Völkerrecht und 'Berufsverbote' in der Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992: Die Kontrollverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation in Theorie und Praxis [1 ed.] 9783428482177, 9783428082179


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German Pages 205 Year 1995

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Völkerrecht und 'Berufsverbote' in der Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992: Die Kontrollverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation in Theorie und Praxis [1 ed.]
 9783428482177, 9783428082179

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PETER VOEGELI

Völkerrecht und ,Berufsverbote' in der Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 83

Völkerrecht und ,Berufsverbote' in der Bundesrepublik Deutschland

1976-1992

Die Kontrollverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation in Theorie und Praxis

Von

Peter Voegeli

Duncker & Humblot · Berlin

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Sommersemester 1993 auf Antrag von Prof. Dr. Jörg Fisch als Dissertation angenommen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Voegeli, Peter: Völkerrecht und "Berufsverbote" in der Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992 : die Kontrollverfahren der internationalen Arbeitsorganisation in Theorie und Praxis I von Peter Voegeli.- Berlin: Duncker und Humblot, 1995 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 83) Zug!.: Zürich, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08217-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08217-6

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Nonn für Bibliotheken

Vorwort Die vorliegende Arbeit stand unter einem guten Stern. Und dies dank verschiedener Persönlichkeiten, die mir in Gesprächen und bei der Durchsicht von Teilen des Manuskripts wertvoJle Anregungen gaben. Danken möchte ich an erster Stelle K.T. Samson aus Genf. Ein besonderer Dank gebührt auch Prof. Dietrich Schindler aus Zürich, der die Arbeit als Korreferent beurteilte, Andre Zenger vom Internationalen Arbeitsamt, Prof. Winfrid Haase, Dr. Horst Weber, Gerd Muhr, Dr. Dietrich Willers, Dr. Wolf-Dieter Lindner, Klaus Lörcher, Horst Bethge und Horst Peter aus der Bundesrepublik Deutschland sowie Daniel Retureau vom Weltgewerkschaftsbund in Genf. Einen speziellen Dank möchte ich auch Prof. Jörg Fisch aussprechen, der die Arbeit als Referent betreute, meiner Mutter sowie Dr. Ernst Halter. Peter Voegeli

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Völkerrecht und Politik .......................................................

13

A. Die Entstehung der ILO. ......... .................. ............................ ..............

17

I. "A new view of society" ................................................................

17

II. Initiativen der Schweiz ................................................................

19

1. Die Berliner Konferenz von 1890 ....................... .. ....................

20

2. Die "Internationale Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter"...............................................................................

21

3. "Das Eis ist gebrochen"- Die Konferenzen von Bern 1905/1906 .........................................................................

23

III. Die kanalisierte Revolution ..... ....... .... ........... ......... .. .............. .. ....

26

1. Die Arbeiterbewegungen ............ .. ............................ ..... ....... ....

26

2.Britische Entwürfe arn Ende des Ersten Weltkriegs..................

28

3. Die Gründung der ILO 1919......................................................

31

4. Die Struktur der ILO ..................................................................

33

B. Die Kontrollverfahren der ILO ...........................................................

37

I. Die permanente Kontrolle ........................................................ .... .

37

1. Der Sachverständigenausschuß .......................................... .. ......

40

2. Der Konferenzausschuß - "Court of Honour" ... .............. ...........

44

3. Die Rolle der Berufsorganisationen ..........................................

46

II. Okkasionelle Kontrolle .................. .. ..... ................................... .....

48

1. Die Beschwerde .........................................................................

49

2. Die Klage .............. ............................... ..... ......... .. ........... ......... ..

52

3. Die Praxis der Untersuchungskommissionen ...........................

56

8

Inhaltsverzeichnis

4. Die Spezialverfahren zum Schutz der Gewerkschaftsrechte .....

60

5. Das System der "direkten Kontakte" .........................................

62

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992 .. .......................... .......... ............ .... ...... ........

67

I. Die Beschwerden des Weltgewerkschaftsbundes (WGB) und ihr politischer Hintergrund .................... ............. .... .. ........... ..... ..........

70

l.Motive des Weltgewerkschaftsbundes ......................................

71

2. Kalter Krieg in der ILO ............................................................

74

II. Der Sachverhalt ............................................................................

80

l.Die Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland .............

87

2. "In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Berufsverbote" ...........................................................................

90

III. Die V erfahren der ILO .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

96

1. Die Beschwerde des Weltgewerkschaftsbundes 1978 ...... .........

96

2. Der Dialog im Rahmen der permanenten Kontrolle .................. 100 3.Die Beschwerde des Weltgewerkschaftsbundes 1984 ............... 103 4.Die Sitzung des Verwaltungsrats vom 3. Juni 1985 .................. 105 5.Die Untersuchungskommission ................................................. 112 6.Die Ergebnisse der Untersuchungskommission ......................... 120 IV. Die Folgen der ILO-Verfahren ..................................................... 122 1. "Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, von ihrer Rechtsposition abzugehen"......................................................... 122 2.Die Reaktion der ILO ............................................................... 129 3.Innerdeutsche Auswirkungen .................................................... 135 3.1. Aufschwung der privaten Initiativkomitees ........................ 135 3.2. Uneinige Gewerkschaften und Verbände............................ 138 3.3. Initiativen von SPD und Grünen......................................... 140 3.4. Wenig Bewegung in der Rechtsprechung........................... 143 3.5. Bilanz und Ausblick........................................................... 148

Inhaltsverzeichnis

9

D. Papier und Praxis ............................................................................... 154 Bibliographie ................... .. .................................................... ....... ... ......... 164 Anhang ...................................................................................................... 181 Kurzbiographien ....... .. .. ....... .. ..... ... .... .... .. .......... .. ...... .. ....... .. .... ..... .... 183 Klagen und Beschwerden nach Art. 24 und 26 ....... .. ................. .......... 186 Das Übereinkommen 111 ........................................ .. ........ .. ........ ........ . 195 Fragebogen an die Regierungen zum Übereinkommen ........... ... ......... 199

Abkürzungen Abs. ACD Anm. Art. BDiszG BIT BVerfG CDU/CSU CGT CRP DAG DBB DDR DFU DGB DKP DPG FDGB FISE

FRG

FSM KPD WTU GB. GEW

GG

IAA IAO IBFG IGH ILO

NJW

NPD o.J. OIT

Absatz Application of Conference's Decisions Anmerkung Artikel Bundesdisziplinargericht Bureau international du Travail (= IAA) Bundesverfassungsgericht Christlich Demokratische Union I Christlich Soziale Union Confederation generate du Travail Compte rendu provisoire Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Deutscher Beamtenbund Deutsche Demokratische Republik Deutsche Friedensunion Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Postgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Federation internationale syndicale de l'Enseignement Federal Republic of Germany Federation Syndicale Mondiale (= WGB, WFTU) Kommunistische Partei Deutschlands World Federation ofTrade Unions(= WGB, FSM) Governing Body Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Grundgesetz Internationales Arbeitsamt(= BIT) Internationale Arbeitsorganisation (= OIT, ILO) Internationaler Bund Freier Gewerkschaften Internationaler Gerichtshof International Labour Organisation(= IAO, OIT) Neue Juristische Wochenschrift Nationaldemokratische Partei Deutschlands ohne Jahr Organisation internationale du Travail (= ILO, IAO)

Abkürzungen

o.O. Para. SED SPD StiGH VDJ Verf. WGB zit.

ohne Ort Paragraph Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Ständiger Internationaler Gerichtshof Vereinigung Demokratischer Juristen Verfasser Weltgewerkschaftsbund(= FSM, WFfU) zitiert

ll

Einleitung: Völkerrecht und Politik Die Kontrolle und die Durchsetzung internationaler Übereinkommen bilden einen neuralgischen Punkt des Völkerrechts. Dient das internationale Recht in der Praxis als Mittel der Politik, oder gelingt es, Politik in die vom Völkerrecht vorgegebenen Bahnen zu lenken? Die vorliegende Arbeit befaßt sich aus der Perspektive des Historikers mit dem Kontrollsystem der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und den Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland. Diese Auswahl kam nicht von ungefähr. Die ILO ist die älteste Sonderorganisation der UNO. 1919 gegründet, überlebte sie als einzige den Völkerbund. Ihre Verfassung, Bestandteil des Friedensvertrages von Versailles, entstand unter starkem Druck der Arbeiterbewegungen, die nach dem Ersten Weltkrieg eine gerechtere, neue Weltordnung erwarteten. Die alliierten Regierungen kamen ihnen aus Furcht vor einer kommunistischen Weltrevolution entgegen. Auf Initiative der britischen Regierung entstand allerdings keine Magna Charta der Arbeit, kein Weltparlament der Arbeiter, sondern eine internationale Organisation mit klaren rechtlichen Entscheidungs- und Überwachungsstrukturen. Die Revolution wurde durch einen rechtlichen Rahmen kanalisiert. Als Konzession der Regierungen sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber praktisch gleichberechtigt in allen Organen der ILO vertreten. Das differenzierte Kontrollsystem der ILO gilt in der Literatur häufig als Vorbild. Sieben Jahrzehnte Praxis bewirkten eine sukzessive Verfeinerung. Heute umfaßt sie ein breites Spektrum von Verfahren, die sich ergänzen; die Palette reicht von informellen "direkten Kontakten" bis zu einem gerichtsähnlichen Untersuchungsverfahren nach Art. 26 der ILO-Verfassung. Die ILO-Kontrollverfahren sind historisch gesehen auf die westlichen demokratischen Rechtsstaaten zugeschnitten. Die Bundesrepublik Deutschland setzte sich bei den Auseinandersetzungen innerhalb der ILO während des Kalten Krieges immer wieder für dieses Kontrollsystem ein. Wie aber reagierte sie auf die Anwendung der Kontrollverfahren gegen sie selbst?- Der Konflikt um die sogenannten Berufsverbote war ein beherrschendes innenpolitisches Thema in der Bundesrepublik Deutschland der siebziger Jahre. Mit dem "Radikalenerlaß" bekämpfte der Staat die Gefahr eines kommunistischen "Marsches durch die Institutionen". Wer sich nicht glaubhaft für den demokratischen Rechtsstaat bekannte, sollte nicht Beamter werden können. Die verfassungsmäßigen Rechte sollten nicht zur Zerstörung dieses Staates mißbraucht werden dürfen. Die Betroffenen sprachen von "Berufsverboten", von einer Verletzung der Grund-

14

Einleitung

rechte. In den achtziger Jahren trug der kommunistisch geprägte Weltgewerkschaftsbund (WOB) diese Auseinandersetzung, nicht zuletzt aus politischen Gründen, auf die internationale Ebene, vor die Kontrollorgane der ILO. Er warf der Bundesregierung eine Verletzung des ILO-Übereinkommens 111 über Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vor. Die ILO stand vor der rechtlichen Würdigung einer hochpolitischen Auseinandersetzung. Zum ersten Mal kam praktisch die gesamte Palette der Kontrollverfahren gegen einen westlichen Rechtsstaat zur Anwendung, insbesondere die quasi-gerichtliche Untersuchung nach Art. 26 der ILO-Verfassung. Die Bundesregierung akzeptierte zwar die Verfahren, nicht aber den Entscheid der ILO, das Übereinkommen 111 sei durch die Praxis verletzt. In diesem Dilemma standen die Glaubwürdigkeit der ILO, die Verbindlichkeit der Kontrollverfahren und die Durchsetzung der Übereinkommen auf dem Spiel. Die vorliegende Arbeit untersucht Motive, Argumente und Verhalten in einem exemplarischen Konflikt zwischen der Bundesregierung und der ILO, das Spannungsfeld zwischen Politik und Völkerrecht. Eine Darstellung der ILO-Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland aus neutraler Warte fehlte bisher. Im Gegensatz zur ILO-Kontrolle im allgemeinen existiert wenig Sekundärliteratur zum "Fall Deutschland". Die Arbeit stützt sich in den Hauptfragen auf schriftliche und mündliche Quellen. Es handelt sich um die Akten im Internationalen Arbeitsamt (Bin, namentlich die regelmäßigen Berichte der Bundesregierung nach Art. 22 der ILO-Verfassung, die Stellungnahmen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen und Unterlagen seitens privater Komitees, hauptsächlich der Hamburger Initiative "Weg mit den Berufsverboten", die umfangmäßig den Hauptteil ausmachen. 1 Das Internationale Arbeitsamt stellte die (teilweise vertraulichen) Protokolle des Verwaltungsrates und die schriftliche Aufzeichnung der Zeugenanhörung während des Untersuchungsverfahrens nach Art. 26 gegen die Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung.2 Einzig die internen Akten der Untersuchungskommission waren dem Verfasser nicht zugänglich. Gestützt auf ein Gutachten der ILO-Rechtsabteilung lehnte der Leiter der Abteilung für Internationale Ar1 Die Akten des Internationalen Arbeitsamtes werden im folgenden mit der Bezeichnung BIT (Bureau International du Travail) und ihrer Signatur im Internationalen Arbeitsamt ACD 8-2-24lll (Application of Conference's Decisions) bezeichnet. Die einzelnen Dokumente werden in sog. Jackets abgelegt und numeriert. In unregelmäßigen Abständen ordnet die Normenabteilung des Internationalen Arbeitsamtes die Dokumente neu nach chronologischen Kriterien. Deshalb wird im folgenden auf die Angabe der Jacket-Nummer verzichtet. Aufgrund der Standortsignatur und des Datums sind alle Dokumente eruierbar. 2 Der Ausschuß zur Untersuchung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. I II) über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland, Protokolle der 1.-15. Sitzung, Genf 1986 (unveröffentlicht). Im folgenden zitiert als: Zeugenanhörung.

Einleitung

15

beitsnormen im Namen des Generaldirektors ein entsprechendes Gesuch mit Hinweis auf die Vertraulichkeit des Untersuchungsverfahrens ab. Dieser Mangel wurde durch den publizierten Schlußbericht der Untersuchungskommission, eine wesentliche und umfangreiche Quelle3 , durch Unterlagen von Prof. Dietrich Schindler, Mitglied der Untersuchungskommission, und durch Materialien der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" nach Möglichkeit kompensiert. Als wertvolle Informationsquelle erwiesen sich Gespräche mit Beteiligten aller "Parteien". Als Gesprächspartner wählte der Verfasser Personen, die eine wichtige Rolle während der Verfahren spielten oder durch ihre Funktion einen besonderen Einblick in die Materie besaßen, auch aus innenpolitischer Perspektive. Seitens der ILO waren dies Andre Zenger, Leiter der Abteilung für die Normenanwendung und vorher Regierungsvertreter der Schweiz im ILO-Verwaltungsrat, sowie KlausT. Samson, bis 1987 Koordinator für Menschenrechtsfragen und im Verfahren nach Art. 26 gegen die Bundesrepublik Deutschland von der ILO als Sekretär der Untersuchungskommission eingesetzt.4 Als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland äußerte sich der frühere Ministerialdirektor Prof. Winfrid Haase, von 1973 bis 1982 Leiter der Abteilung Internationale Sozialpolitik im Bundesministerium für Arbeitund Sozialordnung, von 1973 bis 1987 deutscher Regierungsvertreter im ILOVerwaltungsrat und während des Klageverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland Vertreter der Bundesregierung. Zudem stellten sich sein damaliger Stellvertreter, Dr. Horst Weber, von 1985 bis 1990 Leiter des Referats "Internationale Arbeitsorganisation" in der Abteilung für Internationale Sozialpolitik, und dessen Nachfolger Ministerialrat Dietrich Willers den Fragen des Autors. Seitens der Arbeitnehmer und Gewerkschaften gab Gerd Muhr Auskunft. Er war von 1970 bis 1991 deutscher Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsrat und von 1969 bis 1990 als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) tätig. Auch der Arbeitgeberdelegierte der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Wolf-Dieter Lindner, beantwortete Fragen des Verfassers. Seitens der neutralen Untersuchungskommission gegen die Bundesrepublik Deutschland gab Prof. Dietrich Schindler Auskunft und stellte Akten5 aus dem Verfahren zur Verfügung. Für den Weltgewerkschaftsbund, Initiator der Verfahren vor der ILO, sprach der Vertreter des WGB in Genf, Daniel 3 Bericht des gemäß Artikel 26 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation eingesetzten Ausschusses zur Prüfung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Berut), 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland, Genf, 1987. Im folgenden zitiert als: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland). 4 In den Untersuchungsverfahren gegen Portugal, Liberia und Griechenland ernannte die ILO einen Vertreter des Generalsekretärs zur Unterstützung der Kommission. Später wurde ein Sekretär der Untersuchungskommission mit der gleichen Aufgabe betraut.

5

Im folgenden zitiert als: Akten Schindler.

16

Einleitung

Retureau. Aus den Reihen der innenpolitischen Gegner der "Berufsverbote" stellten sich drei engagierte Personen für Interviews zur Verfügung: Horst Bethge, seit 1972 Sprecher und maßgeblicher Leiter der Initiative "Weg mit den Berufsverboten", Klaus Lörcher, der seitens der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) an den Internationalen Arbeitskonferenzen der ILO teilgenommen hat, und der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Peter.6 Alle Gesprächspartner haben dem Verfasser schriftlich die korrekte Darstellung ihrer Aussagen bestätigt. "Oral history" ist problematisch, ebenso wie schriftliche Quellen. Die Befragten stellen die Ereignisse von damals aus heutiger Sicht, aus ihrer Erinnerung und ihrer Optik dar. Bei schriftlichen Dokumenten hingegen beeinflussen Ziele und Situation des Absenders, aber auch der Adressat, den Inhalt. In der vorliegenden Arbeit werden die Interviews nicht nur durch schriftliche Quellen, sondern auch durch das breite Spektrum der Befragten und eine Gegenüberstellung ihrer Aussagen relativiert. Nicht immer können die Darstellungen überprüft werden. Wenn man sich der Problematik historischer Quellen bewußt ist und die Herkunft offenlegt, können aber auch solche Aussagen als Mosaikstein eines objektiven Bildes beitragen. Die ILO befindet sich heute im Umbruch. Im November 1993 verabschiedete der ILO-Verwaltungsrat (provisorische) Richtlinien für eine Änderung der Kontrollverfahren, die in fünf Jahren überprüft werden sollen. Die praktischen Konsequenzen dieser Übergangsregelungen sind zur Zeit nicht absehbar. Die Arbeit endet deshalb 1992, zu einem Zeitpunkt, in dem die "heiße Phase" im Konflikt zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ILO bereits beendet war.

6

Kurzbiographien der interviewten Personen befinden sich aufS. 183-185.

A. Die Entstehung der ILO I. "A new view of society" Auch wenn die ILO eine typische Erscheinung des 20. Jahrhunderts darstellt, lassen sich ihre Wurzeln bis weit ins letzte Jahrhundert zurückverfolgen.1 Bereits anfangs des 19. Jahrhunderts kann eine Handvoll Idealisten als eigentliche Vorkämpfer einer internationalen Arbeitsgesetzgebung bezeichnet werden. Es handelte sich um einige wenige Individualisten aus der bürgerlich-industriellen Gesellschaftsschicht: Unternehmer, Ärzte, Politiker und Ökonomen, deren Handeln von einer humanitären Gesinnung bestimmt wurde. Wenn auch idealistisch, basierten ihre Vorstellungen doch auf beruflicher Erfahrung. Ihre Bemühungen zielten zunächst auf eine nationale Sozialgesetzgebung, während die internationale Dimension der Thematik ihr Denken nur am Rande berührte. Als erster brachte der erfolgreiche englische Unternehmer Robert Owen (1771-1858) die Thematik des Arbeitsschutzes bei einer breiten Öffentlichkeit ins Gespräch. Gedanklich stark Rousseau verhaftet, entwarf er 1813 in seinem Buch "A new view of society" ein Gesellschaftsmodell eines genossenschaftlichen Sozialismus, das er in seinem Musterbetrieb New Lanark in Schottland zu verwirklichen suchte. Damit erregte er großes Aufsehen und lockte zahlreiche Neugierige an. Sein Aufruf für soziale Verbesserungen an die Staaten der Heiligen Allianz am Kongreß in Aachen 1818 hingegen verhallte ungehört, Owen wurde als Phantast abgetan. Während Robert Owen der Gedanke einer internationalen Arbeitsgesetzgebung fremd blieb8 , erwähnte sie erstmals Charles Hindley (1796-1857), zunächst Priester, später ebenfalls ein erfolgreicher Unternehmer und Politiker. Bei der Kontroverse um eine Reduktion der Kinderarbeit regte er gleichsam in einem Nebensatz internationale Abkommen an, um so Ängsten vor einer verminderten internationalen Konkurrenzfähigkeit der britischen Wirtschaft zu begegnen: "Should it however unfortunately happen that the excessive competition of foreigners should endanger our trade unless we employed our people Ionger than was advisable for their comfort

7 Für eine detaillierte Übersicht zu diesem Thema s. Follows, lohn W.: Antecedents of the International Labour Organisation, Oxford 1951. 8

Vgl. Valticos, Droit international du Travail, S. 7; Follows, S. 4.

2 Voegeli

A. Die Entstehung der ILO

18

and the good of society, I think it would be as proper a subject of treaty with foreign nations as the annihilation of the slave trade." 9

In der Folge traten auch der Arzt Louis-Rene Villerme (1782-1863), dessen Studie über die Arbeitsverhältnisse in den französischen Fabriken in Parlament und Öffentlichkeit Aufsehen erregt hatte, und der Ökonom Jeröme-Adolphe Blanqui (1758-1854) für eine internationale Reglementierung der Arbeitsbedingungen ein. Während Villerme eine internationale Vereinigung der Unternehmer vorschwebte 10 , forderte Blanqui soziale Reformen "[ ...] en meme temps par tous les pays industriels exposes ase faire concurrence au dehors" . 11 Der elsäßische Unternehmer Daniel Legrand (1782-1863) schließlich war der wohl bedeutendste Vorkämpfer der ILO, denn bei ihm trat die Idee einer internationalen Arbeitsgesetzgebung erstmals offen zutage: "Une loi internationale sur Je travail industriel est l'unique solution possible du grand problerne social, de dispenser Ia classe ouvriere les bienfaits moraux et materleis desirables, sans que les industriels en souffrent, et sans que Ia concurrence entre les industries de ces pays en re~oive Ia moindre atteinte." 12

a

Während zwanzig Jahren sandte Legrand der französischen, britischen und preußischen Regierung ohne sichtbaren Erfolg unzählige Memoranden. Legrand bezeichnete internationale Übereinkommen als "devoir sacre" in einer Zeit, da die Welt durch die Industrialisierung zusammengerückt sei, und beschwor eine "solidarite des nations" . 13 9 Factaries Inquiry Commission, Second Report on the Centrat Board of His Majesty's Commissioners Appointed to Collect Information in the Manufacturing Districts, as to the Propriety and Means of Curtailing the Hours of Labourer; with Minutes of Evidence and Reports by the Medical Commissioners, London 1833, D 2, S. 49/50, zit. in: Follows, S. 15. 10 Vgl. Valticos, Droit international du Travail, S. 7/8; Mahaim, Le Droit international ouvrier, S. 188. 11

Zit. in: Valticos, Droit international du Travail, S. 7.

Legrand, Daniel: Appe1 respectueux adeesse aux gouvernements des Pays Industriels dans Je but de provoquer une Loi Internationale sur Je travail industriel dont !es dispositions seraient a arreter par leurs delegues reunis en un congres de !'Exposition Universelle a Paris, Paris oder Straßburg 1855, Abgedruckt in: Bericht des Bundesrathes [sie] an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 2. Albert Thomas, der erste Generaldirektor der ILO von 1919 bis 1932, bezeichnete Legrand denn auch als "veritablement et plus authentiquement qu'Owen, que Villerme ou que Blanqui, le precurseur de Ia legislation internationale du travail". Valticos, Droit international du Travail, S. 9, vgl. auch S. 8; Follows, S. 42. 12

13 "Les conventions internationales deviennent une necessite et un devoir sacre a notre epoque, oii l'action de Ia vapeur et de l'electricite fait disparaitre !es distances, oii Ia bienheureuse influence de Ia Religion de L'Evangile sur !es habitants des deux hemispheres, Ia presse, l'industrie, le commerce, en general tous !es echanges materleis et spirituels conduisent a une solidarite des nations". Abgedruckt in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 6.

II. Initiativen der Schweiz

19

II. Initiativen der Schweiz Die Entwicklung des internationalen Arbeitsschutzes und seiner Kontrolle bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieb eng mit dem Namen der Schweiz verknüpft, die sich engagiert für eine internationale Regelung einsetzte. Zur Eröffnung der Sommersession 1876 fragte der Nationalratspräsident und spätere Bundesrat Emil Frey, "ob nicht Seitens der Schweiz der Abschluß internationaler Verträge zum Zwecke möglichst gleichmäßiger Regulirung der Arbeiterverhältnisse in allen Industriestaaten sollte angeregt werden. Liegt ja doch die größte Schwierigkeit der Fabrikgesetzgebung in der Thatsache, daß durch das vereinzelte Vorgehen eines Staates im Sinne der Erleichterung der Arbeiter die Konkurrenzfähigkeit seiner Industrie unter Umständen schwer gefährdet werden kann." 14 1881 überwies der Nationalrat dem Bundesrat einstimmig eine Motion von Emil Frey mit dem Auftrag, "mit den hauptsächlichsten Industriestaaten zu geeignetem Zeitpunkte Verhandlungen anzuknüpfen behufs Anbahnung einer internationalen Fabrikgesetzgebung." 15 Die vertraulichen Sondierungen der Schweiz ergaben ernüchternde Resultate. Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien winkten ab. Belgien reagierte überhaupt nicht. Exemplarisch fiel die französische Antwort aus: " [...]Je röle de !'Etat n'est pas d'intervenir dans les contrats entre patrons et ouvriers, et de porter atteinte, sans necessite absolue et bien demontree, a Ia liberte du travail. Si donc, en France meme, Je Gouvernement se montre tres peu dispose a entrer dans cette voie, il serait encore bien moins enclin a se lier les mains par voie internationale sur cette matiere [ ...]." 16

14 Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft 28 ( 1876), Nr. 26, Bd. 2, S. 953. Bereits 1855 hatte die Regierung des Kantons Glarus den Abschluß eines interkantonalen Konkordats vorgeschlagen: "Um den Konkurrenzverhältrußen zwischen den Spinnern [... ] in ganz befriedigender Weise zu regeln, müßte freilich durch internationale Stipulationen zwischen den industriellen Staaten von ganz Europa ein einheitliches System geschaffen werden; da dieses aber jedenfalls vorläufig in das Gebiet der frommen Wünsche gehört, so scheint es uns, sollte wenigstens der Versuch nicht gescheut werden, innerhalb eines engeren Kreises die Verschiedenheiten thunlich aufzuheben und die staatlichen Maßregeln auf die gleichen Grundsätze zurückzuführen". Zit in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 8. 15 Zit. in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. II. In der Begründung der Motion wurden sogar militärische Argumente bemüht: "Eine zweckmäßige Verminderung der Arbeitszeit schütze die Gesundheit der Arbeiter und liege daher u.a auch im militärischen Interesse des Staates." Zit. in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 10.

16 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 12; vgl. auch S. 11-15.

A. Die Entstehung der ILO

20

Nach einer zweiten Motion, die am 27. Juni 1888 an den Bundesrat überwiesen wurde, gelangte die Schweizer Regierung am 15. März 1889 mit einem Rundschreiben für ein internationales Arbeitsschutzabkommen 17 an die europäischen Industriestaaten und stieß bei einer Mehrheit auf ein positives Echo. 18 Inmitten der Konferenzvorbereitungen lud der deutsche Kaiser Wilhelm II. zur Überraschung der Schweizer Behörden seinerseits zu einer internationalen Arbeitskonferenz nach Berlin ein. Im Interesse der Sache verzichtete die Schweiz darauf auf ihr Vorhaben. 1. Die Berliner Konferenz von 1890

Die Berliner Konferenz zeitigte keine konkreten Resultate, denn die Teilnehmerstaaten, ausgenommen die Schweiz, widersetzten sich jeder verbindlichen Verpflichtung und jeglicher Einschränkung ihrer nationalen Souveränität. 19 Das Schlußprotokoll beschränkte sich deshalb auf unverbindliche Formeln, wie "il est desirable" und "pour le cas ou les Gouvernements donneraient suite aux travaux de Ia Conference, les dispositions suivantes se recommandent [ ... ]" ,20

Die Schweiz legte der Konferenz das Konzept einer supranationalen Kontrolle vor, "Ia creation d'un organe special pour Ia centralisation des renseignements a fournir, Ia publication reguliere de donnees statistiques [...]." 21 Periodische Konferenzen der Signatarstaaten sollten - neben der Ausarbeitung internationaler Konventionen - der Bereinigung von strittigen Fragen und Klagen dienen. Die Vorschläge ernteten heftige Kritik. Der britische Delegierte 17 Der Bundesrat empfahl ein Verbot flir Sonntagsarbeit, ein Minimalalter flir Kinderarbeit in Fabriken, die Festsetzung einer Maximalarbeitszeit flir Jugendliche, ein Arbeitsverbot flir Kinder und Frauen in gesundheitsschädigenden Betrieben und eine Beschränkung der Nachtarbeit flir Frauen. Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 22. 18 Belgien, Frankreich, Luxemburg, Deutschland, Österreich-Ungarn, Ponugal und die Niederlande nahmen die Einladung an, Großbritannien und Italien machten Vorbehalte. Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 23-27. 19

Vgl. Ayusawa, S. 39; Scelle, S. 22; Valticos, Droit international du Travail, S. 22; Follows, S.

143. 20 Protocole final de Ia Conference Internationale concernant Je reglement du travail dans les etablissements industriels et dans Ies mines, in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 69, 249-253; vgl. auch Shotwell, The Origins of the JLO, Bd. I, S. 472-475. 21 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 66/67, 151/152.

II. Initiativen der Schweiz

21

"protestirte [sie] förmlich gegen unsere Anträge, die durch die Einladung zur Konferenz geradezu ausgeschlossen seien. Wären derartige Fragen nicht von Anfang an aus dem Programm gestrichen worden, so würde Großbritannien und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer Staaten gar nicht zur Konferenz erschienen sein. "22 Die Konferenz wählte schließlich das wesentlich bescheidenere Projekt Deutschlands als Diskussionsgrundlage23 , das die internationale Kontrolle durch eine innerstaatliche Gewerbeaufsicht ersetzten wollte und anstelle einer zentralen Kontrollinstanz lediglich die gegenseitige Berichterstattung und die Publikation der Inspektionsberichte vorsah. Die Konferenz verabschiedete den deutschen Entwurf schließlich nach geringen redaktionellen Änderungen als Empfehlung. 24 Der schweizerische Bundesrat ließ in seinem Bericht Bedauern durchblicken: "Die Beschlüsse der Konferenz mußten, entgegen dem Antrage der schweizerischen Delegation, welche jetzt schon eine internationale Vereinbarung anstrebte, in bloße Wünsche gekleidet werden[ ...]. Wir haben es unsererseits an Anträgen nicht fehlen lassen[ ... ]. Immer standen wir auf dem äußersten Posten. Deutschland rückte dann in der Regel mit etwas mildemden Vorschlägen [... ] in die Linie, und wir mußten meist froh sein, wenn es gelang, diese unabgeschwächt zu retten."25

2. Die "Internationale Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter"

Eine entscheidende Weiche für eine internationale Arbeitsorganisation wurde am Internationalen Kongreß für Arbeiterschutz in Zürich gestellt. Vom 23. bis 28. August 1897 trafen sich Vertreter von Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften aus ganz Europa auf Einladung des Bundesvorstandes des Schweizerischen Arbeiterbundes in der Zürcher Tonhalle. Unter den Teilnehmern befanden sich beispielsweise die deutschen Sozialdemokraten August Bebel, Walter Liebknecht, Clara Zetkin, der Schweizer Politiker Hermann Greulich und eine russische Delegation.26 Der Kongreß beschloß, "in der Presse und in den Parlamenten die Regierungen zur Errichtung eines interna-

22 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 68. 23 Abgedruckt in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 67, 151/152. 24 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 69170, 251/252. 25 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz vom 9. Juni 1890, S. 74. 26 Internationaler Kongreß für Arbeiterschutz in Zürich vom 23. bis 28. August 1897. Amtlicher Bericht des Organisationskomitees, Verzeichnis der Kongreßteilnehmer, S. 261-280.

22

A. Die Entstehung der ILO

tionalen Arbeitsschutzamtes einzuladen". 27 Explizit an den schweizerischen Bundesrat erging die Bitte, weitere Initiativen für eine internationale Arbeitsschutzgesetzgebung zu lancieren.28 Der Kongreßbericht umschrieb die Aufgaben des künftigen Arbeitsschutzamtes im Detail. Im Hinblick auf ein internationales Arbeitsrecht sollte es die aktuelle Rechtslage in den verschiedenen Staaten darstellen, "indem es die Botschaften der Regierungen und die Kammerdebatten resümierte, welche ihrem Erlaß vorausgegangen sind[...]. Desgleichen das Wesentliche aus den Berichten der Verwaltungen, der Fabrikinspektoren und Arbeitersekretäre, die sich über die Wirkungen der Arbeiterschutzgesetze aussprechen [...] sowie belangreiche Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsgerichtshöfe". 29

Gleichzeitig verlangte der Kongreß eine einheitliche Gewerbeinspektion.30 Die Beschlüsse von 1897 blieben zunächst Papier. Erst unter dem Vorsitz des ersten sozialistischen Handelsministers Frankreichs, Alexandre Millerand, verabschiedete der internationale Arbeiterschutzkongreß vom 25. bis 29. Juli 1900 in Paris die Statuten für eine "Internationale Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter" mit Sitz in Basel. Ihre Aufgabe umfaßte die Sammlung und Publikation aller arbeitsrechtlichen Gesetze, die Vorbereitung internationaler Kongresse und die Gründung eines internationalen Arbeitsamtes als ZentralstelleY Die Vereinigung bildete eine internationale Dachorgani-

27 Internationaler Kongreß für Arbeiterschutz in Zürich vom 23. bis 28. August 1897. Amtlicher Bericht des Organisationskomitees, S.l45.

28 Internationaler Kongreß für Arbeiterschutz in Zürich vom 23. bis 28. August 1897. Amtlicher Bericht des Organisationskomitees, S. 146, 247. 29 Internationaler Kongreß flir Arbeiterschutz in Zürich vom 23. bis 28. August 1897. Amtlicher Bericht des Organisationskomitees, S.241 , vgl. auch S. 145/146. 30 Internationaler Kongreß flir Arbeiterschutz in Zürich vom 23. bis 28. August 1897. Amtlicher Bericht des Organisationskomitees, S. 245, 255. 31 Die Statuten der Internationalen Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter vom September 1902 bestimmten: "Art. I. Es wird eine Internationale Vereinigung fur den gesetzlichen Schutz der Arbeiter gebildet. Ihr Sitz ist die Schweiz. Art. 2. Zweck dieser Vereinigung ist:

[ ...]

2. Ein internationales Arbeitsamt zu errichten, mit der Aufgabe, eine periodische Sammlung der Arbeiterschutzgesetze aller Länder in französischer, deutscher und englischer Sprache herauszugeben oder zu einer solchen Veröffentlichung seine Mithülfe [sie) zu leisten[ ...]. [ ... ]

5. Die Einberufung internationaler Arbeiterschutzkongreße. [ ...]

Art. 6. Die Vereinigung wird geleitet durch ein Komitee, bestehend aus Mitgliedern der verschiedenen Staaten, die zur Vertretung berechtigt sind."

II. Initiativen der Schweiz

23

sation und unterhielt zahlreiche Sektionen in den meisten europäischen Staaten. Obwohl sie eine privatrechtliche Einrichtung bildete, waren auch Regierungsvertreter in den einzelnen Landessektionen vertreten32 und unterstützten das Arbeitsamt finanziell. Schon seiner Gründung hatten zahlreiche Repräsentanten beigewohnt, zum Beispiel der frühere preußische Staatsminister Freiherr von Berlepsch, hohe Beamte und Vertreter zahlreicher Verbände. Die internationale Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter kann als eigentliche Vorläufeein der ILO betrachtet werden. 33 Vor allem ihrer Initiative waren die beiden ersten internationalen Übereinkommen zur Regelung der Arbeitsbedingungen an den Konferenzen in Bern 1905/1906 zu verdanken. 3. "Das Eis ist gebrochen"- Die Konferenzen von Bern 190511906

Nach sorgfaltiger Vorbereitung der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz konnte die Schweiz 1905 fünfzehn europäische Staaten zu einer technischen Konferenz für die Ausarbeitung zweier Konventionen nach Bern einladen.34 Die Traktanden betrafen zwei konkrete Sachfragen: das Verbot der Verwendung weißen Phosphors bei der Streichholzproduktion und das Verbot der Nachtarbeit für Frauen in der Industrie. Die intensive Vorbereitung und die geschickte Themenwahl, über die schon vor der Konferenz ein Konsens bestand, zahlten sich aus: Am Ende der Tagung konnte die Konferenz zwei Konventionsentwürfe vorlegen, die an einer diplomatischen Folgekonferenz zur Unterzeichnung gelangen sollten. "Das Eis ist gebrochen, ein Anfang ist gemacht, und wir hoffen, daß es möglich sein wird, auf dem nun eingeschlagenen und erprobten Wege rüstig vorwärts zu schreiten" 35 , erklärte Bundesrat Adolf Deucher zum Abschluß der technischen Konferenz am 17. Mai 1905. Erneut war es die Schweiz, die Vorschläge zur Kontrolle der Phosphorkonvention vorbrachte. Die Signatarstaaten wären für die Überwachung der Konvention im eigenen Land besorgt, könnten aber auch bei einer Vertrags-

Abgedruckt in: Schweizerische Vereinigung zur Förderung des Internationalen Arbeiterschutzes. Bericht des Vorstandes über die Tätigkeit des Vereins im Jahre 1902/1903, Bern 1903, S. 21 -25. 32 Vgl. Bauer, S. 4/5; Reichesberg, S. 12,26-28. 33 Vgl. Muhr, Internationale Arbeitsorganisation, S. 87. 34 Die Verhandlungen der Internationalen Arbeitsschutzkonferenz in Bern im Mai 1905. Nach einem Vortrag, gehalten in der Generalversammlung der Vereinigung vom 27. Juni 1905 durch Emil Frey, Bern 1905. (Schweizerische Vereinigung zur Förderung des Internationalen Arbeiterschutzes, Heft 13, 1905), S. I. 35 Internationale Konferenz für Arbeiterschutz in Bern. 8. bis 17. Mai 1905, S. 121.

24

A. Die Entstehung der ILO

verletzung eines anderen Signatarstaates intervenieren. Dieser hätte darauf eine Untersuchung der Vorwürfe vorzunehmen. Streitigkeiten über die Auslegung der Konvention sollten einem Schiedsgericht vorgelegt werden. 36 Wie in Berlin stieß das Projekt der Schweiz auch in Bern auf Kritik. Insbesondere Deutschland lehnte den Schweizer Vorschlag vollständig ab; Deutschland könne "niemals seine Zustimmung geben"Y Die Konferenz beugte sich diesem Druck. Für die Konvention über das Verbot der Nachtarbeit für Frauen in der Industrie legte die Schweiz ein bescheideneres Konzept vor, das lediglich einen lnformationsaustausch, eine Publikation der innerstaatlichen Inspektionsberichte und eine Schiedsgerichtsklausel enthielt.38 Auch dieser Vorstoß wurde auf eine vage Empfehlung zurückgestutzt.39 Nach der sorgfältigen Vorbereitung durch die Expertenkonferenz 1905 war dem Nachfolgekongreß vom 17. bis 26. September in Bern 1906 Erfolg beschieden.40 Erstmals gelangten zwei Konventionen zur Unterzeichnung, die den Arbeitsschutz international regelten. Sämtliche 15 Teilnehmerstaaten unterzeichneten die Konvention über das Verbot der Nachtarbeit für Frauen in der Industrie, die 1908 in Kraft trat. Wegen der Absenz Japans als größtem Streichholzproduzenten unterzeichneten zunächst nur gerade sieben Staaten die PhosphorkonventionY Wie schon 1905, fand die Frage einer Überwachung der Phosphorkonvention auch an der diplomatischen Konferenz 1906 keine Berücksichtigung; ihre Durchsetzung jedoch sollte in der Praxis wenig Probleme bereiten. Anders verhielt es sich mit der Konvention über das Verbot der Nachtarbeit, deren Überwachung zu zähen Verhandlungen Anlaß gab. Großbritannien, Frankreich und der Schweiz gelang es nicht, einen allgemeinen Konsens für eine übergeordnete Kontrollinstanz zu erreichen.42 Der britische Vorschlag, eine Korn-

36

Internationale Konferenz für Arbeiterschutz in Bern. 8. bis 17. Mai 1905, S. 65/66.

37

Internationale Konferenz flir Arbeiterschutz in Bern. 8. bis 17. Mai 1905, S. 22.

38

Internationale Konferenz flir Arbeiterschutz in Bern. 8. bis 17. Mai 1905, S. 98/99.

Die Empfehlung lautete: "Es ist wünschenswen, in den Yenragsstaaten besondere behördliche Organe zur Überwachung des Verbotes der Nachtarbeit der Frauen zu schaffen, oder da, wo solche schon vorhanden sind, sie so auszugestalten, daß sie für die genaue Einhaltung dieser Bestimmung volle Gewähr bieten. Es ist ferner wünschenswen, daß die Staaten unter sich ihre jährlichen Berichte austauschen." Internationale Konferenz für Arbeiterschutz in Bern. 8. bis 17. Mai 1905, S. 82. 39

40 Vgl. Actes de Ia Conference Diplornatique pour Ia protection ouvriere reunie a Berne du 17 au 25 septerobre 1906, Bern 1906; Visseur, S. 54-72. 41 Beide Konventionen sind vollständig abgedruckt in: Actes de Ia Conference Diplornatique pour Ia protection ouvriere reunie a Berne du 17 au 25 septerobre 1906, S. 147-165.

42 Vgl. Actes de Ia Conference Diplornatique pour Ia protection ouvriere reunie a Berne du 17 au 25 septerobre 1906, S. 69-79, 97-I 06.

II. Initiativen der Schweiz

25

mission aus Mitgliedern der Signatarstaaten zur Überwachung der Konvention zu bilden43 wurde vom deutschen Bevollmächtigten Alfred von Bülow rundweg als Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes abgelehnt.44 Die Vertreter Belgiens und Österreich-Ungarns schlossen sich der deutschen Position an. 45 Trotz massiver Zugeständnisse der Befürworter, die der Kommission nur noch eine "mission purement consultative" zugestanden46 , konnte sich die Konferenz nur gerade auf einen schwachen "vreu final" einigen, der lediglich in ein Zusatzprotokoll aufgenommen wurde: "Emettant Je vreu que les diverses questions ayant trait a ladite convention [...] puissent etre [ ...] soumises a l'appreciation d'une commission oii chaque Etat co-signataire serait represente par un delegue ou par un delegue et des delegues-adjoints. Cette commission aurait une mission purement consultative. En aucun cas, elle ne pourrait se Iivree a aucune enquete ni s'immiscer en quoi que ce soit dans les actes administratifs ou autre des Etats." 47

Obwohl in Bern keine Einigung über eine internationale Kontrolle durch eine unabhängige Behörde erzielt wurde, übernahm die "Internationale Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter" aus eigenem Antrieb diese Funktion und forderte ihre nationalen Sektionen zu einer periodischen Berichterstattung über die Anwendung der Berner Konventionen auf. 1908 publizierte sie einen "Rapport comparatif provisoire" zur Einhaltung der Berner Konventionen. Zur Verbesserung der Kontrolle entwarf sie sogar "Grundsätze einer Übereinkunft betreffend die periodische Berichterstattung über die Durchführung der internationalen Arbeitsverträge". 48 Die internationale Vereinigung ergriff 1913 eine weitere Initiative für eine zusätzliche internationale Konvention zur Regelung eines Nachtarbeitverbotes für Jugendliche und die Arbeitszeitbeschränkung für Frauen und Jugendliche. Im Gegensatz zur Konferenz von 1905 bestand 1913 keine grundsätzliche Übereinstimmung. Die Verhand43 Actes de Ia Conference Diplomatique pour Ia protection ouvriere reunie septerobre 1906, S. 70-76.

a Beme du

17 au 25

44 "Son Exc. de Bülow declare que son Gouvernement considere l'institution d'une pareille Commission comme inacceptable, car elle risquerait de contrecarrer les decisions legislatives et les mesures administratives des differents Etats et de faire du tort ou de porter Prejudice a leur souverainete. Cette Commission [... ] s'imrniscera dans un domaine qui releve de l'autonomie de chaque Etat." Actes de Ia Conference Diplomatique pour Ia protection ouvriere reunie a Beme du 17 au 25 septerobre 1906, S. 76. 45 Actes de Ia Conference Diplomatique pour Ia protection ouvriere reunie septerobre 1906, S. 76.

a Beme du

17 au 25

46 Vgl. Actes de Ia Conference Diplomatique pour Ia protection ouvriere reunie a Beme du 17 au 25 septerobre 1906, S. 99, 11n2. 47 Actes de Ia Conference Diplomatique pour Ia protection ouvriere reunie septembre 1906, S. 140/141.

48

Abgedruckt in: Visseur Anm. 48, S. 75-77.

a Betne du

17 au 25

26

A. Die Entstehung der ILO

Iungen gestalteten sich schwierig. Der Kriegsausbruch setzte den Bemühungen ein Ende; die für September 1914 anberaumte diplomatische Konferenz konnte nicht mehr stattfinden.

111. Die kanalisierte Revolution 1. Die Arbeiterbewegungen

Für die Entwicklung der ILO und ihrer Kontrollfunktionen bildete nach Meinung des Verfassers der Erste Weltkrieg das entscheidende Ereignis. Gleichsam als Katalysator bewirkte er einen Entwicklungssprung, ohne den die Gründung der ILO 1919 mit ihrem ungewöhnlichen Kontrollsystem erst viel später möglich geworden wäre. Mit Ausbruch der Feindseligkeiten vollzog sich in allen kriegführenden Ländern ein nationaler Schulterschluß. Gerade in den alliierten Staaten galt während des Krieges stillschweigend ein sozialer Burgfriede. Die gemäßigten Arbeiterbewegungen und die Gewerkschaften akzeptierten einschneidende Beschränkungen ihrer verbrieften Rechte zugunsten einer gesteigerten Rüstungsproduktion: "We declare it tobe our unqualified determination to do all that lies within our power to assist our allied countries" 49 , hieß es in einem Papier der "American Federation of Labor" 1918. Der Weltkrieg gab Arbeiterbewegungen starke politische Druckmittel in die Hand. Ihr Einsatz für die Nation rief nach Gegenleistungen. Seit 1917 fürchteten die Regierungen die latente Bedrohung einer kommunistischen Weltrevolution. Die französische Confederation generate du Travail (CGT) verwies 1916 an einer Gewerkschaftskonferenz in Leeds deutlich auf den Blutzoll der Arbeiterbewegungen und begründete daraus hohe Forderungen: "Considering that the working dass, which, without bargaining, has largely contributed to the defence of the country, has the right to make its voice heard for the defence of its own interests at the period of the condusion of the Treaty of Peace that will pul an end to the European war. [...] the working dass, which will have largely shed its blood on the fields of ballte has the perfect right to daim its further share of welfare and liberty." 50

Trotz zeitweiliger Priorität der nationalen Sache hatten die gemäßigten Arbeiterbewegungen ihr Ziel eines international geregelten Arbeitsschutzes nie aus den Augen verloren. 1914 hatte die mächtige "American Federation of La49 Proposals of the American Federation of Labor to the Inter-AIIied Labor and Sodalist Conference, September 1918, Conceming the Peace Conference. Abgedruckt in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 75.

50 Report: Historical Survey of the Efforts to Coordinate and Intemationalize Labour Legislation, Submitted J une, 1916 by the Confederation generale du Travail to the Leeds Conference. Abgedruckt in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 6, 8.

III. Die kanalisierte Revolution

27

bor" den Vorschlag für eine Parallelveranstaltung der Arbeiterbewegungen neben einer offiziellen Friedenskonferenz lanciert, "[...] to call a meeting of representatives of organized Iabor of the different nations to meet at the same time and place, to the end that suggestions may be made and such action taken as shall be helpful in restoring fratemal relations, protecting the interests of the toilers and thereby assisting in laying foundations for a more Iasting peace [...]".51

In der Folge bekräftigten die Arbeiterbewegungen der Alliierten und der Mittelmächte unabhängig voneinander an verschiedenen Kongressen eine solche Forderung.52 Die entscheidende Wegmarke in der Entwicklung von 1914 bis 1919 bildete die alliierte Gewerkschaftskonferenz in Leeds 1916. Auf der Basis eines Entwurfs der Confederation generate du Travail53 verfaßte die Konferenz eine Arbeitscharta54 und erarbeitete die Einrichtung eines zentralen Koordinationsund Kontrollorgans. 55 1916/17 widmeten sie erstmals der Kontrolle ein besonderes Augenmerk, wenn auch die Überwachung nicht im Brennpunkt des Interesses stand. Erstmals formulierten die Arbeiterbewegungen einen formalen Rahmen für die Verwirklichung ihrer Forderungen. Vorgesehen waren eine innerstaatliche Gewerbeaufsicht, ein jährlicher Berichtsaustausch zwischen den Regierungen und die Einrichtung einer internationalen Kontrollkommission. 56

51 Resolution of the American Federation of Labor, November 21, 1914, Concerning Peace Congreß, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 3. 52 Vgl. Riegelmann, S. 55-79; Valticos; Droit international du Travail, S. 31-35; Scelle, S. 26/29; Ayusawa, S. 97-105.

53 Report: Historical Survey of the Efforts to Coordinate and lnternationalize Labour Legislation, Submitted June, 1916 by the Confederation generate du Travail to the Leeds Conference, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 5-22.

54 "The conference declares that the peace treaty which will terminale the present war and will give to the nations political and economic independence should also ensure to the working class of all countries a minimum of guarantees of a moral as weil as of a material kind concerning the right of coalition, emigration, social insurance, hours of Iabor, hygiene, and protection of Iabor, in order to secure them against the attacks of international capitalistic competition." Resolutions of the International Labor Conference at Leeds, July 1916, abgedruckt in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 23. 55 "There shall be established an international Iabor office which shall coordinate and consolidate the various inquiries, studies, statistics and national reports on the application of the Iabor laws; it shall make an effort to create uniform methods of statistics, secure comparative reports of international conventions, prepare international inquiries, and study all those questions which refer to the development and application of the laws concerning accident prevention, hygiene and safety work." Resolutions of the International Labor Conference at Leeds, July 1916, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, s. 26. 56 Resolutions of the International Labor Conference at Leeds, July 1916, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 26.

28

A. Die Entstehung der ILO

Auf Verlangen einer Streitpartei sollte jeder Konflikt einem internationalen Schiedsgericht unterbreitet werden. An der Konferenz von Leeds bekannten sich die alliierten Gewerkschaften erstmals zum Konzept einer internationalen Arbeitsgesetzgebung und erklärten sich zur Zusammenarbeit mit den Regierungen bereit: "The Leeds Conference of 1916 bad registered a fundamental change in the attitude of Iabor towards international Iabor legislation. [ ...] it was the Leeds Conference which brought the ideas of Iabor into line with those later embodied in Part XIII of the Treaty of Peace." 51

Auch wenn die Arbeiterbewegungen an der Konferenz in Leeds nicht repräsentativ vertreten waren, fand ihr Programm rasche Verbreitung und bildete die Basis für alle internationalen Gewerkschaftskongresse bis 1919. Wie das Programm von Leeds verabschiedeten auch die Gewerkschaften der Mittelmächte an der Berner Konferenz von 1917 eine Arbeitscharta und planten die Einrichtung eines internationalen Arbeitsamtes "[to] convoke international congresses for the promotion of Iabor and sociallegislation."58 Im Unterschied zur Konferenz von Leeds legte das Programm der Berner Konferenz den Schwerpunkt auf eine internationale Gewerbeaufsicht sowie eine starke Stellung der Gewerkschaften und verzichtete auf eine periodische Berichterstattung durch die Signatarstaaten. 59 2. Britische Entwürfe am Ende des Ersten Weltkriegs

War die Geschichte des internationalen Arbeitsschutzes bis zum Ersten Weltkrieg eng mit dem Namen der Schweiz verknüpft, so übernahm Großbritannien bei Kriegsende die Rolle der Schweiz, die sich als neutrales Land seit Kriegsausbruch im politischen Abseits befand. Großbritannien vermittelte 1918119 die entscheidenden Impulse für Entstehung und Struktur der ILO und ihrer Kontrollverfahren. Seit Ende 1917 vermochten die Regierungen die Forderungen der Arbeiterbewegungen nicht länger zu ignorieren. Seit der Oktoberrevolution in Rußland schien das Gespenst einer kommunistischen Weltrevolution allgegenwärtig.60 Internationale arbeitsrechtliche Übereinkommen ohne Berücksich51

Riegelmann, S. 64/65.

Resolution of the International Labor Conference of Trade Unions, Berne, October 4, 1917; in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 49. 58

59 Resolutions of the International Labor Conference of Trade Unions, Berne, October 4, 1917, in: Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 48/49.

60 Insbesondere die Autoren der ILO-Verfaßung wiesen nachdrücklich auf die Angst vor einer Ausbreitung der rußischen Revolution hin. Vgl. Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I, S. xxi;

III. Die kanalisierte Revolution

29

tigung der Arbeiterbewegungen, wie in Bern 1906, waren nach Kriegsende unmöglich, denn Gewerkschaften und Sozialisten besaßen ein großes politisches Potential und forderten mehr. 1917 bestritt auch niemand mehr die Notwendigkeit effizienter internationaler Kontrollverfahren. Bei absehbarem Kriegsende, nach der Landung der US-Truppen in Europa Ende 1917, entfalteten die Regierungen hektische Aktivitäten zur Verwirklichung eines internationalen Arbeitsschutzes. Grundsätzlich standen zwei Varianten zur Diskussion. Die erste, eine Hauptforderung der Arbeiterbewegungen, sah die Aufnahme einer verbindlichen Arbeitscharta in den Friedensvertrag vor. Die zweite Variante faßte die Entwicklung einer permanenten Organisation zur Ausarbeitung internationaler Übereinkommen ins Auge und wurde von Großbritannien vorangetrieben. Bereits 1916 rief die britische Regierung ein Arbeitsministerium ins Leben und gründete die sogenannten "Whiteley Councils", in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer derselben Branche paritätisch vertreten waren. Lloyd George nahm sogar eine Reihe Gewerkschaftsvertreter in sein Kabinett auf. Der Premierminister maß der Arbeiterbewegung eine derartige Macht zu, daß er von der nachrichtendienstliehen Abteilung des Arbeitsministeriums eine wöchentliche Situationsanalyse verlangte. 61 Die britische Regierung erarbeitete für die Friedenskonferenz vier detaillierte Entwürfe für eine permanente internationale Organisation62 , in der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Vertreter der Regierungen paritätisch und mit gleichen Rechten vertreten sein sollten. Das britische Projekt entwarf ein Modell einer permanenten Organisation, die mit einer Zweidrittelmehrheit Konventionen verabschieden konnte, die den Mitgliedern zur Ratifikation offenstünden; ein ständiges Bureau war als Sekretariat vorgesehen; der letzte Entwurf empfahl sogar einen Verwaltungsrat als Exekutivorgan. Ein Memorandum vom Januar 1919 nahm zur Frage der Kontrolle ausführlich Stellung: "[...] it is suggested that it should be open to any Govemment which considered that it was suffering from such unfair competition to lodge a complaint with the Bureau against the alleged offender, and it would also seem desirable to allow the responsible trade union organisation [...] to Delevingne, The Pre-War History of International Labor Legislation, S. 20/21; Phelan, The Commißion on International Labor Legislation, S. 113, 116; Phelan, The Labor Proposal before the Peace Conference, S. 207; Delevingne, The Organizing Committee, S. 286; Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I, S. 234-255, Shotwell, At the Paris Peace Conference, S. 200. 61

Phelan, The Preliminaries ofThe Peace Conference. British Preparations, S. 106.

Es handelte sich um den Entwurf vom 21. Januar 1918, das Memorandum Großbritanniens vom 15.-20. Januar 1919 und die Entwürfe vom 26. Januar 1919 bzw. vom 2. Februar 1919. Die vier Entwürfe sind abgedruckt in: Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 138-143, 117- 125; Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I, S. 372-423. 62

30

A. Die Entstehung der ILO

take similar action. It is for consideration, whether the Bureau should be empowered to make enquiry, without further reference [...]." 63

Als Sanktionen gegen schwere Rechtsbrüche empfahl das Memorandum Retorsionsmaßnahmen. 64 Die praktisch identischen Vorschläge vom 26. Januar und 2. Februar 1919 entwarfen in den Artikeln 21 bis 33 ein detailliertes Kontrollsystem. 65 Basis der Kontrolle sollte die jährliche Berichterstattung der Signatarstaaten an den Verwaltungsrat bilden, während allen Mitgliedstaaten, Konferenzdelegierten und teilweise auch den Berufsorganisationen zusätzlich ein Klagerecht eingeräumt werden sollte. Der Verwaltungsrat sollte über die Einsetzung einer Untersuchungskommission entscheiden, die im gegebenen Fall sogar wirtschaftliche Sanktionen empfehlen konnte. Anfang Januar 1919 legte die britische Delegation an der vorbereitenden Friedenskonferenz in Paris ihre Entwürfe verschiedenen Staaten66 und mehreren britischen Gewerkschaftsvertretern zur Stellungnahme vor und erntete durchwegs Zustimmung. Edward Phelan, Mitglied der britischen Delegation, bemerkte, "[ ...] the trade union representatives agreed that the proposals had gone as far as practically possible [... ]" .67 Neben den umfangreichen britischen Vorschlägen blieben die Entwürfe der übrigen Alliierten vage und unausgereift.68 Bis Kriegsende lagen in Frankreich lediglich ein Projekt der französischen Sektion der "Internationalen Vereini-

63 Memorandum on the Machinery and Procedure Required for the International Regulation of Industrial Conditions, Prepared in the British Delegation, January 15-20, 1919; in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. I 24. 64 "The appropriate penalty accordingly appears to be that when a two-thirds majority of the Conference is satisfied that the terms of the Convention have not been carried out, the signatory States should discriminate against the articles produced under the conditions of unfair competition proved to exist unless those conditions were remedied within one year or such Ionger period as the Conference might decide". Memorandum on the Machinery and Procedure Required for the International Regulation of Industrial Conditions, Prepared in the British Delegation, January 15-20,1919; in: Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 125. Im Entwurfvom 21. Januar 1918 wardie Kontrolle noch ausgeklammert. 65 Der britische Entwurf vom 2. Februar 1919 ist auch im Bulletin officiel I (1923), S. 8-15 abgedruckt. Vgl. auch unten S. 37-56. 66 Es handelte sich um Frankreich, mit dem Großbritannien ohnehin enge politische Kontakte pflegte, die USA, Belgien, Italien, Japan, die Tschechoslowakei und die britischen Dominions. 67

Phelan, The Preliminaries of The Peace Conference. British Preparations, S.l22.

Vgl. Picquenard, The Preliminaries of The Peace Conference.The French Preparations, S. 83-97; Magnusson, The Preliminaries of The Peace Conference. American Preparations, S. 97-105. 68

III. Die kanalisierte Revolution

31

gung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter" 69 und ein parlamentarischer Entwurf vor70 , während die staatliche "Commission interministerielle" unter Leitung des Arbeitsministers noch keine Resultate vorlegen konnte. Die vorhandenen Entwürfe waren ein unfertiges Abbild der britischen Vorschläge, im Unterschied zum britischen Vorbild enthielten sie aber eine rudimentäre Arbeitscharta. Auch die deutsche Regierung erarbeitete Vorschläge für einen international geregelten Arbeitsschutz.71 Im Unterschied zu den alliierten Entwürfen orientierte sich ihr Projekt stark an den Forderungen der Gewerkschaftskongresse von 1917 und 1919 in Bern. Eine verbindliche Arbeitscharta und die legislativen Kompetenzen der Konferenz bildeten die zentralen Punkte. Im Unterschied zum britischen Projekt sollte bei einer Vierfünftelmehrheit jede Konvention für alle Mitgliedstaaten rechtskräftig werden. Zwei Artikel regelten die Kontrolle. Schwerpunkt bildete eine nationale Gewerbeaufsicht durch unabhängige Inspektoren, die in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften bestimmt werden sollten.72 Die deutschen Vorschläge fanden keine Berücksichtigung. 3. Die Gründung der ILO 1919

Die Gründung der ILO erfolgte 1919 an der Friedenskonferenz in Versailles. Am 31. Januar 1919 beauftragte die Friedenskonferenz eine "Commission on International Labour Legislation" mit der Ausarbeitung einer internationalen Arbeitsgesetzgebung. Die Kommission setzte sich aus Regierungsvertretern und Gewerkschaftern der fünf Großmächte (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan) sowie Belgiens, Kubas, Polens und der Tschechoslowakei zusammen. Den Vorsitz übernahm Samuel Gompers, Präsident der "American Federation ofLabor".73 Die Kommission stand unter starkem Druck der äußeren Ereignisse. In Berlin, Wien und Budapest tobten Kämpfe zwischen Revolutionären und Re-

69 Resolution Adopted by the French National Association for Labor Legis1ation, at lts Meeting on November 25, 1918, on the Proposal of Deputy Justin Godart; in Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, s. 93/94. 70 Text Adopted by the French Labor Committee of the Chamber of Deputies, November 29, 1918, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 95/96.

71 Abgedruckt in: Bulletin officie11 (1923), S. 314-331. Vgl. auch Kuttig, Gennan Preparations and Proposals, S. 221-234.

72

Vgl. Visseur, S. 108.

Für die personelle Zusammensetzung der Kommission s. Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 368/369; Bulletin officiel1 (1923), S. 112. 73

32

A. Die Entstehung der ILO

gierungstruppen. Die Kommission tagte vom 1. Februar bis zum 24. März in 35 Sessionen.74 Als Grundlage diente der britische Entwurf vom 2. Februar 1919. Die Kommission unterzog das britische Projekt drei Lesungen. Am 11. April präsentierte sie ihren Schlußbericht15 , und am 6. Mai 1919 gelangte die bereinigte Fassung vor das Plenum der Friedenskonferenz, welche die Verfassung der ILO als Teil XIII. in den Friedensvertrag aufnahm. 76 Die endgültige Fassung der Konstitution hielt sich eng an den britischen Entwurf vom 2. Februar 1919. Nur gerade Art. 41, ein Grundrechtskatalog mit deklaratorischem Charakter77 , bildete eine wesentliche Abweichung von der britischen Vorlage78 und nahm die Idee einer Arbeitscharta auf. Die schärfste Kontroverse entfachte das von den Briten vorgeschlagene Vertretungssystem in der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO, wonach jeder Mitgliedstaat zwei Regierungsvertreter und je einen Arbeitgeber- und einen Arbeitnehmerdelegierten nach dem System 2: I: l entsenden sollte. Die Gegner des britischen Vorschlags verlangten Stimmengleichheit zwischen Regierungen und Arbeitnehmern und propagierten deshalb einen l: l: l oder 2:2:2 Verteilungsschlüssel mit Vertretern der Landwirtschaft. Die Argumentation, man könne den Regierungen nicht zumuten, gegen ihren gemeinsamen Willen gefaßte Beschlüsse auszuführen, fand schließlich eine Mehrheit. Nach kurzer Diskussion wurde auch der italienische Vorschlag als unrealistisch zurückgewiesen, die internationale Arbeitskonferenz als supranationales Parlament zu gestalten.79 Die italienische Delegation hatte verlangt, "que les conventions approuvees par les deux tiers des voix de Ia Conference doivent devenir executoires, dans le terrne d'une annee, pour tous les Etats adherant a Ia Conference. Le droit est reserve aux gouvernements de recourir contre les decisions de Ia Conference, au Conseil executif

74 Vgl. Phelan, The Commission on International Labor Legislation, S. 127-198; Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I; S. 372-423, Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 149-322, Bulletin officiel I (1923), S. 261-263. 75

Abgedruckt in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2, S. 368-378; Bulletin officiel I (1923),

s. 314-331.

76 Die Verfaßung der ILO von 1919 ist abgedruckt in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I, S. 424-450; Bulletin officiel I (1923), S. 337-351. 77 Zunächst bestand Unsicherheit über die rechtliche Verbindlichkeit der neun Punkte jenes Grundrechtskatalogs; die Kommission nahm in ihrem Schlußbericht dazu keine Stellung. Erst die Praxis sprach Art. 41 eindeutig deklaratorische Wirkung zu.

78 Eine Subkommission evaluierte aus fünf Entwürfen (Manifest der "International Federation of Trade Unions" von Bern 1919, Vorschläge der USA, Belgiens, Italiens und Großbritanniens) 19 Punkte, von denen die "Commission on International Labour Legislation" neun einstimmig akzeptierte und in die Verfaßung aufnahm. Vgl. Phelan, The Commission on International Labor Legislation, S. 185-196. 79

Bulletin officiel I (1923), S. 53.

III. Die kanalisierte Revolution

33

de Ia Societe des Nations, lequel pourra ordonner un nouvel examen de Ia question de Ia part de Ia Conference. La seconde decision n'est plus susceptible de recours." 80

Am 29. Oktober 1919 eröffnete der US-Arbeitsminister die erste Konferenz der ILO, die während eines Monats in Washington tagte. 81 Nach der Konstituierung ihrer Organe verabschiedete die ILO bereits verschiedene Konventionen und Empfehlungen, obwohl der Friedensvertrag von Versailles und damit die Verfassung der ILO noch keine Rechtskraft erlangt hatten. Die herausragendsten Ereignisse bildeten die Aufnahme Deutschlands und Österreichs denen die Mitgliedschaft im Völkerbund verwehrt blieb - auf Druck der Gewerkschaften und der Rückzug der USA von Völkerbund und ILO in eine Politik der "splendid isolation". Was war entstanden? Kein Weltparlament, keine Magna Charta für die Arbeiter. Unter dem Wetterleuchten der gefürchteten kommunistischen Weltrevolution hatte es die britische Regierung verstanden, die "new view of society" der Arbeiterbewegungen zu kanalisieren und in ein rechtlich vorgegebenes Gebilde zu lenken. Begünstigt wurden die britischen Bemühungen durch die Teilung der Arbeiterbewegung in eine revolutionäre und eine gemäßigte Strömung. Dennoch bildet die ILO noch heute die einzige UNO-Organisation, in der neben Regierungsvertretern auch Delegierte von "non-governmental organisations", Arbeitnehmer und Arbeitgeber, in allen Gremien gleichberechtigt vertreten sind. Am 11. April 1919 zog Emile Vandervelde, ein belgiseher Vertreter in der "Commission on International Labour Legislation", vor der Internationalen Friedenskonferenz Bilanz über die geschaffene Verfassung: "Je n'hesite pas a dire que je considere cette creation d'un Super-Parlament international comme un ideal vers lequel nous devons tendre. Je souhaite qu'un jour Ia Societe des Nations soit assez developpee pour pouvoir dicter des lois au monde. Mais Ia politique est Ia science du possible [...]". 82

4. Die Struktur der ILO

Bis 1946 bildete die ILO einen "organisme permanent [... ] associe a celui de Ia Societe des Nations".83 Ihre Finanzen liefen über das Budget des Völkerbundes, die Mitgliedschaft war grundsätzlich mit derjenigen des Völkerbundes 80

Bulletin officiel I (1923), S. 46, 52.

Für eine detaillierte Darstellung der Washingtoner Konferenz s. Butler, The Washington Conference, in: Shotwell, The Origins of the ILO, Bd.l, S. 305-330; Butler, The Washington Conference, in: Solano, John (Hg.): Labour as an International Problem, S. 198-246; Delevingne, The Washington Conference. The Organizing Committee, S. 285-304; Bulletin offleieil (1923), S. 416-480. 81

82

Bulletin officiell (1923), S. 301.

83

Art. 427 des Friedensvertrags von Versailles.

3 Voegeli

34

A. Die Entstehung der ILO

verknüpft84 und das Internationale Arbeitsamt hatte seinen Sitz beim Völkerbund in Genf. Trotz ideeller und administrativer Bindung konnte sich die ILO in der Praxis weitgehende Handlungsfreiheit bewahren: "L'autonomie politique et fonctionnelle de l'OIT devint un principe coutumier et intangible".85 Seit 1946 besitzt die ILO den Status einer Sonderorganisation der UNO. Das Abkommen vom 30. Mai 1946 zwischen UNO und ILO definierte letztere als "institution specialisee investie de Ia responsabilite de prendre des mesures appropriees, aux termes de son instrument fondamental, pour l'accomplissement des objectifs prevus acet instrument". 86 Die ILO ist dem Wirtschafts- und Sozialrat zu regelmäßiger Berichterstattung verpflichtet. Die direkten Beziehungen zur UNO dienen der Koordination. 87 Die Präambel und die "Declaration of Philadelphia" der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) vom l 0. Mai 1944 - seit 1946 durch Art. l Abs. 1 Bestandteil der Verfassung - formulieren die Grundsätze der ILO: Arbeit ist keine Ware, gleiche Arbeit - gleicher Lohn, Meinungs- und Koalitionsfreiheit sind Voraussetzung für jeglichen Fortschritt, Armut gefahrdet den Wohlstand aller, die Verwirklichung dieser Ziele erfordert das gemeinsame Vorgehen von Regierungen und Berufsverbänden. Die Präambel der Satzung nennt soziale Gerechtigkeit als Basis des Weltfriedens. In diesem Rahmen setzt sich die ILO für die Regelung der Arbeitszeit und des Arbeitsmarktes, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, angemessenen Lohn, Ausbau der Sozialmaßnahmen sowie den Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen ein. Bis 1992 verabschiedete die Internationale Arbeitskonferenz 173 Konventionen und 180 Empfehlungen. 88 Heute kommt vor allem Menschenrechtsfragen vorrangige Bedeutung zu. Die ILO umfaßt drei Organe: Die Internationale Arbeitskonferenz, den Verwaltungsrat und das Internationale Arbeitsamt. Die Besonderheit der Struktur beruht auf der Beteiligung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen in allen drei Institutionen.

84

Eine Ausnahme bildete die Aufnahme Deutschlands und Österreichs 1919.

85

Ghebali, L'OIT, S. 39.

86 Zit. in: Valticos, Droit international du Travail, S. 91. Vgl. auch Tortora, Manuela: Institution specialisee et organisation mondiale. Etude des relations de L'OIT avec Ia SDN et L'ONU, Brüßel 1980. 87 Sie bestehen in der gegenseitigen Vertretung bei den Konferenzen, wechselseitigen Konsultationen und Empfehlungen, Informations- und Dokumentationsaustausch und der Koordination in Personal und Verwaltung. Vgl. Verdross/Simma, S. 179.

88

Vgl. BIT Dok. 9014a. Stand Oktober 1992.

III. Die kanalisierte Revolution

35

Die Internationale Arbeitskonferenz89 umfaßt die Vertreter aller 161 Mitgliedstaaten.90 Jedes Mitglied entsendet zwei Vertreter der Regierung und je einen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Jeder Delegierte kann pro Traktandum zwei technische Berater beiziehen. Die Mitgliedstaaten bestimmen die Vertreter der Sozialpartner mit dem Einverständnis der maßgeblichen nationalen Berufsorganisationen. Deren Delegierte erhalten nur dann das Stimmrecht, wenn auch der Vertreter der jeweils anderen Interessengruppe anwesend ist.91 Die Regierungsvertreter besitzen immer das Stimmrecht, sofern ihre Regierungen mit den Zahlungen nicht mehr als zwei Jahre in Verzug sind. Die Internationale Arbeitskonferenz trifft Beschlüsse durch eine Zweidrittelmehrheit. Die Delegierten sind nicht weisungsgebunden. Die Konferenz ist das höchste Organ der ILO und wird verschiedentlich als "Organe ltSgislatif'92 bezeichnet, ohne allerdings die Kompetenzen eines supranationalen Parlamentes zu besitzen. Ihre Kompetenz erstreckt sich auf die Ausarbeitung, Annahme und Kontrolle der Konventionen, Aufna.'lme von Neumitgliedern und die Annahme des Budgets. Verabschiedete Konventionen müssen für ihre Gültigkeit von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Die Konferenz tritt bei gegebenem Anlaß, zumindest aber einmal jährlich .wsammen. Art. 38 gesteht ihr die Einberufung regionaler Konferenzen oder die Schaffung regionaler Einrichtungen zu. Der Verwaltungsrat93 besteht zur Zeit aus 56 Mitgliedern. 28 davon sind Regierungsvertreter, je 14 stammen von seiten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter.94 Die wichtigsten Industrieländer stellen zehn der Regierungsvertreter. In die Zuständigkeit des Verwaltungsrates fallen die Aufsicht über die gesamte Verwaltungstätigkeit, die vorbereitenden Arbeiten einer Session, die Ausführung der Konferenzbeschlüsse und die Fixierung der Tagesordnung der Internationalen Arbeitskonferenz. Der Verwaltungsrat koordiniert sämtliche Aktivitäten der ILO, prüft Budget und Programme und bestimmt die Politik der 89 Vgl. Art. 3, 4, 5, 19 der Verfaßung. Vgl. auch Geschäftsordnung der Internationalen Arbeitskonferenz.

90 91

Stand Oktober 1992.

Die Delegationen sind meist vollständig. 1982 beispielsweise erschienen 93% der Delegationen vollständig, bei 5% fehlten die Vertreter beider Berufsverbände, bei 2% der Arbeitnehmervertreter. Vgl. Valticos, Droit international du Travail, S . 206.

92

Vgl. Valticos, Droit international du Travail, S. 205.

93 Vgl. Art. 7 der ILO-Verfaßung.

94 Die Zahl der Verwaltungsräte erhöhte sich seit der Gründung der ILO ständig, von 24 ( 1919) auf 32 (1934), 40 (1956), 48 (1963), 56 (1975) bis auf 112 (1986). Diese letzte Verfaßungsänderung ist allerdings noch nicht in Kraft.

A. Die Entstehung der ILO

36

technischen Zusammenarbeit. Im weiteren unterliegen ihm die Kontrolle des Internationalen Arbeitsamtes und die Wahl des Generaldirektors. Er setzt die verschiedenen Kommissionen ein, prüft ihre Berichte und entscheidet über weitere Maßnahmen. In Analogie zur Internationalen Konferenz als "Legislative" entspricht der Verwaltungsrat der Exekutive. An der Spitze des Internationalen Arbeitsamtes (IAA)95 steht der Generaldirektor. Er bestimmt sein Personal unter Berücksichtigung der verschiedenen Nationalitäten. Generaldirektor und Personal dürfen von Behörden außerhalb der ILO weder Weisungen empfangen noch einholen. Das Amt ist mehr als das permanente Sekretariat der ILO, seine Tätigkeit ist eher mit einem Ministerium vergleichbar. 96 Seine rund 1800 Angestellten in der Zentrale in Genf beschäftigen sich mit Forschung, Beratung, Durchführung technischer Hilfe und der Vorbereitung der Übereinkommen und Empfehlungen.97 Neben diesen drei Hauptorganen bestehen sogenannte Regionalkonferenzen für Asien, Europa, Afrika und Europa. Sie haben nur beratende Funktion. Für die wichtigsten Wirtschafts- und Beschäftigungszweige bestehen sogenannte lndustrieausschüsse. Regionalkonferenzen und Industrieausschüsse sind dreigliedrig besetzt, mit Ausnahme des Ausschusses für Seeschiffahrt, der nur aus Arbeitgebern und Arbeitnehmen besteht.98

95 An. 8, 9, 10 der Verfaßung. Das Internationale Arbeitsamt ist beßer unter der Bezeichnung "Bureau International du Travail" (BIT) bekannt. Vgl. Leary, The International Labour Organisation, s. 613-616. 96

Vgl. auch Haase, Zur Bedeutung der IAO-Übereinkomrnen, S. 240.

Weltweit sind es rund 2500 Angestellte. Vgl. Haase, 40 Jahre in der IAO, S. 302. Art. 10 der ILOVerfaßung umschreibt die Aufgaben des Internationalen Arbeitsamtes im wesentlichen in Abs. I und 2: "I. Die Aufgaben des Internationalen Arbeitsamtes umfaßen die Sammlung und Weiterleitung von Mitteilungen über alle Fragen, die ftir die internationale Regelung der Lebens- und Arbeitsverhältniße der Arbeitnehmer Bedeutung haben, und insbesondere die Bearbeitung von Fragen, die der Konferenz zum Zwecke des Abschlußes internationaler Übereinkommen unterbreitet werden sollten, sowie die Durchflihrung aller von der Konferenz oder dem Verwaltungsrat angeordneten Sonderuntersuchungen. 2. Vorbehaltlich der Richtlinien, die ihm der Verwaltungsrat geben kann, hat das Amt a) die Unterlagen zu den einzelnen Gegenständen der Tagesordnung der Tagungen der Konferenz vorzubereiten, b) den Regierungen auf Wunsch und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten jede geeignete Hilfe bei der Vorbereitung der Gesetzgebung auf Grund der Beschlüße der Konferenz und bei der Vervollkommnung der Verwaltungspraxis und der Aufsichtssysteme zu leisten[ ... ]." 97

98

Vgl. Muhr, Arbeitsrecht der Gegenwan, S. 93.

B. Die Kontrollverfahren der ILO "Ce n'est pas seulement Ia legalite qui engendre le contröle, mais c'est aussi le contröle qui permet de renforcer le contenu de Ia legalite. "99 Diese These könnte gleichsam als Leitbild für das differenzierte Kontrollsystem der ILO gelten. Rechtliche Grundlage bilden die Art. 19, 22 und 26 bis 34 der Verfassung. Im Zentrum steht eine permanente Kontrolle durch einen Sachverständigen- und einen Konferenzausschuß. Quantitativ weniger bedeutend sind die okkasionellen Kontrollverfahren, die nicht automatisch erfolgen. Es sind dies die "direkten Kontakte", Beschwerde und Klage sowie die Sonderverfahren zum Schutz der Gewerkschaftsrechte. Die Kontrolle betrifft grundsätzlich nur ratifizierte Konventionen. Jedem Mitgliedstaat steht es frei, einem Übereinkommen beizutreten. Staatliche Souveränität und Vertragsfreiheit bleiben somit gewahrt. Gleichsam in Anlehnung an die Idee eines Weltparlaments der Arbeit mit verbindlichen Mehrheitsentscheiden verlangt Art. 19 Abs. Sb aber zusätzlich, jede Konvention der ILO innerhalb eines Jahres den zuständigen nationalen Institutionen zur Genehmigung vorzulegen. Auch wenn eine Konvention nicht ratifiziert wird, ist jedes Mitgliedland verpflichtet, regelmäßig "über den Stand seiner Gesetzgebung und über seine Praxis bezüglich der Fragen zu berichten, die den Gegenstand des Übereinkommens bilden." 100 Die Legislative soll erfahren, was die Internationale Arbeitskonferenz beschlossen hat.

I. Die permanente Kontrolle Das wichtigste Kontrollverfahren ist in Art. 22 umschrieben und verlangt von jedem Mitgliedstaat einen periodischen Rechenschaftsbericht zu den ratifizierten Konventionen: "Jedes Mitglied verpflichtet sich, dem Internationalen Arbeitsamt jährlich einen Bericht über seine Maßnahmen zur Durchführung der Übereinkommen, denen es beigetreten ist, vorzulegen.

99

Merle, S. 416. Vgl. auch Haase, Zur Bedeutung der tAO-Übereinkommen, S. 241.

100

Vgl. Art. 19 Abs. Se. Diese Bestimmung wurde 1946 eingeführt.

B. Die Kontrollverfahren der ILO

38

Die Form dieser Berichte bestimmt der Verwaltungsrat; sie haben die von ihm geforderten Einzelheiten zu enthalten." lOt

Die Bestimmung enthält auf den ersten Blick bescheidene Auflagen. Diese Meinung vertraten wohl auch die Autoren der Verfassung. 102 Art. 22 passierte die "Commission on International Labour Legislation" diskussionslos 103 ; die Pflicht periodischer Berichterstattung entsprach auch völlig dem gängigen Muster internationaler Kontrolle. 104 Erst durch die Praxis der ILO kam diesen Rechenschaftsberichten eine besondere Bedeutung zu. Der Verwaltungsrat entwirft seit 1921 für jede Konvention einen speziellen Fragenkatalog. Er stützt sich dabei seit 1927 auf einen Sachverständigen- und einen Konferenzausschuß, denen die Prüfung der Rechenschaftsberichte obliegt. Die Fragebogen enthalten zum einen sechs allgemeine Fragen, die für alle Konventionen identisch sind. Die Signatarstaaten haben alle gesetzlichen und administrativen Bestimmungen zur Durchsetzung der ratifizierten Konvention sowie alle relevanten Gerichtsurteile vorzulegen. Gleichzeitig werden die Berufsorganisationen zu einer Stellungnahme aufgefordert. Daneben bestehen für jede Konvention spezifische Fragen, oft zu jedem einzelnen Artikel. 105 101 In der ursprünglichen Verfassung von 1919 enthielt Art. 22 noch folgenden Schlußsatz: "Der Generaldirektor legt der nächstfolgenden Tagung der Konferenz eine Zusammenfassung dieser Berichte vor." Bei der Verfassungsrevision 1946 wurde diese Bestimmung durch einen neuen Art. 23 ersetzt: "1. Der Generaldirektor legt der nächstfolgenden Tagung der Konferenz einen zusammenfassenden Auszug aus den ihm von den Mitgliedern nach den Art. 19 und 22 übermittelten Auskünften und Berichten vor. 2. Jedes Mitglied stellt den für die Zwecke von Art. 3 als maßgebend anerkannten Verbänden eine Abschrift der dem Generaldirektor nach den Art. 19 und 22 übermittelten Auskünfte und Berichte zu." 102

Vgl. Zarras, S. 198.

Einzig in der englischen Fassung nahm die "Comrnission on International Labour Legislation" eine formale Korrektur vor. Sie ersetzte den Begriff "direct" durch den Ausdruck "request". Der entsprechende Satz lautete daraufhin: "These reports shall be made in such form and shall contain such particulars as the Governing Body may request." In: Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 181; Bd. I, S. 164; Bulletin officiel1 (1923), S. 54. 103

104

Vgl. oben S. 17-36.

Als Beispiel ist der Fragebogen zur Konvention 111 im Anhang S. 198 abgedruckt. Änderungen im Laufe der Jahrzehnte betrafen fast ausnahmslos die allgerneinen Fragen, wie K. T. Samson, früherer "Coordinator for human rights questions" beim Internationalen Arbeitsamt, in einem Brief vom 24. Juni 1988 an den Verfasser bestätigte: "Die Änderungen im Laufe der Jahre waren meistens in den allgerneinen Fragen am Anfang und am Ende der Fragebogen, und nur selten sind die Einzelfragen zu bestimmten Bestimmungen abgeändert worden [ .. .]. Beispiele solcher Änderungen waren die Einfügung der Frage über die Wirkung der Ratifikation und die Erweiterung der Fragen über eventuelle Bemerkungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen." 105

I. Die permanente Kontrolle

39

1927 hatte der Sachverständigenausschuß 180 Rechenschaftsberichte von 26 Staaten zu überprüfen; 1992 waren es 1824 Rapporte von 163 Staaten. 106 Diese wachsende Flut von Berichten bewog den Verwaltungsrat dreimal zu einer Reduzierung der Verpflichtung, "jährlich einen Bericht [ ... ] vorzulegen". 107 Eine erste Modifikation von 1959 verlangte grundsätzlich nur noch alle zwei Jahre einen Rechenschaftsbericht. Für neu ratifizierte Konventionen behielt die Einjahresklausel allerdings Gültigkeit; das gleiche galt, wenn die Kontrollorgane gravierende Vertragsverletzungen einer Regierung bemängelten. Aufgrund der abrupt steigenden Mitgliederzahl Ende der sechziger Jahre, als Folge der Dekolonisierung Afrikas, erfolgte 1976 eine zweite Vereinfachung. Demnach sind Rechenschaftsberichte im ersten Jahr nach der Ratifikation, danach dreimal im Intervall von zwei Jahren und schließlich in Abständen von vier Jahren vorzulegen. Für Konventionen von grundlegender Bedeutung108 blieb der Zweijahresrhythmus beibehalten. Eine Verkürzung der Fristen liegt in der Kompetenz des Verwaltungsrates, namentlich bei schwerwiegenden Mängeln, unregelmäßiger Berichterstattung oder nach gewichtigen Bemerkungen von Berufsorganisationen. Die Modifikation von 1979 betraf die Berichtspflicht zu Konventionen, welche dieselbe Materie regeln. Der Verwaltungsrat verlangt in diesem Fall nur noch einen Rapport über das jüngste Übereinkommen. 109 Neben zeitlich weniger strengen Auflagen besteht heute auch eine Vereinfachung bei der Beantwortung der Fragen. Nur im ersten Rechenschaftsbericht sind alle Fragen zu beantworten. Bei den folgenden Rapporten können sich die Mitgliedstaaten auf die konkrete Anwendung, die Darstellung neuer Gesetzesvorschriften und die Antwort auf Bemerkungen der Kontrollorgane beschränken. 110 106 Vgl. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 73 (1987), Para. 9; 80 (1993), Para. 13, 83.

107 Vgl. Samson, Le systeme de conteöle de I'OIT, S. 606/607; Ghebali, L'OIT, S. 269/270; Valticos, L'evolution du systeme de contröle, S. 509; Klotz, S. 413; Fried, S. 198; Valticos, Droit international du Travail, S. 571.

108 Es handelt sich um die Konventionen betreffend Gewerkschaftsfreiheiten {Nr. 11 , 84, 87, 98, 135, 141), Zwangsarbeit {Nr. 29, 105), Diskriminierung {Nr. 100, 111), Politik und Beschäftigung {Nr. 112), Wanderarbeiter (Nr. 97, 143), Gewerbeaufsicht {Nr. 81, 85, 129), dreigliedrige Beratungen zur Durchsetzung der Konventionen {Nr. 144). Vgl. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations (1977), S. 17. 109 Vgl. Manuel sur les procedures en matiere de conventions et recommandations internationales du Travail, Para. 36-45. 110 Im November 1993 beschloß der Verwaltungsrat eine weitere Reduktion der Berichtspflichten, die in ftinf Jahren überprüft werden sollen. Im einzelnen sollen nicht mehr die ersten drei, sondern nur noch die ersten zwei Rapporte einer neu ratifizierten Konvention im Zweijahresrhythmus verlangt werden. Die Zahl der grundlegenden Konventionen, für die ständig ein Zweijahresrhythmus verlangt wird, wurde von 20 auf 10 reduziert. Der Vieljahresrhythmus für

40

B. Die Kontrollverfahren der ILO

Bis 1925 fanden Rechenschaftsberichte bei der Internationalen Arbeitskonferenz wenig Beachtung; sie enthielten auch nur rudimentäre Informationen.t 11 Die Konferenz interessierte sich primär für die Anzahl der Ratifikationen. Mit der Zunahme der Konventionen stieg auch das Interesse an ihrer tatsächlichen Anwendung, gleichzeitig reifte die Erkenntnis, daß die Internationale Arbeitskonferenz mit einer gründlichen Prüfung der Rechenschaftsberichte überfordert war. 1925 empfahl deshalb der irische Regierungsvertreter die Einsetzung einer Spezialkommission, "qui examinera la valeur et le fond des rapports, presentes conformement a l'article 22". 112 Nach einem langwierigen Verfahren beschloß die Internationale Arbeitskonferenz auf Initiative der britischen Regierungsvertreter, die Kontrolle je einem Ausschuß der Konferenz und unabhängiger Sachverständigen zu übertragen. 1. Der Sachverständigenausschuß w

Die Kontrolle der Rechenschaftsberichte unterliegt seit 1927 in einem zweistufigen Verfahren einem Sachverständigen- und einem Konferenzausschuß. Ersteren definierte die Internationale Arbeitskonferenz in einer Resolution von 1926 als "une Commission technique de six a huit membres ayant pour mission d'utiliser ces renseignements de Ia fa~on Ia meilleure et Ia plus complete et d'obtenir telles donn~s prevues dans les formulaires approuves par Je Conseil d'administration et qui pourraient paraltre necessaires pour completer les informations deja Cournies [ ... ]". 114

Nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte der Verwaltungsrat das Mandat des SachverständigenausschuBes und umschrieb es 1947 in der heute noch gültigen Form. Seither obliegt dem Sachverständigenausschuß nicht nur die Kontrolle der ratifizierten Übereinkommen nach Art. 22, sondern auch die Prüfung der alle übrigen Übereinkommen wurde auf fünf Jahre erhöht. Auf einen allgemeinen jährlichen Bericht in jenen Jahren, in denen kein spezieller Rapport verlangt wird, wurde verzichtet. Der Sachverständigenausschuß soll nicht mehr im März, sondern bereits im Dezember tagen. Vgl. Rapport de Ia commission des questions juridiques et des norrnes internationales du travail, GB 258/6/19, Para. 8-40. Die Auswirkungen dieser Änderungen sind noch nicht absehbar und flir die Darstellung der Kontrollverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ohne Belang. Deshalb werden sie hier nicht weiter behandelt. 111

Vgl. Zarras, S. 157.

112

Zit. in: Zarras, S. 158.

Vgl. insbesondere die Berichte des Sachverständigenausschusses zu ihrem fünfzig- und sechzigjährigen Bestehen: Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 63 (1977), S. 11-18; 73 (1987), S. 8-22. 113

114

Zit. in: Zarras, S. 159/160.

I. Die permanente Kontrolle

41

Rechenschaftsberichte über nicht ratifizierte Übereinkommen und Empfehlungen: "La Commission est appelee a examiner:

i) !es rapports annuels prevus par l'article 22 de Ia Constitution et portant sur !es mesures prises par !es Membres afin de donner effet aux dispositions des conventions auxquelles ils sont parlies, ainsi que !es informations foumies par !es Membres concemant !es resultats des inspections; ii) !es informations et rapports concemant !es conventions et recommandations communiques par !es Membres, conformement a l'article 19 de Ia Constitution [ ... ]. " 115

Maßgebend für das Selbstverständnis des SachverständigenausschuBes sind die unverrückbaren Prinzipien einer absoluten Objektivität und Unabhängigkeit: "La Commission n!affirme que son travail n'a de valeur que dans Ia mesure ou eile demeure fidele asa tradition d'independance, d'objectivite et d'impartialite [ ... )." 116 Praktisch jedes Jahr bekräftigte der Sachverständigenausschuß dieses Axiom mit immer derselben Redewendung. 117 Die Pflichten aller Signatarstaaten einer Konvention sind absolut identisch; der Sachverständigenausschuß beschrieb seine Aufgabe als "a determiner si les prescriptions d'une convention donnee sont remplies, quelles que soient les conditions economiques et sociales existant dans un pays donne. Ces prescriptions demeurent constantes et uniformes pour tous les pays [ ... )." 118 Dieser Grundsatz stieß während des Kalten Krieges regelmäßig auf massive Kritik seitens der Ostblockstaateil und der Dritte-Welt-Staaten.' 19 Der Sachverständigenausschuß verwies in solchen Fällen auf Art. 19 Abs. 3 der ILO-Verfassung, der bei der Redaktion einer Konvention Sonderklauseln für solche Staaten vorsieht, "in denen das Klima,

115 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 73 (1987), Para. 17. 116 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 73 (1987), Para. 19. 117 In den Berichten des Ausschusses heißt es jeweils: "[ ... ]Ia commission a suivi les principes d'independance, d'objectivite et d'impartialite qu'elle avait deja signales dans de precedents rapports." Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 79 (1992), Para. 6. Vgl. auch Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 66 (1980), Para. 8; 67 (1981), Para. 7; 68 (1982), Para. 8; 69 (1983), Para. 8; 70 (1984), Para. 6; 71 (1985), Para. 7; 72 (1986), Para. 8; 73 (1987) Para 19; 75 (1988), Para. 9; 76 (1989), Para. 7; 77 (1990), Para. 6; 78 (1991), Para. 12. 118 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 63 (1977), Para. 31; vgl. auch Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 73 (1987), Para. 20; 78 (1991), Para. 12. 119

Vgl. unten S. 74-80.

42

B. Die Kontrollverfahren der ILO

die unvollkommene Entwicklung der wirtschaftlichen Organisation oder andere besondere Umstände die Wirtschaft wesentlich abweichend gestalten". 120 Der Sachverständigenausschuß entfaltet heute eine bedeutende interpretative Tätigkeit bei der Kontrolle der ILO-Übereinkommen. Dies, obwohl eine verbindliche Auslegung der Konventionen nach Art. 37 der ILO-Verfassung allein dem Internationalen Gerichtshof oder einem Gericht der ILO zukommt121 und die beratende Kommission 1926 ausdrücklich festgehalten hatte: "La Commission d'experts [ ... ] ne serait pas competente pour donner des interpretations des dispositions des conventions ni pour se prononcer en faveur d'une interpretation plutöt que d'une autre [ ... ]. Les fonctions de cette Commission seraient entierement d'ordre technique et d'aucune fa~on d'ordre judiciaire."122 Der Sachverständigenausschuß bezeichnete wiederholt eine Interpretation der Übereinkommen als legitim und notwendig zur Erfüllung seiner Aufgabe. Seine Auslegung sei so lange verbindlich, als der IGH keine andere Auslegung eines Übereinkommens vornehme: "[ ... ] pour remplir sa fonction qui consiste a determiner si les prescriptions d'une convention donnee sont respectees, Ia commission se doit d'examiner Je contenu et Ia signification des dispositions de ladite convention, d'en determiner Ia portee juridique et, Je cas echeant, d'exprimer ses vues a ce sujet. II apparait donc a Ia commission que, tant que ces vues ne sont pas contredites par Ia Cour internationale de Justice, elles sont reputees valableset conununement admises." 123

120 Der Sachverständigen Ausschuß betonte auch, "[ ... ]les organes de controle tiennent toujours compte des difficultes rencontrees, par exemple du fait des catastrophes naturelles ou meme de problemes economiques generaux. Ils ont egalement insiste, a diverses reprises, sur I'importance que peut avoir l'assistance de I'OIT pour surmonter ces difficultes." Rapport de Ia Cornmission d'experts pour I'application des conventions et recommandations 73 (1987), Para. 24. Zahlreiche Übereinkommen enthalten auch sog. Aexibilitätsklauseln, die eine teilweise Verwirklichung erlauben, andere Konventionen enthalten sog. promotionelle Normen, die eine etappenweise Verwirklichung erlauben. Global ratifizierbare Verträge ermöglichen manchmal auch die Einschränkung des Geltungsbereiches auf einzelne Wirtschaftszweige. Vgl. Kröner-Moosrnann, S. 38. 121 Art. 37 besagt: "I. Alle Frageu oder Schwierigkeiten in der Auslegung dieser Verfassung oder der später von den Mitgliedern nach dieser Verfassung abgeschlossenen Übereinkommen werden dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. 2. Ungeachtet der Bestimmungen von Absatz 1 dieses Artikels kann der Verwaltungsrat Regeln aufstellen und der Konferenz zur Genehmigung unterbreiten für die Errichtung eines Gerichts zur raschen Erledigung von Fragen oder Schwierigkeiten, die sich aus der Auslegung eines Uebereinkomrnens ergeben[ ... ]. Für jedes[ ...] Gericht sind die Urteile und Gutachten des Internationalen Gerichtshofes bindend." 122 Conference internationale du Travail, 8° session, Genf 1926, S. 405. 123 Rapport de Ia Commission d'experts pour I'application des conventions et reconunanda-

tions, 77 (1990), Para. 7. Vgl. auch Rapport de Ia Commission d'experts pour 1'application des conventions et recommandations 63 ( 1977), Para. 32; 73 ( 1987), Para. 21, 78 ( 1991 ), Para. 12.

I. Die permanente Kontrolle

43

Der Sachverständigenausschuß bestand ursprünglich aus acht Mitgliedern, inzwischen hat sich die Zahl sukzessive auf 20 erhöht. Im Sinne des Grundsatzes der Objektivität und Unparteilichkeit erfolgt die Nomination der Experten "a titre personnel" durch den Verwaltungsrat auf Vorschlag des Generaldirektors und nicht etwa durch die Regierungen. Es handelt sich meist um bekannte Professoren, Richter oder ehemalige Diplomaten. Ihre Amtsdauer beträgt drei Jahre, eine Wiederwahl ist möglich und im Sinne der Kontinuität sogar erwünscht. Als Arbeitsgrundlage dienen die periodischen Rechenschaftsberichte der Mitgliedstaaten sowie Bemerkungen der Berufsverbände nach Art. 23 Abs. 2. Bedeutsam ist die Kontrolle der wichtigsten Gerichtsurteile, die einen signifikanten Einblick in die Praxis erlaubt. Die Kontrolle stützt sich praktisch ausschließlich auf schriftliche Materialien; die Vorschläge von 1946/47, das Verfahren durch einen Augenschein an Ort und Stelle oder eine direkte Berichterstattung nationaler Überwachungsorgane zu ergänzen, ließen sich aus Rücksicht auf die nationale Souveränität nicht durchsetzen.124 Die Kommission tritt einmal jährlich im März zusammen und tagt unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Jedes Mitglied überprüft eine gewisse Anzahl Konventionen. Entscheidungen trifft das Plenum nach dem Mehrheitsprinzip, in der Regel erfolgen sie einstimmig. In seinem Schlußbericht125 hält der Sachverständigenausschuß Fortschritte oder Vertragsverletzungen fest, kommentiert sie, verlangt weitere Auskünfte oder empfiehlt Änderungen. Seit 1957 unterscheidet der Sachverständigenausschuß zwischen "Bemerkungen" (Observations) und "direkten Anfragen" (demandes directes)} 26 Geringfügige Divergenzen oder technische Fragen haben eine Rückfrage direkt an die betroffene Regierung zur Folge. Solche "direkten Anfragen" entwickelten sich bald zu einem Instrument eines Dialoges} 27 Schwerwiegende und wiederholte Mängel, die von den Regierungen nicht korrigiert werden, erscheinen als "Bemerkungen" im Bericht des Sachverständigenausschusses. Ihre Publikation ist als moralische Sanktion ohne unmittelbare Rechtsfolgen gedacht. Ihre Häufigkeit, rund 1500 Bemerkungen pro Jahr128 , beraubt sie teilweise dieser Wirkung.

124 Vgl. Valticos, L'inspection internationale, S. 379, S. 382 Anm. 151; Charpentier, S. 212; Fried, S. 20 I. 125 Es handelt sich um den "Rapport de Ia Commission d'experts pour I'application des conventions et recommandations". 126 Vgl. Ghebali, L'OIT, S. 2721273; Klotz, S. 413; Valticos, L'evolution du systeme de controle, S. 509; Beitzke, S. 150/151. 127

Vgl. Ghebali, L'OIT, S. 273.

Diese Zahl entspricht dem Durchschnitt von 1982 bis 1992. 1992 waren es 1825 Bemerkungen, wie aus einer internen Aufstellung des Internationalen Arbeitsamtes hervorgeht. 128

44

B. Die Kontrollverfahren der ILO

Nach eigenen Angaben erhielt der Sachverständigenausschuß in den achtziger Jahren 86% der verlangten Berichte, aber nur 12% trafen in der gesetzten Frist bis zum 15. Oktober in Genf ein. Insgesamt 77% der Rapporte lagen dem Sachverständigenausschuß erst bei Tagungsbeginn vor. 129 Der Sachverständigenausschuß beklagt deshalb regelmäßig eine Beeinträchtigung der Kontrolle.130 Vor allem die aufwendigen Berichte über neu ratifizierte Konventionen und Antworten auf Kommentare der Experten ließen auf sich warten. Mit Besorgnis konstatierte der Ausschuß 1992, daß immer mehr Staaten überhaupt nicht oder nur unvollständig auf Bemerkungen des Ausschusses reagierten. 131 Die mangelnde Pünktlichkeit verzögere die Kontrolle lediglich, ohne sie aber qualitativ zu beeinträchtigen, glauben Andre Zenger, Leiter der Abteilung für die Normenanwendung, und Klaus T. Samson, der während 31 Jahren für das Internationale Arbeitsamt tätig war. 132

2. Der Konferenzausschuß- "Court of Honour" Das Mandat des Konferenzausschusses unterscheidet sich nicht von der Aufgabe der Sachverständigen. 133 Strukturell und funktionell handelt es sich aber um ein komplementäres Kontrollorgan. Der Konferenzausschuß bildet ein Gesprächsforum, wo sich die Regierungsvertreter den Berufsorganisationen stellen, obwohl dazu keine rechtliche Verpflichtung besteht. Die Kommission 129 Vgl. Rapport de Ja Commission d'experts pour J'application des conventions et recommandations 79 (1992), S. 556/557. 130 "[ .. .]Ia commission s'est vue cantrainte ces demieres annees de renvoyer a sa session suivante J'examen d'un nombre croissant de rapports car leur etude n'aurait pas pu etre effectuee avec Je soin requis en raison du manque de temps [ ... ]. La commission constate avec preoccupation que cette pratique perturbe Je fonctionnement regulier du systeme de contröle et contribue a J'alourdir." Rapport de Ja Commission d'experts pour J'application des conventions et recommandations 79 (1992), Para. 114, 116; vgl. auch Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 68 (1982), Para. 74-76; 69 (1983), Para. 108-110; 70 (1984), Para. 102-104; 71 (1985), Para. 98-100; 72 (1986), Para. 123-126; 73 (1987), Para. 126128; 75 (1988), Para. 93-95; 76 (1989), Para. 82-84; 77 (1990), Para. 80-83; 78 (1991), Para. 8588. 131 Rapport de Ja Commission d'experts pour J'application des conventions et recommandations 79 (1992), Para. 114, 119, 120. Vgl. auch Rapport de Ja Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 68 (1982), Para. 75, 79; 69 (1983), Para. 109, 113; 70 (1984), Para. 103, 107; 71 (1985), Para. 99, 103; 72 (1986), Para. 125, 129; 73 (1987), Para. 127, 131, 132; 75 (1988), Para. 94, 98, 99; 76 (1989), Para. 87, 88; 77 (1990), Para. 81, 86, 87; 78 (1991), Para. 86, 91, 92.

132 Gespräch mit Andre Zenger vom 19.2.1992 und mit K.T. Samson am 16.7.1986 in Genf. 133 Vgl. Art. 7 der Geschäftsordnung der Internationalen Arbeitskonferenz.

I. Die permanente Kontrolle

45

übt eine politische Kontrolle aus; sie sieht sich selbst als "Court of Honour", als "Conscience of the Conference" 134 , allerdings ohne jede gerichtliche Autorität. Der Konferenzausschuß setzt sich aus Vertretern der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der Regierungen zusammen. Jede dieser drei Interessengruppen bestimmt ihre Vertreter aus ihren Reihen nach den anstehenden Sachgebieten. Ihre Zahl ist nicht festgelegt. Im Verlaufe der Session ändert ihre Zusammensetzung täglich. Bei einer Abstimmung erhält jede der drei Interessengruppen gemäß Art. 65 der Geschäftsordnung der Internationalen Konferenz die gleiche Anzahl Stimmen zugeteilt. Als Arbeitsgrundlage dient dem Konferenzausschuß der Bericht der Sachverständigen. Daraus wählt die Kommission seit 1955 die wichtigsten Problemfälle zur Diskussion aus. 135 Die Debatten werden sehr engagiert geführt, und die Regierungsvertreter sehen sich dabei oft einem starken Druck ausgesetzt, werden sie doch mit ihren Regierungen identifiziert. Gewisse Delegierte sollen in unangenehmen Fällen deshalb sogar ihre vorgesetzten Minister aufgefordert haben, den Standpunkt der Regierung persönlich vor der Kommission zu vertreten. 136 Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entsprach es einer ständigen Übung des Konferenzausschusses, als Sanktion säumige Staaten explizit im Schlußbericht zu erwähnen. 137 Auf Druck der Berufsorganisationen beschloß der Konferenzausschuß 1957, seinem Bericht eine Spezialliste beizufügen, welche die schwersten Verfehlungen und Versäumnisse der Mitgliedstaaten enthielt. Sieben alternativ geltende Kriterien bestimmten eine Erwähnung auf der Liste, beispielsweise eine unvollständige Berichterstattung, die wiederholte Weigerung, dem Konferenzausschuß Red und Antwort zu stehen oder das dreimalige Versäumnis, die periodischen Rechenschaftsberichte den Berufsorganisationen zur Stellungnahme vorzulegen. Als schärfste Sanktion galt die Erwähnung in der sogenannten schwarzen Liste, die als siebtes Kriterium die schwersten Verfehlungen zusammenfaßte. 138

134

Landy, The Effectiveness of International Supervision, S. 37/38.

In den Anfangsjahren hatte die Kommission sämtliche Berichte neu geprüft. Vgl. Valticos, Droit international du Travail, S. 591; Zarras, Anrn. I, S. 180. 135

136

Gemäß mündlichen Aussagen von K.T. Samson vom 16.7.1986 gegenüber dem Verfasser.

Vgl. Les Norrnes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference internationale du Travail, 70" session, Genf 1984, S. 36-40; Klotz, S. 414/415; Ghebali, L'OIT, S. 271, 276-278; Beitzke, S. 150/151; Oe Vries Reilingh, Problems with the supervisory machine, S. 167-173; Kröner-Moosmann, S. 38-42. 137

138 Vgl. Les NormesInternationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference internationale du Travail, 70" session, Genf 1984, S. 73 Anm. 30; Valticos, Droit international du Travail, S. 591; Ghebali, L'OIT, S. 271; Kröner-Moosmann S. 39/40.

B. Die Kontrollverfahren der ILO

46

Seit 1980 werden die sieben Kriterien nicht mehr in einer Liste zusammengefaSt, sondern als Sonderparagraphen in verschiedenen Teilen des Schlußberichtes erwähnt. "Es handelte sich hauptsächlich um eine kosmetische oder psychologische Änderung, besonders für die Entwicklungsländer, die überwiegend von den 'objektiven' Kriterien 1 bis 6 erfaßt werden." 139 Vor allem die Ostblockstaaten, aber auch die Dritte-Welt-Länder hatten jahrzehntelang die Spezialliste, insbesondere die schwarze Liste, kritisiert.140 Vom Internationalen Arbeitsamt und in der Literatur wird die Bedeutung dieser Spezialliste immer wieder hervorgehoben: "Cette Iiste n'en a pas moins ete consideree par les gouvernements interesses comme une sorte de sanction morale et l'inscription sur cette Iiste a donne souvent a des vifs debats. Les gouvernements qui y ont figure ont generalement fait un effort pour rectifier Ia situation qui avait donne lieu sur cette inscription." 141 3. Die Rolle der Berufsorganisationen

Den Berufsorganisationen fallt im Kontrollsystem der ILO eine entscheidende Rolle zu. Für den Sachverständigenausschuß bedeuten die Berufsorganisationen gleichsam die "Augen der ILO". Dank ihren fundierten Kenntnissen und ihrem politischen Engagement bilden sie die aktive Kraft des Konferenzausschusses, im Gegensatz zu den traditionell zurückhaltenden Regierungsvertretern: "The persistent intervention of their spokesmen provides its [the Conference Committee's, der Verf.] greatest force of strength." 142 Bereits 1931 hatte der Verwaltungsrat an die Regierungen appelliert, ihre Rechenschaftsberichte den eigenen nationalen Berufsorganisationen zur Stellungnahme vorzulegen. Seit 1946 verpflichtet Art. 23 Abs. 2 der ILOVerfassung die Regierungen, ihre Rechenschaftsberichte den Berufsorgani-

139

K.T. Sarnson in einem Schreiben vom 22.11.1988 an den Verfasser.

140

Vgl. unten S. 74-80.

Valticos, Droit international du Travail, S. 391. Nicolas Valticos war Vizedirektor des Internationalen Arbeitsamtes und hat sich in zahlreichen Studien mit dieser Thematik beschäftigt. Vgl. Bibliographie, S. 176/177; vgl. auch Kröner-Moosmann, S. 40; Landy, L'influence des normes internationales. S. 5821583; Bureau International du Travail: L'impact des conventions et recommandations internationales du Travail, Genf 1976, S. 57; Leary, The International Labour Organisation, S. 600. 141

142 Landy, S. 196; vgl. auch Valticos, Droit international du Travail, S. 630, Ghebali, L'OIT, S. 275/276.

I. Die permanente Kontrolle

47

sationen ihres Landes vorzulegen. 143 Im Fragenkatalog für die Rechenschaftsberichte fordert das Internationale Arbeitsamt die Regierungen auf, mögliche Bemerkungen der Berufsverbände den Berichten beizufügen. 144 Die Regierungen erfüllen diese Auflagen diszipliniert, der Sachverständigenausschuß fand kaum je zu Ermahnungen Anlaß. 145 Öfters versehen die Regierungen die Bemerkungen mit eigenen Kommentaren, zahlreiche Berufsorganisationen senden ihre Bemerkungen allerdings direkt an das Internationale Arbeitsamt. 146 Diese informelle Beschwerdemöglichkeit ist bei den Berufsorganisationen außerordentlich beliebt. Die ILO hat sich seit den siebziger Jahren mit Erfolg um die Berufsorganisationen bemüht. Erhielten die Kontrollorgane 1960 bis 1969 durchschnittlich acht Bemerkungen, so stieg diese Zahl in den siebziger Jahren auf 40 und erreichte 1980 bis 1989 einen Durchschnittswert von 124 pro Jahr.' 47 Die Anzahl Bemerkungen wuchs beinahe jedes Jahr und erreichte 1992 eine vorläufige Rekordhöhe von 201.'48 Rund zwei Drittel der Bemerkungen stammen jeweils von den Arbeitnehmerorganisationen.149

143 Art. 23 Abs. 2 lautet: "Jedes Mitglied stellt den für die Zwecke von Art. 3 als maßgebend anerkannten Verbänden eine Abschrift der dem Generaldirektor nach den Art. 19 und 22 übermittelten Auskünfte und Berichte zu." 144 Frage 6 im allgemeinen Teil der Rechenschaftsberichte verlangt jeweils: "Priere d'indiquer si vous avez re~u des organisations des employeurs et des travailleurs interessees des observations quelconques, soit de caractere general, soit a propos du present rapport ou du rapport precedent, sur l'application pratique des dispositions de Ia convention ou sur l'application des mesures legislatives ou autres faisant porter effet aux dispositions de Ia convention. Dans l'affinnative, priere de communiquer ces observations, en y joignant telles remarques que vousjugerez utiles." Vgl. Anhang, S. 199-204. 145 Vgl. z.B. Rapport de Ia Corninission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 75 (1988), Para. 77; 76 (1989), Para. 66; 77 (1990), Para. 63; 78 (1991), Para. 71; 79 (1992), Para. 97. 146 1992 gingen beispielsweise 103 von 234 Bemerkungen direkt an das Internationale Arbeitsamt. Vgl. Rapport de Ia Corninission d'experts pour I'application des conventions et recommandations 80(1993), Para. 75, 77. 147 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 66 (1980), Para. 54; 67 (1981), Para. 63; 68 (1982), Para. 60; 69 (1983), Para. 90; 70 (1984), Para. 86; 71 (1985), Para. 81 ; 72 (1986), Para. IIO; 73 (1987), Para. li I; 75 (1988), Para. 79; 76 (1989), Para. 68; 77 (1990), Para. 65; 78 (1991), Para. 71 ; 79 (1992), Para. 99; 80 (1993), Para. 75. Vgl. auch Brief vom 16.8.1988 von K.T. Samson an den Verfasser.

148 Rapport de Ia Corninission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 80 (1993), Para. 75. Der größte Teil stammt allerdings aus den industrialisierten Ländern. Vgl. l..es Normes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference internationale du Travail, 70• session, Genf 1984, S. 56. 149

Wie Anm. 147. Auch die Grafik basiert aufjenen Daten.

B. Die Kontrollverfahren der ILO

48

Bemerkungen der Berufsverbände nach Art. 23 Abs. 2 1980-1992

300 200 100

0 80 81

82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

11 Arbeitnehmer

92

11 Arbeitgeber

II. Okkasionelle Kontrolle Als Ergänzung zur permanenten Kontrolle regelt die Verfassung der ILO in den Art. 24 bis 29 und 31 bis 34 Beschwerde und Klage, die als okkasionelle Verfahren nur in bestimmten Fällen zur Anwendung gelangen. Beide Verfahren waren bereits in der ursprünglichen Verfassung enthalten; 1950 und 1969 erweiterte der Verwaltungsrat die okkasionelle Kontrolle um zwei Sonderverfahren zum Schutze der Gewerkschaftsrechte und die sogenannten "direkten Kontakte", eine Mischung informeller Kontrolle und Unterstützung der Mitgliedstaaten bei Verwirklichung und Anwendung der Übereinkommen. Die Verfassung räumt Berufsorganisationen, einzelnen Delegierten und den Mitgliedstaaten unterschiedliche Rechte im Rahmen der okkasionellen Kontrolle ein. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen steht allein die Beschwerde offen, während einzelne Delegierte und die Mitgliedstaaten das schärfere Klageverfahren beantragen können. Allein die Regierungen besitzen schließlich die Möglichkeit, in zweiter Instanz an den Internationalen Gerichtshof zu appellieren. Die zentrale Drehscheibe der Kontrolle bildet der Verwaltungsrat Er bestimmt, welches Verfahren zur Anwendung gelangt, und fungiert als Schaltstelle zwischen permanenter und okkasioneller Kontrolle. Er allein entscheidet über die Einsetzung einer Untersuchungskommission, sei dies aufgrund einer Klage eines Delegierten der Internationalen Arbeitskonferenz oder eines Mitgliedstaates, sei dies ex officio, beispielsweise auf Anregung der Internationalen Konferenz oder nach einem Beschwerdeverfahren. Er kann auch einen verbindlichen Entscheid des Internationalen Gerichtshofes verlangen. Und schließlich besitzt er die Möglichkeit, Regeln für die Einsetzung eines Gerichtes der ILO aufzustellen. Diese Kompetenzen des Verwaltungsrats verhindern eine privilegierte Stellung der Mitgliedstaaten.

li. Okkasionelle Kontrolle

49

Der britische Entwurf vom 2. Februar 1919 hatte die Kontrolle im wesentlichen noch den Signatarstaaten überlassen. In Art. 22 war unpräzise eine Einspruchsmöglichkeit vorgesehen, ohne die dazu legitimierten Beschwerdeführer zu benennen. 150 Die Klage andererseits - und damit die Voraussetzung zur Einsetzung einer Untersuchungskommission - sollte nach britischen Vorstellungen im Sinne des klassischen Völkerrechts lediglich den Mitgliedstaaten der ILO offenstehen. 151 Auf Initiative des belgiseben Justizministers Emile Vandervelde, Mitglied der "Commission on International Labour Legislation", kam es einerseits zur Einschränkung des Beschwerderechts und andererseits zur Erweiterung des Klägerkreises. Vandervelde kritisierte das britische Kontrollsystem als

"[ ... ] a Ia fois trop !arge et trop strict. II est trop !arge a l'article 22 en accueillant indistinctement toutes !es plaintes, meme celles des individus; il est trop strict a l'article 24 en ne declenchant le mecanisme des enqu€tes que lorsqu'il y a plainte d'une Haute Partie Contractante." 152

Vandervelde initiierte substantielle Änderungen. Die "Commission on International Labour Legislation" beschränkte die Beschwerde auf die Berufsorganisationen, öffnete gleichzeitig das Klagerecht den Delegierten und dem Verwaltungsrat und verhalf diesem zu einer eigentlichen Schlüsselstellung im Kontrollsystem. 153 1. Die Beschwerde

Die Vorschläge von Emile Vandervelde fanden rasch die Zustimmung der übrigen Kommissionsmitglieder. Der Vorschlag des zweiten belgiseben Delegierten Ernst Mahaim 154 , die Beschwerde Staaten und Berufsorganisationen zugänglich zu machen 1ss, wurde nicht weiterverfolgt Am 21. Februar verabschiedete die Kommission den Art. 24 in der heute noch gültigen Form:

150 "Tout avis transmis au Bureau international du Travail de Ia non-execution dans son territoire des stipulations d'une convention acceptee par une des Hautes Parties Contractantes, pourra €tre soumis par l'organe administratif a !'Etat en question, en l'invitant a lui faire parvenir des explications a ce sujet." Abgedruckt in: Bulletin officiel 1 (1923), S. 12; siehe auch Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 398.

ISI

Vgl. Bulletin officiel 1 (1923), S. 13.

ISl

Proces Verbal No. 12, Seance du 21 fevrier 1919, in: Bulletin offleieil (1923), s. 63.

IS3

Vgl. Bulletin ofticiel 1 (1923), S. 63, 66.

Ernst Mahaim war Professor an der Universität von Liege und Sekretär der belgiseben Sektion der "Internationalen Vereinigung für den gesetzlichen Schutz der Arbeiter". IS4

ISS

Vgl. Bulletin officiell (1923), S. 63; Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 188.

4 Voegeli

B. Die Kontrollverfahren der ILO

50

"Richtet ein Berufsverband von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern an das Internationale Arbeitsamt eine Beschwerde, daß irgendein Mitglied die Durchführung eines Übereinkommens, dem es beigetreten ist, nicht in befriedigender Weise sichergestellt habe, so kann der Verwaltungsrat sie der betreffenden Regierung übermitteln und diese Regierung einladen, sich in einer ihr geeignet erscheinenden Weise zur Sache zu äußern."

Nach Lehre und Praxis kann jede Berufsorganisation156 gegen jeden Mitgliedstaat eine Beschwerde einreichen. Während Art. 3 Abs. 5 und Art. 14 Abs.l der Verfassung nur die "maßgebenden Berufsverbände[ ... ] der Arbeitgeber und Arbeitnehmer" für die Wahl der Delegierten ansprechen, kennt Art. 24 keine solche Beschränkung.m In der definitiven Fassung entfiel auch die Bestimmung, wonach nur eine Organisation des betroffenen Landes als Beschwerdeführerin auftreten konnte. 158 Eine solche Einschränkung wäre auch wenig sinnvoll gewesen, da sich die Staaten primär gegenüber der ILO verpflichten und eine persönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers damit keine Voraussetzung darstellt. Art. 24 kann aber nur eine ratifizierte Konvention zum Gegenstand haben. Eine Verletzung der Verfassung stellt kein zulässiges Beschwerdeobjekt dar. Sobald das Internationale Arbeitsamt eine Beschwerde erhält, setzt der Generaldirektor sämtliche Mitglieder des Verwaltungsrats davon in Kenntnis und läßt ihnen eine Kopie davon zukommen. Das Büro des Verwaltungsrats prüft darauf die formale Zulässigkeit der Beschwerde 159 ; sind die Bedingungen er156 Nach der gängigen Interpretation bestimmt der Verwaltungsrat und nicht das innerstaatliche Recht, welche Organisation als "Berufsverband von Arbeitnehmern und Arbeitgebern" gilt. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der derogatorischen Kraft des Völkerrechts über Landesrecht. Die Streichung des Begriffs "reguliere" aus dem Ausdruck "organisation syndicale ouvriere ou patronale reguliere" wertet Zarras als weiteres Indiz flir diese These: "Selon nous, l'elimination de ce mot pourrait etre interpretee comme ayant pour objet d'accorder au Conseil d'administration Ia latitude d'examiner librement chaque cas d'espece, sans etre tenu de subordonner sa decision a Ia legislation en vigueur dans Je pays ou siege l'organisation requerante." Zarras, S. 224. 157

Vgl. Berger/Kuttig/Rhode, S. 145.

Die ursprüngliche britische Fassung sprach von "Tout avis transmis au Bureau international du Travail de Ia non-execution dans son territoire [Hervorhebung durch den Verfasser] des stipulations d'une convention acceptee parunedes Hautes Parties Contractantes [ ... ]". In Bulletin officiel l (1923), S. 12. In der definitiven Fassung entfiel der Passus "dans son territoire". Vgl. Zarras, Anm. l, S. 226/227; Berthoud, S. 1141115. 158

159 Art. 2 Abs. 2 des "Reglement relatif a Ia procedure a suivre pour l'examen des reclamations au titre des articles 24 et 25 de Ia Constitution de )'Organisation Internationale du Travail" [im folgenden zitiert als: Reglement Verwaltungsrat] bestimmt: "2. Ia recevabilite d'une reclamation est soumise aux conditions suivantes: a) Ia reclamation doit etre adressee au Bureau international du Travail SOUS forme ecrite; b) eile doit emaner d'une organisation professionnelle, d'ernployeurs ou de travailleurs; c) eile doit se referer expressernent a l'article 24 de Ia Constitution de I'Organisation; d) eile doit viser un Mernbre de )'Organisation;

II. Okkasionelle Kontrolle

51

füllt, bestimmt der Verwaltungsrat an seiner nächsten Sitzung einen Untersuchungsausschuß aus seinen Reihen, bestehend aus einem Regierungsvertreter und je einem Arbeitgeber- und Arbeitnehmerdelegierten. 160 Nach dem Prinzip der Unparteilichkeit sind sowohl Mitglieder der rekurrierenden Berufsorganisation als auch Angehörige des betroffenen Staates nicht wählbar. 161 Der Untersuchungsausschuß stützt sich grundsätzlich auf schriftliche Materialien: auf die Beschwerdeschrift, die periodischen Rechenschaftsberichte der betroffenen Regierung, die Rapporte des Sachverständigen- und des Konferenzausschusses und auf Bemerkungen der Berufsorganisationen nach Art. 23 Abs. 2. Nach Art. 4 Abs. 1 des Reglements kann er von den Parteien zusätzliche Informationen und Stellungnahmen anfordern. Direkte Gespräche zwischen den Parteien hingegen bilden die Ausnahme und finden nur auf deren ausdrücklichen Wunsch statt. Das gesamte Beschwerdeverfahren gilt als vertraulich und findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. 162 Abschließend hat der Untersuchungsausschuß nach Art. 6 des Reglements in einem Bericht zuhanden des Verwaltungsrats Schlußfolgerungen und Empfehlungen vorzulegen. Der Verwaltungsrat behandelt den Rapport in einer geschlossenen Sitzung und entscheidet über die Fortsetzung des Verfahrens. In dieser Phase erhalten die betroffenen Regierungen einen Sitz im Verwaltungsrat, um an der Diskussion teilzunehmen, sofern sie nicht bereits ordentliche Mitglieder sind. Im Gegensatz zu den gewählten Mitgliedern erhalten sie aber kein Stimmrecht. 163 Dies tangiert das Prinzip der Rechtsgleichheit und den Grundsatz der Unparteilichkeit: Einerseits erhält der Beschwerdeführer keinen Sitz im Verwaltungsrat, andererseits genießt ein ordentliches Mitglied den Vorteil des Stimmrechts, im Gegensatz zu einem ad hocbestimmten Vertreter. Die Mitwirkung einer Partei am Entscheid des Verwaltungsrates erscheint in diesem Zusammenhang besonders befremdlich. Nach Art. 25 hat der Verwaltungsrat bei einer unbefriedigenden oder fehlenden Antwort der Regierung die Möglichkeit, "die Beschwerde und gegebenenfalls die Antwort zu veröffentlichen" .164 Neben dieser schwachen moralischen Sanktionsdrohung kann der Verwaltungsrat aufgrundder Generalklausel e) elle doit porter sur une convention a laquelle Je Membre mis en cause est Partie; f) elle doit indiquer sur quel point Je Membre mis en cause n'aurait pas assure, dans Ies limites de juridiction, I'application effective de ladite convention." 160

Vgl. Reglement Verwaltungsrat, Art. 3 Abs. I.

16 1

Vgl. Reglement Verwaltungsrat, Art. 3 Abs. I.

l62

Vgl. Reglement Verwaltungsrat, Art. 3 Abs. 3.

l63

Vgl. Reglement Verwaltungsrat, Art. 7.

Art. 25 wurde von der Commission on International Labour Legislation ohne Diskussion vom britischen Entwurfvom 2. Februar 1919 übernommen. 164

52

B. Die Kontrollverfahren der ILO

von Art. 26 Abs. 4 der Verfassung und Art. 10 des Reglements jederzeit ex officio ein Klageverfahren einleiten. Bisher griff der Verwaltungsrat erst zweimal zu diesem Mittel, 1974 gegen Chile und 1985 im Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland. 165 Nach Art. 3 Abs. 2 des Reglementes ist auch der Rückgriff auf ein Sonderverfahren zum Schutz der Gewerkschaftsrechte möglich.I66 Eine Entscheidung des Verwaltungsrates ist endgültig und nicht anfechtbar. Die Beschwerde bildet nach Ansicht des Autors zur Hauptsache ein politisches Verfahren mit Vermittlungscharakter. Dies vor allem deshalb, weil der Verwaltungsrat, der die Mitglieder des Untersuchungsausschusses stellt, ein politisches Organ bildet. Seine Ausschüsse entscheiden wohl weniger nach formaljuristischen Kriterien, sondern suchen eher nach einer politisch verträglichen Lösung. 167

2. Die Klage Am 21. Februar 1919 unternahm Emile Vandervelde den vielleicht wichtigsten Vorstoß für die Gestaltung des ILO-Kontrollsystems. Das Klagerecht sollte nicht allein den Mitgliedstaaten, sondern auch dem Verwaltungsrat ex officio und den Delegierten der Internationalen Arbeitskonferenz offenstehen, denn die Regierungen würden kaum je mit den üblichen diplomatischen Gepflogenheiten brechen und gegen einen anderen Staat Klage erheben: "Je suis convaincu que si les Hautes Parties Contraetanies ont Je droit de declencher Ia procedure d'enquete contre un autre Etat, dans l'imrnense majorite des cas elles auront des scrupules a intervenir et, en fait, n'interviendront pas [ ... ]. Il est un point sur lequel nos delegues consultatifs de Ia classe ouvriere beige insistent: c'est Ia necessite de pouvoir declencher Ia procedure contre un Etat recalcitrant sans passer par l'intermediaire d'un Etat represente a Ia Conference. II est inevitable que si I'on doit recourir a l'intermediaire d'un gouvernement, cet acte sera considere comme inamical et que, dans Ia majorite des cas, Ia plainte ne sera pas transmise." 168

165 Vgl. unten S. 106-113. Vgl. Rapport de Ia commission instituee en vertu de l'article 26 de Ia Constitution de I'Organisation internationalle du Travail pour examiner l'observation par Je Chilide Ia convention (n° 1) sur Ia duree du travail (industrie), 1919, et de Ia convention (n° lll) concernant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, Genf 1975, Para. l . Im folgenden zitiert als Untersuchungskommission (Chile).

166 Vgl. Reglement Verwaltungsrat, Art. 3 Abs. 2. 167

Vgl. unten S. 96-99.

168

Zit. in: La Paix de Versailles, Ugislation internationale du Travail, Paris 1932, S. 335,

443.

II. Okkasionelle Kontrolle

53

Der Vorschlag von Emile Vandervelde wies dem Verwaltungsrat eine Schlüsselrolle im ILO-Kontrollsystem zu. Er würde entscheiden, ob auf eine Klage eines Mitgliedstaates oder eines Delegierten eine Untersuchungskommission eingesetzt würde. Ebenso konnte er nach Vanderveldes Vorschlag von sich aus eine Untersuchungskommission einsetzen, sollte sich die Kontrolle durch den Sachverständigen- und den Konferenzausschuß als wirkungslos erweisen: "II sera bien entendu, d'autre part, que Ia plainte emanant d'un delegue n'oblige pas Ie Conseil d'administration a agir. Enfin, il est bon que Je Conseil d'administration puisse agir d'office, meme s'il n'est pas saisi d'une plainte de delegue, mais seulement des Observations prevues a l'article 22." 169 Nach einer kurzen Diskussion fügte die Kommission den Vorschlag von Emile Vandervelde als Absatz 4 in den Text ein, der in seiner endgültigen Fassung bestimmte170: "1. Jedes Mitglied kann beim Internationalen Arbeitsamt Klage gegen ein anderes Mitglied einreichen, das nach seiner Ansicht die Durchführung eines von beiden Teilen nach den vorstehenden Artikeln ratifizierten Übereinkommens nicht in befriedigender Weise sicherstellt.

2. Der Verwaltungsrat kann sich, wenn er es für angebracht hält, mit der Regierung, gegen die sich die Klage richtet, auf die in Art. 24 bezeichnete Weise in Verbindung setzen, bevor er einen Untersuchungsausschuß nach dem weiter unten angegebenen Verfahren mit der Angelegenheit betraut. 3. Hält es der Verwaltungsrat nicht fiir nötig, der betreffenden Regierung die Klage mitzuteilen, oder geht auf seine Mitteilung nicht binnen angemessener Frist eine befriedigende Antwort ein, so kann er einen Untersuchungsausschuß einsetzen, der die strittige Frage zu prüfen und darüber zu berichten hat. 4. Das gleiche Verfahren kann vom Verwaltungsrat entweder von Amts wegen oder auf Grund der Klage eines zur Konferenz entsandten Delegierten angewendet werden.

5. Kommt eine auf Grund der Art. 25 oder 26 aufgeworfene Frage vor den Verwaltungsrat, so hat die betreffende Regierung, falls sie nicht schon im Verwaltungsrat vertreten ist, das Recht, einen Vertreter als Teilnehmer an den Beratungen des Verwaltungsrates in dieser Angelegenheit zu entsenden. Der für diese Beratungen bestimmte Zeitpunkt wird der betreffenden Regierung angemessene Zeit vorher mitgeteilt."

Erfüllt die Klage die formalen Bedingungen, kann der Verwaltungsrat eine Untersuchungskommission einsetzen, welcher nach Art. 28 eine eingehende Prüfung des Sachverhaltes und die Formulierung von Empfehlungen obliegt: "Nach eingehender Prüfung der Klage verfaßt der Untersuchungsausschuß einen Bericht, worin er seine Feststellungen über sämtliche für den Streitfall bedeutsamen Tatfragen niederlegt und die ihm geeignet erscheinenden Maßnah169 In: Bulletin officiel I (1923), S. 66. 17° Für die Redaktion von Art. 26 siehe Bulletin officiel I (1923), Proces Verbal N° 12-14,

18, 21, 25.

54

B. Die Kontrollverfahren der ILO

men, die der klagenden Regierung Genüge tun sollen, sowie eine Frist für die Durchführung dieser Maßnahmen empfiehlt." In der Praxis sind die Schlußfolgerungen in der Regel sehr detailliert, die Empfehlungen hingegen (mit Absicht) moderat und allgemein gehalten. 171 Der Generaldirekor läßt den Bericht Parteien und Verwaltungsrat zukommen und veranlaßt die Publizierung. 172 Damit endet das Mandat der Untersuchungskommission. Die betroffene Regierung hat innert drei Monaten zum Bericht der Untersuchungskommission Stellung zu nehmen und dem ILO-Generaldirektor mitzuteilen, "ob sie die in dem Bericht des Ausschusses enthaltenen Empfehlungen annimmt oder nicht, und falls sie diese nicht annimmt, ob sie den Streitfall dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten wünscht". 173 Die Schlußfolgerungen und Empfehlungen der Untersuchungskommission können vom IGH in letzter Instanz 174 "bestätigt, abgeändert oder aufgehoben werden." 175 Dieser Instanzenzug gibt den Mitgliedstaaten und dem Verwaltungsrat die Möglichkeit, an den Internationalen Gerichtshof zu gelangen, nicht aber den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberdelegierten der Internationalen Arbeitskonferenz. Ein solches Recht widerspräche der Realität und wohl auch der Idee des Internationalen Gerichtshofes. Zwar erteilt der IGH internationalen Organisationen grundsätzlich nur unverbindliche Gutachten 176 , Art. 31 und 37 der ILOVerfassung bezeichnen sie aber als endgültige und verbindliche Entscheide. Die Lehre und die Praxis des IGH anerkennen in solchen Fällen die verbindliche Wirkung der an sich unverbindlichen Gutachten.177

171 Im Verfahren gegen Rumänien empfahl die Untersuchungskommission unter anderem beispielsweise: "Que soit graduellement renforce Je concept de Ia primaute du droit dans Ia societe roumaine [... ]. Que Je principe de Ia separation des pouvoirs legislatif, executif et judiciaire soit inscrit dans Ia Constitution." Vgl. Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 616; Untersuchungskommission (Polen), Para. 570-593; Untersuchungskommission (Chile), Para. 177-181. Sehr detailliert waren demgegenüber die Empfehlungen im Verfahren gegen Haiti/ Dominikanische Republik. Untersuchungskommission (Haiti!Dominikanische Republik), Para. 512-550.

112

Vgl. Art. 29 Abs. 2.

173

Art. 29 Abs. 2.

Art. 31 bestimmt: "Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes über eine Klage oder eine ihm nach Art. 29 unterbreitete Streitfrage ist endgültig." 174

175

Art. 32.

Art. 34 Abs. l und Art. 65 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes. Vgl. auch SeidlHohenveldern, Ignaz (Hg.): Lexikon des Rechts. Völkerrecht, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin u.a. 1992, S. 110. 176

177

Vgl. Ago, S. 9-24.

II. Okkasionelle Kontrolle

55

Die Verfassung äußert sich in Art. 33 nur knapp zu Sanktionen. Verweigert eine Regierung die Durchführung der Empfehlungen oder hält sie sich nicht an die vorgeschriebene Frist, "so kann der Verwaltungsrat der Konferenz die Maßnahmen empfehlen, die ihm zur Sicherung der Ausführung dieser Empfehlungen zweckmässig erscheinen". Diese Bestimmung besteht erst seit 1946. Die 1919 bis 1946 gültige Fassung äußerte sich konkreter. Die Untersuchungskommission oder im Rekursfall der Ständige Internationale Gerichtshof (StiGH) sollten präventiv "sanctions d'ordre economique" 178 formulieren, welche gegebenenfalls zur Anwendung kämen. Die Bedeutung dieser Formulierung gab in der "Commission on International Labour Legislation" zu ausführlichen Diskussionen Anlaß. 179 Im Laufe der Verhandlungen sprach die Kommission diesem Begriff schließlich eine sehr allgemeine Bedeutung zu. Emile Vandervelde drang mit seiner Überzeugung durch, "qu'il n'est pas possible de preciser Ia nature des sanctions [ ... ]". 180 Einig waren sich die Delegierten offenbar, "que des sanctions d'ordre economique s'opposent surtout a des sanctions d'ordre militaire [ ... ]" .181 Verfassung und Verhandlungsprotokolle 182 bestätigen unmißverständlich den fakultativen Charakter der Sanktionen. Art. 33 spricht lediglich von Empfehlungen des Verwaltungsrats, ohne den Ausdruck "Sanktionen" noch zu erwähnen. 183

178 Vgl. Art. 414 Abs. 2 und Art. 418 des Friedensvertrages von Versailles, abgedruckt in: Shotwell, The Origins ofthe ILO, Bd. 2, S. 441-443; Bulletin offleieil (1923), S. 346/347. 179

Vgl. Bulletin officiel 1 (1923), S. 67/68,71, 127-129, 151-154, 217, 269/270.

Emile Vandervelde in der Session vom 24. 2. 1919, in: Bulletin officiel 1 (1923), S. 68. Dieselbe Meinung äußerte auch der britische Vertreter Sir Maleolm Delevingne am 13.3.1919. Bulletin officiell (1923), S. 127. 180

181 Diese Interpretation des französischen Delegierten Arthur Fontaine in der Sitzung vom 13.3.1919 wurde vom belgischen Vertreter Ernest Mahaim explizit bestätigt und stieß auf keinen Widerspruch in der Kommission. Bulletin officiell (1923), S. 127. Vgl. auch: Zarras, S. 319-323. 182 Der britische Delegierte Bames bekräftigte in der Session vom 26. Februar 1919 vor der "Commission on International Labour Legislation", "que l'article laisse aux Etats signataires le soin de decider chacun en ce qui Je concerne, s'ils appliqueront ou non les sanctions [. .. ]". Bulletin officiel I (1923), S. 71; vgl. auch La Paix de Versailles, Ugislation internationale du Travail, Paris 1932, S. 452, 529; zit. in: Zarras, Anm. I, S. 319. 183 Die "Commission on International Labour Legislation" verzichtete schließlich aus Rücksicht auf die USA auf eine Formulierung, die die Anwendung der Sanktionen zwingend vorgeschrieben hätte. Vgl. Bulletin officiel I (1923), S. 128/129, 1561157, 184/185; vgl. auch Zarras, S. 319. Die Massnahmen des Verwaltungsrates in Art. 33 können sich nur auf den angeklagten Staat beziehen und sich nicht gegen Staaten richten, die diese Massnahmen nicht ausfUhren, wie gelegentlich behauptet wird. Vgl. auch Mahaim, Ernest: L'organisation permanente du Travail, Paris 1925, S. 88; Scelle, L'organisation internationale du Travail et Je Bureau international du Travail, S. 192.

56

B. Die Kontrollverfahren der ILO

Die primäre Funktion der Sanktionen besteht in einer erhofften Präventivwirkung. Die "Commission on International Labour Legislation" hob diesen Aspekt in ihrem Schlußbericht gebührend hervor: "On remarquera que Ia procedure exposee ci-dessus a ete soigneusement elaboree en vue d'eviter l'application de sanctions, excepte en dernier lieu lorsqu'un Etat s'est refuse d'une maniere flagrante et persistante a remplir les obligations que lui impose une convention." 184 3. Die Praxis der Untersuchungskommissionen

Die Verfassung definiert eine Untersuchung nach Art. 26 nicht näher. Beim ersten Verfahren gegen Portugal 1961 formulierte der Verwaltungsrat lediglich einige allgemeine Direktiven 185 und überließ das Verfahren grundsätzlich der Untersuchungskommission: "[ ... ] Ia Commission determine sa propre procedure conformement aux dispositions de Ia Constitution de l'organisation [ ••• ]". 186 In der Folge hielt der Verwaltungsrat an dieser Praxis fest. 187 Der Verwaltungsrat nominiert auf Vorschlag des Generaldirektors jeweils drei unabhängige, fachkompetente Persönlichkeiten und bestimmt davon einen Präsidenten. Der britische Delegierte Barnes beschrieb vor der "Commission on International Labour Legislation" die Mitglieder einer Untersuchungskommission als "personnes notables, qui ne soient, au sens strict du mot, ni employeurs, ni employes, par exemple des avocats retires de Ia vie active et [ ... ] connus de leur impartialite [... ]". 188 In diesem Sinn nominiert der Verwaltungsrat ausgesuchte Persönlichkeiten, beispielsweise ehemalige Mitglieder des IGH oder des Ständigen Schiedsgerichtshofes, Professoren der Rechtswissenschaften oder Mitglieder wichtiger internationaler Komitees. Der Ver-

184 Rapport presente a Ja Conference des preliminaires de Paix par Ja Commission de Jegislation internationale du Travail, in Bulletin officiel 1 (1923), S. 270. ISS

Untersuchungskommission (Portugal), Para. 9, 10.

186

Untersuchungskommission (Portugal), Para. 9.

Vgl. Untersuchungskommission (Portugal), Para. 9; Untersuchungskommission (Liberia), Para. 30; Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 7; Untersuchungskommission (Haiti/ Dominikanische Republik), Para. 9; Untersuchungskommission (Polen), Para. 54; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 17; Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 21; Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 51. 187

188

Bulletin officiel I (1923), S. 66, 67; vgl. auch Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. 2,

s. 190/191.

Il. Okkasionelle Kontrolle

57

waltungsrat berücksichtigt bei der Zusammensetzung nach Möglichkeit die Internationalität der 11...0. 189 Bei der Einsetzung der ersten Untersuchungskommission 1961 definierte der damalige Generaldirektor David Morse ihre Aufgabe folgendermaßen: "La täche qui vous est confiee est d'etablir les faits, sans crainte ni preference. Vous n'avez qu'un seul maitre et qu'une seule allegeance, Ia verite. Vous n'etes responsables que devant votre propre conscience." 190 Mit einer feierlichen Formel, analog derjenigen für die Richter des IGH, konstituierten sich die erste und danach alle folgenden Kommissionen: "Je d~clare solennellement que j'exercerai en tout honneur et d~vouement, en pleine imparet toute conscience, tous mes devoirs et attributions de membre de Ia Commission instituee par Je Conseil d'administration du Bureau international du Travail en vertu de l'article 26 de Ia Constitution de !'Organisation internationale du Travail, pour l'exarnen de Ia plainte depos~e tialit~

[.. .]."191

Auch wenn das Verfahren den Untersuchungskommissionen ausdrücklich freigestellt und nie schriftlich fixiert wurde, haben sich alle neun bisher eingesetzten Untersuchungskommissionen ausgehend vom ersten Verfahren gegen Portugal an eine ungeschriebene Praxis und einheitliche Grundsätze gehalten.192 "La Commission a decide de suivre a Ia pratique etablie par !es com189 Bis 1946 regelte Art. 412 der Verfassung die Zusammensetzung der Untersuchungskommission. Jeder Mitgliedstaat nannte dem Verwaltungsrat drei Personen als mögliche Mitglieder einer Untersuchungskommission. Dieser prüfte die Vorschläge. Im gegebenen Fall nominierte der Generalsekretär des Völkerbundes drei Personen dieser Liste und bezeichnete eine davon als Präsidenten. Vgl. Bulletin officiel I (1923), S. 345/346; Shotwell, The Origins of the ILO, Bd. I, s. 440. 190 Untersuchungskommission (Portugal), Para. 9. Auch in späteren Verfahren bekräftigten die jeweiligen Generaldirektoren diesen Grundsatz. Vgl. Untersuchungskommission (Haiti/ Dominikanische Republik), Para. 38; Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 21 ; Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 51 ; Untersuchungskommission (Polen), Para. 54, 474; Untersuchungskommission (Liberia), Para. 10; vgl. auch: La situation syndicale au Chile, Rapport de Ia Commission d'investigation et de conciliation en mati~re de libert~ syndicale, Genf 1975, Para. 76. Diese Kommission führte in Personalunion ein gesondertes "Untersuchungs- und Schlichtungsverfahren" zum Schutze der Gewerkschaftsrechte (vgl. unten S. 60-62) und eine Untersuchung Art. 26 durch. 19 1 Vgl. Untersuchungskommission (Portugal), Para. 12, 701; Untersuchungskommission (Liberia), Para. II; Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 43; Untersuchungskommission (Chile), Para. 10; Untersuchungskommission (Haiti/Dorninikanische Republik), Para. 14; Untersuchungskornmission (Polen), Para. 54, 55; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 19; Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 22; Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 7, 51. Vgl. auch: La situation syndicale au Chile, Rapport de Ia Commission d'investigation et de conciliation en mati~re de libert~ syndicale, Genf 1975, Para. 77.

192 Vgl. Untersuchungskommission (Portugal), S. 9-33; Untersuchungskornmission (Liberia), S. 23-48, Para. 381; Untersuchungskommission (Griechenland), S. 12-19; Untersuchungs-

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B. Die Kontrollverfahren der ILO

missions d'enquete precedentes [ ... ]", betonte beispielsweise die Untersuchungskommissionbeim Verfahren gegen Haiti und die Dominikanische Republik.l93 Zu Beginn des Verfahrens erhalten die Parteien Gelegenheit, weiteres Beweismaterial vorzulegen. Die Untersuchungskommission läßt solche Informationen jeweils der Gegenseite zur Stellungnahme zukommen. Weil Art. 27 der ILO-Verfassung "jedes Mitglied verpflichtet [ ... ], dem Ausschuß zum Gegenstand der Klage alle Aufschlüsse zu geben, über die es verfügt", werden Nachbarstaaten, wichtige Wirtschaftspartner und Organisationen mit Konsultativstatus bei der ILO sowie Berufsorganisationen stets um allfallige Informationen ersucht. Meist führen die Kommissionen eine Zeugenanhörung durch, an der beide Seiten eigene Zeugen präsentieren, aber auch von der Kommission benannte Personen befragt werden. Bisher nahmen sechs Untersuchungskommissionen einen Augenschein vor Ort vor. 194 Eine abschließende Sitzung in Genf dient der Redaktion eines Berichtes mit Schlußfolgerungen und Empfehlungen. Die Untersuchungskommissionen haben bisher stets die Bedeutung des "fact-finding" hervorgehoben: "La fonction de Ia Commission est d'etablir des faits. La politique est en dehors de son domaine [ ... ]. 195 La Commission n'a pas a connaitre de tel ou tel aspect politique que Ia question peut avoir; Ia täche qui lui est confiee est d'examiner judiciairement si, oui ou non, il y a eu ou il y

kommission (Chile), S. 5-12; Untersuchungskommission (Haiti/Dominikanische Republik), S. 722; Untersuchungskommission (Polen), S. 20-31; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 5-22; Untersuchungskommission (Nicaragua), S.l4-27, Untersuchungskommission (Rumänien), S. 29-41.

193 Untersuchungskommission (Haiti/Dominikanische Republik), Para. 61; vgl. auch Untersuchungskommission (Haiti/Dominikanische Republik), Para. 9; Untersuchungskommission (Liberia), Para. 30, 32, 381 ; Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 7; Untersuchungskommission (Chile), Para. 12; Untersuchungskommission (Polen), Para. 54; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 34, 56; Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 51.

194 Es handelt sich um die Untersuchungskommissionen gegen Portugal 1961, Chile 1974, Haiti/Dominikanische Republik 1981, die Bundesrepublik Deutschland 1986, Nicaragua 1990 und Rumänien 1990. Im Fall Liberia hielt die Kommission einen Augenschein aus sachlichen Gründen nicht für sinnvoll. In den Verfahren gegen Griechenland und Polen verhinderte die Nichtkooperation der Regierungen einen Augenschein vor Ort.

195 Untersuchungskommission (Portugal), Para. 46; vgl. auch Untersuchungskommission (Portugal), Para. 15, 703; Der Ausschuß zur Untersuchung der Einhaltung des Uebereinkomrnens (Nr. 111) über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland, Protokolle der l.-15. Sitzung, Genf 1986 (unveröffentlicht) [im folgenden zitiert als: Zeugenanhörung], S. IV/10 ; Untersuchungskommission (Haiti/Dominikanische Republik), Para. 61, 415; Untersuchungskommission (Polen), Para. 54, 476; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 34. Vgl. auch Anm. 190.

II. Okkasionelle Kontrolle

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a [... ] manquement a assurer de maniere satisfaisante l'execution des dispositions de Ia convention [ ... ]." 196

Aus der Bedeutung des "fact-finding" resultierte die Maxime, die Untersuchung nicht auf die vorgelegten Beweise zu beschränken und sich nicht auf Ergebnisse früherer Kontrollverfahren zu stützen, sondern den Sachverhalt "de novo" zu untersuchen. 197 Das Untersuchungsverfahren wird nicht als friedliche Streiterledigung zwischen zwei Parteien, sondern als Verfahren der ILO verstanden.198 Die Untersuchungskommissionen entschieden 1961 und 1962, die Verfahren gegen Portugal und Liberiatrotz ungenügender Beweise der Kläger weiterzuführen: "La Commission decida neanmoins que Ia mission qui lui avait ete confiee par le Conseil d'administration et Ia portee d'interet publique des questions soulevees par Ia plainte justifiaient Ia poursuite de Ia procedure." 199

196 Untersuchungskommission (Liberia), Para. 386; vgl. auch Untersuchungskommission (Polen), Para. 468 mit Hinweisen auf frühere Untersuchungsverfahren; Der Ausschuß zur Untersuchung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland, Protokolle der 1.-15. Sitzung, Genf 1986 (unveröffentlicht), S. IV/10. Im folgenden zitiert als: Zeugenanhörung.

197 "[ ... ]Ia Commission a considere que son röle n'etait pas Iimite a un exarnen des informations qui pourraient etre fournies par les parties ou a l'appui de leurs theses, mais qu'elle devrait elle-meme prendre toutes mesures necessaires pour assurer, conformement aux directives generales qui lui ont ete donnees par le Conseil d'administration, qu'elle dispose d'informations completes et objectives sur les questions en cause." Untersuchungskommission (Portugal), Para. 15; vgl. auch Untersuchungskommission (Portugal), Para. 706; Untersuchungskommission (Liberia), Para. 392; Untersuchungskommission (Polen), Para. 54, 476; Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 34; Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 22. 198 "[ ... ] on a defini [...]Ia plainte comme l'acte par lequel unEtat attire l'attention de !'Organisation internationale sur Ia violation par un autre Etat, d'une norme en cours entre eux. [ .. .]Ia plainte n'est ni une situation ni un differend comme l'ont affirme certains auteurs, mais plutöt un acte de denonciation destine a declencher une action publique internationale." Bensalah, S. 202; vgl. auch Valticos, L'evolution du systeme de contröle, S. 515. Trotzdem darf daraus nicht auf eine allgemeine Beweispflicht der Untersuchungskommissionen geschlossen werden: "La Commission ne peut accepter Ia these qu'un gouvernement, en deposant une plainte sans l'appuyer sur des preuves verifiables qu'il pretend ne pas pouvoir apporter parce qu'il n'a pas acces aux faits, aurait le droit de placer sur !'Organisation internationale du Travailla responsabilite d'une enquete complete en matiere." Untersuchungskommission (Portugal), Para. 705. 199 Untersuchungskommission (Portugal), Para. 706. Vgl. auch Untersuchungskommission (Liberia), Para. 392; Untersuchungskommission (Polen), Para. 468.

60

B. Die Kontrollverfahren der ILO

4. Die Spezialverfahren zum Schutz der Gewerkschaftsrechte

1948/49 verabschiedete die Internationale Konferenz zwei Konventionen zum Schutz der Gewerkschaftsrechte. 200 Angesichts der besonderen Bedeutung dieser Übereinkommen beschloß der Verwaltungsrat 1950 in Übereinstimmung mit dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO, ein spezielles Kontrollsystem zum Schutz der Gewerkschafts- und Vereinigungsfreiheit einzuführen. Das Verfahren sah einen Ausschuß für Vereinigungsfreiheit (Comite de Ia Iiberte syndicale) als Vorinstanz und einen Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß (Commission d'investigation et de conciliation) zur eigentlichen Untersuchung der Klage vor. Namens der UNO anerkannte der Wirtschafts- und Sozialrat am 17. Februar 1950 die Zuständigkeit des Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses auch für UNO-Mitglieder, die nicht in der ILO vertreten sind. 201 Gegen jedes Mitglied der UNO und der ILO kann Klage erhoben werden, unabhängig von einer Ratifikation der betreffenden Konvention. Die rechtliche Grundlage dafür bildet die Verfassung der ILO, genauer die Präambel und die "Declaration of Philadelphia" von 1944, nach Art. 1 Abs. 1 ebenfalls Bestandteil der Verfassung. Erstere erwähnt ausdrücklich "die Anerkennung des Grundsatzes der Vereinigungsfreiheit", letztere formuliert das Prinzip: "Freiheit der Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit sind wesentliche Voraussetzungen des beständigen Fortschritts." Durch die Anerkennung der Verfassung verpflichtet sich jedes Mitglied der ILO zur Einhaltung der grundlegenden Gewerkschaftsrechte und kann folglich für deren Mißachtung angeklagt werden. 202 Klageberechtigt sind Regierungen sowie nationale und internationale Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen.203 Eine Klage hat

200 Es handelt sich um die Konvention Nr. 87 über die Gewerkschaftsfreiheit und den Schutz der Gewerkschaftsrechte von 1948 sowie das Übereinkommen Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen von 1949. 201 Für eine detaillierte Darstellung dieser Kontrollverfahren vgl. Compte rendu provisoire (CRP) 33 (1950), S. 577-585. 202 Die ILO bekannte sich wiederholt zu diesem Prinzip, zuletzt an der Regionalkonferenz der europäischen Mitgliedstaaten 1974. Die einstimmig verabschiedete Resolution bestätigte die Gewerkschaftsrechte als ''l'un des objectifs affirmes par Ia Constitution de l'OIT et qu'il doit, de ce fait, etre observe par !es Etats Membres en raison de leur appartenance a l'organisation". Zit. in Valticos, Droit international du Travail, S. 614. 203 Für nationale Berufsverbände und internationale Organisationen ohne Konsultativstatus bei der ILO ist persönliche Betroffenheit Voraussetzung. Für alle Berufsorganisationen ist ihre permanente Existenz eine weitere notwendige Bedingung. Der Ausschuß flir Vereinigungsfreiheit interpretiert jeweils in eigener Kompetenz den Begriff "Berufsorganisationen" ohne Rücksicht auf nationales Recht. Auch verbotene oder exilierte Berufsorganisationen sind klageberechtigt, sofern sie die genannten Auflagen erfüllen.

II. Okkasionelle Kontrolle

61

in schriftlicher Form an den Generaldirektor, den Ausschuß für Vereinigungsfreiheit oder den Wirtschafts- und Sozialrat zu erfolgen. 204 Der Ausschuß für Vereinigungsfreiheit besteht aus neun ordentlichen und neun Ersatzmitgliedern, jeweils drei Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Regierungsvertretern.205 Eine unabhängige Persönlichkeit präsidiert das Gremium, das vom Verwaltungsrat nominiert wird. Nach Prüfung der formalen Zulässigkeit und des Sachverhaltes hat der Ausschuß dem Verwaltungsrat Bericht zu erstatten, nicht zuletzt im Hinblick auf die Einsetzung eines Untersuchungsund Schlichtungsausschusses. Er stützt sich bei seiner Untersuchung in der Regel auf schriftliche Informationen. In besonderen Fällen - bei widersprüchlichen Aussagen, komplexen Problemstellungen oder wo ein direkter Meinungsaustausch Erfolg verspricht- greift er seit 1979 auch auf mündliche Verfahren zurück 206 . Besonders beliebt ist das Verfahren der "direkten Kontakte", das seit 1969 angewandt wird. Mit Einwilligung der betroffenen Regierungen sucht eine unabhängige Persönlichkeit oder ein hoher Beamter des Internationalen Arbeitsamts als Vertreter des Generaldirektors im direkten Gespräch mit Regierung und Berufsorganisationen nach Lösungen. In einem Bericht unterbreitet der Ausschuß dem ILO-Verwaltungsrat bzw. dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO Schlußfolgerungen und Empfehlungen. Dieser entscheidet über weitere Maßnahmen. Die Überwachung der Empfehlungen obliegt für ratifizierte Konventionen dem Sachverständigenausschuß, in den übrigen Fällen hat die betroffene Regierung dem Generaldirektor zuhanden des Verwaltungsrats Bericht zu erstatten. Der Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß war ursprünglich als Hauptorgan dieser Sonderverfahren und in Analogie zur Untersuchungskommission nach Art. 26 konzipiert. In der Praxis führt er ein Schattendasein, weil für eine Untersuchung die Einwilligung der betroffenen Regierung notwendig ist. Bis heute erhielt der Verwaltungsrat bzw. der Wirtschafts- und Sozialrat nur in fünf Fällen diese Zustimmung.200 Der Ausschuß für Vereinigungsfreiheit

204 Die Klageschrift ist von einem zeichnungsberechtigten Vertreter der Kläger zu unterschreiben. Unterlassen die Initiatoren der Klage eine Unterzeichnung aus Furcht vor Repressalien, so ergibt sich die formale Zulässigkeil nur dann, wenn sich der Ausschuß für Vereinigungsfreiheit bisher noch nie mit dem Fall befaßt und der Generaldirektor sich von der Bedeutung der Klage überzeugt hat. 205

Ist ein Mitglied Angehöriger des betroffenen Staates oder der klagenden Berufsorganisation, tritt es in den Ausstand.

206 Vgl. 93. Rapport du Comite de Ia liberte syndicale, Para. 34; Bulletin officiel 62 (1979), n° 1, S.132-161. 200

Japan 1964, Griechenland 1965, Lesotho 1973, Chile 1974, USA 1978.

62

B. Die Kontrollverfahren der ILO

erweiterte deshalb bald einmal seine Tätigkeit und ersetzt heute weitgehend den Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß. Als Sanktion steht lediglich die Publizierung der Untersuchungsberichte zur Verfügung. Diese Milde erklärt sich mit dem Charakter beider Kommissionen, die in erster Linie nach pragmatischen Lösungen für konkrete Probleme suchen.208 Als Hauptorgan der Überwachung steht dem Verwaltungsrat, der über das weitere Vorgehen entscheidet, zudem die ganze Palette der Kontrollverfahren zur Verfügung. 5. Das System der "direkten Kontakte"

1967 empfahl der Sachverständigenausschuß in seinem Bericht den Ausbau der direkten Beziehungen mit den Mitgliedstaaten, um die Effizienz seiner Arbeit gerade bei schwierigen und komplexen Fällen zu verbessern. 209 1969 wurde das System der "direkten Kontakte" 210 provisorisch eingeführt und 1973 im Lichte der ersten praktischen Erfahrungen erweitert und reglementiert. "Direkte Kontakte" gelangen bei technischen und praktischen Problemen mit ratifizierten Übereinkommen zur Anwendung. Seit 1973 dienen sie auch der Unterstützung (von Dritte-Welt-Ländern) bei der Abfassung der Rechenschaftsberichte. Sie können vom Generaldirektor, dem Sachverständigen-, dem Konferenzausschuß oder den Mitgliedstaaten angeregt werden. Voraussetzung ist in jedem Fall das Einverständnis der betroffenen Regierung. Der Generaldirektor bezeichnet eine unabhängige Persönlichkeit oder einen hohen Funktionär des Internationalen Arbeitsamtes, der in seinem Namen vor Ort mit den zuständigen Behörden und Berufsverbänden Kontakt aufnimmt und mit den Beteiligten nach Lösungen sucht. Der Verfahrensablauf und die zu behandelnden Fragen werden im voraus bestimmt. Während des Verfahrens suspendieren die Kontrollorgane ihre Tätigkeit, allerdings nicht für länger als ein Jahr. Die "direkten Kontakte" bilden heute eines der attraktivsten Kontrollverfahren. Sowohl Regierungen als auch Berufsorganisationen bezeichnen sie als geeignetes und effizientes Mittel. Der Arbeitsminister Ecuadors nannte sie geradezu euphorisch "[ ... ] le meilleur moyen pour les gouvernements de faire face a certaines difficultes qui les empechent de s'acquitter pleinement des 208

Vgl. Leary, The International Labour Organisation, S. 606, 608.

Vgl. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 51 (1967), Para. 39. 209

210 Vgl. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 63 (1977), S. 16117; 65 (1979), Para. 42-89; Les NormesInternationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference du Travail, 70C session, Genf 1984, S. 51-53.

II. Okkasionelle Kontrolle

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obligations que leur font Ia Constitution et !es conventions de I'OIT". 211 Der Sachverständigenausschuß sprach ohne Einschränkung von "( ... ] un moyen irrempla~rable d'aider les pays, notamrnent ceux en developpement, non seulernent a appliquer les conventions qu'ils avaient ratifiees, mais encore a regler toutes les autres questions que posenlies normes internationales du travail." 2 12

Die Attraktivität der "direkten Kontakte" beruht vor allem auf dem informellen und diskreten Vorgehen, dem großen Verfahrensspielraum und der kurzen Dauer von etwa einer Woche: "En effet, I'experience demontrait que Ie succe:s de ces contacts provenait dans une !arge mesure du fait qu'il se deroulaient en l'absence de tout formalisme etroit. "21 3 Bis 1992 unternahm das Internationale Arbeitsamt 284 Missionen im Rahmen der "direkten Kontakte" 214 neben einer Vielzahl regionaler und anderer Missionen. 215 Der bisher bedeutendste Fall betraf die Gruppe der Andenstaaten (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru, Venezuela und Chile). 1975 ersuchten diese Länder den Generaldirektor um "direkte Kontakte", um eine Ratifikation von 25 wichtigen Konventionen in allen sechs Staaten zu ermöglichen.216 Praktisch alle Kontrollorgane der ILO greifen auf "direkte Kontakte" zurück, namentlich der Sachverständigenausschuß und der Ausschuß für Vereini-

211 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 65 (1979), Para. 82. 212 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 65 (1979), Para. 85. 213 Rapport de Ia Commission d'experts pour I'application des conventions et recommandations 65 (1979), Para. 48, S. 14/15.

214 Les Norrnes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference du Travail, 7~ session, Genf 1984, S. 51; Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 66 (1980), Para. 40-44; 67 (1981), Para. 47; 68 (1982), Para. 49, 51-53; 69 (1983), Para. 76; 70 (1984), Para. 76; 71 (1985), Para. 72; 72 (1986), Para. 72; 73 (1987), Para. 101; 75 (1987), Para. 67; 76 (1989), Para. 58; 77 (1990), Para. 50; 78 (1991), Para. 60; 79 (1992), Para. 68; 80 (1993), Para. 62.

215 Les Norrnes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference du Travail, 7~ session, Genf 1984, S. 53, 54; Rapport de Ia Commission d'experts pour I'application des conventions et recommandations 66 (1980), Para. 39-49; 67 (1981), Para. 47-58; 68 (1982), Para. 49-55; 69 (1983), Para. 76-86; 70 (1984), Para. 76-82; 71 (1985), Para. 72-77; 72 (1986), Para. 72-79; 73 (1987), Para. 101-107; 75 (1987), Para. 67-72; 76 (1989), Para. 58-64; 77 (1990), Para. 50-58; 78 (1991), Para. 60-68; 79 (1992), Para. 68-81 ; 80 (1993), Para. 63-74. 216 Von 1969 bis 1979 erwähnt der Bericht des Generaldirektors 222Missionen im Rahmen von "direkten Kontakten" betreffend 28 Staaten und 68 Konventionen. In I 15 Fällen betreffend 23 Staaten und 56 Konventionen seien Fortschritte erzielt worden. Vgl. Les Norrnes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur general a Ia Conference du Travail, 7~ session, Genf 1984, S. 51.

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B. Die Kontrollverfahren der ILO

gungsfreiheit. Das Verfahren fand vielfaltige Verwendung, beispielsweise 1980-1982 im Vorfeld des Klageverfahrens gegen Polen, 1978 anstelle einer Untersuchung nach Art. 26 in Panama, 1986 anstatt eines Verfahrens des Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses in Argenlinien oder 1971 zur Kontrolle der Empfehlungen der Untersuchungskommission im Verfahren gegen Portugal. Eine (vor allem auch quantitativ) erfolgreiche Bilanz kann der Ausschuß für Vereinigungsfreiheit vorweisen. Bis 1992 erledigte er rund 1900 Verfahren 217 • Vor allem seit 1980 hat er eine deutlich steigende Anzahl Fälle zu behandeln. In den achtziger Jahren erledigte er jährlich rund 100 Verfahren, vorher waren es nur gerade 30 pro Jahr gewesen. 218 In wesentlich geringerem Maße werden Beschwerde und Klage nach Art. 24 und 26 der Verfassung in Anspruch genommen. Bis Ende 1993 erhielt der Verwaltungsrat 46 Beschwerden und 23 Klagen; bisher wurden insgesamt neun Untersuchungskommissionen eingesetzt.219 Beide Verfahren werden zur Hauptsache von Arbeitnehmern in Anspruch genommen220 , obwohl diese im allgemeinen ein informelleres Vorgehen bevorzugen. Sie wenden sich daher eher mit Bemerkungen nach Art. 23 Abs. 2 an das Internationale Arbeitsamt oder mit einer Klage an den Ausschuß für Vereinigungsfreiheit. 221 Das formelle und schwerfällige Klageverfahren gelangt nur in gravierenden Fällen zur Anwendung und fungiert als "ultima ratio", "Damoklesschwert", als "une sorte d'ultime remede". 222 Eine Klage gilt als unfreundlicher Akt, widerspricht den diplomatischen Gepflogenheiten des zwischenstaatlichen Verkehrs und wird, obwohl rechtmäßig, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfunden. Berufsverbände und Delegierte der Internationalen Arbeitskonferenz befürchten daher einen Abwehrreflex der betroffenen Regierungen im Falle einer Klage. Ihre Funktion beruhte deshalb auf

217 Vgl. Leary, The International Labour Organisation, S. 603, Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 79 (1992), Para. 28; 80 (1993), Para. 30. 218

Vgl. Les Normes Internationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur g~neral a Ia du Travail, 70" session, Genf 1984, S. 44. Angabe des Internationalen Arbeitsamtes.

Conf~rence

219

Vgl. Anhang, S.l86-194.

Bei zwei Dritteln aller Klagen waren Arbeitnehmer zumindest mitbeteiligt, 42 der 46 Beschwerden gingen auf Arbeitnehmerorganisationen zurück. Vgl. Anhang S.186-194. 220

221 Vgl. oben S.47-49. Vgl. auch Les NormesInternationales du Travail. Extrait du rapport du Directeur g~neral a Ia Conference du Travail, 70" session, Genf 1984, S. 41 ; Haase, Zur Bedeutung der IAO-Übereinkommen, S. 242. 222

Valticos, Les Commisskns d'enquete, S. 849, 874-876.

II. Okkasionelle Kontrolle

65

ihrer Präventivwirkung. 223 Trotzdem wurden beide Instrumente seit den siebziger Jahren vermehrt in Anspruch genommen. Wurden zwischen 1919 und 1969 nur gerade neun Beschwerden eingereicht, waren es in den siebziger Jahren bereits fünf und in den achtziger Jahren 23. Bis 1961 blieb Art. 26, mit einer Ausnahme, toter Buchstabe.224 Erst im Zusammenhang mit der Dekaionisation Afrikas erhob Ghana gegen Portugal Klage wegen Verletzung der Konvention Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit in den portugiesischen Kolonien. Politische Hintergründe wirkten als Katalysator. Damit war der Bann gebrochen, und das Mittel der Klage gelangt seither regelmässig zur Anwendung, wie auch Nicolas Valticos, früherer Vizegeneraldirektor des Internationalen Arbeitsamts, bestätigt: "L'usage plus frequent de Ia procedure de Ia plainte l'a rendue plus familiere et l'a en quelque sorte desacralisee." 225 Die Effizienz der Untersuchungskommissionen hängt unmittelbar von der Kooperationsbereitschaft der betroffenen Staaten ab. Obwohl weder Voraussetzung noch Bedingung, erweist sich die Mitarbeit der Regierungen in der Praxis als direkt proportional zum Erfolg des Verfahrens. Im ersten Verfahren gegen Portugal kooperierte die portugiesische Regierung geradezu mustergültig. Ernsthafte Probleme ergaben sich aber in drei Fällen: 1968 beendigte Griechenland nach der Zeugenanhörung seine Kooperation und verunmöglichte damit einen Augenschein an Ort und Stelle. Die Regierung anerkannte schließlich dennoch die Empfehlungen der Untersuchungskommission und traf Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung. 1984 verweigerte Polen jegliche Kooperation und erklärte für 1986 seinen Austritt aus der IL0. 226 Die Empfehlungen der Untersuchungskommission fielen unter diesen Umständen dürftig und allgemein aus 227 ; angesichts des bevorstehenden Austritts schien ihre Durchsetzung unmöglich. Am 17. Juli 1986 verabschiedete das polnische Parlament dann aber ein Amnestiegesetz, wovon nach amtlichen Angaben 1078 Personen pro-

223 "Dans J'ensemble, on peut considerer que, tout en n'etant pas destinee a etre d'un usage frequent et en appelant un maniement delicat, Ia procedure de plainte a maintenant acquis une place effective parmi les procedures de contröle et continuera sans doute a etre utilisee soit dans des cas d'une certaine importance, soit dans des situations appelant un examen plus approfondi que ne perrnet Ia procedure courante d'examen des rapports." Valticos, L'evolution du systeme de contröle, S. 515; vgl. auch Valticos, Les Commissinns d'enquete, S. 875. 224

Vgl. unten S. 186-194.

Valticos, Droit international du Travail, S. 612. Vgl. auch Valticos, Les commissions d'enquete, S. 853, 875; Valticos, L'evolution du systeme de contröle, S. 514. 225

226 Nach Art. 1 Abs. 5 der ILO-Verfassung wird ein Austritt erst zwei Jahre nach einer Demission wirksam. 227

Vgl. Untersuchungskommission (Polen), Para. 570-591 .

5 Voegeli

66

B. Die Kontrollverfahren der ILO

fitierten, darunter alle Angehörigen von Solidarnocz.228 Obwohl kaum ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, entsprach diese Maßnahme einer Empfehlung der Untersuchungskommission. Im November 1986 schob die polnische Regierung den inzwischen falligen Austritt ein Jahr hinaus, um sich am 17. November 1987 für den definitiven Verbleib in der ILO zu entschließen. 229 Seither kooperiert Polen auch wieder mit den permanenten Kontrollorganen. Ob sich damit eine endgültige Bereinigung des Falles anbahnt, wird die Zukunft weisen. Im Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1986 kooperierte die Regierung zwar, lehnte aber die Empfehlungen der Untersuchungskommission als falsch und unzuläßig ab.

228 Vgl. Neue Zürcher Zeitung Nr. 4 vom 7.1.1987, S. 3; s. auch Neue Zürcher Zeitung Nr. 211 vom 12.9.1986, S. 2; Nr. 212 vom 13./14.9.1986, S. 3; Nr. 227 vom 1.10.1986, S. I; Nr. 228 vom 2.10.1986, S. 3; Nr. 231 vom 6.10.1986, S. 1. 229 "Le gouvemement polonais a pris cette decision, convaincu que !es problemes seront definitivement regles. Le gouvemement polonais est convaincu que Ia reprise de l'activite de Ia Pologne au sein de !'Organisation internationale du Travail contribuera a Ia creation de conditions favorables au plein developpement d'une cooperation mutuellernent avantageuse entre Ia Pologne et l'OIT [ .. . ]."

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992 Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Bundesländer Grundsätze über Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Geeignet sei nur, "wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt". Beamte seien "verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen".230 Dieser rechtlich unverbindliche Beschluß fand als "Radikalenerlaß" oder "Extremistenbeschluß" in einer aufgewühlten Öffentlichkeit großes Echo. Noch am gleichen Tag bekräftigten die Ministerpräsidenten und der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt in einer "Gemeinsame[n] Erklärung" die Grundsätze "über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen". 231 Was dies bedeutete, konkretisierte der "Radikalenerlaß":

"( .. .] Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages. Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung die Anforderungen des [ ... ] Beamtenrechtsrahmengesetz[es] nicht, aufgrund deren er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und flir deren Erhaltung einzutreten, so hat der Dienstherr[ ... ] die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem öffentlichen Dienst anzustreben ist [ .. .]." 232

Der Radikalenerlaß prägte wie kaum ein anderes Thema die innenpolitische Diskussion der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren. 233 Er richtete sich hauptsächlich gegen Kommunisten, die nach den 68er Unruhen

230

Abgedruckt in Frisch, S. 144.

Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsdienstes der Bundesregierung Nr. 15 vom 3.2.1972, S. 142. 231

232

Abgedruckt in Frisch, S. 144.

233

Vgl. Backes/Jesse, S. 291.

68

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

den "langen Marsch durch die Institutionen" angekündigt hatten234 , und entsprach dem Konzept der "streitbaren Demokratie". 235 Die Gegner des Rechtsstaates sollten nicht wie während der Weimarer Republik die Freiheitsrechte zur Beseitigung der Demokratie mißbrauchen können, und gerade Beamte waren als Rückgrat des demokratischen Rechtsstaates vorgesehen. Bis Mitte der sechziger Jahre begegnete die Bundesrepublik Deutschland den Gefahren seitens extremistischer Organisationen mit Verboten. Bis 1964 wurden 228 Verbotsverfügungen gegen 119 Vereine erlassen236 ; 1952 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Sozialistische Reichspartei, ein Auffangbecken der Nationalsozialisten, und 1956 auch die KPD für verfassungswidrig. Seit 1964 änderte die Taktik. Extremistische Organisationen sollten nicht untersagt, sondern mit politischen Mitteln bekämpft werden. Justizminister Gustav Heinemann lehnte 1967 eine Aufbebung des KPD-Verbotes ab, bezeichnete aber die Gründung einerneuen kommunistischen Partei ausdrücklich als Alternative. 237 1968 konstituierte sich die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Ein Mittel des politischen Kampfes gegen extremistische Organisationen bildetete der "Radikalenerlaß". Auch das Bundesverfassungsgericht folgte dieser neuen Strategie und berief sich in einem wegweisenden Urteil 1975 erstmals auf den Begriff "Verfassungsfeindlichkeit". Damit bot sich eine politische Handhabe gegen extremistische Parteien, ohne daß die Verfassungswidrigkeit nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes festgestellt und ein Verbot ausgesprochen werden mußte, wie das Bundesverfassungsgericht explizit festhielt "Der Umstand, daß die dem BVerfG [Bundesverfassungsgericht, der Verf.] vorbehaltene Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei bisher nicht ergangen ist, hindert nicht, daß die Überzeugung gewonnen und vertreten werden kann, diese Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele und sei deshalb politisch zu bekämpfen." 238

In der Praxis wurden "Radikale" durch die sogenannte Regelanfrage überprüft. Die Einstellungsbehörde fragte beim jeweiligen Innenministerium und dieses beim entsprechenden Amt für Verfassungsschutz nach, "ob Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die Einstellung begründen" 239 , wie der entsprechende Passus der Anfrage lautete. In der innenpolitischen Auseinandersetzung prägten die Gegner einer solchen Praxis das Schlagwort der "Berufsverbote", das sogar in Frankreich zu einem festen Begriff wurde. Die Bundes234

Vgl. Jaschke, S. 158-163, insbesondere S. 163; Mußgnug, S. 446.

235

Vgl. dazu Backes/Jesse, S. 280-284.

236 Von 1964 bis 1988 wurden lediglich 12 weitere Vereinsverbote verhängt. Vgl. Backest Jesse, S. 287, 288. 237

Vgl. Backes/Jesse, S. ll7-119, 307.

238

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1645.

239

Zit. in: Mußgnug, S. 446.

I. Die Beschwerden des WGB und ihr politischer Hintergrund

69

regierung hingegen verwahrte sich stets ausdrücklich gegen eine solche Bezeichnung. Auf Bundesebene waren vor allem Beamte von Bahn und Post, in den Ländern hauptsächlich Lehrer von dieser Praxis betroffen. Die Durchsetzung des Radikalenerlasses blieb in der Praxis uneinheitlich. Bewerber, die in einem Bundesland abgelehnt wurden, erhielten gelegentlich in anderen Bundesländern eine Beamtenstelle. Nachdem zwei Gesetzesentwürfe des Bundesrates und der Bundesregierung für eine einheitliche Praxis 1975 gescheitert waren, distanzierten sich die von SPD und FDP regierten Bundesländer sukzessive vorn "Radikalenerlaß". Die Abkehr der Sozialdemokraten gipfelte 1976 im Eingeständnis Brandts: "Ich habe mich damals geirrt." 240 Eine Änderung der Praxis erfolgte meist mit einem Regierungswechsel in den Bundesländern. 1979 beschloß auch die Bundesregierung die Aufhebung der Regelanfrage. Die CDU/CSU-regierten Bundesländer hielten bis Ende der achtziger Jahre am Radikalenerlaß fest. Erst 1992 erklärte die Bundesregierung in ihrem Rechenschaftsbericht an die ILO, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und schließlich Bayern im Dezember 1991 hätten als letzte Bundesländer die Regelanfrage formell aufgehoben. 241 Die heftige innenpolitische Diskussion um die "Berufsverbote" verlagerte sich Ende der siebziger Jahre auf die internationale Ebene. 1978 kritisierte das Russell-TribunaJ242 die Praxis der Bundesregierung; 1978 und 1984 richtete der kommunistisch geprägte Weltgewerkschaftsbund (WGB) mit Sitz in Prag zwei Beschwerden nach Art. 24 der ILO-Verfassung gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die Praxis der Bundesregierung verletze die Konvention 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf im Bereich des öffentlichen Dienstes. Höhepunkt auf internationaler Ebene bildete schließlich das Klageverfahren nach Art. 26 der ILO-Verfassung, das der Verwaltungsrat 1985 von sich aus im Einverständnis mit der Bundesregierung einleitete.

°

24

Frankfurter Rundschau Nr. 121 vom 5.6.1976, S. 4.

Bericht der Bundesregierung nach Art. 22 der ILO-Verfassung für die Berichtszeit vom 1.7.1990 bis 30.6.1992. Im folgenden zitiert als: Bericht der Bundesregierung nach Art. 22. In: BIT ACD 8-2-24-lll (vgl. Anm. 1). Vgl. Jesse, Eckhard: Streitbare Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Extremistenbeschlusses von 1972, Trier 1989 (bei Abschluß der Arbeit noch unveröffentlichte Habilitationsschrift). 241

242 Die nach dem englischen Philosophen Benrand Russe11 benannte Jury macht in einem gerichtsähnlichen Verfahren die Öffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. Das Russe11-Tribunal ist kein Gericht, tagt ohne Vertreter der angeschuldigten Regierungen und wird vom privaten Russen-Friedensinstitut organisiert. Die ersten vier Tribunale befaßten sich mit Kriegsverbrechen der USA während des Vietnarnkrieges, Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika, den "Berufsverboten" in der "Bundesrepublik Deutschland" und der Verfolgung der Indianer in Amerika. Die Tribunale waren in der Öffentlichkeit umstritten.

70

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

I. Die Beschwerden des Weltgewerkschaftsbundes (WGB)

und ihr politischer Hintergrund

Auf internationaler Ebene griffen der Weltgewerkschaftsbund (WGB) in Prag und der Weltverband der Lehrergewerkschaften in Berlin (Ost) die innerdeutsche Auseinandersetzung um die "Berufsverbote" auf und weckten damit erst eigentlich die Aufmerksamkeit der IL0. 243 Anlaß war ein Gesetzesentwurf zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften, der am 24. Oktober 1975 vom Bundestag verabschiedet wurde.244 In einem Brief vom lO. November 1975 an den ILO-Generaldirektor warf der WGB der Bundesregierung "flagrante Verletzungen" der Konvention 111 über Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vor und stützte sich dabei auf Materialien der Hamburger Initiative "Weg mit den Berufsverboten".245 Der Gesetzesentwurf schaffe der bestehenden Praxis der Berufsverbote und Meinungsüberwachung eine gesetzliche Grundlage, schrieb der WGB. "Demokraten, Pazifisten und Gewerkschaftern" solle wegen ihrer politischen Meinungen der Zugang zum öffentlichen Dienst verwehrt werden, unter dem Vorwand, sie seien Verfassungsfeinde. 246 Ähnliche Vorwürfe erhob auch die Vereinigung der Lehrergewerkschaften am 9. Januar 1976. 247 Der WGB verlangte von der Normenabteilung des Internationalen Arbeitsamtes "de prendre des mesures adequates".248 Nach der üblichen Praxis leitete das Internationale Arbeitsamt diese Vorwürfe zur Stellungnahme an die Bundesregierung weiter. Mit einer "direkten

243 Weder der Konferenzausschuß noch der Sachverständigenausschuß beschäftigten sich von 1972-1976 mit den "Berufsverboten". Die Akten des Internationalen Arbeitsamtes von 1972 bis 1976 belegen, daß das Amt bis 1976 wenig Kenntnis davon besaß. Vgl. BIT ACD 8-2-24-111 (1972-1976). Horst Bethge von der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" bestätigte, daß die Hamburger Initiative erst seit 1976 das Internationale Arbeitsamt über diese Problematik informierte. Vgl. Brief von Horst Bethge vom 17.5.1992 an den Verfasser. Vgl. auch Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 98. 244 Der Entwurf fand allerdings nicht die erforderliche Mehrheit im Bundesrat und erlangte somit nie Gesetzeskraft. Vgl. Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1974-30.6.1976, BIT ACD 8-2-24-111. 245

Brief vom 10.11.1975, BIT ACD 8-2-24-111.

Wörtlich schrieb der WGB, der Gesetzesentwurf "generalise Ia pratique de l'interdit professionnel et de Ia surveillance des opinions. Elle legalise une situation de fait qui prive des democrates, des progressistes, des syndicalistes, des pacifistes du droit d'exercer leur metier dans Ia fonction publique, sous pretexte d'etre des 'ennemis de Ia Constitution' ". Brief des WGB an den Generaldirektor der ILO vom 10.11.1975, BIT ACD 8-2-24-111. 246

247 Dies geht aus dem Antwortschreiben des damaligen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an das Internationale Arbeitsamt vom 1.3.1976 hervor, BIT ACD 8-2-24-111 . 248

Briefvom 10.11.1975, BIT ACD 8-2-24-111.

I. Die Beschwerden des WGB und ihr politischer Hintergrund

71

Anfrage" und einer "Bemerkung" erbat sich der Sachverständigenausschuß 1976 detaillierte Auskunft über die Zulassungsvoraussetzungen im öffentlichen Dienst, verwaltungsinterne Weisungen und Gerichtsurteile. 249 Am 24. Januar 1978 und am 13. Juni 1984250 erhob der WGB zweimal Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die erste erfuhr 1979 eine abschließende Behandlung durch einen Ausschuß des Verwaltungsrates, während die zweite 1985 vom Verwaltungsrat in ein Untersuchungsverfahren nach Art. 26 Abs. 4 der ILO-Verfassung übergeführt wurde. Bereits am 18. November 1976 hatte der WGB beim Internationalen Arbeitsamt Beschwerde gegen die damalige EWG und ihre Praxis bei der Einstellung ihrer Beamten eingelegt. Vier der neun damaligen Mitglieder, darunter die Bundesrepublik Deutschland, hätten das ILO-Übereinkommen 111 ratifiziert, begründete der WGB seine Beschwerde und verlangte vom Verwaltungsrat sogar explizit die Einsetzung einer Untersuchungskommission nach Art. 26 der Verfassung. Der Verwaltungsrat wies diese Beschwerde jedoch aus formalen Gründen zurück. 251 1. Motive des Weltgewerkschaftsbundes

Die Aktivität des WGB mag zunächst erstaunen. Viel eher würde man vielleicht einen Vorstoß seitens einer deutschen Berufsorganisation oder eines deutschen Delegierten erwarten. Der WGB besitzt aber zusammen mit weiteren nichtstaatlichen Organisationen eine Beraterfunktion (statut consultatit) bei der ILO, die eine Teilnahme an den Sitzungen der Internationalen Arbeitskonferenz und ihrer AusschüBe erlaubt und mit der Zustimmung des jeweiligen Prä-

249 Vgl. "Direkte Anfrage" des Sachverständigenausschusses 1976, BIT ACD 8-2-24-111. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 61 (1976), S. 181/182. 250 Die Beschwerden sind in den Akten des Verwaltungsrates übersetzt und abgedruckt, im folgenden zitiert als BIT GB. [Goveming Body]. BIT GB. 205/21111, 205. Session, 28.2.3.3.1978, Anhang 2, S. 7; BIT GB. 227/8/14,227. Session, Juni 1984, AnhangS. 3. 251 Das Reglement des Verwaltungsrats für die Zuläßigkeit von Beschwerden verlangt als formale Voraussetzung: "Elle doit se porter sur une convention ratifiee par le Membre mis en cause." Von den damaligen EWG-Mitgliedstaaten hatten nur die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Italien und die Niederlande das Übereinkommen III ratifiziert, nicht aber Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg und Irland.Vgl. BIT GB. 202/6/3, 202. Session, 1.-4.3.1977, Anhang 2, S. 7/8; Überraschend war, daß dem WGB als intimem Kenner der ILO-Verfahren ein solcher Formfehler unterlief. Daniel Retureau führte dies auf interne Spannungen im Weltgewerkschaftsbund zurück, die seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei bestanden hätten. "Wahrscheinlich handelte es sich um eine Aktion des Sekretariats des WGB", erklärte er am 30.6.1992.

72

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

sidenten und Vizepräsidenten sogar das Rederecht umfaßt. 252 Bei allen Klageverfahren nach Art. 26 wurden solche Organisationen von den jeweiligen Untersuchungskommissionen um Informationen gebeten. 253 Von daher darf das Internationale Arbeitsamt eine besondere Aufmerksamkeit von Organisationen mit Beraterfunktion erwarten, zumal die Kontrolle auf Informationen von außen angewiesen ist. Die Hartnäckigkeit des WGB war insofern gerechtfertigt, als die unabhängige Untersuchungskommission 1987 zum Schluß kam, die Praxis der Bundesrepublik Deutschland widerspreche dem Übereinkommen 111 und damit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.254 Die Beschwerden des WGB waren aber auch (möglicherweise sogar zur Hauptsache) politisch motiviert. Die zweite galt offensichtlich als "Retourkutsche" gegen eine Beschwerde des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) gegen die Tschechoslowakei vom 28. Januar 1978. Der IBFG hatte der Tschechoslowakei eine Verletzung der Konvention 111 im Zusammenhang mit dem Vorgehen der Behörden gegen die Mitglieder der "Charta 77" vorgeworfen. Seit 1971 hatte der Sachverständigenausschuß deshalb die tschechoslowakische Regierung kritisiert, und im Konferenzausschuß war es zu teilweise hitzigen Debatten zwischen Vertretern sozialistischer und westlicher Staaten gekommen. 255 Der Ausschuß des Verwaltungsrates, der die Beschwerde untersuchte, hatte die Erklärungen der tschechoslowakischen Regierung als unbefriedigend beurteilt.256 Sowohl Andre Zenger und Klaus 252 Vgl. Art. 12 Abs. 3 der Verfassung sowie Art. 2 Abs. 3j, Art. 14 Abs. 10 und Art. 56 Abs. 9 der Geschäftsordnung der Internationalen Arbeitskonferenz. Ausgenommen vom Rederecht sind Verwaltungs- und Haushaltsfragen (Art. 14 Abs. 10 der Geschäftsordnung der Internationalen Arbeitskonferenz).

253 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Portugal), Para. 20; Bericht Untersuchungskommission (Liberia), Para. 36; Bericht Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 50; Bericht Untersuchungskommission (Chile), Para. 13; Bericht Untersuchungskommission (Haiti, Dominikanische Republik), Para. 18; Bericht Untersuchungskommission (Polen), Para. 59; Bericht Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 25; Bericht Untersuchungskommission (Rumänien), Anm. 3, S. 31. 254 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 127-153, insbesondere Para. 545, 564, 570, 579, 581 , 584. 255

Vgl. Samson, ILO Investigation of Job Discrimination in Czechoslovakia, S. 6.

256 "[ ... ]Je comite ne s'estirne pas en rnesure de proposerau Conseil d'administration de con-

siderer Ia reponse re~ue du gouvernernent comme satisfaisante au sens de Ia procedure de reclamation prevue par Ies articles 24 et 25 de Ia Constitution." Rapport du Comite charge d'etudier Ia reclamation presentee par Ia Confederation internationale des syndicats libres, en vertu de l'article 24 de Ia Constitution, au sujet de l'inexecution de Ia convention (n° 111) concemant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, par Ia Tchecoslovaquie, in: Bulletin officiel 61 (1978), Serie A, n° 2, supplement, Para. 22.

I. Die Beschwerden des WGB und ihr politischer Hintergrund

73

T. Samsan seitens des Internationalen Arbeitsamtes als auch die deutschen Mitglieder im Verwaltungsrat, Winfrid Haase, Gerd Muhr und Wolf-Dieter Lindner, interpretierten deshalb die Beschwerde des WGB von 1978 explizit als kommunistische "Retourkutsche" 257 • Der damalige deutsche Regierungsvertreter Winfrid Haase erinnerte sich, der tschechoslowakische Regierungsvertreter habe ihm nach der Behandlung der Beschwerde gegen die Tschechoslowakei im Verwaltungsrat wörtlich gesagt: "Diesmal waren wir dran, das nächste Mal ihr." 258 Auch für Dietrich Schindler, Mitglied der späteren Untersuchungskommission gegen die Bundesrepublik Deutschland, standen hinter der zweiten Beschwerde von 1984 eindeutig politische Motive. 259 Daniel Retureau vom WGB äußerte sich im selben Sinn.260 Die Beschwerde vom 13. Juni 1984 stand möglicherweise auch im Zusammenhang mit den Vorwürfen von zwei westlichen Arbeitnehmerdelegierten der Internationalen Arbeitskonferenz gegen Polen. Am 16. Juni 1982 erhoben eine Norwegerin und ein Franzose Klage gegen die polnische Regierung und machten eine Verletzung zweier Konventionen zum Schutz der Gewerkschaftsrechte geltend, da nach der Verhängung des Kriegsrechts vom 13. Dezember 1981 die Gewerkschaft Solidarnocz verboten worden war. 261 Möglicherweise hatten auch die weithin beachteten Urteile des westdeutschen Bundesverwaltungsgerichts, der höchsten Verwaltungsgerichtsinstanz, gegen den Fernmeldehauptsekretär Hans Peter und den Fernmeldeingenieur Hans Meister die neue Initiative des WGB ausgelöst, wie Klaus Samsan vermutete.262 Beide Beamten wurden wegen ihrer Kandidaturen für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) von der Bundespost entlaßen. Nachdem das Bundesdisziplinargericht ihren Einsprachen stattgegeben hatte, bestätigte das Bundesverwaltungsgericht am 29. Oktober 1981 bzw. am 10. Mai 1984 das Urteil der ersten Instanz. 263

257 Vgl. Gespräche mit Andre Zenger und KlausT. Sarnson vorn 19.2.1992 in Genf, Winfrid Haase arn 2.4.1992 in Bonn und Gerd Muhr arn 4.5.1992 in Düsseldorf. Telefongespräch mit Wolf-Dieter Lindner vorn 4.3.1992. 258 Gespräch mit Winfrid Haase arn 2.4.1992 in Bonn, Brief von Haase vorn 30.8.1992 an den Verfasser. 259

Telefongespräch vorn 16.9.1991.

260

Telefongespräch vorn 30.6.1992.

Zum Klageverfahren gegen Polen vgl. Bericht Untersuchungskornmission (Polen); Manin, Aleth: Quelques reflexions sur Ia fonction de contröle de I'OIT. A propos du rappolt sur Ia liberte syndicale en Pologne, in: Annuaire fran~ais de Droit lntemational30 (1984), S. 672-691 . 261

262

Telefongespräch vorn 11.5.1992.

263

Bericht Untersuchungskornmission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 292-315.

74

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

2. Kalter Krieg in der /LO Nicht nur die Diskußion um die Praxis der Bundesregierung, sondern die gesamte Arbeit der ILO war bis 1989 vom Konflikt zwischen Ost und West überschattet. 264 Besonders augenfällig wurde diese Auseinandersetzung beim Austritt der Vereinigten Staaten aus der ILO im November 1977.265 Staatssekretär Henry Kissinger kritisierte im Austrittsschreiben eine Erosion der dreigliedrigen Struktur der ILO, da die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter aus den sozialistischen Staaten nicht wirklich unabhängig seien, sondern von ihren Regierungen kontrolliert würden. Eine zunehmende Politisierung unterminiere die unabhängigen Kontrollverfahren: "In particular, we cannot accept the Workers' and Employers' Groups in the ILO falling under the domination of governments. [ ... ] In recent years, however, sessions of the ILO Conference increasingly have adopted resolutions condernning particular rnember states which happentobe the political target of the moment, in utter disregard of the established procedures and machinery. [ ... ] In recent years the ILO has become increasingly and excessively involved in political issues which are quite beyond the competence and mandate of the organization." 266

Seit den siebziger Jahren besaßen die Ostblockstaaten zusammen mit den neuen Mitgliedländern aus der sogenannten dritten Welt eine Mehrheit in der Internationalen Arbeitskonferenz. Den Verwaltungsrat und die Arbeitsgruppen des KonferenzausschuBes dominierten dagegen die westlichen Staaten. Die Vereinigten Staaten würden bis zu 25 Prozent des ILO-Budgets finanzieren, während die Organisation zunehmend in den Sog sozialistischer Ideologie gerate, lauteten die amerikanischen Vorwürfe: "The so-called group of 77, a bloc of Jess developed countries, tends more and more to dominate the ILO, particularly when the communist block votes with them. [ ... ] Among the mosl recent cases of politicization has been the use of the ILO as a platform of the Soviel propaganda campaign to split the westem alliance." 267

264 Andre Zenger und KlausT. Samson bestätigten dies in Gesprächen am 19.2.1992 in Genf, Winfrid Haase und Horst Weber am 2.4.1992 in Bonn und Gerd Mohr am 4.5.1992 in Düsseldorf. Auch Daniel Retureau vom WOB vertrat diese Meinung in einem Telefongespräch vom 30.6.1992. 265

Die Vereingien Staaten traten im Juni 1980 wieder der ILO bei.

Schreiben von Staatssekretär Henry Kissinger vom 5.11.1975 an den ILO-Generalsekretär, S. 3. 266

267 Galenson, Walther, The International Labor Organization Mirroring the U.N.' s Problems, S. 5, 17. Nach Auffassung von Winfrid Haase haben die USA aus politischen Gründen stets versucht, die Wahl eines Vertreters eines Ostblockstaates als Präsidenten der Internationalen Arbeitskonferenz oder Vorsitzenden des Verwaltungsrates zu verhindern. Vgl. Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn. Brief vom 30.8.1992 an den Verfasser.

I. Die Beschwerden des WOB und ihr politischer Hintergrund

75

Dieselbe Kritik unter anderen Vorzeichen übten die Ostblockstaaten. Wohl unter dem Eindruck der Verfahren gegen Polen warfen sie 1985 der ILO vor, sie lasse sich vom Westen manipulieren, während die sozialistischen Staaten in der ILO nicht angemessen vertreten seien. "The organization's activities, particularly in recent Iimes, have been characterised by [ ... ] attempts to use the Organisation for unseemly political ends against the socialist and other progressive countries in order to interfere in their internal affairs; [ .. .] discrimination against the socialist countries, making their full participation in ILO activities impossible[ ...]". 268

Besonderes Augenmerk galt den Kontrollverfahren. Die Klage gegen Polen wurde als "anti-Polish campaign launched by the imperialist and other reactionary forces within the ILO" charakterisiert.269 "The Organisation has openly sided with the imperialist circles most hostile to socialist Poland and has become an instrument for gross interference in the internal affairs of Poland, an instrument for destabilising the situation in that country." 270

Auch im Konferenzausschuß kam solche Kritik, gerade während der achtziger Jahre, in stereotyper Wiederholung zur Sprache.271 Insbesondere die Spezialliste mit einer Aufzählung jener Staaten, die sich wiederholt schwere Verfehlungen bei der Einhaltung ratifizierter Konventionen zuschulden kommen ließen, bedeutete für die Ostblockstaaten regelmäßig einen Stein des Anstoßes und verhinderte 1974 eine Annahme des Berichtes des Konferenzausschußes durch die Internationale Konferenz. Damals wurde auch die Sowjetunion auf der Liste erwähnt. 272 Im Kreuzfeuer sozialistischer Kritik stand jeweils der Sachverständigenausschuß, der dem sozialistischen Staatsmodell und den politischen und wirtschaftlichen Umständen nicht Rechnung trage und damit die westlichen Staaten bevorzuge. So erklärte der tschechoslowakische Regierungsvertreter 1982 vor dem Konferenzausschuß, die Mitglieder des SachverständigenausschuBes "ne tiennent pas compte des differences de concepts juridiques dans les pays ayant des systemes sociaux et economiques differents; ceci a conduit a ehereher a imposer des conceptions bourgeoises a des pays socialistes et a ingerer d'une maniere inacceptable dans Ia souverainete des

268 Declaration of the Sodalist Countries on the Situation in the International Labour Organisation, 29.3.1985, übersetzt und abgedruckt in: BIT OB. 230/19/4, 230. Session, Genf 1985, S. 2. 269

Wie Anm. 268, S. 4.

270

Wie Anm. 268, S. 4.

Vgl. z.B. Compte rendu provisoire (CRP) 37 (1980), S. 3; CRP 31 (1981), S. 3-4; CRP 31 (1982), S. 2-4; CRP 31 (1983), S. 4-6; CRP 35 (1984), S. 4-7: CRP 30 (1985), S. 4-6; CRP 31 (Bundesrepublik Deutschland), S. 4-9; CRP 24 (1987), S. 4-5; CRP 28 (1988), S. 6-9. Eine Änderung dieses Grundtenors ergab sich dann 1989, vgl. CRP 26 (1989), S. 4-7. 271

272

Vgl. "Der Konferenzausschuss-Court ofHonour", S. 28; CRP 35 (1982), S. 4, Para. 15.

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

76

Etats. Le systerne de contröle a pris l'allure d'une espece de tribunal supranational qui eherehe a irnposer sa propre interpretation de Ia legislation nationale." 273

Die ILO diskriminiere die sozialistischen Staaten, indem sie das westliche Staatsmodell zum Maßstab nehme, erklärte der sowjetische Regierungsvertreter 1987: "[ ... ) en partant de l'idee que seules les conceptions en vigueur dans les pays capitalistes sont conforrnes aux conventions [... ], Ia cornrnission d'experts fait une discrirnination a l'encontre de ses rnernbres provenant des pays socialistes [ ... ]." 274

Namens der sozialistischen Staaten warf der ungarische Regierungsvertreter der ILO 1983 vor, sie mißbrauche das Kontrollsystem "a des fins politiques" 275 gegen die Ostblockstaaten. Der Sachverständigenausschuß überschreite sein Mandat und "pervertiere" geradezu die Idee der Kontrolle276 ; eine verbindliche Interpretation der Übereinkommen stehe allein dem Internationalen Gerichtshof zu, kritisierten die sozialistischen Mitgliedstaaten.277 Sie verlangten "un reexamen de Ia totalite du systeme de contröle" 278 , eine "demokratische Kontrolle" im Sinne der "friedlichen Koexistenz" 279 , die auch den Gewerkschaftern eine Vertretung im Sachverständigenausschuß erlaube. 280 Möglicherweise sahen die Ostblockstaaten das sozialistische System durch die Art der Kontrollverfahren grundsätzlich in Frage gestellt. Die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges überschatteten die Sachfragen. Besonders deutlich läßt sich dies an den Auseinandersetzungen im Konferenzausschuß um die Einhaltung der Konvention 111 durch die Tschechoslowakei in den achtziger Jahren nachvollziehen. Nach der Behandlung der Beschwerde 1977n8 kam das Thema bis 1989 jedes Jahr im Konferenzausschuß zur Spra-

273 CRP 31 (1982), Para. 5, S. 3; vgl. auch: CRP 25 (1977), Para. 8; CRP 31 (1981), Para. 9; CRP 31 (1983), Para. 14; CRP 35 (1984), Para. 17; CRP 30 (1985), S. 5; CRP 31 (1986), Para. 18; CRP 24 (1987), Para. 20, 22; CRP 28 (1988), Para. 29-35. 274

CRP 24 (1987), Para. 20, S. 5.

275

CRP 31 (1983), Para. 14.

276

CRP 31 (1986), Para. 33.

CRP 24 (1987), Para. 20, CRP 24 (1987), Para. 20; vgl. auch CRP 31 (1982), Para. 5; CRP 31 (1983), Para. 14; CRP 30 (1985), Para. 19; CRP 31 (1986), Para. 18; CRP 28 (1988), Para. 33. 277

278 CRP 35 (1984), Para. 16; Declaration of the Sodalist Countries on the Situation in the International Labour Organisation, 29.3.1985, übersetzt und abgedruckt in: BIT GB. 230119/4, 230. Session, Genf 1985. 279

CRP 31 (1982), Para. 5; CRP 31 (1986), Para. 18; CRP 24 (1987) Para. 20.

28o

CRP 37 (1980) Para. 7; CRP 31 (1981), Para. II; CRP 31 (1982) Para. 5.

I. Die Beschwerden des WGB und ihr politischer Hintergrund

77

ehe 281 : Die westlichen Vertreter kritisierten jeweils die Nichteinhaltung der Konvention lll. Die Ostblockstaaten, mit Unterstützung von Algerien, Kuba und Mali, zogen in ihren Repliken regelmäßig die Kompetenz der Kontrollinstanzen und das gesamte Überwachungssystem in Frage. In einer hitzigen Debatte 1983 im Konferenzausschuß sah der Regierungsvertreter der DDR in der Kritik an der Tschechoslowakei einen fundamentalen Angriff auf das sozialistische System. Das Problem um die Einhaltung der Konvention lll durch die Tschechoslowakei werde künstlich warmgehalten, "pour disputer aux pays socialistes dans leur ensemble Ia capacite d'appliquer une convention ratifiee par eux." 282 Der tschechoslowakische Regierungsvertreter kritisierte die Arbeit der Kontrollorgane als tendenziös und unsachlich. Der Sachverständigenausschuß übernehme unbesehen die Argumente des Beschwerdeführers, des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG). Der Delegierte sprach von einer politischen Hetze gegen sein Land und "contre )'ordre socialiste et contre Ia Constitution de Ja Tchecoslovaquie. "283 Gegen keinen westlichen Staat würde der Sachverständigenausschuß jemals eine solche Kampagne lancieren. 284 Die westlichen Staaten wiesen Kritik und Vorschläge der sozialistischen Staaten regelmäßig zurück; die ILO nahm aber als Reaktion auf diese beharrliche Kritik gewisse Modifikationen am Kontrollsystem vor. 285 Namentlich die 281 Vgl. CRP 25 (1977), S. 48-49; CRP 37 (1980), S. 49-53; CRP 31 (1981), S. 56-58; CRP 31 (1982), S. 62-66; CRP 31 (1983), S. 59-68; CRP 35 (1984), S. 61/62; CRP 30 (1985), S. 7880; CRP 28 (1988), S. 75-78. Die Tschechoslowakei wurde auch mehrfach in einem Spezialparagraphen erwähnt. Vgl. CRP 37 (1980), Para. 75; CRP 31 (1983), Para. 89; CRP 35 (1984), Para. 94. Eine grundsätzliche Änderung der tschechoslowakischen Haltung war erst 1990 festzustellen, CRP 27 (1990), S. 64-66. 282

CRP 31 (1983), S. 63.

CRP 31 (1983), S. 60. Im selben Sinn äußerte sich auch der tschechoslowakische Arbeitnehmervertreter: "[ .. .] il y a certaines valeurs dont aucun gouvernement neserait pret a discuter. A cet egard il souligne les principes evoques dans Ia Constitution et !'ordre social et politique". CRP 31 (1983), S. 62. 283

284

Wörtlich erklärte der tschechoslowakische Regierungsvertreter: "II ne viendrait sans doute

a l'esprit d'aucun membre de Ia commission d'etudier !es changements de personnet effectues par exemple dans un quelconque pays occidental a Ia suite d'un changement de gouvernement, ou

bien Ia fa~on dont !es partis politiques dans n'importe quel pays capitaliste choisissent et placent leur personnel." CRP 31 (1983), S. 60. 285 Es handelte sich um die Änderung der Spezialliste 1980 und den (noch nicht rechtskräftigen) Beschluß von 1986, den westlich dominierten Verwaltungsrat auf 112 Mitglieder zu erweitern. Vgl. Anm. 94. Als Reaktion des Internationalen Arbeitsamtes ist auch der Bericht des Generaldirektors von 1984 zu werten, der das Kontrollsystem eingehend analysierte und rechtfertigte. Vgl. BIT, Les normesinternationales du travail. Extrait du rapport du Directeur generat a Ia Conference internationale du Travail. 700 session, Genf 1984.

78

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Bundesrepublik Deutschland286 verteidigte das Kontrollsystem der ILO ausdrücklich und verlangte eine gleichförmige Kontrolle der Übereinkommen.287 1984 bekannte sich der damalige deutsche Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm in Genf nachdrücklich zum Kontrollsystem der IL0. 288 1986 sprach sogar Bundespräsident Richard von Weizsäcker als besonderer Gastreferent vor der Internationalen Arbeitskonferenz. Unter den geschilderten Rahmenbedingungen war das Klima in den politischen Gremien, namentlich in Verwaltungsrat und Konferenzausschuß, belastet. Die Kritik an der Tschechoslowakei bedeutete eine politische Hypothek für die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland, die dasselbe Übereinkommen betrafen, um so mehr als der "Fall Tschechoslowakei" während der achtziger Jahre virulent blieb. Möglicherweise bot sich hier für den sozialistischen Block die Gelegenheit, den "Spieß umzudrehen" oder vom "Problemfall Tschechoslowakei" abzulenken. Die Regierung in Prag wurde von der ILO für summarische Massenentlassungen kritisiert, weil die Betroffenen die geforderte "owed fidelity to the principles of the socialist State" 289 nicht erfüllten; die Bundesrepublik Deutschland verlangte von Beamten im öffentlichen Dienst, "daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt": Aus der Sicht der Ostblockstaaten mochte sich ein Vorgehen gegen die Bundesrepublik Deutschland geradezu aufdrängen. Stand hinter dem WGB eine Regierung des Ostblocks? Daniel Retureau vom WGB wies diese Vermutung von sich. 290 Der Weltgewerkschaftsbund habe weder auf Instruktion einer kommunistischen Regierung noch auf Weisung der kommunistischen Partei gehandelt. Die Initiative sei von der Gewerkschaftsbewegung ausgegangen, auch wenn sich die Vertretungen aus den kommunistischen Staaten jeweils vor der jährlichen Konferenz der ILO in Prag getroffen hätten. Die Beschwerde vom 13. Juni 1984 sei auch innerhalb des WGB 286 CRP 25 (1977), S. 3; CRP 37 (1980), S. 14; CRP 31 (1981), S. 3; CRP 31 (1982), S. 3; CRP 31 (1983), S. 5; CRP 35 (1984), S. 4; CRP 30 (1985), S. 5; CRP 24 (1987), S. 5; CRP 28 (1988), S. 6; CRP 26 (1989), S. 6, 8. 287 Vgl. z.B. Compte rendu provisoire (CRP) 37 (1980), S. 3; CRP 31 (1981), S. 3-4; CRP 31 (1982), S. 2-4; CRP 31 (1983), S. 4-6; CRP 35 (1984), S. 4-7: CRP 30 (1985), S. 4-6; CRP 31 (1986), S. 4-9; CRP 24 (1987), S. 4-5; CRP 28 (1988), S. 6-9. 288

International Labour Conference, Record ofproceedings 21 (1984), S. 3-4.

289

Samson, ILO investigation of job discrimination in Czechoslovakia, S. 22, vgl. auch S. 6.

290 Während Winfrid Haase Vermutungen in dieser Richtung für realistisch hält (Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn), glaubt dies K.T. Samsoneher ausschließen zu können (Telefongespräch vom 11.5.1992). Eine Beschwerde oder Klage einer Regierung gegen einen anderen Mitgliedstaat ist in internationalen Organisationen die Ausnahme; von den bisher 23 gemäß Art. 26 der ILOVerfassung eingereichten Klagen stammen nur fünf von Regierungen, vgl. List of complaints, Iist of representations BIT Dok. 9003a, o.J., Anhang, S. 186-194.

I. Die Beschwerden des WGB und ihr politischer Hintergrund

79

umstritten gewesen. Zum einen habe man Gegenmaßnahmen westlicher Delegierter befürchtet, zum anderen sei Widerstand gegen ein solches Vorgehen erwachsen, weil die Ostblockstaaten in den achtziger Jahren die ILO verlassen wollten, erklärte Retureau. 291 Die Bundesrepublik Deutschland ihrerseits stand unter Druck, weil sie sich den Verfahren und Prinzipien der ILO kaum entziehen konnte, die sie als westlicher Staat stets ausdrücklich hochgehalten und verteidigt hatte. Auf westdeutscher Seite bestand ein starkes Unbehagen gegenüber dem Beschwerdeführer. Der WGB sei für eine solche Beschwerde moralisch nicht legitimiert, weil die Zustände in den Ostblockstaaten mit jenen in der Bundesrepublik nicht zu vergleichen seien, erklärten Winfrid Haase und Horst Weber übereinstimmend. 292 Auch Gerd Muhr bezeichnete die Beschwerden des WGB als "anrüchig" und den WGB selbst als "zuletzt legitimiert, in dieser Sache zu intervenieren", obwohl Muhr selbst in seiner Eigenschaft als deutscher Arbeitnehmerdelegierter, als Sprecher der Arbeitnehmer im Verwaltungsrat und als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Praxis der Bundesregierung kritisiert hatte. 293 Der DGB und die deutschen Vertreter in der ILO unterstützten deshalb den WGB während des späteren Untersuchungsverfahrens der ILO nicht. 294 Es habe ihm widerstrebt, eine Sache zu unterstützen, die letztlich jener grundsätzlichen Kritik der Ostblockstaaten am ILO-Kontrollsystem zugute käme, erklärte Muhr. 295 Seine Vorbehalte waren nicht ohne Berechtigung. Als der Ausschuß des Verwaltungsrates das zweite Beschwerdeverfahren am 14. November 1979 ohne eindeutige Verurteilung der Bundesrepublik abschloß, übte der sowjetische Arbeitnehmervertreter fundamentale Kritik am zuständigen Ausschuß des Verwaltungsrates296 , und der Generalsekretär des WGB erhob in einem Brief an den ILO-Generaldirektor massive Vorwürfe gegen das Verfahren des Verwaltungsrates. Er sprach von einem "schwerwiegenden Fehlurteil aus politi-

29l

Telefongespräch vom 30.6.1992.

In diesem Sinne äußerten sich Winfrid Haase und Horst Weber in Gesprächen vom 2.4.1992 in Bonn. 292

293 Gerd Muhr grenzte die westdeutschen Gewerkschaften klar vom Kommunismus ab. Sie hätten sich bereits in den fünfziger Jahren intern von Kommunisten "gesäubert" und ein klares Bekenntnis zur Verfassungstreue abgelegt, betonte Muhr im Gespräch vom 4.5.1992 in Düsseldorf. 294 Dies bestätigte Horst Bethge von der Initiative "Weg mit den Berufsverboten", die den WGB während der Verfahren mit Unterlagen versorgte, da der WGB kaum Informationen besaß. Eine Koordination mit dem DGB sei nicht zustandegekommen, schrieb Bethge in einem Brief: "Der DGB war seinerseits nicht bereit dazu." Briefvom 17.5.1992 an den Verfasser. 29 5

Gespräch vom 4.5.1992 in Düsseldorf.

Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates vom 14.11.1979 (vertraulich), BIT GB. 211/pv., S. 213. 296

80

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

sehen Gründen", "bewußt falscher Tatsachenwertung" und einem "Verstoß gegen Art. 24 der Verfassung". 297 Wohl die meisten Beschwerde- oder Klageverfahren waren zumindest teilweise- in Einzelfällen sogar ausschließlich- politisch motiviert. 298 Die Klage Ghanas gegen Portugal 1961 wegen Zwangsarbeit in den portugiesischen Kolonien in Afrika stand im Zusammenhang mit der Dekolonisation. Diejenige Portugals gegen Liberia 1962 war möglicherweise eine Retourkutsche. 299 Sowohl die ghanesische wie die portugiesische Klage waren unzureichend begründet300 - ein mögliches Indiz für ihren politischen Hintergrund. Auch bei der Klage von zwei westlichen Delegierten gegen Polen nach der Verhängung des Kriegsrechtsam 13. Dezember 1981 und der Auflösung der auch im Westen populären Gewerkschaft Solidarnocz wären politische Motive seitens der westlichen Kläger nachvollziehbar301 , ebenso wie beim Untersuchungsverfahren gegen die griechische Militärregierung 1971.302 Die ILO ihrerseits stellt sich stets auf den Standpunkt, keine Verfahren aus eigenem Antrieb einzuleiten und alle informellen Eingaben, Beschwerden und Klagen unabhängig von ihrem politischen Hintergrund auf ihren Tatbestand zu überprüfen. 303 Schon im zweiten Klageverfahren, der Untersuchung gegen Liberia 1961 bis 1963, erklärte die damalige Untersuchungskommission, eine politische Motivation mache eine Klage allein nicht unzuläßig. 304

II. Der Sachverhalt In beiden Beschwerden 1978 und 1984 brachte der WGB dieselben Vorwürfe zur Sprache, am ausführlichsten in seiner Eingabe 1984 und während des

297

Schreiben vom 28.3.1980, S. 2, 3, 4/5. BIT ACD 8-2-24-111.

Diese Vermutungen unterstützen K.T. Samson, der bei allen Klageverfahren seitens des Internationalen Arbeitsamtes mitwirkte, und Andre Zenger in Gesprächen vom 19.2.1992. 298

299 Liberia zumindest bezeichnete die Klage als Retourkutsche fUr einen Vorstoß seiner Regierung vor der UNO betreffend Zwangsarbeit in den afrikanischen Kolonien Portugals. Untersuchungskommission (Liberia), Para. 7, 386. 300 Vgl. Untersuchungskommission (Portugal), (Liberia), Para. 7, 62.

Para. 706; Untersuchungskommission

301

Bulletin officiel 68 (1984), n° 2, Serie B, supplement special.

302

Bulletin officiel 54 (1971 ), n° 2, supplement special.

Dies bestätigten Andre Zenger, Leiter der Abteilung für die Anwendung der Normen, und K.T. Samson in Gesprächen vom 19.2.1992 in Genf. Vgl. oben S. 56-59. 303

304

Vgl. Untersuchungskommission (Liberia), Para. 7, 62.

II. Der Sachverhalt

81

anschließenden Klageverfahrens 1986. Gesetzgebung und Praxis im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Überprüfung der Verfassungstreue von Beamten, verletzten das Übereinkommen 111, das die Bundesregierung 1961 ratifiziert habe, schrieb der WGB. Im wesentlichen betrafen diese Vorwürfe folgende Bestimmungen der Konvention 111: AI1ikdl

1. Im Sinne dieses Übereinkommens gilt als "Diskriminierung" a) jede Unterscheidung, Ausschließung oder Bevorzugung, die auf Grund der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, des Glaubensbekenntnisses, der politischen Meinung, der nationalen Abstammung oder der sozialen Herkunft vorgenommen wird und dazu fuhrt, die Gleichheit der Gelegenheiten oder der Behandlung in Beschäftigung oder Beruf aufzuheben oder zu beeinträchtigen.[ ... ] 2. Eine Unterscheidung, Ausschließung oder Bevorzugung hinsichtlich einer bestimmten Beschäftigung, die in den Erfordernissen dieser Beschäftigung begrundet ist, gilt nicht als Diskriminierung.

Arliki:U

Jedes Mitglied, flir das dieses Übereinkommen in Kraft ist, verpflichtet sich, eine innerstaatliche Politik festzulegen und zu verfolgen, die darauf abzielt, mit Methoden, die den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten angepaßt sind, die Gleichheit der Gelegenheiten und der Behandlung in bezog auf Beschäftigung und Beruf zu fördern, um jegliche Diskriminierung auf diesem Gebiet auszuschalten.[ ...]

Maßnahmen gegen eine Person, die in berechtigtem Verdacht einer gegen die Sicherheit des Staates gerichteten Betätigung steht oder die sich tatsächlich in solcher Weise betätigt, gelten nicht als Diskriminierung, vorausgesetzt. daß der betreffenden Person das Recht der Berufung an eine nach landesüblicher Weise errichtete Instanz offenstehI.30S

Der WGB stützte seine Beschwerde auf Materialien der Hamburger Initiative "Weg mit den Berufsverboten" und legte ihr eine Darstellung von 73 Einzelfällen bei.306 Die Initiative lieferte dem WGB die notwendigen Informationen307, ohne die er seine Vorwürfe kaum genügend hätte fundieren können. Kenntnis von den sogenannten Berufsverboten hatte der WGB vom ostdeutschen Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), wie Daniel Retureau erklärte. Dieser sei wahrscheinlich von der SED und diese wiederum von der

305

Die Konvention ist im Anhang, S. 195-198 abgedruckt.

306

Die Untersuchungskommission hat die Vorwürfe des WOB in ihrem Bericht zusammenfassend dargestellt. Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 237-393, insb. Para. 261. 307 Horst Bethge, Sprecher der Initiative "Weg mit den Berufsverboten", bestätigte dies: "Wir haben die Beschwerde mit dem WOB koordiniert." Briefvom 17.5.1992 an den Verfasser. 6 Voegeli

82

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) informiert worden. 308 Erst später seien Kontakte zur Hamburger Initiative geknüpft worden, die der Bundesverfassungsschutz als "kommunistisch beeinflußt" bezeichnete und deren Aktivitäten er stets registrierte. 309 Eine "Bürgerinitiative gegen Berufsverbote" aus Freiburg im Breisgau schickte der Untersuchungskommission direkt 600 Fallbeschreibungen.310 Verschiedene lokale "Aktionskomitee[s] gegen Berufsverbote", die Deutsche Friedensunion (DFU), einzelne Betroffene und ihre Rechtsanwälte wandten sich von 1976 bis 1992 direkt an das Internationale Arbeitsamt. Die Beschwerden des WGB erwähnten ausschließlich Rechtsverstöße gegen Personenkreise aus linksgerichteten Organisationen. Es handelte sich hauptsächlich um Mitglieder der DKP, in Einzelfallen auch um Personen aus dem "Kommunistischen Bund Westdeutschlands" oder dem "Bund Westdeutscher Kommunisten". Andere gehörten zum "Marxistischen Studentenbund Spartakus" (MSB-Spartakus), zur "Deutschen Friedensunion" (DFU) oder zur "Vereinigung Demokratischer Juristen" (VDJ). 311 Alle Betroffenen erhielten von den Einstellungsbehörden oder Vorgesetzten ein zumindest gutes Zeugnis ausgestellt. 312 So wurde beispielsweise Oberstudienrätin Irmelin Schacht308

Telefongespräch vom 30.6.1992.

Vgl. Betrifft Verfassungsschutz 1978, S. 83; 1979, S. 73; 1980, S. 75; 1981 , S. 61; 1982, S. 61; Verfassungsschutzbericht 1986, S. 77; 1987, S. 40; 1989, S. 45; 1990, S. 55. Eine Mehrheit des Arbeitsausschusses gehöre zur DKP oder ähnlichen Organisationen, heißt es in den Berichten. 309

310

Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 258; Histor,

s. 154, 167.

311 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 263. Zu den 71 untersuchten Einzelfällen aus linksgerichteten Organisationen analysierte die Untersuchungskommission die Verfahren gegen zwei Aktivisten der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 57, 263. 312 Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 275-393. Vgl. auch Urteilssammlung im Internationalen Arbeitsamt: Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg gegen Studiendirektor Matthias Schachtschneider vom 25.9 .1987, S. 2, 13; Urteil des Landesarbeitsgerichtes München gegen den Diplom-Soziologen Alfred Kar[ vom 24.4. 1987, S. 3, 27; Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg gegen Oberstudienrätin lrmelin Schachtschneider vom 12.11.1987, S. 2, 17; Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gegen Posthauptschaffner Herbert Bastian vom 15.9.1987, S. 21; Urteil des Oberverwalrungsgerichtes Rheinland-Pfalzgegen den Lehrer Ulrich Foltz vom 14.10.1987, S. 3, 22; Urteil des Niedersächsischen Disziplinarhofes gegen Studienrätin Dorothea Vogt vom 31.10.1989, S. 2; Urteil des Niedersächsischen Disziplinarhofes gegen Oberstudienrätin Jrmelin Schachtschneider vom 20.7.1989, S. 2; Urteil des Bundesarbeitsgerichtes im Falle des Diplom-Chemikers Thomas Weber vom 14.3.1990, S. 3. Diese Urteile ergingen zwar nach 1984, rekapitulieren aber jeweils die Urteilsbegründungen vorangehender Instanzen und sind deshalb für die Darstellung der Gerichtspraxis von 1984 verwendbar. In: BIT ACD 8-2-24-111.

II. Der Sachverhalt

83

schneider, Beamtin auf Lebenszeit, in einer dienstlichen Beurteilung als "besonders tüchtige Lehrerin mit hervorragenden Fachkenntnissen und überdurchschnittlichem methodischen Geschick" 313 bezeichnet. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichtes gegen zwei Beamte der Bundespost, Hans Meister und Hans Peter, verdienen eine nähere Betrachtung. Hans Meister als Elektroingenieur in einer höheren Stellung beim Fernmeldeamt der Bundespost in Stuttgart und Beamter auf Lebenszeit galt bei seinen Vorgesetzten als "sehr gut und wesentlich über dem Durchschnitt liegend". Es gebe keine Hinweise, daß er während der Arbeit für eine extreme politische Partei geworben habe, und er zähle zu jenen Beamten, die "sowohl dienstlich als auch persönlich am angesehensten seien". 314 Meister betätigte sich aktiv in der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), unter anderem als Gewerkschaftsdelegierter. Seit 1970 gehörte er zur DKP und kandidierte seit 1975 bei verschiedenen Gemeinde- und Bundestagswahlen sowie für das Amt des Oberbürgermeisters in Stuttgart. Im Juli 1979 leitete der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen ein Disziplinarverfahren gegen Hans Meister ein. Am 15. November 1979 habe der Bundespostminister das Verfahren mangels Erfolgsaussicht einstellen wollen, der Bundesdisziplinaranwalt aber habe Berufung eingelegt, erklärte Hans Meister gegenüber der Untersuchungskommission.31S Das Bundesdisziplinargericht verneinte 1982 eine Verletzung der Treuepflicht durch Meisters Tätigkeiten für die DKP; die höchste Verwaltungsgerichtsinstanz, das Bundesverwaltungsgericht316 , entschied aber am 10. Mai 1984: Die Urteilssammlung im Internationalen Arbeitsamt ist zwar unsystematisch, weil das Internationale Arbeitsamt lediglich die zugesandten Urteile archiviert hat. Nach Ansicht des Verfassers ist sie aber dennoch repräsentativ, weil sie dasselbe Bild wie die umfangreichere Analyse der Untersuchungskommission von 1986 vermittelt und die Urteilsbegründungen häufig auf eine gefestigte Rechtspraxis zurückgreifen (vgl. z.B. Urteil des Niedersächsischen Disziplinarhofes gegen Studienrätin Dorothea Vogt vom 31.10.1989, S. 20). 313 Diese Qualifikation wird im Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg gegen Oberstudienrätin Irmelin Schachtschneider vom 12.11.1987 zitiert, S. 2, BIT ACD 8-2-24-111. Im Disziplinarverfahren gegen den Posthauptschaffner Herbert Bastian erwähnte das Bundesverwaltungsgericht die "anerkennenswerten dienstlichen Leistungen" (Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.9.1987, S. 21 , BIT ACD 8-2-24-111); dem technischen Fernmeldehauptsekretär Hans Peter wurde "einwandfreies Verhalten innerhalb des Dienstes" attestiert (Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.10.1981, in: NJW 35 (1982), Heft 14, S. 784). 314

Zit. nach Bericht Untersuchungskommission (BRD), Para. 292, 293.

315

Zeugenanhörung, S. 11/17.

Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit kennt drei Instanzen: die örtlichen Verwaltungsgerichtshöfe, die regionalen Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe und das Bundesverwaltungsgericht Disziplinarsachen von Bundesbeamten entscheidet in erster Instanz das Bundesdisziplinargericht, in zweiter und letzter das Bundesverwaltungsgericht. Das Bundes316

84

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

"Die Berufung flihrt zur Entfernung des Beamten aus dem Dienst [ ... ]. Der Beamte unterstützt durch eine aktive Tätigkeit in der DKP nachhaltig deren verfassungsfeindliche Ziele und verletzt dadurch in erheblichem Maße seine Treuepflicht." 3l7

Ein früheres Verfahren gegen Hans Peter, einen Arbeitskollegen von Hans Meister, hatte mit demselben Ergebnis geendet. Auch hier hatte das Bundesverwaltungsgericht mit derselben Begründung das erstinstanzliehe Urteil des Bundesdisziplinargerichtes aufgehoben. 318 Meister und Peter wurden nach 30 bzw. 25 Dienstjahren bei der Bundespost entlassen. Beide Entscheide gehören zur gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes. Sie dienten häufig als Entscheidungsgrundlage für gleichartige Fälle und haben sogar Politik und Verwaltungspraxis der Behörden beeinflußt, schrieb die Untersuchungskommission in ihrem Bericht.319 Beide Urteile, ja alle Entscheide in dieser Materie, stützen sich auf die maßgeblichen Leitsätze des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Mai 1975.320 Darin erhob das oberste Gericht das Prinzip der Verfassungstreue in Verfassungsrang321 und gelangte zu folgenden Grundsätzen: · "Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. [ ... ]Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei ftir ihn

verfassungsgerlebt als höchstes Rechtsprechungsorgan kann von natürlichen Personen bei einer Verletzung von Grundrechten angerufen werden. 317

504.

Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.5.1984, in: NJW 38 (1985), Heft 9, S. 503,

318

Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.10.1981, in: NJW 35 (1982), Heft 14,

3 19

Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 227.

s. 779-784.

320 Der vollständige Entscheid des Bundesverfassungsgerichts ist abgedruckt in: NJW 28

(1975), Heft 36, S. 1641-1653. Für die Leitsätze s. S. 1641. Für eine Zusammenfassung zu Struktur und Recht im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland s. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 109-236.

321 Als ersten Leitsatz hielt das Bundesverfassungsgericht fest: "Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz (Art. 33 V GG), daß den Beamten eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und der Verfassung obliegt." NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1641. (Art. 33 Abs. 5 GG bestimmt: "Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtenturns zu regeln."). ln der Urteilsbegründung präzisierte das Gericht: "Gemeint ist damit nicht eine Verpflichtung, sich mit den Zielen oder einer bestimmten Politik der Regierung zu identifizieren. Gemeint ist vielmehr die Pflicht zur Bereitschaft, sich [ ... ] mit der freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatliehen Grundordnung dieses Staates zu identifizieren." NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1642.

II. Der Sachverhalt

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ergreift. [... ] Es ist eine von der Verfassung geforderte und durch das einfache Gesetz konkretisierte rechtliche Voraussetzung für den Eintritt in das Beamtenverhältnis, daß der Bewerber die Gewähr bietet, jederzeit f'lir die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten." 322

Für die Beurteilung eines Verstoßes verlangte das Bundesverfassungsgericht eine Einzelfallprüfung und "ein Minimum an Gewicht und Evidenz der Pflichtverletzung".323 Entscheidende Bedeutung für die Praxis erlangte folgender Leitsatz: "Ein Teil des Verhaltens, das für die Beurteilung der Persönlichkeit des Beamtenanwärters erheblich sein kann, kann auch der Beitritt oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt- unabhängig davon, ob ihre Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG [Bundesverfassungsgericht, der Verf.] festgestellt worden ist oder nicht. " 324

Mit dem Konstrukt "Verfassungsfeindlichkeit" beschränkte das Bundesverfassungsgericht das sogenannte "Parteienprivileg" nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes325 , wonach über die Verfassungswidrigkeit einer Partei, welche die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft, allein das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hat. Parteien konnten so in eine illegale Grauzone geraten, und ein Bewerber mußte sich die Verfassungsfeindlichkeit seiner Partei vorhalten lassen, obwohl sie nicht verboten war. Das Parteienprivileg betreffe nicht die besondere Verpflichtung des Beamten zur Verfassungstreue, sondern schütze "den Bürger bei seiner parteioffiziellen Tätigkeit", hielt das Bundesverfassungsgericht entgegen.326 Ebensowenig tangiere diese berufsspezifische Anforderung die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 GG), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 1, 2, 4 GG), die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 GG) oder den Grundsatz der Gleichbehandlung. Auch der Grundsatz "Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt" (Art. 33 Abs. 2 GG) bleibe gewährleistet, weil das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung als Qualifikationsanforderung für eine Beamtenstelle zu werten sei. 327

322

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1641.

323

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1643.

324

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1641.

An. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht." 325

326

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1645.

327

NJW 28 (1975), Heft 36, S. 1645. So entschied das Bundesverwaltungsgericht am

29. Oktober 1981 im Verfahren gegen Hans Peter: "Das Bekenntnis zu den Zielen einer (nicht verbotenen) Partei, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sind,

86

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976 - 1992

Alle Urteile gegen Mitglieder der DKP im Achiv des internationalen Arbeitsamts schreiben der Partei verfassungsfeindliche Ziele zu und stützen sich bei ihrer Beurteilung auf das Parteiprogramm der DKP und die Berichte der Ämter für Verfassungsschutz. 328 Die DKP verneine die Prinzipien einer demokratischen Rechtsordnung, namentlich das Mehrparteienprinzip, freie und geheime Wahlen, Chancengleichheit für alle politischen Parteien, das Recht auf Ausübung der Opposition, die Staatsgewalt des Volkes und unabhängige Gerichte.329 Das persönliche Bekenntnis zur Verfassung ließ vor allem das Bundesverwaltungsgericht nicht gelten. "Der Beamte muß sich die Zielrichtung seiner Partei anrechnen lassen [ ... ]. Wer sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren flir eine Partei dadurch einsetzt, daß er für eine Gemeindevertretung und für einen Landtag kandidiert, verstößt auch dann gegen seine Pflicht zur Verfassungstreue, wenn er beteuert, persönlich auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen",

befand das Bundesverwaltungsgericht im Disziplinarverfahren gegen den Postbeamten Herbert Bastian, Mitglied der Legislative von Marburg.l30 Die eindeutig verfassungsfeindliche Zielsetzung der DKP und der aktive Einsatz der Betroffenen als Parteimitglieder machten ein formales Ja zur freiheitlich demokratischen Grundordnung unglaubwürdig. Gegenüber Hans Meister anerkannte das Bundesverwaltungsgericht das Bekenntnis zur Verfassung, ohne es aber als relevant anzusehen: "Dem BDiszG [Bundesdisziplinargericht, Anm. des Verf.] mag darin gefolgt werden, daß es dem Beamten nicht darum geht, die staatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland gewaltsam zu verändern und daß dieses Bekenntnis nicht lediglich als Lippenbekenntnis gewertet werden kann. Dem Beamten mag auch abgenommen werden, [ .. . ] daß es ihm zutiefst ernst mit der Vorstellung einer vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet gerechteren Gesellschaft ist. Dies gestattet es ihm jedoch entgegen der Auffassung des BDiszG nicht, in der DKP diejenige politische Gruppierung zu sehen, innerhalb der er seine optimale Vorstellung einer politischen Ordnung glaubt durchsetzen zu können. Es erscheint hier bereits zweifelhaft, ob das hierin zum Ausdruck kommende Verfassungsverständnis des Beamten überhaupt dasjenige des Grundgesetzes ist." 331 und erst recht der aktive Einsatz für diese Ziele machen den Beamten - ebenso wie körperliche Behinderung oder intellektuelle Unfähigkeit - lediglich untauglich für den Beamtendienst, denn der Beamtendienst muß [ ... ] notwendigerweise die Verfassungstreue als persönliches Eignungsmerkmal für ein öffentliches Amt fordern. " NJW 35 (1982), Heft 14, S. 783. 32 8

Vgl. Anm. 312 (ohne Seitenangaben).

329

Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.10.1981, in: NJW 35 (1982), Heft 14, S. 7811782. Vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.5.1984, in: NJW 38 (1985), Heft 9, S. 504/505. Im Vorwort zum jährlichen Verfassungsschutzbericht wiesen die jeweiligen Bundesinnenminister regelmäßig auf diese Grundwerte des Staates hin, die es zu schützen gelte. 330 Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes im Disziplinarverfahren gegen Herbert Bastian vom 15.9.1987, S. 12. Vgl. auch Urteil des Niedersächsischen Disziplinarbefes gegen Studienrätin Dorothea Vogt vom 31.10.1989, S. 17. BIT ACD 8-2-24-111. 33 1

NJW 38 (1985), Heft 9, S. 505.

II. Der Sachverhalt

87

1. Die Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland

Der WGB anerkannte die Notwendigkeit eines Beamtenapparates, der sich für den demokratischen Rechtsstaat engagiert, warf der Bundes- und den Länderregierungen aber vor, Beamte und Angestellte, die keinerlei strafbare Handlungen begangen hätten, allein für ihre politische Meinung zu diskriminieren und ihnen verfassungsmäßige Grundrechte zu verwehren. Nirgends in Westeuropa werde eine beamtenrechtliche Treuepflicht so absolut verlangt. Die Pflicht zur Verfassungstreue werde stets in Relation zur Funktion des betreffenden Beamten gesetzt. Mit dem Begriff "verfassungsfeindlich" habe das Bundesverfassungsgericht eine Handhabe geschaffen, um das Grundgesetz massiv einzuschränken.332 Es sei Absicht der Regierung, eine legale, aber unliebsame Opposition einzuschüchtern und in die Illegalität zu rücken, erklärte Hans Meister als Zeuge des WGB vor der Untersuchungskommission: "Ein Klima der Angst und des Duckmäuserturns wird erzeugt. [... ]Politisch engagierten Bürgern im öffentlichen Dienst und darüber hinaus soll ein Maulkorb umgehängt werden. In klarem Widerspruch zur Verfassung[ ... ] werden Parteien und Organisationen, die insbesondere marxistische oder sozialistische Zielsetzungen haben, in eine Grauzone der Illegalität gerückt. [ ... ] Die Partei und die sie unterstützenden Bürger sollen[ ... ] aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes ausgegrenzt werden [ ... ]."333

Meister warf der Bundesregierung eine Verletzung von sieben Grundrechten vor, nämlich der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3), der Meinungsfreiheit (Art. 5), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9), der Freiheit der Berufswahl (Art. 12), des Parteienprivilegs (Art. 21), der Gleichstellung aller Staatsbürger (Art. 33) und der freien Ausübung und Übernahme eines Mandates (Art. 48). Die Initiative "Weg mit den Berufsverboten" sprach 1977 von "McCarthyismus" und "politischer Gesinnungsjustiz" 334 • Ähnlich argumentierten auch Hans Meister und andere Zeugen 1986 vor der Untersuchungskommission: "Nicht ich saß auf der Anklagebank, sondern meine Partei, die DKP und die marxistische Weltanschauung!" 335

332 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 237-255, insb. Para. 246, 247, 250, 254. 333

Zeugenanhörung, S. 1112.

"Thesen zur Diskussion [ ... ] vorgelegt im Auftrag des Arbeitsausschusses der Initiative 'Weg mit den Berufsverboten' vom 12./13.11.1977, S. I, BIT ACD 8-2-24-111. 334

335 Hans Meister, Zeugenanhörung, S. JUS. "Es wurde nur pauschal behauptet, ich sei ein Sicherheitsrisiko im Krisen- und Spannungsfalle. An irgendwelchen konkreten Handlungen oder Tätigkeiten von mir wurde das nicht belegt. [.. .] Überall wird also deutlich - und das läßt sich fast an jedem beliebigen Berufsverbotsfall belegen - , daß uns allen dienstlich nicht das geringste vorzuwerfen ist. Im Gegenteil: unsere dienstlichen Leistungen werden hoch gelobt. Es geht aus-

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C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

Noch krasser schilderte die Juristin Charlotte Nieß-Mache, Mitglied der SPD und der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (öTV), ihren Fa11.336 Obwohl sie bereits vier Jahre im öffentlichen Dienst des Landes Bayern gearbeitet habe und als Sozialdemokratin unmißverständlich das Grundgesetz bejahe, sei ihre Bewerbung als Richterin beim bayrischen Staatsministerium der Justiz abgelehnt worden. Als Grund sei ihre Mitgliedschaft im Bundesvorstand der "Vereinigung demokratischer Juristen" (VDJ) genannt worden, die der Verfassungsschutz als kommunistische Hilfsorganisation betrachte, weil sie auch Mitglieder der DKP in ihren Reihen habe337 , obwohl die Ziele der VDJ mit dem Programm der SPD und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) weitgehend identisch seien.338 Während des Berufungsverfahrens vor dem Arbeitsgericht München sei sie ostentativ überwacht worden. Obwohl ihr das Arbeitsgericht recht gegeben habe, sei ihre Berufung in zweiter Instanz vom Bayrischen Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen worden. Was im CSU-regierten Bayern als verfassungsfeindlich gelte, sei im sozialdemokratischen Nordrhein-Westfalen kein Hindernis: Sie habe dort ohne Schwierigkeiten eine Stellung als Beamtin auf Lebenszeit erhalten.339 Diese inkohärente Praxis der Länder und die unterschiedliche Rechtsprechung der Gerichte rief die Kritik zweier ausgewiesener, wenn auch nicht unabhängiger Experten hervor. Die Rechtsprechung der obersten Gerichte sei nicht nur teilweise verfassungswidrig, sondern auch uneinheitlich, machten Prof. Wolfgang Däubler und Prof. Norman Paech als Zeugen des WGB vor der Untersuchungskommission geltend. Beide Juristen lehrten als Dozenten an Hochschulen 340 und waren gleichzeitig mit den Parteien verbunden: Wolfgang Däubler als Verteidiger von Hans Meister, Norman Paech als Vorsitzender der schließlich um die politische Gesinnung![ ... ] Das heißt doch im Klartext, daß es aufmein eigenes politisches und tatsächliches Verhalten im und außerhalb des Dienstes nicht im geringsten ankommt!" Hans Meister, Zeugenanhörung, S. IU12, IU7. Im seihen Sinne äußerten sich auch andere Zeugen des WGB: Gerhard Bitterwolf, S. IIU2; Herbeet Bastian, S. IIU26-32; Günther Ratz, S. VU14; Charlotte Nieß-Mache, S. IV/19, 20; Wolfgang Däubler, Verteidiger von Hans Meister, S. V/12, 13, 16, VU7, 8; Norman Paech, S. U2l. 336 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 352-364; Zeugenanhörung, S. IV/11-22. 337

Zeugenanhörung, S. IV/12.

338

Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 356.

Zeugenanhörung, S. IV/21. Auch Gerhard Bitterwolf schilderte der Untersuchungskommission diese unterschiedliche Praxis der Länder. Zeugenanhörung, S. IIU3. Das Schulwesen liegt in der verfassungsmäßigen Kompetenz der Länder. 339

340 Wolfgang Däubler ist Professor für Arbeits-, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen, vgl. Zeugenanhörung, S. V/2. Norman Paech war damals Professor für Staats-, Verfassungs- und Völkerrecht an der Hochschule flir Wirtschaft und Politik in Hamburg, vgl. Zeugenanhörung, S. Ul7.

II. Der Sachverhalt

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Vereinigung demokratischer Juristen (VDJ) und Mitglied des zentralen Ausschusses der Initiative "Weg mit den Berufsverboten".341 Die Rechtsprechung werde als politisches Kampfmittel mißbraucht, kritisierte Norman Paech.342 Der Begriff "verfassungsfeindlich" enthalte ein Element der Willkür und mache das Recht nicht mehr vorhersehbar, bemängelte Wolfgang Däubler: "[ ... ] das Recht mißt normalerweise das Verhalten von Menschen und nicht die Gedanken.[ ... ] Die Formel des Bundesverfassungsgerichts fuhrt weiter dazu, daß man nie vorhersehen kann, wie das Resultat einer solchen Prüfung ausfallen wird. Man kann ganz geringfügige Indizien als Anhaltspunkte dafür nehmen, um dem Beamten vorzuwerfen, es fehle ihm die nötige iMere Haltung. Man tut das natürlich nicht bei allen Beamten, sondern man mißt faktisch mit zweierlei Maßstäben." 343

Beide Hochschuldozenten legten den Finger auf die unterschiedliche Handhabe der Regelanfrage in den Bundesländern344 und die uneinheitliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, namentlich des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts. Der gemeinsame Senat der beiden Gerichtshöfe hätte in einem solchen Fall eine einheitliche Rechtsprechung festsetzen müssen, erklärten sie.345 Für die gegenwärtige Praxis des Bundesverwaltungsgerichts gebe es keine gesetzliche Grundlage, führte Wolfgang Däubler vor der Untersuchungskommission aus: "Es gab je {sie] vier Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich zwischen 1968 und 1972, also vor dem Ministerpräsidentenbeschluß, wo man ja auch keine Bedenken hatte, Mitglieder der DKP oder einer anderen Organisation im öffentlichen Dienst einzustellen. Warum sollte es nicht möglich sein, zu derselben Wertung zurückzukehren, die Gesetzeslage war damals exakt dieselbe wie heute[ ... ]." 346

Besonders stoßend seien die unterschiedlichen Anforderungen an die Verfassungstreue von Angestellten und Beamten. Obwohl ihre Tätigkeit in der Praxis häufig identisch sei, werde das Maß der Verfassungstreue bei den Angestellten von ihrer Funktion abhängig gemacht, nicht so bei den Beamten. 347

341

Vgl. Zeugenanhörung, S. V/2; Zeugenanhörung, S. Ul7.

342

Zeugenanhörung, S. U25, S. XIU20.

Wolfgang Däubler, Zeugenanhörung, S. V/4, vgl. auch S. Y/5-7, vgl. auch Nonnan Paech, Zeugenanhörung, S. XIU7. 343

344

22.

Nonnan Paech, Zeugenanhörung, S. U25; Wolfgang Däubler Zeugenanhörung, S. V/21,

345 Wolfgang Däubler, Zeugenanhörung, S. V/6, vgl. auch S. V/16-17, Nonnan Paech, Zeugenanhörung, S. U20, 21. 346

Zeugenanhörung, S. V/17.

Wolfgang Däubler, Zeugenanhörung, S. V/8, 9, 17-25, Nonnan Paech, Zeugenanhörung, S. XUI9. 347

90

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Faktisch sei er von einem Berufsverbot betroffen, auch wenn ihm die Privatwirtschaft grundsätzlich offenstünde, erklärte der Postbeamte Herbert Bastian der Untersuchungskommission 1986: "Seit meinem 14. Lebensjahr arbeite ich bereits bei der Deutschen Bundespost. [ ... ] Die Ausbildung, die ich absolviert habe, ist eine rein postinterne Ausbildung. [... ]Es gibt keinen Bereich der Privatwirtschaft, der meine Ausbildung anerkennt. Ich wäre somit gezwungen, Gelegenheitsarbeiten oder ungelernte Hilfsarbeiten zu verrichten, die mit meinem Beruf nichts, aber auch gar nichts gemein haben." 348

Auch Lehrer fänden in Privatschulen kaum je eine Anstellung, wenn sie in öffentlichen Schulen wegen ihrer politischen Meinung nicht beschäftigt würden, gab ein Zeuge vor der Untersuchungskommission zu Protokoll.349 Die Initiative "Weg mit den Berufsverboten" sprach 1977 von 4000 Berufsverbotsmaßnahmen und 1,3 Millionen Überprüfungen durch die Verfassungsschutzämter, 1988 sogar von 10.000 formellen Berufsverbotsmaßnahmen und 3,5 Millionen Überprüfungen. 350

2. "ln der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Berufsverbote" "Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt in allen Punkten Buchstaben und Geist des Übereinkommens 111 ", unterstrich Winfrid Haase in einem Schreiben an das Internationale Arbeitsamt namensder Bundesregierung 1980.351 In allen SteJlungnahmen hielt die Bundesrepublik an diesem Standpunkt fest. 352 "In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Berufsverbote", schrieb 1987

34 8

Zeugenanhörung, S. 111126.

Zeugenanhörung, S. Vll/23. Diese Argumente erwähnte der WOB auch bei seiner ersten Beschwerde 1978, vgl. BIT OB. 210/16/27, S. 4. 349

350 Vgl. Initiative "Weg mit den Berufsverboten", Arbeitsausschuß: Ausmaß und Umfang der Berufsverbote in der BRD, 1977; Rundbrief der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" vom Dezember 1988, in: BIT ACD 8-2-24-111. 351 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 8.12.1980, S. I, BIT ACD 8-2-24111 ; vgl. auch Brief des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 1.3.1976, BIT ACD 8-2-24-111 . 352 Vgl. Berichte der Bundesregierung nach Art. 22, BIT ACD 8-2-24-ll1 (1977-1992); Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986 und 18.ll.l986, abgedruckt in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 93-ll2, hier S. 92, 93; Stellungnahme von Winfrid Haase als Regierungsvertreter der Bundesrepublik Deutschland zum Bericht der Untersuchungskommission vom 7.5.1987, abgedruckt als Anhang zum Protokoll des Verwaltungsrates, BIT OB. 236/4/6, 236. Session, S. 5; Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zur ersten Beschwerde des WOB von 1978, in: BIT OB. 210/16/27, 210. Session, Genf 1979, S. 4.

II. Der Sachverhalt

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der damalige Innenminister Zimmermann als Antwort auf eine Petition der Deutschen Postgewerkschaft.353 Diese Haltung wurde durch ein eigentliches Argumentationsgebäude untermauert. 354 Fundament dafür war die Überzeugung: "Der Schutz der Freiheit und der Menschenrechte kann nicht ihren Gegnern anvertraut werden. "355 Auch der Internationale Pakt der UNO über bürgerliche und politische Rechte entziehe die Menschenrechte denjenigen, die sie mißbrauchten. 356 Immer wieder verwiesen die Vertreter der Bundesrepublik auf die historische Erfahrung der Weimarer Republik, die mangels verfassungsrechtlicher Schranken von ihren Gegnern auf (pseudo-)legalem Weg zerstört worden sei. Geographisch liege die Bundesrepublik Deutschland an der Nahtstelle zwischen Ost und West und sei besonders gefahrdet. Daher beruhe die Verfassung auf dem Konzept der "wehrhaften Demokratie". Das Fernziel der DKP, eine "Diktatur des Proletariats" nach kommunistischem Muster, bedeute die Beseitigung der demokratischen Grundprinzipien und der Menschenrechte357 , nach 353 Brief des Bundesministers des Ionern an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages vorn 14. Juli 1987, in: BIT ACD 8-2-24-111. Vgl. auch Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramtes an den Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Landesverband Niedersachsen vorn 21.7.1987, abgedruckt in: Rundbrief 73/87 der Initiative "Weg mit den Berufsverboten", Arbeitsausschuß, S. 10, in: BIT ACD 8-2-24-111. Vgl. auch Antwort der Bundesregierung vorn 18.7.1985 auf eine Große Anfrage der Grünen, Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Drucksache 10/3656, S. 1, 7. Auch Abgeordnete aus den Reihen der CDU/CSU vertraten in den Bundestagsdebatten diesen Standpunkt, vgl. Deutscher Bundestag, 194. Sitzung, 30.1.1986, 10. Wahlperiode, S. 14.565; Abgeordneter Dr. Stark (CDU/CSU) in der Debatte vorn 22.9.1988; Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 94. Sitzung, Plenarprotokoll 11/94, s. 6464. 354 Vgl. insbesondere Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vorn 27.3.1986, abgedruckt in: Bericht Untersuchungskornmission (Bundesrepublik Deutschland), S. 88-112. 355 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vorn 27 .3.1986, abgedruckt in: Bericht Untersuchungskornmission (Bundesrepublik Deutschland), S. 93; vgl. auch Winfrid Haase in der Verwaltungsratssitzung vorn 14.11.1979, in: BIT GB. 211. Session, S. IV/3. Diesen Standpunkt vertraten Winfrid Haase und Horst Weber in Gesprächen vorn 2.4.1992 in Bonn.

356 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vorn 27 .3.1986, in: Bericht Untersuchungskornrnission (Bundesrepublik Deutschland), S. 92; vgl. Karl Doehring, Zeugenanhörung, S. XIV/19. Art. 5 dieses Übereinkommens bestimmt: "Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Bestimmungen dieser Rechte und Freiheiten, als in diesem Pakt vorgesehen, hinzielt." Abgedruckt in: Schweitzer, Michael/ Rudolf, Walter (Hg.): Friedensvölkerrecht, Baden-Baden2 1979, S. 46. 357 Im einzelnen erwähnte die Bundesrepublik Deutschland "die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem

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C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

Art. 79 Absatz 3 des Grundgesetzes unveränderlicher Kernbestand der Verfassung. Die DKP und ihre Mitglieder könnten das Parteiprogramm nur auf verfassungswidrige Weise verwirklichen und seien damit vom Diskriminierungsverbot der Konvention 111 ausgenommen: "Ein Angriff auf diesen Kernbestand stellt eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Staates auch im Sinne des Artikels 4 des Übereinkommens dar." 358 Prof. Karl Doehring erklärte als Zeuge der Bundesrepublik Deutschland vor der Untersuchungskommission: "WeM das Statut der Deutschen Kornmunistischen Partei sagt, die Partei steht auf dem Boden des Grundgesetzes, so bedeutet das doch nur, unser Parlamentarismus, die Offenheit unseres Staates, ist dazu zu benutzen, ihn, diesen Parlamentarismus, abzuschaffen. So hat dies Lenin fast wörtlich gesagt." 359

Neben Art. 4 des Übereinkommens 111 machte Winfrid Haase Art. 1 Abs. 2 der Konvention geltend, wonach "eine Unterscheidung, Ausschließung oder Bevorzugung hinsichtlich einer bestimmten Beschäftigung, die in den Erfordernissen dieser Beschäftigung begründet ist", nicht als Diskriminierung gilt. Für Beamte, gerade in Krisenzeiten Rückgrat des Staates, sei die Pflicht zur Verfassungstreue "keine willkürliche Diskriminierung, sondern eine sachgerechte Klassifizierung". 360 Der besondere Status des Beamten verlange eine unbedingte Loyalität zur Verfassung, unabhängig von der jeweiligen Stelle: "Um [ ... ] Infiltration zu verhindern, die in der Bundesrepublik das erkläne Ziel der Rechtsund Linksextremisten ist (der sogenannte 'Marsch durch die Institutionen'), muß von den Beamten insgesamt und ohne Unterschied Loyalität und Treue zur Verfassung verlangt werden. Aus den gleichen Gründen kann das außerdienstliche Verhalten nicht unberücksichtigt bleiben. Denn es ist nicht vorstellbar, daß jemand während der Dienstzeit Freiheit und Menschenrechte verteidigt und sie nach Dienstschluß bekämpft." 361

Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von Opposition". Vgl. Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 93; Stellungnahme der Bundesregierung vom 8.12.1980, S. 2, BIT ACD 8-2-24-111; vgl. auch Peter Frisch, Leiter der Niedersächsischen Landesbehörde für Verfassungsschutz vor der Untersuchungskommission, Zeugenanhörung, S. IX/I, 2. 358 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepub1ik Deutschland), S. 99. 359

Zeugenanhörung, S. XIV/18, siehe auch Zeugenanhörung, S. XIV/20.

Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 102. Vgl. auch Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1978-30.6.1980, S. 5, in: BIT ACD 8-2-24-111. Vgl. auch Peter Frisch, Leiter der Niedersächsischen Landesbehörde für Verfassungsschutz, vor der Untersuchungskommission, Zeugenanhörung, S. IX/21, 2; Kar! Doehring vor der Untersuchungskommission, Zeugenanhörung, S. XIV/18, 19. 360

II. Der Sachverhalt

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Eine Abstufung der Treuepflicht sei nicht möglich, denn "der Staat muß sich darauf verlassen können, daß er seine Beamten auf jedem Dienstposten einsetzen kann, ohne jedesmal erneut die Verfassungstreue überprüfen zu müssen". 362

Nicht die politische Meinung an sich, sondern die Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, im Einzelfall möglicherweise durch eine Kandidatur für die DKP, werde als konkretes Dienstvergehen geahndet, lautete die Argumentation der Bundesrepublik Deutschland unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Mai 1975.363 Gegenüber der Untersuchungskommission machte der deutsche Regierungsvertreter die Nicht-Ausschöpfung des rechtlichen Instanzenzuges durch die Betroffenen geltend, da die meisten nicht an das Bundesverfassungsgericht gelangt waren, und bezweifelte deshalb die rechtliche Relevanz des ILOVerfahrens. Es sei fraglich, "ob die Praxis eines Staates [... ] umfassend beurteilt werden kann, bevor der nationale Rechtsweg erschöpft ist. [.. .] So hat die Europäische Kommission flir Menschenrechte in einem vergleichbaren Fall eine Beschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges als unzuläßig zurückgewiesen.''364

Die Bundesregierung sprach von einem Mißbrauch der ILO-Kontrollverfahren: "Da diejenigen DKP-Aktivisten, deren Fälle der WOB hier präsentiert, absichtlich nicht den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft haben, insbesondere nicht das Bundesverfassungsgericht angerufen haben, können ihre Fälle nicht verwandt werden. [ ... ]Darüber hinaus hält die Bundesregierung es ftir einen Mißbrauch internationaler Normenüberwachungsgremien, wenn sie absichtlich aus politischen Gründen unter Umgehung der höchsten nationalen Instanzen unmittelbar angerufen werden." 365

361 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 97, s. auch S. 102. Vgl. auch Karl Doehring, Zeugenanhörung, S. XlV/30. 362 111.

Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1982-30.6.1984, S. 12, BIT ACD 8-2-24-

363 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 100; Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1978-30.6.1980, S. 6, BIT ACD 8-2-24-111. 364 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 90, 91. 365 Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 27.3.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 91; s. auch Stellungnahme der Bundesre-

94

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Die Bundesregierung verwies gelassen auf die Rechtsprechung der Gerichte, um so mehr, als die Verwaltungspraxis und nicht die gesetzlichen Grundlagen Anlaß des Klageverfahrens seien und es daher "Sache der nationalen Gerichte [sei], diesen nationalen [Hervorhebung im Original] Rechtsverstoß zu prüfen und festzustellen". 366 Die rechtlichen Grundlagen seien von der ILO nicht in Frage gestellt worden. Die Zahl der mangels Verfassungstreue abgewiesenen Bewerber bewege sich in der Größenordnung von Bruchteilen von Promillen, belegten Statistiken und Zeugen von Bundesregierung und Ländern.367 Wilhelm Freundlieb vom Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen erklärte vor der Untersuchungskommission, von den 300.000 Beamten der Deutschen Bundespost seien nur gerade 0,06 Promille wegen mangelnder Verfassungstreue entlassen worden. 368 Die Regierung konnte auch auf die 1979 geänderten Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue369 verweisen, die Routineanfragen an die Verfassungsschutzämter (Regelanfrage) im Bereich des Bundes untersagten. Wenn die Bundesregierung den Gegnern der "Berufsverbote" politisches Kalkül beim Verzicht auf eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorwarf, ließ sich diese Kritik tatsächlich belegen. Hans Meister erklärte vor der Untersuchungskommission, der Kampf gegen die Berufsverbote sei seiner Ansicht nach primär politisch zu führen, zumal ein negatives Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten sei: "Das habe ich durchaus befürchtet, auch auf Grund der mir bekannten Zusammensetzung dieses Gerichtes. Ein solches Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das unter Umständen negativ gewesen wäre, hätte aber weitreichende Folgen flir die weiteren Bewerber gehabt. Es wäre sehr viel schwieriger gewesen, hier die politische Lösung der Berufsverbote weiter zu fordern und durchzusetzen. Ich bin der Meinung, daß die Berufsverbote nicht juristisch beseitigt werden können, sie müssen politisch beseitigt werden. Daß es nicht irreal ist, das zeigt ja die Praxis in der

publik Deutschland nach der Zeugenanhörung, in: (Bundesrepublik Deutschland), S. 104

Bericht Untersuchungskommission

366 Stellungnahme der Bundesregierung unmittelbar nach der Zeugenanhörung, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 104. Vgl. auch Anm. 345.

367 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 421-448; vgl. auch Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1978-30.6.1980, S. 10, I I, und Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1981-30.6.1982, S. 8,9, in: BIT ACD 8-2-24-111 ; Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zur zweiten Beschwerde des WGB, BIT GB. 229/5/11, 229. Session, S. 5. 368 Zeugenanhörung, S. Xl/2. Ähnliche Zahlen präsentierte auch Peter Frisch ftir das Bundesland Niedersachsen (Zeugenanhörung, S. IX/4, 5) und Dr. Mattbias Metz namens des Freistaates Bayern (Zeugenanhörung, S. VIII/7, 32).

369 Abgedruckt in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para.

197.

II. Der Sachverhalt

95

Bundesrepublik, wo die [sozialdemokratische, Anm. des Verf.] Regierung die Berufsverbote beendet hat." 370

Auch nach dem Bericht der Untersuchungskommission lehnte die stellvertretende Vorsitzende der DKP, Ellen Weber, nach Gesprächen mit der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" den Gang zum Bundesverfassungsgericht ab: "Wir waren der Meinung, daß der wichtigste Hebel im Kampf gegen die Berufsverbote die politische Auseinandersetzung bleiben muß. Sie kann zur Zeit [sie] noch nicht ergänzt werden durch die juristische Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht. [ ... ] Der juristische Kampf gegen die Berufsverbote wäre mit der zu erwartenden Feststellung des Bundesverfassungsgerichts faktisch zu Ende. [ ... ]. Das Instrument des Berufsverbots hätte aber seine verfassungsrechtliche Weihe erhalten." 371

Die Auseinandersetzung um die "Berufsverbote" war für alle Beteiligten ein primär innenpolitischer Konflikt. Dies bestätigten auch Winfrid Haase372 und Gerd Muhr namens des DGB, der nicht nur ein Zusammengehen mit den Kommunisten scheute, sondern eine Bekämpfung der bundesdeutschen Praxis mit innenpolitischen Mitteln für aussichtsreicher als ein internationales Verfahren hielt: "Der DGB und die Gewerkschaften sahen keine Veranlassung, die Problematik auf das internationale Parkett zu tragen. Es handelte sich um eine innenpolitische Auseinandersetzung. Die Gewerkschaften besaßen genügend Selbstbewußtsein und Einfluß und waren nicht auf die Unterstützung anderer Gruppierungen angewiesen, deren Ziele sie nicht unterstützen wollten." 373 Beide Seiten betrachteten die Auseinandersetzung vor der ILO als "Nebenkriegsschauplatz", wenn auch von nicht zu unterschätzender Bedeutung. 374

370

Zeugenanhörung, S. Il/14.

371

Initiative "Weg mit den Berufsverboten", Rundbrief 74/88, S. 6, 8; in: BIT ACD 8-2-24-

111 . 3?2

Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn.

373

Gespräch vom 4.5.1992 mit Gerd Muhr in Düsseldorf.

374

Vgl. unten S. 135-143.

96

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

111. Die Verfahren der ILO 1. Die Beschwerde des Weltgewerkschaftsbundes 1978

Durch die Aktivitäten des WGB und des Weltverbandes der Lehrergewerkschaften wurde das Interesse der ILO-Kontrollorgane Ende 1975 geweckt. Bereits nach einem ersten Schreiben des WGB vom 10. November 1975 erbat sich der Sachverständigenausschuß von der Bundesregierung die Kriterien für die Prüfung der Verfassungstreue aufgrund von verwaltungsinternen Weisungen und insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Mai 1975.375 In seiner "direkten Anfrage" von 1976 kritisierte der Sachverständigenausschuß die seines Erachtens ungenügenden Kriterien zur Überprüfung der Verfassungstreue. 376 Am 24. Januar 1978 überwies der WGB dem ILO-Generaldirektor die erste Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland. Damit verschaffte er der Problematik der "Berufsverbote" das - wahrscheinlich gewünschte - zusätzliche Gewicht. 377 Der Verwaltungsrat bestimmte Anfang März 1978 aus seinen Mitgliedern einen dreiköpfigen Ausschuß gemäß Art. 2 Abs. 3 des Reglements für Beschwerdeverfahren.378 Als Präsidenten bestimmten die Regierungsvertreter Hector Griffin aus Venezuela, seitens der Arbeitgeber wurde G. Polites aus Australien und aus den Reihen der Arbeitnehmer der Österreicher Herbert Maier gewählt. Der Ausschuß des Verwaltungsrates anerkannte die formale Zuläßigkeit der Beschwerde und erarbeitete, gestützt auf schriftliche Stellungnahmen der Parteien, bis am 15. Juni 1979 einen Bericht zuhanden des Verwaltungsrates. 379

375 Es handelte sich um eine "direkte Anfrage" und eine "Bemerkung". Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 61 (1976), S. 182; vgl. auch BIT ACD 8-2-24-111. 376

BIT ACD 8-2-24-111.

377

Da der Verwaltungsrat in der Praxis von sich aus keine Beschwerde- oder Klageverfahren einleitet, hängt die Einleitung solcher Verfahren von der politischen Initiative der Berufsorganisationen ab. Regierungen klagen in der Regel nicht gegen andere Regierungen. Ob ein Klage- oder Beschwerdeverfahren eingeleitet wird, hängt in der Praxis nicht allein vom Sachverhalt, sondern auch stark von politischen Überlegungen ab. Vgl. K.T. Samson im Gespräch vom 19.2.1992 in Genf. 378 Second Report of the Officers of the Governing Body: Representation Presented by the World Federation of Trade Unions under A.rticle 24 of the Constitution Alleging Non-Observance of the Discrimination (Employment and Occupation) Convention, 1958 (No. III) by The Federal Republic ofGermany, BIT OB. 205/21/11,205. Session, 28.2.-3.3.1978, S. 1-2. 379 Rapport du comite charge d'etudier Ia reclamation presentee par Ia Federation syndicale mondiale, en vertu de l'article 24 de Ia Constitution, au sujet de l'inexecution de Ia convention

111. Die Verfahren der ILO

97

In einer Stellungnahme vom 30. Januar 1979 verwies die Bundesregierung auf die neu erlassenen Grundsätze zur Prüfung der Verfassungstreue vom 17. Januar 1979, die am I. April 1979 in Kraft traten und die Regelanfrage im Bereich des Bundes aufhoben. Nach den neuen Bestimmungen durften Anfragen an den Verfassungsschutz nicht mehr routinemäßig, sondern nur noch bei konkreten Verdachtsmomenten getätigt werden. Die Verfassungsschutzbehörden waren an die gesetzliche Schweigepflicht gebunden und durften nur gerichtsverwertbare Tatsachen weitergeben. Die Richtlinien von 1979 verlangten eine Prüfung des Einzelfalles und eine schriftliche Begründung eines ablehnenden Entscheides, die auf rechtlich relevanten Tatsachen basierte.380 Damit war der Untersuchung der Wind aus den Segeln genommen. Die neuen Richtlinien schienen die gewünschten präziseren Kriterien zur Prüfung der Verfassungstreue zu enthalten: "II semble que cette nouvelle reglementation devrait permeure le respect des garanlies voulues et de [sie] limiter l'examen aux cas particuliers dans lesquels existent des doutes serieux et fondes quant a Ja confiance [ .. .]" 381 ,

schrieb der Ausschuß des Verwaltungsrates in seinem Schlußbericht Über die Praxis ließen sich natürlich noch keine Aussagen machen. Der Ausschuß kam deshalb zum Schluß, das Verfahren zu beenden und die neue Situation im Rahmen der permanenten Kontrolle zu überprüfen: "[ ...] l'adoption de ces nouvelles regles [ ...] a cree une situation nouvelle, et qu'illui incombe maintenant essentiellement d'evaluer Ia portee de cette situation nouvelle, a Ia turniere des prescriptions de Ia convention et des commentaires dont elles ont fait l'objet de Ia part des organes permanents d'examen de l'application des conventions ratifiees. [ .. .] En definitive, a Ia turniere de tous les elements ( ... ),Je comite est convenu de recommander au Conseil d'administration [ .. .] de declarer close Ia presente procedure ( . .. )." 382

Dieser Gang der Ereignisse sei den Mitgliedern des Ausschusses sehr gelegen gekommen, vermutete Gerd Muhr, nicht zuletzt weil der Verwaltungsrat ein politisches Gremium sei und daher zum Teil auch politisch entscheide: "Weil sie nicht allzuviel Sympathie mit dem WGB verspürten, waren sie wohl ganz froh über die neuen Grundsätze und damit über die Beilegung des Ver-

{n° 111) concemant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, par Ia Republique federale d'AIIemagne), confidentiel. BIT GB. 210/16/27, 210. Session, Genf 1979, S. 1-20. Im folgenden zitiert als: Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat 1979 (vertraulich). Der Bericht wurde später im Bulletin officiel 63 (1980), Nr. I, Serie A, publiziert. 380 Abgedruckt in: Bericht der Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 197. Siehe auch: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 6 vom 19.1.1979, S. 45-47. 381

Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat 1979 (vertraulich), S. 8.

382

Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat 1979 (vertraulich), S. 7 und 9.

7 Voegeli

98

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

fahrens" 383 , erklärte Muhr im Gespräch mit dem Verfasser. Das Beschwerdeverfahren war vom Kalten Krieg und von der grundsätzlichen Kritik der Ostblockstaaten am ILO-Überwachungsverfahren überschattet. Einmal mehr standen nicht nur die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland, sondern das gesamte Kontrollsystem zur Diskussion. Die Vertreter der Ostblockstaaten bedachten den Bericht des Ausschusses in der Diskussion im Verwaltungsrat im November 1979 mit wütenden Protesten. 384 Der sowjetische Arbeitnehmervertreter Pimenov warf dem Ausschuß eine tendenziöse und unsaubere Untersuchung vor. Mit einem billigen Hinweis auf die neuen Grundsätze zur Prüfung der Verfassungstreue habe der Ausschuß Empfehlungen verweigert, die Bemerkungen des Sachverständigenausschusses mißachtet und die empörende Praxis der Gerichte stillschweigend akzeptiert: "II est tout a fait choquant qu'invoquant ostensib1ernent l'existence de nouvelles regles de procedure, le cornite se soit refuse a presenter des recornrnandations tendant a rnettre fin a une violation aussi grossiere de Ia convention n° 111 [ .. .]. En bref, Je rapport du cornite presente de serieuses insuffisances: il est tendancieux, il neglige des faits irnportants, il ornet de repondre aux allegations et aux argurnents de Ia reclarnation et il ignore l'interpretation que Ia Cornrnission d'experts pour l'application des conventions et recornrnandations a donnee de Ia convention n° 111. "385 Unterstützt vorn ungarischen Arbeitnehmervertreter und dem Regierungsvertreter der DDR verlangte er eine Neuauflage des Verfahrens. 386

Die starke westliche Fraktion im Verwaltungsrat387 konnte diese Vorwürfe abblocken und eine Annahme des Schlußberichts durchsetzen. Winfrid Haase nannte die Beschwerde ein weiteres Manöver einer Kampagne gegen die Bundesrepublik Deutschland. 388 Der deutsche Arbeitgebervertreter Wolf-Dietee Lindner ließ sich gar auf einen ideologischen Schlagabtausch ein und mußte auf Antrag des sowjetischen Arbeitnehmerdelegierten Pimenov vom Präsidenten des Verwaltungsrates zur Ordnung gerufen werden, als er der Sowjetunion die Verfolgung politischer Dissidenten vorhielt und im Vergleich zur Situation in der Bundesrepublik bemerkte: "Le conteaste avec le traitement

383

Gespräch vorn 4.5.1992 in Düsseldorf.

Proces verbal de Ia quatrierne seance (privee), 14.1l.l979, BIT GB. 2ll (confidentiel), im folgenden zitiert als: Protokoll Verwaltungsratssitzung 1979 (vertraulich), S. IV/1 -7. 384

385

Protokoll Verwaltungsratssitzung 1979 (vertraulich), S. IV/2, 3.

386

Protokoll Verwaltungsratssitzung 1979 (vertraulich), S. IV/3, 4, 6.

19 der insgesamt 56 Mitglieder des Verwaltungsrates stellten die westlichen Industriestaaten; nur gerade drei kamen aus dem Ostblock. Vgl. BIT GB. 211. Session, Genf l3.-16.1l.l979, Projet de Ia 211 session, S. l/2 und AnhangS. 1-12. 387

388

Protokoll Verwaltungsratssitzung 1979 (vertraulich), S. IV/3.

III. Die Verfahren der ILO

reserve aux dissidents politiques dans !es Etats totalitaires frappant[ ... ]." 389

99

a parti

unique est

Nach der Annahme des Berichtes ritt der WGB zwei heftige Attacken gegen den Untersuchungsausschuß und die Kontrollorgane der IL0. 390 Mit ähnlichen Redewendungen, wie sie der sowjetische Arbeitnehmervertreter Pimenov in der Verwaltungsratsdebatte gebraucht hatte, warf der WGB dem Ausschuß ein politisch motiviertes Fehlurteil, mangelnde Objektivität und eine bewußt falsche Tatsachenwertung vor: "We find the decision taken by the Goveming Body to be a result of political consideration. From the legal point of view it is in our opinion a serious misjudgement, which disregards the essential principle of the Supervision over the application of Standards - the objectivity [ ... ]. The [ ... ] conclusions are tendentious and they could only be reached by ignoring completely the arguments put forward by the author of the representation and by deliberately misjudging facts." 391

Für die Bundesrepublik Deutschland war der Ausgang des Verfahrens günstig. Im nachhinein drängt sich die Frage auf: Waren die neuen Grundsätze zur Prüfung der Verfassungstreue Teil eines politischen Manövers, um dem Beschwerdeverfahren die Spitze zu brechen? Der damalige Vertreter der Bundesregierung Winfrid Haase und sein Stellvertreter Horst Weber wiesen eine solche Interpretation zurück. 392 Eine Änderung der Verfahren sei primär innenpolitisch motiviert gewesen. Innenpolitische Erwägungen und nicht der Druck der ILO hätten das Handeln der Bundesregierung bestimmt. "Die !LO-Verfahren fanden nur ein schwaches Echo in der Bundesrepublik", erklärte Horst Weber. 393 Nur sekundär - aus taktischen, nicht grundsätzlichen Gründen habe das Beschwerdeverfahren die Einführung dieser Grundsätze beschleunigt.394 Auch Gerd Muhr, der als Arbeitnehmerdelegierter und Vizepräsident des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Praxis der Bundesregierung ablehnte, verwarf eine solche Vermutung: "Die Entwürfe für eine Änderung der Grundsätze waren älter als die erste Beschwerde des WGB. Das Beschwerdeverfahren war ein Grund, das Papier nicht in der Schublade verstauben zu lassen. "395

89 Protokoll Verwaltungsratssitzung 1979 (vertraulich), S. IV/4. 390 Vgl. Brief des Generalsekretärs des WGB an den ILO-Generaldirektor vom 28.3.1980 und 3

Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 8.12.1980, BIT ACD 8-2-24-111.

391 Brief vom Generalsekretär des WGB an den ILO-Generaldirektor vom 28.3.1980, BIT ACD 8-2-24-111, S. 2, 3. 392

Vgl. Gespräche mit Winfrid Haase und Horst Weber am 2.4.1992 in Bonn.

39 3

Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn.

394 Gespräch mit Winfrid Haase am 2.4.1992 in Bonn. 395 Gespräch vom 4.5.1992 in Düsseldorf.

100

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

2. Der Dialog im Rahmen der permanenten Kontrolle

Nach Abschluß des Beschwerdeverfahrens ging die Kontrolle erneut an den Sachverständigen- und den Konferenzausschuß über, welche ihre Kontrolltätigkeit während der Untersuchung nach der üblichen Praxis der ILO suspendiert hatten. In seinen Bemerkungen von 1980 und 1981 bat der Sachverständigenausschuß um detaillierte Informationen über die Anwendung der neuen Verfahrensregeln, insbesondere in den Ländern, und verwies auf neue Vorwürfe seitens des WGB.396 Bis Ende der achtziger Jahre gingen im Internationalen Arbeitsamt zahlreiche Dokumentationen und Communiques über "Berufsverbote" ein, hauptsächlich von der Hamburger Initiative "Weg mit den Berufsverboten", zum Teil auch von der Deutschen Friedensunion (DFU). 397 In einer ausführlichen Stellungnahme erläuterte die Bundesregierung 1980 nochmals ihren Standpunkt398 , zeigte sich aber in der Folge über die Hartnäckigkeit des SachverständigenausschuBes zunehmend verärgert. In ihrem Rechenschaftsbericht für die Periode 1980/81 wies sie darauf hin, "daß sie zu diesem Gegenstand wiederholt ihre Rechtsauffassung dargelegt hat [ ... ]. Die Bundesregierung [ .. .] sieht sich nicht veranlaßt, ihre Ausführungen noch zu vertiefen."399 Dem Drängen des Sachverständigenausschusses nach Informationen über die Länder begegnete die Bundesregierung mit dem Hinweis auf die föderative Staatsstruktur.4(XJ Bei den Richtlinien von 1979 handle es sich auch nicht um Kriterien der Verfassungstreue, sondern um Verfahrensgrundsätze: "In welchem Umfang die Länder den Verfahrensregeln der Bundesregierung gefolgt sind, kann deshalb für die Überprüfung der Durchführung des Übereinkommens 111 unberücksichtigt bleiben."4(ll Immerhin enthielt der Bericht statistische Angaben über die Praxis beim Bund sowie für Bremen, Harnburg und Nordrhein-Westfalen. Nichts Neues enthielt die Stellungnahme für die Be-

396 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des convenlions el recommandations 66 (1980), S. 177; 67 (1981), S. 1781179. 397

Vgl. BIT ACD 8-2-24-111 (1975-1992).

398

Bericht nach Art. 22, 1.7.1978-30.6.1980, S. 2-11, BIT ACD 8-2-24-111.

399 Bericht nach Art. 22, 1.7.1980-30.6.1981, S. 2, BIT ACD 8-2-24-111.

4(Xl "Umfassendes statistisches Material über Umfang und Auswirkungen der Richtlinien zur Prüfung der Verfassungstreue liegen [sie) wegen des föderativen Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland und der Personal- und Organisationshoheit der Länder nicht vor." Bericht nach Art. 22, 1.7.1978-30.6.1980, S. 10, BIT ACD 8-2-24-111.

4(ll Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1981-30.6.1982, S. 7, BIT ACD 8-2-24-

111.

III. Die Verfahren der ILO

101

richtsperiode 1982/84; die Regierung begnügte sich mit einer Wiederholung bekannter Argumente. 402 Den immer knapperen Berichten der Bundesrepublik Deutschland standen zunehmend ausführlichere Kommentare des Sachverständigenausschusses gegenüber. Das Klima schien gereizt. Der Sachverständigenausschuß zeigte sich 1982 und 1983 unbefriedigt über die deutsche Berichterstattung und hielt 1983 dezidiert fest, mangels Informationen sehe er sich nicht imstande, seiner Aufgabe nachzukommen: "La commission d'experts [ ... ) observe que, en l'absence des informations detaillees [ .. . ) au niveau federal et dans !es divers Länder, elle n'est toujours pas en mesure de proceder a un examen complet de Ia situation, tel qu'il avait ete envisage par Je comite du Conseil d'administration." 403

In seinen ausführlichen Bemerkungen von 1983 rief der Sachverständigenausschuß die gängige Interpretation der Konvention 111 in Erinnerung, wie sie seit der Annahme des Übereinkommens 1958 von der ILO entwickelt worden war. 404 Sie stand in deutlichem Gegensatz zur deutschen Auslegung. Die Verfassungstreue in der Bundesrepublik Deutschland lasse sich nicht als berufliche Qualifikation nach Art. 1 Abs. 2 der Konvention begründen, wonach eine "Unterscheidung [ ... ] hinsichtlich einer Beschäftigung, die in den beruflichen Erfordernissen dieser Beschäftigung begründet ist, [ ...] nicht als Diskriminierung" gilt. Der Sachverständigenausschuß rügte dabei das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gegen Hans Peter. Ebensowenig lasse sich die Praxis der Bundesregierung unter Art. 4 subsumieren (Gefährdung der Sicherheit eines Staates als zuläßiger Grund für eine berufliche Diskriminierung). Die Konvention schütze sogar politische Überzeugungen, die auf eine grundlegende Veränderung des Staates zielten, solange keine gewalttätigen oder verfassungswidrigen Methoden empfohlen oder angewandt würden. Die Meinungsäußerungsfreiheit umfasse auch politische Aktivitäten, "etant donne que Ia protection a l'egard d'opinions qui ne s'exprimeraient ni ne se manifesteraient serait sans objet".405 Der Sachverständigenausschuß konnte sich bei seiner Interpre-

402 Bericht der Bundesregierung nach Art. 22, 1.7.1982-30.6.1984, S. 12, BIT ACD 8-2-24111. Die Bundesregierung kündigte in diesem Bericht eine Stellungnahme zur zweiten Beschwerde des WGB vom 13.6.1984 an. 403 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 69 ( 1983), S. 216. Vgl. auch Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 68 (1982), S. 201. 404 Eine Zusanunenfassung zur Auslegung der Konvention !II befindet sich im Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 23-29.

405 Rapport de Ia Commission d'experts pour I'application des conventions et recommandations 69 (1983), S. 217.

102

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

tation auf zwei Gesamtstudien zur Konvention III von 1963 und 1971 406 , auf das Beschwerdeverfahren gegen die Tschechoslowakei von 1978407 und auf seine eigenen Bemerkungen gegenüber Chile, der Tschechoslowakei und der Türkei408 berufen. Gerade die Studie von 1963 hatte ausdrücklich festgehalten, daß die Konvention "alle Maßnahmen ausschließt, die nicht auf Grund individueller Tätigkeiten, sondern auf Grund der Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe oder Gemeinschaft getroffen werden; solche Maßnahmen können nur diskriminierend sein". 409 Der Sachverständigenausschuß unterstrich daher nachdrücklich die Verpflichtung der Bundesregierung, Gesetzgebung und Praxis dem Übereinkommen 111 anzugleichen; "[ .. .] Ia commission espere que des mesures seront prises bientot pour mettre Ia h!gislation et Ia pratique en conformite avec Ia convention [ ... ]."410 Die Praxis in der Bundesrepublik Deutschland stand zwar von 1981 bis 1983 auf der Traktandenliste des Konferenzausschusses, dem deutschen Regierungsvertreter Winfrid Haase gelang es aber, ausgedehnte Diskussionen und eine scharfe Verurteilung zu vermeiden. Haase versuchte zu beschwichtigen und unterstrich den "courant normal" der Verfahren. Die Beschwerde sei korrekt behandelt und abgeschlossen worden, die weitere Kontrolle liege ordnungsgemäß bei den Organen der permanenten Kontrolle, unterstrich er 1981 vor dem Konferenzausschuß. Die Bundesregierung verfasse zeitgerecht einen Zusatzbericht für den Sachverständigenausschuß. Eine Verletzung der Kon-

406 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 47 (1963), Partie 111.: Diselimination en matiere d'emploi et de profession. Conclusions generales sur Ies rapports relatifs a Ia convention (n° III) et a Ia recommandation (n° III) concemant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, Genf 1963; Rapport de Ia Commission d'expens pour l'application des conventions et recommandations 56 (1971), Rapport III. Partie 4 B: Etude d'ensemble sur les rappons relatifs a Ia convention et a Ia recommandation concemant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, Genf 1971. 407 Vgl. Rapport du Comite charge d'etudier Ia reclamation presentee par Ia Confederation internationale des syndicats libres, en vertu de l'anicle 24 de Ia Constitution, au sujet de l'inexecution de Ia convention (n° II I) concemant Ia discrimination (emploi et profession), 1958, par Ia Tchecoslovaquie, in: Bulletin officiel61 (1978), Serie A, n° 2, supplement. 408 Vgl. Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 69 (1983), S. 221-225, 234-237. 409 Deutsche Übersetzung zit. in: Bericht des Ausschusses zur Untersuchung der vom Weltgewerkschaftsbund gemäß Art. 24 der Verfassung eingereichten Beschwerde, daß die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, nicht eingehalten habe, BIT GB. 229/5/11, 229. Session, 25.2.-1.3.1985 (vertraulich), S. II. Im folgenden zitiert als: Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat (1985) (vertraulich). 410 Rapport de Ia Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations 69 (1983), S. 218.

III. Die Verfahren der ILO

103

vention 111 liege nicht vor: "Le gouvernement donne l'assurance qu'il se conforme en tout point a Ia convention no 111, comme a conclu le comite tripartite du Conseil d'administration [ ... ]."411 1982 erklärte sich Haase außerstande, Informationen über die Praxis in den einzelnen Ländern vorzulegen, "les efforts faits par le gouvernement federal pour les obtenir n'ont pas ete couronnes de succes" .412 Ein Jahr später stellte er lediglich einen Bericht über die Situation in den einzelnen Ländern in Aussicht. 413 1982 bemängelten die Arbeitnehmer diese Vertröstungen: "[ ... ] le gouvernement a fait des promesses qu'il n'a pas tenues". 414 Die unbefriedigenden Auskünfte der Bundesregierung weckten Verdacht: "Si c'est en fait une procedure claire et objective, elle permettra de repondre en grande partie aux accusations",415 erklärten die Arbeitnehmer. 1983 folgte eine scharfe Kritik seitens des sowjetischen Arbeitnehmervertreters.416 Die Vertreter der Arbeitgeber hingegen zeigten viel Verständnis für die Haltung der Bundesregierung, auch wenn sie die Aufforderung nach detaillierten Informationen unterstützten: "Toutes les informations requises doivent etre donnees, afin de prouver que les allegations de discrimination sur Ia base d'opinion politique ne sont pas fondees." 417

3. Die Beschwerde des Weltgewerkschaftsbundes 1984 Der langwierige Dialog im Rahmen der permanenten Kontrolle wurde durch eine weitere Beschwerde des WGB am 13. Juni 1984 unterbrochen.418 Darin erhob der WGB den Vorwurf, die Bundesrepublik Deutschland habe seit Abschluß des ersten Beschwerdeverfahrens keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um Gesetzgebung und Praxis an die Konvention 111 anzupassen.419 In offener Mißachtung der klaren Auslegung der Konvention beharre

411

CRP 31 (1981), S. 54.

412 CRP 31 (1982), S. 59. 41 3 CRP 31 (1983), S. 50, 51. 414 CRP31 (1982),S.60. 4 15 CRP 31 (1982), S. 59. 416 CRP 31 (1983), S. 51. 417 CRP 31 (1982), S. 60. 418 Abgedruckt in: BIT GB. 227/8/144, (confidential), 227. Session, Genf 1984, S. 3·6. 419 "However, since that time, the Govemment of the Federal Republic of Germany has not

made serious efforts tobring both legislation and practice into conformity with the Diselimination (Employment and Occupation) Convention 1958 (No. II I)." BIT GB. 227/8/14 (confidential), 227. Session, Genf 1984, S. 3.

104

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

die Bundesregierung auf ihrer Praxis, was seit 1979 in einigen hundert Fällen erneut zu Diskriminierungen geführt habe: "Despite the clear position of the Committee of Experts of the ILO, [... ] the Govemment of the Federal Republic of Germany continues to misinterpret [ ... ] the Convention to justify its discriminatory practices which are in contradiction with ILO Convention No. 111 but also with [... ] the Constitution of the Federal Republic of Germany. ( ... ] Since 1979 there have been several hundred cases of discriminatory measures taken to the detriment of candidates for posts in public service or civil servants." 42°

Der Verwaltungsrat anerkannte die Beschwerde als formal zuläßig und nominierte einen Dreierausschuß unter Leitung des finnischen Regierungsvertreters Jaakko Riikonen zur materiellen Prüfung der Vorwürfe. Seitens der Arbeitgeber wurde der Schweizer Roger Decostered bestimmt, aus den Reihen der Arbeitnehmer der Österreicher Heribert Maier, der bereits beim Beschwerdeverfahren von 1979 teilgenommen hatte. 421 Der Ausschuß kam zu einem klaren Ergebnis. Ganz auf der bisherigen Linie der ILO-Kontrollorgane und unter ausdrücklicher Berufung auf ihre Auslegung entschied der Ausschuß in seinem Schlußbericht vom 18. Februar 1985. Die Praxis in der Bundesrepublik Deutschland überschreite den zuläßigen Spielraum des Übereinkommens 111.422 Sie diskriminiere die politische Meinung der Beamten423 und lasse sich weder als berufliche Qualifikation nach Art. 1 Abs. 2 noch mit der Sicherheit des Staates nach Art. 4 der Konvention begründen. 424 Die betroffenen Beamten hätten verfassungswidrige Mittel we-

420

BIT GB. 227/8114 (confidential), 227. Session, Genf 1984, S. 3, 4.

421

Vgl. Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat (1985), (vertraulich), Para. 6.

Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat (1985), (vertraulich}, S. 4. Vgl. auch die mündlichen Ausruhrungen von Jaakko Riikonen in der geschlossenen Sitzung des Verwaltungsrates vom 3.6.1985, Second Sitting (private): Report of the Committee Set Up to Examine the Representation Made by the World Federation of Trade Unions under Article 24 of the Constitution Alleging the Failure by the Federal Republic of Germany to Implement the Diselimination (Employment and Occupation) Convention, 1958 (No. 111 ). Confidential. GB. 230., June 1985, S. Il/2. Im folgenden zitiert als: Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985 (vertraulich). 422

423 So folgerte der Ausschuß: "Im vorliegenden Fall ist es unbestritten, daß Maßnahmen gegen eine Reihe von Beamten oder Bewerbern für Beamtenstellen aufgrund ihrer politischen Ansichten getroffen wurden, wie sie insbesondere durch ihre Tätigkeiten in einer politischen Partei und für diese zum Ausdruck kamen." Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat (1985), (vertraulich), Para. 36. 424 Wörtlich hielt der Ausschuß fest: "Der Anwendungsbereich der allen Beamten auferlegten Treuepflicht, wie sie gegenwärtig ausgelegt wird, geht somit offenbar über den Rahmen dessen hinaus, was nach Art. I Absatz 2 des Übereinkommens zulässig ist. [ .. .] Der Ausschuß gelangt deshalb zur Schlußfolgerung, daß die Beamten in der Bundesrepublik Deutschland auferlegte Treuepflicht in Anbetracht ihres weiten Anwendungsbereichs und so, wie sie gegenwärtig ausge-

III. Die Verfahren der ILO

105

der angewandt noch empfohlen und somit auch keinen strafrechtlichen Tatbestand erfüllt. Der Widerspruch zwischen nationaler Praxis und internationalem Recht ergebe sich aus dem Konstrukt Verfassungsfeindlichkeit Einerseits sei die DKP als legale Partei anerkannt.425 , andererseits müßten sich ihre Mitglieder die verfassungsfeindlichen Ziele ihrer Partei vorhalten lassen: "Die[ ... ] Partei hat[ ... ] über einen beträchtlichen Zeitraum am politischen Leben des Landes teilnehmen und somit auch Kandidaten bei Wahlen auf allen Ebenen aufstellen können, als rechtmäßige politische Partei, die den gleichen Status und die gleichen Rechte wie andere politische Parteien genießt. Gleichzeitig sind gegen Einzelpersonen, weil sie sich mit den Zielen dieser Partei identifizierten und sie unterstützten, Maßnahmen in Beschäftigung und Beruf ergriffen worden, mit der Begründung, daß jene Ziele verfassungsfeindlich seien. Dies ist eine zweideutige Situation, die dazu angetan ist, für Einzelpersonen im Bereich Beschäftigung und Beruf Konsequenzen auf Grund der Beurkundung ihrer politischen Meinungen hervorzurufen. Die Probleme bei der Einhaltung des Übereinkommens 111 scheinen sich aus dieser Zweideutigkeit zu ergeben." 426

Der Ausschuß empfahl dem Verwaltungsrat, das Verfahren zu beenden und die Bundesregierung zu ersuchen, "geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung des Übereinkommens Nr. 111 [ ... ] zu gewährleisten [und] gemäß Art. 22 der Verfassung der IAO umfassend über die Ergebnisse der[ ...] empfohlenen Überprüfung zu berichten [ ... ]" .427 4. Die Sitzung des Verwaltungsrats vom 3. Juni 1985

Die Schlußfolgerungen des Ausschusses waren für die Bundesregierung nicht akzeptierbar. 428 In einem prägnanten Votum rekapitulierte Winfrid Haase vor dem Verwaltungsrat die Position der Bundesrepublik Deutschland und kam zum Schluß, der Bericht trage den rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten der Bundesrepublik Deutschland nicht Rechnung:

legt wird, über die durch Art. 4 des Übereinkommens zugelassenen Maßnahmen hinausgeht." Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat (1985), (vertraulich), S. 10, 12. 425 Dies ergibt sich e contrario aus Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, wonach das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit einer Partei entscheidet, was es im Falle der DKP nie getan hat. 426

Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat ( 1985), (vertraulich), Para. 50.

427

Bericht Untersuchungsausschuß Verwaltungsrat ( 1985), (vertraulich), Para. 53.

428

Dies bestätigten Winfrid Haase und Horst Weber in Gesprächen vom 2.4.1992 in Bonn.

106

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

''[. .. ] the report now before the Goveming Body bad not adequately assessed the factual and legal situation existing in the Federal Republic of Gerrnany. His govemment [die Bundesregierung, der Verf.] was accordingly unable to endorse the Committee's conclusions." 429

Mit dem Hinweis auf eine Resolution der UNO-Generalversammlung unterstellte er der ILO indirekt sogar eine falsche Interpretation der Konvention, wenn er sagte: "Only last December the United Nations General Assembly had unequivocally condemned those who supported such [totalitarian, der Verf.] systems. The Govemment of the Federal Republic of Germany trusted that the ILO would be able to reach the same conclusion." 430

In einem späteren Gespräch mit den deutschen Vertretern trat die Auffassung klar zutage, die Institution des deutschen Beamten werde im Ausland nicht verstanden.431 Vor dem Verwaltungsrat unterstrich Winfrid Haase die bisherige Kooperation, die Dialogbereitschaft seiner Regierung und empfahl, das Gespräch im Rahmen der permanenten Kontrolle fortzusetzen. 432 Die deutsche Zusammenarbeit fand zwar die Anerkennung des Verwaltungsrats und seines Untersuchungsausschusses433 ; Heribert Maier, Arbeitnehmervertreter im Untersuchungsausschuß, fand aber, der Vorschlag von Haase wäre ein mageres Ende der Untersuchung. 434 Als überraschenden Ausweg empfahl er, eine Untersuchungskommission nach Art. 26 der ILO-Verfassung einzusetzen. Damit würden die Kontrollverfahren im Sinn und Geist der ILO-Verfassung weitergeführt und zur vollständigen Einhaltung der Konvention 111 beitragen: "[ ... ] it might provide a means of keeping the procedures in motion in a positive manner consistent with the aims and principles of the ILO Constitution, and thereby continue the efforts to ensure, on the basis of the study carried out by the Goveming Body Committee, the full implementation of Convention No. !II in the Federal Republic of Germany." 435

Der Vorschlag wurde von zwei französischen Delegierten, vom indonesischen Regierungsvertreter und vom deutschen Delegierten Gerd Muhr sofort 429

Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985, (vertraulich), S. IU5.

Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 3.6.1985, (vertraulich), S. IU5. Dieselbe Kritik äußerte auch der A~beitgebervertreter Wolf-Dieter Lindner, wenn er die deutsche Zustimmung zur Einsetzung einer Untersuchungskommission der ILO mit der Hoffnung auf "die bessere Einsicht der ILO" erklärte. Telefongespräch vom 4.3.1992. 430

431

Gespräch mit Winfrid Haase und Dietrich Willcrs am 2.4.1992 in Bonn.

43 2

Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1986, (vertraulich), S. IU5.

Der deutsche Arbeitnehmerdelegierte Gerd Muhr unterstrich mit einer Anspielung auf die totale Verweigerung Polens im Untersuchungsverfahren von 1984, daß eine Kooperation bisher keinesfalls selbstverständlich gewesen sei. Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985, (vertraulich), S. IU8. 433

434

Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985, (vertraulich), S. IU6.

435

Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985, (vertraulich), S. IU7.

111. Die Verfahren der ILO

107

aufgegriffen. Zur Verblüffung der Vertreter der Ostblockstaaten ging auch Haase namens der Bundesregierung auf diesen Vorschlag ein und erklärte, er sei "entirely open to Mr. Maier's suggestion, and wished to emphasize once again that the Govemment of the Federal Republic and other competent authorities in the Federal Republic were ready to continue their dialogue and CO-operation with other procedures, including article 10 of the Standing orders [ ... ]". 436

Noch nie hatte eine Regierung so rasch und vorbehaltlos zustimmend auf ein solches Ansinnen reagiert. Die Vertreter der Ostblockstaaten waren offensichtlich überrascht. 437 Sie hatten wahrscheinlich auf eine "Verurteilung" der Bundesrepublik Deutschland spekuliert und wurden nun durch den Gang der Dinge überrumpelt. Ein Klageverfahren nach Art. 26 würde eine "Verurteilung" hinausschieben und zu einer Neubeurteilung des Sachverhalts führen. "Die Bereitschaft eines wichtigen westlichen Staates, freiwillig sein Verhalten gegenüber seinen Angestellten auf die Rechtmäßigkeit gemäß ILO-Konventionen untersuchen zu lassen, hat den Ostblock in eine heillose Verwirrung versetzt, die er zu überwinden sucht" 438 , schrieb die Neue Zürcher Zeitung am 9. Juni 1985. Der ukrainische Regierungsvertreter Ozadovski pochte auf eine Entscheidung des Verwaltungsrates, da alle Fakten vorlägen: "[ ... ] today all the elements were available for holding a constructive discussion and taking a decision on the recommendations of the Committee. "439 Der sowjetische Regierungsdelegierte verlangte eine Abstimmung über den Bericht des Ausschusses.44(1 Auf Antrag Heribert Maiers und des französischen Arbeitgeberdelegierten Öchslin stimmte der Verwaltungsrat zuerst über die Einsetzung einer Untersuchungskommission ab. Der Antrag fand eine klare Mehrheit. Bisher hatte der Verwaltungsrat erst einmal "von Amtes wegen", wie es in Art. 26 Abs. 4 der Verfassung heißt, eine Untersuchungskommission einge-

436 Protokoll Verwaltungsratssitzung 3.6.1985, (vertraulich), S. IU9, 10. Art. 10 des "Reglement relatif a Ia procedure a suivre pour l'examen des reclamations au titre des articles 24 et 25 de Ia Constitution de l'organisation internationale de Travail" umschreibt die Einsetzung einer Untersuchungskommission nach Art. 26 der Verfassung durch den Verwaltungsrat. 437 Dies bestätigte Andre Zenger, der damals Regierungsvertreter der Schweiz im Verwaltungsrat war, im Gespräch vom 19.2.1992. Winfrid Haase sprach vor der Untersuchungskommission von Überraschung und Schock seitens der Ostblockstaaten; vgl. Zeugenanhörung, S. U8; vgl. Haase, Übereinkommen 111 und "Berufsverbot", S. 23. 438

Neue Zürcher Zeitung Nr. 130 vom 9./10.6.1985, S. 4.

439

Protokoll Verwaltungsratssitzung vom 3.6.1985, (vertraulich), S. lU II.

440

Protokoll Verwaltungsratssitzung vom 3.6.1985, (vertraulich), S. 11/11.

108

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

setzt. 441 Am 26. Juni 1974 eröffnete er ein Klageverfahren gegen die Militärregierung Chiles wegen Verletzung der Konvention 111. Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 waren Tausende aus politischen Gründen entlassen worden, und die Spezialgerichte hatten weder unabhängig noch objektiv über Berufungen entschieden. Die Internationale Konferenz forderte darauf in einer (unverbindlichen) Resolution die Einsetzung einer Untersuchungskommission.442 Gegen die Bundesrepublik Deutschland handelte der Verwaltungsrat nun scheinbar sogar ohne äußeren Anstoß. Das Vorgehen im Verwaltungsrat war vorgängig zwischen den Delegierten der Bundesregierung und hohen Vertretern des Internationalen Arbeitsamtes besprochen worden. 443 Auch Gerd Muhr, Sprecher der Arbeitnehmerdelegierten, hatte davon Kenntnis. 444 Sogar der WGB wußte davon und hatte Zustimmung angedeutet. 445 Offizielle Absprachen bestanden allerdings nicht. 446 Was waren die Motive des Internationalen Arbeitsamtes? Warum gab die Bundesrepublik Deutschland ihre Zustimmung für eine gerichtsähnliche Untersuchung, für das schärfste Kontrollverfahren? Das Internationale Arbeitsamt kannte die ablehnende Haltung der Bundesregierung zum Bericht des Untersuchungsausschusses. Eine Weigerung der Bundesregierung, den Bericht des Ausschusses zu akzeptieren, hätte die ILO desavouiert. Die Bundesrepublik Deutschland als westeuropäische Demokratie bildete gleichsam einen Musterfall für die ILO-Kontrollverfahren. Die Ostblockstaaten hätten bei einer Ablehnung des Schlußberichts durch die Bundesregierung vermutlich eine heftige Polemik im Verwaltungsrat entfesselt. Ein Entscheid des Verwaltungsrats war nicht zu umgehen, wie interne und vertrauliche Gutachten der ILO-Normen- und Rechtsabteilung ergaben. Art. 24 und 25 der ILO-Verfassung gaben nur dem Verwaltungsrat die Kompetenz, sich zu einer Beschwerde zu äußern. Eine Neubeurteilung durch den Verwaltungsrat selbst schien unrealistisch, eine Änderung der Schlußfolgerungen ohne neue Prüfung willkürlich. 447 Das Gutachten der Normenabteilung des Internatio441 Für eine Übersicht über die Klageverfahren siehe S. 158-160. 442 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Chile), Para. 1-8. 443 Dies bestätigten Winfrid Haase und Horst Weber in Gesprächen vom 2.4.1992 in Bonn

sowie K.T. Samson in einem Gespräch vom 6.6.1992 und in einem Brief vom 4.9.1992. Winfrid Haase erwähnte am 9.12.1992 mündlich ein Gespräch mit dem damaligen ILO-Generaldirektor Francis Blanchard in Turin. 444

Gespräch vom 2.5.1992 in Düsseldorf.

445 Telefongespräch mit Daniel Retureau vom 30.6.1992. 446

Diese Ansicht vertrat Gerd Muhr im Gespräch vom 2.5.1992 in Düsseldorf.

447 Diese Überlegungen seitens der ILO flihrte K.T. Samson in einem Brief vom 4.9.1992 an

den Verfasser aus.

111. Die Verfahren der ILO

109

nalen Arbeitsamts unterstrich das Dilemma der ILO und die gefährdete Glaubwürdigkeit des ILO-Kontrollsystems: "Beyond the legal questions [ ... ] consideration needs also to be given to the effect of the procedure adopted on the credibility of the ILO supervisory system. Inevitably comparisons will be drawn between the conduct of the Goveming Body in this case and its decisions conceming the cases of Czechoslovakia and Poland. lf the impression were created that justified conclusions had been eliminated through a politically dictated vote, the claim made for ILO Supervision of evenhanded application of a single standard might be seriously damaged." 448

Die Einsetzung einer Untersuchungskommission bot sich deshalb als vernünftiger Ausweg an: Die Bundesrepublik Deutschland mußte den Bericht nicht akzeptieren, die Glaubwürdigkeit der ILO-Kontrolle blieb gewahrt. Eine unabhängige Kommission qualifizierter Experten würde den Sachverhalt neu und umfassender als bisher beurteilen. Möglicherweise sei die Einsetzung einer Untersuchungskommission den Überwachungsgremien der ILO nicht ungelegen gekommen, weil sie mit einem solchen Klageverfahren gegen einen wichtigen westlichen Industriestaat auch ihre Unabhängkeit beweisen konnten, vermutete Horst Weber.449 Für den WGB zeichnete sich damit eine günstige Lösung ab, zumal die Ostblockstaaten im Verwaltungsrat keine starke Lobby besaßen, um eine sofortige "Verurteilung" der Bundesregierung durchzusetzen. "Ich weiß nicht, was wir bei einer Ablehnung einer Untersuchungskommission gemacht hätten", erklärte Daniel Retureau. 450 Nicht zuletzt habe auch der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, der nach Retureau 90 Prozent der Arbeitnehmer im Verwaltungsrat hinter sich wußte, seine Zustimmung zu einem Untersuchungsverfahren signalisiert. Die Bundesrepublik Deutschland ihrerseits konnte es sich als einer der Bannerträger der ILO und ihrer Kontrollverfahren nicht erlauben, sich eben diesen Überwachungsmechanismen zu verweigern. Immer wieder hatten die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland die Verfahren der ILO gegen Angriffe der sozialistischen Staaten verteidigt. 451 Wer, wenn nicht die Bundesrepublik Deutschland, würde sich auf die ILO-Verfahren einlassen, könnte die

448

Zit. in: Brief Samson vom 4.9.1992 an den Verfasser.

Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn, Brief vom 24.9.1992 an den Verfasser. Die bisherigen Klagen hatten sich gegen Portugal, Liberia, Griechenland, Chile, die Dominikanische Republik/Haiti und Polen gerichtet. 449

450 Telefongespräch vom 30.6.1992. Weshalb die Ostblockstaaten von diesem Manöver völlig überrumpelt wurden, konnte Retureau nicht sagen. 451 CRP 25 (1977), S. 3; CRP 37 (1980), S. 5; CRP 31 (1981), S. 3; CRP 31 (1982), S. 3; CRP 31 (1983), S. 5; CRP 30 (1985), S. 5; CRP 24 (1987), S. 5; CRP 28 (1988), S. 6. Vgl. International Labour Conference. Record of Proceedings, 17. Session, 21 (1984), S. 3-4.

110

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

überspitzte Frage lauten. Zudem war an der nächsten Internationalen Arbeitskonferenz mit einer Klage eines osteuropäischen Delegierten zu rechnen - ein "gewichtiges Argument" für die Zustimmung der Bundesregierung.452 "Wir wollten uns nicht mit Polen auf eine Stufe stellen", erklärte Winfrid Haase. 453 1983 hatte Polen eine Untersuchungskommission kategorisch abgelehnt, nachdem zwei Delegierte nach der Auflösung der Gewerkschaft Solidarnocz eine Klage wegen Verletzung der Gewerkschaftsrechte eingereicht hatten. Mit dem Vorwurf einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes hatte der polnische Botschafter Stanislaw Turbanski namens seiner Regierung der Untersuchungskommission jegliche Unterstützung verweigert454 und 1984 sogar Polens Austritt aus der ILO angekündigt (der allerdings kurz vor lokrafttreten widerrufen wurde). Zu Recht hatte die damalige Untersuchungskommission die polnische Argumentation zurückgewiesen, da die ILO-Verfassung mit der Einführung der Kontrollverfahren explizit eine Untersuchung interner Angelegenheiten vorsieht. Obwohl die Kontrollorgane der ILO, insbesondere der Sachverständigenausschuß, die Praxis der Bundesregierung konstant kritisiert hatten und die Schlußfolgerungen der Untersuchungskommission von daher keine Überraschung bedeuteten, erhoffte sich die Bundesregierung ein günstiges Resultat vom Untersuchungsverfahren.455 Seitens der deutschen Delegation bestanden gewisse Vorbehalte gegenüber den Verfahren der permanenten Kontrolle. Der Sachverständigenausschuß sei bei seiner nur zweiwöchigen Session bei der Kontrolle der Rechenschaftsberichte nach Art. 22 auf eine maßgebliche Vorarbeit des Internationalen Arbeitsamtes angewiesen und müsse sich deshalb auch auf dessen Meinung abstützen. Solche Skepsis äußerte Haase 1986 (während der Arbeit der Untersuchungskommission) gegenüber dem Beschwerdeverfahren von 1984:

452

Briefvon Winfrid Hanse vom 30.8.1992 an den Verfasser.

Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn. Diese Interpretation teilten auch K.T. Samson und Andre Zenger in Gesprächen vom 19.2.1992 in Genf. 453

454 Der polnische Botschafter erklärte in diesem Schreiben: "Le gouvemement de Ia Republique de Pologne rejette categoriquement Ia decision du Conseil d'administration du BIT en date du 23 juin 1983 instituant une commission d'enquete au sujet de Ia Pologne. [ ... ] C'est Ia une nouvelle manifestation de Ia determination artificielle, fondee sur de motifs politiques [ .. .]. Cette ingerence dans les affaires interieures de Ia Pologne atteste que l'OIT est utilisee d'une maniere contraire a l'esprit et a Ia lettre de sa Constitution et que cette pratique sape l'autorite et Ia credibilite de !'Organisation. Dans ces circonstances [ .. . ] Ia Pologne suspend Ia cooperation avec l'OIT." Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Polen), Anhang I, siehe auch Para. 34,455. 455 Dies bestätigten Winfrid Hanse und Horst Weber in Gesprächen vom 2.4.1992 in Bonn sowie Gerd Muhr am 4.5.1992 in Düsseldorf.

III. Die Verfahren der ILO

111

"Auch wenn das Beschwerdeverfahren im Verwaltungsrat für abgeschlossen erklärt worden war, nahm der Sachverständigenausschuß die Argumentation des DreierausschuBes auf. Mag dies vorn Standpunkt, in verschiedenen Verfahren unterschiedliche Ergebnisse zu vermeiden, auch zu begrüßen sein, drängt sich doch der Verdacht auf, daß dieselben Juristen im Internationalen Arbeitsamt sowohl den einen wie auch den anderen Bericht vorbereiteten." 456

Von außenstehenden Experten einer unabhängigen Untersuchungskommission erwarteten die deutschen Regierungsvertreter ein anderes Resultat. 457 Der bundesdeutsche Arbeitgebervertreter Wolf-Dieter Lindner erwähnte die "Hoffnung auf bessere Einsicht der ILO" und eine Würdigung der historischen Umstände durch die Untersuchungskommission als Motiv für die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland.458 Im Laufe der Zeit würde sich das Problem entschärfen, hofften die deutschen Regierungsvertreter, als sie namens der Bundesregierung ihre Zustimmung zur Untersuchungskommission gaben, die erst eineinhalb Jahre später ihren Schlußbericht vorlegte. Zudem galt es, den bevorstehenden Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bei der ILO in Genf nicht mit diesem Problem zu belasten.459 Zumindest teilweise sollte diese Taktik aufgehen. 460 Für Klaus T. Samson, damals Mitarbeiter im Internationalen Arbeitsamt, verknüpfte die Bundesregierung mit ihrer Einwilligung auch die Hoffnung, den WGB aus dem Verfahren auszuschließen.461 Der unnachgiebige Protest von Winfrid Haase gegen den Beizug des WBG bestärkt diese Vermutung. 462 Die Bundesregierung war wohl bereits nachhaltig über die fortwährenden Beschwerden des WGB verärgert, die sie als ausschließlich politisch motivierte Diskreditierung der Bundesrepublik Deutschland betrachtete. Sowohl die Betroffenen wie auch die Gegner der "Berufsverbote" waren einem linken Politspektrum zuzuordnen. In der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" arbeitete ein Mitglied der DKP als offizieller Vertreter der Partei mit463 • und nach Anga-

456 Haase, Übereinkommen III und "Berufsverbot", S. 21. Diese Meinung vertraten auch Horst Weber arn 2.4.1992 in Bonn und Gerd Muhr arn 4.5.1992 in Düsseldorf. 457

Dies bestätigten Winfrid Haase und Horst Weber in Gesprächen arn 2.4.1992 in Bonn.

458

Telefongespräch vorn 4.3.1992.

459

Winfrid Haase und Dietrich Willers im Gespräch vorn 2.4.1992 in Bonn.

460

Vgl. unten S. 148-153.

461

Gespräch vorn 19.2.1992 in Genf.

462

Vgl. unten S. 114-116.

Dies bestätigte Horst Bethge im erwähnten Brief vorn 17 .5.1992. Die langjährige Zusammenarbeit der Initiative mit der DKP unterstrich auch die stellvertretende Vorsitzende der DKP im Rundbrief der Initiative "Weg mit den Berufsverboten" 74/88, S. 6, in: BIT ACD 8-2-24-111 . 463

112

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

ben des Verfassungsschutzes bestand eine Mehrheit des Ausschusses der Initiative aus Mitgliedern der DKP. 464

5. Die Untersuchungskommission

Im November 1985 bestimmte der Verwaltungsrat auf Vorschlag des Generaldirektors den Finnen Voitto Saario zum Präsidenten, die Professoren Dietrich Schindler aus der Schweiz und Gonzalo Parra-Aranguren aus Venezuela zu Mitgliedern der Untersuchungskommission. 465 In Analogie zur Vereidigung des Internationalen Gerichtshofs erklärten sie feierlich ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Wie bisher üblich, überließ der Verwaltungsrat das Verfahren der Untersuchungskommission, die sich stark an der einheitlichen Praxis der sechs bisherigen Kommissionen orientierte. Wie diese räumte die neue Kommission dem WGB als Initiator des Klageverfahrens und dem betroffenen Mitgliedland eine besondere Stellung ein.466 Beide erhielten Gelegenheit, der Untersuchungskommission weitere Informationen vorzulegen. Auch die Nachbarstaalen der Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Organisationen mit Konsultativstatus bei der ILO und neun deutsche Organisationen467 wurden um 464 Vgl. Betrifft Verfassungsschutz 1978, S. 83; 1979, S. 73; 1980, S. 75; 1981, S. 61 ; 1982, S. 61; Verfassungsschutzbericht 1986, S. 77; 1987, S. 40; 1989, S. 45; 1990, S. 55. 465 Der Generaldirektor hat die Mitglieder der Untersuchungskommission nach ihrer Unabhängigkeit und Kompetenz auszuwählen. Voitto Saario war 1985 ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof Finnlands, ehemaliger Präsident des Berufungsgerichts Helsinki, Delegierter Finnlands an der UNO-Generalversammlung, beim Wirtschafts- und Sozialrat, Vertreter Finnlands in der UNO-Menschenrechtskommission und der Kommission fllr die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten. Dietrich Schindler war Professor für Internationales Recht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Mitglied des Instituts für Internationales Recht und Mitglied des Ständigen Schiedsgerichtshofes. Gonzalo Parra-Aranguren arbeitete damals als Professor für Internationales Privatrecht an der Zentraluniversität von Venezuela und an der Katholischen Universität in Caracas, war Mitglied des Institutes für Internationales Recht, des Ständigen Schiedsgerichtshofs. Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 17. 466 Vgl. insbesondere Untersuchungskommission (Chile), Para. 31. Verweise auf die Praxis der anderen Untersuchungskommissionen Para. 12. Vgl. auch Untersuchungskommission (Polen), S. 22/23; Untersuchungskommission (Haiti/Dominikanische Republik), Para. 35; Untersuchungskommission (Liberia), Para. 58; Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 57; Untersuchungskommission (Rumänien), Anhang 4, S. 273; Untersuchungskommission (Portugal), Para. 46. 467 Es handelte sich um die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BOA), den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), den Deutschen

111. Die Verfahren der ILO

113

Auskünfte gebeten. Die Reaktion der deutschen Organisationen fiel gespalten aus. 468 Während die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zusammen mit dem Deutschen Beamtenbund, dem Deutschen Lehrerverband und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft die Haltung der Bundesregierung unterstützte, nahmen vier andere Gewerkschaften den entgegengesetzten Standpunkt ein.469 Der deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sprach von einer verfassungswidrigen Verwaltungspraxis und einer "rein schematischen Bewertung" der Betroffenen.470 Die Untersuchungskommission plante eine Zeugenanhörung und einen Augenschein in der Bundesrepublik Deutschland.471 Als Initiator der Klage durfte der WGB, wie auch die Bundesregierung, einen ständigen Vertreter für die Zeugenanhörungen bestimmen, der für die Präsentation eigener Zeugen und Beweisstücke verantwortlich war, aber auch Fragen an die Zeugen richten konnte. 472 Die Untersuchungskommission begründete dies mit der Praxis früherer Kommissionen: "Bei der Aufstellung der Regeln für das Anhören von Zeugen hat sich der Ausschuß eng an die Praxis früherer Ausschüsse angelehnt. Es war dauernde Praxis solcher Ausschüsse vorzusehen, daß anläßlich von Zeugeneinvernahmen der Initiator der Anschuldigungen vertreten sein kann mit Rechten, die den vorliegenden entsprechen." 473

Beamtenbund (DBB), den Verband Bildung und Erziehung und den Deutschen Lehrerverband. Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 25. 468

Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 113-119.

Es handelte sich um den Deutschen Gewerkschaftsbund, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Deutsche Postgewerkschaft und die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands. Vom Verband Bildung und Erziehung lag keine Stellungnahme vor. 469

470 Stellungnahme des DGB und der DPG in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 117, 118. 471

Vgl. oben S. 56-59.

Im Wortlaut hießen die erwähnten Bestimmungen für die Zeugenanhörung: "2) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Weltgewerkschaftsbund werden ersucht, je einen Vertreter zu ernennen, der in ihrem Namen vor dem Ausschuß auftritt. Diese Vertreter sollen während der ganzen Dauer der Zeugenanhörung anwesend sein und sind für die allgemeine Präsentation ihrer Zeugen und Beweisstücke verantwortlich. 4) Der Ausschuß behält sich das Recht vor, die Vertreter während oder nach der Anhörung zu konsultieren in Beziehung auf alle Fragen, zu denen er ihre besondere Mitarbeit für notwendig erachtet. 9) Die Vertreter, die, entsprechend der im vorbenannten Paragraphen 2 festgelegten Regeln, an der Anhörung teilnehmen, dürfen Fragen an die Zeugen richten in einer Reihenfolge, die der Ausschuß bestimmt." Abgedruckt in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), Para. 50. 472

473

Zeugenanhörung, S. 1112.

8 Voegeli

114

C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Mit Beginn der Verfahren begann sich die Bundesrepublik gegen das Vorgehen der Untersuchungskommission zu sträuben und war einmal sogar nahe daran, ihre Mitarbeit aufzukündigen. Man könnte dies als "Abwehrreflex" interpretieren; alle betroffenen Regierungen hatten sich im Verlaufe der jeweiligen ILO-Verfahren zumindest einmal gegen die Untersuchungskommissionen gewandt. 474 In zwei Schreiben vom 31. Januar und 27. März 1986 stellte die Bundesregierung plötzlich die Anwendbarkeit des Übereinkommens 111 für den öffentlichen Dienst und damit die materielle Zuständigkeit der ILO in Frage, obwohl sie nur ein halbes Jahr zuvor einer Untersuchungskommission zugestimmt und keinerlei solche Bedenken gekannt hatte.475 Aus der Sicht der Bundesregierung war diese Abwehrhaltung durch ein willkürliches Vorgehen der Untersuchungskommission begründet. Anlaß für besonders heftige Kritik boten die fehlende schriftliche Verfahrensordnung und der Hinweis auf eine bestehende Praxis: "Die Bundesregierung hat durch dieses Verfahren den Eindruck gewonnen, daß der weitgehende Mangel an detaillierten Verfahrensregeln im Bereich der Normenüberwachung zu großen Unsicherheiten, Fragen und Ungereimtheiten führt, die dieses wichtige Instrument für die Garantie der Menschenrechte im Arbeitsleben erheblich diskreditieren können." 476

"Der Hinweis auf eine sogenannte 'established practice' zur Begründung einzelner Verfahrensschritte erscheint in hohem Maße problematisch, wenn eine solche 'practice' nicht wenigstens in einem amtlichen Dokument der Internationalen Arbeitsorganisation nachzulesen ist. "477 Die Vertreter der Bundesregierung äußerten ihren Unmut schon in der Öffentlichkeit, als das vertrauliche Verfahren noch im Gange war. Winfrid Haase publizierte 1986 im Bundesarbeitsblatt den Standpunkt der Bundesregierung und wertete die Arbeit der Kommission in gewisser Weise schon zum vornherein ab, wenn seine Kri-

474 Vgl. Bericht Untersuchungskommission (Polen), Para. 455-464; Bericht Untersuchungskommission (Liberia), Para. 22, 24; Bericht Untersuchungskommission (Griechenland), Para. 5972; Bericht Untersuchungskommission (Rumänien), Para. 16, 557; Bericht Untersuchungskommission (Nicaragua), Para. 45/46; Bericht Untersuchungskommission (Haiti!Dominikanische Republik), Para. 48-65. 475 Abgedruckt in: Zeugenanhörung, S. 116-9, hier S. 7, und in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 88-104, hier S. 90. 476 Zeugenanhörung, S. 1111; Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 17. 477 Brief der Bundesregierung an die Untersuchungskommission vom 18.11.1986. In: Akten Schindler. "Nur das Internationale Arbeitsamt selbst kannte ihre eigene Praxis, für uns war es anflinglich schon beinahe ein geheimes Verfahren", erklärte Horst Weber in einem Gespräch vom 3.4.1992 und einem Briefvom 24.9.1992.

III. Die Verfahren der ILO

115

tik an Verfahren und Vorgehen im Schlußsatz gipfelte: "Viele Fragen, deren Beantwortung kaum zu erwarten ist!"478 Vehement protestierte der deutsche Regierungsvertreter bei jeder Gelegenheit gegen die Stellung des WGB im laufenden Verfahren. In einer Stellungnahme bei Eröffnung der Zeugenanhörung verlangte Haase, "von der vorgesehenen Verfahrensbeteiligung des Weltgewerkschaftsbundes abzusehen, da seine Anwesenheit während der nichtöffentlichen Anhörung vor dem Untersuchungsausschuß nicht legitim ist". 479 Die Privilegien des WGB würden eine Verletzung der ILO-Verfassung bedeuten, da diese in Art. 24 einem Berufsverband nur das Beschwerde-, nicht aber ein Klagerecht nach Art. 26 einräume 480 : "Wie sich aus der[ ... ] Verfahrensordnung für die Anhörung der Zeugen ergibt[ . .. ], soll dem Weltgewerkschaftsbund die gleiche Rechtsstellung im Verfahren zugebilligt werden wie der Bundesrepublik Deutschland. [ ... ) Darüberhinaus [sie) spricht die Verfahrensordnung in Nr. 2 von den Zeugen beider Seiten wie in einem kontradiktorischen Verfahren. [ .. .] Damit nicht genug: Wie die Bundesregierung zu ihrer großen Überraschung dem Schreiben des Internationalen Arbeitsamts vom 2. April 1986 entnehmen mußte, soll dem Weltgewerkschaftsbund sogar das Recht

478 "Ob die in Aussicht genommene Zeugenvernehmung sinnvoll ist, da es letztlich um Rechtsfragen geht, erscheint mindestens zweifelhaft. Auch werden die hohen Richter klären müssen, ob die Praxis eines Mitgliedstaates hinsichtlich der Anwendung eines Übereinkommens abschließend beurteilt werden kann, bevor das höchste Gericht in diesem Land entschieden hat. [ ...] Auch sollte nicht unberücksichtigt bleiben, wer das Verfahren in Gang gebracht hat. Kann es die IAO zulassen, daß Übereinkommen, die zum Schutze der Freiheit geschaffen wurden, von Gegnern der Freiheit mißbraucht werden? Schließlich wird der Untersuchungsausschuß nicht daran vorbeigehen können, daß viele Länder ähnliche Problerne haben, sie aber auf andere Weise und ohne so perfekte rechtsstaatliche Verfahren wie bei uns zu lösen suchen. Hier stellt sich letztlich die Frage, ob das Übereinkommen überhaupt auf den öffentlichen Dienst anwendbar ist. Die IAO [.. .] muß mit dem Dilemma fertig werden, daß sie als westlich geprägte Organisation um der vermeintlichen Objektivität dem Osten gegenüber ihre Grundprinzipien nicht aus den Augen verliert. Wer sich für Menschenrechte einsetzt, muß sehen, wo sie mißachtet werden, auch wenn das organisationspolitisch nicht opportun ist oder nicht in die Politik der Universität paßt. Viele Fragen, deren Beantwortung kaum zu erwarten ist." Haase, Übereinkommen !II und "Berufsverbot", S. 23/24. 479 Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 17; Zeugenanhörung, S. II! 0; Haase, Übereinkommen !II und "Berufsverbot", S. 23. 480 Brief der Bundesregierung 31.1.1986, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 8; vgl. auch Stellungnahme der Bundesregierung vor Beginn der Zeugenanhörungen, in: Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S.l7. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befolgt allerdings dieselbe Praxis wie die ILO und erlaubt in seiner Verfahrensordnung von 1982 den Beschwerdeflihrern, schriftlich und mündlich an den Verfahren vor dem Gerichtshof teilzunehmen, obwohl die EMRK nur der Europäischen Menschenrechtskommission und Regierungen den Zugang zum Gerichtshof gestattet. Vgl. Verfahrensordnungdes Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1.1.1983, Art. 33, 37, 39, 40, 44, in: Froweinl Peukert, S. 551-568.

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C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976-1992

zu einer abschließenden Erklärung gewährt werden [ .. . ). Damit wird der Weltgewerkschaftsbund in allen Dokumenten des Untersuchungsausschusses wie ein Kläger behandelt; lediglich der formale Begriff 'Kläger' ist durch das Wort 'Weltgewerkschaftsbund' ersetzt worden." 481

Namens der Bundesregierung verwahrte sich Winfrid Haase gegen eine "established practice". Das Verfahren sei das erste seiner Art, da erstmals eine Beschwerde in ein Untersuchungsverfahren umgewandelt worden sei. 482 Die Untersuchungskornmission wies den Antrag auf Ausschluß des WGB nach einer einstündigen Beratung in der ersten Sitzung der Zeugenanhörungen zurück. Das deutsche Argument, es handle sich um das erste Verfahren, das vorn Verwaltungsrat nach einer Beschwerde eingeleitet worden sei, ist formal zwar zutreffend, nach Ansicht des Verfassers aber irrelevant. Schließlich entscheidet immer der Verwaltungsrat nach eigenem Ermessen über die Einsetzung einer Untersuchungskornrnission. Was den Anstoß dazu gibt, ist irrelevant; auch bei einer Klage ist die Konstituierung einer Untersuchungskornmission nicht zwingend. Die deutsche Argumentation widerspricht auch der Praxis der ILO. Im Klageverfahren gegen Chile 1974 hatte der Verwaltungsrat von sich aus eine Untersuchungskornmission eingesetzt, initiiert durch eine Resolution der Internationalen Arbeitskonferenz. Die Untersuchungskornmission hatte sich dabei explizit auf die Praxis aller bisherigen Verfahren nach Art. 26 berufen: "Cornpte tenu de la procedure suivie par les cornrnissions anterieures en vertu de l'article 26 de Ia Constitution, Ia commission a decide [ ... ]." 483 Auch in jenem Verfahren waren die Initiatoren der Klage während der gesamten Zeugenanhörung anwesend gewesen. 484 Die Untersuchungskornmission gegen die Bundesrepublik Deutschland hielt die Unterscheidung, ob der Verwaltungsrat das Verfahren als Fortsetzung einer Beschwerde, aufgrund einer Resolution oder einer Klage initiiert habe, für irrelevant. Sie habe primär einen Sachverhalt zu errnitteln485 , unterstrich die

481 Zeugenanhörung, S. I/9, 10; s. auch S. I/15; vgl. auch Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 16, 17. 482 Zeugenanhörung, S. I/10; Bericht Untersuchungskommission (Bundesrepublik Deutschland), S. 17. Vgl. Briefvon Winfrid Haase an den Verfasser vom 30.8.1992, S. 3. 483

Bericht Untersuchungskommission (Chile), Para. 12.

484

Bericht Untersuchungskommission (Chile), Para. 31.

"In beiden Fällen ist es das Mandat des Ausschusses zu prüfen, ob die Anschuldigungen begründet sind, und die durch den Ausschuß beschlossenen Zeugeneinvernahmen sind eine Maßnahme, sich völlig über diese Fragen zu unterrichten.[ ... ] Diese Anhörungen sollen infolgedessen die Fakten abzuklären versuchen. Sie sollen nicht als streitiges juristisches Verfahren betrachtet werden." Zeugenanhörung, S. 1113 und S. I/4, vgl. auch S. IV/10. 485

III. Die Verfahren der ILO

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Kommission. Auf die ständigen Proteste von Winfrid Haase wiederholte der Vorsitzende Voitto Saario schließlich enerviert: "Ich möchte folgendes sagen: Es gibt immer noch eine gewisse Verwirrung, was die Natur dieser Anhörungen betrifft. Ich muß Dinge wiederholen, die bereits erörtert wurden. Es handelt sich hier nicht um ein Gericht, sondern um einen Untersuchungsausschuß mit einem bestimmten Mandat. Es handelt sich nicht um ein Verfahren zwischen zwei Parteien, die einander gegenüberstehen, sondern es ist eine Zeugenanhörung. Infolgedessen ist es so, daß der Weltgewerkschaftsbund hier nicht als Kläger anwesend ist und die Bundesrepublik Deutschland nicht als Angeklag· ter [sie) hier ist. Das ist kein kontradiktorisches Verfahren. Sie brauchen sich nicht zu verteidigen. Das Mandat des Ausschusses ist klar. Bestimmte Vorwürfe sind erhoben worden in der Beschwerde des Weltgewerkschaftsbundes. Es ist die Aufgabe des Untersuchungsausschusses zu prüfen, ob diese Vorwürfe und Beschuldigungen zutreffen oder nicht. [ ... ] Der Weltgewerkschaftsbund hat eine Beschwerde eingereicht[ ... ]. Dazu war der WGB berechtigt. Infolgedessen muß auch die Gelegenheit gegeben sein, diese Beschuldigungen zu untermauern. Deshalb wurde überhaupt diese Zeugeneinvernahme anberaumt. Dies ist der Grund, weshalb wir hier anwesend sind." 486

Nach dem Entscheid der Untersuchungskommission zog sich die deutsche Delegation fünf Minuten zu einer Beratung zurück. Dabei soll auch ein Abbruch der Mitarbeit zur Sprache gekommen sein487 , wurde allerdings nicht wirklich ernsthaft erwogen. Dietrich Schindler interpretiert die deutsche Reaktion weniger dramatisch als "Nervenkrieg".488 Als die Delegation in den Saal zurückkehrte, gab sie zwar nicht ihren Rückzug vom Verfahren bekannt, signalisierte aber deutlich die Grenzen der Kooperationsbereitschaft, als Winfrid Haase feststellte: "Die Bundesregierung, die ich hier zu vertreten habe, bleibt bei der von ihr abgegebenen Erklärung. Sie bedauert die Entscheidung des Untersuchungsausschusses und hat deshalb schwerwiegende Bedenken, sich unter diesen Voraussetzungen auf das Verfahren einzulassen. Wenn sie sich vorerst [Hervorhebung durch den Verf.) gleichwohl am Verfahren beteiligt, geschieht dies ausschließlich im Interesse der Sache." 489

Während der gesamten Zeugenanhörung nahm Winfrid Haase den Vorsitzenden beim Wort, wonach "alle Zeugenbefragungen der Kontrolle des Ausschusses unterliegen". 490 Winfrid Haase beharrte darauf, daß die Kommission sich die Fragen des WGB zu eigen machen und sie mit eigenen Worten wiederholen müsse. 491

486

Zeugenanhörung, S. IV/10.

487

Dies erklärte Winfrid Haase am 2.4.1992 in Bonn.

488

Gespräch mit Dietrich Schindler vom 22.6.1992 in Zollikon.

489

Zeugenanhörung, S. U14.

490

Zeugenanhörung, S. U13.

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C. Die Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland 1976- 1992

Die Stimmung an der Eröffnungssitzung der Zeugenanhörung war gereizt. Als sich Winfrid Haase gegen die "klägerähnliche RoHe des Weltgewerkschaftsbundes" verwahrte, wandte er sich zugleich an den Vertreter des WGB: "Ich habe das Lächeln zur Kenntnis genommen, Herr Kaldor. Aber noch befinde ich mich in einem Raum, wo es eine Verfassung gibt. Und ich kenne dieses Verfahren sehr gut[ .. .]. Wir haben uns damit einverstanden erklärt, und es waren manche aus den Ländern, deren Arbeitnehmer der Weltgewerkschaftsbund vornehmlich vertritt, die ganz überrascht waren über unsere Zustimmung[ ... ]." 492

Als Pierre Kaldor vom WGB gegen eine schriftliche Eingabe der Bundesregierung an die Untersuchungskommission protestierte, weil sie dem WGB zu spät vorgelegen habe, entgegnete Winfrid Haase: "Ich kann das gerne auch mündlich vortragen, was wohl mein gutes Recht ist. Umgekehrt ist es nicht das Recht von Herrn Kaldor, dies schriftlich zu verlangen. Wir haben eben erst erfahren, wer überhaupt von Ihnen vertreten ist, und wir brauchten dies auch gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. [... ]Um das Verfahren nicht aufzuhalten, habe ich gesagt, bitte, Sie haben es schriftlich. Der Untersuchungsausschuß, das ist der Betroffene, den der Hinweis auf das Verfahren angeht. Nicht Sie, Herr Kaldor." 493

Demonstrativ verwies die deutsche Delegation auf die Verfahrensordnung, als Pierre Kaldor eine Erklärung in französisch abgab, obwohl nur Deutsch und Englisch als Sprache vorgesehen waren: "Zwar bin ich überrascht, daß plötzlich Französisch auch gedolmetscht wird. In meinen Mitteilungen stand Deutsch und Englisch, aber immerhin. Bitte, dient ja auch zur Aufklärung."494 Die aufgeladene Stimmung konnte Horst Weber mit einer symptomatischen Episode i11ustrieren. Als die deutsche Delegation einem Zeugen einen Zettel zuschob, protestierte der WGB gegen diese "Manipulation des Zeugen", worauf die Deutschen das Papier demonstrativ in die Höhe hielten, auf dem stand: "Bitte lauter sprechen" .49 5

491 Dies bestätigte Horst Weber in einem Gespräch vom 2.4.1992 in Bonn. Vgl. auch Zeugenanhörung, S. IU15, S. IV/10, II. So wies Voitto Saario die Zeugin Charlotte Nieß-Mache zurecht, als sie direkt auf die Frage des WOB Antwort gab: "Darf ich die Zeugin fragen, ob Sie bitte immer einen Augenblick nach der Fragestellung warten können, damit der Ausschuß sich konsultieren kann, ob die Frage zuläßig ist und genau hierher gehört. Ich bitte Sie also abzuwarten, bis der Vorsitzende Ihnen die Frage vorlegt. Die Frage muß durch mich gestellt werden." Zeugenanhörung, S. JV/19; vgl. auch S. IUJS-17. 492

Zeugenanhörung, S. l/8.

493

Zeugenanhörung, S. l/9.

494

Zeugenanhörung, S. l/15.

495

Gespräch mit Horst Weber vom 2.4.1992 in Bonn.

Ill. Die Verfahren der ILO

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Winfrid Haase als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland stand gewissermaßen zwischen zwei Fronten. Sachlich war das Bundesinnenministerium zuständig, das sich vornehmlich an der innenpolitischen Optik orientierte und einen Augenschein der Untersuchungskommission zunächst rundweg ablehnte.496 Formell gehörten die Kontakte zur ILO in den Zuständigkeitsbereich des Bundesarbeitsministeriums, das natürlich an guten Beziehungen zur ILO interessiert war. 497 Es gelang Winfrid Haase, damals Ministerialdirektor im Bundesarbeitsministerium, den Bundesinnenminister zur Zustimmung zum geplanten Besuch zu bewegen, obwohl Haase selbst nicht nur einen Augenschein, sondern auch eine Zeugenanhörung für unpassend hielt, da sich der Streit seines Erachtens um Rechts- und nicht um Tatsachenfragen drehte. 498 Die Untersuchungskommission halte lediglich an den Traditionen früherer Klageverfahren fest. Nur um den guten Willen der Bundesregierung zu zeigen, habe er einen Besuch befürwortet, erklärte Winfrid Haase. 499 Tatsächlich habe die Untersuchungskommission sich nur deshalb für einen Augenschein in der Bundesrepublik Deutschland entschieden, um die bisherige Praxis nicht zu durchbrechen und damit zu gefährden, bestätigte Dietrich Schindler.5