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German Pages 307 Year 1979
Völkerrecht und Kriegsverhütung
VER OFFENTL ICHUNG EN DES INSTITUTS FUR INTERNATIONALES RECHT AN DER UNIVERSITÄT KIEL
Herausgegeben von Prof. Dr. Wilhelm A. Kewenig
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Völkerrecht und Kriegsverhütung Zur Entwicklung des Völkerrechts als Recht friedens sichernden Wandels Referate, Berichte und Diskussionen eines Symposiums veranstaltet vom Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel vom 22. - 24. 11. 1978
Herausgegeben von
Prof. Dr. Jost Delbrück
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk
Alle Rechte, einschließlich das der Ubersetzung, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus in irgendeiner Weise zu vervielfältigen. © 1979 Duncker & Humblot, Berlin 41 Satz und Druck: Vollbehr u. Strobel, Kiel. Printed In Germany ISBN 3 428 04551 3
Inhaltsverzeichnis Vorwort
11
Albrecht Randelzhofer
Der normative Gehalt des Friedensbegriffs im Völkerrecht der Gegenwart - Möglichkeiten und Grenzen seiner Operationalisierung
13
Thesen. . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Diskussion zum Referat von Albrecht Randelzhofer
40
Ernst-Otto Czempiel
Frieden und Sicherheit als außen- und innenpolitische Konzepte aus politologischer Sicht . . . . . . Diskussion zum Referat von Ernst-Otto Czempiel
77 93
Wolfgang Graf Vitzthum
Friedlicher Wandel durch völkerrechtliche Rechtsetzung Zur Problematik des Verfahrens und der inhaltlichen Konsens bildung internationaler Kodifikationskonferenzen, dargestellt am Beispiel der 3. UN-Seerechtskonferenz
123
Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Diskussion zum Referat von Wolfgang Graf Vitzthum
178
Michael Bothe
Zur Dogmatik eines völkerrechtlichen Kriegsverhütungsrechts - Verfahren und Inhalt des Rechts der Rüstungskontrolle und Abrüstung, dargestellt am Beispiel des Verbots der Massenvernichtungsmittel . . . . . . Diskussion zum Referat von Michael Bothe
213 234
Inhaltsverzeichnis
6
Anhang: Vorbereitende Berichte Hans G. Kausch
Die internationale friedliche Nutzung der Kernenergie im System des Nichtverbreitungsvertrages . . . . . . . . . .
259
Eibe H. Riede]
Salt II im Wettlauf mit dem Wettrüsten
275
Hans-Joachim Schütz
Das internationale Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime nach der Abrüstungssondergeneralversammlung der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnehmerliste
295 306
Abkürzungsverzeichllis AA ABM ABC-Waffen Add. AdG AJIL AKP ALCM ArchVR Art. A-Waffen
Auswärtiges Amt Anti Ballistic Missile atomare, bakteriologische (biologische), chemische Waffen Addendum Archiv der Gegenwart American Journal of International Law Afrika, Karibik und Pazifik Air Launched Cruise Missile Archiv des Völkerrechts Artikel atomare Waffen
BGBl. BTDrs. Bull. Bull. BReg. B-Waffen
Bundesgesetzblatt Bundestag Drucksache Bulletin Bulletin der Bundesregierung bakteriologische (biologische) Waffen
CCD CD CEP CM Col.J.Transnat'l.L. C-Waffen
Conference of the Committee on Disarmament Committee on Disarmament Circular Error Prob ability Cruise Missile Columbia Journal of Transnational Law chemische Waffen
Doc. /Dok. Dpt. St. Bull. DT
Document / Dokument Department of State Bulletin Depressed Trajectory Submarine Missile
EA EA,D ed. EG ENDC ERW EWG
Europa-Archiv Europa-Archiv, Dokumententeil editor Europäische Gemeinschaft (en) Eighteen Nations Disarmament Committee Enhanced Radiation Warhead ("Neutron Bomb") Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FAO FAZ FBS
Food and Agriculture Organization Frankfurter Allgemeine Zeitung Forward Based Systems
GA GAOR GARes. GATT GCD GLCM GYIL
General Assembly General Assembly Official Records General Assembly Resolutions General Agreement on Tariffs and Trade General and Complete Disarmament Ground Launched Cruise Missile German Yearbook of International Law (Jahrbuch für Internationales Recht)
8
Abkürzungsverzeichnis
IAEA ibid. ICBM ICJ ICNT IGH IHT ILC ILM IMCO IMF INFCE IOC IPRA IRBM IWF
International Atomie Energy Agency ibidem Intercontinental Ballistie Missile International Court of Justice Informal Composite Negotiating Text Internationaler Gerichtshof International Herald Tribune International Law Commission International Legal Materials Intergovernmental Maritime Consultative Organization International Monetary Fund International Nuclear Fuel Cycle Evaluation Intergovernmental Oceanographie Commission International Peace Research Association Intermediate Range Ballistie Missile Internationaler Währungsfonds
JIR
Jahrbuch für Internationales Recht
KSZE
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
LASER LBCM
Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation Land Based Cruise Missile (Syn.: GLCM)
MARV MBFR MIRV MLBM Mt MX
Manoeuverable Re-entry Vehicle Mutual Balanced Forces Reduction Multiple Independently Targetable Re-entry Vehicle Modern Large Ballistic Missile Megatonnen Missile Experimental
NATO NJW No. NPT NVV NZZ
North Atlantic Treaty Organization Neue Juristische Wochenschrift Number Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Nichtverbreitungsvertrag) Neue Zürcher Zeitung
OAS OAU OECD
Organization of Ameriean States Organization of African Unity Organization for Economie Co operation and Development
P.L.
Public Law
Res. RSNT
Resolution Revised Single Negotiating Text
SALT Sec. SGV SIPRI SLBM SLCM SNLV SRAM SVN
Strategie Arms Limitation Talks Seetion Sondergeneralversammlung Stockholm International Peace Research Institute Submarine Launched Ballistic Missile Submarine Launched Cruise Missile Strategie Nuclear Launching Vehicle Short Range Attack Missile Satzung der Vereinten Nationen
UN UNCLOS
United Nations United Nations Conference on the Law of the Sea
Abkürzungsverzeichnis
UNCTAD UNEP UNESCO UNITAR UNTS U.S.
United Nations Conference on Trade and Development United Nations Environment Programme United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Institute for Training and Research United Nations Treaty Series United States Supreme Court Reports
v. VN Vol.
versus Vereinte Nationen Volume
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
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Vorwort Mit diesem Band der Veröffentlichungsreihe des Instituts für Internationales Recht werden Referate, Berichte und Diskussionen des achten der im Rhythmus von zwei Jahren vom Institut veranstalteten völkerrechtlichen Symposien vorgelegt. Zu der interdisziplinär ausgerichteten Diskussion unter dem Gesamtthema "Völkerrecht und Kriegsverhütung" hatten sich vom 22.-24. November 1978 dieses Mal 25 Völkerrechtler, Politologen und Vertreter der Praxis zusammengefunden. Die zentrale Frage dieses Symposiums galt der Rolle des modernen Völkerrechts bei der Kriegsverhütung und Friedenssicherung. Anlaß hierzu gaben wiederholt in der sozialwissenschaftlichen, vor allem der Friedens- und Konfliktforschung verpflichteten Literatur enthaltene kritische Hinweise, das Völkerrecht als eine am internationalen status quo orientierte statische Ordnung verfehle seine Aufgabe als Friedensordnung. Dies erkläre auch die insbesondere von der sog. kritischen Friedensforschung gering eingeschätzte Relevanz der Völkerrechtswissenschaft für eine innovative Erforschung der Bedingungen des internationalen sowie des innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Friedens. In vier Referaten und drei vorbereitenden Berichten wurde die Frage untersucht, inwieweit das moderne Völkerrecht zentrale Konzepte der Friedensforschung wie das des sog. positiven Friedens aufgenommen hat oder überhaupt aufnehmen kann, inwieweit die vom Völkerrecht entwickelten Verfahren der friedlichen Streitbeilegung bzw. des umfassenderen Konzepts des friedlichen Wandels (peaceful change) den Aufgaben der Kriegsverhütung und Friedenssicherung gerecht werden, und schließlich, ob und welche Wandlungen sich in der völkerrechtlichen Dogmatik und Normenentwicklung zur Bewältigung dieser Probleme - von anderen wissenschaftlichen Disziplinen noch unbeachtet - bereits vollzogen haben oder sich abzeichnen. Mit der Veröffentlichung des Protokolls des Symposiums hofft das Institut fruchtbare Impulse für die Fortsetzung einer allseits als notwendig empfundenen, gerade auch interdisziplinären Diskussion der aufgeworfenen Probleme zu bieten, aber auch zum Verständnis der sich bereits in der völkerrechtlichen Praxis auswirkenden Wandlungen des modernen Völkerrechts beizutragen. Das Institut dankt der Volkswagenstiftung für die großzügige Förderung, die die Durchführung des Symposiums und die Veröffentlichung der Arbeitsergebnisse ermöglicht hat.
Vorwort
12
Herzlicher Dank sei aber auch allen Mitarbeitern des Instituts gesagt, die durch ihren bereitwilligen Einsatz zur Vorbereitung und Durchführung des Symposiums beigetragen haben, sowie Frau Assessorin Brigitte Hardt, die die redaktionelle Betreuung der Veröffentlichung übernommen hat. Kiel, im September 1919 Jost Delbrück
Der normative Gehalt des Friedensbegriffs im Völkerrecht der Gegenwart -
Möglichkeiten und Grenzen seiner Operationalisierung Albrecht Randelzhofer
I. Einleitung: Das Thema als Folge der Friedensforschung
1. Ich meine die Intentionen der Veranstalter richtig zu verstehen, wenn ich das Thema so präzisiere: Der normative Gehalt des positiven Friedensbegriffs im Völkerrecht der Gegenwart. - Möglichkeiten und Grenzen seiner Operationalisierung. In dieser Zuspitzung nimmt es Impulse der modernen Friedensforschung l auf, in der sich die Unterscheidung von negativem und positivem Friedensbegriff2 als richtigem Maßstab bei der Bemühung um Frieden zu einer scharfen Kontroverse entwickelt hat 3 , seit die sich selbst so benennende "kritische Friedensfor1 Der Frage, ob die Friedensforschung eine eigene wissenschaftliche Disziplin ist, kann hier nicht nachgegangen werden. Grundsätzlich bejahend Roman Herzog, Friedensforschung, in: Hermann Kunst / Roman Herzog / Wilhelm Schneemelcher, Evangelisches Staatslexikon, 2. Auflage, 1975, 765, der sie eine Querschnittwissenschaft nennt. Verneinend Ernst-Otto Czempiel, Recht und Friede. Ein Beitrag zur Diskussion zwischen Völkerrecht und Friedensforschung, Die Friedenswarte, 1975, 55-69 (56), der in ihr nur eine "durch die Erkenntnisabsicht Friede konstituierte Zusammenarbeit einschlägiger Disziplinen" sieht. Nach Egbert Jahn, Entwicklung und Schwerpunkte der Friedensforschung in Nordamerika und Westeuropa, in: Forschungsbericht 9/1974 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 1974, 1, ist die Friedensforschung "keine fest umrissene wissenschaftliche Disziplin mit einem eigenen Forschungsgegenstand" . Jegliche Wissenschaftlichkeit der Friedensforschung bestreitet in scharfer Polemik Friedlich Tenbruck, Frieden durch Friedensforschung? in: Man/red Funke (Hrsg.), Friedensforschung - Entscheidungshilfe gegen Gewalt, 1975, 425 ff. 2 Der positive Friedensbegriff ist aber nicht erst eine Entdeckung der modernen Friedensforschung. Die Vorstellung von einem positiven Frieden, in dem zwischen den Staaten nicht nur kein Krieg herrscht, sondern Harmonie und Gerechtigkeit, ist alt. Siehe z. B. Baruch Spinoza, Tractatus politicus, Cap. V, § 4; Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806, Bd 247 der Philosophischen Bibliothek, Verlag Felix Meiner, 1956, 172; siehe ferner Rudolf Pannwitz, Der Friede, 1950, 8; Ernst FriedIaender, Das Wesen des Friedens, 1947, 198; Ulrich Scheuner, Friedensordnung und Struktur der Staatengemeinschaft, in: Der Beitrag des Völkerrechts zur Uberwindung des Krieges, Loccumer Protokolle 6/1968, 10. 3 Karl Kaiser, Friedensforschung in der Bundesrepublik, 1970, 44, stellt ein "Feindschaftsverhältnis der beiden Schulen" fest; siehe auch Peter MenkeGIückert, Der Streit der Friedensforscher. Zur Entwicklung der Friedensforschung in der Bundesrepublik, in: gewaltfreie aktion, 1970, 34-38. Auf einem
14
Albrecht Randelzhofer
schung"4 den Ton angibt. Ihre Vertreter empfinden den negativen Frieden, verstanden als Abwesenheit von Gewalt, auch wertmäßig so und lassen Bemühungen zu seiner Gewinnung und Sicherung nicht als wirkliche Friedensforschung gelten 5 • Der Rigorosität und mangelnden Differenziertheit, mit der die kritische Friedensforschung den positiven Friedensbegriff zum ausschließlichen Erkenntnis- und Bewertungsmaßstab macht, kann nicht gefolgt werden, doch ist sie Anlaß für andere relevante Disziplinen, sich verstärkt mit dem Problem des positiven Friedens auseinanderzusetzen. 2. Dies gilt für die Völkerrechtswissenschaft in besonderem Maße. Viele "zünftige" Friedensforscher ignorieren den Beitrag des Völkerrechts zum Frieden und der Völkerrechtswissenschaft zur Friedensforschung oder sehen ihn als unerheblich und marginal an6 • "Legislative concepts of a peaceful world . . . are now carefully banished from respectable peace research", stellt Charles Boasson7 fest. Dies ist - neben bisweilen schlichter Unkenntnis 8 - die Folge des Vorwurfs, das Völkerrecht orienim März 1974 in der Evangelischen Akademie in Tutzing veranstalteten Seminar, an dem Vertreter verschiedener Richtungen der Friedensforschung teilnahmen, sah sich der Tagungsleiter veranlaßt, von einem "Krieg der Friedensforscher u zu sprechen; siehe den Tagungsbericht von Christian Potyka in der Süddeutschen Zeitung vom 5. 3. 1974, 8. 4 Wenngleich sich in jüngster Zeit schwache Ansätze zu einer Abmilderung dieser Polarisierung erkennen lassen (vgl. dazu Hubert Graten, Friedensforschung - Anspruch und Praxis, 1977, 57 und 52, Anm. 55) besteht der Antagonismus grundsätzlich fort. Siehe Dieter Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, 2. Auflage, 1972. Vgl. dazu auch Gertrud Kühnlein, Die Entwicklung der kritischen Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Untersuchung und Kritik einer neuen Wissenschaft, 1978. 5 Siehe z. B. WoIfgang Huber, Friedensforschung Grundbegriffe und Modelle, in: Georg Picht / WoIfgang Huber, Was heißt Friedensforschung?, 1971, 41; Ekkehart Krippendorff, Einleitung in Ekkehart Krippendorff (Hrsg.), Friedensforschung, 1968, 13 ff, bes. 21 f; derselbe, Deutsche Beiträge zur Friedensforschung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1971, 117 ff, bes. 125 f; Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, 2. Auflage, 1972, passim; derselbe, Friedensforschung im Rahmen der Abschreckung, Studien zur Friedensforschung 1969, 119 ff; Herbert Marcuse, Der Friede als gesellschaftliche Lebensform, in: Oskar Schatz (Hrsg.), Der Friede im nuklearen Zeitalter. Eine Kontroverse zwischen Realisten und Utopisten, 1969, 85 ff. 8 Kaiser (Anm. 3). 28, berichtet von einer an 70 Institutionen, die sich mit Friedensforschung beschäftigen, gerichteten Umfrage nach der Bedeutung einzelner Wissenschaften für die Friedensforschung. Das Völkerrecht wurde dabei an letzter Stelle genannt. Prüft man die Bände des Journal of Peace Research oder des Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung, so findet man unter zahlreichen Beiträgen aus Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaft u. a. nur ganz vereinzelt völkerrechtliche Abhandlungen. 7 The Place of International Law in Peace Research, Journal of Peace Research, 1968, 30. 8 Siehe z. B. Heinrich End, Utopische Elemente in der Friedensforschung. Selbstverständnis und Kritik neuerer politikwissenschaftlicher Forschungsansätze, Zeitschrift für Politik, 1973, 112: "In Ermangelung einer Rechtsordnung für den internationalen Bereich . . ."; siehe ferner die Nachweise bei Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd 3, 2. Auflage, 1977, 119, Anm. 19.
Der Friedensbegriff im Völkerrecht
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tiere sich nur am negativen Frieden, zementiere damit den status qu0 9 und sei daher untauglich für die Hauptaufgabe der Friedensforschung, die auf Veränderung der bestehenden Zustände gerichtet sei. Aber auch dem Völkerrecht und seiner Wissenschaft wohlmeinend gegenüberstehende Friedensforscher sprechen von "Defizienzen des rechtswissenschaftlichen Ansatzes", vermuten "einen eher konventionellen Friedensbegriff, der im wesentlichen um die Absenz des Krieges gruppiert ist", während der eigentliche Friede doch nicht nur durch fehlende Gewalt, sondern auch durch "zunehmende soziale Gerechtigkeit im Inneren und Äußeren der Staaten" gekennzeichnet sei, und konstatieren das Fehlen einer "intensiven Diskussion der Völkerrechtswissenschaft um den Friedensbegriff" 10. Angesichts dieses im Ergebnis generellen Vorwurfs von der Seite der Friedensforscher hat die Völkerrechtswissenschaft Anlaß zu prüfen, ob und wieweit sich das Völkerrecht dem positiven Friedensbegriff öffnen kann.
11. Der positive Friedensbegriff als zentrales Kriterium der modernen Friedensforschung 3. Bei der zentralen Bedeutung, die der positive Friedensbegriff für die kritische Friedensforschung hat, müßte man annehmen, daß diese eine eindeutige Vorstellung davon hat. Diese Annahme trügt. EmstQtto Czempiel ll bedauert, "daß die Friedensforschung, in der doch gerade die Bedeutung des positiven Friedens immer wieder herausgestellt worden ist, seine Erörterung bisher so gut wie ganz vernachlässigt hat". Dieses Urteil mag als etwas zu hart erscheinen, wenn es andeuten soll, daß noch nicht einmal der Versuch gemacht worden sei, den Begriff des positiven Friedens näher zu bestimmen. Solche Versuche gibt es, aber als ihr Ergebnis muß, in Ubereinstimmung mit der jüngsten umfassenden deutschsprachigen Untersuchung ZUr Friedensforschung, festgestellt werden, daß "eine Begriffserklärung bisher nicht erkennbar ist, ja das Problem einer näheren Definition des positiven Friedensbegriffes eher noch größer geworden zu sein scheint" 12. Zur Illustration dieser Feststellung hier ein paar der bisherigen Erklärungsversuche: Dieter Senghaas 13 versteht darunter die Abwesenheit von sozialer Unv Siehe die Nachweise bei Bruna Simma, Völkerrecht und Friedensforschung, Die Friedenswarte, 1974, 65-83 (65) und Jast Delbrück, Zum Funktionswandel des Völkerrechts der Gegenwart im Rahmen einer universalen Friedensstrategie - Menschenrechtsschutz und internationales Wirtschafts- und Sozialrecht, Die Friedenswarte, 1975, 240-251 (240). 10 Czempiel (Anm. 1). 58, 61. 11 (Anm. 1), 65. 12 Graten (Anm. 4), 62. 13 Gewalt Konflikt - Frieden. Essays zur Friedensforschung, 1974, 176.
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Albrecht Randelzhofer
gerechtigkeit bzw. die Herbeiführung sozial gerechter Verhältnisse. Werner Link 14 ordnet dem positiven Friedensbegriff Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung des Menschen zu. Wolfgang Huber 15 sagt: " ... der Begriff Frieden muß mit den Begriffen Gerechtigkeit, Freiheit, Entwicklung und Solidarität vermittelt werden." Georg Picht 16 meint: "Wir sind . . . gezwungen, den Frieden innerhalb einer Weltgesellschaft in den Kategorien der sozialen Gerechtigkeit zu beschreiben." Für Horst Holzer 17 bedeutet der positive Frieden die "Mündigkeit des Menschen in einer sozialistischen Gesellschaft". Die Literatur zur kritischen Friedensforschung enthält zahlreiche ähnliche allgemeine Formulierungen des positiven Friedensbegriffs. Eine inhaltliche Präzisierung im Sinne einer komplexen Definition wird dadurch nicht geleistet. Es wird lediglich der Wertbegriff des positiven Friedens durch andere Wertbegriffe umschrieben. Aus diesem Dilemma führt auch nicht die Erklärung des positiven Friedens als Abwesenheit "struk· tureller Gewalt". Ihre Entdeckung durch Johan GaItung18 wurde von der kritischen Friedensforschung enthusiastisch bejubelt. GaItung spricht von Gewalt, "wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung ... Gewalt wird hier definiert als die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem was hätte sein können, und dem, was ist"19. Dabei nennt er den Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, personale Gewalt, die Gewalt ohne Akteur strukturelle Gewalt 20 . Die Abwesenheit personaler Gewalt ist für ihn negativer Frieden, die Abwesenheit struktureller Gewalt positiver Frieden 21 . Weiter kann man den Gewaltbegriff wohl nicht mehr fassen. Frieden, jedenfalls positiver Frieden, ist nach diesem Verständnis eigentlich nur in der besten der Welten möglich, deren Schaffung damit zur Aufgabe der Friedensforschung wird. Positiver Frieden ist wegen herrschender struktureller Gewalt nach GaItungs eigenen Beispielen22 schon nicht mehr gegeben, wenn Ungleichheiten 14 Zur gegenwärtigen Friedensforschung. Ein Uberbli