139 54 2MB
German Pages 31 [32] Year 1908
Volk und Schule Preußens vor hundert Jahren und heute
Festrede gehalten auf der Deutschen Lehrerversammlung zu Dortmund,
Pfingsten 1908 von
Paul Natorp Professor an der Universität Marburg
Verlag von Ulfred Töpelmann
(vormals 3- Nicker) --- Gießen 1908
Druck von L. G. Höbet G. m. b. k)., Leipzig.
Eine große Sache ist es, die uns zusammenführt; nicht bloß
die eines einzelnen Berufs.
gutem Grunde. Voraussetzung
Mr Ihren Beruf Kämpfen Sie mit
Sie wollen die Rechte ihm erkämpfen, die die
sind
zur ganzen Erfüllung der gewaltigen auf
Ihnen lastenden Pflicht.
Ihre Pflicht aber gilt der Nation; und
darum ist Ihre Sache die der Nation.
Venn der erste und letzte
Zweck, um deswillen die vielen sich zusammenschließen zur Ein heit, zur Allheit eines Volkes in einem Staat, ist, daß jedem bis zum letzten herab ein voller Anteil werde an den Gütern der Menschheit, an menschlicher Bildung.
Und wenn dazu schließlich
alle Funktionen des sozialen Lebens zusammenwirken müssen, so ist doch auf dies letzte Ziel keine zugleich so umfassend und so unmittelbar gerichtet wie die, deren Ausübung in Ihren Händen
liegt. Nationale Erziehung:
Nation ist,
das besagt nicht nur, daß es die
die sich ihre Schule schafft; sondern daß auch die
Schule an ihrem Teil daran mitarbeitet, die Nation zu schaffen.
Vie Einheit der deutschen Nation hat in der Zeit, als sie äußer lich noch gar nicht vorhanden, als sie politisch erst ein Gegen
stand kühner Träume, dann eines schweren, schmerzlichen Ringens war, die deutsche Lehrerschaft, hat Ihr Verein, haben Ihre Tage und Versammlungen in der Idee dargestellt, damit aber auch
ihrer politischen Verwirklichung nicht wenig vorgearbeitet.
In so tiefer Beziehung stehen zueinander ein Volk und seine Schule. Aber von Volk und Schule Preußens soll hier die Rede sein; weshalb nicht Deutschlands?
Die Geschichte gibt darauf die klare Antwort. Preußens Beruf, ein Deutschland zu schaffen.
(Es war
Die Wiedergeburt
Preußens vor hundert Jahren war der erste Schritt zum lvieder1*
4 erstehen eines Deutschland, da schon sein Name ausgetilgt schien
aus den Büchern der Geschichte.
Mit dem Gedächtnis der Wieder
geburt Preußens aber ist unlöslich verknüpft das Gedächtnis der Geburt
der
Schule Preußens,
die
den Keim
einer
deutschen
Nationalschule ebenso enthielt, wie in der damaligen Geburt eines
Volksbewußtseins des Preußen der Reim lag, aus dem das Volks
bewußtsein des Deutschen erwachsen sollte. Wo war vor hundert Jahren Deutschland?
(Es gab keins.
(Es gab ein Gsterreich, ein Preußen und einen Rheinbund,- unge rechnet die großen Gebietsteile, die Frankreich ganz an sich ge
rissen hatte,
hier im Lande hauste der Fremde.
Zwar wir
haben nicht Grund, nur in Worten des Hasses von ihm zu reden.
Der Deutsche hatte in der harten Schule der Fremdherrschaft erst
zu lernen, welche Kraft in der Einheit einer Ration liegt.
Ruch
darf man nicht vergessen, welcher Strom von Ideen zugleich mit
den feindlichen Heeren und den fremden Verwaltungen damals vom Westen zu uns hereingedrungen ist.
Selbst der Begriff des
Vaterlands, der Nation war dem Bewußtsein des Deutschen da
mals noch fast fremd, dem des Franzosen dagegen höchst lebendig. Und mit ihm der Begriff der Nationalerziehung.
Wie auf recht
lichem und wirtschaftlichem Gebiet vielfach modernere Wege von
der französischen oder französisch beeinflußten Verwaltung bei uns eingeschlagen oder angebahnt wurden, so in einigem Maße auch im Erziehungswesen, wenn auch der Drang der Zeitumstände es
zu durchgreifenden Reformen nach dieser Seite damals nirgends
kommen ließ.
Und doch war auch hier im westen der Name Friedrichs un
vergessen.
Das Andenken dieses Einzigen stand dafür, daß Preußen
noch etwas anderes war als ein bloßer, damals mehr denn je schwankender geographischer Begriff: der Ausdruck eines Glaubens, einer Hoffnung, einer Verheißung, wenngleich kaum einer gegen
wärtigen Wirklichkeit.
Denn in der damaligen Gegenwart -
was war auch aus Preußen geworden?
Ein Spielball in der
Hand des Mächtigen, der wie zum hohn es in seiner tiefsten inneren Entkräftung äußerlich groß werden ließ, um es für seine
5 weitergehenden Absichten gegen Österreich, Rußland, England erst
zu gebrauchen, dann aber, nachdem es seinen Dienst getan hätte, es mit einem Fußtritt Luft in Luft aufgehen zu lassen.
Eine ganz kleine Schar von Männern mit dem sicheren Bewußtsein von dem deutschen Beruf Preußens: der Freiherr vom
Stein und die wenigen, auf die er sich verlassen durfte - das
eigentlich war damals Preußen.
Nicht ohne großen Schein haben
neuere Historiker aus der vollen Kenntnis der damaligen Lage den Eindruck gewonnen, daß eigentlich dieser Handvoll genialer Menschen, den dreien besonders: Stein, Scharnhorst und Gneisenau,
die Rettung Preußens und Deutschlands zu danken sei.
Das ist
denn doch übertrieben: diese wenigen, so genial sie waren, hätten in der politischen Wirklichkeit nichts
bedeutet, wenn nicht die
vielen hinter ihnen gestanden hätten,
die nur des befreienden
Wortes harrten, um gleich reinen Geistes und edlen Mutes sich
zu erheben und Gut
und Blut
einzusetzen für die Befreiung,
vielmehr für die eigentliche Erschaffung des Preußen, des Deutsch land, das sie in ihrer Idee trugen.
Gerade die mitten in der
Zeit standen, jene Großen selbst und viele Gleichgesinnte,
fanden das stark und tief:
emp
Preußen und in ihm Deutschland,
das in seiner äußeren Existenz zum Schatten einer bloßen Idee geworden schien,
werden.
mutzte aus seiner bloßen Idee neu geboren
Gerade dazu aber hat der damalige Deutsche die merk
würdige Fähigkeit bewiesen.
Der tiefe Trunk aus
der Ideenerkenntnis war nicht für nichts gewesen.
dem (Quell Mit Unrecht
hatte Napoleon der Ideologen gespottet: sie sind es, die ihn be
zwungen haben.
Ihre Ideologie war zufällig gerade auf den
Punkt gekommen, wo
sie sich in Tat übersetzen mußte.
sieht aus wie ein historischer Mystizismus.
Das
Und doch geht es
ganz natürlich zu, daß in der Welt des Willens nur ein ziel
zuletzt etwas ausrichtet;
klares Wollen
daß
auch
der stärkste
Wille schließlich scheitern mutz, wenn ein echtes, sinnvolles Ziel
ihm mangelt.
Napoleons Wille war gewiß von Felsenkraft; aber
zuletzt inhaltlos.
Cr wollte Macht; wozu schließlich?
Lin letztes,
wozu sie dienen, was sie vermögen sollte, ein reales, inhaltvolles
6 Ziel fehlte ihm, und so mutzte sein sinnloses Machtstreben zuletzt
zuschanden werden, nicht weil es auf eine andere äutzere Macht
traf, die stärker war, sondern weil es selbst zuletzt ins Leere, Ziellose sich verpuffte. gezeichnet
als
den
So hat ihn Pestalozzi * tief und wahr
„unvergleichlichen Dienstmann",
der seinen
Herrn suchte und, da er ihn nicht fand, genötigt war, selber den
Herrn zu spielen, während
doch
eben das ihm mangelte, was
allein ihn zum herrschen befähigt hätte: die herrschende Idee. Er opferte den Zweck dem Klotzen Mittel, den Menschen dem Staat, dem Staat, der nur eine Maschine in seiner Hand war, die nach seinem Gefallen spielen zu lassen ihm Vergnügen machte.
Über das Mittel siegt dauernd nicht über den Zweck.
Venn das
blotze Mittel, so stark es im Augenblick sein mag, ist immer an
Zeit und Umstände gebunden und findet in ihnen zuletzt seine Grenze; der Zweck aber, die Idee, ist ewig.
In den deutschen Ideologen lebte das sichere, unerschütter liche Bewußtsein dieses Verhalts: das war die Kraft, an der auch ein Napoleon zerschellte.
(Es ist erhebend in dem wirken gerade
der geistigen Führer jenes Zeitalters, der Stein, Humboldt, Gnei-
senau, Scharnhorst, Clausewitz und aller anderen zu studieren, aus welcher Tiefe des Idealismus
die Klarheit und
politischen handelns hervorflotz.?
Energie ihres
Daraus allein begreift sich die
bewundernswürdige Einheit ihres Zusammenwirkens, da sie doch alle wahrlich Individualisten, und ihre Individualität ihr hei ligstes war.
Aber der gleiche Idealismus lebte in der ganzen damaligen Bildung preutzens.
wir versetzen uns für einen Augenblick nach
Berlin zu Beginn des Jahres 1808.
Die Hauptstadt Preußens,
obgleich Frieden, ist von französischen Truppen besetzt, denn noch
lastet auf dem Lande der furchtbare Druck der Kontributionen, französische Aufpasser überall, auch an den Stätten der geistigen
Aufrichtung.
Ein Glück, daß sie von dem hohen Ideengang
dieser Träumer nichts verstehen und so von ihrer Gefährlichkeit nichts ahnen.
Man begeht soeben einen ernsten patriotischen
Gedenktag: es ist der 24. Januar, der Geburtstag Friedrichs des
7 Großen,
welche Erinnerung in solcher Zeitlage!
vreifaltigkeitskirche,
um
Schleiermacher
wir eilen zur
zu hören,
wir
ver
nehmen eine predigt,8 nein, eine patriotische Rede von eigen artiger Form und tiefgründigem Gehalt, eine seltene Vereinigung
reifer politischer und historischer Einsicht mit philosophischem Tief blick, voll der stärksten sittlichen antriebe und stiller, sicherer Ge
mütsdurchwärmung.
Die Steinschen Reformen, die große Forde
rung der inneren Näherung der Stande, des Sieges des Gemein geistes über die Sonderinteressen der gesellschaftlichen Rlasten, des Sieges der Freiheit, der geistigen und Gewissensfreiheit vor allem, über den tötenden Mechanismus, den auch Friedrichs kraftvolle
Staatsverwaltung nicht überwand: das ist es, was der Redner seinen Hörern in die Seele legen möchte; darin sieht er die echte Bewahrung des Vermächtnisses des großen Königs, darin die ein
zige Hoffnung der Rettung aus der gegenwärtigen Not, die ein zige wirksame
Machthabers.
Gegenkraft
gegen die
unheimliche Gewalt des
Darum aber gilt kein verzagen.
Das alte Preu
ßen, das Preußen Friedrichs - es mutzte stürzen, damit ein neues erstand, doch mit jenem innerlich eins in dem hohen Sinn des
Gemeingeistes, der Rechtlichkeit und der sittlichen Freiheit. Denn: „ein Volk ist ein ausdauerndes Gewächs in dem Garten Gottes", das die Stürme des winters scheinbar hinwegfegen mögen, aber nur
damit es zu einem neuen Frühling aus der Dauerkraft
seiner Wurzeln wiederaufblühe. — So die Rede dieses echten Pro pheten.
Noch sind wir beschäftigt, ihren mächtigen Gehalt in uns
zu verarbeiten, indem wir in den Hörsaal eines anderen Redners
eintreten: Fichtes, der selbigen Tages in noch erhobenerer Sprache, die Nation, nicht die ist, sondern die werden will, vor dem gei
stigen Rüge,
eine seiner donnernden Reden hält.*
Es ist die
sechste, jene, in der er die religiöse Reform Luthers, die philo sophische Reform Kants und vorandeutend schon die eben erst sich
ankündigende pädagogische Reform Pestalozzis anführt zum Be weise, daß deutsch sein heißt radikal sein, aus ursprünglicher, naiver Kraft zurückgehen hinter alles äußerlich Wirkliche zu den
wurzeln der Wahrheit und der Freiheit.
Besonders aber das
8 will er an jenen, an allen großen Deutschen uns beweisen, daß in Deutschland allein und von jeher alle Bildung vom Volke aus
gegangen fei; daß alles, was es nur Großes ausgerichtet,
allein
dadurch ihm gelungen sei, daß es Volksangelegenheit wurde.
So
war diesem Manne die deutsche Nation eine sichere Realität in dem Augenblick, wo äußerlich wirklich alles dagegen sprach. Sie bestand nur noch in der Idee;
aber diese Idee lebte in dem
„Volke der Denker" nicht bloß als Gedanke, sondern als tat
kräftiger Wille. vom „Volke der Denker" hat man sprechen können: wirk lich, die Handvoll Denker, die da zu Schleiermachers und Fichtes
Füßen in den Reihen der Hörer saßen, das war damals fast
allein das deutsche Volk.
Denn ein Volk ist allein da, wo ein
tatkräftiges Bewußtsein der Notwendigkeit eines festen Zusammen
stehens im Staate ist.
Line passive Masse ist nicht ein Volk.
Und wenn je der Gedanke wahr werden soll, der gerade in jenen Tagen in unseren Denkern lebendig war:
daß an allen
sozialen Grundfunktionen alle Glieder einer sozialen Einheit An teil und in bestimmtem Sinne gleichen Anteil haben sollten, so
kann sie zur Wahrheit nur dadurch werden, daß die Massen auf hören träge, bloß von außen zu bewegende Massen zu sein, daß vielmehr jedem bis zum letzten die Möglichkeit geschaffen wird,
die Kräfte der Einsicht und des wollens und zwar sozialer Ein sicht und sozialen wollens, die in ihm liegen, frei zu entfalten.
Dann würden erst im wahren Sinne die Denker das Volk sein und das Volk die Denker.
Eben dies aber war die Idee vom Verhältnis zwischen Na tion und Erziehung, von der Fichte und alle ernsthaften Patrioten damals erfüllt waren.
Zwar auch sie war unter dem Namen
der Idee der Nationalerziehung vom westen gekommen; sie ge hörte zum eisernen Bestand des Revolutionsprogramms. Die For derung selbst also war nicht neu, sie war auch in Deutschland
längst bekannt.
Aber erst die Not jener Tage gab ihr ein Ge
wicht, das sie ohne das selbst für die breiteren Schichten der Ge
bildeten, vollends für die Entschließungen der Regierenden, nicht
9 gehabt hätte.
Und dann gewann diese Idee allerdings einen
neuen, vertieften Gehalt, indem sie mit dem idealistischen Geiste
des damaligen Deutschland, mit dem Geiste, der von Kant aus gegangen war, sich vermählte.
Die großzügigen Entwürfe des
ftanzösischen Revolutionszeitalters zur Organisation der National
erziehung, auch den Londorcets^ nicht ausgenommen, verleugnen doch nicht den allgemeinen Zug der Revolution, den Zug der
mechanischen Gleichmachung, der die Individuen nur als Nummern
gelten.
Vie deutsche Intelligenz von damals baute dagegen alles
auf die Individualität des Einzelnen; sie betrachtete die staatlichen Organisationen nur als die äußere Schale, in der der Kern der
Individualität - aber der Individualität jedes Einzelnen bis zum geringsten — um so freier und eigener selbsttätig sich entwickeln
sollte.
Darin stimmen sie alle zusammen: Stein und Vincke und
Humboldt und Nicolovius und Süvern, wie andrerseits Fichte und
Schleiermacher und der, von dem sie alle gelernt, den sie alle
wie mit einem Munde als den Führer nennen, dem man in Er ziehungssachen zu folgen habe: Pestalozzi, dessen eindrucksvolles wirken von Burgdorf bis Iferten durch eine günstige Fügung
eben in jene Jahre siel, wo die Zeitlage die Frage der Volks erziehung im ernstesten Sinne zur Lebensftage der Nation ge
macht hatte. Mit Recht weist der Biograph Steins, Max Lehmanns dar auf hin, daß die leitende Idee der Steinschen Reformen: die der
Entfaltung der Eigenkraft des Volkes in jeder feiner Gliede rungen und zuletzt in den Individuen zu sozialer Betätigung, in der Grundrichtung genau zusammentraf mit der Erziehungsidee
Pestalozzis, welche die ganze physische, geistige und stttliche, in
dividuale und soziale Bildung des Menschen zum „Werk seiner
selbst", zur Selbsttat des Individuums machen wollte. Vieser Zu sammenhang liegt nicht bloß an sich in der Sache, er spricht sich deutlich
aus, wenn Stein in enger Verknüpfung mit dem
ganzen System seiner Verwaltungsreformen eine Reform der Er
ziehung im Sinn und Geist Pestalozzis fordert.
In der Rbsicht,
„die Disharmonie, die im Volke stattfindet, den Kampf der Stände
10 unter sich, der uns unglücklich machte, zu vernichten, gesetzlich die Möglichkeit aufzustellen, daß jeder im Volke seine Kräfte frei in
moralischer Richtung entwickeln könne", erwartet er in seinem politischen Testament' vom 24. November
1808
„am meisten
von der Erziehung und dem Unterrichte der Jugend"; und mit der Forderung einer „auf die innere Natur des Menschen ge gründeten Methode", durch die „jede Geisteskraft von innen her
aus entwickelt, jedes echte Lebensprinzip angereizt und genährt und so alle einseitige Bildung vermieden werde", stellt er sich ausdrücklich auf den Boden der Grundsätze Pestalozzis.
Diese allgemeine Richtung verrät schon sein frühes Wirken
in den westlichen Provinzen Preußens. Wenn der genannte Histo
riker im Kern seiner Behauptung recht behält: daß Stein hier
im westfälischen und rheinischen Lande, an dessen Grenzen ja auch seine Wiege gestanden, etwas von Selbstverwaltung, von leben
diger eigener Teilnahme des Volkes an seinen gemeinsamen An gelegenheiten vorfand, überall daran anknüpfen und so durch
eigene reiche Erfahrung die Überzeugung von ihrem unersetzlichen Werte erproben konnte, so gilt das nicht zum wenigsten auch
vom Schulwesen.
Die Schulen besonders des bergischen Landes,
die nicht Sache des Staats noch der Kommunen, sondern eigener
„Schulgemeinden" b waren, zu denen die Hausväter selbst zu
sammentraten, hatten vorzugsweise dadurch einen merklichen Vor
sprung vor denen des (Ostens.
Es bedarf hier noch vieles gründ
licher historischer Erforschung. Ich kann hier nur reden von dem, was zufällig mir am genauesten bekannt und zugleich svon lo kalem Interesse ist, von dem wirken meines Ahnen Ludwig Na-
torp,9 damals Predigers in Essen, und
den Zuständen dieses
Landes, welche sein Wirken voraussetzt und beweist.
Ich denke
hierbei besonders an sein unscheinbares Wirken als Schulkom
missar im Kreise Bochum und die in dieser Stellung von ihm ins
Leben gerufene „Gesellschaft von Schulfreunden in der Grafschaft Mark", in der er nicht bloß die Lehrer selbst zu ständiger wechsel seitiger Förderung und engem Zusammenschluß in allen ihren ge
meinsamen Angelegenheiten vereinigen, sondern zugleich eine un-
11 mittelbare Teilnahme aller Schichten der Bevölkerung, ein leben
diges Gemeininteresse des Volkes an seiner Schule wecken und wach erhalten wollte.
Schulfreunde"
Sein „Brieswechsel einiger Schullehrer und
(1811 bis 1816), der zwar schon mit auf den
späteren Erfahrungen seines Kurmärkischen wirkens beruht, aber
nachweislich auch auf das frühere Arbeiten hier im Lande viel fach zurückgreift, schildert anschaulich ein solch lebendiges, völlig freies handinhandarbeiten und bietet daher, neben reicher päda
gogischer Belehrung, höchst anziehende Momentbilder aus dem
Leben jener Tage nach einer Seite, auf die sonst selten in den Annalen der Geschichte auch nur einmal ein Streiflicht fällt. Man
kennt Ähnliches auch sonst, besonders auf dem republikanischen Boden der Schweiz, so in jener „helvetischen Gesellschaft", zu der
Pestalozzi bekannte Beziehungen hatte, und deren Seele Jselin war. Vie westlichen Provinzen Preußens genossen nicht die gleiche, aber doch eine einigermaßen damit vergleichbare Gunst der po
litischen Verhältnisse; sie hatten in ihrer Entfernung vom Zen trum des Staats sich eine gewisse Freiheit vom starren militä rischen und patriarchalischen Absolutismus Altpreußens bewahren
können, und sie hatten an dem Minister Heinitz, dann an Stein und dessen Freund und Nachfolger Vincke Regierende gefunden,
die für diese ihre von altersher erhaltene, im Grunde urgerma nische Eigenart volles Verständnis mitbrachten und
in treuem
wirken mit dem Volke, nicht gegen es, dies Verständnis immer
mehr befestigten. Gerade dadurch haben diese westlichen Provinzen einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dem Geiste und der
Richtung des Steinschen wirkens. Vie tiefe Erschütterung Preußens
durch
das
verheerende
Ungewitter, das vom Westen hereinbrach, der schmerzliche Gang der Ereignisse von Jena bis Tilsit rief den Felsenmann auf einen
größeren Posten.
Nichts bezeichnender für den Geist, der mit ihm
in die preußische Regierung einzog, als daß in dieser bedrängtesten Lage des Landes, dessen einst blühende Finanzen durch den
Krieg und die erbarmungslosen Kontributionen auf einen wahr haft jammernswerten Stand gesunken waren, neben so großen
12 Dingen wie Bauernbefreiung, Städteordnung und Heeresreform
die Verbesserung nicht nur, sondern radikale Erneuerung
des
höheren wie niederen Schulwesens als dringlichste Angelegenheit
begriffen und sofort in Angriff genommen wurde.
(Es war, hier
wie in allem andern, eine völlige innere Revolution, zu der das alte Preußen im Drange der Not sich entschließen mußte. Zwar schon von seinem Regierungsantritt an hatte der König Friedrich Wilhelm III. das unbestimmte Gefühl, daß auch für den
niederen Volksunterricht etwas geschehen müsse - aber nur ja in
den Grenzen landesväterlicher Fürsorge. man schon aufmerksam gewesen.
Auch auf Pestalozzi war
Nachdem 1802 Sopaux und
Jablonski von Berlin aus Pestalozzi in Burgdorf besucht und
darüber berichtet hatten, wurde 1803 vom Schuldepartement der
neuen Provinz Südpreußen Jeziorowski ebendorthin entsandt, der über die pestalozzische Lehrweise günstig nach Berlin berichtete
und ihre Einführung in den Schulen empfahl. Aber die Regierung
entschied," daß es dafür „jetzt noch zu früh" sei.
Man dürfe ja
nicht vergessen, daß man es hier mit der schätzbaren Volksklasse
zu tun habe, die zeitlebens mit Handarbeit von früh bis spät beschäftigt sein und bleiben werde.
Sie sollen ihren Katechismus,
Bibel und Gesang lesen, ihren geringen und eingeschränkten Ver hältnissen gemäß schreiben und rechnen, Gott fürchten, lieben und darnach handeln, die Gbrigkeit achten und den Nächsten lieben
lernen,
wolle man ihnen mehr aufpfropfen und selbst diese
wenigen Gegenstände über einen sehr mäßigen Grad anbauen, so
mache man sich nicht bloß eine vergebene und undankbare Mühe, sondern handle dem wahren und großen Interesse dieser genüg
samen Menschen, der Ruhe der Gemüter, dem Fleiße und der Emsigkeit im Berufe, und damit dem Wohle des Staates entgegen.
Das war die Art des alten Preußen, sich der Volkserziehung
anzunehmen.
In der Katastrophe von 1806 aber erfuhr dies alte
Preußen einen Zusammenbruch zum Nichtwiederaufstehen. Es galt, ein neues Preußen gleichsam aus dem Boden zu stampfen.
Die
erschütternde Sprache der Fichteschen Reden traf jetzt empfängliche Gemüter.
Er bewies unwidersprechlich, daß neben der äußeren
13 Bewaffnung der Nation bis zum letzten Mann ihre geistige Aus
rüstung durch eine gründliche und allgemeine Erziehung die einzige
Rettung war. Und auf Pestalozzi wies er hin:^ „Lr wollte bloß
dem Volke helfen.
Aber feine Erfindung, in ihrer ganzen Aus
dehnung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterschied zwischen
diesem und einem gebildeten Stande auf, gibt statt der gesuchten Volkserziehung Nationalerziehung und hätte wohl das vermögen,
den Völkern und dem ganzen Menschengeschlechte aus der Tiefe seines dermaligen Elendes emporzuhelfen."
Daß eine Erneuerung von innen her not tue, nun da nach außen alles verloren schien, ist die durchgängige Stimmung jener Tage, der auch die Erlaffe des Königs Ausdruck gaben.
Vie
Königin Luise aber hatte in den Tagen der Trübsal sich an Pestalozzis Schriften aufgerichtet; ihre Verehrung für den edlen
Dulder wirkte jetzt auch auf den König zurück.
Stein, Vincke,
alle erkannten hier die Rettung, ihnen allen stand es fest, daß
die Erneuerung der Schule Preußens im Geist und Sinne des Schweizer Pädagogen erfolgen müsse.
Zwei Männer besonders:
Nicolovius, der alte Freund Pestalozzis, und Süvern, der gründ liche Gelehrte und Schulmann, die beide um jene Zeit (im Dezember 1808) zu bedeutenden Stellungen in der preußischen
Regierung berufen wurden, wandten ihren ganzen Eifer dieser Sache zu.
Schon im September des Jahres erging eine erste
Anfrage an Pestalozzi selbst wegen der geplanten Entsendung
geeigneter junger Männer nach Jferten, die sich dort mit dem
Geiste der pestalozzischen Erziehungs- und Lehrmethode erfüllen sollten, um dann zu ihrer Verpflanzung in die Schulen Preußens
mitzuwirken.
3m Januar 1809 empfahl dann die Sektion im
Ministerium des Innern für den öffentlichen Unterricht in einer Eingabe an den König18 ausdrücklich die Einführung der Pesta
lozzischen Methode, deren Wesen darin bestehe, daß sie „nicht ein
mechanisches Anlernen und Anüben gewisser Kenntnisse und Fertig
keiten bezweckt, sondern die innerste Grundkraft der menschlichen Natur in allen den verschiedenen Zweigen ihrer Äußerung um« fassend in Anspruch nimmt und dem Entwicklungsgänge der Natur
14 gemäß folgerecht bildet und stärkt."
Alles wurde genehmigt.
Pestalozzi schrieb damals an Nicolovius (10. März 1809)
die
denkwürdigen Worte:14 „Gott gibt auch den Königen diese Kraft (der reinen Menschenliebe), aber freilich nicht durch das Blend
Lr gibt sie ihnen, wenn er die
werk des Glanzes ihrer Throne.
höhen dieses Blendwerks in ihren Grundfesten erschüttert und ihre Reiche unter ihren Füßen erbeben wie nichtiger Staub, den der Atem einer höheren Macht mit einem leichten hauche aufhebt und wehet, wohin er will
Du verehrst den ewigen König, der
eine Dornenkrone trug: der, dem du auf Erden dienst, trägt auch eine solche, und er fühlt jetzt, daß er sein Volk nicht beglückte und sein Volk ihn nicht segnete, ehe ihm Gott sie auflegte. Was
kann Friedrich Wilhelm seinem Volke, was kann er der Mensch heit werden, wenn er nur will - und er will es!
Ich träume
mir jetzt Friedrich Wilhelm als den Helden der Liebe, den das
Menschengeschlecht gegen die einseitige Heldenkraft des Schwertes heute mehr als je bedarf
"
Wir dürfen nicht verweilen bei dem anziehenden Briefwechsel zwischen dem Staatsrat Süvern und den nach Iferten entsandten
„Eleven"; nicht bei dem Wirken August Zellers in der Provinz Preußen, welches nach Pestalozzis eigenem Urteil desien Absichten
nicht nach jeder Seite rein erfüllte; bei dem Wirken plamanns und seines Kreises in Berlin,
dem so bedeutende Männer wie
Friesen, Jahn, Harnisch angehörten; bei der Vermählung, welche die Grundideen Pestalozzis eingingen mit dem, was aus älterer
Zeit, von Rochow, Niemeyer und den besseren Philanthropinisten her besonders in den kurmärkischen Schulen noch lebendig war,
und dem aus dieser Vermählung hervorgegangenen neuen, freieren, preußischen pestalozzianismus,
dem auch die in Iferten ausge
bildeten preußischen Schulmänner wie Dreist, Kawerau, Henning, Ramsauer, Blochmann sich anschlossen, der dann in Diesterweg den
wirksamsten Vortreter fand und hauptsächlich durch ihn in eine wesentlich reaktionärere Zeit hinübergerettet wurde. Das alles16
muß hier übergangen werden, ist ja Ihnen auch bekannt genug.
Nicht vorübergehen aber darf ich an dem berühmten ersten Lnt-
15 wurf eines preußischen Volksschulgesetzes, dessen Urheber der ge nannte 5üvern war. von Rechts wegen hätte dem endlichen Siege über Napoleon
und der mächtigeren Wiederherstellung Preußens die ganze LrfüBung der hohen Versprechungen folgen müssen, zu denen die preußische Regierung in der Zeit der Drangsal sich aufgeschwungen
hatte.
Und dazu gehörte, neben dem verheißenen Volksanteil an
der Gesetzgebung, besonders die gründliche und umfassende Neu regelung des gesamten Schulwesens und an erster Stelle des Volks
schulwesens. Besten.
Ruf diese hofften, an sie glaubten damals fest unsere
So schrieb Ilatorp16 aus der vollen Begeisterung über
den Tag von Leipzig an die Seinen in Westfalen: „Was ich hier erlebt habe, ist größer und herrlicher als was wir in den Büchern
der Griechen und Römer lesen.
Größeres werde ich nie erleben,
und darum könnte ich allenfalls jetzt wohl aus der Welt gehen,
wenn ich nicht noch Lust hätte zu sehen, ob in diesem Freiheits
kriege nicht auch die Schulmeister ein wohltätiges hitziges Fieber bekommen würden.
. . . Wenn die jetzige Zeit gut benutzt wird,
dann wird unser Volksschulwesen von Grund aus eine Umgestaltung erfahren und in eine vernünftige Beziehung zum Staate und Volke gebracht werden.
Schon vor Ausbruch des Krieges war unser
Departement damit beschäftigt, eine Instruktion über die Ein richtung der Schule zu entwerfen,
wahrscheinlich wird diese in
kurzem erlassen und veröffentlicht werden; und sie wird hoffentlich
für das Schulwesen in allen deutschen Landen eine wichtige Er scheinung sein."
Es ist nichts anderes als der Süvernsche Ent
wurf gemeint, der in der Tat bereits im Jahre 1812 in der Hauptsache fertig geworden war und in dem Natorp
den die
Elementarschule betreffenden Teil bearbeitet hat. Über die allge meine Bedeutung des Entwurfs genügt es, das Urteil viltheqs17
wiederzugeben:
„Zum erstenmal faßte eine deutsche Verwaltung
den Plan, das ganze Schulwesen als ein integrierendes Glied des
ganzen Staatsorganismus zu ordnen.
Line solche Organisation
hatte in revolutionärem Geiste Londorcet 1791/92 entworfen; Napoleon hatte sie im Sinne des französischen Zäsarismus aus-
16 geführt; nun stellte dieser Organisation des französischen Schul wesens Deutschland seine eigene gegenüber.
Wie überlegen waren
die Intentionen dieser deutschen Reform der mechanischen Trennung
der heutigen Schulen.
Damals versuchte man jedem Schüler die
Möglichkeit zu geben, von einer Anstalt auf eine höhere über zugehen. ..."
Sie verstehen, auf welchen Hauptpunkt damit hin
gedeutet wird.
Tin streng einheitlicher Aufbau des nationalen
Schulwesens war beabsichtigt, derart, daß erst auf dem Fundamente einer gemeinsamen Elementarbildung die höheren Stufen des Unter richts sich aufbauen sollten. Jeder Staat, so hieß es in den grund legenden Paragraphen des Entwurfs," wirkt durch seine ganze Verfassung,
Gesetzgebung und Verwaltung erziehend
auf
seine
Bürger ein, ist gewissermaßen eine Erziehungsanstalt im großen.... Zu dieser Nationalerziehung im großen aber müsse die National-
Jugenderziehung vorbereiten und des ganzen Werkes Grund legen.
„Alles wird der Staat in und mit seinen Bürgern erreichen können, wenn er sorgt, daß sie alle in einem Geiste von Jugend auf für seine großen Zwecke, deren eigentlicher Gegenstand ihre eigene
Gesamtheit ist, gebildet. . . . werden."
So entschieden wird hier
im Geiste eines ganz platonischen Sozialismus die Erziehung durch
die Gemeinschaft zur Gemeinschaft, die Gemeinschaft als Fundament
der Erziehung und die Erziehung als Fundament der Gemein schaft anerkannt.
Daraus fließt vor allem die Forderung öffent
licher allgemeiner Schulen, als Stamm und Mittelpunkt für die Jugendbildung des ganzen Volks und Grundlage der gesamten
Nationalerziehung.
Allgemeine Elementarschule, allgemeine Stadt
schule und Gymnasium sollen als wesentlich zueinander gehörige
und zwar aufeinander folgende Stufen zusammen wie eine einzige große Anstalt für die National-Jugendbildung angesehen und dem
gemäß eingerichtet werden, so daß jede zwar ihren eigentümlichen Zweck verfolgt, aber, weil dieser in dem allgemeinen Endzwecke
enthalten ist, zugleich auf die nächsthöhere Stufe vorbereitet.
Bekanntlich hat schon an dieser Grundabsicht die spätere preußische Schulgesetzgebung und Verwaltung nicht festgehalten. Ez war lange Zeit auch in Preußen wenigstens die Regel, was
17 in Süddeutschland bis heute weit überwiegt, daß die Kittber aller Volksklassen zuerst die Elementarschule besuchen.
mehr sind
Aber mehr und
dann namentlich in den größeren Städten daneben
privatschulen zur elementaren Vorbildung der künftigen Besucher
höherer Schulen aufgekommen, dann auch öffentliche sogenannte
Vorschulen eingerichtet worden; ihre Begründung wurde von der Verwaltung mehr und mehr zugelassen, dann direkt begünstigt und in die Hand genommen.
Und wenn selbst der Kultusminister
Bosse persönlich anderer Ansicht war, so vermochte er doch gegen
die allgemeine Strömung in der preußischen Schulverwaltung nicht
durchzudringen.
der all
Der widerstand gegen die Forderung
gemeinen Volksschule ist freilich begreiflich, solange man sich die
Volksschule nach dem Muster denkt, wie sie der reaktionären
preußischen Verwaltung vor Augen stand und im ganzen leider
noch vor Augen zu stehen scheint.
Der Entwurf Süvern verstand
die Volksschule, wie wir sahen, im vollen Sinne als National
schule; er stellte demgemäß an die Elementarschule auch inhalt
lich Forderungen, die im vollen Umfang bis heute nicht erfüllt sind.
In Hellem Stolz konnte noch 1817 Ludwig Natorp
in
Gegenhaltung gegen englische Zustände schreiben: „Unsere deutschen Volksschulen stehen
als wirkliche Volksschulen da.
In ihnen
kennt man ebensowenig als auf unseren Turnplätzen den Unter
schied der Stände . . . Volksschulen heißen sie bei uns nicht, weil sie für die verwahrlosete Jugend aus den gemeinsten Massen der Nation bestimmt sind, sondern weil sie die Jugend aus der Ge
samtheit des Volks ohne Unterschied des Standes und des künf tigen Berufs in den Elementarunterricht aufnehmen. Diese Ein richtung hat die überaus ^heilsame Folge gehabt, daß weniger
Pöbel unter uns aufwachsen kann, daß die gemeiner erzogene Jugend an der besser erzogenen sich veredelt, und daß kein wirk
lich vernünftiger und
Gebildeter unter den vornehmen Anstoß
daran nehmen darf, wenn er seine Kinder unter anderen Kindern sitzen und lernen sieht,
seinigen."
welche minder vornehm sind
als die
Man muß gestehen, daß dazu unser heutiger Zustand
in vollem Gegensatz steht,
heute erstreckt sich die Scheidung nach
Natorp, Volk und Schule Preußens.
2
18 den gesellschaftlichen Klaffen auf die Turnplätze und nicht selten auf die Spiel-, ^Schwimm- und Lislaufstätten ebenso wie auf die So wie ja auch unsere scheinbar demokratische Heeres
Schulen.
verfassung in dem Privileg des Einjährigen und in den be
kannten Verhältnissen des Dffizierstandes die Sonderung der ge Wir selbst emp
sellschaftlichen Klassen in aller Strenge festhält?o
finden kaum mehr in voller Schärfe, was sich jedem unbefangenen, namentlich ausländischen Beobachter sofort und immer wieder als der eigentliche Charakter unserer Schulorganisation aufdrängt:
daß die Schulen bei uns nach den gesellschaftlichen Schichten ge
trennt
sind
und
durch ihre ganze Verfassung der Schichtung
und damit inneren Zerklüftung der gesellschaftlichen Klassen nicht
irgendwie entgegenwirken, sondern sie zu erhalten und zu ver schärfen die tatsächliche, vielfach auch ausgesprochene und beab
sichtigte Wirkung haben. Damit haben wir nun schon den Übergang gemacht zur Be antwortung unserer größten und
heute
zueinander
Preußen
bei
uns
ernstesten Frage: wie stehen
das Volk und seine Schule?
hat
aus den Erfahrungen vor hundert Jahren gelernt?
hat unsere Zeit das Testament jener Tage vollstreckt?
hat es
ihre großen Hoffnungen wahr gemacht, oder zu ihrer Erfüllung wenigstens irgendwelche entscheidende Schritte getan?
Ohne Zweifel: wie nicht ein Vater seinem Kinde die Lebens
wege genau vorzeichnen, wie auch nicht die Ideen unserer eigenen
Jugend unser reifes HIter vollständig bestimmen dürfen, so kann nicht ein Zeitalter in der Geschichte eines Volkes für kommende, auch nur für die nächstfolgenden Generationen die Bahnen der
Entwicklung voraus festlegen.
Auch ist nicht zu verkennen, daß
diese letzten hundert Jahre fast das ganze Leben des Menschen
auf diesem Planeten gewandelt und damit in den Kreis der poli
tischen, auch
der schulpolitischen Erwägung Möglichkeiten
und
Notwendigkeiten gerückt hat, an die vor hundert Jahren noch gar nicht gedacht werden konnte. Deutschland zumal war in wirt schaftlicher - Volks- und weltwirtschaftlicher - Beziehung, und da
mit in unermeßlich vielem anderen weit zurückgeblieben; es hat
19 inzwischen nicht nur viel seit Jahrhunderten versäumtes nachge holt, sondern steht mit wenigen anderen Nationen gegenwärtig an der Spitze jedes materiellen Fortschritts; es hat in manchen
Gebieten die wissenschaftliche und praktische Führung in die Hand genommen.
Es ist damit und dadurch auch politisch erstarkt und
so vielfach geneigt, auf seine ideologische Vergangenheit, auf den Hungeridealismus unserer vorfahren vor hundert Jahren beinahe mitleidig zurückzublicken, wie wohl ein emporgekommener In-
dustriekönig auf seinen an Ideen und Arbeit reichen, an äußeren Gütern armen und armseligen Vater oder Großvater.
Und doch gibt es kein unbestechlicheres Gericht über mensch
liche Überzeugungen als die Not.
Sollte also die politische Ein
sicht, die aus der gefährlichsten Krise unseres Vaterlandes geboren wurde und ihm durch sie hindurchgeholfen hat, nicht der ernstesten Beachtung auch in der Zeit der behaglichen, scheinbar unbedrohten
äußeren Existenz wert sein?
Oder vielmehr: ist diese Behaglich
keit einer wie für Ewigkeiten gesicherten politischen Existenz nicht
vielleicht ein ebenso schlimmer Selbstbetrug wie jener, in den vor der Katastrophe von Jena Preußen sich gewiegt hatte, und der
an dieser Katastrophe ohne Zweifel einen großen Teil der Schuld trug?
hier mag wohl manchem von Ihnen sich die Stirn runzeln: was soll uns solche Schwarzseherei?
Ist nicht unser Heer, unsere
Verwaltung, unser nationaler Wohlstand in vergleichsweise guter
Verfassung?
Ist nicht der wirtschaftliche Aufschwung unbestreit
bar, dessen großartiger Eindruck hier, im Zentrum unserer mäch
tigsten Industrien, uns auf Schritt und Tritt umfängt?
Beweist
sich nicht in dem allen eine gewaltige Kraft unserer Nation? Würde nicht einem Nlanne wie dem Freiherrn vom Stein das
herz höher schlagen, wenn er diesen Aufschwung sähe, zu dem er selbst den ersten Grund gelegt hat, indem er als Gberbergrat
drüben in Wetter mit die ersten Schritte tat,
durch Schiffbar
machung der Ruhr und durch Straßenanlagen den Kohlenschätzen dieses Landes die Wege des Absatzes zu öffnen?
Ist aber nicht,
Hand in Hand mit diesem allgemeinen wirtschaftlichen und dem 2*
20 diesem entsprechenden politischen Aufschwung, auch unser Schul wesen sehr beträchtlich gebessert worden? unseres Schulhaushalts
neben
Man stelle die Zahlen
die vor hundert und noch vor
fünfzig Jahren; man vergleiche die Lebenshaltung, den Bildungs
stand des heutigen Lehrers mit dem von damals; man prüfe die Statistik der Analphabeten, selbst die Verbrecherstatistik und so fort: überall beweist sich doch unwidersprechlich eine wesentlich
gebesserte
Gesamtlage
der
heutigen
preußischen und deutschen
Und wenn es sich allerdings nicht
Schule gegen frühere Zeiten.
wird leugnen lassen, daß im Verhältnis zu dem, was bei der heutigen Lage des Staates an sich möglich wäre, für die Schule
nicht so viel geschieht wie damals, wo bei der denkbar traurigsten
Gesamtverfasiung unseres Staates schon fast das Unmögliche mög lich gemacht wurde, so läßt sich zu unserer Entlastung vielleicht
anführen, daß eben in seiner damaligen Lage (wie auch Fichte in seinen Heben andeutet) dem preußischen Staat fast nichts übrig gelassen war, als für das Innerste des Innern zu sorgen, da
nach außen der unerhörte Druck der politischen Lage jedes freie
Hegen unmöglich machte.
Unsere mächtige Weltstellung, wird
man sagen, legt uns große Verpflichtungen auf; die dadurch un absehbar erschwerte Sorge für Volkswirtschaft und Volkswehr zu
lvasier und zu Land verschlingt beinahe alles und läßt für große und ganze Reformen auf dem Gebiete des Bildungswesens -
wenn es denn solcher wirklich bedürfen sollte — nicht Mittel noch Kräfte, kaum Gedanken übrig.
Die Tatsache ist unbestreitbar. eine ernste Gefahr?
zehren?
Aber liegt nicht eben darin
heißt das nicht von unserem besten Kapital
Wodurch anders sind wir denn, bei keineswegs glän
zenden äußeren Hilfsmitteln und einem lange Zeit äußerst hem menden politischen Zustand,
doch so hoch emporgekommen, als
durch die Überlegenheit unserer Volks- und höheren Bildung und
den durch diese wieder geförderten rastlosen Arbeitseifer unseres Volkes?
Es ist eine schwerwiegende Frage, über die ich keines
wegs hier abgesprochen haben möchte, ob nicht unsere Weltwirtschafts- und Weltbewaffnungspolitik vielleicht das gesunde Maß schon
21 zu überschreiten in Gefahr ist.
Sei dieser unbändige Drang der
äußeren Machterweiterung, der nicht in einzelnen bloß lebt, son
dern mit den Siegen
Erweiterung des
der Technik und der dadurch
bedingten
Horizonts des wirtschaftlichen und politischen
Denkens wie eine Naturgewalt der ganzen Nation und der Na tionen sich bemächtigt hat, in sich notwendig und als notwendig auch berechtigt: nur um so unabweislicher mutz dann die Frage
sich
aufdrängen, wieso denn die wirtschaftliche und militärische
Leistungskraft der Nation auf dieser höhe dauernd soll erhalten
und noch ins Unabsehliche gesteigert werden können, wenn nicht
den nach jeder Seite fortwährend wachsenden Anforderungen an die geistige und sittliche Bildung jedes Einzelnen durch eine nie
auch nur für einen Augenblick stillstehende Besserung des natio nalen Unterrichts- und Erziehungswesens voll entsprochen wird.
Schließlich aber und hauptsächlich: unsere internationale wirt schaftliche und militärische Behauptung mag
ein erstwesentliches
Mittel sein; immer darf sie doch nur Mittel sein wollen zu dem
einzig verständlichen Zweck: jedem Gliede der Nation die Mög lichkeit eines menschenwürdigen Daseins zu verschaffen. Sind wir
also nicht wieder in der ernsten Gefahr, das bloße Mittel der äußeren, politischen und wirtschaftlichen Machtstellung der Nation
dem Zwecke, der humanen Kultur ihrer Glieder und zwar aller, überzuordnen, dem bloßen Mittel den Zweck zu opfern?
Wird
aber so der letzte und wahre Zweck des sozialen Lebens mehr
und mehr außer acht gelassen,
so werden die Einzelfunktionen
dieses sozialen Lebens, weil von der Beziehung auf ihren gemein samen letzten Zweck gelöst, auch voneinander losgerissen, und es
entsteht statt eines einträchtigen Zusammenwirkens ein offenes Gegeneinanderstreben der Einzelglieder des sozialen Organismus. Vie wirtschaftlichen Klassen und die politischen Parteien, die nur der Ausdruck der natürlichen und gesunden Differenzierung der
Funktionen innerhalb der Einheit des sozialen Lebens sein sollten, geraten mehr und mehr in ein blindes, erbittertes Kämpfen gegen
einander, in dem wohl zeitweilig der eine Teil obsiegen und einen scheinbaren Frieden auf kurze Zeit durch Zurückdrängung des
22 anderen Teils erstreiten mag, ein ersprießliches Zusammentreten
aber zu vereintem wirken mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird.
Daß der wirtschaftliche und politische Zustand des heutigen Preußen und Deutschland eben dies traurige Bild zeigt, ist nur
zu offenkundig.
Liegt aber nicht darin eine beständige Gefahr
ernster innerer Krisen, welche durch internationale Verwicklungen,
wie sie auch schon mehr als einmal sich drohend genug anzu kündigen schienen, leicht eines Tages zu gefährlichem Ausbruch
getrieben werden könnten?
Darf man sich also in Sicherheit
wiegen und auf den augenblicklichen äußeren Glanz des Reiches, auf die gewiß große, aber schon fortwährend bis zum äußersten
angespannte Kraft der Nation sich blindlings verlassen?
Nein:
heute wie nur je haben wir Grund, an das politische Testament
des Freiherrn vom Stein uns zu erinnern, uns zu besinnen, daß wir den Untergang gefahren, wenn nicht das Mittel gefunden
wird, „die Disharmonie, die im Volke stattfindet, den Kampf der
Stände unter sich (heute hieße es: der gesellschaftlichen Klaffen), der uns unglücklich machte, zu vernichten", indem „gesetzlich die
Möglichkeit aufgestellt wird, daß jeder im Volke seine Kräfte frei
in moralischer Richtung
entwickeln könne."
Dies Mittel aber,
es ist kein anderes, als welches alle ernsten Patrioten damals dafür erkannten, nämlich das einer bis zur tiefsten Wurzel zu
rückgehenden, alle Seiten des menschlichen Wesens umfassenden und bis auf jedes einzelne Glied des sozialen Organismus sich
erstreckenden sozialen und nationalen Erziehung. Nehmen wir uns denn für einen Augenblick die hohe Frei
heit, zurücktretend von den Kämpfen des Tages, von allem Hader einer von der Hand in den Mund lebenden Politik uns das Ideal
bild dieser echten Nationalerziehung vor Augen zu stellen. Ich verweile nicht bei den Forderungen für die unterste Stufe, das vorschulpflichtige Alter; obgleich auch da besonders in
unseren Industriezentren und auch
auf dem Lande noch uner
meßlich viel zu wünschen übrig bleibt. Ich wende mich vielmehr
sogleich zu dem, was ja Ihnen am nächsten liegen muß: zur Grganisation der Schule.
23 Line
vornehmlich
wichtige
Forderung
ist
schon
berührt
worden: das Fundament der Nationalschule mutz gemeinsam sein. Nur wenig wäre erreicht mit der bloßen Beseitigung der Vorschule.
Gewiß ist sie ein besonders anstößiges Symptom des unsozialen Geistes unserer heutigen Schulverfassung.
Aber kindisch'wäre es,
den Ausgleich der sozialen Gegensätze von der bloßen Gemeinsam keit der ersten drei Schuljahre, ohne sonstige tiefgreifende Ände
rungen im ganzen Aufbau unseres Schulwesens, zu erwarten. (Es
ist weit mehr zu fordern.
Die Gemeinsamkeit muß sich so weit
erstrecken, als es möglich ist ohne Schädigung der Berufsbildung, die eine Differenzierung für die oberen Stufen zweifellos fordert; und so weit, als es notwendig ist, wenn die Berufswahl und da
mit die Wahl der ferneren Bildungswege nach den Fähigkeiten der Einzelnen und nicht nach dem Geldbeutel und den Standes vorurteilen oder ehrgeizigen Absichten der Eltern erfolgen soll.
Unter bestimmten Voraussetzungen hielte ich für richtig, den ge
meinsamen Unterricht auf einen vollen Kursus von sechs Jahren
auszudehnen.
Daß damit nichts Unmögliches gefordert ist, be
weist das Beispiel der Schweiz,
wenn dort gewisse übelstände
in Hinsicht auf die höheren Stufen des Unterrichts sich heraus gestellt haben sollen, so ist durch nichts bewiesen, daß es dafür
keine andere Abhilfe gebe als durch eine frühere Teilung der Schulwege. (Es müßte die gemeinsame Schule eben so eingerichtet
sein, daß sie für jede höhere Stufe eine geeignete Vorbildung ge währt.
Sie müßte so eingerichtet sein, daß von Anfang an die
verschiedene Art und höhe der Begabung der Einzelnen Gelegen heit und Anreiz findet, sich zu beweisen.
(Es müßte die Möglich
keit zur Entwicklung ebenso der Handgeschicklichkeit und künst
lerischer Fertigkeiten wie intellektueller Begabungen geboten sein. Das würde Mcht so sehr eine Vermehrung der Unterrichtsgegen stände (da es sich in allem nur um die Elemente handeln kann), als vielmehr eine Änderung der Behandlungsart nötig machen.
(Es dürfte nicht unterschiedslos von allen das nämliche gefordert werden, worin vielleicht der allgemeinste Grund aller Schäden der heutigen Schule liegt, sondern jeder müßte die Möglichkeit haben,
24 in dem, wozu er besonders begabt ist, mehr als der Durchschnitt
zu leisten, und dafür von anderem, nicht unbedingt Notwendigem entlastet zu werden. Nicht sowohl ganze Fächer müßten wahlfrei
sein (außer wenigen), als besondere Leistungen in den gemein
samen Fächern.
Differenzierung nach den Fähigkeiten, nicht not
wendig und nur im Sinne des Mannheimer Systems — obgleich
dieses nach einer Seite einen sehr beträchtlichen Fortschritt dar stellt und schon des Prinzips wegen höchst beachtenswert ist sondern jedenfalls auch und noch mehr Differenzierung innerhalb
des gemeinsamen Unterrichts: das ist es, was uns not tut. Dann würde beim Abschluß des sechsjährigen Kursus mit hinreichender
Sicherheit sich beurteilen lassen, wer für einen höheren Unterricht tauglich ist und für welchen. Allerdings setzt dies alles recht viel
voraus; eine ungleich freiere und weitere Vorbildung der Lehrer, eine bedeutende Verkleinerung der Klassen und also Vermehrung
der Lehrkräfte, was aber diese wieder alles voraussetzt, davon werden wir ja morgen genug zu hören bekommen.22 Cs ist ein mal so, und es ist gut so, daß jede einzelne ernstliche Reform,
einmal als notwendig erkannt, auf alle andern zwingend hin führt. Darum ist jede geringste gute Reform so wichtig: weil sie zugleich zu allen anderen den weg bahnen hilft.
wie aber denken wir uns den weiteren Bildungsgang für
alle die, die nicht in eine höhere Schule übertreten?
hier emp
finden Sie wohl alle mit besonderer Schärfe die ungeheuere und
ständig wachsende Schwierigkeit der unterrichtlichen und erzieh
lichen Behandlung
des gefährlichen Zwischenalters zwischen dem
jetzigen Abschluß der Volksschule und dem Militärdienstalter.
Ich
sage Ihnen nichts Neues, wenn ich ausspreche, daß unser Fort bildungsschulwesen, so vortreffliches im einzelnen geleistet werden
mag, doch als Ganzes nichts mehr als ein Notbehelf ist, dessen
Unzulänglichkeit sich mit jedem Tage deutlicher herausstellt.
In
der Theorie ist es auch hier leicht, den weg der Abhilfe zu zeigen. Ich habe gewagt, die vollschule für alle nicht eine höhere Schule besuchenden vom 12. bis 18. Hahr zu fordern; eine Schule, die
nur einer noch viel freieren Organisation bedürfte als
die ge-
25 meinsame Schule bis zum zwölften Jahre. Sie mühte, nach meiner Vorstellung, mit einem Grundstock allgemeinbildender Fächer, deren
Behandlung
sich
an die Kurse der allgemeinen Volksschule in
strenger Kontinuität anschlösse, die denkbar reichste Fülle berufs
bildender Kurse verbinden, so daß die Teilnahme an diesen nicht schlechthin wahlfrei, sondern durch die Berufswahl in der Haupt sache bestimmt wäre.
Zwar die ganze Jugend bis zum
zehnten Jahr von der Erwerbsmöglichkeit auszuschliehen, ist zur
zeit
schwerlich
erreichbar; aber
wenigstens
eine Einschränkung
der zu frühen Ausnutzung der Arbeitskräfte zum Schaden der geistigen und sittlichen Ausbildung ist schon längst keine neue
Forderung mehr und wahrlich eine berechtigte und notwendige. Endlich handelt es sich noch um ganz freie Kurse zur Weiter
bildung der Erwachsenen aller Volksklassen, vorzüglich derer, die jetzt unter dem Druck der Erwerbsnot allzuoft auch die elemen
tarste Schulbildung, wenn sie überhaupt erreicht war, in er schreckend kurzer Zeit wieder verlieren.
Dies wäre nun zwar
bei einer Einrichtung des Jugendunterrichts, wie ich sie vorhin
gezeichnet habe, von Anfang an nicht oder nur in verschwindendem
Umfang zu besorgen.
Aber es ist einmal so, daß, je höher der
Mensch schon gebildet ist, um so stärker der Drang nach weiterer Bildung in ihm sich regen mutz; und wenn irgendwo, so hat hier
das: „Je mehr er hat, je mehr er will" seine Berechtigung. Und
darum wird
der Volksunterricht der Erwachsenen immer eine
Aufgabe bleiben, ja eine immer wichtigere und bedeutendere Auf gabe werden. Bereits donborcet28 dachte sich eine ganz um fassende Organisation eines solchen Volksunterrichts, die er in die
Hand des ganzen Körpers der Lehrenden, vom Volksschullehrer bis zum Universitätslehrer, legen wollte; praktisch also ganz über
wiegend in die Hand des Volksschullehrers. Das setzt freilich vor
aus, datz hier Kräfte schier ohne Grenzen zur Verfügung ständen; und
das forderte namentlich eine soziale Stellung
des Lehrer
standes, die zur heutigen fast in diametralem Gegensatz stände. Es mützte das Wort Schleiermachers allgemein zur Wahrheit ge
worden sein, welches im einzelnen schon jetzt vielfach zutrifft: datz
26 der Elementarlehrer der „gebildetste Mann im Volke" sein solle; und es müßte ebendamit der Lehrerstand in einem allgemeinen Ansehen stehen etwa wie heute - bekommen Sie keinen Schrecken —
der Gffiziersstand.
(Es wäre vielleicht allzu anstößig, zu sagen,
daß die Waffenübung auf dem Exerzierplätze doch eigentlich auch nur eine Schule, und zwar eine hinlänglich elementare sei; aber
das wird wohl noch zu sagen erlaubt sein, daß der Schuldienst
ein Kriegsdienst edelster Art ist; denn es ist hier, nach dem Worte
Luthers, „wohl ein ärgerer Krieg vorhanden" als der äußere: der Krieg gegen Unwissenheit, sittliche Roheit und ästhetische Un
kultur, gegen das ganze Heer der inneren Feinde des Mensch lichen im Menschen, und das heißt: des Göttlichen in ihm.
was aber jede einzelne dieser Forderungen,
vollends der
Verein ihrer aller, besonders in Hinsicht der Lehrerbildung be
deutet, davon lassen Sie mich nur noch ein Wort sagen.
(Es
bedeutet, kurz gesagt, daß die Lehrerbildung an die Universität
in engerer oder loserer Form angeschlossen werden mufc.24
Für
den akademischen Unterrichtsbetrieb selbst wäre es überaus heil sam, wenn er auf solche weise in einer mehr unmittelbaren Werse
als jetzt für die gesamte nationale Erziehung
einzustehen ver
pflichtet würde; wie es doch die Bestimmung der Universität
ursprünglich gewesen und der Idee nach immer noch ist.
3u einem
organischen Ganzen kann der gesamte Lehrkörper der Nation nur so werden, und er mutz es werden. Und nur so wird je die Idee zur Wahrheit werden, in der Schleiermacher mit Condorcet25
zusammentrifft: daß das gesamte nationale Unterrichtswesen eine
ähnlich freie Stellung gegen Staat und Kirche einnehmen sollte,
wie heute etwa die Rechtspflege. wäre zu sagen,
3n sachlicher Beziehung aber
daß Pädagogik nicht eigentlich
eine besondere
Wissenschaft ist neben und auf gleicher Linie mit allen anderen, sondern von einer bestimmten, für alle gleich wichtigen Seite sie
alle umfaßt; so wie dies in anderer weise von der Philosophie, von der Geschichte, und wieder anders von der Naturwissenschaft gilt.
Also haben an ihr mehr oder minder alle Wissenschaften
mitzuarbeiten;
zumeist aber doch
die, welche die Einheit der
27 Wissenschaft in ihren letzten Grundlagen zu vertreten hat: die
Philosophie.
Jedenfalls das wird wohl künftig einmal als etwas
schier Unglaubliches empfunden werden:
wie noch in unserem
wissenschaftlich hoch kultivierten Zeitalter man hat denken können, daß das Unterrichten und Erziehen einer Nation sich wie eine Art
Handwerk
ohne
die
Grundlage
eines
freien
wissenschaftlichen
Studiums erlernen lasse. Doch allzu lange verweile ich schon bei der Zeichnung eines pädagogischen Utopien — wie wohl viele es nennen werden,
vom
Gestern und heute sollte die Rede sein, nicht vom Hlorgen; einem Morgen, das vielleicht niemals kommt. Uber gibt es überhaupt ein heute? wenn ich „jetzt" sage,
so ist dies Jetzt schon vorbei, ehe nur das Wort zu Ende ge sprochen ist.
vom heute ist nichts zu sagen als indem man die
Linie zu erkennen sucht, die vom Gestern zum Morgen führt.
Und dann — ich mochte nicht die festliche Stimmung dieser
Stunde verderben, indem ich etwa ein Gericht zu halten mir anmaßte über Regierung und Parteien: was sie getan, was sie unterlassen, verschuldet oder gutgemacht haben. Erhobenen Hauptes wollten wir für einen Augenblick vorwärts schauen, um tapferen
Schrittes dann wieder vorwärts zu schreiten.
3n dieser erhobenen
Stimmung gestatten Sie mir denn zum Schluß in einem frohen
Optimismus, der mir selbst ungewohnt ist, noch von der letzten
großen Sorge unseres Schulwesens zu sprechen.
Neben der sozialen ist es ja die konfessionelle Zerklüftung der Nation, die gerade im Hinblick auf unser Schulwesen uns die ernstesten Sorgen einflößen muß.
Auch hier zeigt unsere Zeit
anscheinend das volle Gegenteil der Lage vor hundert Jahren. Unsere Altvordern standen noch unter der lebendigen Nachwirkung
der deutschen Aufklärung, die, ohne radikalen Bruch mit der
Vergangenheit, doch eine freie und weite Auffassung der über kommenen Religionsanschauungen in allen Lagern, wenn auch nicht
allgemein gemacht,
doch nach vielen Seiten vorbereitet hatte.
Damals war ein einmütiges Zusammengehen der Konfessionen, war ein Zusammenwirken auch des geistlichen Standes mit den
28 staatlichen und kommunalen Organen in der Schule,
die im
preußischen Landrecht ausdrücklich als Staatssache anerkannt war,
möglich und fast gefahrlos; weil die geistige und Gewissensfreiheit vom geistlichen Stande selbst, nicht bloß auf protestantischer Seite,
geachtet wurde, und weil der Geistliche sich als Volkslehrer der
Erwachsenen mit dem Volksjugendlehrer auf einen Boden stellte und
ein starkes und freies Interesse auch für dessen besondere
Rufgabe mitbrachte.
(Es ist vielleicht die paradoxeste Tatsache
unserer Geschichte in diesen hundert Jahren, daß gerade in dieser
Hinsicht seitdem nur Rückschritte, fast in wachsender Progression,
zu verzeichnen sind; daß ein partikularismus des religiösen Be
kenntnisses,
wie er damals überhaupt unbekannt war, wieder
Platz greifen konnte,
wie schwer aber das gerade auf unserem
Volksschulwesen lastet, ist uns allen ja nur zu wohl bekannt. Den Kampf aufgeben darf man nicht, auch nachdem eine Haupt
schlacht verloren ist.
wir müssen ringen um fachliche Schulaufsicht,
um eine freiere und weitere Gestaltung des Religionsunterrichts der
Schule und — wieder und immer wieder — um eine mehr wissen schaftliche und damit in jedem Sinne freie Lehrervorbildung. Schleier macher schreibt einmal:26 „Ich habe außerdem, daß ich ein Deutscher bin, wirklich aus vielen Gründen die Schwachheit, ein Preuße zu sein." wer von uns diese Schwachheit teilt, mutz es schmerzlich empfin
den, daß gerade in diesen Dingen fortan Preußen in Deutschland und in der Welt nicht voran, sondern erst ganz hintennach mar schieren soll.
Aber marschiert wird doch.
der Sieg unser sein. schichte.
Und zuletzt wird doch
Dafür bürgt uns die Logik der Weltge
wag auch die Hoffnung gering sein, daß zu der höhe
der geistigen und sittlichen und damit auch der religiösen Freiheit,
welche die besten Männer unseres Vaterlandes sich schon vor hundert Jahren errungen hatten, die breiteren Schichten des Vol kes sich bald und allgemein erheben werden; mögen die vielfach
brutalen Formen des wirtschaftlichen und politischen Kampfes, wie die ungeheure
Entfaltung der Industrie und
des Weltverkehrs
sie anscheinend unvermeidlich mit sich bringt, neben der Erschütte rung
aller Überlieferungen auch neue, oft seltsame, im Grunde
29 atavistische Formen der Religiosität durch eine Art Kontrastwirkung Hervorrufen: aber daß die geistige Zwangsherrschaft einer oder weniger Konfessionen sich noch lange sollte behaupten können,
das, darf man wohl sagen, ist eine volle innere Unmöglichkeit.
Der Protestantismus
wird die Konsequenzen
Entwicklung ziehen müssen.
seiner bisherigen
Aber auch aus dem deutschen Ka
tholizismus wird einmal, so hoffen wir fest, ein neuer, wenn auch
anders gearteter Protestantismus erstehen.
Es ist viel von pro
testantischem Geist in jener großen Zeit in ihn eingedrungen und,
wie gerade die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, in ihm trotz allem nicht erstorben.
Selbst in dem täglich sich aussprechenden
schnöden Undank Roms gegen die Treue, die der deutsche Ka
tholizismus bis heute noch ihm bewahrt, verrät sich eine gewisse
Ahnung dieses Verhalts.
Und wenn dem deutschen Katholizismus
das Abwerfen des römischen Jochs allerdings so leicht nicht fallen
wird, wie anscheinend unseren westlichen Nachbarn, so lassen wir uns den Glauben nicht nehmen, daß es die ernstere Tiefe der
deutschen Religiosität ist, die ihm den Losritz erschwert.
Diese
ernstere Tiefe aber ist es, die einst den Protestantismus geboren hat.
Sie wird ihn zum zweitenmal gebären; zumal wenn viel
leicht ein starker nationaler Antrieb, wie im Reformationszeitalter und wieder in der Zeit der Fremdherrschaft vor hundert Jahren,
Hinzutritt.
Dann werden die alten Protestanten mit den neuen
Schulter an Schulter kämpfen und beide werden sich erkennen
als Kinder eines Geistes, den kein tötender Buchstabe mehr
trennen darf.
Dann — erst dann werden wir alle ein Vater
land haben. Das ist der Tag, dessen wir harren, den Sie vorbereiten helfen sollen.
Diese ideale Einheit der Nation mutz in Ihnen,
mutz im ganzen Wirken der deutschen Schule lebendig werden;
dann wird man dereinst sagen dürfen, daß sie die geistige Ei nigung der Nation miterschaffen habe, so wie sie ihre politische Ein heit, auch nach dem Zeugnis Bismarcks, mit hat erschaffen helfen.
Dies sei heute unsere Pfingsthoffnung, unser pfingstgelübde!
Anmerkungen. 1 In der Schrift „Rn die Unschuld rc.", 1815 (Werke, her. v. Serif» farth, Liegnitz, 1899 ff., Bö. XI, $. 95). vgl. m. Biographie Pestalozzis (Greßlers Mass. d. Pad., Bd. XXIII), S. 373 f. 2 Man lese die ausgezeichnete Darstellung von F. Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1795—1815 (hepcks Monographien zur Weltgeschichte, XXV. Bielefeld u. Leipzig, 1906). 3 Ruf die Bedeutung dieser predigt (der 12. der 2. Sammlung, in Schleiermachers Werken, 2. RbL, Bd. I, $. 360 ff.) hat kürzlich Joh. Bauer hingewiesen in dem für das tiefere Verständnis der damaligen Zeit wert vollen Buche: Schleiermacher als patriotischer Prediger (Gießen 1908). Ihm verdanke ich auch die Bemerkung, daß diese predigt Schleiermachers mit der sechsten der Fichteschen Heben auf einen Tag fiel. 4 Fichtes „Heben an die deutsche Nation" haben jetzt, hundert Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung, eine schöne Neuausgabe (München u. Leipzig, Einhorn-Verlag, 1908) durch h. Leser erfahren, dessen bedeutende Einleitung den Lesern empfohlen sei. 6 S. m. Rufsatz „donborcets Ideen zur Nationalerziehung", Mo natsh. d. Tomenius-Gesellschaft, 1894, auch in „Gesammelte Rbhandlungen zur Sozialpädagogik", Bd. I (Stuttgart 1907), S. 37 ff. 3 Max Lehmann, Freiherr vom Stein (Leipzig 1902 ff.), Bd. II, S. 536. 7 pertz, Leben des Ministers Frh. vom Stein, Bd. II, S. 309 ff. Lehmann Bd. II, S. 606. 8 $. bes. Dörpfeld, Das Fundamentstück einer ... Schulverfassung" (Hilchenbach 1892), Rbschn. I. 9 $. m. Rufsatz über L. Natorp (Monatsh. d. Com.-Ges. IV, S. 261ff.; auch sep.) und die Biographie L. Natorps von D. Natorp (Essen 1894). 10 Lehmann, Bd. I, Rbschn. 3, bes. $. 105. Meinecke S. 32. 11 Nabinetsordre vom 31. Dez. 1803. pestalozzistudien her. v. Serif» farth, Bb. II, $.5. Gebhardt, Die Einführung der pestalozzischen Me thode in Preußen (Berlin 1896), $. 11; und m. Pest.-Biographie $. 318. 12 In der 9. Hede; Leser S. 179. 13 pestalozzistudien, Bd. II, S. 102 ff. Gebhardt S. 28 f. 14 Mors, Zur Biographie Pestalozzis, Bd. IV, S. 183. 16 Kurz dargestellt in meiner Biographie Pestalozzis, S. 323—332. 16 Bei (D. Natorp, S. 126 ff. 17 Im Rrt. Süvern der Rllg. deutschen Biographie (Bd. XXXVII, S. 239). über Natorps Anteil am Süvernschen Entwurf ebenda S. 238 und in m. Rufsatz über L. Natorp $. 12 f. Die in dem oben angeführten Brief erwähnte „Instruktion" ist eben jene von Natorp selbst abgefatzte, die von Süvern dem Entwurf zugrunde gelegt wurde.
31 18 Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens in Preußen v. I. 1817 bis 1868 (Berlin 1869), 5. 7 ff. 19 In der interessanten Schrift: Kndreas Bell und Joseph Lancaster, vgl. m. Kuss, über L. N., S. 25. 20 „Das Edle eines allgemeinen Prinzips in seiner Reinheit bei der Ausführung zu erhallen, ist das einzige Mittel, aus den Geist der Staats bürger zu wirken" — sagt Scharnhorst 1810 mit Bezug aus die allgemeine Wehrpflicht (Meinecke, S. 109). 21 vgl. Sozialpädagogik (2. Hufl.) 5. 234 ff.; Rllg. Pädagogik in Leitsätzen (Marburg 1905) § 23; und: „Die Gefahren der Einheitsschule" in der Zeitschr. „Säemann", Bö. in, $. 329 ff. 23 In der zweiten Hauptversammlung hielt I. Tews einen ein drucksvollen Vortrag über den „Lehrermangel nach seinen Ursachen und Wirkungen". 23 S. den oben (stnm. 5) zitierten Aufsatz, Ges. Abh. I, S. 42 ff. 24 vgl. mein Gutachten in der Broschüre von B. Hofmann, 3um Universitätsstudium der Volksschullehrer (päd. Bl. f. Lehrerbildung, Crg.h. 3, Gotha 1904); und: Allg. päd. in Leits. § 42. Genauer wird die Frage in einer demnächst erscheinenden Abhandlung zur Sprache kommen. 26 über Londorcet s. Ges. Abh. I, S. 47; über Schleiermacher u. a. Heubaums Art. in Reins Cnzyklop. Handb. unter nd). 36 Briefe, Bö. IV, 5. 132, 12. Jan. 1807. vgl. Bauer 5. 175. Es heißt in dem Briefe dann weiter: „Uber fteilich geht meine Leidenschaft auf eine Idee von Preußen, welche vielleicht in der Erscheinung die wenigsten erkennen."
Der Verlag von Alfred Töpelinann in Gießen zeigt hierdurch an, daß
Das Züchen der Zeit mit den Vorräten der bisher erschienenen ersten vier Bände aus dem Verlage von Karl Robert Langewiesche in Düsseldorf in den (einigen übergegangen ist.
214 S. 1903
Erster Sand:
Kart. M. 1.80
Unsere Hoffnung (Artur Bonus) — Vie Sehnsucht nach Persönlich keit (Friedrich vaab) - IHaran Atha (Heinrich Weinei) — Vas religiöse Denken der Gegenwart (Friedrich Uiebergall) — Väter und Söhne (Hans Wegener) - Die geheimen Erfahrungen der Pro pheten Israels (Hermann Gunkel) - Übermensch und Herdenmensch (Heinrich Lhotzky) - Ein Hemmnis deutscher Zukunft und seine Überwindung (Meyer-Zwickau) — Erfüllung (Gertrud Prellwitz).
210 S. 1904
Zweiter Band:
Kart. M. 1.80
Die Selbsterhaltung des Ichs (Friedrich Naumann) - Was ist Religion? (Hans Wegener) - Die Seele Jesu (Friedrich Vaab) — Das Mysterium (Heinrich Lhotzky) - Der Kulturwert der Re naissance (Artur Bonus) — vergib uns unsere Schuld (Heinrich Weine!) — Gedanken (Earl Hauptmann).
223 5. 1905
Dritter Band:
Kartpn. 1.80
Was ist die Bibel? (Hans Wegener) — „Sonnig". Geschichte eines Einsamen (Heinrich Lhotzky) — Das Armenevangelium (Fritz Werner) - Erlösung (Friedrich vaab).
220 S. |19O6
vierter Band:
Kart. M. 1.80
Die Furcht vor dem Denken (Hans Wegener) — Bekenntnisse eines versöhnten Menschen (Fritz Werner) — vom jungen Leben (Friedrich Vaab). Diese „Blätter deutscher Zukunft" wird der neue Verleger in Gemeinschaft mit den Begründern des Unternehmens, den Herren Friedrich vaab und Hans Wegener, künftig alljährlich in einem neuen Bande fortsetzen.
--------- Der fünfte Band wird im Frühling 1909 erscheinen.-----------