegels wird hinsichtlich der Farbaufnahme [Farbe] aufgrund ihrer Durchsichtigkeit zu einem Nichtsein [ʿ adamī]. Aber aufgrund der Durchsichtigkeit und ihrer Potentialität [zur Aktualität] 125 [quwwa imkānihi, wörtl. des Vermögens zur Möglichkeit] wird sie die Erscheinung dessen, was ihr an Gestalten und Farben gegenübersteht. So ist es auch mit der Welt, die zum Nichtsein und Ebd., S. 245 f. Wenn der Begriff quwwa imkānihi mit »Potentialität zur Möglichkeit« übersetzt wird, wäre dies eine Tautologie. Auch unter dem Begriff »Vermögen« kann Potentialität verstanden werden. Ich habe den Begriff der Aktualität hinzugefügt, um zu zeigen, daß Ṣadrā sich für seine Argumentation des aristotelischen Vokabulars bedient. Ṣadrā beabsichtigt damit nachzuweisen, daß es sich zwar bei der Welt um eine Existenz handelt, die der wahren Wirklichkeit gegenübersteht. Sie ist aber zugleich eine Potentialität, indem das Wahre in aktuellem Dasein reflektiert wird. 124 125

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zur Kontingenz zählt, und Träger des Nichtseins und des Vermögens zur Möglichkeit [der Potentialität] ist [d. h. Werden und Nichtwerden sind in ihr gleichermaßen möglich]. So wird sie zum Erscheinungsort dessen, was dem Jenseits gegenüber steht. Daher erblickt man [gemeint ist alʿ ārif, der Gnostiker] in ihr die Formen der ewigen [beständigen] Dinge des Jenseits in einer sinnlichen partikularen Weise. Da [Weil] diese Formen in dieser Welt zur Erscheinung gekommen sind, sind sie auch der Unvollkommenheit [dem Nichtsein, der Dürftigkeit] ausgesetzt. Diese Welt folgt im Rahmen der Welt des Daseins [in dieser Existenz] der Welt des Verborgenen, so wie auch die Gestalten [Formen] im Spiegel den Gestalten [Formen] des Betrachtenden ausgesetzt sind [folgen].« 126

Die Welt, die überwunden werden soll, ist eine Größe, die nur im Zusammenhang mit dem denkenden und handelnden Subjekt zu verstehen ist. Es geht um die Vergänglichkeit des eigenen Leibes, die mit negativen Eigenschaften versehen wird, und um die Handlungen, die durch ihre positive Wirkungen die Glückseligkeit und Ewigkeit und die absolute Freiheit erschaffen. Der Mensch befindet sich in einem Zustand, den er wieder in ein Paradies verwandeln soll, und zwar durch seine guten Gedanken bzw. Intentionen, seine guten Handlungen und sein gerechtes Verhalten (Beziehung) zu anderen. Ziel ist die Herausführung aus der Finsternis, die durch die Anwendung der kontemplativen und praktischen Weisheit ermöglicht werden kann, um in die Welt des Lichts und der Reinheit vorzustoßen. Durch diesen Wandel vom Materiellen zum Immateriellen gelangt der Mensch ins Paradies. Jambet meint, daß man hier von einer Selbstrevolution und Selbstreinigung sprechen kann. Beide führen zur transzendenten Einheit. Der Mensch wird zum gehorsamen Diener Gottes, dem vollkommenen Philosophen, demjenigen, der die Gnosis der Welten der göttlichen Herrschaft besitzt. 127 Diese Motive, die viele Gelehrte zu Prinzipien der Moral und der Erziehung erheben, gehen bis in die vorislamische Zeit zurück. Alle diese drei Aspekte kennen wir sowohl aus der zoroastrischen Tradition als auch aus der traditionellen islamischen Adab-Literatur und aus den Ethiktraktaten. Mit seinen sittlichen Gedanken und Handlungen soll sich der Mensch den Weg zu wahrhaftem Glauben ebnen und das Leben für sich vervollkommnen. Nicht die Welt ist böse, sondern die Eigenschaften, die die Welt zu einem Gefängnis für die Seele machen und ihr den 126 127

Aš-Šīrāzī, Asrār, S. 113. Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 52 f.

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Genuß des ewigen Lebenssinns entziehen. Auch die ontologische Sichtweise eines Mystikers wie Nasafī legt nahe, daß das Gute und das Böse ein- und dasselbe sind. Genauer gesagt, es gibt für Nasafī keine guten und keine schlechten Eigenschaften (ṣifāt). »Oh Derwisch! Keine Eigenschaft ist schlecht. Da manche Gruppen diese Eigenschaften nicht an ihrem Platz verwenden, sagen sie, daß jene Eigenschaft schlecht sei. In der Welt 128 ist nichts schlecht. Alle Dinge sind in ihrer Beschaffenheit [ǧāy, wörtlich Platz] gut. Weil manche Dinge nicht an ihrem Platz sind, werden sie schlecht genannt. Also Gott, erhaben sei er, hat nichts Schlechtes erschaffen. Alles hat er gut erschaffen.« 129

Die Eigenschaften sind für Nasafī Veranlagungen, die potentiell in allen Dingen vorhanden sind. Demnach sind sie ein Bestandteil der Essenz dieser Welt und nicht veränderbar. Es gibt daher für Nasafī keine schlechte Veranlagung, sondern nur schlechte Gewohnheiten. In diesem Sinne können wir die Welt als einen ewigen, beständigen und zugleich instabilen Prozeß begreifen, in dem der Mensch sich seines Wesens und seiner Eigenschaften bewußt ist und fähig, sich durch eine bewußte asketische und selbst gewählte geistige Selbstverwirklichung zu vervollkommnen. Diese Eigenschaften sind keineswegs als solche in der natürlichen Welt vorhanden, sonst müßte man annehmen, Gott habe die Welt als böse und schlecht erschaffen. Ein solcher Gedanke würde sicherlich nach der Überzeugung vieler Theologen nicht gerechtfertigt sein. Mit Ṣadrā können wir sagen, daß das, was für die Natur existentiell gut ist, sich sittlich für die Menschen als »tödlich« erweisen kann. Der Widerspruch, der sich hier aus Ṣadrās Vorstellung ergibt, ist klar ersichtlich: Der Mensch befindet sich gefangen zwischen Selbsterhaltungs- und Vervollkommnungstrieb. Die Antwort darauf könnte sein, daß der Mensch durch Vervollkommnung das wahre Leben erlangt. Er strebt nicht nach Vollkommenheit, um perfekt zu sein, sondern um das ewige Leben in Perfektion zu erreichen. Dies resultiert aus der Betrachtung, daß das Gute und das Böse nur in Zusammenhang mit den seelischen Aktivitäten verstanden werden. Läßt sich die Seele z. B. von der Begierde und der Selbstsucht leiten, so verfällt sie der Welt des Relativen und Vergänglichen und damit des 128 Im Text steht ʿ ilm, d. h. Wissen. Von dem Kontext her gehe ich davon aus, daß »Welt« hier eher geeignet ist als »Wissen«. Möglicherweise ist ein Fehler in der Editierung oder im Druck unterlaufen. 129 Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 108.

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Unvollkommenen. Läßt sie sich aber von der sittlichen Vernunft und der ewigen Freiheit und Souveränität leiten, so steigt sie in die Sphäre der ewigen Glückseligkeit und Vollkommenheit auf. Denn nach der Existenzphilosophie Ṣadrās ist nur das vollkommene Leben ewig, und das zählt. Daher ist die Welt als solche dem Willen untergeordnet, über den die Seele zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit, zwischen Sein und Nichtsein entscheiden soll. 130 Es geht hier nicht um ein Pflichtgefühl gegenüber dem moralischen Gesetz der praktischen Vernunft, die ebenfalls eine metaphysische (transzendentale) Dimension beansprucht. Danach sind die Motive miteinander vergleichbar, weil es um die Entbindung aus der »Knechtschaft der Neigung« geht. 131 Der moderne islamische Denker Zakarīyā Ibrāhīm ist der Anischt, es gebe kein Böses in der Welt, sondern nur den Willen zum Bösen, denn der Wille sei das A und O. 132 Aber das Gute wie das Böse kann unseres Erachtens nicht ausschließlich im Willen zu finden sein, wie es auch nicht in der Welt als solcher gesucht werden sollte. Gut und Böse 130 Für einen westlichen Philosophen wie Kant ist dagegen nicht die Glückseligkeit das Ziel, zu dem der Mensch als moralisches Wesen erzogen wird, sondern das moralische Gesetz im Menschen. Als »oberste Bedingung« bestimmt der Wille zum Guten den Zweck des moralischen Wollens und Tuns, der Wille, der den Ideen des »höchsten Guten« unterworfen ist. Dieser ist aber praktisch. Gut ist etwas, was aus Achtung vor dem Gesetz geschieht und nicht aus Neigung. »Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werts unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto heller hervorscheinen lassen.« Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Martina Thom (1978). Leipzig, S. 208. 131 Das moralische Gesetz ist nach Kant allgemein und kann nicht bedingt werden. Somit ist das Gute oder Moralische das, was nicht von einer Neigung, sei es einer natürlichen oder übersinnlichen, gelenkt wird. Das Gute und Pflichtmäßige wie das Böse und Pflichtwidrige ist für Kant einleuchtend und von der Vernunft her zu erkennen. Der Unterschied ist leicht zu erkennen, wenn man die menschliche Vernunft auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht. »Ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates es tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.« Kant, Grundlegung, S. 216. 132 »Al-irādatu hiya al-alifu wa-l-yāʾ u fī muškilati š-šarr«. Ibrāhīm, Zakarīyā (1966): al-Muškila al-ḫulqīya. Kairo, S. 198 f.

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lassen sich im sittlichen Sinne oder in einem sittlich neutralen Sinne begreifen. Daher ist auch die Welt für die religiöse Weltanschauung nicht an sich böse, sondern sie ist böse, wenn sie willig oder unwillig den Weg zur Vollkommenheit behindert. In diesem Sinne hängt wieder alles von der Seele ab.133 Das paradiesische Glück, das in der transzendentalen Vorstellung Ṣadrās die Erlangung der absoluten Freiheit ist, kann nicht auf der Erde erwartet werden, weil diese ein Medium ist. 134 Gott hat also diese Welt erschaffen und sie den Menschen als Mittel zur Verfügung gestellt, sich Erkenntnisse und den wahren Glauben anzueignen und so in ihr den Weg zur Vollkommenheit, Glückseligkeit und ewigen Freiheit zu finden. In diesem Sinne faßt Ṣadrā als islamischer Philosoph den Sinn der Schöpfung so zusammen: »Also der Grund der Schöpfung und der Freigebigkeit des erhabenen Gottes und seine Gnade ist, daß jedes Unvollkommene seine Vervollkommnung erreicht, daß die Materie zu ihrer Form kommt, die Gestalt zu ihrer Idee [maʿ nāhā, intendierter Zweck bzw. intendierte Bedeutung, Sinn] und zu ihrem Wesen [nafsihā, Ich] und daß die Seele den Rang [daraǧa] des Intellekts und der Würde [maqām, Rang] des Geistes erlangt. Dort gibt es reine Gelassenheit [absolute Ruhe], vollendete Sorglosigkeit, ewige Glückseligkeit, das höchste Gut und das vollkommenste Licht. Dies ist das höchste Ziel und das reine Resultat [der reine Kern] der Erschaffung der Erde und des Himmels […].« 135

Die Idee des Guten und des Bösen ist daher verbunden mit der kosmischen Freiheit und Unfreiheit. Die Perfektion als ein Akt des Seins in völliger Übereinstimmung mit dem vollkommenen freien Willen und der vollkommenen Erkenntnis hebt sich von einer Erziehung im 133 Siehe Widengren, Die Religionen, S. 86. Im Rahmen der zoroastrischen Lehre liegt die Vorstellung nahe, daß der Mensch sich sittlich überwinden soll, um das wahre Glück zu erreichen. Daher scheint es, daß die Überwindung das Maß des Guten ausmacht. Im ersten Kapitel des Yasna verkündet die mazdaische Lehre Zarathustras eine Lobpreisung, die nach der Anerkennung der Herrschaft des einzigen weisen Herrn Ahura Mazda das gute Denken, die Wahrheit und Reinheit in den Vordergrund stellt. Zarathustra geht es ausschließlich um »Selbstbeherrschung, Liebe, Bescheidenheit und um das gute Ende«. Das ist die »freudige und andauernde Vollkommenheit der materiellen und seelischen Welt.« Siehe Waḥīdī, Ḥusain (1360/1981): Paūhišī dar farhang-i zartuštī. Teheran, S. 30. 134 In der zoroastrischen Lehre sehen wir sogar, daß der Lohn, den der Mensch bekommen soll, in der diesseitigen Welt erfolgt. Darüber hinaus erwartet ihn auch der jenseitige Lohn, und dies ist das Reich Ahura Mazdas. Das ist das lange Leben, das auch als »Dein Reich« bezeichnet wird. Siehe Widengren, Die Religionen, S. 90. 135 Aš-Šīrāzī, Asrār, S. 91.

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konventionellen Sinne ab. Der Mensch wird nur erzogen, um sich die Fähigkeiten anzueignen, die ihm helfen, seine existentielle Freiheit zu erlangen. Freiheit ist damit nicht im politischen Sinne als Handlungsfreiheit zu verstehen, sondern als Unabhängigkeit und Loslösung von der Vergänglichkeit. Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair (gest. 1049), 136 formuliert hierzu: »Gott schuf Dich frei, sei frei« (ḫalaqaka llāhu ḥurran kun kamā ḫalaqakallāh). Die Voraussetzung für die Dienerschaft Gottes (pers. bandagī) sei aber, als man ihn danach fragte, »Freisein von beiden Welten«. 137 Abū Saʿ īd Abū al-Ḫairs Ansicht ist von der typischen mystischen Gesinnung, die, wie Ṣadrā, die Instabilität, Vergänglichkeit und Körperlichkeit dieser Welt einerseits und die Abhängigkeit von einer Jenseitsvorstellung andererseits, die der Grund für die Dienerschaft Gottes nach Ansichten vieler Orthodoxen bedeutet, im Widerspruch zur Freiheit sieht. Denn Freisein in diesem Sinne bedeutet, jegliche Abhängigkeit zu überwinden, und diese Überwindung kann nur durch eine aktive Beteiligung an der existentiellen Selbstentfaltung und durch die Erlangung der existentiellen Nähe zum Perfekten geschehen. Der psychische Aspekt dieser religiösen Mystik ist eindeutig: Man braucht die Welt als Gegenspieler, um sich von ihr zu befreien. Damit ist festzuhalten, daß Vollkommenheit, Glückseligkeit und ewige Freiheit ohne die materielle Welt nicht möglich sind. Die Erziehbarkeit im Sinn der transzendentalen Existenzphilosophie Ṣadrās gewinnt daher eine metaphorische Bedeutung. Es stellt sich die Frage, in welchem Sinne dann das Erlernen der Philosophie und sonstiger ethischer und religiöser Werte einen Beitrag zur Perfektibilität des Menschen gewährleistet. Damit wäre durchaus zu prüfen, ob mit der Existenzphilosophie Ṣadrās ein Paradigmenwechsel im religiösen Verständnis der islamischen Erziehung intendiert wurde.

Zu Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair siehe die Arbeit von Meier, Fritz (1979): Abū Saʿ īd-i Abū al-Ḫair: Wirklichkeit und Legende. Paris u. a. 137 Vgl. Abū al-Ḫair, Abū Sa īd: Asrār at-tauḥīd fī maqāmat aš-Šaiḫ Abī Sa īd. Bd. 1. ʿ ʿ Eingel., hrsg. u. kommentiert von Muḥammad Riḍā Šafīʿ ī Kadkanī (1366/1987). Teheran, S. 314. 136

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

V. Erziehung, Vernunft und Philosophie Wir können den Begriff »Erziehung«, für den der arabische Terminus tarbiya steht, nicht direkt im Koran finden. Von ihm abgeleitete Formen kommen zwar an einigen Stellen vor, 138 aber sie spielen keine solche pädagogische Rolle, als daß wir sie in Zusammenhang mit einer religiösen Pädagogik des islamischen Glaubens bringen könnten. Der Begriff rabbun, der im Koran häufig vorkommt und den auch viele islamische Gelehrte irrtümlicherweise oder vielleicht metaphorisch mit dem Begriff tarbiya im Zusammenhang bringen, 139 bezeichnet die göttliche Allmacht bzw. die göttliche »Zuständigkeit für die Angelegenheiten der Lebewesen«, wie dies aus einer Definition bei ar-Rāġib al-Iṣfahānī hervorgeht. 140 Metaphorisch gelesen wird der Begriff »Erziehung« im weitesten Sinne nur mit Gott in Zusammenhang gebracht. Ṣadrā z. B. verwendet den Begriff rabb mehrfach, darunter auch im Sinne von »Erziehung«. Diese Verwendung ist vor allem im Hinblick auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit von Interesse. Erziehung bedeutet für Ṣadrā die »allmähliche Hinführung eines Dinges zu seiner Vollkommenheit« und ist (abgesehen von Gott) nur bedingt zu erreichen. 141 Gott wäre sozusagen der eigentliche Lenker und Bewahrer der Welt der Existierenden und damit auch der Menschen. 142 Als Urheber 138 Im Koran steht dieser Begriff einmal für eine Pflegefunktion der Eltern gegenüber ihrem kleinen hilflosen Kind. Ebd., 17/24. 139 Rabbun wird abgeleitet von dem Verbstamm rabba (Herr sein, Gebieter sein, besitzen, beherrschen usw.) und tarbiya von rabawa (sich mehren, wachsen, züchten usw.). Da dem Begriff rabbun und ihm entnommene Ableitungen Verwendungen zukommen, die eine vormundschaftliche Aufgabe bzw. eine Betreuungsfunktion signalisieren, wie rabība (Pflegemutter) oder rābba (Stiefmutter) oder wie arbāb für die Bezeichnung mancher Herrscher und rabb al-ʿ āʾ ila für Familienvater, sieht man in beiden Begriffen, rabbun wie tarbiya, auch eine ähnliche inhaltliche Funktion. 140 Ar-Rāġib al-Iṣfahānī, Muʿ ğam, S. 189. Weitere Ausführungen zur Definition der trabiya siehe Ḥiǧāb, Muḥammad Farīd (1997): at-Tarbiya al-islāmīya bain al-ʿ aqīda wal-aḫlāq. Kairo, S. 175. 141 Vgl. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. I, S. 101. 142 Das erste Kapitel bei Zailan Moris trägt die Überschrift: »Knowlege ( ilm) in Islam«. ʿ Es gibt eine allgemeine Einführung in Mullā Ṣadrās epistemologische Ansäzte, wobei es vor dem Hintergrund der fundamentalen Prinzipien des Islam bezüglich des Wissens auch das traditionelle islamische Erziehungssystem (madrasa) erläutert. Als fundamentale Prinzipien werden genannt: die Natur Gottes sowie die wahre Natur und Bestimmung des Menschen. Die Gegenstände des Wissens und die Erkenntnisfähigkeit haben ihren Ursprung in Gott und sind stets auf Gott hin bezogen. Die Realität ist in fünf

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Erziehung, Vernunft und Philosophie

des Wortes bzw. des Buches steht nur ihm die Funktion einer Rechtleitung zu. 143 Neben tarbiya verwendet man auch den Begriff taʿ līm, der im Koran nicht in dieser Form, aber in unterschiedlichen Verbstämmen vorkommt. Viele Gelehrte verwenden den Begriff taʿ līm im pädagogischen Sinne. Mit ihm wird zunächst die Erkenntnis- bzw. Wissensvermittlung bezeichnet, wobei Gott als erster Lehrer dargestellt wird. Wir haben schon angedeutet, daß Gott Adam die Namen gelehrt hat und somit darauf hinwies, daß der Mensch gegenüber allen anderen Wesen etwas Besonderes ist. Gott hat sich damit auch durch Offenbarung gewissermaßen zum direkten Lehrer des Menschen gemacht. 144 Es wurde ebenso bereits mit einigen Koranversen darauf hingewiesen, daß die Offenbarung bzw. die prophetische Sendung eine Funktion der Belehrung übernimmt, die letztlich für die Menschen auf der Erde als Verkündigung einer frohen Botschaft und Ermahnung zu verstehen ist. 145 Somit haben wir es mit der Religion als Offenbarung und prophetische Rechtleitung nur mit einer bestimmten Art der Pädagogik zu tun, die keine institutionelle und systemische Funktion hat. Religion bzw. Offenbarung ist kein Erziehungs- bzw. Bildungswesen im gewöhnlichen Sinne, sondern geistige Anleitung (iršād), Ermahnung (taḏakkur), Rechtleitung (hidāya). Kurzum: Offenbarung und prophetische Mission verkörpern nichts anderes als eine Art manifestiertes Gewissen, das seelische und geistige Erweckung und mahnende Erinnerung einleitet. 146 Bereiche hierarchisch geordnet. Das islamische Erziehungssystem basiert auf der Unterscheidung des Wissens in erworbenes Wissen (al-ʿ ilm al-huṣūlī) und unmittelbares Wissen (al-ʿ ilm al-huḍūrī). Vgl. Moris, Revelation, S. 15–32. 143 Ansonsten steht der Begriff tarbiya mit dem Begriff »Belehrung« (ta līm, auch Ausʿ bildung bzw. Unterricht) für das moderne Erziehungswesen. Es gibt jedoch auch weitere Begriffe im persischen Sprachraum wie »Bildung und Erziehung« (amūziš wa parwariš), »Trainer bzw. Erzieher« (murabbī) oder allgemein »Verhaltensregel« (adab, im Persischen auch Höflichkeit), die ebenso mit Erziehung in Zusammenhang gebracht werden. Adab oder das Verbalsubstantiv taʾ dīb, das als Oberbegriff für die meiste pädagogische Literatur steht, werden im Koran vermißt. 144 Der Prozeß der göttlichen Belehrung, der auf der Erde erfolgte, wird mehrfach im Koran in verschiedener Weise zum Ausdruck gebracht: Siehe Koran 2/31, 151, 239, 251, 282; 3/48, 164; 4/113; 6/91; 12/6, 22, 48; 16/103; 18/65; 27/15 f.; 53/5; 55/4; 62/2; 96/4 f. 145 Ebd., 34/28. 146 Ebd., 87/9; 88/21. Der Koran definiert die Position der Prophetie und damit auch den Sinn der Offenbarung wie folgt: »Warne nun (deine Landsleute)! Du bist (ja) nur ein Warner und hast keine Gewalt über sie (so daß du sie etwa zum Glauben zwingen könntest). Wer sich aber (von der Botschaft) abwendet und nicht (daran) glaubt, über den

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Nach dem Prinzip der Gerechtigkeit (ʿ adl) erweist Gott in der schiitischen Vorstellung den Menschen seine »Gnade« (luṭf). Ḥāʾ irī Yazdī ist der Auffassung, daß das Prinzip »Gnade« keine imperative, sondern eine rational-normative Kategorie sei, die an die menschliche Vernunft gerichtet ist. Daher sind die Menschen selbst als Subjekte ihrer Taten verantwortlich und verpflichtet, ihren Vernunftprinzipien ohne Zwang und Bevormundung zu folgen. Er begründet nicht nur philosophisch, was für ihn im Geist der sadraischen Philosophie selbstverständlich scheint, sondern darüber hinaus die »Selbstkonstituierung des Subjektes« (Foucault) auch in der Theologie. Nur unter dem Aspekt der Freiheit und Selbstverantwortung können wir den Menschen als Subjekt betrachten. 147 Im sadraischen Konzept nimmt daher die praktische Philosophie die Stellung eines pädagogischen Führers ein, denn sie hat nach Ḥāʾ irī Yazdī mit der Welt des Machbaren zu tun. Über sie gelangt der Mensch zur Erkenntnis und zur Praxis des Guten, um in den Zustand zu gelangen, in dem sich die Seele über den Körper erhebt. In diesem Sinne interpretiert Ṣadrā die Überlieferung »taḫallaqū bi aḫlāqi-llāh«, in der die Menschen zur Aneignung der Eigenschaft bzw. des »sittlichen Charakters« Gottes aufgefordert werden. Gemeint ist damit nach Meinung einiger Gelehrter nicht die Sittlichkeit im moralischen Sinne, denn Gott ist frei von Moralität. Gemeint ist damit vielmehr, daß der Mensch sich die positiven Attribute Gottes aneignet. Denn Gott und seine Attribute seien das höchste Gut, und das Ziel der sittlichen Handlungen sei es vor allem, dem höchsten Gut näher zu kommen und Gott ähnlicher zu werden. 148 verhängt Gott (dereinst) die schwere Strafe (der Hölle). Zu uns kommen sie (schließlich alle) zurück. Und wir haben hierauf mit ihnen abzurechnen.« Ebd., 88/21–25. Denn nach dem Koran wurde, wie schon mehrfach erwähnt, dem Menschen bereits vor einem irdischen Naturzustand die nötige Anlage gegeben, sei es durch göttliche Belehrung oder durch Eingebung, sich Wissen und Einsicht anzueignen. Ebd., 2/3; 91/8. 147 »Kurz und gut, die Theologen haben einmal gesagt: Die religiös-gesetzlichen Pflichten werden zu den Gnadenakten [zur Gnade] innerhalb der rationalen Pflichten gezählt. Die Bedeutung dieses theologisch-dogmatischen Satzes ist, daß die originären menschlichen Pflichten und Verantwortungen ganz und gar Sache der Vernunft sind und daher keinerlei Zwang von seiten des Gesetzgebers auf die Menschen ausgeübt werden darf.« Ḥāʾ irī Yazdī, Mahdī (1995): Ḥikmat wa ḥukūmat. London. S. 138; siehe ebenso Hajatpour, Iranische Geistlichkeit, S. 285 f. 148 Siehe dazu Āmulī, Ḥaidar: Ǧāmiʿ al-asrār wa manbaʿ al-anwār. Eingel. u. hrsg. v. Henry Corbin (1347/1969). Teheran, S. 363.

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Erziehung, Vernunft und Philosophie

Wenn wir nun die Erziehung dem Bereich der praktischen Vernunft zuordnen würden, dann wäre Erziehung nach der sadraischen Definition der Philosophie letztlich eine Sache der Vernunft. Da die praktische Vernunft ein Aspekt der allgemeinen Vernunft ist, gehört der Mensch nach der späteren Interpretation, die im Geiste Ṣadr adDīn aš-Šīrāzīs philosophiert, durch die praktische Philosophie der Welt der Intelligiblen an, die der realen Welt ähnlich sei (al-ḥikmatu sairūratu l-insāni ʿ ālaman ʿ aqliyan muḍāhīyan li-ʿ ālami l-ʿ ainī), wie dies Ilāhī Qumšaʾ ī zum Ausdruck bringt. 149 Ein zeitgenössischer Denker, Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī, stellt sich die Frage, ob die praktische Vernunft, die den griechischen Philosophen und ihren Nachahmern in der islamischen Welt vor Augen stand, nicht das »sittliche Gewissen« sei. Er gibt zwar zu, daß sich die islamischen Philosophen wie Ibn Sīnā und Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī mit dem Gewissen nicht im engen Sinne beschäftigt hätten, sieht jedoch in ihren Definitionen, vor allem der Ṣadrās, daß der praktischen Vernunft eine Bedeutung zukommt, die gewisse Parallelen zu der des Gewissens aufweist. Er gibt ebenso zu, daß diese Bedeutung des Gewissens einen metaphysischen Aspekt in sich trägt. 150 Denn zur Philosophie bzw. zur Weisheit (ḥikma), wie sie in der traditionellen platonischen Ethik dargestellt wird, gehören die vier Kardinaltugenden: Weisheit (ḥikma), Enthaltsamkeit (ʿ iffat), Mut (šaǧāʿ a) und Gerechtigkeit (ʿ adl). Diese sind für Ǧaʿ farī eine innere und seelische Reflexion. Wenn sich die Seele diese Tugenden aneignete, werde sie die Erkenntnis über die Seienden erlangen, wie sie sind. D. h. man gewinnt mit der ḥikma, wie Ibn Miskawaih, ein Zeitgenosse Ibn Sīnās, betont, Erkenntnis über die göttlichen und menschlichen Angelegenheiten (al-umūr alilāhīya wa-l-insānīya). 151 Mittels seines geistigen Vermögens und der Verfügbarkeit seines Willens läßt der Mensch die praktische Anlagen seiner Seelenvermögen zu einer pädagogischen Größe werden. Sie sind die Grundlage, auf der er »sein Menschsein und seine Tugenden vollendet« (wa-bihā tatimmu insānīyatuhū wa-faḍāʾ iluhū), welche Ibn Miskawaih der praktischen Philosophie zuordnet. Daher zählen Gut und Böse als Aspekte menschlicher Willenstätigkeit zum spezifischen Gegenstand der praktischen Philosophie. 152 149 150 151 152

Ilāhī Qumšaʾ ī, Ḥikmat-i ilāhī, S. 137. Vgl. Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (o. J.): Wiǧdān. Teheran, S. 26 f. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 26. Ebd., S. 19.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Genau diese spezifische praktische Anlage des Menschen macht ihn unter den Lebewesen zu etwas Besonderem. Je vollkommener sein Seelenvermögen ist, desto vollkommener ist der Mensch in seinem Menschsein. 153 Das Ziel der Erziehung (taʾ dīb) bzw. der »Bereinigung« (tahḏīb) der Seele bzw. der vom Intellekt geführten seelischen Erziehung ist die Entwicklung der Seele hin zum Zustand der vollkommenen Erkenntnis und des ästhetischen Vollzugs der sittlichen Handlungen. 154 Die Stellvertreterschaft des Menschen durch das Vernunftvermögen seiner Seele (an-nafs al-ʿ āqila) ist folglich eine sittliche Position. Sittlich ist sie, weil der Seele als Vermögen und Subjekt die Selbsterkenntnis und Selbsterziehung zukommen. Auch deswegen kann der Mensch die speziellen Unvollkommenheiten seiner Seele ins Auge fassen und dann durch seine Bemühung und Möglichkeit ihre Vervollkommnung in die Hand nehmen. 155 Durch diese Sittlichkeit werden »manche Menschen besser als die anderen, und manche verfügen über ein Mehr an Menschsein als die anderen«, eine Denkweise, auf der die Perfektionslehre Ṣadrās aufgebaut ist. 156 Wenn die Vernunftseele den Prozeß der Selbsterkenntnis vollzogen hat, sich deren Besonderheit bewußt wird und ihren Rang beim Göttlichen wahrnimmt, so ist der Mensch in der Erziehung seiner Kräfte und in deren Konstituierung der beste Stellvertreter Gottes, so auch Ibn Miskawaih. 157 Die höchste Stufe des Menschen ist die Erlangung des Horizontes der Engel, wo alle Existierenden sich vereinen. Mit dieser höchsten Stu-

Ebd., S. 20. Die Weisheit (ḥikma) ist, wie der persische Dichterphilosoph ʿ Ubaid Zākānī in seinem Werk »Die Fürstenethik« (aḫlāq al-ašrāf) in bezug auf ihre zwei Aspekte formuliert, »die Vervollkommnung der Seele bezüglich ihrer zwei Vermögen, der theoretischen und der praktischen.« Im Anschluß an Ibn Miskawaih erläutert er sie folgendermaßen: »Die Weisheit [al-ḥikma] zielt auf Perfektion der menschlichen Seele in ihrem theoretischen und praktischen Vermögen. […] Das praktische Vermögen ist dasjenige, wodurch [der Mensch] seine Kräfte und seine Handlungen klar ordnet und transparent macht [in eine klare Reihe stellt], so daß sie miteinander übereinstimmen und harmonisch werden, damit auf der Grundlage jenes Gleichgewichtes sein sittlicher Charakter lobenswert wird. Wenn dieses Wissen und die Praxis in diesem Grad in einer Person zusammenkommt [zusammentrifft], kann man sie den vollkommenen Menschen und Stellvertreter Gottes nennen […].« ʿ Ubaid Zākānī, Niẓām ad-Dīn: Aḫlāq al-ašrāf. Kommentiert und hrsg. v. ʿAlī Aṣġar Ḥalabī (1374/1995). Teheran, S. 62 ff. 155 Vgl. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq. S. 59. 156 Ebd., S. 59. Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. V, S. 346 f. 157 Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 64. 153 154

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Erziehung, Vernunft und Philosophie

fe des Menschseins schließt sich der Kreis der Existenz. 158 Auch Ṣadrā orientiert sich mit dieser Vorstellung an Ibn Miskawaih. 159 Wenn der Mensch sich Schritt für Schritt entwickelt und die Stufe des Menschseins erreicht hat, die bei Ṣadrā die Stufe der Engel übersteigen kann, so wird er die Vollkommenheit und die höchste Einsicht erreichen und vom edelsten Licht des Göttlichen beleuchtet werden. Diese Menschen sind entweder die Weisen oder die Propheten, durch die die Beziehung zwischen der höheren und der niedrigen Welt vermittelt wird. Demnach ist die Erziehung eine schöpferische Leistung. In mystischer Sprache ausgedrückt, zielt sie auf einen Zustand hin, in dem der Mensch in der Lage ist, sich zu beherrschen, sich zu überwinden und letztlich selbst die Wahrheit zu werden. Denn Wahrheit ist das Leben, die Ewigkeit, die Glückseligkeit und Vollkommenheit. Diese Einstellung wird vor allem von denjenigen vertreten, die sich der Orthodoxie gegenüber in der Opposition befinden, wie man es beispielsweise von alḤallāǧ weiß. Man schreibt al-Ḥallāǧ (309/922) die Aussage »Ich bin die Wahrheit« zu. 160 Denn bei einer Identifizierung mit einem vollkommenen und ewigen Wesen geht es um das Verständnis einer höheren Personalität. Die Erziehung soll den Menschen die Würde verleihen, die vollkommen ist. Die Psychologie dieser Vollkommenheitspädagogik ist meines Erachtens eng mit der Überwindung des Todes verbunden. Um die natürliche Todesangst und damit auch das Gefühl der Zufälligkeit zu überwinden, läßt man sich auf einen Kampf mit sich selbst ein. Sich selbst beherrschen bedeutet vor allem, den Tod, der das Nichtsein verkörpert, zu beherrschen; und nicht nur als Etwas zu existieren, sondern sein eigenes Ganzes in die Existenz zu rufen. Mit der mystischen Seelenpädagogik soll ein Seelenzustand erreicht werden, in dem alle Merkmale der Zufälligkeit und Unbeständigkeit beseitigt sind. Diese Vorstellung finden wir auch bei denjenigen Denkern, die in der aristotelisch-neuplatonischen Tradition stehen. Der Tod bedeutet bei diesen Denkern, daß man sich von der Zufälligkeit und Unbeständigkeit befreit und das ewiAš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. V, S. 347 f.; Vgl. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 80. Vgl. Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 79 ff. 160 Der Dichtermystiker Maḥmūd Šabistarī (gest. ca. 687/1321) meint, wenn es einem Baum erlaubt ist, zu sagen »Ich bin die Wahrheit« (anā l-ḥaqq), warum soll dies nicht von einem Glücklichen annehmbar sein? Es geht hier um den Strauch, in dem Gott mit Moses sprach. Siehe Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (121380/2001): Tafsīr wa naqd wa taḥlīl Maṯnawī Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad Maulawī. Bd. X. Teheran, S. 351. 158 159

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

ge Leben erlangt. Sie unterscheiden dabei zweierlei Arten des Sterbens: einen natürlichen Tod (mautun ṭabīʿ īyun) und einen willentlichen (mautun irādīyun), wie Ibn Miskawaih in Anlehnung an die Philosophen formuliert. 161 Zwar bedeutet der natürliche Tod die Befreiung der Seele vom weltlichen Leid (min nakdi ad-dunyā), 162 Ibn Miskawaih sieht jedoch darin auch die sittliche Befreiung. Denn in diesem Zustand tötet der Mensch seine Begierde ab (imātatu aš-šahawāt) und löst sich von dem Kampf mit ihr. »Sterben« ist daher eine Übung, die man vor dem leiblichen Tod verinnerlichen kann. Dieser vorzeitige Tod, wie es ein Kommentator Ibn ʿArabīs »Fuṣūṣ al-ḥikam« beschreibt, ist ein »eigenmächtiger Tod« (pers. maut-i irādī), der dem »natürlichen Tod« (pers. maut-i ṭabīʿ ī) vorangeht. 163 Der natürliche Tod wird aus der Sicht von Naǧm ad-Dīn Rāzī zu einer formalen Sache erklärt (pers. marg-i ṣūratī), zu einem sogenannten »Scheintod«. 164 So lautet auch die Überlieferung: »Sterbt, bevor ihr sterben werdet« (mutū qabla an tamūta). Es geht beim »natürlichen Tod« um die Auflösung der letzten Abhängigkeit, nämlich um die Auflösung des Leibes, um die Befreiung vom Scheinleben. Das ist, wie Ibn Miskawaih sagt, die »Vollendung und die Vervollkommnung des Menschen«. 165 Sterben bedeutet demnach das wahre Leben erlangen, und das ist ein Leben in Weisheit und Vollkommenheit. Im wahren Leben, das bei Ibn Miskawaih als das »natürliche Leben« (al-ḥayāt at-tabīʿ īya) bezeichnet wird, verewigt sich die Seele durch die Aneignung des wahren Wissens und die Befreiung von der Unwissenheit. Bei dem »eigenmächtigen Tod« geht es vor allem darum, durch die Befreiung der Seele von der Begierde eine Selbstverfügung bzw. Selbstmacht zu gewinnen. Sie bildet in der Lehre mancher islamischer Mystiker den wichtigsten Aspekt der Selbstverwirklichung.

Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 219. Ibn ʿArabī bezieht sich auf die Überlieferung »der Tod ist ein Geschenk für den Gläubigen« und meint, daß die Menschheit im Jenseits den Tod als Person sehen kann, und die Gläubigen sind diejenigen, die sich über ihn freuen, da er sie von dem weltlichen Leid befreit habe. Siehe Ibn ʿArabī, Muḥyi ad-Dīn: al-Futūḥāt al-makkīya. As-safar ar-rābiʿ . Bd. 4. Hrsg. v. ʿ Uṯmān Yaḥyā u. Ibrāhīm Madkūr (1975). Kairo, Kap. 64. S. 477. 163 Hwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ, S. 200. 164 Rāzī Dāya, Mirṣād al-ʿ ibād, S. 386 165 Ibn Miskawaih, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 220. 161 162

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

VI. Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes Die existentialistische Grundidee des sadraischen Konzepts gründet auf der Vorstellung, die John F. Quinn mit der Abwendung von der »darkness of illusion« zum Licht der Wahrheit der Existenz hin versteht. Für ihn unterscheidet sich Ṣadrās Evolutiongedanke von der modernen Prozeßphilosophie durch seine universelle humanistische Weltvorstellung, die nicht darauf orientiert ist, den Menschen »superiority« über alle anderen Wesen zu verleihen, denn das Prinzip des Primates der Existenz gegenüber der Wesenheit »bars our projecting our quidditative preconceptions onto existence itself« (Izutsu). 166 Diesem Grundsatz der sadraischen Philosophie ist nicht zu widersprechen. Aber das Ergebnis seiner evolutionären Idee ist, daß die Stufe des Menschseins die Überwindung des Menschseins auf einer schwächeren Ebene bedeutet. Es geht nicht um die Herrschaft über die anderen, sondern um eine göttlich würdige Herrschaft des Menschen als Gottes Spiegelbild. Das Ziel der Perfektion ist die Erlangung einer Stufe der Existenz, die im Kontext des Seinsaktes keine Mängel und keine Schwäche zuläßt. Alle anderen Lebewesen dienen nur als Vorbereiter dieser letzten Stufe, in der der Mensch durch die Herrschaft seines Intellekts, d. h. durch die Erlangung der absoluten Selbstmacht vollkommen über sich selbst verfügt und niemand außer Gott über ihm steht. Diese Selbstverfügung ist ein Machtzustand, in dem der Mensch die vollständige Freiheit erlangt. Diese Freiheit ist eine rein transzendentale Freiheit und bedeutet für Nasafī die höchste Perfektion. Nasafīs Vorstellung eines zirkulären Existenzprozesses zeigt ganz deutlich, daß das Wesen des Menschen aufgrund seiner schöpferischen Veranlagungen für eine solche Entwicklung prädestiniert ist. Das Ende des existentiellen Kreises ist die Vollendung, die jedem Ding bestimmt ist. Der Kreis schließt sich durch einen evolutionären Prozeß, und am Ende aller evolutionären Prozesse steht jedem Ding eine vollständige Reife (bulūġ) und Freiheit (hurrīyat) zu. Nasafī bringt immer wieder Beispiele aus der Natur und überträgt sie auf die Entwicklung des Menschen. »So ist es auch mit der Saat des menschlichen Leibes, der ein Keim ist. Wenn der menschliche Leib eine Ebene erreicht, an der der Keim entsteht und sichtbar wird, sagt man, er ist vollständig ausgereift. D. h. er wurde Keim. Vollständige Reife bedeutet, zum Ende zu gelangen, und 166

Zitiert nach Quinn, Mullā Ṣadrā’s Theocentrism, S. 289.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Freiheit bedeutet Entbindung [azādī wa qaṭ-ʿ i paiwand, wörtlich Unabhängigkeit und die Trennung vom Bündnis].« 167

Nasafī spricht in Analogie und zeigt mit Beispielen aus der Natur, was er unter den Begriffen, die er verwendet, versteht. Reife vergleicht er mit dem Zustand einer Frucht, die ihr höchstes Wachstum am Ast des Baumes erreicht hat (z. B. wenn ein Apfel seine vollständige Farbe und Essenz erhalten hat). Wenn man die Frucht abnehmen kann, dann ist sie frei. Daher sollten Begriffe wie Freiheit und Reife bei Nasafī nach der Auffassung Fritz Meiers in übertragenem Sinne verstanden werden. 168 Gemessen an Nasafīs ontologischer Lehre ist sein Freiheitsbegriff im Sinne der existentiellen Vollständigkeit zu verstehen, die der Mensch erreichen muß, um perfekt zu sein. Er ist in der mystischen Tradition kein neuer Begriff. Aber in der Art, wie er von Nasafī dargelegt wird, gewinnt er eine schöpferische Bedeutung, da die Freiheit von dem prozeßhaften Charakter des Seins herrührt. Diese Freiheit ist jedoch keine Gnade. Sie ist eingebunden in eine schöpferischen Leistung, die sich sowohl in der Existenz als Ganzes als auch in der seelischen Askese offenbart. Und wie die Existenz, so ist auch der Mensch in seiner erzieherischen Entwicklung von einer Leistung abhängig. Die Erlangung der völligen Selbstverfügung verlangt einen bewußten Umgang mit der menschlichen Eigenleistung. Auch wenn im Urkeim bereits die natürlichen, geistigen und sittlichen Vermögen und Veranlagungen potentiell vorhanden sind, heißt das nicht, daß sie ohne Leistung, ohne eigenes Zutun verwirklicht werden. Wie bei Ṣadrā ist der Mensch auch bei Nasafī an der Vollendung der Schöpfung durch seinen Vervollkommungsprozeß beteiligt. Nasafī meint, die gesamte Schöpfung komme nur in der Vollendung ihrer Leistungen an ihrem Ziel an. Anders als sein Lehrer Saʿ d ad-Dīn Ḥammūya vertritt er die Auffassung, daß nicht nur die erste Substanz die Erscheinung der göttlichen Attribute ist, sondern alles Existierende betrifft. Ziel der Schöpfung ist die Erscheinung aller Attribute Gottes, und diese sind einem Leistungsprozeß unterworfen. »[U]nd der andere Liebenswürdige sagte, obwohl Gott der Schöpfer der Existierenden ist, sind aber einige Dinge so, daß sie über das Bemühen des Menschen vollendet werden. Wenn die Hand des Menschen nicht eingreift, werden einige Dinge nicht existieren. Obwohl wir diese Wörter [gewiß] verstanden haben, haben wir gedacht, ob nur der Mensch so 167 168

Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 178. Vgl. Meier, Das Problem der Natur, S. 157.

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

wäre. Nun wissen wir gewiß, daß jeder Existierende so ist. Jeder hat eine Arbeit. Jeder tut seine Arbeit […] Jeder kann seine eigene Arbeit machen, und keiner kann die Arbeit eines anderen erledigen. […] Dies alles ist nötig, damit die ganzen Attribute Gottes erscheinen und die Weisheiten Gottes sich vollenden.« 169

Da es für Nasafī keine schlechte Veranlagung, sondern nur schlechte Gewohnheiten gibt, die durch die Erziehung in gute Gewohnheiten gewandelt werden können, entspringt die Leistung, die der Mensch erbringen soll, eigenem Antrieb. Die Art, in der Nasafī die Veranlagung von den Gewohnheiten trennt, beruht auf der Unterscheidung von Wesen und Praxis. Nasafī ist der Auffassung, kein Wesen sei frei von dem, was es ist. Daher ist in essentiellem Sinne die Freiheit unmöglich. Das Wolfsein und Schafsein sind das Wesen (māhīyat) dieser Tiere. Sie können nicht verwandelt werden. Nach Nasafī können jedoch die Eigenschaften der Seele und des Körpers verändert werden. Genau darin unterscheiden sich Ṣadrā und Nasafī, auch wenn sie denselben Zweck vor Augen haben. Die substantielle Bewegung erfährt eine Veränderung in der Substanz. Zwar verändert sich der Mensch nicht als Gattung, jedoch geschieht die Veränderung seiner Eigenschaft durch seine existentielle Veränderung. Daher kann der Mensch im sadraischen Sinne weniger oder mehr Mensch sein. Das ändert aber nichts daran, daß die prophetische Rechtleitung nicht den Zweck erfüllt, den Menschen in seiner Substanz zu verändern, denn selbst der Prophet steht unter derselben Ordnung. Er hilft den Menschen, damit sie die Prinzipien der Schöpfung und die Ordnung des Lebens erkennen können. Auch für Nasafī sind daher die Verkündung der Offenbarung, die prophetische Invitation und die Erziehung dazu da, bestimmte Eigenschaften zu verändern. Solche Eigenschaften vergleicht er mit Wild- und Zahmsein, was zwei Eigenschaften der Seele seien. Sie können durch Erziehung verändert werden. In diesem Sinne ist das Gute und das Schlechte eine Gewohnheit, und die Seele ist anpassungsfähig. Erziehung ist daher ein Vorgang der »Gewohnheitsveränderung«, wie bereits erwähnt. »Oh Derwisch! Aufruf (daʿ wat, wörtl. Einladung) und Erziehung sind nicht, daß man dem Bösen Glückseligkeit verleiht und den Unbegabten die Begabung und den Menschen das Wesen der Dinge sichtbar macht. Aufruf und Erziehung dienen dazu, die schlechten Gewohnheiten des Menschen zu beheben, den Menschen das Leben und die Lebensführung 169

Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 357 f.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

(tadbīr-i maʿ āš) zu erleichtern, die Menschen miteinander zu befreunden und zu solidarisieren und dazu zu führen [den Versuch zu unternehmen], die Menschen füreinander aufrichtig in Wort und Handeln werden zu lassen. Das sind der Aufruf und die Erziehung, sonst nichts.« 170

Der Mensch ist damit, wenn wir Nasafī richtig verstehen, in seinem Menschsein unveränderbar. Er kann aber seinem Leib und seiner Seele neue Attribute hinzufügen oder andere entfernen. Von daher stellt sich die Frage, woher diese Eigenschaften kommen. Wie kann man die Eigenschaften vom Wesen trennen? Wenn sie von innen kommen, dann sind sie ein Bestandteil des Wesens, wenn sie aber von außen hinzutreten, dann muß erklärt werden, wie solche Eigenschaften abseits vom Wesen entstehen. Es stellt sich auch die Frage, wie man die Ereignisse erklärt, die in der Welt des Thematischen auftreten, ohne daß sie von der Welt des Unthematischen fern gehalten werden. Nasafī geht auf die Einwände ein, nach denen natürliche und sittliche Eigenschaften, Ordnungen und Unordnungen für prädestiniert und somit Offenbarung, prophetische Invitation und Erziehung, rationale Überlegung, Ausbildung und Heilung für überflüssig gehalten werden. Nach Nasafīs kosmologischen Vorstellung ist nicht zu leugnen, daß alles, was in diesen beiden Welten, nämlich in malakūt und mulk, vorkommt, der Welt der Allmacht (ǧabarūt) entspringt, sich jedoch in der Welt des Unthematischen in der allgemeinen Form befindet. Diese kann nur durch Bemühen und Praxis konkret und thematisch werden. Nasafī widersetzt sich sogar der Vorstellung der Astrologen seiner Zeit, die glaubten, daß die Sterne auf manche Menschen pädagogisch einen guten und auf andere einen schlechten Einfluß ausüben. Die Himmelskörper und die Sterne haben keinen Willen. Der Mensch dagegen besitzt einen Willen und kann daher auch eine freie Wahl treffen. Demnach ist im Keim des Menschen alles vorhanden, was im Makrokosmos vorgesehen ist. Daher sind die Veranlagungen, Eigenschaften und Wesenheiten im Mikrokosmos die Widerspiegelung des Makrokosmos. Nasafī betont wiederholt, daß alle Eigenschaften, die von sittlicher Natur sind, schon potentiell im Keim des Menschen vorhanden sind. Diese Potentialität darf jedoch nicht statisch gedacht werden. Nasafī zieht die Möglichkeit aus der Relation der Allgemeinheit zur Selbstbestimmung des Konkreten. Was Nasafī nicht klar voneinander trennt, ist die Grenze zwischen Allgemeinem und Konkretem, und er 170

Ebd., S. 107 f.

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

begründet nicht hinreichend, warum manche Dinge allgemein und andere konkret vorgesehen wurden. Andernfalls müßte alles wandelbar sein, bzw. die Welt des Wandelbaren müßte eine eigene Dynamik entwickeln können, die ihre schöpferische Selbstgestaltung der Welt des Unthematischen verdankt. Nasafīs Antwort darauf besteht darin, daß die Handlungsfähigkeit des Menschen nicht konkret ist. Die Qualitäten und Quantitäten des Leibes und des Geistes sind unveränderbar, während die Handlungen, die aus den Menschen hervorgehen, veränderbar sind. 171 Daher hat für ihn Erziehung nur im Bereich der Praxis, nicht in der natürlichen Veranlagung ihren Stellenwert. Genauso wie die Existenz aus ihrer Summation und aus einem unthematischen Zustand nur unter einer schöpferischen Leistung des Urhebers in die Welt des Detailliertseins und Thematischen hervorgebracht werden konnte, so herrscht auch in der Welt des Mikrokosmos dasselbe Prinzip. Nasafī ist der Ansicht, daß ohne Einsatz und Bemühen das Allgemeine unberührbar bleibt. »Wisse, daß Wissen, Vermögen, Macht, Lebensunterhalt und ähnliches nicht vorgeschrieben sind. D. h. im Keim des Menschen wurde nicht vorgeschrieben, wie dieses Kind und welche Menge an Wissen es lernen soll, und wie und in welcher Menge es Können erwerben soll. So ist es mit sämtlichen Dingen. Im Menschenkeim wurde die Veranlagung [istiʿ dād, wörtl. auch Begabung] des Erlernens des Wissens und der Weisheit, die Veranlagung der Erlangung des Vermögens und der Macht verankert [vorgeschrieben, vorherbestimmt]. Da die Veranlagung des Erlernens des Wissens und der Weisheit im Keim dieses Kindes vorgeschrieben wurde, so werden ihm das Wissen und die Weisheit zuteil. Aber diese sind abhängig von seiner Erprobung [seinem Versuch] und vom Bemühen.« 172

Wir sehen, daß in Nasafīs Darlegung des schöpferischen Aktes auch dem Aspekt der menschlichen Leistung eine Möglichkeit zur Erschaffung zukommt. Der Mensch begründet zwar nicht seine natürliche Beschaffenheit und verleiht sich nicht selbst das Leben, aber er ist in der Lage, durch seine Handlungen und seine Leistung die Schöpfung in der Welt des Konkreten fortzusetzen. Demnach kann der Mensch durch Erziehung und sein eigenes Zutun sich selbst zwar nicht neu »erschaffen«, aber er kann sich neu organisieren und gestalten bzw. konstituie171 172

Ebd., S. 238 f. Ebd., S. 240.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

ren und in diesem Sinn seine potentiellen Fähigkeiten zur ihrer vollen Entfaltung bringen. Der Mensch als Gottesentwurf tritt in der Welt des Thematischen in einen zweiten Akt der Schöpfung, nämlich in einen Akt des Selbstentwurfs. Durch sein Handeln leitet der Mensch einen Prozeß der »Selbstkonstituierung« ein, die dem Leitbild seines Ideals verhaftet ist. Auf das Prinzip des Selbstversuches und Selbsteinsatzes führt Nasafī die Unterschiede in Wissen, Wohlstand, Sittlichkeit und anderen Eigenschaften zurück. Interessant ist jedoch die sittliche Rolle der Vernunft in seiner Theorie, deren Stellung wir bereits in dem mit der Ontologie befaßten Abschnitt ausgeführt haben. Die Vernunft ist eine Veranlagung und als solche unveränderbar. Nach ihr richten sich jedoch sämtliche ethischen, spirituellen, geistigen und natürlichen Gestaltungen. Das heißt, der Mensch ist gezwungen, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein. Wie er diese Veranlagung jedoch kultiviert, hängt von seiner Leistung ab. Daher kommt es darauf an, wie der Mensch Veranlagungen und Praxis in einer idealen Form harmonisiert. »Wisse, daß der Mensch zwei Dinge hat, mit denen er sein Ziel und seine Absicht erlangen kann [wörtl. die ihn zum Ziel und Zweck führen]. Erstens die Vernunft, zweitens die Praxis. Der Mensch ist in seiner Vernunft prädestiniert und in seiner Handlung frei. Also sind die Prädestination und die freie Wahl zwei Flügel des Menschen. Wenn diese beiden Flügel oder auch nur einer fehlen, kann man niemals das Ziel und den Zweck erreichen. Die Vernunft hat zwei Bereiche, die instinkthafte Vernunft [ġarīzī, auch natürliche Anlage], die die Veranlagung ist, und die erworbene Vernunft [ʿ aql-i mustafād, lat. intellectus acquisitus], was die Vervollkommnung der Vernunft bedeutet. Die Praxis teilt sich ebenfalls in zwei Bereiche, die Praxis des Herzens und die Praxis des Leibes.« 173

Nach diesen Ausführungen wird klar, daß die Handlung bei Nasafī zwar als eine Veranlagung des Wesens des Menschen besteht, wohl aber nicht auf eine konkrete Form festgelegt ist. Demnach ist, auch wenn er darauf nicht eingeht, das Wesen des Menschen einerseits zwar bestimmt, andererseits aber dem Prinzip des Werdens unterworfen. Wie die Menschwerdung existentiell einer schöpferischen Evolution unterliegt, so entsteht der Mensch ebenso sittlich und geistig infolge einer selbstgestalterischen, schöpferischen Leistung. Der Mensch ist zwar nach dem Bild des Schöpfers festgelegt; aber um diese Anlage zu ihrem 173

Ebd., S. 241.

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

Vollzug zu entfalten, muß er aktiv und kreativ tätig werden. Der Mensch existiert bei Nasafī quasi potentiell mit allen Möglichkeiten zum Werden. Diese sind nötig, um den Vernunftmenschen zu verwirklichen. Der Umgang mit der Freiheit ist damit als eine geistige Askese eine Lebensart, die nach einem höheren Dasein strebt. Zum Vernunftmenschen kann der Mensch durch seine freien Handlungen werden. Er wird somit an seiner intellektuellen »Erschaffung« beteiligt. Er entwirft nicht seine Existenz, sondern seine Person zur Perfektion. Die Erziehung ist demnach ein Vorgang der Schöpfung zur Perfektion des Selbst. Dieser Trieb zur Vervollkommnung (Perfektionstrieb) ist der Ausgangspunkt aller schöpferischen Leistungen. Schon als Keim ist der Mensch einem schöpferischen Leistungsprozeß ausgesetzt. Die Erscheinung aller im Menschenkeim vorhandenen Kräfte, Möglichkeiten und Veranlagungen werden einer tarbiyat bzw. parwariš unterzogen, worunter Nasafī »Kultivierung« bzw. Erziehung versteht. 174 Nasafī vergleicht den Menschen, wie bereits erwähnt, mit einem Baum, der erst durch Pflege zum Baum wird. Wie ein Baum durchläuft der Mensch verschiedene Entwicklungsstadien und -zustände. Damit ein gesunder und vollständiger Baum zustande kommt, brauche es die richtige Umwelt und Pflege und das Fehlen von Hindernissen. 175 Denn nach Nasafī sind im Samenkorn alle Entwicklungspotentiale vorhanden. »Oh Derwisch! Der Mensch hat Entwicklungsstufen, so wie ein Baum Entwicklungsstufen hat. Es ist klar, was in jeder Stufe eines Baumes offensichtlich wird. Also die Aufgabe des Gärtners ist es, die Erde weich und passend zu machen. […] Die Aufgaben der Mystiker [sālik, wörtl. der Reisende, Schüler, der, der den spirituellen Weg einschlägt] sind auch so. Es soll das Anliegen [die Absicht] des Mystikers in der Askese sein, ein Mensch zu werden. […] Die gesamten Entwicklungsstadien sind im Samenkorn des Baumes vorhanden. Es sind erfahrene Gärtner, Erziehung und Kultivierung notwendig, damit das Vollkommene [tamām, bedeutet auch das Ganze] sichtbar wird. So sind auch Reinheit, guter Charakter, Wissen, Erkenntnis, die Enthüllung der Geheimnisse und die Erscheinung der Lichter allesamt im Wesen des Menschen vorhanden. Es ist die Begleitung [Gefährtenschaft] des Weisen, die Erziehung, die Ausbildung [parwariš, auch Kultivierung] nötig, damit das Vollkommene offensichtlich wird.« 176 174 175 176

Ebd., S. 86. Dies betonte auch der gemäßigte Mystiker Naǧm ad-Dīn ar-Rāzī. Ebd., S. 139.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Die Aussagen Nasafīs lassen keinen Zweifel daran bestehen, daß der Mensch selbst sein eigener Gärtner ist: »Der Mystiker [sālik, Erdenpilger] soll großmütig sein und er soll aktiv tätig sein solange er lebt und sich dem Eifer und der Mühe hingeben, da Wissen und Weisheit Gottes kein Ende haben.« 177 Der Perfektionstrieb setzt die Handlung in Gang, die das Potentielle, Verborgene und Unthematische zu einem konkreten Entwurf führt. Dabei soll sich der Mensch jeder Unterwerfung, sowohl personeller als auch materieller Art, entziehen. Auch die Nachahmung der Eltern ist untersagt. Was er braucht, ist die Betreuung durch die Weisen, die den rechten Weg bereits eingeschlagen und die volle Reife und Freiheit erreicht haben. Das Erziehungsprogramm, nach dem sich die Novizen richten sollen, ergibt sich aus den Handlungen der Vorbilder und Erzieher. Daher kann nicht jeder, sondern nur derjenige ein Erzieher sein, der die seelische Souveränität, die als vollkommen gilt, in der Praxis verkörpert. 178 Nasafī ist der Ansicht, daß die »Freunde Gottes« (auliyāʾ , die Gott nahe sind, gemeint sind hier diejenigen, die sich auf den mystischen Weg begeben) nicht erziehen können. Denn sie bewegen sich nur in eine Richtung, nämlich zu Gott hin. 179 An einer anderen Stelle gibt Nasafī zu verstehen, daß die Freien unter den Vollkommenen frei von jeglicher Verpflichtung sind. 180 Anders als sie können die Propheten erziehen. Nach den Propheten sind dann die Gelehrten für die Erziehung zuständig. Ihre pädagogische Funktion hat jedoch einen rein moralischen Charakter. Die Erzieher der Seele stellen nur eine Begleitung (ṣuḥbat) dar. Der Suchende bzw. Reisende (rawanda; auch: der Pfadbeschreiter), der sich auf den Weg zu Gott gemacht hat, ist letztlich auf sich selbst gestellt und auf seine Sinne, seine Vernunft und seine Tätigkeit angewiesen. 181 Zunächst lernt der Schüler die nötigen Vorschriften und die Lehren der Religion. Die eigentlichen pädagogischen Ziele gehen jedoch darüber hinaus. Es ist die Erziehung der Seele und die Erlangung der seelischen Souveränität, die durch Vervollkommnung von vier praktischen Prinzipien ermöglicht wird. Diese sind für Nasafī gutes Sprechen, gute Handlungen, guter Charakter und Er-

177 178 179 180 181

Ebd. Ebd., S. 284. Ebd., S. 319. Ebd., S. 284. Ebd., S. 416.

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

kenntnisse. Mit der Vervollkommnung dieser vier Prinzipien macht der Mensch aus sich einen vollkommenen Menschen (insān-i kāmil). Wenn dieser vollkommene Mensch auch frei sein will, so muß er bei sich außer diesen vier Prinzipien noch vier Tugenden zur Vollendung bringen, nämlich Verzicht (trak), Zurückgezogenheit (ʿ uzlat), Bescheidenheit (qanāʿ at) und Anonymität (ḫumūl). »Wer diese acht Sachen vervollkommnet, ist vollkommen (kāmil), frei (azād), voller Reife (bāliġ) und Herr (ḥurr, wörtl. frei, souverän, unabhängig).« 182 Am Ende stehen die Erkenntnis Gottes und die Erlösung des Menschen. »Oh Derwisch! Sei nicht dadurch gefesselt, viel Wissen und Philosophie zu erlernen, damit du dich Gelehrter [Wissender] und Philosoph nennst. Sei nicht damit gefesselt, viel Gehorsam und religiösen Ritus zu praktizieren, damit du dich Frommer und Scheich nennst. Denn dies alles ist schweres Unglück und Unheil. Begnüge dich mit dem Notwendigen aus Wissen und Philosophie und erwerbe davon das, was nützlich ist. Von Gehorsam und dem religiösen Ritus begnüge dich mit dem Notwendigen und verrichte davon, was Pflicht ist. Sei genötigt, daß du nach der Erkenntnis Gottes die Reinheit der Seele erlangst und sanft [harmlos] wirst und Frieden vermittelst [rāḥat risān, wörtlich, Ruhe bzw. Erleichterung bringst], denn darin besteht das Heil [Rettung] des Menschen.« 183

Hinter diesem Freiheitsverständnis verbirgt sich zwar eine emanzipatorische Haltung, zugleich klingt aber eine unpolitische Weltsicht an. Wer Zurückgezogenheit, Bescheidenheit und Anonymität gewählt hat, weiß, daß Aufspaltung (tafraqa) und Verwirrung (parākandagī) mit den Menschen dieser Welt in Gesellschaft kommt. So haben diejenigen, die perfekt sind, Angst und fliehen vor weltlichen Personen. 184 Wie bereits angedeutet, ist Ridgeon der Auffassung, daß man bei dieser unpolitischen Weltsicht Nasafīs berücksichtigen muß, daß er Schiit (oder zumindest mit Schiiten verbunden) war, und er es vorzog, seine Ideen zu verbergen. 185 Denn Nasafī betont auch die Idee, daß es keinen Ebd., S. 77. Ebd., S. 132. 184 Nasafī schreibt über die weisen Männer: »Sie geben keinem Führer oder Oberhaupt Zugang, und sie fordern keine Führerschaft oder Adelsprädikate ein. Jeder ist in einer Beschäftigung engagiert, die für ihn nötig ist, und ihre Beschäftigung ist ihr Mittel der Lebenshaltung. Sie fliehen vor dem Reichtum der Könige und Tyrannen.« Vgl. Nasafī, Kašf al-ḥaqāʾ iq, S. 28 f. Siehe auch Ridgeon, ʿAzīz Nasafī, S. 198. 185 Vgl. Ridgeon, Azīz Nasafī, S. 198. Manche Ismailiten reklamieren Nasafī auch für ʿ sich. Sollten sie dies zurecht tun, dann machte dies es wahrscheinlich, daß er seine Idee verbarg. 182 183

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

größeren Gehorsam gibt, als die Welt zu korrigieren, als ihr zu entfliehen. 186 In seiner individuell orientierten Selbstperfektionierung und Heilsfindung findet der Mensch nach Nasafī seine Herrschaft und Macht, die er nicht politisch ausüben kann, da nach seiner Sicht Verzicht und Anonymität die Folge der politischen und gesellschaftlichen Ohnmacht sind. Dies resultiert aus der Annahme, daß der Mensch in seinem weltlichen Leben schwach und unvollkommen ist. Daher schreibt er: »Dieser perfekte Mensch besitzt keine Macht (qudrat) trotz seiner Perfektion und Größe, und er lebt weder mit unerfüllten Wünschen (nāmurādī) noch verbringt er seine Zeit in Trost.« 187 Aber der Wunsch, auch die Macht zu erhalten, ist groß und ebenso das Bewußtsein, daß weltliches Leben Schwäche und Unfreiheit bedeutet. »(14) Oh Derwisch! Nun ist es an der Zeit, daß der perfekte Mensch die Macht besitzt und Herrscher und König wird. Aber es ist ersichtlich, daß die Macht des Menschen vorübergehend ist. Wenn du genau hinschaust, siehst Du, daß seine Schwäche mehr ist als seine Macht, sein Unglück mehr als sein Glück. Propheten, Freunde, Könige, Sultane wollten vieles, was sie zu erreichen wünschten, und es geschieht nicht und dagegen existiert vieles, was sie nicht wollten. Also wurde klar, daß alle Menschen, Vollkommene und Unvollkommene, Weise und Unwissende, König und Untertan, ohnmächtig und schwach [arm] sind und in der Unerfülltheit leben. Manche der Vollkommenen erkannten so, daß es für den Menschen nichts Besseres gibt als den Verzicht, und kein Gehorsam ist größer als Freiheit und Losgelöstheit [Seelenruhe, innerer Frieden], als sie sahen, daß der Mensch über das Glück nicht mächtig ist und es durch Bemühen und Versuche nicht erreichen kann und im Unerfülltsein leben muß. Sie ließen los und wurden frei und losgelöst.« 188

Nasafīs Freiheitsbegriff, wie er ihn in dem Zyklus des existentiellen Prozesses definiert, entspringt meines Erachtens keineswegs einer negativen Weltsicht. Für Nasafī ist die Welt gut. Aber die Seele hat die Möglichkeit, sich schlechte Dinge anzugewöhnen. Daher verlangt die Perfektion nach Nasafī die völlige Freiheit. Sie geht mit einem bewußten sittlichen Handeln und einer inneren Haltung einher. Es geht nicht darum, sich von der Gesellschaft und der Welt zu isolieren, sondern es geht um die Haltung, die man in der Welt einnimmt. 186 187 188

Ebd., S. 196. Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 76. Ebd., S. 76 f.

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Die Selbstmacht ist ein Zustand des Selbstentwurfes

»Wer nicht frei ist, ist Sklave. Wer beispielsweise Gold, Frauen, Besitz und Ruhm, Parkanlagen, Garten, Führung, Ministerium, Königtum, Herrschaft begehrt oder sich nach der Position eines Predigers, eines Scheichs, eines Richters, eines Lehrers oder sich nach Nähe und der Stellung eines göttlichen Freundes, eines Propheten oder eines Gesandten Gottes oder etwas Ähnlichem sehnt, wer also eines dieser Dinge begehrt und davon abhängig ist, ist nicht frei. Wer nichts von diesen Dingen begehrt und von keinem gefesselt ist, ist frei.« 189

Was Nasafī mit diesen Zeilen zum Ausdruck bringt, ist nicht die völlige Besitzlosigkeit im Sinne eines indischen Samanas. Der Novize soll nicht im Wald leben oder auf materielle Dinge verzichten. Es geht Nasafī um eine innere Haltung und innere Freiheit, die eine Eigenschaft des Seins ist und sie erscheint überall in gleicher Form, wie bei Ṣadrā gesehen wurde. Daher zeigt er mit dem nächsten Beispiel, daß es nicht angemessen ist, sich gegenüber dem kostbaren Kleid ablehnend zu verhalten. Denn das Kleid erfüllt den Zweck, den Menschen vor Wärme und Kälte zu bewahren. Die Freiheit, die Nasafī vor Augen hat, hat nichts gemeinsam mit einem säkularisierten modernen Freiheitsbegriff. Es geht nicht um eine Trennung von Weltlichem und Geistlichem, sondern um die Unabhängigkeit von beiden. Als moderner Mensch will man die Freiheit nicht nur deshalb, um sich zu emanzipieren oder zu gestalten, sondern man erwägt auch die Möglichkeit, die Dinge der Welt begehren zu dürfen. Die Freiheit ist nach Nasafī erst vollständig, wenn sich der Mensch von jeglicher Form des Verlangens, Sehnens und der Bindungen frei macht, auch wenn sie sich in Form einer Ablehnung oder eines Begehrens äußert. Das ist eine innere Freiheit, die sich auch in der Praxis ausdrücken kann. 190 Der Gedanke des Verschwindens der eigenen Existenz bedeutet daher nicht das Verschwinden der Individualität und zwar deshalb, weil, worauf Meier auch hinweist, das eigene Bewußtsein niemals aufhört. Aus diesem Grund kann es seiner Meinung nach nicht mit dem Begriff »Selbstverlöschung« korrekt wiedergegeben werden. Denn Nasafī suche den höchsten Wert im Menschen selbst. 191

189 190 191

Ebd., S. 180. Ebd., S. 180 f. Vgl. Meier, Das Problem der Natur, S. 161.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

VII. Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit Nasafīs Freiheitsbegriff wirft nun ein Problem auf, das sich vor allem bei der Idee der ästhetischen Betrachtung und der Idee des Schönen bemerkbar macht, sofern wir davon ausgehen, daß man im Islam von der Ästhetik als einem geistigen Erklärungsmodell bzw. einer Erkenntnismethode sprechen könnte. Die Frage ist, ob das Konzept der Freiheit, die Lehre der mystischen Einheit der Liebe und das ästhetische Erleben der Selbstperfektionierung miteinander in Einklang stehen. Nämlich, ob es einen Sinn hat, von Freiheit und Ästhetik zu sprechen und zugleich die Perfektion in Nasafīs Sinne als einen Zustand zu begreifen, in dem angesichts des Konzeptes des Aufgehens in der absoluten Einheit alle Individualitäten und Gegensätze aufgehoben werden. Sowohl bei Ṣadrā als auch bei Nasafī sind die Seinseinheit und Erkenntniseinheit die Stufe, in der die Perfektion vollendet ist. Aus der Einheit der Liebe, die in der mystischen Sprache auch die ontologische Einheit widerspiegelt und die als Bedingung der Perfektibilität angenommen wird, läßt sich ein Verständnis der Ästhetik herauskristallisieren. Zunächst wollen wir darauf hinweisen, daß wir weder in der islamischen Philosophie noch in der Mystik von einer Ästhetik als Erklärungsmodell sprechen können, vielmehr von einer Erklärungshilfe im ontologischen Rahmen. 192 Die wenigen Abhandlungen, die sich in moderner Zeit in der islamischen Welt überhaupt dem Thema Ästhetik gewidmet haben, sind das Ergebnis des Einflusses des wissenschaftlichen Geistes der westlichen Moderne. 193 Die Bedeutung der Ästhetik 192 Generell ist Ästhetik als eine wissenschaftliche Disziplin oder als ein philosophisches Erklärungsmodell eine Entdeckung der modernen Wissenschaftsentwicklung. Im Westen läßt sich diese Entwicklung erst ab dem 18. Jahrhundert deutlich feststellen. Kants »Kritik der Urteilskraft« ist eine der wenigen Abhandlungen, die die Ästhetik zu einer Disziplin der philosophischen Wissenschaft gemacht hat. Zuvor hatte Kant seine »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« noch als ein mehr oder weniger literarisches Werk verfaßt. Aber auch schon vor Kant unternahm die abendländische Kultur beachtliche Versuche, die Ästhetik in ein philosophisches System einzubeziehen. Hierzu zählt das Werk »Aesthetica« von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762). Einige Jahre später hat Johann Georg Sulzer (1720–1797) seine Schrift über die »Allgemeine Theorie der schönen Künste« vorgelegt. Siehe dazu Schneider, Norbert (32002): Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Stuttgart; Ritter, Historisches Wörterbuch, Bd. I, S. 555–581. 193 Beipielsweise versucht Abd al-Fattāḥ Rauwās Qal aǧī in seinem Buch »Prolegomena ʿ ʿ

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Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit

für das Menschenbild und als eine Methode der Selbstwahrnehmung wurde jedoch kaum erkannt. 194 Trotzdem manifestierte sich die Anwesenheit der ästhetischen Wahrnehmung umso stärker im menschlichen Lebensgefühl. Ästhetisches Erleben wurde als Bestandteil der menschlichen Lebensreflexion angenommen. Daher sind in der Geschichte der islamischen Völker die Überlieferung ästhetischer Verhaltensmuster in der Form von Betrachtungen, Wahrnehmungen, ästhetischer Affinität und Kreativität sichtbar. Wir wollen uns hier aber eher mit der ästhetischen Reflexion aus dem Gesichtspunkt der Perfektibilität des Menschen beschäftigen. In der islamischen Mystik eines Nasafī und der Philosophie eines Ṣadrā stellt sich das Schöne als Spiegelung des Ganzen dar. Der Mensch ist aufgrund seiner spezifischen Beschaffenheit in der Welt als Zwischenwesen, das von Natur aus auf Vollkommenheit angelegt ist und diese erst aus eigener Kraft vollziehen muß, das Medium, im dem das sinnlich Unvollkommene und übersinnlich Perfekte zusammentreffen. Der Mensch ist zwar nicht selbst sein eigener Erschaffer, wohl aber Vollzieher und Gestalter seiner Menschwerdung, und er ist bestrebt, sich nach dem Bilde Gottes zu verwirklichen. Die Selbstperfektionierung wird in diesem Sinne nicht anders als ein ästhetischer Akt gesehen. Menschwerdung bedeutet somit perfekt und schön zu werden. Daher betrachten manche muslimische Ästhetikforscher die Kunst als eine spezifische Eigenschaft des Menschen, die von seinem Menschsein aus-

zur islamischen Wissenschaft der Ästhetik« (»Madḫal ilā ʿ ilm al-ǧamāl al-islāmī«) eine Wissenschaft der Ästhetik in der islamischen Tradition nachzuweisen, welche auf Widerstand und auf heftige Kritik Saʿ īd Taufīqs stieß. Siehe Rauwās Qalʿ aǧī, ʿAbd al-Fattāḥ (1411/1991): Madḫal ilā ʿ ilm al-ǧamāl al-islāmī. Beirut; Taufīq, Saʿ īd (1993): Tahāfut mafhūm ʿ ilm al-ǧamāl al-islāmī. Kairo. So bestreitet Taufīq in seinem Buch gänzlich, daß es eine wissenschaftliche Disziplin der Ästhetik in der islamischen Tradition gegeben hat (lā wuǧūda li-mafhūm ʿ ilm al-ǧamāl al-islāmī fiʿ lan wa-imkānan). Ebd., S. 87. Dazu gehört ebenso das Werk »Ästhetik und Kunst aus der islamischen Sicht« von dem schiitischen Philosophen Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī, der sich unter anderen mit philosophischen Konzepten F. W. Hegels und Benedetto Croce auseinandersetzt. Vgl. Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (1982): Zībāʾ ī wa hunar az dīdgāh-i islām. Teheran. 194 Es gibt wohl keinen Zweifel über die Bedeutung der Kunst im Islam. Im Allgemeinen wird darunter vor allem (nach der Ansicht Titus Bruckhardts) »eine Methode, den Stoff zu veredeln« verstanden, und es besteht auch kein Zweifel daran, daß die Kunst, nämlich schöne Werke und Kunstobjekte, in der islamischen Welt gegenwärtig ist. Vgl. Bruckhardt, Titus (21990): Vom Wesen heiliger Kunst in den Weltreligionen. Zürich, S. 148.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

geht, und schreiben dem Menschen eine schöpferische Fähigkeit (afarīnišgarī) zu. 195 Wenn nun hier von einem ästhetischen Erleben gesprochen wird, so läßt sich ein religiöses Erleben implizieren, dessen Rolle in ihren unterschiedlichen Prägungen für ein ästhetisches Selbst- und Weltbild des Menschen entscheidend ist. Mit der Idee der Vollkommenheit und der Erlösung demonstriert man eine bestimmte Art des Selbstwertgefühls, welche eine Selbstdeutung des Menschen mit einem kosmischen Bild verbindet. Es wurde gesagt, daß Ästhetik im avicennischen Denken mit der Ethik einhergeht. Jambet ist der Meinung, daß die Perfektion bei Avicenna gekoppelt ist mit der Schönheit (ǧamāl) und dem Glanz (bahāʾ ). Denn Ordnung und Schönheit bestimmen die Existenz, und die Liebe sehnt sich nach Harmonie, Eintracht und Einheit mit sich selbst. 196 Aus diesem Grund verbindet man die Idee der Perfektion mit einer ästhetischen Wahrnehmung der Existenz, die sich auch im ethischen Sinne sowohl als Ästhetik des Guten als auch als »Ästhetik des Häßlichen« (Karl Rosenkranz) herauskristallisieren läßt. 197 Es geht generell also um eine kontemplative Existenzwahrnehmung, die sich zwischen einer enthüllenden intuitiven Kontemplation und einem immerwährenden Anziehen und Angezogensein bewegt. Hier können wir von einer Ästhetik des Absoluten, die sich aus einer metaphysischen Betrachtung des Seins ergibt, sprechen. 198 Wir können auch im mystischen Sinne von einer Liebesästhetik sprechen. In beiden Fällen darf sie nicht mit der Einsicht oder mit einer »konzeptuellen Wahrnehmung« (tafhīm)

Vgl. Bāvandiyān, ʿAlī Riḍā (1383/2004): Ḥikmat-i hunar-i islāmī. Teheran, S. 87. Jambet, L’acte d’être, S. 127. 197 Siehe dazu die Ansichten von Karl Rosenkranz in Schneider, Geschichte der Ästhetik. Die »Ästhetik des Häßlichen« ist ein Ausdruck für eine Dialektik von Schönem und Häßlichem. »Der Begriff des Häßlichen« gehört demnach »unzertrennlich zum Schönen« wie der »Begriff des Bösen« zur Ethik oder der »Begriff des Unrechts« zur Rechtswissenschaft. »Der Begriff des Häßlichen als des Negativschönen macht also einen Teil der Ästhetik aus«, so Rosenkranz. Wie er weiter schreibt: »Es gibt keine andere Wissenschaft, welcher derselbe überwiesen werden könnte, und es ist also richtig, von der Ästhetik des Häßlichen zu sprechen. Niemand wundert sich, wenn in der Biologie auch vom Begriff der Krankheit oder wenn in der Ethik vom Begriff des Bösen, in der Rechtswissenschaft vom Begriff des Unrechts, in der Religionswissenschaft vom Begriff der Sünde gesprochen wird.« Zitat nach Schneider, Geschichte der Ästhetik, S. 97 f. 198 Jambet, L’acte d’être, S. 149. 195 196

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Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit

verwechselt werden. 199 Man könne dadurch die unmittelbare Erfahrung bzw. den Grad der Vereinigung mit Gott nicht erreichen. Deswegen soll hier keineswegs von einem epistemologischen Vorgang, in dem die Seele in ihrem Erkenntnisakt involviert ist, gesprochen werden. Die ontologische Erklärung beschreibt nur die äußere Einsicht und daher ist hier die Kontemplation nicht eine Form der Wahrnehmung, sondern eine Form der neuen existentiellen Umwandlung. 200 Es geht nämlich, wie Jambet sagt, um eine neue Geburt des Menschen, die sich durch die göttliche Anziehungskraft vollzieht, der er sich in Kontemplation und Praxis völlig hingibt und sich Gott in bedingungslosem Gehorsam unterwirft. In diesem Sinne versteht man die Liebe zunächst als Gehorsam. 201 Aber dieser Gehorsam ist keineswegs mit einem normativen Akt religiöser Gehorsamkeit identisch, an die einige religiöse Orthodoxe und gemäßigte Mystiker denken. Er geht mit einer transzendentalen Erfahrung einher, die ein Bekenntnis zur Seinsordnung ist. Es geht nicht um eine Kontemplation der Existierenden, sondern um ein unmittelbares Miterleben des Seinsaktes. Nasafī spricht daher von der Welt der Allmacht Gottes (ǧabarūt), die das Reich der Liebe ist. 202 Nasafī unterscheidet sich von vielen Mystikern dadurch, daß seine mystische Liebesästhetik nicht den Religionsgesetzen unterworfen ist, sondern dem existentiellen Verlangen und der existentiellen Anziehungskraft. Demnach wird bei ihm die Bewegung (ḥaraka), Liebe (išq) und Leidenschaft (šauq) gleichgesetzt. 203 Für Nasafī bedeutet das, daß der Mensch nach dem Gesetz der Anziehungskraft den Weg einschlägt, der ihn zu der Welt der göttlichen Essenz führt. Nasafī betrachtet diese Bewegung hin zur göttlichen Welt der ǧabarūt als Überwindung der irdischen Welt (mulk) und der himmlischen Welt (malakūt). Im Zustand der Liebe werden beide Formen der Kontemplation, nämlich der sinnlichen und der intellektuellen, ausgeschaltet. Es zählt nur die unEbd., S. 39, 68 ff., 73. Moris beschreibt den Vergleich als den Erkenntnisakt zwischen Gott und Menschen: »For Mullā Ṣadrā, man like God knows of things through the contemplation or intellection (taʿ aqqul) of the intelligible forms (sūrah ʿ ilmīyah) of things in his soul. If God’s knowledge or contemplation of the form of a thing leads to its objective existence, man’s knowledge or intellection of the form of a thing leads to its mental existence (al-wuǧūd aḏ-ḏihnī).« Moris, Revelation, S. 104. 201 Schimmel, Mystische Dimension, S. 192. 202 Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, S. 208. 203 Ebd., S. 247. 199 200

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

mittelbare Kontemplation der Liebe. Liebe ist in Nasafīs Sinne ein Akt der vollkommenen Einheit. Hier herrscht weder Neigung (mail), noch aufrichtige Ergebenheit (irādat), noch eine einfache Liebe (maḥabbat, mögen). Der Begriff, den Nasafī für Liebe verwendet, ist ʿ išq und das bedeutet, daß maḥabbat zunimmt und ihre Vollendung erreicht. 204 Die himmlische Fahrt ist nur möglich, wenn der Mensch sich im Zustand der ʿ išq befindet. Im Zustand der Liebe herrschen völlige Hingabe und die Herrschaft des Geliebten im Herz des Liebenden. 205 In diesem Zustand herrscht die absolute Freiheit, denn das Herz der Liebenden ist frei von allen Formen des Begehrens. In diesem Zustand vergißt der Liebende auch alle Eigenschaften und Namen des Geliebten. Denn nach Nasafī befindet sich dieser Zustand in der Welt der Allmacht Gottes und dort herrschen die vollkommene Einheit und damit auch die Losgelöstheit von allen Neigungen. Im Zustand der Liebe hat alle Neigung ihren vollkommenen Zustand erreicht. Dieser Zustand ist ein Zustand der Reinheit, d. h. rein und frei von allem. Die wahre Liebe setzt nach Nasafī die Freiheit von allen Beschreibungen und Abhängigkeiten und Eigenschaften voraus. Auch wenn die Liebe unterschiedliche Grade haben kann (ʿ išq-i maǧāzī, allegorische Liebe), die wahre Liebe (ʿ išq-i ḥaqīqī) ist frei von jeder Veränderung. Die Welt der Einheit ist für Nasafī die Vereinigung der Liebenden mit dem Geliebten und was man in diesem Zustand sieht, empfindet, wahrnimmt usw. geschieht nur durch die Augen des Geliebten, der das Herz der Liebenden vollkommen erobert hat. Daher widerspricht Nasafī denjenigen Mystikern, die die Liebe als eine Verbrennung der Liebenden sehen und die sich in eine feine Form des geistigen Zustandes verwandelt, in dem im Vergleich zu der körperlichen Welt eine geistige Aufmerksamkeit herrscht. »Wenn die Schönheit des Geliebten vollständig das Herz der Liebenden umfaßt hat, so daß nichts darin (im Herz) eindringen kann, so sieht der Liebende sich selbst nicht mehr, sondern nur den Geliebten. Es gibt eine Veränderung, wenn es zwei Personen geben würde, oder es gibt eine Aufmerksamkeit, wenn zwei Personen vorhanden wären. [Da nur eine Person vorhanden ist,] hebt sich in diesem Zustand (Liebe) jede Forderung und Suche auf, existiert keine Trennung und Erlangung und verschwinden Angst, Hoffnung, Verdichtung und Expansion.« 206 204 205 206

Dazu siehe auch Schimmel, Mystische Dimension, S. 200. Nasafī, Kitāb al-Insān al-kāmil, S. 159 f. Ebd., S. 163.

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Das ästhetische Erleben und die Vollkommenheit

Nasafī mischt hier zwei Formen des Liebesverständnisses der mystischen Tradition im Islam, in dem er die individuelle persönliche existentielle Erfahrung mit der Idee der Vollkommenheit verbindet. Denn sie wird einerseits als eine Art »Wachstumskraft« verstanden, die, wie Schimmel sagt, jedem Menschen hilft, seine angelegten Möglichkeiten zur Vervollkommnung zu entwickeln, 207 andererseits als ein Zustand der vollständigen Freiheit. Bereits Nasafī entwickelte einen Gedanken, auf den sich Ṣadrā berufen konnte. Denn nach dem Konzept der substantiellen Bewegung, die sich nach dem Prinzip der Liebe fortbewegt, ist als Ziel der Bewegung vorgesehen, daß sie sich mit dem Urzustand vereint. Der Mensch wird nach den Naturschilderungen Nasafīs, die Meier sehr ausführlich behandelt hat, 208 als Herz der Existenz verstanden. 209 Durch Liebe entsteht die Welt und durch Liebe bewegt sich alles hin zu seinem Ursprung. 210 Mit der Erlangung dieses Ursprunges ist in seiner Weltsicht ein kosmogenetisches Eros, ein willentlicher und bewußter sowie ein ästhetischer Akt verbunden, weil Nasafī, wie auch Meier betont, das Menschsein unter dem Aspekt des selbstbewußten Vernunftwesens thematisiert und daher dem Menschen zu einem gewissen Grad den Anstoß und die Richtung zur Vervollkommnung gibt. 211 Mit der allgemein herrschenden Bewegung hat der Mensch seine eigene Kraft. Liebe und Wille sind die treibenden Kräfte, unter denen der Mensch die Erwachsenheit und Freiheit erlangen kann. Denn »alle sind voll Liebe nach sich selbst, streben danach, sich selbst schauen zu wollen; sich so, wie sie wirklich sind, zu sehen und den Geliebten dem Blicke des Liebenden zu entschleiern.« 212 Dieses bewußte Vollkommenheitsstreben hat nach Meier eine moralische Komponente, und unseres Erachtens auch eine ästhetische Bedeutung, es hat aber auch die Bedeutung eines spirituellen Unternehmens als Streben nach Gott. In diesem Freiheitszustand erweist sich selbst jede Äußerung der Liebe für Nasafī als Unvollkommenheit des Liebenden. Denn nach seinem ontologischen Konzept ist der Liebende und Geliebte ein und der-

207 208 209 210 211 212

Vgl. Schimmel, Mystische Dimension, S. 201. Vgl. Meier, Das Problem der Natur, S. 149–277. Ebd., S. 210 f. Ebd., S. 218. Ebd., S. 218. Ebd., S. 219.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

selbe und im Seinsakt spiegelt sich die Welt des Dualen und der Gegensätze nur als Erscheinung, die nach Einheit verlangt. Daher steht das Konzept der Liebe bei Nasafī vollkommen mit seiner Ontologie und seinem Freiheitsverständnis in Einklang. Für ihn ist Perfektion, Liebe und Freiheit eine Einheit. Insofern ist die ästhetische Wahrnehmung bereits ein Bestandteil des Strebens nach Vollkommenheit und Freiheit. In diesem Sinne stellt sich die Frage, in welcher Form wir von einem ästhetischen Erleben sprechen können, wenn die Perfektion in Nasafīs Sinne ein Zustand jenseits der sinnlichen oder der intellektuellen Kontemplation ist. Können wir nach diesem Konzept überhaupt von einer religiösen Ästhetik sprechen oder von einer ästhetischen Erziehung? Oder geht es vielmehr um eine Art der Perfektion, in der die Ästhetik ihre Funktion in sich hat und keineswegs als Bedingung der spirituellen Anschauung fungiert?

VIII. Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät Vom reinen Begriff her gesehen, bedeutet griech. »aisthesis« Wahrnehmung und Empfindung, was zunächst auf die reine Sinnlichkeit hinweist. Daher verbinden manche Denker das Schöne mit dem, was sinnlich affiziert ist, ganz gleich, ob es sich dabei um eine menschliche Gestalt, einen Naturgegenstand oder ein Kunstobjekt handelt. Im Geist der sadraischen Existenzphilosophie ist die Idee des Schönen und des Guten keineswegs sinnlich. Das Schöne und das Gute sind Eigenschaften des Seinsaktes, die sich auf die Existierenden auswirken. Daher hat der Mensch von seiner Existenz her eine Idee vom Schönen und Guten. Da die Welt sich zugleich aufgrund der Manifestation und Vielschichtigkeit in unterschiedlichen Existenzstadien befindet, spiegeln sich neben dem Schönen und Guten auch das Häßliche und das Böse. Deshalb ist sich Ṣadrā bewußt, auch wenn er keine Zufälligkeit eines ästhetischen Erlebens zugeben würde und die Ordnung der Existenz für schön und vollkommen hält, daß die ästhetischen Urteile der Veränderbarkeit und der Relativität einem ästhetischen Erleben ausgesetzt sind und auch im Bereich des Moralischen gelten. »Daher sind die Forderungen [Wünsche] und die Willensakte unterschiedlich und das leidenschaftliche Verlangen und die Bewegungen [Handlungen] mannigfaltig. Daher werden einige gemäß ihrer Anlage

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

von etwas angezogen, wovon die anderen sich abwenden, oder es empfindet einer etwas für schön [gut], was ein anderer als abscheulich erklärt.« 213

Für die Ästhetik, die sich aus der ontologischen Betrachtung eines Ṣadrā ableiten läßt, scheint eher der mittelalterliche Begriff »pulchritudo« zuzutreffen. Denn mit diesem Terminus bezeichnet man eine Ästhetik, die der Vorstellung einer Harmonie und eines Gleichgewichtes im Kosmos entspringt. Darauf weist auch Ṣadrās Darstellung des schöpferischen Aktes hin. Die Existenzphilosophie Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs orientiert sich an einer Vorstellung, in der die Schöpfung nach Zweckmäßigkeit und Gleichgewicht der Existenz beurteilt und im antiken Sinne als ein harmonisches Gebilde betrachtet wird: »Dann schuf er zuerst die Schöpferwelt [ʿ ālam al-amr, den Bereich des Befehls] durch das Wort und die Rede. Dann machte er intelligible Worte [kalimāt ʿ aqlīya, intellekthafte Worte] in höchster Würde und Vollständigkeit [zum Existieren] notwendig. Darauf brachte er durch seinen höchsten Befehl das Buch der Schöpfung und der Bestimmung mit der Feder der Weisheit und Formgebung hervor, ein Buch, das von höchster Vorzüglichkeit und Genauigkeit und äußerer Schönheit und Vollständigkeit ist. Dann schuf er den Himmel und die Erde und [alles], was zwischen ihnen ist, in sechs Tagen. […] ›Und in jedem Himmel gab er Weisung über das, was darin geschehen sollte‹ [Koran 41/12], um die Seelen mit Begehren zu erfüllen und die Körper in Bewegung zu setzen. ›Daraufhin setzte er sich auf den Thron der Barmherzigkeit zurecht‹ [Koran 25/59], um die Ordnung zu lenken und die Existenzen [akwān] und Menschen zu erschaffen. Dann schrieb er mit der Tinte der fließenden und sich essentiell erneuernden Natur [bi-midādi ṭ-ṭabīʿ ati s-sayyālati l-mutaǧaddidati bi-ḏ-ḏāt] ein anderes Buch auf die Tafeln der Quantitäten [al-aqdār, wörtl. Maße, Mengen oder göttliche Vorherbestimmungen] und der Ausdehnungen [al-abʿ ād, Dimensionen] und [auf] die Blätter der Körper und Stoffe, die aufhebbar und vergänglich sind, und formte die Seienden [al-kāʾ ināt, die geschaffenen Dinge] aus dem Einfachen und Zusammengesetzten, den Himmeln und den Elementen, all dies [tat er] in Form der Auslöschung [al-maḥw] und des Bestehens [al-iṯbāt, Aufzeichnung].« 214 Aš-Šīrāzī, Šarḥ uṣūl, Bd. I, S. 194. Diese eine Art der dialektischen Betrachtung der Ästhetik kann mit einer »Ästhetik des Häßlichen« (Karl Rosenkranz) überhaupt nicht in Zusammenhang gebracht werden. Eine Dialektik der Ästhetik trifft möglicherweise eher auf die ästhetische Wirkung der Offenbarung zu, falls man von einer solchen Ästhetik ausgehen kann. 214 Aš-Šīrāzī, Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 2 f. Die Übertragung dieser Zeilen orientiert sich an der Übersetzung ins Deutsche von Talgharizadeh, Die Risāla fī l-ḥudūṯ, S. 33 f. Der Begriff 213

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Diese Zweckmäßigkeit hat mystische Züge: Sie ist verknüpft mit der Liebe, aus der die Welt entstanden ist und zwar im Sinne der Überlieferung, auf die wir bereits einmal eingegangen sind. Diese lautet: »Ich war ein verborgener Schatz. So wollte ich erkannt werden, so habe ich die Geschöpfe [Menschen] [al-ḫalq] erschaffen, um erkannt zu werden« (kuntu kanzan maḫfīyan fa-aḥbabtu an uʿ rafa fa-ḫalaqtu al-ḫalq likai uʿ rafa). Ṣadrā verbindet die Schöpfung des Menschen mit einer Art Liebe, die eine Anziehungskraft darstellt, wodurch der Mensch den Anblick göttlicher Schönheit anzuschauen bestrebt ist und daher auch die Gotteserkenntnis erlangt. 215 Liebe (ʿ išq) und leidenschaftliches Begehren (šauq) sind auch für Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī Veranlagungen, die Gott in allen Wesen verankerte und anhand derer der Mensch nach Vollkommenheit strebt. 216 Während Rūzbihān Baqlī Šīrāzī (q522–606/1128–1209) aus der mystischen Sicht von der Liebe als essentiellem Attribut Gottes spricht, worauf wir noch kommen werden, macht sie Ṣadrā zum Prinzip der Existenz, was nichts anderes bedeutet, als sie dem Sein als eine essentielle Eigenschaft zuzuschreiben. Solange man die geistige Transzendentalität bzw. eine Stufe der Vollkommenheit nicht erreicht hat, wird die Liebe vom leidenschaftlichen Verlangen begleitet. Daher hat, Ṣadrā zufolge, jedes Wesen eine ihm angeeignete Form der Liebe, die auch mit einer bestimmten Art des Begehrens verbunden ist. Doch alles bewegt sich aufgrund dieses Verlangens und dieser Liebesanlage zum Ursprung hin. In der Einheit ist Gott selbst Objekt und Subjekt der Liebe. Diese Selbstliebe ist die Existenzfülle, ein Verhältnis, das die Existenz zum Nichtsein hat (vgl. Kapitel zur Ontologie). Das Sein ist gut (ḫair), bewirkend (muʾ aṯṯir) und entzückend (laḏīḏ, wohlschmeckend). Dagegen ist das Nichtsein böse (šarr), häßlich (karīh) und das, wovor man fliehen muß (mahrūb ʿ anhu). 217 In Ṣadrās Liebesontologie, der er einen kleinen Teil seines Hauptwerkes widmet, läßt sich die Liebe als natürliches Element des Daseins begreifen, genauer gesagt, als das Prinzip des Daseins, das sich dem »Aufzeichnung«, den Talgharizadeh für den arabischen Begriff iṯbāt ausgewählt hat, trifft hier meines Erachtens nicht zu. Der Begriff iṯbāt wurde dem koranischen Vers 13/ 39 entnommen. In diesem Sinne habe ich die Übersetzung »Bestehen« der »Aufzeichnung« vorgezogen. 215 Aš-Šīrāzī, Mafātīḥ, S. 293. 216 Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VII, S. 148. 217 Ebd., S. 148 f., 158 f.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

Nichtsein entgegensetzt. Liebe bedeutet demnach Existenzbejahung und Existenzbewahrung, beim Menschen auch eine leidenschaftliche willentliche Existenzbejahung. Liebe bedeutet für Ṣadrā die Kontinuität der Entstehung: Ohne Liebe keine Entstehung. 218 Wo Leben, Wille und Bewußtsein herrschen, dort herrschen unweigerlich Liebe und Verlangen. In der Existenzphilosophie Ṣadrās befindet sich die Liebe gemäß seiner Ontologie in einem Prozeß, der sich in einer Hierarchie der Verwandlung ausdrückt. Auch der aristotelische Hylemorphismus wird hier für seine existentialistische und transzendentale Liebesweisheit erkennbar. 219 »[A]lso liebt jede Person die Existenz [jeder ist in die Existenz verliebt], sucht die Vollkommenheit der Existenz und flieht vor dem Nichtsein und der Unvollkommenheit [Mangelhaftigkeit]. Alles, was [danach] verlangt [gewünscht] wird, kann durch seine Vollendung und Vollkommenheit [Vervollkommnung] bewahrt und in Kontinuität gesetzt werden. Denn die Wirkung kann nicht beständig sein außer durch ihre Ursache [außer daß sie durch ihre Ursache immer wieder in Gang gesetzt wird], da diese ihre Vollendung und Vervollkommnung ist. Keine Wärme kann ohne eine Wärme, die stärker ist als jene, bewahrt werden und beständig sein. Kein Licht kann sich ohne ein Licht, das stärker ist als jenes, vervollkommnen. Das unvollkommene [mangelhafte] und unsichere Wissen kann nicht vollendet sein, ohne daß es zu einer beständigen Gewißheit wird, und es wird nicht aufgehoben außer durch einen rationalen Beweis. Also jedes unvollkommene Existierende kann nicht vollkommen werden, außer durch das, was stärker ist als es selbst. […] Daher wird die Hyle nicht vollendet außer durch ihre Form und die Form nicht außer durch ihren Formverleiher und die Sinne werden sich nicht vollenden außer durch die Seele und die Seele wird nicht vollendet außer durch die Vernunft und der Intellekt kann nicht beständig sein ohne das notwendige Sein […].« 220

Dem Prinzip existentieller Vielfalt und Hierarchie folgen die Formen der Liebe. Wie Ursache und Wirkung gibt es für Ṣadrā unermeßlich Liebende und Geliebte. Die Liebe kann daher auch »materiell«, »animalisch«, »geistig«, »seelisch« und »sittlich« sein wie die Liebenden und Geliebten. Auch innerhalb jeder Gattung herrschen unterschiedliche Ebd., S. 160. Die Natur untersteht der Form und diese dem Formverleiher, die Fülle vollendet sich durch die Seele und diese durch den Intellekt und der Intellekt durch das notwendige Sein (wāǧib al-wuǧūd), nämlich Gott. 220 Ebd., S. 149 f. 218 219

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Formen der Liebe. Liebe ist das Maß der Entstehung, der Veränderung und der Fortentwicklung der Existenz. Je stärker die Liebe ist, desto vollkommener ist die Existenz. Daher entspricht das Verhältnis zwischen den Liebenden und den Geliebten dem Verhältnis der Gnade zur Armut. Der Liebende sehnt sich nach der Liebe und wird von ihr angezogen und von dem Geliebten strahlt die Liebe aus. Je mehr der Liebende von dieser Liebe hat, desto geringer ist seine Mangelhaftigkeit und Armut an der existentiellen Fülle. Die Vollkommenheit bedeutet damit den existentiellen Selbstvollzug. Wenn man die höchste Form des Lebens erreicht, gewinnt man eine Existenzfülle, die das Ziel des vollkommenen Menschen bildet. 221 Ṣadrās Lehre der substantiellen Bewegung ist daher nichts anderes als die Fortbewegung alles Seienden hin zum vollkommenen Seinszustand, 222 wobei die Liebe neben der Zeit – diese ist ein quantitatives Maß der Bewegung – als das essentielle Maß der Bewegung betrachtet werden kann. Liebe heißt demnach angezogen sein vom höheren Existenzvollzug. Obwohl Ṣadrā der Liebe eine Art Existenzhermeneutik verleiht, achtet er darauf, die Bedeutung der Schönheit für die Liebe nicht zu vernachlässigen. Liebe hat verschiedene Motive. Nach Ṣadrā kann man auch Menschen aufgrund ihrer äußeren Schönheit lieben. Er beschreibt die Betrachtung der menschlichen Schönheit, die aus der Liebe zur Schönheit entsteht, und die nicht in einer animalischen Form übertrieben wird, keineswegs als verwerflich. 223 In der menschlichen Schönheit, wie in der Schöpfung insgesamt sieht Ṣadrā die Möglichkeit, die Schönheit Gottes zu betrachten. Somit tragen die Ästhetik und Liebe nicht nur ihre Funktionen bezüglich der Perfektibilität in sich, sondern sie stehen auch als Bedingung und Mittel des spirituellen Erlebens. Für Ṣadrā gibt es daher drei Arten von Liebe: Die größte (al-akbar), die mittlere (al-ausaṭ) und die kleinste (al-aṣġar). Die erste ist die göttliche Liebe, die nur von den Vollkommenen ausgeht. Die zweite ist die Liebe der Gelehrten, die die Welt und die Geschöpfe Gottes betrachten. Die dritte ist die Liebe des kleinen Menschen, denn sie ist nur das Abbild des Makrokosmos. 224 Die Selbstbetrachtung bzw. die Selbstliebe ist daher eine ästhetische Innenwendung, die einer Zuwendung zur 221 222 223 224

Ebd., S. 169 f. Ebd., S. 171. Ebd., S. 173 f. Ebd., S. 183 f.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

Welt im Ganzen gleichkommt. Nach dem Motto: Man wird dem ähnlich, den man liebt. Was man daher im Menschen als Liebe bezeichnet, ist ein Abbild der wahren Liebe. Der Mensch als Mikrokosmos ist zwar keineswegs Ebenbild Gottes dem Wesen nach, wohl aber der Gestalt nach. 225 Er trägt die Liebe in sich und auch die Welt im Ganzen. Sein, Wissen und Liebe sind in Gott eine Einheit. Da die Welt die Widerspiegelung der göttlichen Gestalt ist, so heißt es in der Formulierung Ṣadrās, ist die Welt die Widerspiegelung der göttlichen Schönheit (fa-lʿ ālamu ǧamālu llāh). »Wenn man die Welt nur aus dieser Sicht liebt, so liebt man nur die Schönheit Gottes.« 226 Die Welt ist ein Kunstwerk Gottes und die Schönheit eines Werkes geht, Ṣadrā zufolge, nicht auf das Werk zurück, sondern auf die Schönheit des Künstlers. Diese Identifikation der Schönheit des Gottesentwurfes mit dem Entwerfer selbst impliziert im Kern ein ästhetisches Selbstbild, das die Idee einer vollkommenen Schönheit in sich trägt. Der Mensch als Mikrokosmos spiegelt daher auch den Makrokosmos wider und trägt in seinem Wesen göttliche Attribute. Damit sich der Mensch von der allegorischen Liebe nicht aufhalten läßt, soll er sich von der äußeren Welt der inneren Welt zuwenden. Durch »geistige Übung«, d. h. durch die Erkenntnis und Betrachtung des Ewigen, aber auch durch die Seelenpädagogik kann sich der Mensch innerlich wandeln. Es ist für ein vernunftbegabtes Wesen verwerflich, sagt Ṣadrā, ein animalisches Wesen zu bleiben, obwohl es ihm möglich ist, ein Mensch zu werden, und Mensch zu bleiben, obwohl es ihm möglich ist, ein Engel zu werden. 227 Der Seele kommt daher, wie wir bereits dargestellt haben, eine schöpferische Kraft zu, sich sowohl intellektuell als auch sittlich-ästhetisch zu gestalten. Während Gott die schöpferische Fähigkeit seinem eigenen Wesen verdankt und er in der Lage ist, die Dinge aus dem Nichts zu erschaffen (ibdāʿ ), wie wir bereits bei der Behandlung von Wir haben bereits oben aus der von ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī erwähnten Überlieferung erfahren, daß Gott sogar gerne als eine Gestalt in der menschlichen Form gesehen wird. Ähnliches sehen wir bei Rūzbihān Baqlī Šīrāzī. Er bezieht sich mehrfach in seinem Buch »Kitāb ʿAbhar al-ʿ āšiqīn« auf eine Überlieferung, in der der Prophet Gott in einer schönen Gestalt sah (raʾ aitu rabbī fī aḥsan ṣūra). Baqlī Šīrāzī, Rūzbihān: Kitāb ʿAbhar alʿ āšiqīn. Hrsg. v. Henry Corbin u. Muḥammad Muʿ īn (31366/1987). Paris u. Teheran. S. 74, 92, 128 f. 226 »fa-man aḥabba l- alama bi-hāḏā n-naẓar faqaṭ fa-mā aḥabba illā Ǧamāla llāh«. ʿ Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. VII, S. 182. 227 Ebd., S. 191. 225

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Ṣadrās Ontologie erfahren haben, ist die Seele als Ebenbild Gottes in der Lage, Bilder und Formen herzustellen (ḫalq bzw. īǧād), die bereits als intelligible Natur von Gott erschaffen wurden. 228 Dieser Gedanke geht auf die Unterscheidung zurück, die Ibn Sīnā in seinem Werk »al-Išārāt wa-t-tanbīhāt« vorgenommen hat. Die »Erschaffung aus dem Nichts« (ibdāʿ bzw. inšāʾ ) ist daher allein die Sache Gottes. Da die Schöpfung bei Ṣadrā nicht auf einmal geschieht und die Welt nach dem Prinzip der substantiellen Bewegung und der Idee der Vollkommenheit einem allmählichen Prozeß unterworfen ist, sind an dem Prozeß der Schöpfungstätigkeiten zwangsläufig andere Faktoren und Elemente beteiligt, die jedoch ihre schöpferische Kraft Gott verdanken. Hierbei werden Engel, Seelen, Himmelskörper und Menschen genannt. Die schöpferischen Tätigkeiten des Engels nennt Ṣadrā »Gestaltung« (takwīn, Erschaffung, Formung) und auch zum Teil »Disponierung« (tadbīr), womit der Vervollkommnungsprozeß vorbereitet werden kann. Ebenso haben die kosmischen Elemente eine schöpferische Wirkung (tasḫīr, Unterwerfung). Der Mensch ruft mit seinen Werken (ṣanāʿ ) Existenzen hervor. In der sittlichen und intellektuellen Selbstgestaltung ist die Seele jedoch auf Askese und Erkenntnisse angewiesen, die er erst erweben kann, wenn er sich von der materiellen Begrenztheit und Vergänglichkeit frei macht. Das angestrebte geistige Entzücken ist Spiegel der bereits angesprochenen inneren ästhetischen Reflexion. Wissen wird häufig als Mittel oder als eine Eigenschaft betrachtet, womit man sich des wahren Genusses und der eigenen inneren Ästhetik bewußt wird, wie es auch Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī formuliert: »Alle diese [Dinge existieren] aufgrund des Überflusses des Entzückens am Wissen und an dem, was als wahre Vollkommenheit empfunden wird [dessen man sich als wahre Vollkommenheit bewußt wird], da das Wissen eine der spezifischsten göttlichen Eigenschaften und Endziel der Vollkommenheit [muntahā al-kamāl] ist. Siehst du nicht, welche Freude der Mensch hat, wenn man ihm wegen seiner Intelligenz und des Überflusses seines Wissens Anerkennung ausspricht, denn er wird sich im diesem Moment [dabei] der Schönheit seines Wesens und der Ästhetik seiner Seele bewußt. Das ist eine Schönheit, die ewig und immer mit ihm ist. Daher bewundert er seine Seele und hat Genuß an ihr.« 229

228 229

Ebd., Bd. I, S. 264 f. Aš-Šīrāzī, Ṣadr ad-Dīn: Tafsīr sūrahhā-yi ṭāriq wa aʿ lā wa zilzāl yā ǧilwahā-yi ḫilqat.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

Wissen ist das, was zu der inneren Ästhetik des Menschen beiträgt. Ṣadrā meint, so wie die äußere Gestalt des Menschen, um schön zu sein, auf die äußere Harmonie aller Glieder angewiesen ist, so hängt die innere Ästhetik des Menschen von Faktoren ab, ohne deren Schönheit der Mensch keine innere Schönheit erlangen könne. Nur bei Vorhandensein dieser Faktoren würden auch die Weisheit (ḥikma) und die Freiheit (ḥurrīya), die für ihn zu den wichtigsten Eigenschaften des Menschseins gehören, nicht eintreten. Es sind die Vermögen des Wissens, des Jähzorns, der Begierde und der Vernunft, aus deren Ausgewogenheit die Kardinaltugenden entspringen, die Ṣadrā als Bedingung für die innere Ästhetik betrachtet. 230 Das geistige Entzücktsein entspringt nicht der reinen formalen Wissenschaft. Das Wissen soll zu einem Grad erhoben werden, der mit dem Sein identisch wird. Wie das Sein ist die intellektuelle Ästhetik für Ṣadrā die wahre Glückseligkeit und das höchste Gut. Der Genuß jeder Stufe des Seins geht einher mit der Wahrnehmung dieser Stufe und dem in ihr liegenden Grund. Denn die Vollkommenheit des Wissens ist das existentielle Bewußtsein dessen, was es ist. Das ist die Glückseligkeit, die jedes Wesen nach dem Grad seines Seins wahrnehmen kann. Der wahre Genuß ist damit für Ṣadrā ein geistiger, welcher in der Einheit mit dem Intellekt steht. Mit der Wahrnehmung der geistigen Formen (aṣ-ṣuwar al-ʿ aqlīya) vervollkommnet sich der menschliche Intellekt, und zwar dadurch, daß er mit deren Essenz identisch wird. Dieses höchste existentielle Bewußtsein ermöglicht die Schau des Glanzes (al-bahāʾ ) und der Schönheit (al-ǧamāl) in seinem Wesen und erfreut und entzückt ihn im höchsten Grad seines Wesens. 231 Diese durch die innere ästhetische Selbstwahrnehmung hervorgerufene Selbstliebe ist für Ṣadrā die höchste Form des intellektuellen Entzücktseins. Das ist, wie bereits erwähnt, die Schau der Schönheit des Höchsten in seinem Wesen und die mit ihr hervorgerufene ästhetische Selbstwendung. Denn der Keim der Schau ist für Ṣadrā die Erkenntnis (almaʿ rifa baḏr al-mušāhada) 232, und die Erkenntnis ist im philosophischen Sinne die geistige Schau der Dinge, wie sie wirklich sind, und Arabisch-persischer Text. Hrsg. u. übers. v. Muḥammad Ḫwāǧawī (21377/1998). Teheran, S. 212. 230 Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. IX, S. 88. 231 Ebd., S. 122 f. 232 Ebd., S. 123.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

diese geschieht, wenn man die Seele von Unreinheiten und häßlichen Eigenschaften frei gemacht hat, damit sie ihre wahre Schönheit durch die Widerspiegelung des Schönen betrachten kann. In diesem Zustand ist die Seele frei von der materiellen Welt und ist in ihrem Wesen autark. »Also, die Glückseligkeit der Seele und ihre Vervollkommnung ist das unabhängige materiefreie Sein und die Vorstellung des Intelligiblen und das Wissen des wahren Wesens der Dinge, wie sie sind.« 233

Durch die Kraft der Liebe, die sich zum Absoluten und Perfekten hingezogen sieht, hat die Seele die Möglichkeit, sich eine neue bzw. eine ursprüngliche Identität, nämlich die geistige Identität, herzustellen. Dadurch kann es dem Menschen gelingen, sich wieder dem Gottesentwurf anzugleichen und sich die geistigen und ewigen Attribute anzueignen. Mit Liebe bekommt der Mensch eine kreative und dynamische Kraft und den Willen zur Perfektion, die in der Welt allgemein und im Menschen in besonderer Weise vorhanden sind. Das ist in der Tat eine »cosmic love«, unter deren Wirkung das menschliche Leben eine eigene Form erhält. 234 Denn der Mensch muß sich der Liebe öffnen und sich der Dynamik des Seins durch eine fortwährende pädagogische Askese und Selbststeigerung anschließen, bis er den höchsten Seinsvollzug erlangt hat. Dieses gottesbezogene Selbstbild des Menschen ist die anthropologische Bedeutung der Ästhetik, die in der islamischen Mystik noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Denn in diesem Selbstbild ist die Bedeutung verankert, daß der Mensch sein Menschsein dem inneren Empfinden, dem intellektuellen Genuß und dem geistigen Entzücken verdankt und nach dem Bilde Gottes seine Person und seine Welt bildhaft impliziert. Die Mystik könnte sich daher als eine besondere »Wissenschaft und Kunst« bewähren. Noch besser wäre hier, wir würden nicht von einer Wissenschaft sprechen, sondern sie vielmehr als eine ästhetische Erlebensform betrachten, die das eigene Selbstbild in Harmonie mit dem Erhabenen und dem Vollkommenen zu bringen versucht. Mit ihr, mit der Ethik und den sittlichen Prinzipien kann man auf schöne Weise denken, die Seele zur vollen ästhetischen Entfaltung zu bringen und seine Person in vereinter Perfektion zu vollenden. Mit 233 234

Ebd., S. 128. Açikgenç, Being and Existence, S. 89.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

einer solch »schönen Wissenschaft« werden gleichsam »der ganze Mensch« belebt und Wege frei gemacht, worauf »die Wahrheit ihren Einzug in die Seele halten kann« (G. F. Meier). 235 Die ästhetische Erfahrung der Schönheit und dem Schmuck der Schöpfung hat ein unermeßliches Lust-, Freude- und Glücksempfinden zur Folge. Die Erfahrung dieser ästhetischen Dimension kann für den Menschen möglich werden, wenn er sich seines eigenen Wesens bewußt wird und vor allem, wenn er die unermeßliche Ästhetik des ersten Wesens in Relation zur eigenen Selbstwahrnehmung und Lustempfindung setzen würde. Die ästhetische Wirkung, die zum Beispiel al-Fārābī der Vielfalt der Existenzen zuschreibt, steht somit in direkter Verbindung mit der Selbst- und Weltwahrnehmung. Die Kontemplation des Daseins setzt die Selbstliebe voraus. 236 Diese farabische Ästhetik der Existenz und Selbstwahrnehmung steht dem Konzept Ibn Ṭufails nahe, der durch seine Romanfigur »Ḥayy bin Yaqẓān« die Ästhetik der weltlichen Erscheinung mit der wahren Schönheit des Seins verbindet. Es geht in diesem philosophischen Roman um eine Umwandlung der sinnlichen und intellektuellen Kontemplation in eine geistige Innenwendung, durch die sich das ästhetische Erleben der Natur als eine Vorstufe der intellektuellen Freude und der Wertschätzung des Daseins darstellt. Mit Ḥayy bin Yaqẓān werden wir auf eine beschauliche Existenzfülle aufmerksam, die in ihrer Vollkommenheit und Schönheit von Ibn Ṭufail als Werk Gottes dargestellt wird. Die Bewunderung, die Ḥayy bin Yaqẓān für das Werk Gottes ausspricht und mit der er Gott dafür preist, daß dieser allen Dingen und Geschöpfen Zweckmäßigkeit, Weisheit, Harmonie und existentielle Erfüllung einprägte, zeigt das ästhetische Moment einer geistigen Innenwendung. In der Natur und im kosmischen Leben versinkt der Mensch und wird von einer vollkommenen Lebenskraft beRitter, Historisches Wörterbuch, Bd. I, S. 558. »Denn es ist klar geworden, daß die Essenz [ḏāt] der ersten Ursache [der Erste] sich selbst mag, liebt und bewundert. Das ist die Art der Liebe und Bewunderung, die in demselben Verhältnis steht, wie das Entzücken an der Vorzüglichkeit [Würde] unserer Essenz, das für uns entstehen würde, wenn es genauso wäre, wie ihre essentielle Vorzüglichkeit und Vollkommenheit [die Würde und Vollkommenheit der ersten Essenz] sich zu unserer Vorzüglichkeit und Vollkommenheit, die die Ursache unserer Selbstbewunderung ist, verhält. Der Liebende und die Geliebte, der Bewundernde und die Bewunderte bezüglich der ersten Essenz ist ein und dasselbe [eine Einheit]. Sie [die erste Essenz] ist das Erstgeliebte und das Erstliebende.« Vgl. al-Fārābī, Abū Naṣr, Siyāsa madanīya, S. 99.

235 236

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

rührt. Er entdeckt im Schönen das Erhabene und das Vollkommene und im Vollkommenen das Schöne. In ihr sieht er die Einheit, die Weisheit und die Schönheit Gottes, die alles durchdringt. In diesem Schönheitserlebnis des Göttlichen kommt ein Moment der Selbst- und Weltwahrnehmung zum Ausdruck. »Sooft er [Ḥayy] etwa Seiendes betrachtete, das Güte [ḥusn, auch Schönheit], Pracht [bahāʾ ], Vollkommenheit [kamāl], Macht [quwwa] oder sonst irgendeine edle Vorzüglichkeit [faḍīla min faḍāʾ il, Tugend von den Tugenden] besaß, dachte er nach und erkannte, daß sie alles durch ein Ausströmen von diesem Urheber [faiḍ, Gnade, Emanation, Überfluß] war, von jenem frei bestimmenden Bewirkenden [al-fāʾ il almuḫtār, gemeint ist Schöpfer] – erhaben sei seine Pracht – und durch Sein Dasein [min wuǧūdihi] 237 und Sein Wirken, und er erkannte, daß alles, was ihm zukam, seinem Wesen nach mächtiger, vollkommener, vollendeter, besser, glanzvoller, schöner und dauerhafter war als beim geschaffenen Seienden […].« 238

In diese Tradition kann man auch die Betrachtung Šihāb ad-Dīn Suhrawardīs einordnen, der seine Lichtmetaphysik als ästhetischen Ausdruck des Seinsaktes sieht. In seinem Fall ist es jedoch treffender, wenn wir von einem »Lichtakt« sprechen, denn für Suhrawardī ist das ästhetische Erleben ein Produkt des absolut schönsten Wesens, nämlich des Lichts der Lichter. Da alle anderen Lichter ihr Strahlen von ihm haben, haben sie auch ihre Schönheit von ihm. Bei Suhrawardī spielt die Ästhetik jedoch eher die Rolle einer inneren Funktion der kosmischen Erscheinung, die auf das perfekte Wesen des Urlichtes zurückgeht. »Es gibt kein Entzücken außer dem Bewußtsein der aktuellen Vollkommenheit, in Anbetracht dessen, daß es [das Licht der Lichter bzw. das Wesen des Lichtes] die Vollkommenheit ist und aktuell [ḥāṣil, wörtl. vorkommend, Resultat] ist. Derjenige also, der sich der Aktualität der Vollkommenheit nicht bewußt ist, kann nicht entzückt sein. Jedes Entzücken ist für den Entzückten [Genießenden] im Rahmen seiner Voll237 Im Exemplar von Fārūq Sa d steht statt min wuǧūdihi das Wort min ǧūdihi. Es könnʿ te ein reiner Druckfehler sein. Ansonsten muß min ǧūdihi mit »durch Seine Freigebigkeit« übersetzt werden. Siehe Ibn Ṭufail, Ḥayy ibn Yaqẓān, S. 176 f. Die deutsche Übersetzung von Otto F. Best basiert offensichtlich auf einem Exemplar, in welchem statt min ǧūdihi das Wort min wuǧūdihi vorkommt. Daher übersetzt er mit »der Wirkung seines Seins«. Siehe Ibn Ṭufail (1987): Der Ur-Robinson. Übers. v. Otto F. Best. München, S. 100. Siehe ebenso Ibn Tufail, Abu Bakr: Der Philosoph als Autodidakt. Ḥayy ibn Yaqẓān. Übers. u. hrsg. v. Patric O. Schaerer (2004). Hamburg, S. 65 f. 238 Siehe ebd.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

kommenheit und der [bewußten] Wahrnehmung [Perzeption] seiner Vollkommenheit möglich. Es gibt in der Welt nichts Perfekteres und Schöneres als das Licht der Lichter [lā akmala wa-la aǧmala min nūr al-anwār].« 239

Die Selbstliebe, die wir oben schon erwähnt haben, ist im suhrawardīschen Sinne der illuministischen Betrachtung, die auch auf die sadraische Erkenntnistheorie eingewirkt hat, keineswegs mit einer egoistischen Eigenliebe vergleichbar. Sie ist moralisch frei. Die Betrachtung der Schönheit des Daseins wird bedingt durch ein ästhetisches Bewußtsein, das mit dem Selbstbegehren zu tun hat. Dieses ästhetische Selbstbegehren findet sich im Licht der Lichter in vollkommenster Weise. Das Licht der Lichter liebt sich selbst, wie Suhrawardī sagt (eine ähnliche Darstellung findet sich bei Nasafī). Seine Vollkommenheit ist einleuchtend (evident), und es ist das schönste aller Dinge. 240 Da das Licht der Lichter die höchste Vollkommenheit besitzt, sich dieser Vollkommenheit bewußt ist und von ihm auch alle anderen Wesen ihr Leben haben, hängt die ästhetische Empfindung von dem Grad des existentiellen Selbstbewußtseins ab. Der psychologische Effekt dieser Selbstliebe ist insofern Harmonie und Überfülle, als sie die Voraussetzung des ästhetischen Erlebens ist. Daher kann es keine ästhetische Wahrnehmung geben, wenn eine gesunde Selbstliebe fehlt. Bei den Lichtmetaphysikern geht das ästhetische Moment weit über eine intellektuelle Freude hinaus. Man kann von einer geistigen oder sogar illuministischen Innenwendung sprechen, die in einer ästhetischen Selbstwahrnehmung und asketischen Selbstwendung vollkommen eingebettet ist. In diesem Sinne versteht man auch, wie bereits dargestellt, die philosophische Tätigkeit. Der Philosophie wird bei Ṣadrā eine asketische Aufgabe zugeschrieben, worunter wir einen ästhetischen Akt verstehen können. Der islamische Philosoph erhofft, daß dieses innergeistige Leben zu einer intellektuellen Einheit mit dem Absoluten führen möge, wo Perfektion, Glückseligkeit und Verewigung mit dem Endzweck des Daseins zusammentreffen. Schon in der Einleitung seines Hauptwerkes »al-Asfār al-arbaʿ a« weist Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī darauf hin, daß der weltliche Genuß nicht von Dauer ist. Für ihn ist er keine wahre Glück-

Suhrawardī, Kitāb Ḥikmat al-išrāq, in: Maǧmūʿ a-yi, Bd. II, S. 136. Vgl. Šahrazūrī, Šarḥ Ḥikmat al-išrāq, S. 351. 240 Vgl. ebd. 239

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

seligkeit, denn er kann keine intellektuelle Freude hervorrufen. 241 Wie wir bereits aufgezeigt haben, kann der intellektuelle Zustand erst eintreten, wenn der sinnliche Zustand überwunden ist. Eine »intellektuelle Freude« (bahǧa ʿ aqlīya) ist für Ṣadrās Transzendentalphilosophie der Bestimmungsgrund der philosophischen Lebensform. Diese Freude ist ein Zeichen für die Vervollkommnung des menschlichen Intellekts, der sich mit dem vollkommenen Intellekt vereint. In dieser Intellektualität ist die Welt eins und verhält sich gegenüber der Gegensätzlichkeit neutral. Denn die Seele des Menschen erfaßt in diesem Zustand alles mit ihrer Substanz. Der Mensch erfährt durch die Vervollkommnung seines Intellekts eine Welt des Intelligiblen (ʿ ālaman maʿ qūlan), parallel zu der sinnlichen Welt (mawāzīyan li-l-ʿ ālam al-maḥsūs). In diesem Zustand wird das absolut Gute und Schöne beobachtet, der Mensch vereinigt sich mit diesem und wird zu seinem Ebenbild. 242 Die intellektuelle Überfülle, die der islamische Philosoph bei einer Beteiligung des Intellekts erlebt, ist vergleichbar mit dem »geistigen Entzücken«, worunter Hadot die Philosophie nach seinen hellenistischen Vordenkern als eine Lebensform versteht. Hier treffen rationale und normative Ästhetik zusammen. 243 Denn im Philosophieren erlebt man eine intellektuelle Zufriedenheit, geistige Erfüllung und perfekte Harmonie. Philosophieren stellt eine Faszination vom Dasein, eine Ergriffenheit von der Perfektion der Ordnung und der Zweckerfüllung der Dinge dar, die der Mensch mit seiner Vernunft erfassen kann. Die Schönheit des Kosmos entspringt daher nicht den Sinnesorganen, sondern dem innergeistigen Leben, was mit dem Begriff der »Innenwendung« (Paul Rabbow) vergleichbar ist. 244 Vgl. aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. I, S. 1. Aš-Šīrāzī, al-Asfār, Bd. IX, S. 189. 243 Wenn man sich die Frage stellt, wie sich die Ästhetik aus der Sicht der islamischen Philosophen definieren oder von welchen Kategorien sich eine ästhetische Betrachtung leiten läßt, kann die Antwort zunächst im Sinne einer Naturphilosophie im antiken Sinne zur Disposition gestellt werden. Die antike Vorstellung scheint zwar, wie Hadot sie ausführlich beschreibt, unterschiedlich zu wirken, sie ist jedoch in ihrem Kern eine geistige Art des Lebens. Philosophie war eine Lebensart, nämlich eine »geistige Übung«, eine »Therapie« bzw. ein Heilmittel: »Wer jung ist, soll nicht zögern, zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern.« Zitat nach Hadot, Philosophie als Lebensform, S. 185 (Anm. 56). 244 Siehe dazu ebd., S. 48; vgl. Rabbow, Paul (1954): Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München, S. 17. 241 242

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

Doch in der islamischen Philosophie geht das Ziel über eine rein intellektuelle Freude hinaus. Die Betrachtung der göttlichen Schönheit, die in der Sprache der islamischen Philosophie von Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī manifestiert ist, erstreckt sich auch auf die Sphäre des Menschen als Ebenbild Gottes. Denn der Mensch ist Gott am ähnlichsten (mā ḫalaqallāhu šayʿ an ašbaha bihī min Ādam, wörtl. Gott hat kein Ding erschaffen, das ihm ähnlicher ist als Adam). 245 Auf vergleichbare Weise versucht auch ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī die Beziehung von Gott und Menschen darzustellen. Gott und der Mensch reflektieren ein und dasselbe Wesen. Alles ist die Erscheinung göttlicher Schönheit, und die Schöpfung verkörpert sie in einer äußeren Form. 246 Damit kann man die Selbstbetrachtung des Menschen als Gottesbetrachtung sowie die Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis verstehen. Hier darf nicht der Eindruck erweckt werden, daß die Bedingung für den Zweck gehalten wird. Nach der sadraischen Philosophie der Ursache-Wirkung-Beziehung im Lichte des Seinsaktes müssen wir akzeptieren, daß Gottesbetrachtung bzw. Gotteserkenntnis abhängig von Selbstbetrachtung und Selbsterkenntnis sind. Ṣadrā spricht daher im Sinne Suhrawardīs von der Einheit dieser beiden Betrachtungsweisen und Erkenntnisse. Dies ergibt zusammen mit seiner Manifestationslehre, die die Einheit und Vielheit miteinander verwebt, am Ende den Vollzug der absoluten Einheit. Es geht vor allem um die Vollendung des eigenen Seins und die Vollständigkeit des Seinsganzen in einer reinen Einheit mit dem reinen Intellekt. Diese klassische Schönheitsvorstellung, auch wenn sie in der modernen Wissenschaft keinen adäquaten Ausdruck findet, ist nicht rein abstrakt, sondern verknüpft mit einer bestimmten Lebensart. Die Ästhetik war in der Antike und auch im scholastischen Mittelalter des Islams keine Disziplin, die sich nur in der Wissenschaft ausdrückt, sie war eingebunden in ein geistiges Lebensgefühl. Denn die Philosophie bedeutete für islamische Philosophen, wie wir es schon dargestellt haben, die Ähnlichwerdung mit Gott. In diesem Sinne ist der Philosoph bestrebt, über die Betrachtung des Kosmos und der Erkenntnis der Dinge und seiner Selbst an das Wahre heranzukommen 247 und die Dinge zu Aš-Šīrāzī, Mafātīḥ, S. 293. al-Ǧīlī, al-insān al-kāmil, Bd. I, 172 f. 247 Ebenso verbindet Ibn Rušd (Averroes) die Aufgabe der Philosophen mit der Wahrheit. Vgl. Ibn Rušd, Abū al-Walīd Muḥammad Ibn Aḥmad Ibn Muḥammad: Tahāfut at245 246

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

erblicken, wie sie wirklich sind. 248 Diese traditionelle Rolle der Weisheit für die ästhetische Schau, die wir oft bei den Mystikern und ihnen nahe stehenden Philosophen finden können, läßt sich in der Philosophiegeschichte mehr oder weniger häufig beobachten. Man findet sie sogar bei denjenigen Philosophen, die von manchen als »gottlose Ketzer« bezeichnet wurden. Zu dieser Gruppe gehört beispielsweise Zakarīyā arRāzī. 249 Während die Liebe bei Ṣadrā mit einer schöpferischen Kraft vertahāfut. Hrsg. v. Maurice Bouyges (1930). Frankfurt/M., S. 149. In seinem Buch »Faṣl almaqāl bain al-ḥikma wa aš-šarīʿ a min al-ittiṣāl« unternimmt er den Versuch, »die Philosophie« und »das religiöse Gesetz« miteinander in Einklang zu bringen. Diese Übereinstimmung ist nicht formal und betrifft auch nicht die Themen beider Disziplinen, in denen sie auch manchmal, wie Ibn Rušd betont, unterschiedlich betrachtet werden können. Es geht dabei um die Wahrheit. Sie ist nicht eine reine religiöse Wahrheit, sondern eine geistige und intellektuelle Wahrheit. Die Wahrheit kann im Sinne Ibn Rušds nichts anderes sein als die Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind. Die Philosophie wie auch das »religiöse Gesetz« beschäftigen sich mit der Erkenntnis Gottes. Und je vollkommener diese Erkenntnis ist, desto vollkommener wird die Erkenntnis des Erschaffers, wie dies Ibn Rušd formuliert. Ibn Rušd, Faṣl al-maqāl, S. 22. In seinem Traktat zur Metaphysik verweist er auf den praktischen Aspekt der Philosophie. Es handelt sich hier um eine »prima philosophia«, die trotz ihrer theoretischen Funktion über die spekulative Erkenntnistheorie hinausgeht. Ihre Erkenntnis geht allen anderen Erkenntnissen voran. Sie stellt hinsichtlich anderer theoretischer Wissenschaften das Endziel und die Vollendung dar. Durch ihre Erkenntnis wird die Erkenntnis aller anderen Existierenden in ihren höchsten Beweggründen erworben, welche das Ziel der menschlichen Erkenntnis ist. Vgl. Ibn Rušd, Abū al-Walīd: Rasāʾ il Ibn Rušd al-falsafīya. Risāla mā baʿ d aṭ-ṭabīʿ a. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. ǧairār ǧahāmī u. Rafīq al-ʿAǦam (1994). Beirut, S. 34. 248 Al-Kindī, der zu den ältesten islamischen Philosophen gehört, zeigt in seiner Formulierung eine klare Beziehung der Philosophie zur Wahrheit. Nachdem er die »Kunst der Philosophie« (ṣanāʿ at al-falsafa), sowohl von ihrem Stellenwert (manzilatan) wie auch von ihrer Rangstufe (martabatan) her, zu den höchsten Künsten zählt, definiert er sie als die Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind, im Rahmen der menschlichen Möglichkeit. Daraufhin nennt er das Ziel des Philosophen: Der Philosoph beabsichtigt, »mit seiner Erkenntnis die Wahrheit zu erlangen und in seiner Tat gemäß der Wahrheit zu handeln«. Al-Kindī, Abū Yūsuf Ibn Isḥāq: Kitāb al-Kindī ilā al-Muʿ taṣim bi-llāh. Fī lfalsafa al-ūlā, in: Muḥammad ʿAbd al-Hādī Abū Rīda (q1419/1999): Rasāʾ il al-Kindī alfalsafīya. Al-falsafa al-islāmīya 4. Frankfurt, S. 97. 249 Siehe ar-Rāzī, Muḥammad Ibn Zakarīyā: Rasā il falsafīya. Hrsg. v. Paul Kraus (o. J.). ʾ Kairo u. Teheran; Kraus, Paul (1994): Alchemie, Ketzerei, Apokryphen im früheren Islam. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. v. Rémie Brague. Zürich u. a.; Muḥaqqiq, Mahdī u. Izutsu, Toshihiko (1352/1974): Fīlsūf-i Rayy. Muḥammad Ibn Zakarīyā Rāzī. Teheran. Mit ar-Rāzī, wie Ulrich Rudolph zu Recht betont, bringt der islamische Kulturkreis den ersten Denker hervor, der »ohne Einschränkung für die Autonomie der Philosophie eintrat«. Vgl. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 23.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

bunden ist, die durch Askese und Philosophie die Vollkommenheit erreicht, zeigt die Darstellung über die Liebe bei Rūzbihān Baqlī Šīrāzī einen stark ästhetischen Akzent, dem auch eine erzieherische Funktion zugesprochen wird. Es gibt jedoch zwischen Ṣadrā und Baqlī Šīrāzī eine geistige Verwandtschaft. Wie Ṣadrā sieht er auch eine untrennbare Verbindung zwischen Existenz, Erkenntnis, Liebe und Vollkommenheit. Im Gegensatz zu Ṣadrā verwendet Baqlī Šīrāzī viele Metaphern, die für ihn eine Brücke zur Vollkommenheit sind. Er sieht aber genauso wie Ṣadrā die menschliche Existenz und die Welt als Leiter zur Wirklichkeit, worauf wir nun eigehen wollen. Das dreizehnte Kapitel seines Buches »Kitāb ʿAbhar al-ʿ āšiqīn« betitelt Baqlī Šīrāzī sogar »Zur Erziehung der Liebe« (fī tarbiyat alʿ išq). 250 Baqlī Šīrāzī zufolge erscheint in der menschlichen Liebe durch ihre Erziehung die göttliche Liebe. Die Liebe kann erst durch die Erziehung verwirklicht und erst dann erlebt werden. Baqlī Šīrāzī, der Zeitgenosse von Šihāb ad-Dīn Suhrawardī und Naǧm ad-Dīn Kubrā ist, zeigt am deutlichsten unter den islamischen Mystikern in seinem Werk »Kitāb ʿAbhar al-ʿ āšiqīn« zur »Liebesmystik«, wie eng Liebe (ʿ išq) und Schönheit (ǧamāl) miteinander verbunden sind. Der Beweggrund der Liebe ist Baqlī Šīrāzī zufolge die Schönheit, und zwar die »aktuelle Schönheit« (pers. ǧamāl-i fiʿ lī), durch die der Geist des Liebenden (pers. rūḥ-i ʿ āšiq) zu glühen beginnt. 251 Damit öffnet Rūzbihān Šīrāzī eine Dimension der transzendentalen Ästhetik, die durch die mystische Liebe »sinnenhaft« wird. Sinnenhaft in dem Sinne, daß alle Liebe in der Welt eine Erscheinung der reinen und absoluten Liebe ist, die unmittelbar der göttlichen Schönheit entspringt. Daher stellt die menschliche Liebe (al-ʿ išq al-insānī) einen Weg zur göttlichen Liebe (pers. ʿ išq-i rabbānī) dar. 252 Als Beispiel nennt Baqlī Šīrāzī die Liebe zwischen Yūsuf und Zulaiḫā, Lailā und Maǧnūn, Wamīq und ʿAzrā, Hind und Bišr. Auch die Liebe zum Propheten aufgrund seiner Gestalt und seines Charakters bezeichnet er als eine Stufe der menschlichen Liebe. Baqlī Šīrāzī verwendet diese menschliche Liebe, wenn er als Beispiel das Verhalten von Maǧnūn gegenüber Lailā oder die Liebe von Jakob zu seinem Sohn Josef anführt, als Metapher für die göttliche Liebe. Auch die äußere 250 251 252

Siehe Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿAbhar, S. 67–71. Ebd., S. 23. Ebd., S. 11.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Schönheit Josefs wird als Abbild göttlicher Schönheit dargestellt. 253 In der mystischen Liebesästhetik eines Baqlī Šīrāzīs scheint es jedoch nicht unzutreffend, von einer Einheit der »sinnfernen«, der »sinnhaften« und der »bildhaften« Ästhetik zu sprechen. 254 Selbstlosigkeit und das absolute Begehren werden als Substanzen der Liebe gekennzeichnet. Diese »spezielle Zuwendung« (pers. maḥabbat-i ḫāṣṣ) ist die Quelle der Liebe. »Liebe« und die »spezielle Zuwendung« sind Attribute göttlicher Essenz. 255 Die Schönheit ist ebenso ein Attribut der göttlichen Essenz. Die Schönheit wird damit zum Antrieb der Liebeserziehung erhoben. Die Vervollkommnung der Liebe ist demnach das endlose Begehren. Daher sagt Baqlī Šīrāzī, es gäbe in der Liebe keine Vollkommenheit, da der Geliebte unbegrenzt ist. 256 Damit scheint, daß die Ästhetik in seiner Liebesmystik eine Funktion erhält, die über die Idee der Perfektion hinausgeht. In der Formulierung Fritz Meiers heißt es, die Liebe sei in der islamischen Mystik die Triebkraft zum Suchen und Finden. 257 Wenn aber die Liebe keine Grenze hat, kann nichts gefunden werden. Liebe stellt sich daher in seinem Konzept als ein schwärmerisches Entdecken und Enthüllen dar. Ziel ist die Entdeckung der Schönheit und der Pracht des Geliebten. Wenn nun das Vollkommene als grenzenlos angesehen wird, dann müssen Entdeckung und Enthüllung sowohl geistig als auch praktisch zu einer ewigen schöpferischen »Selbstkonstituierung« fühEbd., S. 28 f. Martin Seel nennt in seiner Habilitationsschrift drei Grundmodelle, die diese unterschiedlichen Erklärungsversuche widerspiegeln: »Das erste versteht die schöne Natur als Ort der beglückenden Distanz zum tätigen Handeln. Das zweite begreift die schöne Natur als Ort des anschaulichen Gelingens menschlicher Praxis. Dem dritten erscheint die schöne Natur als bilderreicher Spiegel der menschlichen Welt.« Seel, Martin (1991): Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M., S. 18. Das erste Modell beschreibt die antike Philosophie, insbesondere die Platons. Hier ist »die Wahrnehmung des Naturschönen ein Akt der kontemplativen Abwendung von den Geschäften des Lebens«. Das zweite Modell geht auf die christlich-theologische Vorstellung zurück, in der die Natur paradiesisch das menschliche Bedürfnis sinnenfällig erfüllt. Das ist »ein Akt der korresponsiven Vergegenwärtigung der eigenen Lebenssituation«. Das dritte Modell geht auf die antike Vorstellung der poetischen Natur zurück, die als »ein Akt der »imaginativen Deutung des Seins in der Welt« bezeichnet wird. Diese drei Modelle, die er auch mit den Begriffen »sinnfern«, »sinnhaft« und »bildhaft« illustriert, stellen die Natur in unterschiedlichen Dimensionen und in unterschiedlicher ästhetischer Affinität zum Menschen dar. Sie können einander weder ersetzen noch überbieten. Ebd., S. 19 f. 255 Baqlī Šīrāzī, Kitāb Abhar, S. 21 f. ʿ 256 Ebd., S. 140. 257 Siehe Meier, Vom Wesen, S. 22. 253 254

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

ren. Alles Leben und alles Handeln wäre damit in einem souveränen und selbsttätigen Existenzentwurf begriffen. Unter diesem existentiellen Akt versteht man daher einen Liebesakt, der endloses Begehren bedeutet. Denn der Geliebte ist alles, was schön ist, und Schönheit ist der Ausgangspunkt der Vollkommenheit, wie dies Aḥmad Ġazālī (gest. q520/1126) hervorhebt. 258 Auch das schwärmerische Entzücktsein und die Ergriffenheit sind Eigenschaften der Liebe als Weg des Geistes zu sich selbst. An dieser essentiellen Beziehung zwischen Liebe und Schönheit, die dem göttlichen Wesen entspringt, läßt sich anhand der »Liebesmystik« von Baqlī Šīrāzī ebenso wie bei Ṣadrā eine Anthropologie der Ästhetik festmachen. Gott schuf sein Ebenbild nach seiner Gestalt, die nichts anderes ist als das Bild, das er von seinem eigenen Wesen hat. Baqlī Šīrāzī interpretiert in diesem Sinne auch den koranischen Vers, 259 wobei der Satz »sibġat allāh« nicht das baptisma Gottes meint, das bei der Übersetzung von Paret in Erwägung gezogen wird; vielmehr stellt er eine gestalterische Tätigkeit im Sinne einer künstlerischen Nachbildung göttlicher Attribute heraus. 260 Dieser schöpferische Akt führt zu dem Schluß, daß der Mensch in der Ontologie der Liebesmystik Baqlī Šīrāzīs als eine Manifestierung oder zumindest eine Verkörperung des ästhetischen Gottesentwurfes verstanden werden kann. Der Mensch als einzigartiges Wesen verkörpert die göttlichen essentiellen Attribute. Darin unterscheidet sich die Schönheit des Menschen von der Schönheit der Farben und der Dinge. Denn diese Schönheit ist eine Folge der tätigen (aktiven) Attribute. 261 Aus diesem Grund zählt für Baqlī Šīrāzī im Gegensatz zur Anischt der Theologen die Schönheit des Menschen zu den wirklichen Zeichen Gottes. Nur in diesem Sinn, d. h. im Anblick der Schönheit des Menschen und im Anblick der Schönheit des Ewigen, findet die Liebe ihren wahren Sinn. Im Menschen erscheint die göttliche Schönheit, die der Grund der Anbetung der Engel und sämtlicher himmlischer Geschöpfe ist. 262 Der Mensch trägt in seinem Wesen somit die Anlage der Liebe und die Liebe zur Schönheit. Diese Urneigung ist der Grund für sein ewiges Hingezogensein zum Ursprung. Der Anblick Vgl. Ġazālī, Aḥmad: Baḥr al-ḥaqīqa. Hrsg. v. Naṣrullāh PūrǦawādī (q1397/1977). Teheran, S. 65. 259 Koran 2/138. 260 Baqlī Šīrāzī, Kitāb Abhar, S. 27, 33. ʿ 261 Ebd., S. 35. 262 Ebd., S. 26–30. 258

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

der göttlichen Schönheit und die Vereinigung mit der absoluten Liebe sind die Nahrung der Ewigkeit und der Trank der Selbstlosigkeit. Für Baqlī Šīrāzī verkörpert daher die Welt nur das Schöne. Das Häßliche ist für ihn ein relativer Aspekt. Das Häßliche ist Folge der Gewalt (qahr) bzw. das Spiegelbild der Gewalt. Es ist der Ort des Unerkennbaren (nikrat). Dagegen ist das Gute das Spiegelbild der Gnade und der Ort der Erkenntnis. Da die Welt überhaupt die Gnade Gottes ist, kann sie nur gut sein. Das Häßliche hingegen ist verbunden mit der Dualität. Wenn das Ich-Du-Verhältnis aufgelöst wird, so daß »Du aus Deinem Dusein herauskommst, so wird der Schleier der Gewalt aufgehoben, und Du kannst die Ewigkeit sehen.« 263

Die Ästhetik der Einheit, die Baqlī Šīrāzī mit der Ästhetik der Liebe demonstriert, geht über die Grenze der kontemplativen Schau der Harmonie des Daseins hinaus. In der Einheit der Liebe gibt es keinen Platz für Harmonie. Die Harmonie verlangt Ausgeglichenheit, Gesetzmäßigkeit und Symmetrie, während die Liebe Verlangen, Begehren, Leidenschaft, Anziehungskraft, Selbstlosigkeit und Vollzug der Einheit erfordert. Die Dualität ist die Bedingung der Sehnsucht nach Einheit und die Einheit ist wiederum die Bedingung der dualistischen Anschauung. Baqlī Šīrāzī verlangt nach Distanz. Herrscht Distanz zwischen dem Liebenden und dem Geliebten, so hört die Liebe nicht auf. Das ist der Sinn der Liebe und erfordert ewiges Verlangen und ewige Anziehung (pers. šauq wa-inǧiḏāb). Mit der Distanz schafft die ästhetische Einheit tatsächlich eine Grenze für die Liebe. Die Liebe kann so lange weiter bestehen, solange es einen Liebenden und einen Geliebten gibt. Hört diese Dualität auf, so verschwindet der Liebesakt. In der Liebesmystik Baqlī Šīrāzīs bilden Endlosigkeit und Distanz die beiden Aspekte der Waagschale der Existenz, die wir sowohl bei Nasafī als auch bei Ṣadrā vermissen. Der Einheitsvollzug ist zwar bei Baqlī Šīrāzī wie bei Ṣadrā und Nasafī nichts anderes als das Vereintsein mit dem Ganzen, aber auch Bedingtwerden durch die Liebe, welche einerseits eine Romantisierung der Perfektion hervorruft und andererseits das Ende des Unthematischen bedeutet. Bei der Perfektionierung des Menschen geht es um den Vollzug seines großen Ichs, aber auch um das Bewußtsein seiner Grenze, welche die unbegrenzte Individualität auflöst und die unaufhörliche Einheit manifestiert. Die Romantisierung 263

Ebd., S. 37.

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

der Perfektion mit einem graduellen Liebesvollzug resultiert aus der Anschauung des eigenen Lebensvollzuges, die nur in einem unaufhörlichen Liebesakt zur Geltung kommen kann. Das Leben in Perfektion wird damit einem Prozeß der Liebe unterzogen. Demnach versteht sich der Prozeß Mensch als eine Entfaltung der Liebe in einem Mikrokosmos des Weltprozesses. In diesem Sinne stellt sich die Beziehung von Liebendem und Geliebtem in einem Prozeß dar, in dem der Liebende die Liebe zu einem ästhetischen Entwurf macht. Mit seiner Aufteilung der drei Liebesstufen kennzeichnet Baqlī Šīrāzī die Stellung des Menschen im Kosmos der Liebe. An die Stelle der Intellektstufen treten sozusagen die Liebesformen: »Menschliche Liebe« (al-ʿ išq al-insānī), »geistige (spirituelle) Liebe« (pers. ʿ išq-i rūḥānī) und »göttliche Liebe« (pers. ʿ išq-i rabbānī). 264 Die menschliche Liebe ist der Weg zur spirituellen und diese der Weg zur göttlichen Liebe. Wie der »Weltprozeß« bei Whitehead, 265 so können wir den Prozeß der Liebe unter dem Aspekt einer »Ausschließung und Abgrenzung« betrachten. Wir können auch den Liebesprozeß einem Prozeß der Inklusivität und Unmittelbarkeit unterziehen. Denn Einheit und Ewigkeit sind Bedingungen der ästhetischen Anschauungen. Daher bilden Inklusivität und Unmittelbarkeit die geistigen Formen dieser Anschauung, die Steigerung und Intensität bedeuten. Mit der »Abgrenzung« und »Ausschließung« werden dann die sinnlichen Formen ausgedrückt. Jede Stufe der Liebe, die der Mensch erreicht, markiert eine Grenze und schließt zugleich die vorherige Stufe aus, wie es auch bei der Perfektibilität als existentielle Entfaltung bei Ṣadrā zu betrachten war. Die Grenze der spirituellen Liebe ist z. B. das Ersetzen der menschlichen Liebe durch einen neuen Prozeß, und die Ausschließung ist hier die Perfektionierung dieses Prozesses bis zur Vollendung der Einheit. Jede Abgrenzung und Ausschließung setzt somit den Prozeß der Inklusivität und Unmittelbarkeit in Gang. In der göttlichen Liebe vereinigen sich der Liebende, der Geliebte und die Liebe. 266 Corbin bezeichnet den Übergang von der menschlichen Liebe zur transzendentalen als eine »Metamorphose des Subjekts«, denn »der Liebende wird am Ende in reine Liebe verwandelt und erreicht so den Zustand, in dem Liebender und Geliebte eins sind Ebd., S. 38–44. Whitehead, Alfred North (1985): Wie entsteht die Religion? Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt/M., S. 85 f. 266 Baqlī Šīrāzī, Kitāb Abhar, S. 23. ʿ 264 265

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

und der Geliebte durch den Liebenden sprechen kann.« 267 Die menschliche Liebe ist daher nicht nur die Bedingung, sondern ein Bestandteil des Prozesses. Die Ästhetik der Einheit bekommt im mystischen Denken die Form des Prozesses. Die Vollkommenheit läßt sich nur als ein Entschleierungsprozeß verstehen, um den Ursprung zu erreichen. Dieser Entschleierungsprozeß zeigt den Spagat zwischen der äußersten Grenze und der inneren Einheit, in dem die reine Liebe, die reine Vollkommenheit und die reine Schönheit zusammentreffen. 268 Ob dieser Ursprung erzielt wird oder nicht, die Liebe und die ästhetische Kraft des Seins und der Wille bleiben die Grundpfeiler eines Prozesses, in dem der Mensch sich sittlich, geistig und spirituell als Person entwickeln kann. Mit der sittlichen Aneignung will man einen Zustand der Selbstveredlung erreichen, mit strengen asketischen Übungen einen Zustand der Selbstbeherrschung und mit geistiger Kraft den Zustand der Selbststeigerung bzw. Selbstoptimierung. Alles soll zu einer hohen Selbsterkenntnis führen, die alles andere ist als ein psychisches Bekenntnis und eine Selbstfindung. Sie ist ein Zustand der seelischen Erleuchtung und der existentiellen und schöpferischen Selbstbegründung. Dies alles kann man erst durch eine disziplinierte Seelenerziehung bzw. Seelenaskese erreichen. Mit dieser seelischen Erziehung erwartet man die Erlangung der Aufnahmefähigkeit und Kapazität zu einem großen seelischen Akt, zur Selbstmacht des Menschen und seinem existentiellen Selbstentwurf. Ziel dabei ist, wie mir scheint, der Erwerb eines unendlichen Ichs, was Jambet als Erlangung der ÜberVgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 423 f. »Wenn der anfangslose Erbauer den Schleier der menschlichen Liebe vor der göttlichen Liebe enthüllt [hebt], wird sie [ihre Liebe] zu einer besonderen Liebe. Wenn der Anfänger [Novize] von den in der menschlichen Liebe existierenden seelischen Krankheiten [von den triebgesteuerten Motiven] gereinigt wird, wird er in der göttlichen Liebe beständig. Wenn auf der seelischen Kleidung etwas vom Schmutz der Begierde bleibt (bleiben sollte), wird er in der Welt der göttlichen Liebe vom Reittier der Wahrheit [markab-i ḥaqīqat] absteigen. Auf jeden Fall ist, wenn die Liebe erscheint [zustande kommt, in Erscheinung tritt], sei es auf natürliche oder spirituelle Art, die Liebe in ihrem Kern lobenswert [schön], denn die natürliche Liebe ist der Weg zur spirituellen Liebe und die spirituelle Liebe der Weg zur göttlichen Liebe. Die Last der göttlichen Liebe kann außer auf diesem Wege [ohne dieses Reittier] nicht getragen werden. Der Wein der Reinheit [der klare Wein] [rāwiq, wörtl. rein, klar, eigentl. ein Filter, mit dem der Wein gereinigt wird] der reinen Schönheit des Ewigen [des Anfanglosen] kann außer aus diesen beglückenden Bechern nicht getrunken werden. Diese drei Substanzen [natürliche, spirituelle und göttliche Liebe] sind auf dem Weg zum Ursprung [maʿ dan, die Quelle] immer in Bewegung.« Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿ Abhar, S. 42. 267 268

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Ästhetik, Liebe und Perfektibiltät

existenz bezeichnet, und damit die Vollkommenheit als Praxis und Vertiefung seiner selbst. 269 Dies spiegelt die reine Einheit und die Liebe selbst wider, und das ist zugleich die Vollkommenheit. Somit erhofft der Mystiker durch die Aufhebung des »kleinen Ichs« das ewige Leben in Perfektion. Insofern sind Erziehung und Schönheit unabdingbarer Teil des ewigen Lebens in Perfektion, deren Funktionen nicht in einer gemeinschaftlichen Institutionalisierung gesehen werden, sondern in der menschlichen Person selbst, die anhand ihres Bewußtseins und ihres Willens die absolute Freiheit erlangt. Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī geht noch weiter und vertritt die Ansicht, daß die Mangelhaftigkeit und Schwäche des Menschen und seine Bedürftigkeit die Gründe für die Gnade Gottes und die Potentialität zur Vervollkommnung sind. Denn nur das Unvollkommene sehnt sich nach der Vollkommenheit, und in diesem Sinne ist die Vollkommenheit eine notwendige Reflexion des eigenen Seinsgrundes, der das Ziel und Ideal des Menschen permanent mitbestimmt. Ṣadrā betont daher, daß weder die Form (aṣ-ṣūra), die für die Engel das Argument gewesen sei, diese Schöpfung als nicht notwendig zu erachten, noch die Materie (almādda), welche der Grund für Satan gewesen sei, sich zu weigern, sich vor dem Menschen zu verneigen, bei Gott der Grund für die Stellvertreterschaft und die Würde des Menschen war. Ṣadrā hebt hervor, daß der eigentliche Grund für diese Würde des Menschen die Zielursache der menschlichen Schöpfung und das Endziel (min ǧihati l-ġāya wa-lʿ āqiba) sei. Diese Zielursache sei das Reich Gottes, zu dem der Mensch zurückkehren solle und die Erlangung dieses Reiches geschehe dadurch, daß die Seele des Menschen den Zustand der Gewißheit und des Vertrauens erlangt und sich damit das Leben in Ewigkeit angesichts Gottes sichert. 270 Daraus leitet jedoch Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī die Schöpfung des Menschen als Krone der Schöpfung ab und ist der Meinung, daß der Mensch in unmittelbarer Beziehung zu Gott stehe. Gott habe ihn für sich geschaffen. Er sei sein Anfang und Ende und verkörpere somit die Attribute sämtlicher Existenzstufen in sich. Der Mensch trage deshalb in sich die besten formalen, seelischen, ethischen und schöpferischen Eigenschaften und Voraussetzungen, denn er besitze überall ein Bild, das ihm entspreche. Gott habe ihm Wohltaten beschert, darunter die Urteilsfähigkeit bzw. das Vermögen in bezug auf Gleichgewicht und 269 270

Jambet, L’acte d’être, S. 44 f. aš-Šīrāzī, Tafsīr, Bd. III, S. 397 ff.

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III Der Umgang mit der menschlichen Freiheit

Richtigkeit (at-taʿ dīl wa-t-taswiya), die Vollständigkeit seiner ihm angeborenen Natur, seine Wohlgestalt, sein rechtes Maß, seine Wohlgeschaffenheit und seine Gerechtigkeit (wa-tamāmīyati l-ḫilqati waḥusni ṣ-ṣūrati wa-l-iʿ tidāli wa-ḥusni l-ḫalqi wa-l-ʿ adāla). 271 Ästhetischer Genuß behält für die islamischen Philosophen also stets einen transzendentalen Bezug, denn letztlich sind Schönheit und Liebe, Vollkommenheit und Wahrheit Attribute des göttlichen Wesens. Gott ist schön und liebt die Schönheit (inna-llāha ǧamīlun wa-yuḥibbu l-Ǧamāl), also liebt auch der Mensch die Schönheit und preist sie. 272 Da die Schönheit mit der Wahrheit verbunden ist und jede Schönheit Vollkommenheit voraussetzt und umgekehrt, wird der Ästhetik im Islam gelegentlich ein heiliger und zugleich objektiver Charakter zugesprochen. 273

Ebd., Bd. I, S. 141 f. Aʿ wānī, Ġulām Riḍā (1375/1996): Ḥikmat wa hunar-i maʿ nawī. Maǧmūʿ a-yi maqālāt. Teheran, S. 327 ff. 273 Ebd., S. 322. 271 272

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Schlußbetrachtung

Bezogen auf die Frage nach der Perfektibilität des Menschen, für die die vorliegende Untersuchung der Existenzphilosophie Nasafīs und Ṣadrās die Problemfelder der ontologischen Verankerung des menschlichen Wesens einerseits und der selbstbestimmenden Realisierung seiner Person als freies Subjekt andererseits zum Ausgangspunkt gemacht hat, sind folgende Ergebnisse festzuhalten: 1) Jeder Mensch ist von Natur aus auf eine Vervollkommnung hin angelegt. Diese setzt nicht nur die Potentialität (quwwa) zur Selbstperfektionierung voraus, sondern darüber hinaus zum einen die Notwendigkeit und Verpflichtung des Menschen zur Vervollkommnung und zum anderen die Erkenntnis seines Selbst als unvollkommenes Wesen. 2) Dabei hat sich der Mensch immer als Geschöpf Gottes (maḫlūq) angesehen, das es ohne Gott nicht geben kann, und das auch ohne Gott keinen Begriff von der Perfektion haben und sich selbst nicht verwirklichen kann. Seine Existenz ist vollständig abhängig von der göttlichen Existenz und Bestimmung. 3) Seine Gottesabhängigkeit wird jedoch mit einer privilegierten Position belohnt, die ein positives und ideales Selbstbild von sich hervorruft. Er sieht sich als Stellvertreter Gottes (ḫalīfa) auf Erden und empfindet seine Existenz dem göttlichen Sein als am ähnlichsten, da er nach dessen Bild erschaffen sei. Hieraus resultiert ein Selbstbild, das zwischen einem perfekten Gottesbild und einem endlichen mangelhaften Menschenbild oszilliert. 4) Jeder Mensch ist auf ethischer und religiöser Ebene zu einem möglichst vollkommenen Lebenswandel aufgerufen. Dieser vollkommene Lebenswandel kann und soll aus eigener Kraft geschehen. Denn der 351 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Schlußbetrachtung

Mensch wurde so erschaffen, daß er die notwendige Freiheit und den Willen besitzt, sich autonom und selbstverantwortlich zu vervollkommnen. Insofern ist der Mensch nicht auf Gottes Hilfe im Sinne der christlichen Gnadenlehre angewiesen. Der Mensch verfügt bereits durch die Fülle der Existenz bzw. durch den Seinsakt über die notwendigen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die ihm der Schöpfergott mit der Verleihung der Existenz (wuǧūd) zur Verfügung stellte, um ihn zu einem vollkommenen Lebenswandel zu befähigen. In dieser Hinsicht kann der Mensch seine Natur nicht ändern. Er verfügt ausschließlich über die Mittel, nämlich die in der Existenz enthaltenen Attribute des Seinsaktes wie den Willen, die Freiheit und das Vermögen des Erkenntniserwerbes, um seine Eigenschaften, seine Umwelt, seine Ziele, seine Einsicht, seine Taten und seine Person zu verändern bzw. neu zu bestimmen. 5) Aus den genannten Feststellungen ergibt sich, daß jeder Mensch, um die Vollkommenheit zu erreichen, sich des Sinnes und der Bestimmung der Schöpfung und seiner existentiellen Fähigkeiten und Möglichkeiten bewußt werden muß und erkennen muß, daß er im Falle der Selbstentfremdung seine Existenz in Geschichte und Natur verlieren kann. Er muß außerdem den Zugang zu seinem wahren existentiellen Kern finden und die Voraussetzungen dazu schaffen, sich die Fähigkeit anzueignen, das Potentielle in seinem Wesen zu aktualisieren. Denn nur so kann er seine Person gemäß dem Seinsakt verwirklichen und sich mit der Aktualität des höchsten Seins vereinigen. 6) Daraus ergibt sich, daß die Geburt des Menschen in der Existenzphilosophie Nasafīs und Ṣadrās zuerst als Gattung innerhalb der Naturerscheinungen verstanden wird. Der Mensch besitzt jedoch aufgrund seiner existentiellen Beschaffenheit die Möglichkeit, sich von dieser Existenz als Naturerscheinung zu lösen und das Menschsein in seinem Wesen zu aktualisieren. 7) Somit ist aus der vorliegenden Untersuchung festzuhalten, daß die Philosophie der Existenz im sadraischen und nasafischen Sinne keineswegs mit einem modernen biologischen Naturbegriff vereinbar ist. Denn der Mensch hat sich, wie die ontologische Betrachtung Ṣadrās gezeigt hat, keineswegs im Laufe der Evolutionsgeschichte durch Mutation und Selektion genetisch verändert und bezweckt auch nicht, mit 352 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Schlußbetrachtung

technischen Mitteln in diesen Prozeß der Entwicklung seiner biologischen Natur selbst steuernd einzugreifen. Außerdem ist es nicht seine Pflicht und Bestimmung, sein Wesen durch die technische Machbarkeit zu verändern, sondern seine Person als wahrer Mensch gemäß der Ordnung der Seinsakte durch die existentielle Machbarkeit zu konzipieren und zu verwirklichen. Denn Gott ist in Ṣadrās Philosophie nicht nur der erste der Existierenden, sondern die konstitutive Wirklichkeit eines jeden Seinsaktes, weshalb seine Philosophie der Existenz letzten Endes die göttliche Gegenwärtigkeit in den Dingen voraussetzt. Diese göttliche Gegenwärtigkeit ist das Ziel des menschlichen Erkennens und Handeln. 8) Die göttliche Gegenwärtigkeit bestimmt daher sein Bild von Gott, von sich selbst und von seinem Handeln. In diesem Sinn sieht Jambet die Rückbesinnung auf sich selbst sowie die Vereinigung (seiner selbst mit sich selbst) in Ṣadrās Philosophie als die Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt, der Metaphysik und der Kenntnis des höchsten Seins: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.« Durch die Erkundung seiner Seele kommt es zum Existenzakt, die Seele, losgelöst von jeder Stofflichkeit, kehrt (als vollkommenes Wesen) zu ihrem Urprinzip, zu Gott, zurück. 1 Ausgehend von den genannten Prämissen können wir nun folgende abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit geben: Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen. Sein Geist entsteht im Diesseits, wie die Theorie von der substantiellen Bewegung (alḥaraka al-ǧauharīya) Ṣadrās und die mit ihr verbundene Seelenlehre zeigen will (an-nafsu ǧismanīyatu l-ḥudūṯi wa-rūḥānīyatu l-baqāʾ ), und dennoch ist er geprägt von der Transzendenz des Seinsaktes, von den Attributen der Einheit und seine Aufgabe besteht darin, sich von der Geschichte, der Natur und den diesseitigen Zwängen zu befreien und die absolute Freiheit, Authentizität und Vollkommenheit zu erlangen. Damit bildet der menschliche Geist, der in der Sprache der Existenzphilosophie Ṣadrās Seele (nafs) genannt wird, sein Bewußtsein und seine Selbstheit einen Teil der anthropologischen Realität. Die Metaphysik in der Existenzphilosophie besteht in der Entdeckung der göttlichen Ordnung. Wenn der menschliche Geist diese Ordnung erkennt 1

Vgl. Jambet, L’acte d’être, S. 49.

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Schlußbetrachtung

und anwendet, ähnelt er Gott, eine Haltung, die Jambet nach der Existenzphilosophie Ṣadrās als Aufstand gegen das Chaos und die Unordnung, gegen die Finsternis versteht, die jedoch nicht eine politische Umgestaltung der Gesellschaft zum Ziel hat, sondern das Erreichen des individuellen Heils, das wiederum zum Ferment einer gesellschaftlichen Metamorphose werden kann. Die substantielle Bewegung ist als die sich in der Realität konkretisierende Schöpfungskraft zu sehen und keineswegs als eine evolutionäre Entwicklung, die die Schöpfung biologisch korrigiert und verbessert und die Arten selektiert, sondern als eine Aktivität, die die Formen verändert, die sie belebt und in Bewegung setzt. Die substantielle Bewegung in Ṣadrās Philosophie stellt daher die generative (schöpferische) Aktivität dar, die sie entfaltet und die Erscheinungsformen von Welt zu Welt transportiert, bis die Dinge ihre vollständige Aktualität (fiʿ līyat) erreicht haben. Der Unterschied zu einer modernen biologischen Evolutionstheorie ist somit formal und inhaltlich bestimmt, was die Besonderheit der sadraischen Existenzphilosophie in moderner Zeit ausmacht. Sie ist durch einen fundamentalen Unterschied zum modernen westlichen Existentialismus gekennzeichnet, insofern als in ihr die Anbindung an das Göttliche nicht aufgegeben wurde. Ṣadrās Philosophie des Seins ist geradezu eine radikale Bekräftigung der Bindung des Menschen an das göttliche Sein. Das bedeutet, daß in der sadraischen Existenzphilosophie im Gegensatz zum modernen westlichen Existentialismus, in dem die »Geworfenheit« und »Zufälligkeit«, das Sinnfreie, um nicht zu sagen das Sinnlose, vorherrschen, die Schöpfung einen Sinn und ein Ziel durch die göttliche Gegenwärtigkeit in allen Dingen erfährt. In Ṣadrās Existenzphilosophie kann der Mensch sich mit der göttlichen Einsicht verbinden, weil der Mensch die Spur dieser freien Totalität des Seins und des Denkens in sich trägt und zwar durch den Urakt, der aus dem göttlichen Sein eine Lebensenergie, eine Dynamik freisetzt. Das bedeutet, daß die Freiheit, Authentizität und Vollkommenheit, die der Mensch in der Existenzphilosophie Ṣadrās erreicht, nicht von Gott losgelöst, sondern zu Gott hin verstanden werden können, der Abkehr von Form und Erscheinung hin zum Sein. Somit ist das erste Ergebnis folgendermaßen zu beschreiben: Wir können in der sadraischen Existenzphilosophie, die im Grunde auf dem Boden der antiken Philosophie und des neuplatonischen Geistes gewachsen ist, und die sich durch al-Fārābī und Ibn Sīnā verbreitet hat, eine Denkweise erkennen, in der Gott nicht außerhalb des geschicht354 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

Schlußbetrachtung

lichen Geschehens gedacht wird. Der Urgrund alles Seienden befindet sich nicht außerhalb des Seins oder Nichtseins. Er ist viel mehr und radikaler, denn das Wort »Sein« (al-wuǧūd) ist in Ṣadrās Existenzphilosophie »das Wirkliche« (al-ḥaqq) alles Seienden, das, was die Kraft besitzt, sich als wahr und authentisch durchzusetzen und in allen Dingen zu fließen. Der metaphysische Seinsakt der sadraischen Philosophie ist von seiner letzten Erscheinungsform nicht zu trennen. Er ist durch die substantielle Bewegung in der Natur präsent. Ṣadrā baut eine Ontologie auf, die darauf zielt, das klassische Spannungsfeld zwischen den Polen des überendlichen Einen (wuǧūd maḥḍ) und des Einen, das sich in der Vielfältigkeit entfaltet (wuǧūd munbasiṭ), zu versöhnen. Es handelt sich also nicht um die Aussöhnung zwischen der Einheit und der Differenziertheit in einer Dialektik, sondern um eine Logik der Ausdehnung, der Intensität (ištidād) und der Kraft, der potentiellen Energie. Aus der Unbestimmtheit des Seinsaktes hat Ṣadrā die Möglichkeit geschaffen, die Schöpfung in einen fließenden Akt der Vielfalt, des Seienden zu verwandeln, zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit. In diesem Sinne versteht sich die Philosophie nach Ṣadrā als eine Weisheit, die die Selbstaufgabe als Ziel der Schöpfung erkennt. Da die Philosophie die Ordnung der Welt aufdeckt, ahmt sie den Schöpfer nach, hat Ähnlichkeit mit den Handlungen Gottes, soweit das für den Menschen möglich ist. So begibt sich der Mensch in einen Prozeß, in einen Seinsprozeß, der zugleich ein Erkenntnisprozeß ist. Man kann hier von einer Selbstrevolution und Selbstreinigung sprechen. 2 Beide führen zur transzendenten Einheit. Der Mensch wird zum gehorsamen Diener Gottes, dem vollkommenen Philosophen, demjenigen, der die Gnosis der Welten der göttlichen Herrschaft besitzt. Der Akt des Seins ist ein Vernunftakt und man ist als Philosoph nicht nur verpflichtet, die Besonderheit des Seins zu erforschen, sondern darüber hinaus seine Attribute zu verinnerlichen. Deshalb kann man im Sinne Jambets von einer »exegetischen Philosophie«, einer philosophischen Exegese Gottes, einer Exegese des Buches und seiner Interpreten, einer Exegese seiner selbst sprechen. Diese Exegese haben wir ausreichend durch den Entwicklungsgedanken in Ṣadrās philosophischer Weltanschauung erfahren. Es wurde gezeigt, inwiefern die Erkenntnis und die asketische 2

Ebd., S. 53.

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Schlußbetrachtung

Aufgabe für die Vervollkommnung des Menschen von Bedeutung sind. Der Seinserkenntnis geht eine Selbsterkenntnis voraus, aber nur insofern, als diese jene enthält, denn die Selbsterkenntnis spiegelt in Ṣadrās Philosophie das Sein. Ṣadrās Philosophie ist von einem Gottesgedanken geleitet, der sich im Menschen als ein Prozeß manifestiert. Er ist in der Seinsentfaltung als Subjekt begriffen. Die Kontemplation (mušāhada) ist ein Zustand der Einheit, in dem der Mensch seinem wahren Ich begegnet. Das ist die Enthüllung des absoluten Seins. Die Kontemplation setzt ein von Askese geprägtes Nachdenken und Handeln voraus, eine Öffnung des Ichs zu seinem Sein. Das ist eine Erfahrung des Seins und seiner wahren Identität, die wir auch bei Ibn ʿArabī und Nasafī finden. Im Gegensatz zu Ibn ʿArabī und Nasafī ist die Vollkommenheit bei Ṣadrā jedoch ein Prozeß der Selbsterfahrung, zu der jeder Mensch durch die Erfahrung des Grads seines Seins Zugang findet. Damit kann nun das weitere Ergebnis folgendermaßen dargestellt werden: Die Aktualität Ṣadrās Philosophie ist nicht zu übersehen. Die Untersuchungen von Fazlur Rahman, Açikgenç und Kamal haben bereits gezeigt, welche Stellung seine Philosophie in der philosophischen Debatte im modernen Iran einnimmt. Es wurden Parallelen und Unterschiede zum modernen westlichen Existentialismus aufgezeichnet. Auch Jambet, der wie Corbin in Ṣadrā einen Philosophen sieht, der im Geist von Ibn ʿArabī und der suhrawardischen Tradition philosophiert, macht auf die Bedeutung seiner Aktualität aufmerksam. Die Anspielung auf Foucaults »Hermeneutik des Subjekts«, auf die »Transfiguration des Subjekts«, von der Diesseitigkeit zum Übernatürlichen, zeigt, daß Jambet sich dessen bewußt ist, daß Ṣadrās Existenzphilosophie angesichts der modernen Philosophie und der neuen Interpretationen des 19. und 20. Jahrhunderts eine neue Aufarbeitung verdient. Mit Jambet sehen wir in der sadraischen Metaphysik eine Weisheit, eine Art angewandte Metaphysik. Sie dient dazu, daß der Mensch mit seinen verfügbaren Kräften seine Aktualität als Mensch erreicht, die nicht auf das Diesseits begrenzt ist, sondern eine Vollkommenheit anstrebt, die aus dem Menschen einen neuen Menschen macht, ein Engelwesen. Daher ist seine Ontologie ein Diskurs des Seins, ein »negativer Diskurs«, eine via negationis, eine Verneinung selbst des Begriffs und seines Gegenteils, ja der Negation selbst. 3 Durch keinerlei Determi3

Ebd., S. 70 f.

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nierung des Seinsaktes, weder der Negation der Determinierung noch der Vorstellungsmöglichkeit eines sinnhaften Dinges (taṣawwur), kann man ihn zum Objekt des Denkens machen, er hat keinerlei mentale Existenz. Daher gehört er in den Bereich der Seele, der Intuition, der sich vervollkommnenden Seele. Das Wissen ist insofern die Existenz selbst, der Prozeß der Entfaltung und der Bewegung vom Seienden zum Sein. Der Seinsakt stellt die absolute Immanenz in der absoluten Transzendenz dar, den Brennpunkt, der alle Intensitäten, die kleiner sind als das Unendliche, generiert. Dadurch unterscheidet sich Ṣadrās Philosophie von der in »Sein und Zeit« als Ausdruck westlichen Denkens. Ṣadrā erkennt mit Heidegger eine »einsame Größe der menschlichen Einsamkeit«, »die hineingeworfen und hineingehalten ist in das Nichts«. 4 Auch wenn der Mensch in Ṣadrās und Nasafīs religiöser und mystischer Vorstellung in seinem Diesseitsdasein einem ähnlichen Schicksal ausgesetzt ist, geschieht es nur unter der Voraussetzung, daß der Mensch sich weigert, sich seinem wahren Sein zuzuwenden. Denn auch in der Existenzphilosophie Ṣadrās geht es wie bei dem Existentialismus eines Heidegger darum, daß das Ich sich seinem Sein bewußt wird, dem eine Enthüllung seines Seins folgt. Allerdings mit dem Unterschied, daß er dann immer in Bewahrung des Seins steht. In der westlichen Philosophie tendiert man eher dazu, die Wirklichkeit der Sache selbst erfassen zu wollen. 5 Die menschliche Entfaltung bzw. die Menschwerdung des Menschen ist nach der Existenzvorstellung Ṣadrās und Nasafīs aber eine Art Entschleierung, die dazu dient, das göttliche Licht aufzudecken, das im Seienden vorhanden ist. Die Tatsache, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Philosophien gibt, ist gewiß. Aber die vorliegende Arbeit hat gezeigt, daß es weniger die Unterschiede sind, die im Vordergrund stehen sollten, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit der anthropologischen Fragestellung der Perfektibilität, die zu interessanten Parallelen führen kann. Das Entschleiern bedarf einer besonderen Technik der Reinigung der Seele. Sowohl in der Existenzphilosophie Ṣadrās als auch im modernen Existentialismus ist der Mensch nicht untätig. Er Vgl. Rockmore, Tom (2000): Heidegger und die französische Philosophie. Lüneburg, S. 134. 5 Jambet, L’acte d’être, S. 151. 4

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Schlußbetrachtung

ist von dem Sein, das ihn umgibt, geprägt. In beiden Philosophien spielt die Selbstkonstituierung des Menschen eine wichtige Rolle. Während sie nach der modernen Vorstellung eine Begründung des Selbst als Subjekt in der Welt konstituiert ist sie im religiösen Geist eines Ṣadrās eine Fundamentierung des Selbst in der Seinsbegründung. Somit können wir von einem Selbstentwurf des Menschen sprechen. Unter Selbstentwurf verstehen wir zunächst den Entwurf einer Idee von sich selbst. Dabei geht es nicht um eine neue Selbsterschaffung, einen völligen Neuentwurf. Auch geht es dabei nicht um eine neue religiöse Orientierung oder die Verwerfung eines Glaubensbekenntnisses. Ebenso wenig geht es dabei um ein reines Artefakt. Der Selbstentwurf bedeutete im Sinne der Existenzphilosophie Ṣadrās nicht, daß keine Realität unabhängig vom Bewußtsein existiert (Solipsismus), sondern daß es eine Realität mit dem bzw. durch das Bewußtsein gibt. Wir entwerfen unsere Daseinsform und unsere Beziehung zur Welt selbst, denn wir können die Welt in ihrer Ganzheit nicht erfassen. Der Mensch entwirft ein Bild von seinem Wesen; demnach konstituiert er nicht nur seine Vorstellung (sein Ideal), sondern entwirft vor allem seine Lebensform. Der Selbstentwurf ist daher ebenso ein Lebensentwurf. Er entspringt der Vorstellung, das Menschsein sei ein Ideal, welches dem Existieren einen praktischen Sinn gibt. Der Selbstentwurf ist demnach das Leben nach einer Idee und zwar nach einem selbst entworfenen Selbstbild. Das bedeutet, auch im ästhetischen Sinne, gestaltend in die Welt des Inneren einzugreifen bzw. im Sinne Foucaults sich »als Subjekt selbst zu konstituieren«. 6 Foucault sagt dazu: »Selbstkonstituierung des Subjekts ist eine Selbstbegründung«, allerdings im Sinne einer hier in der vorliegenden Arbeit vorgestellten These der Perfektibilität im religiösen Weltbild. Darüber hinaus geht es uns hier um ein freies und autonomes Subjekt, das sein Wesen selbst begründet. Daher wollen wir keineswegs den hier gemeinten Selbstentwurf mit einer biologischen Selbsterschaffung oder der biologischen Optimierung gleichsetzen. Vielmehr verstehen wir die »Selbstkonstituierung« als eine Aufgabe, die von einem innerlich konstituierten Selbstbild geleitet ist. Es geht hier um die »Idee einer Arbeit des Selbst an sich« (Paul

Siehe dazu Schmid, Wilhelm (2000): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Frankfurt a. M., S. 78.

6

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Schlußbetrachtung

Veyne), 7 vorausgesetzt, wir verstehen unter einer solchen Formulierung die »Unbestimmtheit des menschlichen Wesens«. Wir gehen also von einem Selbstbild des Menschen aus, das, sich an einem gegebenen Idealbild orientierend, die Freiheit und die Souveränität des Selbstgestaltens unerläßlich macht. Denn die »Arbeit des Menschen an sich selbst«, wie sie für die Neugründung der Ethik in Foucaults Philosophie relevant erscheint, ist keine zweckfreie Ästhetik. Den Zweck begründet er mit dem an sich selbst orientierten Ideal. In Ṣadrās Existenzphilosophie sind Gott und sein Schöpfungsentwurf das Ideal einer dem Menschen durch sich selbst verliehenen Aufgabe, sich nicht »als das Produkt einer Heteronomie, die zu analysieren und zu verifizieren wäre« anzusehen, 8 sondern vielmehr als eine noch nicht festgeformte und entworfene Idee der Existenz, die sich seinem Ideal gemäß des eigenen und selbstverschuldeten asketischen und ethischen Lebensentwurfes verhält. Im Sinne der Lichtphilosophie Ṣadrās dient die Moral somit der Exegese des Lichtes, das Licht wiederum reinigt das Verhalten und die Sitten, um schließlich als das zu erscheinen, was es ist. 9 In der sadraischen Philosophie ist der Vollkommenheitsgedanke nicht ohne Gottesgedanken möglich. Ohne Transzendenz und die transzendentale Weisheit ist das Bewußtsein des Menschen nur eine Illusion bzw. eine Entfremdung. Daher ist der Vollkommenheitsgedanke bei Ṣadrā von einem Zweck bestimmt, der nicht allein im aristotelischen Sinne mit der Glückseligkeit beschrieben werden kann und auch nicht allein mit der Erkenntnis der Idee des Guten im neuplatonischen Sinne. 10 Er ist auch nicht nur spekulativ, also reine Betrachtung. Den Zweck findet Ṣadrā im Sein selbst. Die Seinsentfaltung enthält Glückseligkeit, Erkenntnis des Guten und Kontemplation, die mit einer Identifikation mit dem Vollkommenen einhergeht. Denn das begrenzte Subjekt erkennt durch die Unbegrenztheit des Seins eine totale unabhängige ewige Identität und so ist der Mensch in Ṣadrās Philosophie von einem einzigen Zweck bestimmt, nämlich von der Idee der Gottesähnlichkeit. Ein wahres religiöses Verhalten entspricht daher dem Bewußtsein Ebd., S. 32. Ebd., S. 78. 9 Jambet, L’acte d’être, S. 151. 10 Vgl. Passmore, Der vollkommene Mensch, S. 49. 7 8

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Schlußbetrachtung

seiner wahren Identität, ein Gedanke, der bis in die neue Zeit seine Wirkung gezeigt hat. Sowohl bei ʿAlī Šarīatī als auch in Muḥammad Iqbals Vorstellung vom Menschen 11 können wir diese Wirkung beobachten, auch wenn sich Šarīatī der traditionellen Philosophie gegenüber sehr kritisch zeigt. Die Religion ist für Šarīatī »die Bemühung um die Gewinnung des Selbst, um das Finden eines Streichholzes zur Entzündung des verstecktesten Mittelpunktes der Existenz des Selbst.« 12 Für Iqbal kommt es nach der Ansicht Schimmels auf das Ich des Menschen an, wenn er sich verwirklichen will. Er betrachtet den Menschen als zweiten Schöpfer neben Gott, weil er nur so die Stellung der »Stellvertretung Gottes« beanspruchen kann. Die Vervollkommnung des Menschen kann dann einen Sinn finden, wenn der Mensch Gott am nächsten steht und ihn nachahmt, ohne sein eigenes Ich zu verlieren: »Nicht er wird verloren in dem unendlichen Meer des Göttlichen, sondern er ist fähig, das göttliche Ego in seinem Ego zu absorbieren, so daß Gott ihn endlich nach seinem Willen bei der schöpferischen Tätigkeit fragen wird.« 13 Der Mensch, sein Wille, seine Erkenntnis und seine schöpferische Tätigkeit sind daher in der religiösen Vorstellung eines Ṣadrā oder Iqbal ohne die Metaphysik undenkbar. Trotz dieses Ansatzpunktes ist der »Mensch als Schöpfer und Geschöpf« (M. Landmann, gest. 1984) fragwürdig. 14 Aus Sicht islamischer Gelehrter gibt es, wie wir bereits gesehen haben, ohne die materielle Welt und den Prozeß der Natur keine Möglichkeit für ein naturhaftes Wesen wie den Menschen zur Erkenntnis zu gelangen, auch wenn es die Erkenntnis wie die Existenz des Menschen ohne göttliche Wirkung und ihre transzendentale Welt nicht geben kann. 15 Die Natur ist jedoch nur ein Forum, auf dem der Prozeß der Seinsentfaltung sichtbar wird. Daher gibt es ohne Metaphysik überhaupt kein Wissen und keine Erkenntnis wie auch keine Existenz und in diesem Sinne gibt es auch ohne Gottesentwurf keinen Selbstentwurf.

Zu Iqbals Ansichten siehe Popp, Stephan (2007): Mohammad Iqbal. Ein Philosoph zwischen den Kulturen. Nordhausen. 12 Siehe Kaweh, Silvia (2005): Ali Schariati interkulturell gelesen. Nordhausen, S. 78 f. 13 Zitiert nach Schimmel, Zur Anthropologie, S. 153. 14 Scharfe, Menschenwerk, S. 71 15 Für die meisten religiösen und mystischen Gelehrten sind sogar Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis ohne normative und ethische, sprich ohne praktische Anweisungen und Handlungen nicht möglich. 11

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Man kann die Welt der Existierenden, wie Otl Aicher sagt, 16 als einen stetigen vorgegebenen Kosmos oder einen Prozeß der Evolution sehen, man kann sie aber auch als Entwurf sehen. Doch wo es einen Entwurf gibt, gibt es auch eine Selbstentwicklung: »Im Entwurf nimmt der Mensch seine eigene Entwicklung in die Hand. Entwicklung ist beim Menschen nicht mehr Natur, sondern Selbstentwicklung. Dies gewiß nicht außerhalb der natürlichen Voraussetzung, aber doch die Natur übersteigend.« 17

Nach dem umfassenden Prozeß der stufenweisen Entfaltung des Intellekts in der islamischen Philosophie und Mystik nimmt eine Vorstellung ihren Ausgang, in der der Intellekt und der Mensch auf einer schöpferischen Entwurfslinie stehen. Einerseits ist der Mensch der Entwurf des Intellekts, der sich aus der Seinsentfaltung ergibt und andererseits ist der Intellekt im Entwurf des Menschen enthalten. Denn der Mensch als Prozeß befindet sich zugleich in diesem umfassenden Prozeß der stufenweisen Entfaltung des Intellekts. Der Mensch wird in einem geistigen Gestaltungsprozeß das Subjekt und Objekt eines göttlichen Plans. Als Ebenbild Gottes sucht der Mensch in Freiheit sein schöpferisches Selbstbild. Er erkennt nicht nur die Welt, die Ästhetik der Ordnung, der Exaktheit und Gesetzmäßigkeit, sondern er entwirft auch seine Person nach dem Entwurf Gottes. Gerade weil der Mensch in der Philosophie eines Nasafīs und Ṣadrās unbestimmt bzw. undefiniert ist und als Ebenbild Gottes Freiheit und Willen besitzt, sich von einem potentiellen und materiellen Zustand hin zu einem idealen Zustand zu entwickeln, entwirft er aus sich einen Mikrokosmos, in dem das Weltganze verankert ist. Das absolute und unthematische Sein (iǧmāl) ist eine in sich unbestimmte und geschlossene Welt. Aus dem Prozeß der Seinsentfaltung geht in Ṣadrās Sichtweise eine Welt des Intellekts hervor, eine Welt, die aus dem Selbstdenken Gottes entsteht, eine Selbstreflexion, die im Gegensatz zu der Meinung von Vorgängern Ṣadrās, nicht eine einzige Entität bewirke, wie Rudolph zu Recht betont, sondern eher zu unterschiedlichen

In Otl Aichers Werken, die ich zitiert habe, verwendet er eine besondere, von ihm selbst entwickelte Schrift (gen. »rotis«), die als ein Charakteristikum keine Großbuchstaben hat. Ich halte mich allerdings aufgrund der Einheitlichkeit in meiner Arbeit an die übliche Rechtschreibung. 17 Aicher, Otl (1991): Die Welt als Entwurf. Berlin, S. 196. 16

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ontischen Konsequenzen führe. 18 Denn, wie es Ṣadrās ontologisches Prinzip verlangt, aus dem Einen geht Eines hervor (al-wāḥidu la yaṣduru ʿ anhu illā l-wāḥid). Das Besondere an seiner Ontologie ist dennoch die Begründung der Vielschichtigkeit (taškīk) des Seins, die sich aus dem Verhalten des Einen ergibt, nämlich aus der Intensität und Aktivität des Seinsaktes, welche sich aspektuell mit jedem Wesen in seinem zeitlichen, schöpferischen und entfalteten Zustand verhalten. Aus dem unthematischen Sein geht somit eine thematische Welt hervor. Dieser Seinsaktivität folgt eine Aktivität des Intellekts. Dieser findet jedoch in seinem Handeln und seinen geistigen und ethischen Bestrebungen eine geordnete und thematische Form. Er hat eine Ordnung und eine Ästhetik, gemäß derer der Mensch seine Seele bestimmt. Darauf geht auch die Vorstellung des Dichters Muḥamūd Šabistarī zurück, als er sagte: »Die Welt ist Mensch geworden und der Mensch eine Welt.« 19 Diese Idee des Intellekts ist kein Symbol und auch keine Metapher, sondern eine »Kategorie des Bewußtseins und des Seins überhaupt« (ich übernehme diese Formulierung aus der Definition des Mythos durch Aleksej Losev). 20 Die reale Welt und die Willensfreiheit sind zwei Instrumente und zugleich inhaltsbestimmende Kategorien des Bewußtseins, mit denen der Mensch bestrebt ist, das Perfekte zu entwerfen. Die Perfektionsvorstellung des menschlichen Intellekts ist darauf ausgerichtet, sich immer von neuem zu entwerfen. Ṣadrās Konzept der Einheit der Erkenntnis hat bereits die Bedeutung des Intellekts für die Erlangung der Vollkommenheit gezeigt. Erkenntnis bedeutet Selbsterkenntnis als Einheit mit sich selbst. Intellekt und Wille als Mittel und Inhalt der Menschwerdung sind ein Entwurf des Vereintseins mit dem Ganzen. Hier fällt die Einheit der Erkenntnis mit der Einheit des Intellekts zusammen. Erkennt man etwas, so geht man in Übereinstimmung mit dem Gedachten. Die Welt wird somit zum Prozeß. Alles Sein ist Werden, alles Werden ist Denken, alles Denken ist ein Prozeß vom Unthematischem zum Thematischem und umgekehrt. Die Intellektualisierung der Menschwerdung scheint uns damit ein Entwurf des Selbstbildes zu sein. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 102. Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī (121380/2001): Tafsīr wa naqd wa taḥlīl maṯnawī Ǧalāl adDīn Muḥammad Maulawī. Bd. XIV. Teheran, S. 410. 20 Vgl. Losev, Aleksej (1994): Die Dialektik des Mythos. Hamburg, S. 66. 18 19

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Wie sich jedoch diese beiden Welten, das Absolute einserseits und das Vielfältige und Individuelle andererseits, zueinander verhalten, dies zu bestimmen, ist gerade das Anliegen der Existenzphilosophie Ṣadrās, in der er im Gegensatz zu Nasafī nach einem philosophischen System sucht, das diese Frage beantworten kann. Nach Ansicht islamischer Existenzphilosophen und speziell nach der Theorie der substantiellen Bewegung Ṣadrās signalisiert die Idee der Individuation und der Vielschichtigkeit der Existenz (taškīk) und der Seelenzustände eine Vielfalt der Zustände und Möglichkeiten. Ṣadrās Betrachtung der existentiellen Vielfalt begünstigt auch die unterschiedlichen Ebenen des Vollkommenheitstriebs und einer göttlichen Erleuchtungskontingenz, auch wenn am Ende alles in einen einzigen Ursprung münden wird. Daher ist die Entwicklung, die der Mensch seelisch oder körperlich durchläuft, individuell unterschiedlich, und daher kann auch die Lösung nur individuell begriffen werden, wobei der Mensch dennoch immer dem allgemeinen Seinszustand verhaftet bleibt. Auch wenn der Mensch sich als Gemeinwesen mit allen anderen Mitgliedern seiner Gattung und seiner Umwelt in Solidarität befindet und darin einen Teil der gemeinsamen Probleme zu bewältigen versucht, kann er jedoch keine gemeinsinnige Lösung für seine persönliche Entwicklung finden und das kann sich auch in der Findung des Glaubens widerspiegeln. Genau diesem metaphysischen Individuationsprozeß entspringt auch die Idee der Freiheit. Nicht die Tatsache, daß der Mensch in natürlicher Form zur Wahl der Dinge bestimmt ist, bestimmt die Freiheit, sondern daß der Mensch darüber hinaus nur individuell eine Lösung für seine »Glaubenswelt« akzeptieren kann und nur selbst dazu in der Lage ist, das Unaussprechliche, das Unthematische und die Urerfahrungen für sich und seine Existenz auszulegen, ein Aspekt, der in Ṣadrās Philosophie kaum direkt angesprochen, aber indirekt impliziert wird. Der Mensch ist, gerade aufgrund seiner Fähigkeit mittels eigener Erkenntnisse, eigener Wissens- und Geisteskraft und eigener Leistung den Vollzug seines Wesens, die Vollendung seiner Ziele und die Erfüllung seiner Existenz zu gewährleisten, auch in seiner Glaubenswelt nicht davon befreit, Gott aus eigener Kraft und Leistung näher zu kommen und sich ihm als Person und Ebenbild gegenüber zu stellen. Aus diesem Grund ist der Mensch, wie J. P. Sartre sagt, »nichts anderes als das, wozu er sich macht.« 21 So kann der Mensch im modernen west21

Zitat nach Kraus, Georg (1983): Blickpunkt Mensch. Menschenbilder der Gegegwart

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lichen Existentialismus nur in der Praxis und durch seine freie Tat seine Wirklichkeit bestimmen. »Der Mensch ist, was er vollbringt«. 22 Dieser Satz von Sartre kann zwar nicht die Gesamtwirklichkeit des Menschen und seiner existentiellen Wirklichkeit wiedergeben und ist auch nicht im Sinne Ṣadrās Existenzphilosophie formuliert, er macht aber deutlich, daß der Mensch in seinem jeweiligen gegenwärtigen Zustand ein Produkt seiner Selbsttätigkeit ist. Daher unterliegen, wie auch immer man sonst den Sinn der Religiosität des Menschen verstehen will, Vernunft, Glaube, Seele und die Welt überhaupt als innere Erscheinungen einem Selbstentwurf. Dies ist, wie es uns scheint, notwendigerweise die Konsequenz aus einer architektonischen Metaphysik, die man der Darstellung der Existenzphilosophie Ṣadrās entnehmen kann. Erziehung ist demnach als ein Aspekt zu sehen, der in der religiösen Vorstellung eines Existenzphilosophen wie Ṣadrā als Gottesdienst betrachtet werden kann. Das heißt, Erziehung wird nicht als Kunst, sondern als gottesdienstliche, geistige und seelische Kultivierung angesehen. Eine solche Kultivierung beruft sich auf die religiösen Weltbilder, gemäß derer sich die Idee von einer Selbstdefinition und Selbstbegründung ableiten läßt, welche einem Selbstentwurf gleichkommt. Die Rückkehr zu Gott ist verbunden mit einer erzieherischen Aufgabe, ohne die der Mensch unvollkommen bleibt. Es wurde sogar, was selten in der islamischen Gelehrtenkultur vertreten wird, die Möglichkeit einer Art Wiedergeburt oder Verwandlung in Betracht gezogen. Der Mensch ersetzt nach Nasafī seinen früheren Zustand durch eine höhere Entwicklung, so daß dadurch nasḫ (wörtl. Abrogation) stattfindet. Nasafī verwendet nasḫ im Sinne der Transformation. Wenn der Mensch sich aber auf einen niedrigen Zustand zurückstufe, so werde er »verwandelt« (masḫ). Wenn es dem Menschen nicht gelingt, die Stufe der Vollkommenheit zu erreichen, ist es Nasafī zufolge sogar möglich, in den tierischen, pflanzlichen oder den Gesteinszustand zurückfallen, so wie er umgekehrt in der Lage ist, sich bis zum wahren Menschsein zu vervollkommnen. 23 Mit der Erziehung zur sittlichen Vernunft und göttlichen Weisheit ist der Mensch in der Lage, mit Hilfe seiner geistigen und seelischen aus christlicher Sicht. München, S. 237. Siehe ebenso Sartre, Jean Paul: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: ders. (1977): Drei Essays. Frankfurt, S. 11. 22 Kraus, Blickpunkt Mensch, S. 237; Sartre, Ist der Existentialismus, S. 23. 23 Nasafī, Kitāb al-insān al-kāmil, 393 f.

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Veranlagung den Urzustand zurückzuerobern. Das höchste Gut wieder zu erlangen, erfordert Arbeit an sich selbst. Sich selbst zu begründen, setzt daher das Gute voraus, zu dessen Wesen, wie al-Fārābī meint, der freie Wille und die freie Wahl gehören. 24 In diesem Sinne kommen der Welt zwei Aspekte zu: Die Welt selbst wird zum Element der Erziehung und zur Arena eines pädagogischen Selbstvollzuges und -entwurfes. Im mystischen Konzept eines Nasafī können wir diese Selbstverwirklichung, welche dem Prinzip der Vollkommenheit unterworfen ist, ganz deutlich erkennen. Denn ihr geht es nicht um eine Sozialisationspädagogik, sondern vielmehr um eine transzendentale seelische Selbststeigerung und Selbstbegründung. Die Mystik ist keineswegs Selbstzweck, wie Ibn Sīnā sagt. Sie ist ein Mittel zur Erkenntnis, wie es im Kommentar dazu lautet. 25 Diese Erkenntnis ist nicht mit einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu vergleichen. Sie stellt den Inhalt der Stationen dar, die die Mystiker in deren Zuständen erfassen. 26 Diese Erkenntnis ist die Entschleierung des Weltlichen, die eine Enthüllung des Seins zur Folge hat und keineswegs Weltfeindlichkeit. Eine solche Ansicht erweckt den Eindruck, Erziehung sei überflüssig. Neben der Erziehung wurde auch die Ästhetik als ein Aspekt der Selbstwahrnehmung herangezogen. Ferner haben wir darauf hingewiesen, daß das ästhetische Selbstbild des Menschen im religiösem Leben weniger dem Glauben als Dogma zuzurechnen ist als vielmehr der ikonisierten Perfektion, die dem Glauben angehängt wird. Das Gefühl des Überwältigtseins von der Größe der Schöpfung, die die Idee einer kreativen Über- und Allmacht mit sich bringt, erzeugt nicht nur eine »negative Lust« bzw. Ohnmacht, sondern auch ein Identifikationsgefühl mit dem Perfekten, was sich als Vorbild für die Nachahmung exemplifizieren läßt. Das Vorbild bleibt jedoch nicht real. Seine Idealität verdankt der Mensch der Fähigkeit der Selbstranszendierung. Das Ich befindet sich in einem Spannungsverhältnis der Grenzüberschreitung. Ästhetik als eine Quelle der Selbstreflexion öffnet eine Dimension des Selbstbildes, in der die Welt als Modell bzw. Symbol ikonisiert wird. Die Ikonizität des Perfekten erzeugt das Weltbild des Inneren. Leidenschaftliches Be»lamā kāna šaʾ na l-ḫairi fī l-ḥaqīqati an yakūna yanālu bi-l-irādati wa-l-iḫtīyār« Vgl. al-Fārābī, Ārāʾ , S. 113. 25 Vgl. Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. III, S. 390. 26 Vgl. Kāšānī, Miṣbāḥ, S. 125 f. 24

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gehren der Welt und das endlose Streben nach Perfektion prägen permanent den äußeren und geistigen Entwurf des Befindens. Der Mensch als Ebenbild des Schöpfers begibt sich in eine Position, in der die schöpferische Genialität und Machbarkeit unweigerlich zu den Prinzipien des ewigen Lebens gehören. Die Existenz wird als eine ästhetische Einheit als oberstes Ziel des Lebensentwurfes gesetzt. Das Leben wird zum Forum des ästhetischen Begehrens, Schmeckens und Erlebens und nicht zuletzt zum Forum der ästhetischen Vollendung der Perfektion. In diesem Sinne können wir sagen, daß der ästhetische Gottesentwurf zugleich einen ästhetischen Selbstentwurf beim Menschen impliziert. Für einen Anhänger der geistigen Schule Ṣadrās im 20. Jahrhundert wie Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī kann das Schöne nur in einem freien existentiellen System seine Wirkung beibehalten und die menschliche Seele kann nur unter solchen Bedingungen das Schöne erfassen und entwerfen. 27 Die Vielfalt des Schönen ist verbunden mit den vielfältigen und unendlichen Möglichkeiten der inneren Kreation, und diese innere Dimension des Ästhetischen steht unter dem Prinzip der Freiheit und der Unendlichkeit, welche Hegels Theorie der Ästhetik und Kunst zugrunde liegen. Darauf führt Ǧaʿ farī auch die Entwicklung unserer inneren Kräfte und der Geistigkeit zurück, wodurch der ästhetischen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle erwächst. Der Geist vermischt sich mit der Substanz der Ästhetik. Von besonderer Bedeutung sind hierbei auch das existentielle Bewußtsein, die Mannigfaltigkeit und die substantiellen Veränderungen des Lebens, was im Sinne der sadraischen Existenzphilosophie verstanden wird, denn das Leben wäre Ǧaʿ farī zufolge ohne ästhetische Erscheinung und Mannigfaltigkeit im Dasein unerträglich. 28 »In unserer Zeit erdrückt die bewußtlose Maschine, mit ihren vielfältigen Varianten, den bewußten Menschen. Da einer den wichtigsten Faktoren der Frische und Freude des Lebens die Beziehung des Menschen zur Ästhetik ist, speziell zu den Schönheiten der Natur und den im Geist vorhandenen intelligiblen Idealen, und da der Mensch durch die Gewalt des mechanischen Lebens von diesen beiden ästhetischen Arten entfernt wurde, erfaßt den Menschen ein Gefühl des Nihilismus und macht dadurch das Leben vieler Menschen depressiv und verwelkt. […] Mit der Ästhetik ermöglicht [Gott] die Beruhigung, Ausgeglichenheit, Verbundenheit und Vertrautheit mit der natürlichen Welt. Und so schafft er 27 28

Ǧaʿ farī, Zībāʾ ī, S. 21, 87 ff. Ebd., S. 23.

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auch die ästhetische Gestaltbarkeit im Menschen, der mit seinen Händen bunte und sehr glänzende Gläser innerhalb des großen Gefängnisses der Quantität baut und dies macht dieses Gefängnis erträglich und verändert diese bedrängnisvolle Situation.« 29

Diese ästhetische Seinsbezogenheit ist der Ausgangspunkt für eine ästhetische Machbarkeit der Seele. Ǧaʿ farī erklärt sie zur inneren Aktivität der Seele am Beispiel der Blume. Die Seele erschafft zwar keine Blume, bildet sich aber der Substanz des Schönen nach und vermischt sich mit dieser und so bekommt sie die gestalterische Kraft des Ästhetischen. Die Freiheit ist daher keine Gefahr, sondern ein notwendiges Werkzeug, ohne das der Mensch keine Möglichkeit hat, die Höhe des Seins zu erlangen. Denn gerade durch die Freiheit kann der Mensch das Sinnbild der Ewigkeit in sich reflektieren. Nur in der Freiheit kann sich der Mensch zwar nicht vergewissern, aber erhoffen, das Leben durch die eigenen Hände für sich zu gewinnen. Existenzbejahung und Existenzbewahrung gehen somit mit der Idee der Freiheit einher. Aufgrund dieser Freiheit des Selbstentwurfes wandelt sich der Wert des Lebens in einer ästhetischen Schau des Lebensentwurfes, was mit der Idee des Glaubens verbunden ist. Der Mensch als Prozeß befindet sich somit in einem Prozeß des Ästhetischen, welchen auch der Glaube ikonisch im Herzen gestaltet. Denn das ästhetische Erleben des Ganzen erzeugt ein ganzheitliches Lebensgefühl, das nicht rein sinnlich bleiben kann. Es ist bildhaft, sinnhaft und sinnfern zugleich. Der Glaube begleitet das Schöne. Und das Schöne ist die Bedingung des Begehrens. Der Glaube bedeutet somit Begehren. Er ist die Liebe zur Schönheit, die das Vollkommene und Ewige im Vereintsein mit dem Ganzen impliziert. Sie ist die Kraft der Seinsentfaltung. Liebe und Schönheit sind somit in einem Prozeß des Einheitsvollzuges verbunden. Der Glaube bestimmte in der religiösen Besinnung eines Ǧaʿ farī die äußere Lebensform und die innere Selbstbesinnung. Die geistige Innenwendung, die intellektuelle Freude, die sittliche Ästhetik und das Leben im Einheitsvollzug sind unterschiedliche Formen, die in einer Glaubensästhetik auftauchen können. Sie können vereinzelt oder aber auch ergänzend die Glaubenswelt des Menschen beschreiben. In allen ästhetischen Formen setzt der Mensch auf das Perfekte: Auf die vollkommene Betrachtung, das vollkommene Wissen, die höchste Intellektualität, die voll-

29

Ebd., S. 23 f.

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kommene Erziehung, den Entwurf des vollkommenen Werkes und den vollkommenen Lebensvollzug. Was hier Glaube, Erziehung und Ästhetik zur Vervollkommnung leisten, zeigen auch die Schwierigkeiten der heutigen Debatte um den Sadraismus, in der es um mehr geht als um die Frage nach der traditionellen Verankerung und den Zweck seiner Existenzphilosophie. Diese Debatte ist weder von einem politischen oder sozialen Motiv noch von einem neuen wissenschaftlichen Geist bestimmt. Gleichwohl liefert seine Philosophie der Vollkommenheit eine Kontinuität des Gottes- und Menschenbildes in der philosophischen Tradition, die im Sinne der Offenbarung ein positives Bild vom Menschen zu zeigen versucht. Dennoch wird die Frage nach der Perfektibilität in seiner Philosophie im positiven Sinne weniger durch die Offenbarung als vielmehr durch sein philosophisches System beantwortet. Sie wurde zwar nicht isoliert von der Offenbarung im positiven Sinne gedacht, aber dennoch nicht unabhängig von dem diskursiven Denken oder der Philosophie thematisiert. Angesichts der modernen Anthropologie und des humanistischen Bildes vom Menschen scheint es, daß die neue Interpretation und die Erklärungsversuche zur Existenzphilosophie Ṣadrās bezüglich der Frage nach dem Menschen, seiner Erkenntnis und seiner Selbstverwirklichung die Konsequenz einer solchen Debatte spiegeln. Es wurde gezeigt, daß keine entscheidende (substantielle) Gemeinsamkeit zwischen der modernen und der sadraischen Existenzphilosophie zu finden ist, die die beiden Philosophien miteinander verbinden könnte. Was jedoch den Vollkommenheitsgedanken betrifft, ist noch darauf hinzuweisen, daß dieser dem Grundgedanken, der zu der Idee der Perfektibilität geführt hat, in beiden Philosophien ähnlich scheint. Wir haben bereits diesen Grundgedanken in unserer Einleitung formuliert: A) Der Mensch, so wie er ist, ist nicht gut genug. B) Der Mensch besitzt das Potential zur Perfektibilität und zur Selbststeigerung. In beiden Philosophien sind die geistige Fähigkeit, Willensfähigkeit und Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Hinblick auf seine Entfaltungsmöglichkeiten gemäß des Existenzprozesses die wichtigsten Fundamente der Perfektionierung bzw. Selbstverwirklichung. Und in beiden setzt man die Selbstbeteiligung an seiner Verwirklichung voraus, nur mit einem fundamentalen Unterschied: Während im modernen Existentialismus der Mensch immer als Subjekt und Akteur seiner Selbstverwirklichung frei und unabhängig von der transzendentalen Wirkung erscheint, handelt er in der religiösen Auffassung eines Ṣadrā 368 https://doi.org/10.5771/9783495860663 .

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als freies und verantwortliches Subjekt immer im Angesicht Gottes und nach dessen Schöpfungsentwurf. In der sadraischen Existenzphilosophie begreift der Mensch sich selbst als (sittlichen und religiösen) Auftrag. Aber solche und ähnliche Gedanken, die sich in der islamischen Welt verbreitet haben, folgen nicht zwangsläufig aus einer anthropozentrischen Vorstellung. Die Idee der Perfektibilität ist zusätzlich von der Vorstellung geleitet, daß jedes Wesen, einschließlich des Menschen, in welcher Form auch immer er existiert, gegenüber Gott und dem höchsten Sein unvollkommen und mangelhaft ist. Daher ist es in einer religiös verankerten Philosophie der Existenz besonders wichtig, daß der Mensch in seiner Beziehung zu Gott konzipiert wird.

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Register

Abaqa 36 Abharī, Aṯīr ad-Dīn 43 Abraham 265, 284 Absāl 240f Abstieg (arab.: nuzūl, ḥubūṯ) 170 Abū al-Ḫair, Abū Saʿ īd 303 Abubacer, s. Ibn Ṭufail, Abū Bakr Açikgenç, Alparslan 44, 48 ff., 101, 103, 123 193, 151 291, 207, 214 f., 217, 230 240, 239 258, 336 234, 356 Adam 78, 80, 83, 86, 147, 180 87, 186 f., 190 f., 224 f., 284, 305, 341 Adler, Alfred 193 124 Affifi, Abdul Ela 60 Aḥsāʾ ī, Aḥmad 163 Aicher, Otl 361 Aktivität (fiʿ līya) 30 27, 52, 115, 162 f., 168, 170 f., 207, 354, 362 Aktualisierung (taḥaṣṣul) 30 27, 46, 56, 171 f., 174 f., 184 Akzidentien 49 90 Allmacht Gottes (arab.: ǧabarūt) 84, 88, 146, 314, 325 ʿ Alwānī, ʿ Abd al-Waḥīd al- 66 ʿ Āmilī, Bahāʾ ad-Dīn 39 Āmulī, Ḥaidar 40, 306 148 Anthropologie 23 13, 25, 27 19, 48, 52, 70, 133, 141, 154, 251, 345, 368 Anthropomorphismus 81 Antlitz (arab.: waǧh) 96, 146, 248 280 Anziehung (arab.: ǧāḏiba) 144 Aposteriorität 122 Aquin, Thomas von 54 106 Äquivozität der Existenz (arab.: taškīk al-wuǧūd) 46, 49

Aristoteles 71, 83, 92 76, 113, 116, 119, 128 219, 139 262, 152, 179, 239 260, 246, 299 Askese 200, 209, 226, 265, 282, 296, 312, 317, 334, 336, 343, 348, 356 Aštiyānī, Ǧalāl ad-Dīn 41 Aufstieg (arab: ʿ urūǧ, miʿ rāǧ) 107 Augustinus 70 Ausdehnung (arab.: imtidād) 96 Außenseite (arab.: ṣūra) 119, 142, 148, 288, 349 Avicenna, s. Ibn Sīnā, Abū ʿ Alī 266 26, 288 ʿ Awwā, ʿ Ādil 266 26, 288 Bābā Afḍal Kāšānī, s. Kāšānī, Afḍal adDīn Baqlī Šīrāzī, Rūzbihān 330, 333 225, 343 ff., 347 Baumgarten, Alexander Gottlieb 322 Bergson, Henry 47, 172 Betrachtung, subjektive (arab.: amr iʿ tibārī) 111 Bewegung, leidenschaftsgeleitete (arab.: ḥaraka šauqīya) 121 Bewegung, natürliche (arab.: ḥaraka ṭabīʿ a) 120 Bewegung, seelische (arab.: ḥaraka nafsīya) 121 Bewegung, substantielle (arab.: ḥaraka ǧauharīya) 50, 100, 113, 119, 161, 171, 353 Bewegung, willentliche (arab.: ḥaraka irādīya) 121, 200

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Register Bewegung, zwingende (arab.: ḥaraka qasrīya) 120 Bin Yaqzān, Ḥayy 240, 279, 337 Bioethik 51 96, 66, 241 Bīrūnī, Abū ar-Rayḥān al- 119 183 Bloch, Ernst 279 71 Blumenbach, Johannes 22 Blut (pers.: ḫūn) 143 Boer, Tjitze J. de 90 65 Bogen, absteigender (arab.: qaus nuzūlī) 134 Bogen, aufsteigender (arab.: qaus suʿ ūdī) 134 Böhme, Jacob 54 106, 265 Brown, Norman 68 Browne, Edward G. 40f Buddhismus 36 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 22 Camus, Albert 191 118 Chittick, William C. 27, 36, 45 f., 61 f., 134 Christen, nestorianische 36 Chuang Tzŭ 62 Corbin, Henry 34 31, 37 41 55, 43 ff., 47, 49 90, 54 106, 56, 59 f., 93, 132 234, 142, 144 278, 209 168, 252, 347, 356 Croce, Benedetto 322f Dāmād, Mīr 39 f., 90 68 Darré, Walther 22 Darwin, Charles 54 106, 172 Daseinsarchitektonik 107 Daštakī, Ṣadr ad-Dīn 40, 216 Dāwarī, Riḍā 268 ff., 276 Denken (arab.: mutafakkira) 136 Denkender (arab.: ʿ āqil) 139, 179, 182 Descartes, René 17, 40, 161, 201, 229f Dialektik 111, 289 102, 324 197, 329 213, 355 Dialektik des Seins 54 Dieterici, Friedrich 92 Disposition (arab.: fiṭra) 67, 75 f., 84, 157, 168, 179, 191, 283 Dissens 25, 29 Dschingis Khan 36

Dunkelheit (arab.: ʿ amā) 105 Duns Scotus, Johannes 49 90 Eich, Thomas 20 2, 272 Eidenbenz, Mathias 22 Einbildung (arab.: wahm) 136 f., 187, 222 Einheit, umfassende (arab.: waḥda ǧāmiʿ a) 122 Einsheit (arab.: aḥadīya) 105f Eklektizismus 47 Elemente der Natur (arab.: ʿ anāṣir) 143 Emanationslehre, neuplatonische 54, 92, 147, 237, 249 Emotionen (arab.: ḫawāṭir) 128 210 Entfaltung (arab.: inbisāt) 113, 162 Entfaltung des Seins (pers.: basṭ-i wuǧūd) 96 Entität 73, 104 Entwerden (arab.: fanāʾ ) 62 Entwicklung (arab.: namā) 96 Epistemologie 56 f., 131, 214, 220, 239 Epistemologie, evolutionäre 46 Erde (arab.: turāb) 78 Erheit (arab.: huwīya) 105 Erheit der göttlichen Wahrheit (arab.: huwīyat al-ḥaqq) 108 140 Erkenntnis 46, 48, 51, 61, 63, 74, 95, 99 105 Erkenntnisfähigkeit 28, 31, 156, 304 142, 368 Erkenntnistheorie 48, 213 ff., 222, 254, 275, 290, 339, 342 247 Erziehung 22, 28, 32, 168, 235, 254, 255, 258, 274, 276, 284, 287, 289 f., 292, 294, 299, 302 ff., 307 ff., 313 ff., 317 f., 328, 343 f., 348 f., 364 f., 368 Eschatologie 56, 175, 209 168, 275 58 Ess, Josef van 80 30, 90 65 f. Essentialismus 53, 97, 110 Essenz (arab.: māhīya, pers.: ḏāt) 53, 91 71, 101 f., 109, 156, 313 Eugenik 22 Eva 147, 186 f., 190f

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Register Evangelien 36f Evolutionstheorie 57, 242, 354 Ewiger, lebendiger (arab.: ḥayy qayyūm) 112 Existentialisten 48, 91 71, 101, 210 Existenz 270 f., 278, 286, 289 ff., 296 ff., 309, 311, 313, 315, 317, 321, 324, 327 ff., 337, 343, 346, 351 ff., 357, 359 f., 363 f., 366, 369 Existenz, absolute und ausgedehnte (arab.: wuǧūd muṭlaq wa-munbaṣit) 110 Existenz, ausgebreitete (arab.: wuǧūd munbaṣit) 30, 104, 355 Existenz, bedingte (arab.: wuǧūd muqayyad) 109 Existenz, extensionale bzw. objektive (arab: wuǧūd ʿ ainī) 102, 216, 222 213 Existenz, intensionale bzw. subjektive (arab.: wuǧūd ḏihnī) 102, 215, 222 213, 325 200 Existenz, reine oder unvermischte (pers.: wuǧūd-i maḥḍ) 30 Existenzen, real existierende (arab.: ištirāk maʿ nāwī) 101 Existenzmonaden (arab.: wuǧūdāt) 114 Existenzphilosophie 48 pass. Existenzstufen 49 90, 149, 157, 169, 349 Existenztheorie 48, 85 Existierende (arab.: mauǧūdāt) 89 63 Extension (arab.: miṣdāq) 101 Fārābī, Abū Naṣr al- 15, 35, 92, 104, 116, 152, 159 11, 235 f., 239, 251, 261, 337, 354, 365 Findiriskī, Mīr 39 Finsternis (arab.: ẓulma) 87, 146 Fließen (pers.: sarayān) 113, 161f Foucault, Michel 174, 306, 356, 358f Freiheit 17 pass. Gabrael 251, 133, 166 Gabriel, s. Gabrael Gadamer, Hans-Georg 74 4

Ǧaʿ farī, Muḥammad Taqī 307, 322 193, 366f Galle (pers.: safrā) 144 Ġazālī, Aḥmad 27, 35, 38, 47, 81 f., 130, 157, 167 f., 208 f., 229 f., 232, 234, 272 f., 288 Gefängnis (pers.: ṭilasma) 95, 131 Gegenstand (arab.: mauḍūʿ ) 101 Gehirn (pers.: dimāġ) 144 Geist (arab.: rūḥ) 75, 78, 82, 87, 117 178, 128, 131 229, 142 f., 158 10, 165 ff., 200 Geist, animalischer (arab.: rūḥ ḥayawānī) 124 f., 129 223 Geist, menschlicher (arab.: rūḥ insānī) 143 Geist, natürlicher (arab.: rūḥ ṭabīʿ ī) 129 Geist, personenhafter (arab.: rūḥ nafsānī) 143f Geist, vegetativer (arab.: rūḥ nabātī) 143 Gemeinsinn (arab.: ḥiss al-muštarak) 136 Genmanipulation 122 Genoptimierung 20, 67, 281 Gentechnik 17, 67 Gestalt des Geistes (pers.: ṣūrat-i rūḥ) 82 Ǧīlī, ʿ Abd al-Karīm al- 61 138, 65 156, 105, 285 90, 333 225, 341 Gleichsetzung von Mensch und Gott (arab.: tašbīh) 81 Gleichsetzung, partielle (arab.: baʿ ḍīya) 81 Gnosis 56, 63, 175, 224, 227, 270, 299, 355 Gnosis, schiitische 41 Gottebenbildlichkeit 80 f., 83, 85f Gottesbild 58 126, 68, 351 Gottesliebe (pers.: maḥabbat-i ilāhī) 82 Habermas, Jürgen 19 1 Ḥadīṯ 25, 43 63, 80, 86, 91, 224f

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Register Hadot, Pierre 45, 99 105, 340 Ḥāfiẓ 64 Ḥāʾ irī Yazdī, Mahdī 49 90, 104, 200 144, 216 f., 220 205, 245 274, 306 Hajatpour, Reza 16 ff., 104 126, 106 135, 200 144, 261 8, 272, 306 147 Ḥallāǧ, Manṣūr al- 309 Hamadānī, Abū Yaʿ qūb 188, 209 169, Ḫāmanaʾ ī, Muḥammad 57 ff. Ḥammūya, Saʿ d ad-Dīn 38, 114 162, 189, 312 Ḥanīf 76 12 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 54 f., 98, 161, 175, 178, 322 193, 366 Heidegger, Martin 48 f., 51 f., 54, 102, 114, 140, 161, 194, 196, 357 Hendrich, Geert 29 24, 34, 43 65, 242 269, 278 71 Heraklit 118, 161, 249 Herder, Johann Gottfried 274 52 Hermeneutik des Subjekts 56, 356 Herz (pers.: dil) 144 Himmelssphäre, erste (pers.: falak-i awwal) 88, 92, 125 Homer 69 Homonymie (pers.: ištirāk-i lafẓī) 101 Horten, Max 43 65, 47, 95 90 Hülägü Khan 36 Humāʾ ī, Ǧalāl ad-Dīn 80 29, 82 Humanismus 51 96, 64 Hypostasen 83 Iblīs 187 Ibn ʿ Arabī, Muḥyī ad-Dīn 16 f., 23, 26, 33 f., 38, 40, 45, 47, 54, 58 ff., 65, 81, 88, 97, 103, 105, 112 f., 142, 147, 222, 231 f., 252, 286, 310, 356 Ibn Miskawaih, Abū ʿ Alī 92, 127 f., 142 271, 288, 307 ff. Ibn Qutaiba ad-Dīnawārī, Abū Muḥammad 87 54 Ibn Rušd, Abū al-Walīd 15, 43, 92, 202, 267 f., 279 72, 289, 341 247 Ibn Sīnā, Abū ʿ Alī 15 ff., 40, 43, 47, 54, 88, 92, 102, 104 f., 113, 116, 119, 128 f., 137, 142 271, 152, 163 f., 184,

201, 211 f., 222, 229, 239 ff., 243, 246, 252 f., 259, 279 71, 307, 324, 334, 354, 365 Ibn Ṭufail, Abū Bakr 35, 240 f., 253, 279 f., 337f Ibn Turka, Šāʾ in ad-Dīn 40, 59 Ibrāhīm, Zakarīyā 301 Ichheit (arab.: innīya) 105, 107f Ideenlehre, platonische 138, 140, 172 62 Identität 55, 108, 116, 136, 154, 158, 160 f., 165, 173 f., 206, 217, 243, 245, 250, 256, 258 f., 261, 266, 336, 356, 359f Illusion (arab.: ḫayāl) 61, 136 f., 187 Imagination (arab.: mutaḫayyila) 136 Immunsystem (arab.: dāfiʿ a) 144 Individualität 48, 57, 138, 173, 255, 321, 346 Individualität des Seins 50 Individuation (arab.: tašaḫḫuṣ) 115 Intellekt 29 pass. Intellekt (arab.: ʿ aql) 128, 131 229, 176 f., 179, 187, 198, 206, 254 Intellekt, erster (pers.: ʿ aql-i awwal) 88, 92 76, 147 Intellekt, intuitiver (pers.: ʿ aql-i fiṭrī) 82 Intellekt, schöpferischer und lenkender (pers.: ʿ aql-i ḫalqī wa-mudabbir) 82 Intuition 44, 54, 56, 114, 135, 221 ff., 225, 264, 357 Iqbal, Muhammad 65 158, 95 87, 105 131, 107 ff., 131 f., 229 238, 254, 360 Iran 93 83, 158 9, 261 8, 356 Ismailiten 142, 319 185 Ith, Johann Rudolph (Sohn) 22 Ith, Johann Rudolph (Vater) 22 Izutsu, Toshihiko 61 f., 65 156, 69, 90 68, 96 96, 119 180, 159 12, 311, 342 249 Jacob 265 Jambet, Christian 30 27, 41, 49 90, 54 ff., 87, 98 102, 102, 105, 109, 111 ff., 135, 138, 162 ff., 170 ff., 174 ff., 182 ff., 194, 198, 201, 203, 208 f., 211 ff.,

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Register 224 ff., 246, 252, 258 ff., 290, 297, 299, 324 f., 348 f., 353 ff., 359 9 Jesus 284 Kabīr, Yaḥyā 59, 65 156 Kamal, Muhammad 49 90, 54, 97 f., 102, 104, 116 ff., 125 f., 140, 149, 160 ff., 165, 171 f., 194, 213 f., 221 ff., 227 f., 250 288, 260 ff., 272, 356 Kant, Immanuel 17, 105, 239 259, 301 130 f., 322 192 Kāšānī, Afḍal ad-Dīn 35 f., 133 f., 190 f., 205 f., 244 Kāšānī, ʿ Izz ad-Dīn 80 29, 82, 85 48 Kausalität 49 90 Keimzelle (arab.: nuṭfa) 143, 146, 245, 251 Key, Ellen 22 Khalifa, Abdul Hakim, 63, 65 158 Khan, Allāhverdī 42 Kierkegaard, Sören 70, 278 Kindī, Abū Yūsuf al- 15, 92 f., 184, 239, 342 248 Klonen 19 f., 66f Konsens 25, 29, 32 Kontinenz (arab.: māsika) 144 Kopula (arab: rābiṭ) 103 Koran 25, 33, 66, 75 ff., 81, 85, 89 ff., 108 140, 128, 144 280, 149, 157 ff., 165 f., 171, 174 67, 177, 189 ff., 193 ff., 230 f., 237, 265 f., 271, 276, 282 f., 285 87, 304f Körper (arab.: ǧism) 117 178, 142, 173 Körper (pers.: badan) 86 f., 129 Körpersaft, dunkler (pers.: saudā) 143 Korpus, seinsmonistisches 83 Kosmologie 38, 52, 92, 134, 147, 38, 52 Kosmos 43 61, 73, 79, 104, 141, 150, 164, 209, 282, 286, 329, 340 f., 361 Kristallisation (arab.: wuqūʿ ) 114f Kubrā, Naǧm ad-Dīn 38, 83 41, 343 Küenzlen, Gottfried 70, 19 1, 21 5 Lao-Tzŭ 62 Laplace, Pierre-Simon

172

Leaman, Oliver 26 18, 44 67 f., 103 119, 117, 222 Leben (arab.: ḥayāt) 84, 91, 94 84, 199, 296 Leben, absolutes (arab.: ḥayāt muṭlaqa) 91 Leben, wahres (arab.: ḥayāt ḥaqīqīya) 91 Leibniz, Gottfried Wilhelm 114, 201 Lessing, Gotthold Ephraim 279 71 Licht (arab.: nūr) 82 38, 86 f., 129 123,131 229, 146 Licht der Lichter (arab.: nūr al-anwār) 94, 98, 129 223, 338f Licht, erstes abstraktes (arab.: nūr muǧarrad) 94 Lichtäquivozität 46 Lichter, leitende menschliche (arab.: anwār mudabbira wa-insīya) 132 234 Lichtmetaphorik, platonische 83 Lichtmetaphysik 40, 93 83, 130, 132 f., 142, 148, 152, 338 Lichtphilosophie, altiranische 87 Logos 78 Losev, Aleksey 362 Macilwain, Colin 67 Maḏkūr, Ibrāhīm 76 12, 240, 310 162 Manifestation (arab.: taǧallī) 62 Maqdisī, Muṭahhar al- 190 115 Massignon, Louis 63 146, 65 158 Materie, feine körperliche (pers.: ǧān) 129 McLean, George F. 53 Meier, Fritz 34, 36 ff., 114 162, 218 201, 303 136, 312, 321, 327, 344 Mendelssohn, Moses 279 71 Mensch, geheiligter (chin.: shĕn jĕn) 62 Mensch, neuer 19 ff., 25, 28, 32, 76 f., 120, 156, 248, 356 Mensch, perfekter (arab.: insān kāmil) 37, 58, 62, 171, 319 Mensch, wahrer (chin.: chĕn jĕn) 62

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Register Menschenbild, islamisches 20, 23, 25 f., 29, 31, 37, 51, 54, 59 f., 71, 178, 323, 351, 368 Metaphysikphilosophie 45 Methodologie 46 Mikrokosmos (pers.: ʿ ālam-i saġīr) 84, 134, 143, 146, 186, 203, 246, 255, 286 f., 294, 314 f., 333, 347, 361 Molé, Marijan 37, 229 Monade 114, 264 Mongolen 148, 36 f., 83 41 Monotheismus 91 71, 240 Moris, Zailan 54, 56 f., 86, 126 206, 134 246, 136 253, 172 ff., 312 183, 223 f., 227 231, 270, 304 142, 325 200 Mudarris Zunūzī, ʿ Alī 173 Muġnīya, Muḥammad 268, 282 ff. Muḥammad 59, 63, 108 140, 176, 279, 284 ff. Mullā Ṣadrā, s. Širāzī, Ṣadr ad-Dīn ašMuqaddasī, s. Maqdisī, Muṭahhar alMuṣṭafā, Ibrāhīm 76 12 Muṭahharī, Murtaḍā 64 f., 278 Muʿ taziliten 90, 127f Nahrung (arab.: ġāḏiya) 144 ff., 167, 346 Namen (arab.: asmāʾ ) 79, 231 Nasafī, ʿ Azīz ad-Dīn 13 pass. Nasr, Hossein 39 49 f., 41 f., 44 f., 54, 59 f., 241 Naṣrī, ʿ Abd Allāh 64f Nationalsozialismus 51 96 Natur (arab.: ṭabīʿ a) 119, 143 Naturanlagen (arab.: ṭabāʿ īʾ ) 143, 155 1, 167 Naturphilosophie 56, 340 Naturseele 129, 178 Naturwissenschaft 21, 120 185 Neuplatoniker 29, 83, 158 Neuplatonismus, peripatetischer 118 Nichts 66, 75, 90 68, 134, 139, 333 f., 357 Nichtsein (arab.: ʿ adam) 53, 87, 90, 95, 107, 109, 115, 119, 139, 148, 152,

180, 181, 197, 200, 206 ff., 215, 249 284, 291 f., 294, 298 f., 301, 330 f., 355 Nietzsche, Friedrich 50 92 Noah 284 Nominalismus 113 Oelkers, Jürgen 22 Offenbarungstexte 26, 29, 33 Ontologie 42 59, 55 f., 71, 73 f., 79 f., 90, 96, 101, 106, 114, 116 f., 131, 134, 147, 161, 163, 175, 188 106, 214 f., 222, 228, 245, 248, 251, 260, 316, 328, 330 f., 334, 345, 355 f., 362 Pädagogik 21 f., 289, 304f Paret, Rudi 13, 75 7, 345 Parmenides 118 Passmore, John 68, 71 Pennisi, Elizabeth 67 Perfektibilität 16 pass. Peripatetiker 39 Person/Individuum (arab.: šaḫṣ) 114, 123 Pico della Mirandola, Giovanni 106, 272 74 Platon 160, 172 62, 246 275, 344 254 Plotin 83 Pluralität 49 f., 104, 114, 264 Porphyrios 237 Potentialität (arab.: quwwa) 123, 130, 245, 338 Prädikat (arab.: maḥmūl) 101, 103 Präeminenz des Seinsaktes 55 Primat der Essenz (arab.: aṣālat al-māhīya) 50 Primat der Existenz (arab.: aṣālat alwuǧūd) 50, 101, 119, 311 Proclus 114 Prozeßphilosophie 50, 53 f., 100, 118, 137, 151 f., 179, 311 Psyche (pers.: rawāh) 129 Pythagoras 275 Quiles, Ismael 107 138 Quine, Willard 44

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Register Quinn, John F. 50, 52, 262 f., 311 Qumšaʾ ī, Muḥyī ad-Dīn 166 40, 219, 237 f., 249 f., 293, 307 Qunawī, Ṣadr ad-Dīn 33, 112 Rāġib al-Isfahānī, Abū al-Qāsim al76 12, 81, 304 Rahman, Fazlur 44, 46, 48 f., 54, 56, 96, 100, 103, 125, 161, 216, 249 Rāzī Dāya, Naǧm ad-Dīn 80, 82 f., 234 f., 310 Rāzī, Abū Bakr ar- 265 23 Rāzī, Zakarīyā ar- 35, 342 Razmǧū, Ḥusain 64f Realismus 113 Realität der Realitäten (arab.: ḥaqīqat al-ḥaqāʾ iq) 106, 162 Religionsphilosophie 41 55 Renz, Andreas 26, 71, 195 132 Rosenkranz, Karl 324, 329 213 Rückkehr (arab.: maʿ ād) 135 Rudolph, Ulrich 12, 104, 179 85, 241 264, 342 249, 361f Rūmī, Ǧalāl ad-Dīn ar- 63 f., 180 87, 270 173 Šabistarī, Maḥmūd 64, 309 160, 362 Sabzawārī, Muḥammad 288 Ṣadrā, s. Širāzī, Ṣadr ad-Dīn ašSafaviden 39 Šaiṭān 186 Šariʿ atī, ʿ Alī 64 152, 191 118, 360 Sartre, Jean-Paul 24 14, 363f Schaeder, Hans Heinrich 63 ff. Schamanismus 36 Schattenexistenz (pers.: wuǧūd-i ẓillī) 103 Schatz, verborgener (arab.: kanz almaḫfī) 111, 330 Scheich Bahāʾ ī, s. ʿ Āmilī, Bahāʾ ad-Dīn Schia 39, 86, 202 150, 231, 267 28, 286 Schiismus 41 Schimmel, Annemarie 128, 327, 348 267, 360 Schleim (pers.: balġam) 143 Schöpferwelt; Befehlswelt (arab.: ʿ ālam

al-amr) 78, 89, 124, 126, 144, 166 f., 174 67, 189, 253 293 Schöpfung 23 pass. Schöpfungstheorie 37 Schreibrohr (qalam) 82f Schultze-Naumburg, Paul 22 Seele (arab.: nafs) 30 29, 75, 87, 96, 128 f., 131 229, 134, 137, 142 274, 158 f., 165 f., 206, 353 Seele (pers.: nūr isfahbadī) 129f Seele, denkende (arab.: nafs ʿ āqila) 127, 255, 308 Seele, universale (pers.: nafs-i kullī) 82 Seelenwanderung 125 Sein 26 pass. Sein, absolutes (arab.: wuǧūd muṭlaq) 106, 110 Seinsakt 30 27 pass. Seinsmonismus 88, 103 Selbstkonstituierung, autonome 70, 191, 201, 208, 306, 316, 344, 358 Selbstliebe 84, 186, 330, 332, 335, 337, 339 Selbstverwirklichung 23, 26 f., 45, 56, 218 201, 289 f., 300, 310, 365, 368 Singularität 113 f., 203, 263 Širāzī, Ṣadr ad-Dīn aš- 13 pass. Sloterdijk, Peter 51 96, 67 Sonnengleichnis, platonisches 83 Soruš, ʿ Abd al-Karīm 268 36 Speziesform (arab.: ṣūra nauʿ īya) 119 Spinoza, Baruch de 71, 113 f., 201, 231 244 Sprachästhetik 38 Stationen (arab.: maqāmāt) 115 Stoff (arab.: ṭīna) 85 Substanz, materielle eines Dings (griech.: Hyle) 124, 139, 331 Suhrawardī, Šihāb ad-Dīn 33 pass. Sunniten 41, 283 84 Ṭabāṭabāʾ ī, Muḥammad Ḥusain 174, 251, 278 68, 294 Takeshita, Masataka 60, 65 156

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Register Tätigkeit, schöpferische (arab.: takwīn) 139, 334 Temperament (arab.: mizāǧ) 143 f., 188 106, 233 Teufel 78, 186, 235 Theologie 16 pass. Theophanie 86, 174, 227 Theosophie 44, 265 Tier (arab: ḥayawān) 143f Tierseele 129, 178 Tonmasse, feuchte (arab.: ṭīn) 75, 84 Transfiguration des Subjekts 56, 175, 356 Transformationskraft (arab.: muġayyira) 144 Transzendentalphilosopie (arab.: ḥikma mutaʿ āliya) 60, 99, 199, 263, 340 Triadizität 107 Ṭūsī, Naṣīr ad-Dīn 93 79, 130, 152, 177 76, 267 Universalität 25, 29, 103, 114, 261, 264 Univokation 49 90 Utopie 53, 67 Verborgenes im Verborgenen (arab: ġiyāb al-ġuyūb) 105 Verborgenheit, äußerste (arab: ġaib alġuyūb) 111 Verdauung (arab.: hāḍima) 144 Verlangen, leidenschaftliches (arab.: šauq) 84, 212, 244, 249, 260, 325, 330, 346 Vernunftseele (arab.: nafs nāṭiqa) 30 29, 89, 93, 120, 123, 125, 127, 129 ff., 136 f., 145, 169 f., 178, 200, 219, 234, 237 f., 308 Veyne, Paul 358f Vielschichtigkeit (arab.: taškīk) 46, 49, 89, 96, 103, 114 f., 149, 165, 205 f., 248, 362f

Vorstellung, Idee (arab.: taṣawwur) 135, 225, 357 Wachstum (arab.: nāmiya) 144 Waḥīdī, Ḥusain 302 133 Wahrheit, göttliche (arab.: ḥaqq) 62, 108 140 Wahrheitsfindung 47 Welt des Erkennbaren (arab.: maʿ rūfīya) 111 Welt des Möglichen (arab.: ʿ ālam alimkān) 93 Welt, detaillierte (pers.: ʿ ālam-i tafṣīl) 30 Welt, himmlische (arab.: malakūt) 84, 88, 146 f., 314, 325 Welt, irdische (arab.: mulk) 83 f., 88, 146 f., 314, 325 Welt, summarische (pers.: ʿ ālam-i iǧmāl) 30 Weltidee 26 Wende, ontologische 54, 140 Werden, existentielles (pers.: sairūra) 118 Wesen, illuministisches (pers.: insān-i nūrānī) 93 83, 132 Wesen, vernunftbegabtes 30 29, 73, 177 75, 234, 316, 333 Wesenheit (arab.: māhīya) 53, 91 71, 101 f., 156 Whitehead, Alfred 53, 347 Wittgenstein, Ludwig 272 f., 284 Wolf-Gazo, Ernest 50f Wordsworth, William 109 Wuchterl, Kurt 278 65, 282 80 Würde (arab.: tašrīf) 81 Zarathustra 302 133 Zeitlosigkeit (arab.: qidam) 106 Zenon 118 Ziai, Hossein 44, 46, 95 f., 131, 133 Zwölferschia 33

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