Der preußische Verfassungskampf vor hundert Jahren [Reprint 2019 ed.] 9783486745917, 9783486745900


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German Pages 133 [136] Year 1921

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Vorwort
Inhalt
Erstes Kapitel. Die treibenden und die hemmenden Kräfte
Zweites Kapitel. Der Kampf um das Berfaffungsversprechen vom 22. Mai 1815
Drittes Kapitel. Die Folgen von Humboldts und Hardenbergs Niederlage
Anhang
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Der preußische Verfassungskampf vor hundert Jahren [Reprint 2019 ed.]
 9783486745917, 9783486745900

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Der preußische Verfassungskampf vor hundert Jahren

Von

Professor Dr. Paul Haake Privatdozent an her Universität Berlin

München und Berlin i?ai Druck und Verlag von R il>ldenbourg

311s Recdre, einschließlich de» Ubersequngsrcchre», Vorbehalten «Copyright 1911 bti R. Dldenbourg, rNnnchen

Vorwort. Fast ein halbes Jahrhundert ist verstrichen, seitdem „Der erste Verfassungskampf in Preußen (1.81.5—1823)" von Heinrich v. Treitschke im 29. Bande der preußischen Jahrbücher ein­ gehend geschildert wurde. Kaum eine zweite Epoche der preußi­ schen Geschichte ist in den letzten 50 Jahren so gewissenhaft durchforscht worden, wie das Zeitalter der Reform, der Freiheits­ kriege, der beginnenden .Reaktion und Restauration, der Karls­ bader Beschlüsse. Eine große zusammenfassende Darstellung der vergeblichen Anläufe, den Hohenzollernstaat in eine konstitutio­ nelle Monarchie umzuwandeln, gibt es leider nicht; Gerhard Anschütz konnte in seinem Buche „Die Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850" (1. Band, Berlin 1912) die Vorgeschichte der preußischen Verfassungsurkunde bis zur Einführung von Provinzialständen nur auf 20 Seiten be­ handeln. Im 26., 28., 29., 30. und 32. Bande der Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte habe ich von 1913—1919 eine Aufsatzreihe „König Friedrich Wilhelm IIL, Hardenberg und die preußische Verfassungsfrage" veröffentlicht; eine ergänzende Miszelle „Die Errichtung des preußischen Staats­ rats im März 181?" brachte der 27. Band; in meinem vor kurzem als 42. Band der historischen Bibliothek erschienenen Buche „Johann Peter Friedrich Ancillon und Kronprinz Friedrich Wilhelm IV. von Preußen" schildert ein besonderes Kapitel die beiden Männer „im Kampf um das Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815". Es war meine Absicht, diese Publikationen, denen langjährige Studien im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin und im Kgl. Hausarchiv zu Lharlottenburg zugrunde liegen, zu einem Buche „Hardenbergs Kampf für preußische Reichs-

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Vorwort.

stände" umzuarbeiten und zu erweitern. Verhandlungen mit mehreren Verlegern waren jedoch ohne Erfolg. Herr Richard Oldenbourg schrieb mir, es sei jetzt nicht an der Zeit, wissenschaft­ liche Werke von größerem Umfang herauszugeben. Er erklärte sich aber bereit, eine etwa sechs Bogen füllende Geschichte des ganzen preußischen Verfassungskampfes vor hundert Jahren zu verlegen. )ch bin Herrn Oldenbourg zu großem Dank ver­ pflichtet, daß er mir seine hilfreiche Hand lieh. Auch so, wie sie nun gedruckt vorliegen, werden meine Ausführungen den Fach­ genossen und weiteren Kreisen willkommen sein und dazu bei­ tragen, die sich vielfach widersprechenden Ansichten über die Gründe des Scheiterns der Verfassungsreform vor hundert fahren zu klären. Um meine Auffassung eingehend zu begrün­ den, reicht der mir zu Gebote stehende Raum natürlich nicht aus; den etwa Zweifel hegenden Leser bitte ich, auch zu meinen früheren veröftentlichungen zu greifen. Eins wird er mir hoffentlich nach ihrer Lektüre zugeben: daß ich stets bemüht gewesen bin, die Grenze festzustellen, wo das sichere Wissen aufhört und das subjektive Meinen anfängt, und objektiv zu sein gegenüber den sich bekämpfenden Parteien. Das August-Heft der neuen Rundschau brachte eine fein­ sinnige Studie von Friedrich Meinecke „Wilhelm v. Humboldt und der deutsche Staat", worin es heißt: „Humboldt forderte mit den in seinem Verfassungsplan dem Zentralparlament gewährten Rechten vielleicht schon mehr, als König Friedrich Wilhelm III. je zugestanden haben würde". )ch begrüße diesen Satz als eine erste Annäherung Meineckes an meinen Standpunkt, daß nicht Hardenberg, sondern der König die Hauptschuld daran trägt, daß Preußen unter seiner Regierung keine Reichsstände erhielt. Die letzte schwache Aussicht dafür schwand meiner Mei­ nung nach im Sommer 1820. was Friedrich Wilhelm III. am meisten bestimmte, sich von Hardenberg abzuwenden, wissen wir noch nicht genau. Auffchluß geben könnte darüber möglicherweise das Exemplar der im Oktober 1820 bei Brockhaus anonym in der Sammlung „Zeitgenossen" erschienenen Benzenbergschen Schrift „Die Verwaltung des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg", in welchem der König seinem Arger in eigenhändigen Rand­ bemerkungen Luft gemacht hat, oder das andere Exemplar, in welches Hardenberg diese Marginalien übertrug. Beide sind

Vorwort.

spurlos verschwunden. Die frühere Hausbibliothek des letzten Kaisers, die Berliner Universitätsbibliothek, die manches einst Friedrich Wilhelm IV. gehörende Buch besitzt, die Staats­ bibliothek in Berlin, die Bibliotheken des Grafen Hardenberg und des Fürsten Wittgenstein enthalten weder das eine noch das andere. Sie wiederaufzufinden liegt im Interesse der Wissen­ schaft. Ich bitte jeden, der hiervon Kenntnis nimmt, ihr und mir dabei behilflich zu sein. Berlins so, zo. September 1920. Nachodstraße 8

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Inhalt. Seite

Erstes Kapitel. Die treibenden und die hemmenden Kräfte .... i Der preußische Staat und feine Untertanen vor 1806. S. 5. — Die „konservativen" Altpreußen S. 5. — Der „Liberalismus" der Gebildeten. 5. 7. — Dem Staate fremde oder feindliche (Elemente. S. 9. — Emmanuel Kant als Politiker. S. u. — Stellungnahme zur Demokratie. S. 13. — Johann Gottlieb Fichte. S. 15. — Friedrich Schillers politische Anschauungen. S. 17. — Anfänge politischer Parteien in Preußen. S. 19. — Karl Freiherr vom Stein. S. 21. — Steins (Eintreten für Provinzial- und Reichsstände. S. 23. — König Friedrich Wilhelm III. S. 25. — Gefahren des Konsti­ tutionalismus für Preußen vor 1807. S. 27. — versprechen non Provinzialständen für Ostpreußen 31. 1. 1808. S. 29. — Reichs­ stände in Aussicht genommen 26. 10. 1808. S. 31. — Stein über die Zusammensetzung und Rechte der Stände. S. 33. — Steins zweite Entlassung. S. 35. — Ende der ersten Phase des Verfassungs­ kampfes. S. 37. — Engerer Zusammenschluß zu „Parteien". S. 39. — Die Altpreußen IJorf und Marwitz. S. 41. — Voß und Adam Müller. Das Ministerium Dohna-Altenstein. S. 43. — Karl August Graf von Hardenberg. S. 45. — Der König verspricht 1810 und 1811 Provinzial- und Reichsstände. 5. 47. — Hardenberg in der zweiten Phase des Verfassungskampfes. S. 49. Zweites Kapitel. Der Kampf um das Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815............................................................................................... 51 Wiederaufnahme des Konstitutionsplans im Sommer 1814. 5. 53. Stägemann arbeitet an einer Verfassung für Preußen in Wien. S. 55. — Jerbonis und Hoffmanns Vorschläge. S. 57. — Große Meinungsverschiedenheiten. S. 59. — Warnungen vor der Verkün­ digung einer Konstitution. S. 61. — Keine Fertigstellung der Ver­ fassung in Wien. S. 63. — Das Edikt vom 22. Mai 1815. S. 65. — Lebhafte Teilnahme des Volkes an politischen Fragen. S. 67. — Starke Unzufriedenheit mit der Regierung im Sommer und Herbst 1815. S. 69. — Schmalz, Janke und Ancillon gegen die „Jakobiner". S. 71. — Ancillons Schrift „Aber Souveränität und Staatsverfassungen". S. 73. — Die Verfassungskommission wird nicht einberufen. S. 75. — wurde am 22. 5. 1815 Unmögliches versprochen? S. 77. — Provinzial- und Reichsstände vor 1820

Inhalt.

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Seite möglich. 5. 79. — Hardenberg drängt vorwärts. 5. 8t — Order des Königs zu warten. 5. 83. — Die Motive Friedrich Wilhelms III. 5. 85. — Lonseil über Hardenbergs Vorschläge ohne sein Beisein. 5. 87. — Abmachungen mit Metternich in Teplitz. 5. 89. — Reichs­ stände J819 noch nicht prinzipiell verworfen. 5. 91. — Artikel 57 der wiener Schlußakte vom 15. 5. 1820. 5. 95. — Humboldts und Hardenbergs Verfassungsprogramm. 5. 95. — Humboldts Fehler. 5. 97. — Zusage von Reichsständen am 17. 1. 1820. 5. 99. — Umschwung im Sommer und Herbst 1820. S. 101 — Reue Kom­ missionen unter dem Vorsitz des Kronprinzen. S. 103. — Provin­ zialständegesetze 1825/2$. S. 105. — Hardenberg kämpft bis zum Tode für Reichsstände. S. 107. Drittes Kapitel. Die Folgen von Humboldts und Hardenbergs Niederlage . .............................................................................................. 109 Keine Restauration des alten Ständetums und Ständestaates. S. m — Befestigung der Adelsvorherrschaft durch die Kreisordnungen. S. 115. — Zunehmender partikularismus und Radikalismus in der Rheinprovinz. S. 115. — Überall Verschärfung der sozialen und politischen Gegensätze. S. ) 17. — Das Hauptversäumnis Ausbleiben der Reichsstände. S. 119. A n hang............................................................................................................ 121 Litteratur. Anmerkungen.

Erstes Kapitel.

Die treibenden und die hemmenden Kräfte. Am 31-Januar 1808 stellte Friedrich Wilhelm IIL dem ostpreußischen Generallandtag die Bildung von Provinzial­ ständen mit einer zweckmäßigen Repräsentation der städtischen und ländlichen Eigentümer in Aussicht, und am 26. Mktober des­ selben Wahres beschloß die Generalkonferenz der Berater des Königs bei den Verhandlungen über den Gesetzentwurf einer Veräußerung der Domänen hierbei auch die künftigen Reichs­ stände der Monarchie zuzuziehen. Am 5. )uni 1823 erging das „Allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände", dem am 1. )uli dieses Wahres und am 27. März 1824 acht Sondergesetze für die einzelnen Provinzen folgten, aber keine Reichsstände und keine Konstitution. )n diesen anderthalb Jahrzehnten sind, durch Waffenstillstände mehrfach unter­ brochen, die zum Teil erbitterten Fehden ausgefochten worden, die Heinrich von Treitschke als den. ersten Verfassungskampf in Preußen bezeichnet hat. Sie haben eine reiche Fülle von kraft­ voller Phantasie und zäher Energie, von hoher Intelligenz und seltener sittlicher Größe in die Erscheinung treten lassen. Das Ergebnis war kümmerlich und kläglich. Aus welchen Gründen? )mmer wieder drängt sich dem preußischen Patrioten diese Frage auf. versuchen wir in einem gedrängten Überblick die richtige Antwort darauf zu finden! Daß der Verfassungskampf vor hundert fahren kein das preußische Volk in seiner ganzen Breite und Tiefe so gewaltig erschütternder Zusammenprall war wie die Revolution von 1848 oder der Umsturz von 1918 und die ihm voraufgehende Aktion zur Reform des Wahlrechts, liegt klar zutage; damals (i a fe, Per preußische Verfassungskampf vor bunbert fahren. 1

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Erstes Kapitel.

Die treibenden nnb die hemmenden Kräfte.

strebte noch nicht, wie einige Jahrzehnte später bas Bürgertum und im ausgehenden und beginnenden 20. Jahrhundert der vierte Stand, eine soziale Klasse in geschlossener Phalanx nach Gleichstellung und Macht; es waren nur mehr oder weniger starke Gruppen, die sich gegenüberstanden, ohne enge Fühlung und straffe Organisation, anfangs sogar wohl nur einzelne, Offiziere ohne Soldaten, ohne Armee. Die Preußen hatten es für jene Zeit gut gehabt unter dem aufgekärten Regiment ihres größten Königs; der alte Fritz, heiligen Verantwortungsgefühls voll, ein unermüdlicher Diener seines Staates, war rastlos be­ müht gewesen für die Heilung der Wunden des siebenjährigen Krieges und für das geistige und materielle Wohl seiner Unter­ tanen — freilich nicht für alle in gleicher Weise; Edelleute, Bürger und Bauern, im Rahmen dieses kunstvoll aufgebauten Militärund Beamtenstaates als Führer des Heeres und Leiter der Ver­ waltung, als Werkzeuge von handel und Industrie und Haupt­ träger der finanziellen kästen, als landwirtschaftliche Arbeiter im Frieden und Verteidiger des Vaterlandes im Kriege ein jeder Stand für sich auf seinen besonderen Platz gestellt, sollten, streng voneinander geschieden und in dem über- und Unterordnungs­ verhältnis festgehalten, in ihren Grenzen bleiben, über den ihnen im Interesse des Ganzen gesteckten Kreis nicht hinaus­ streben, nicht mehr als das unbedingt Notwendige lernen, die Bauernjungen z. B. nur die Grundlehren ihres Glaubens und etwas kesen, Schreiben und Rechnen —i „wissen sie zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und so was werden". Die große Masse der ländlichen Bevölkerung, in ihren Besitz­ verhältnissen, im Frohnen, im Gesindezwangsdienst der Kinder vielfach besser gestellt gegen die vorfahren, hatte sich, des Schutzes von oben gewiß, trotzdem wohl dabei befunden und nur im Sommer 1803 hier und da in Ostpreußen, als tausende spannfähiger Domänenbauern freie Eigentümer wurden und das Gerücht einer allgemeinen Aufhebung der Erbuntertänigkeit sich nicht bewahrheitete, zu murren begonnen; die Empfindung, daß Reformbestrebungen int Gange seien, erzeugte Vertrauen, der von den Väter überkommene und zäh bewahrte Glaube, wer nur den lieben Gott wallen lasse und allezeit auf ihn hoffe, dürfe in aller Not auf seinen Beistand und auf Rettung bauen, die Hände nach des Tages Arbeit ruhig in den Schoß legen und

Der preußische Staat und feine Untertanen vor 1806.

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Politik Politik, Staat Staat sein lassen, tat ein übriges, und nach­ dem mit dem Tode Friedrich Wilhelms II. die Maitressen- und Günstlingswirtschaft ein Ende genommen hatte, blickten Männer und Frauen wieder ehrfurchtsvoll auf zu dem jungen, in seinem Familienleben allen vorbildlichen Königspaare. wie auf dem platten Lande so auch in den Städten. Hier wie dort fühlte man sich nicht zurückgesetzt und vergessen, sondern zumeist wohl geborgen und treu behütet von einer friedliebenden, gerechten, fürsorgenden Regierung; die wachsende Zahl bürgerlicher Offiziere, Beamten, Rittergutsbesitzer zeigte unverkennbar eine auf Einschränkung der Vorrechte des Adels und auf soziale Gleichstellung hinzielende Tendenz; die Aufhebung der bisherigen Freiheiten der privilegierten von den Konsumtionsabgaben, Wasserzöllen, Lizenz- und Schleusengeldern, die Erhöhung der Gebühren auf entbehrliche Luxusartikel, ihr Fortfall bei den notwendigen Lebensbedürfnissen ließ weitere Milderungen der finanziellen Lasten für die Minderbegüterten erhoffen. Die Erhebung des dritten Standes in Frankreich machte auch in Preußen hie und da die Herzen höher schlagen; da aber im Hohenzollernstaate kein Zusammentreten der Stände, kein aus der fast verglimmten parlamentarischen Asche verjüngt auf­ steigender Phönix aller Augen auf sich zog und die französische Revolution durch zunehmende Verwilderung sich die Sympathien diesseits des Rheins immer mehr verscherzte, so verharrte die große Masse der preußischen Untertanen in den alten Stimmungen und Gesinnungen; man freute sich, von den Greueln und Schrecken verschont zu bleiben, die das Nachbarland im Westen heimsuchten, und dennoch dank der Einsicht einer gütigen Re­ gierung die Vorteile einzuheimsen, die den Franzosen nur durch schwere blutige Kämpfe zufielen, und hielt nach wie vor still und zuversichtlich zu dem absoluten Königtum von Gottes Gnaden. „Die Tendenz des Königs" — schrieb Johannes Müller, als er im Frühjahr f804 nach der preußischen Hauptstadt kam, an seinen Bruder — „ist, Berlin zu einer Freistätte und einem Mittel­ punkte deutscher Art und Kunst und aller vernünftigen Freiheit zu machen; auch sah ich von letzterer nicht die mindeste üble Folge, hörte keine Klagen, sah keine mißvergnügten, revolutions­ schwangeren Gesichter, sah Liebe für das Haus und niemand an Preußens Erhaltung verzweifelnd". Deutsche philisterart i*

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Erstes Kapitel.

Vie treibenden und die hemmenden Kräfte,

war und ist, vom staatlichen Leben und seinen Nöten und Be­ dürfnissen möglichst wenig wissen und behelligt werden zu wollen, und nur von Zeit zu Zeit, mehr zur Unterhaltung und Ablenkung als zu ernsthafter Beschäftigung und gründlicher Belehrung, gleichsam wie in einen Guckkasten einen Blick in das politische Getriebe zu tun; auch dem Durchschnittspreußen am Anfang des 19. Jahrhunderts ging das behagliche, aufblühende, von der lauten Welt draußen ganz abgeschiedene Heim über alles; „was gehen mich die Sorgen des Hofes und der Regierung an?" — mochte er mit Schleiermachers Mheim, dem biederen Pfarrer von Droffen, sagen — „mögen die oberen Götter dafür sorgen!“ Aber wenn auch ehrliche Zufriedenheit und träge Gleich­ gültigkeit in Preußen vor ^806 weit verbreitet waren, — völlig fehlten oppositionelle Elemente doch nicht; geistige und körper­ liche Not, Freiheitsdrang, Ehrgeiz, herrsch- und Genußsucht, Erwerbsgier, Haß, Neid, Mitleid, Liebe, Furcht, Glaube und wie die guten und bösen Hexenmeister alle heißen mögen, die das Gleichgewicht der Einzel- und Volksseele immer von neuem stör'en und die Riesentrommel in steter Umdrehung erhalten, in der die INenschenlose durcheinander wirbeln, sie waren auch in diesen Zeiten scheinbaren Stillstandes rührig und am Werke, bestehende Zusammenhänge zu lockern und zu lösen, Hartgewordenes zu erweichen, den Felsen von Erz, zu dem Friedrich Wilhelm I. und sein größerer Sohn die Hohenzollernmonarchie umgeschmolzen zu haben meinten, wieder in einen minder festen Zustand überzuführen und nach ihren Ideen umzuformen, vornehmlich, ja fast ausschließlich den oberen Schichten der Gebildeten kamen solche politische Reformgedanken; sie gingen nach verschiedenen Richtungen auseinander; einzelne strebten zurück zum Alten, andere wollten neue Bahnen einschlagen, ab und zu ließ sich auch schon ein über alle Hindernisse kühn hinwegstürmender Radikalismus vernehmen. Die erste Gruppe, die Hüter der Traditionen, setzte sich zu­ meist aus Edelleuten zusammen, doch fehlten auch Bürgerliche in ihren Reihen nicht; waren sie des Wortes und der Feder be­ sonders mächtig, so konnten sie sogar das Ansehen von Führern erlangen. Sie wollten weniger umbilden als erhalten, fortbilden nur auf den überkommenen Grundlagen; sie hingen mit

Die „konservativen" Altpreußen.

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heißer Liebe und Verehrung an dem Merk ihrer Väter; sie waren Altpreußen von ganzem Kerzen, die Vorläufer der späteren Konservativen. Samt und sonders von einem robusten Egois­ mus erfüllt, lebten doch viele von ihnen auch der ehrlichen Über­ zeugung, daß die bestehende soziale, wirtschaftliche, politische Ordnung eine von Gott gewollte und die für Preußen denkbar beste sei; die modernen Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen erfüllten sie mit Abscheu und Entsetzen; des Iren Edmund Burke flammende, von leidenschaftlichem £?affe gegen das Neue durchtränkte Betrachtungen über die französische Revolution, von Friedrich Gentz ins Deutsche übersetzt, fehlten wohl in keiner Bibliothek eines altpreußisch gesinnten Edelmannes; durch ihre Lektüre stärkte er sich immer von neuem den Glauben an die aristokratische Gesellschaftsordnung, sie waren gleichsam seine politische Bibel. Jeder stand für sich auf einer besonderen Plattform, der Bürger über dem Bauern, der Adelige über dem Bürger, der Träger der Krone die Spitze dieser auf breiten Funda­ menten ruhenden, allmählich nach oben hin sich verjüngenden Pyramide: so mußte ihrer Meinung nach Staat und Gesellschaft auch fernerhin bleiben, die privilegierten im gesicherten Besitze ihrer Vorrechte und Freiheiten, der Adel, zwischen die Masse der Untertanen und den Herrscher gestellt, der natürliche Ver­ mittler ihrer Wünsche und seiner Befehle. Feindselig standen sie der Bauernbefreiung gegenüber; ungern sahen sie das Ein­ dringen der Bürgerlichen in das Offizierskorps und in den Groß­ grundbesitz; starke Erregung bemächtigte sich ihrer beim Kund­ werden des planes einer Heranziehung des Adels zur Grund­ steuer und der Abschaffung seiner finanziellen Vorrechte, und aus allen Teilen der Monarchie kamen scharfe Proteste gegen ein diktatorisches vorgehen der Regierung in dieser Richtung. Sie pochten auf die Zusagen des Königs und seines Vaters; Friedrich Wilhelm II. und III. hatten bei der Huldigung der Stände ihnen ihre Rechte verbrieft und besiegelt; wie konnten sie ihnen also ohne ihre Einwilligung genommen werden? Noch gab es ja überall ständische Korporationen und Institute, wenn nicht provinzial- so doch Kreisstände, von der Krone zwar nur bei Thronwechseln einberufen, um dem neuen Herrscher den Lid der Treue zu schwören, aber trotz ihrer politischen Bedeutungs­ losigkeit nirgends ausdrücklich aufgehoben; sie durften nicht über-

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Erstes Kapitel.

Die treibenden und die hemmenden Kräfte.

gangen, sie mußten gehört werden; Steigerung ihres Einflusses im Staatsleben erschien den Altpreußen unerläßlich. Es war der trotzige Eigenwille der einst mit dem Großen Kurfürsten so erbittert und zäh um die Herrschaft ringenden und noch dem Soldatenkönige recht verdächtigen Junker, der in ihnen fortlebte, gewiß kein so gefährlicher Nebenbuhler des fürstlichen Absolutis­ mus mehr wie im t?. Jahrhundert, aber doch immerhin schärfster, hartnäckigster.Opposition gegen Übergriffe der Bureaukratie, gegen eine die ständischen Privilegien mißachtende Monarchie fähig, äußerst wachsam, in seinem Klaffenegoismus, beschränkt in seinem partikularismus; denn Erhaltung der besonderen Eigentümlichkeiten der engeren Heimat ging ihm über alles, und Provinzialstände, die dafür Sorge trugen, lagen den meisten Altpreußen mehr am Herzen als ein allgemeiner, die Geschicke des ganzen Staates mitbestimmender Landtag. Ohne Zweifel waren diese Anschauungen zu Beginn der Regierung Friedrich Wilhelms III. weit verbreitet; n99 ver­ langten die Stände mehrerer brandenburgischer Kreise, Halber­ stadts, Mindens und der Grafschaft Mark, vor der Aufhebung ihrer Freiheiten befragt zu werden, und in Ostpreußen wagte der König vier Jahre später nicht, die Abschaffung der Erbunter­ tänigkeit der Privatbauern über die Köpfe des reformfeindlichen Adels hinweg einfach zu dekretieren. Aber keineswegs die ganze Ritterschaft und noch weniger das gesamte gebildete Bürgertum sah das Heil vornehmlich im wiederbeleben der Vergangenheit, im Festhalten an teuren Überlieferungen; ein nicht unbeträcht­ licher Teil der oberen Schichten hatte andere, vielleicht nicht immer so klar umrissene, aber nach ihrer Meinung zukunfts­ reichere Ziele; der reaktionären stand eine vorwärtstreibende, mehr oder weniger Neues anstrebende Tendenz gegenüber. Vorwärts und aufwärts ging es ja schon seit langem — geistig: seit der Lockerung der kirchlichen und dogmatischen Fesseln, seit dem Mündigwerden der Vernunft und der Entstehung einer selbständigen Wissenschaft, seit dem Siege des religiösen Toleranz­ gedankens — wirtschaftlich: seit dem vernarben der durch den 30jährigen Krieg geschlagenen Wunden, dem wiedererstarken der Landwirtschaft und dem Hochkommen eines kapitalkräftigen Bürgertums, und zwar nicht zuletzt dank der nivellierenden und zentralisierenden merkantilistischen Wirtschaftspolitik des fürst-

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