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German Pages 588 Year 2013
Vielfalt, Variation und Stellung der deutschen Sprache
Vielfalt, Variation und Stellung der deutschen Sprache Herausgegeben von Karina Schneider-Wiejowski, Birte Kellermeier-Rehbein und Jakob Haselhuber
ISBN 978-3-11-030930-0 e-ISBN 978-3-11-030999-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Druckerei Hubert & Co. GmbH und Co. KG ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Sammelband ist Prof. Dr. Ulrich Ammon in Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen gewidmet. In der Regel ehren Festschriften diejenigen Persönlichkeiten, die ein bestimmtes Alter – bei Hochschullehrern meist 60 oder 65 Jahre – erreicht haben oder pensioniert werden. Weder zu einem der vergangenen Geburtstage noch zum Eintritt in den Ruhestand hat es für Ulrich Ammon eine Festschrift gegeben. Einer der Gründe mag daran liegen, dass er bisher nicht aufgehört hat zu forschen. Ganz im Gegenteil: Er widmet sich der Forschung weiterhin mit all seinem Interesse und seiner Energie, mit welchen er in den vergangenen Jahrzehnten Großes geleistet hat. Die vorliegende Festschrift ist zwar als Ehrung seines wissenschaftlichen Lebenswerks gedacht, doch besteht in seinem Fall durchaus die Gefahr, dass es sich um eine verfrühte und unvollständige Ausgabe handelt, da nicht auszuschließen ist, dass in den kommenden Jahren noch weitere Forschungsschwerpunkte hinzuaddiert werden können. Aber schon jetzt soll die Festschrift unseren Dank an den hilfsbereiten Menschen und akademischen Lehrer sowie unsere persönliche Wertschätzung seiner wissenschaftlichen Leistung zum Ausdruck bringen. Der Band trägt den weit gefassten Titel Vielfalt, Variation und Stellung der deutschen Sprache. Er zeigt das breite Spektrum der Themengebiete von Ulrich Ammon nur annäherungsweise, ohne es abzudecken, denn seine Forschungsschwerpunkte reichen von Soziolinguistik (z. B.: soziale Verteilung von Dialekt und Standard; Schulschwierigkeiten von Dialektsprechern; Definition und Festlegung von Standardnormen), über Variationslinguistik (insbesondere: Deutsch als plurizentrische Sprache; nationale Varietäten des Deutschen) bis hin zu Sprachenpolitik und Stellung der deutschen Sprache in der internationalen Kommunikation (vor allem: das Sprachenregime in den Institutionen der Europäischen Union; Sprachplanung; Deutsch als Wissenschafts- und Verkehrssprache). Aufgrund seiner exzellenten und innovativen Forschungen und zahlreichen Beiträge zu den o. g. Gebieten wurde er im Laufe seiner Karriere zu einem sehr gefragten und international anerkannten Wissenschaftler, nahm zahlreiche Auslandsgastprofessuren wahr und förderte den wissenschaftlichen Nachwuchs aus vielen Ländern der Welt. So verwundert es nicht, dass die hier versammelten Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Kontinenten stammen. Die Beiträge dieses Bandes beziehen sich auf zentrale Forschungsgebiete von Ulrich Ammon: Vielfalt und Variation der deutschen Sprache sowie Sprachenpolitik und internationale Stellung von Sprachen. Zum variationslinguistischen Bereich gehören die Aufsätze von Birte Kellermeier-Rehbein, Regula Schmidlin, Karina Schneider-Wiejowski,Vit Dovalil, Jarmo Korhonen, Hans Bickel und Lorenz Hofer. Sie kreisen rund um die Themen
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Vorwort
sprachlicher Standard, Deutsch als plurizentrische Sprache und nationale Varietäten. Czaba Földes und Harald Haarmann thematisieren Variation, Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt. Bei Hans Goebl,Yves Scherrer und Pavel Smečka, Jakob Ebner, Norbert Dittmar und Eva Neuland und geht es um Dialekte und andere Varietäten des Deutschen. Hitoshi Yamashita schreibt über die verschleiernde Funktion der Sprache und ein Beitrag zum Beamtendeutsch von Jakob Haselhuber im Sinne der fröhlichen Wissenschaft rundet diesen Themenbereich ab. Sprachenpolitische Aspekte und Probleme werden von Sue Wright, Georges Lüdi, Hideaki Takahashi, Jan Kruse, Martin Pütz und René Dirven bearbeitet. Ihre Aufsätze berücksichtigen die Institutionen der Europäischen Union und den Deutschen Bundestag, ferner die Sprachenpolitik des Kleinstaates Luxemburg, Englisch als Verkehrssprache sowie Globalisierung und Modelle der Sprachplanung aus Sicht der Kognitiven Soziolinguistik. Die Stellung der deutschen Sprache in Belgien, Rumänien, Italien und Brasilien wird von Jeroen Darquennes, Ioan Lăzărescu, Sandro Moraldo, Monica Savedra und Beate Höhmann präsentiert. Helga Bister-Broosen und Roland Willemyns befassen sich mit der Verbreitung des Niederländischen in der Welt. Um Deutsch als Fremdsprache in Australien, Russland und Deutschland geht es bei Brian Taylor, Natalia Troshina, Jianhua Zhu, Dirk Scholten-Akoun, Yu Chen und Sara Hägi. Den Abschluss bilden Rupprecht S. Baur, Stefan Ossenberg, Marina Zarudko und Sonja Vandermeeren mit Beiträgen über Stereotype. Die Idee zu diesem Sammelband anlässlich seines 70. Geburtstags entstand im Sommer 2012 bei einem Gartenfest im Hause der Familie Ammon und schon bald darauf begann die Arbeit. Dabei unterstütze uns Katharina Ammon u. a. durch wertvolle Ratschläge und kluge Gedanken. Ihr gebührt unser aufrichtiger Dank! Ebenso verdienen alle Autorinnen und Autoren unsere Anerkennung für ihre engagierte und professionelle Mitarbeit, ohne die der Band in der relativ kurzen Vorbereitungszeit nicht hätte fertiggestellt werden können. Ann-Cathrin Obermeier, Sandra Hartkamp und Ulrike Schulz leisteten wichtige Hilfestellungen bei der Realisierung des Bandes und Herr Gietz vom Verlag Walter de Gruyter stand uns stets mit Rat und Tat zur Seite. Auch ihnen allen danken wir sehr herzlich. Karina Schneider-Wiejowski (Duisburg), Birte Kellermeier-Rehbein (Wuppertal) und Jakob Haselhuber (Havanna) im März 2013
Inhalt Teil I: Vielfalt und Variation der deutschen Sprache Birte Kellermeier-Rehbein Standard oder Nonstandard? Ungelöste Probleme der Abgrenzung
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Regula Schmidlin Gebrauch und Einschätzung des Deutschen als plurizentrische Sprache
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Karina Schneider-Wiejowski Zur Überarbeitung des Variantenwörterbuches am Beispiel der 43 Teutonismen Vít Dovalil Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät als methodologischer Impuls für die Debatte über die Standardnormen 65 Hans Bickel und Lorenz Hofer Gutes und angemessenes Standarddeutsch in der Schweiz
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Jarmo Korhonen Die süddeutsche und österreichische Aussprache mit Nord- und Südstandard des Deutschen in deutsch-finnischen Allgemeinwörterbüchern 101 Csaba Földes Sprachliche Praktiken im Spannungsfeld von Variation und Mehrsprachigkeit: 119 Ein Beitrag zur Empirie Harald Haarmann Wer hat das Theater erfunden? Reflexionen zu Langzeitwirkungen im Sprachkontakt 143 Hans Goebl, Yves Scherrer und Pavel Smečka Kurzbericht über die Dialektometrisierung des Gesamtnetzes des „Sprachatlasses der deutschen Schweiz“ (SDS) 153
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Inhalt
Jakob Ebner Aufhin – hinauf – nach oben – hoch Betrachtung zu den Lokaladverbien in sprachgeschichtlicher, soziolinguistischer und arealer Sicht 177 Norbert Dittmar Reflexionen über das Entstehen eines deutschen Dialekts am Beispiel multiethnisch geprägter jugendsprachlicher Stile in Großstädten 195 Eva Neuland Soziolinguistische Dimensionen (inter)generationellen 209 Sprachgebrauchs Hitoshi Yamashita Die verschleiernde Funktion der Sprache
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Jakob Haselhuber Beamtendeutsch – Fachsprache oder Fremdsprache?
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Teil II: Sprachenpolitik und internationale Stellung von Sprachen Sue Wright Why isn’t EU language policy working?
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Georges Lüdi Ist Englisch als lingua franca eine Bedrohung für Deutsch und andere 275 Nationalsprachen? Hideaki Takahashi Sprachenpolitik eines Kleinstaates in der EU Luxemburgs Trilingualismus und seine Perspektive
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Jan Kruse „I do not understand the EU-Vorlage“ Folgen der sprachenpolitischen Praxis in den Institutionen der EU für den Deutschen Bundestag – Ergebnisse einer quantitativen 309 Untersuchung
IX
Inhalt
Martin Pütz und René Dirven Globalisierung und Sprachplanungsmodelle aus Sicht der Kognitiven Soziolinguistik: Fallstudie Namibia 325 Jeroen Darquennes Deutsch als Muttersprache in Belgien: Forschungsstand und Forschungsperspektiven 349 Ioan Lăzărescu Rumäniendeutsch – eine eigenständige, jedoch besondere Varietät der deutschen Sprache 369 Sandro M. Moraldo Die deutsche Sprache im Kontext der italienischen Sprachenpolitik
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Mônica Maria Guimarães Savedra und Beate Höhmann Das plurizentrische Deutsch in Brasilien und die regionale Kooffizialisierung eines ostniederdeutschen Dialekts 411 Roland Willemyns and Helga Bister Broosen 427 Dutch in the world Brian Taylor Zwei deutsche Lesekurse für Wissenschaftler an einer australischen Universität: Entwicklungsgeschichtliches und Methodisches 459 Natalia Troshina Nachfrage nach Deutschkenntnissen im heutigen Russland
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Jianhua Zhu Didaktische Überlegungen in der Lehrwerksentwicklung für Hochschuldeutsch in China – Am Beispiel „Klick auf Deutsch“ 489 Dirk Scholten-Akoun Chinesische Studierende in Deutschland Bericht über ein Austauschprojekt zwischen der Tsinghua-Universität in Beijing (TUB) und der Universität Duisburg-Essen (UDE) 501
X
Inhalt
Yu Chen Die deutsche Sprache für chinesische Studierende an deutschen Hochschulen Einstellungen, Gebrauch und Beherrschung 517 Sara Hägi Ammon 1995 didaktisiert: Die deutsche Sprache in DACH und ihre Realisierung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 537 Rupprecht S. Baur, Stefan Ossenberg und Marina Zarudko Deutsche und russische Stereotypen im Vergleich Zur Erforschung von nationalen Bildern in unseren Köpfen
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Sonja Vandermeeren Kulturdimensionen und Stereotype: eine empirische Untersuchung in Dänemark und Deutschland 563
Teil I: Vielfalt und Variation der deutschen Sprache
Birte Kellermeier-Rehbein
Standard oder Nonstandard? Ungelöste Probleme der Abgrenzung Abstract: Während Laien meist über ein intuitives Verständnis von Hochdeutsch verfügen und ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass es „das gute und richtige Deutsch“ gibt, besteht unter Sprachwissenschaftlern bisher kein Einvernehmen darüber, wie der Begriff ‚Standardvarietät‘ definitorisch exakt zu fassen ist. Der vorliegende Beitrag stellt die Schwierigkeiten der Definition und die oft inkonsequente Verwendung von einschlägigen Termini wie Standardisierung, Standardsprache und Norm dar. Aufgrund der bisher fehlenden Definition kommt es immer wieder zu Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Standard und Nonstandard, die anhand eines unflektierten schwachen Maskulinums (den/dem Bär) exemplarisch dargestellt werden. Abschließend erfolgen Überlegungen zu den Funktionen von Standardvarietäten und ihren Auswirkungen auf die Entstehung eines eng oder weit gefassten Standardbegriffs. Keywords: Standardsprache, Standardvarietät, Standardisierung, Normierung, Nonstandard, Kräftefeld einer Standardvarietät, Grenzfall des Standards, Gebrauchsstandard, subsistente Norm
1 „Sag’s doch auf Hochdeutsch!“ – Aber was ist das eigentlich? Eine solche Frage stellen sich gewöhnlich nur Sprachwissenschaftler¹, während Laien den Ausdruck Hochdeutsch meist ganz unbedarft verwenden und intuitiv für sich entscheiden, was als „richtiges und gutes Deutsch“ gelten kann und was nicht. Sie haben auch kein Bedürfnis, den Begriff zu hinterfragen oder terminologisch zu schärfen. Dabei ist diese Bezeichnung durchaus problematisch, denn Hochdeutsch steht als Fachterminus für die Menge aller Dialekte, die von der Zweiten Lautverschiebung erfasst wurden, und damit für etwas ganz anderes als der alltagssprachliche Ausdruck, mit dem gemeinhin die sprachliche Norm bezeichnet wird. Zur Vermeidung von Missverständnissen bevorzugen Linguisten den Terminus Standardvarietät, doch andere Bezeichnungen wie Schrift- oder
Zur besseren Lesbarkeit verwende ich stellvertretend für b e i d e Geschlechter das generische Maskulinum.
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Birte Kellermeier-Rehbein
Literatursprache, Einheits- oder Standarddeutsch kommen ebenfalls vor. Ferner besteht keine Klarheit darüber, was genau unter ‚Standardvarietät‘ zu verstehen ist, da dieser Begriff immer noch einer zufriedenstellenden und allgemein akzeptierten Definition entbehrt. Man steht hier vor einem der bisher ungelösten Probleme der Linguistik: Einige grundlegende und zentrale Gegenstände der Sprachwissenschaft sowie die dazugehörigen Termini, die zudem im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden, konnten bisher nicht genau bestimmt werden (z. B. Wort, Satz oder Dialekt). Die vielen terminologisch und inhaltlich ungeklärten Begriffe rund um das Thema „sprachlicher Standard und seine Abgrenzung von Sub- und Nonstandard“ werden von Löffler (2005) ausführlich aufgelistet und in ihrer Unklarheit entlarvt. Treffsicher stellt er fest, dass „der Begriff Standard […] offensichtlich seine Tücken“ habe (ebd., 16), und fügt hinzu, dass auch der Versuch, ihn ex negativo durch seine Gegenbegriffe (z. B. ‚Umgangssprache‘, ‚Dialekt‘) zu schärfen, die Lage nicht einfacher mache. Immerhin hat man sich dem Standardbegriff in zahlreichen Publikationen angenähert, indem Eigenschaften von Standardvarietäten, Bedingungen ihrer Herausbildung sowie Instanzen ihrer Festlegung und Implementierung umrissen wurden (vgl. z. B. Ammon 1986, 1995, 2004, 2005; Mattheier 1997). Was bleibt, ist trotz allem die geschuldete Definition. Nimmt man den Ausdruck Definition wörtlich (aus lat. definire ‚abgrenzen‘), ist es nur eine logische Konsequenz, dass sich auch die Grenzziehung zwischen Standard und Nonstandard immer wieder als schwierig erweist. Der vorliegende Aufsatz wird das Problem nicht lösen, aber anhand eines konkreten Beispiels das damit verbundene Dilemma darstellen.
2 Definitorische und terminologische Probleme Im Laufe der Zeit wurden eine ganze Reihe von Versuchen zur Definition des Begriffs ‚Standardvarietät‘ unternommen, die hier nicht in Gänze wiedergegeben werden können. In einschlägigen Lexika und Wörterbüchern (vgl. z. B. Bußmann 3 2002, Duden-Universalwörterbuch 62007, Glück 42010) sucht man oft vergebens eine präzise Auskunft über die genaue Bedeutung von Termini wie Standarddeutsch, Standardsprache, Standardvarietät, Hochdeutsch oder Hochsprache. Stattdessen werden sie häufig mit wenig aussagekräftigen Synonymen oder Phrasen erklärt. Auch in der Fachliteratur wurde dieses Problem vielfach bearbeitet. Die dabei entstandenen Definitionsversuche schreiben der Standardvarietät immer wieder bestimmte Eigenschaften wie überregional, invariant, ausgebaut, polyvalent, geschrieben und kodifiziert zu und ordnen sie der Mittel- und Oberschicht zu (vgl. Mattheier 1997, 3).
Standard oder Nonstandard? Ungelöste Probleme der Abgrenzung
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Diese Zuschreibungen können einer kritischen Hinterfragung in Bezug auf das Deutsche allerdings nicht immer standhalten. Ammon (1986) hat im Hinblick auf die konventionelle Setzung des Begriffs gezeigt, dass die o. g. Eigenschaften in der Regel weder notwendige noch hinreichende Merkmale des Begriffs ‚Standardvarietät‘ sind. Darüber hinaus müssen weitere Abstriche gemacht werden: Hinsichtlich der präskriptiven Kodifizierung beispielsweise wird zwar unterstellt, dass Wörterbücher und Grammatiken den „richtigen“ Gebrauch vorschreiben, allerdings gilt dies nur für die Orthographie, während andere Systemebenen nicht verbindlich normiert sind. Ferner besteht keine Übereinkunft, welche Grammatik oder welches Aussprachewörterbuch für die deutsche Sprache maßgeblich sein soll. Auch die Auffassung, dass eine Standardvarietät nur der Oberschicht vorbehalten sei, kann heute nicht mehr ernsthaft vertreten werden, da sie von den Angehörigen aller Sozialschichten in der Schule erlernt werden muss. Außerdem sind die vermeintliche Invarianz und überregionale Geltung zu relativieren. Zum einen umfasst die deutsche Sprache aufgrund ihrer Plurizentrik mehrere nationale Standardvarietäten, die den deutschsprachigen Raum unter sich aufteilen und gleichzeitig eine interne regionale Variation aufweisen. Zum anderen wurde in den letzten Jahren immer deutlicher, dass die vermeintliche Einheitssprache nicht so homogen und klar vom Nonstandard abgrenzbar ist wie allgemein angenommen. Dies ist auf sprachliche Phänomene zurückzuführen, deren Normstatus ungeklärt ist, da sie von einigen als Fehler stigmatisiert und mit „Sprachverfall“ gleichgesetzt werden, während andere sie als Prozesse des Sprachwandels auffassen. Letztere heißen sie als begrüßenswerten Fortschritt und Anpassung an neue kommunikative Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft willkommen und versprechen sich eine „Zunahme der Leistungsfähigkeit der Sprache“ (Eichinger 2011, 12 ff.). Auch Ulrich Ammon hat den Standardbegriff an verschiedenen Stellen ausführlich bearbeitet und dabei nicht nur die o. g. Eigenschaften, sondern darüber hinaus den Aspekt des Status berücksichtigt (vgl. Ammon 2004, 277). Ihm zufolge ist die Standardvarietät die in öffentlichen und formellen Kommunikationssituationen zu verwendende Varietät einer offiziellen staatlichen Amtssprache. Durch ihre amtliche Institutionalisierung ist ihr Gebrauch für die interne und externe Kommunikation von Ämtern und Behörden untereinander sowie mit den Bürgern obligatorisch. Dies setzt voraus, dass die Standardvarietät Unterrichtsgegenstand und -sprache in der Schule ist, damit jeder Staatsangehörige an Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit teilhaben kann. Eine weitere von Ammon zugeschriebene Eigenschaft ist die Überdachung von Nonstandardvarietäten der gleichen Sprache (vgl. dazu Ammon 1995, 2 ff.). Das Problem der Standard-Definition ist aber nicht nur auf die o. g. sachlichen Probleme zurückzuführen, sondern auch auf terminologische Unstimmigkeiten.
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Birte Kellermeier-Rehbein
Abb. 1: Polysemie von Standardsprache
Abb. 2: Teilsynonymie von Standardisierung und Normierung
Sie zeigen sich insbesondere in der uneinheitlichen und inkonsequenten Verwendung zentraler Termini wie Standardvarietät, Standardsprache, Standardisierung, Norm und Normierung. Im engeren Sinne bezeichnet Standardsprache eine (ganze) Sprache (Diasystem, z. B. Deutsch, Niederländisch), die über mindestens eine Standardvarietät verfügt (z. B. Standardniederländisch). Im weiteren Sinne wird Standardsprache synonym zu Standardvarietät verwendet und bezeichnet in diesem Fall ein mit einem besonderen Status ausgestattetes sprachliches Subsystem einer ganzen Sprache (Abb. 1). Während der Terminus Standardsprache also mit zwei verschiedenen Bedeutungen versehen wird, ist es bei den Begriffspaaren ‚Standard‘ und ‚Norm‘ sowie ‚Standardisierung‘ und ‚Normierung‘ umgekehrt: Sie werden wie Synonyme verwendet, obwohl sie es nicht in allen Fällen sind. Standardisierung bezeichnet im Allgemeinen eine aus gesellschaftlicher Praxis erwachsene und bewährte Vereinheitlichung eines Sachverhaltes oder einer Vorgehensweise. In Bezug auf Sprache erfolgte die Standardisierung des Deutschen, als sich aus der Vielzahl der Dialekte eine weitgehend einheitliche überregionale Varietät ohne dialektale Merkmale herausbildete, die als Ergebnis dieses Prozesses als Standardvarietät bezeichnet werden konnte. Eine Norm ist dagegen gemeinhin eine (rechtlich) anerkannte, allgemeingültige und meist schriftlich fixierte Regel zur Handhabung eines Sachverhaltes. Aus linguistischer Perspektive entspricht die Norm der Menge aller sprachlichen Einheiten und Regeln, die schriftlich im Kodex (Wörterbücher und Grammatiken) einer Sprache oder Varietät festgelegt sind. Normierung ist dementsprechend die Festlegung der Norm. In der linguistischen Literatur wird häufig auf eine klare Differenzierung der Termini verzichtet, so dass Standardisierung und Normierung beide Aspekte umfassen: Vereinheitlichung und Festlegung des „Richtigen“ (Abb. 2).
Standard oder Nonstandard? Ungelöste Probleme der Abgrenzung
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Norm ist aber nicht immer mit Standard gleichzusetzen, denn auch Dialekte haben Normen. Wer sie nicht beachtet, spricht fehlerhaft Dialekt. Die Festlegung und begriffliche Schärfung der o. g. Termini ist ein dringliches sprachwissenschaftliches Desiderat.
3 Festlegung des Standards und Abgrenzung vom Nonstandard Doch wer legt eigentlich fest, welche Sprachformen standardsprachlich sind und welche nicht? Zur Klärung dieser Frage entwickelte Ammon (1995, 73 ff.) ein Modell, das die maßgeblich an der Festlegung des Standards beteiligten gesellschaftlichen Gruppen zeigt. Das sogenannte soziale Kräftefeld einer Standardvarietät umfasst folgende Bestandteile: Die Kodifizierer (Autoren von Wörterbüchern und Grammatiken), Modellsprecher und -schreiber (z. B. Nachrichtensprecher, Journalisten, Schriftsteller), Sprachexperten (v. a. Linguisten) und Normautoritäten (v. a. Lehrer). Sie alle wirken bei der Beurteilung der Standardtauglichkeit von Sprachformen mit, wobei sie sich aneinander orientieren, sich gegenseitig beeinflussen und den Sprachgebrauch der Bevölkerungsmehrheit berücksichtigen (vgl. auch Dovalil, in diesem Band). Im Idealfall sind sich diese Instanzen über den Status einer sprachlichen Einheit einig, es kommt aber auch zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Standardsprachlichkeit von einzelnen Sprachformen, so dass diese dann zumindest nicht uneingeschränkt standardsprachlich sind. Aber warum ist es in manchen Fällen schwierig, festzulegen, was „richtiges und gutes Deutsch“ ist und was nicht? Der Grund dafür könnte in der traditionellen Gliederung der deutschen Sprache liegen, die sich auf die beiden Dimensionen Diatopik und Diastratik stützt. Erstere bezieht sich auf die dialektale Gliederung des deutschen Sprachraums, letztere versucht die Varietäten nach ihren kommunikativen Funktionen und ihrem Prestige einzuteilen. Dabei einsteht ein Kontinuum, an dessen unterem Ende kleinräumige Dialekte mit geringem Ansehen und eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten positioniert sind, während am entgegengesetzten Pol die Standardvarietät mit dem größten Prestige und den weitreichendsten Einsatzmöglichkeiten angesiedelt ist. Der Bereich dazwischen umfasst diverse Übergangserscheinungen wie Verkehrsdialekte und regionale Umgangsvarietäten. Erstere sind zwar mundartlich geprägt, enthalten aber keine „breiten“ Dialektismen und erreichen dadurch einen größeren Kommunikationsradius als die Basisdialekte. Die regionalen Umgangsvarietäten sind der Standardvarietät linguistisch sehr ähnlich und lediglich regional gefärbt, da
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Birte Kellermeier-Rehbein
Abb. 3: Dialektismen und Kommunikationsradius im Dialekt-Standard-Kontinuum
sie meist nur Relikte mundartlicher Besonderheiten enthalten. Abbildung 3 zeigt, dass bei abnehmender Anzahl der Dialektismen die Größe des Kommunikationsradius einer Varietät zunimmt. Diese Einteilung trifft allerdings weder für die Schweiz zu, wo keine Umgangsvarietäten existieren, noch für das niederdeutsche Gebiet im Norden Deutschlands, wo die autochthonen Dialekte vor allem in den Städten weitgehend durch Standard- oder Umgangsvarietäten verdrängt wurden. Immer wieder taucht die Frage auf, an welcher Stelle im Kontinuum die Grenze zwischen sprachlichem Standard und Nonstandard gezogen werden müsse. Was ist noch „korrektes Hochdeutsch“ und was gehört nicht mehr dazu und muss als Abweichung, Fehler oder „schlechtes“ Deutsch bewertet werden? Ist die Umgangsvarietät eine saloppe Stilschicht des Standards oder gehört sie zum Nonstandard? Welche Sprachformen können in standardsprachliche Wörterbücher aufgenommen werden? Welche Ausdrucksweisen sollen im DaF-Unterricht Berücksichtigung finden? Aufgrund der bisher unbefriedigenden Definition von Standard (s.o.) wird die Grenzziehung kontrovers diskutiert. Besonders augenscheinlich wird die Frage bei solchen Sprachformen, die von den vier Instanzen des Kräftefeldes nicht einheitlich beurteilt werden. Davon sind vor allem solche Sprachformen betroffen, die zwar in Modelltexten (z. B. in Zeitungsartikeln) auftauchen, von Modellsprechern (z. B. Fernsehmoderatoren) oder von einem Großteil der Sprecher verwendet werden, aber nicht als standardsprachlich kodifiziert sind. Die in der folgenden kleinen Liste exemplarisch genannten „Problemfälle“ werden zum Teil in der sprachwissenschaftlichen Literatur diskutiert (vgl. Ammon 1995, Berend 2005, Spiekermann 2005, Elspaß 2005, Negele 2012) oder stammen aus Eigenbeobachtungen (Beispiele 8, 10 und 15):
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Lautung (1) Tilgung des auslautenden -t: nich, is (2) Spirantisierung des / geschriebenen Auslautes (außer in -ig, -igt) zu [ç] oder [x]: Kriech, Tach (3) Schwa-Apokope bei Verben der 1. Pers. Sing. Präsens: ich hab, ich geh (4) Verkürzung des unbestimmten Artikels zu ne (5) Reduziertes enklitisches es: er hats (6) Norddeutsche [f]-Aussprache des geschriebenen : Fingsten (7) Südwestdeutsche s-Palatalisierung: fascht Morphologie (8) Schwache Maskulina ohne Flexionsendung: Ich sehe den Bär. (9) Getrennte Pronominaladverbien: Da weiß ich nichts von. (10) Imperativformen ohne Ablaut: Vergess den Schlüssel nicht! Helf ihm mal! Syntax (11) Weil-Sätze mit V2-Stellung: weil ich hab mich […] beworben. (12) nicht brauchen (ohne zu): Du brauchst nicht weinen. (13) Wegen/während/(an)statt mit Dativ oder Akkusativ: wegen dem Regen (14) Komparativ mit wie oder als wie: Susi ist größer (als) wie Steffi. (15) Abweichende Verwendung der starken und schwachen Formen von hängen, aufhängen, anhängen etc.: Sie hat den Mantel aufgehangen.
4 Den Bär – Standard oder Nonstandard? Im Folgenden möchte ich exemplarisch anhand des unflektierten schwachen Maskulinums Bär zeigen, warum die Zuordnung zu einer der Normebenen (Standard oder Nonstandard) problematisch sein kann, auch wenn eine Aussage wie „Ich sehe den Bär“ bis vor kurzem noch eindeutig dem Nonstandard zugeordnet worden wäre und von vielen sicher immer noch so empfunden wird. Dazu werde ich in Anlehnung an Ammon der Bewertung des unflektierten Gebrauchs von Bär durch das Soziale Kräftefeld einer Standardvarietät nachgehen. Die Tatsache, dass das Beispiel in (8) auf Eigenbeobachtung beruht, ist schon ein Hinweis auf das nicht nur vereinzelte Vorkommen der flexionslosen Formen von Bär im Sprachgebrauch der Bevölkerung. Dies gilt ebenso für andere schwache Maskulina wie Artist, Bandit, Hase, Konfirmand, Psychologe, Prinz, Zeuge, Konfirmand u. v. a. Wie häufig sie im Vergleich zu flektierten Formen auf -en vorkommen, müsste eigens empirisch erhoben werden. Darüber hinaus ist noch festzustellen,
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dass die flexionslose Verwendungsweise meist nicht, wie zu erwarten wäre, auf Verwunderung oder Spott stößt oder sprachliche Korrekturen hervorruft, sondern von den Hörern in der Regel kommentarlos zur Kenntnis genommen wird. Der unflektierte Gebrauch scheint also von der Sprechergemeinschaft nicht beanstandet zu werden. Aber wie bewerten ihn die anderen Bestandteile des Kräftefeldes? Eine Korpusanalyse soll zeigen, ob diese Verwendung in Modelltexten vorkommt. Aus dem vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim bereitgestellten Cosmas II ² wurde ein kleineres benutzerdefiniertes Korpus³ zusammengestellt, das ausschließlich deutsche Zeitungen aus den Jahren 2000 bis 2011 enthält. Ältere Texte sowie österreichische und schweizerische Publikationen blieben unberücksichtigt. Gesucht wurde nach Belegen für den unflektierten Gebrauch von Bär im Singular, wobei die vermeintlichen Formen des Dativs „dem/einem Bär“ und des Akkusativs „den/einen Bär“ ausgewählt und als Suchanfrage eingegeben wurden. In einem zweiten Schritt wurden die Treffer für unflektierte und flektierte Formen von Bär quantitativ verglichen. Tab. 1: Ergebnisse der Korpus-Recherche zu flektierten und unflektierten Kasusformen von Bär
Akk. Sing. Dat. Sing.
Suchanfrage
Treffer
Suchanfrage
Treffer
Treffer gesamt
den Bär einen Bär dem Bär einem Bär
(, %) (, %) (, %) (, %)
den Bären einen Bären dem Bären einem Bären
Die Recherche im Zeitungskorpus zeigt, dass die beiden unflektierten Formen des schwachen Maskulinums tatsächlich in Modelltexten Verwendung finden. Sie wurden von Modellschreibern für schriftliche Texte gewählt und haben die Prüfung durch ein Lektorat bzw. eine Redaktion überstanden. Die unflektierten Formen kommen insgesamt zwar seltener vor als die flektierten (vgl. Tab. 1), doch kann von vereinzelten „Ausrutschern“ keine Rede sein. Zu beachten ist die besonders hohe Trefferzahl (1353) für den Bären, was aber darauf zurückzuführen ist, dass diese Form sowohl für den Akkusativ Singular als auch für den Dativ Plural steht und damit (ohne genauere Überprüfung der Fundstellen) nur bedingt aussagekräftig ist. Bei den Dativ-Singular-Varianten ist der prozentuale Anteil der unflektierten Formen deutlich höher als bei den Akkusativ-Formen.
Vgl. www.ids-mannheim.de/cosmas2 (abgerufen im Januar 2013). Das benutzerdefinierte Korpus umfasst folgende Titel: Braunschweiger Ztg., Hannoversche Allgemeine, Hamburger Morgenpost, Mannheimer Morgen, Nürnberger Nachrichten, Nürnberger Ztg., Rhein-Ztg., VDI-Nachrichten.
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Die Recherche macht ferner deutlich, dass es sich nicht etwa um ein regionales Phänomen handelt. Die unflektierten Formen konnten in verschiedenen Gebieten Deutschlands nachgewiesen werden, wie die Belege (a) bis (f) zeigen: (a) Die Zoo-Tierärzte […] legten den Bär schließlich in Narkose (Hannoversche Allgemeine, 26.03. 2008) (b) Der 27-Jährige überwand einen vier Meter hohen Zaun, um den Bär aus der Nähe fotografieren zu können (Hamburger Morgenpost, 15.07. 2008) (c) Michael, der seit 25 Jahren im Banff-Nationalpark lebt und in dieser Zeit beim Bergwandern nur sechs Mal einen Bär aus der Nähe gesehen hat. (RheinZeitung, 27.7. 2007) (d) Ein bisschen Angst vor dem Bär hatten die Kleinen schon. (Mannheimer Morgen 29.04. 2006) (e) Auf Internetportalen wie YouTube wurden Videos mit dem Bär millionenfach angeklickt. (Nürnberger Nachrichten, 21.03. 2011) (f) Eine Frau ist gestern in das Eisbärengehege im Berliner Zoo gesprungen und von einem Bär attackiert worden (Braunschweiger Zeitung, 11.4. 2009) Die Überprüfung der Kodifizierung erfolgt am Beispiel der Duden-Grammatik (72006), da sie zu den Nachschlagewerken gehört, die wohl am häufigsten von ratsuchenden Sprechern oder Schreibern konsultiert werden und daher sehr breitenwirksam sind. Demnach gehört Bär zur schwachen Flexionsklasse, die hauptsächlich maskuline Personen- und Tierbezeichnungen umfasst und in allen Kasus- und Numerusformen (außer im Nominativ Singular) mit dem Suffix -en (oder -n) dekliniert wird (vgl. Duden 72006, 216): Tab. 2: Deklination der schwachen Substantive Schwache Substantive
Singular
Plural
Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ
der Bär des Bären dem Bären den Bären
die Bären der Bären den Bären die Bären
Dennoch gibt es nach Angaben der Duden-Grammatik Abweichungen von dieser Regel. Zum einen bestehe „eine gewisse Tendenz, die schwache Kasusflexion aufzugeben“ (ebd., 218) und die betreffenden Substantive stark zu flektieren, also im Genitiv Singular auf -s und im Akkusativ und Dativ Singular endungslos. Die von Duden angegebenen Beispiele (dem *Elefant, einen *Held u. a.) sind aber mit einem Asteriskus als ungrammatisch markiert und werden als „standardsprachlich schwach flektiert“ (ebd., 218) kommentiert. Daraus lässt sich schließen, dass Duden den Ausfall des Flexionssuffixes in diesen Fällen nicht akzeptiert.
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Gleichzeitig räumt Duden aber Folgendes ein: „Zum Teil ist der Flexionsklassenwechsel standardsprachlich anerkannt“ (ebd.). Illustriert wird diese Aussage nur anhand eines einzigen Beispiels aus der Gruppe der Sachbezeichnungen (Magnet → dem Magneten/Magnet), die jedoch nicht typisch für die schwache Flexionsklasse sind. Zum anderen nennt Duden einen syntaktisch bedingten Wegfall der Kasusendung en, der sich im Deutschen immer mehr durchsetze und keinesfalls mit dem o. g. Flexionsklassenwechsel gleichzusetzen sei (vgl. ebd., 219). Dabei werde auf die Kasusmarkierung verzichtet, wenn dem schwachen Maskulinum weder Artikel noch Adjektiv vorangehe: Ernsthafte Zwischenfälle zwischen Bär und Mensch hat es noch nicht gegeben (Internetbeleg, zitiert nach Duden 2006, 219). Ein wichtiger Grund dafür sei die Möglichkeit der Verwechslung mit der Pluralform, denn bei Bären besteht ein Synkretismus, der die Formen des Dativ Singular und Plural umfasst und nicht durch grammatische Informationen aus dem Kontext hinsichtlich des Numerus festgelegt wird. So entsteht durch Verwendung der flektierten Form eine mehrdeutige Lesart: Ernsthafte Zwischenfälle zwischen (einem/mehreren) Bären und (einem/mehreren) Menschen hat es noch nicht gegeben. Es bleibt festzuhalten, dass Bär in der Duden-Grammatik eindeutig der schwachen Flexionsklasse zugeordnet wird und in nur einem Ausnahmefall unflektierte Formen zulässig sind. Auch Sprachexperten beschäftigen sich mit der Frage des Flexionsverhaltens von schwachen Maskulina. Eisenberg (32006, 150 ff.)⁴ gliedert die schwachen Maskulina in zwei Gruppen, die sich nur durch den Schwa-Auslaut unterscheiden (z. B. Mensch, Bär vs. Löwe, Geselle). Beiden Gruppen gesteht er explizit die fakultative Verwendung des Suffixes -en zur Markierung des Dativ Singular oder Akkusativ Singular zu, weist aber darauf hin, dass das Suffix eher bei den Formen ohne Schwa entfällt (vgl. ebd., 159). Der Ausfall des Suffixes wird hier aber nicht wie in der Duden-Grammatik auf bestimmte syntaktische Umgebungen eingeschränkt. Die Veränderung des Flexionsverhaltens ist nach Eisenberg nicht willkürlich, sondern orientiert sich an den bestehenden Flexionsmustern. So kann es dazu kommen, dass mehrere Formen einer syntaktischen Kategorie (z. B. Genitiv Singular) entstehen, wie er am Beispiel des ursprünglich schwachen Maskulinums Friede zeigt: des Frieden (schwache Deklination), des Friedes (gemischte Deklination) und des Friedens (starke Deklination von Frieden). Er diffamiert diese drei Varianten nicht als Folgen sprachlicher Inkompetenz, sondern qualifiziert sie
Eisenberg bezieht sich teilweise auf die Duden-Grammatik, ist aber gleichzeitig auch Ko-Autor der Duden-Grammatik, die in ihrem Literaturverzeichnis wiederum Eisenberg aufführt. Dies zeigt, dass die einzelnen Gruppen des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät nicht immer strikt voneinander zu trennen sind.
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als Zeichen der „Sensibilität für strukturell vorgegebene Alternativen“ (Eisenberg 2006, 160). Insgesamt spricht er dem Deutschen „eine Tendenz zum Abbau des Flexionssystems“ (ebd., 151) zu, aber gemessen an anderen germanischen Sprachen sei es auf diesem Gebiet konservativ. Zum Vergleich führe ich die Flexionsparadigmen von Bär und dem englischen bear auf: Tab. 3: Flexionsparadigmen von dt. Bär und engl. bear
Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ
Singular
Plural
Singular
Plural
der Bär des Bären dem Bären den Bären
die Bären der Bären den Bären die Bären
the bear the bear the bear the bear
the bears the bears the bears the bears
Hier wird ersichtlich, dass beide Sprachen über genau zwei Formen verfügen (Bär/ Bären vs. bear/bears), die alle acht syntaktischen Kategorien (vier Kasus und zwei Numeri) bedienen. Allerdings sind die beiden Formen unterschiedlich im Paradigma verteilt. Während im Deutschen nur der Nom. Sing. unmarkiert und alle anderen Kasus und der Plural morphologisch gekennzeichnet sind, ist im Englischen nur der Plural markiert. Es kommt somit in beiden Sprachen zu Synkretismen und damit verbundenen Ambiguitäten. Anhand eines Verbparadigmas (rief als 1./3. Pers. Sing.) erläutert Eisenberg (2006, 152), dass solche ambigen Lesarten aber nur innerhalb eines Paradigmas bestehen, wo sie ohne weitere syntaktische Informationsträger erscheinen. Außerhalb, also in konkreten Kontexten, erfolgt durch den Verbund mit anderen sprachlichen Einheiten (z. B. mit Personalpronomina) eine Formdifferenzierung und damit eine Reduzierung mehrerer möglicher Lesarten auf eine einzige (er rief nur 3. Pers.). Dies lässt sich auch auf den Bereich der Substantive und den Problemfall Bär übertragen. Durch die Kombination mit einem Artikel bleibt zum Teil nur noch eine mögliche Lesart übrig: dem Bären (nur Dat. Sing.). Da der Kasus des Substantivs im Deutschen zusätzlich durch flektierte Artikel angezeigt wird, kann sich das Deutsche den Ausfall des Flexionssuffixes -en also eher leisten als das Englische, dem nur die eine Artikelform the zur Verfügung steht. Allerdings enthält das Bär-Paradigma nicht acht verschiedene Artikelformen, da der, den und die jeweils zweimal vorkommen. Daher besteht immer noch die Möglichkeit, z. B. Akkusativ Singular und Dativ Plural zu verwechseln (vgl. Tab. 3). Verzichtet man nun auf die schwache Endung im Akkusativ Singular, entfällt diese Gefahr, da beide Formen klar differenziert sind: den Bär (Akk. Sing.) vs. den Bären (Dat. Plur.). Durch diesen Systemausgleich wäre für mehr Eindeutigkeit gesorgt. Ferner könnte man eine Analogie annehmen, wie sie zu der Bär (Nom. Sing.) und der Bären (Gen. Plur.)
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besteht, bei denen ebenfalls zwei formgleiche Artikel vorkommen. Außerdem sind die Formen des Nominativs und Akkusativs in anderen Deklinationsklassen häufig gleich (der/den Ball, der/den Berg, das Kind), auch dies wäre ein guter Grund, den Bären zu den Bär zu verkürzen. Wie werden Formen wie den/dem Bär von Sprachnormautoritäten beurteilt? Meines Wissens wurde bisher keine Erhebung zum Korrekturverhalten von Lehrern durchgeführt. Es ist anzunehmen, dass es wohl kein einheitliches Vorgehen gibt und die positive oder negative Sanktionierung von unflektierten schwachen Maskulina weitestgehend davon abhängt, welches Nachschlagewerk jemand konsultiert oder auf welche wissenschaftliche Literatur er sich beruft. Wer sich an der Duden-Grammatik orientiert, wird den Bär als Fehler anstreichen müssen, wer sich dagegen nach Eisenberg richtet, wird auf die Sanktion verzichten. Möglicherweise gibt es auch generationsabhängige Unterschiede beim Korrekturverhalten der Lehrer. So ist denkbar, dass ältere Lehrer in diesem Punkt weniger tolerant sind als jüngere. Diese Überlegungen bedürfen einer genaueren empirischen Erhebung. Festzuhalten bleibt also Folgendes: Die unflektierten Akkusativ- und Dativformen von Bär sind zwar dem Sprachkodex (hier am Beispiel Duden-Grammatik) zufolge unzulässig, werden aber von der Bevölkerung sowie von Modellschreibern verwendet und von Sprachexperten (hier: Eisenberg) akzeptiert und sogar als Indiz für sprachliche Sensibilität gehandelt. Sprachnorm und Usus gehen also unterschiedliche Wege. Wie ist nun mit diesem Befund umzugehen?
5 Wege aus dem Dilemma? Man steht hier also vor einem Dilemma: Einerseits sollen öffentliche und formelle Kontexte weiterhin einer einheitlichen und überregional verständlichen Standardvarietät vorbehalten bleiben, andererseits möchte man den Muttersprachlern, die von den kodifizierten Normen abweichen, nicht vorwerfen, sie würden sich sprachlich unangemessen verhalten, und ihnen womöglich ihre Sprachkompetenz absprechen. Die Einstellung zu diesem Problem hängt im Wesentlichen davon ab, ob man bei der Beurteilung sprachlicher Zweifelsfälle normorientiert oder gebrauchsorientiert vorgeht. Im ersten Fall wird rigoros nur das anerkannt, was als kodifizierte Norm vorliegt. Sprachformen, die nicht im Wörterbuch oder der Grammatik verbucht sind, gehören dann per se zum Nonstandard. Diese Haltung ist elitär ausgerichtet, da sie ein hohes Maß an sprachlicher Bildung voraussetzt. Im zweiten Fall orientiert man sich verstärkt am Usus in der Sprachwirklichkeit, in der große Teile der Bevölkerung, selbst bildungsorientierte Personen, in öffentlichen oder
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formellen Situationen zuweilen von den Vorgaben der Kodizes abweichen. Diese Einstellung ist stärker demokratisch ausgerichtet, da sie auch sprachlich weniger ausgebildeten Personen die Verwendung der Standardvarietät zugesteht. Unterschiedliche Toleranzschwellen sind zudem an das Medium der Sprachproduktion gebunden: Im mündlichen Sprachgebrauch wird weitaus mehr akzeptiert als in der Schriftlichkeit. Auf diesen Unterschied verweist die Duden-Grammatik: Das Kapitel zur gesprochenen Sprache soll „zur Klärung von Normunsicherheiten herangezogen werden, die sich aus der Differenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache ergeben“ (Duden 2006, Vorwort). Sprachwissenschaftler, die eher der gebrauchsorientierten Position nahestehen, entwickelten eine ganze Reihe von Erklärungsansätzen und Vorschlägen zum Umgang mit problematischen Sprachformen. Sie verfolgen im Wesentlichen zwei Richtungen: (1) Erweiterung des Standardbegriffs: Bestimmte sprachliche Phänomene, die zuvor vom Standard ausgeschlossen waren, sollen als standardsprachlich toleriert werden. (2) Verzicht auf scharfe Abgrenzung der Standardvarietät: Der Übergang zwischen Standard und Nonstandard soll weniger rigoros aufgefasst und eher als Kontinuum gesehen werden, bei dem die hierarchischen Ebenen der Sprachschichten (vgl. Abb. 3) ineinander übergehen. Diese Richtungen lassen sich in Ausführungen verschiedener Sprachexperten wiederfinden, auch wenn sie nicht immer explizit so benannt werden. Regula Schmidlin erklärt die Differenz zwischen Sprachwirklichkeit und kodifizierten Normen mit Lücken im Kodex, da „die sprachliche Norm durch Grammatiken und Wörterbücher nicht annähernd abgedeckt“ werde (Schmidlin 2011, 52),was auf die Vergänglichkeit von Normen sowie die diachrone und synchrone Variation zurückzuführen sei. Um diese Lücken zu schließen, werden ihr zufolge den schriftlich festgehaltenen Normen der Wörterbücher und Grammatiken subsistente (nicht kodifizierte) Normen an die Seite gestellt, die den Sprechern Hilfestellung bei der sprachlichen Gestaltung geben und das Sprachgefühl nachhaltig prägen. Damit werden sie zu wichtigen Ratgebern bei der Beurteilung von sprachlichen Zweifelsfällen. Berend (2005, 146) plädiert im Hinblick auf den Sprachgebrauch in Deutschland für die Differenzierung zwischen formellem und informellem Standard, wodurch auch regionalen Phänomenen normative Geltung zugestanden werden könne. In Bezug auf Österreich ist eine solche Differenzierung bereits festgestellt worden. Formeller Standard wird hier für Ansprachen, Predigten, Vorlesungen, Nachrichten etc. verwendet, die informelle Version für öffentliche Debatten, Fernsehmoderationen oder gelegentlich für private Gespräche. Letztere
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unterscheidet sich nur in wenigen Merkmalen vom formellen Standard, z. B. durch die Tilgung des auslautenden Vokals in einigen Wörtern (heut, ich geh) (vgl. Ammon et al. 2004, XXXVI). Ähnliches wurde schon früher vorgeschlagen: Die Autoren des Siebs (1969) hielten eine Abstufung des Aussprachestandards für sinnvoll und angemessen und unterschieden ausdrücklich zwischen reiner Hochlautung für die Bühne und alltagstauglicher gemäßigter Hochlautung. Insofern ist die Erkenntnis, dass es mehr als nur die eng umrissenen Standardnormen im strengen Sinne gibt, gar nicht so neu. Weitere neu aufgekommene Termini sind Gebrauchsstandard und Grenzfall des Standards. Sie sollen eine differenziertere Sicht auf den als fließend empfundenen Übergangsbereich ermöglichen und den Sprechern sozusagen eine gewisse Grauzone eröffnen, die einen toleranteren Umgang mit vom Kodex abweichenden Formen ermöglicht, ohne dass man den Sprechern ihre Kompetenz absprechen muss. Nach Ammon (1995, 88, 103) ist unter Gebrauchsstandard die Menge aller sprachlichen Einheiten zu verstehen, die zwar nicht als standardsprachlich im Kodex ausgewiesen sind, aber trotzdem von Modellsprechern oder -schreibern verwendet werden. Dem könnte hinzugefügt werden, dass sich diese Formen aufgrund häufigen Gebrauchs durch die Bevölkerungsmehrheit sozusagen eingebürgert haben und akzeptiert werden. Der o. g. Fall den Bär ist ein gutes Beispiel dafür. Der Gebrauchsstandard ist nicht im ganzen Sprachgebiet einheitlich, sondern weist deutlich wahrnehmbare regionale Differenzierungen auf. Berend (2005, 162 ff.) stellt vier regionale Gebrauchsstandards für Deutschland fest: Nordnorm, Südostnorm, Südwestnorm und eine Norm des südlichen Mitteldeutschlands. Sie sind regionalsprachlichen Einflüssen ebenso ausgesetzt wie überregionalen Einwirkungen der gesprochenen Sprache. Beide Arten betreffen vor allem die Lautung, aber auch morphologische, syntaktische und lexikalische Phänomene. Die sogenannten Grenzfälle des Standards sind mit dem Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) ins Gespräch gekommen. Die Bezeichnung dient als Markierung für Stichwörter, deren Standardsprachlichkeit zweifelhaft ist (z. B. Tanke, kurz für Tankstelle; vgl. Schneider-Wiejowski in diesem Band). Der unklare Status beruht darauf, dass die betreffenden Lexeme für gewöhnlich als dialektal oder umgangssprachlich eingestuft werden, aber trotzdem im standardsprachlichen Korpus, das für das Wörterbuch ausgewertet wurde, wiederholt nachgewiesen werden konnten. Aufgrund dieses widersprüchlichen Befundes wurden sie mit der Markierung Grenzfall des Standards gekennzeichnet. Davon abzugrenzen sind Lemmata, die als informell gekennzeichnet und damit eindeutig dem Standard zugeordnet sind (z. B. Gehaltszettel A D). Da sich das Variantenwörterbuch ausdrücklich als Nachschlagewerk der standardsprachlichen Besonderheiten (nationale Varianten) der deutschen Sprache versteht, war Kritik an der
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Markierung Grenzfall des Standards vorauszusehen. Manche Wörterbuchbenutzer stießen sich an einigen Ausdrücken, die sie nicht als standardsprachlich, auch nicht als zum Randbereich gehörig, anerkennen konnten (z. B. Haberer A-ost ‚Verehrer; Freund/Kumpan/Zechbruder; Mitspieler in einer Günstlingswirtschaft‘). Kleiner (2006, 113) kritisiert die Heterogenität der betroffenen Lemmata, die von informell (mal als Kurzform von einmal), über salopp (sich verkrümeln ‚sich unauffällig entfernen; verschwinden‘) bis dialektnah (Gode ‚Taufpate‘) einzustufen seien. Möglicherweise treffen hier zwei Faktoren zusammen, die zur Nicht-Akzeptanz von Sprachformen führen können. Einerseits die oben erwähnte normorientierte Haltung, die ein Wort wie Haberer ablehnt, weil es in den üblichen standardsprachlichen Wörterbüchern (in diesem Falle: Österreichisches Wörterbuch) als umgangssprachlich und salopp markiert ist. Andererseits könnte die ablehnende Einstellung darauf beruhen, dass Wörter mit bestimmten negativen Konnotationen nicht in die typischen Kommunikationsdomänen einer Standardvarietät zu passen scheinen. Dabei liegt möglicherweise die Annahme zu Grunde, dass in formellen Situationen oder im öffentlichen Sprachgebrauch Darstellungen oder Argumentationen sachlich erfolgen und stark wertende Ausdrücke mit negativen, derben oder gar vulgären Konnotationen vermieden werden sollten. Diese Einstellung, die letztlich die betroffenen Lexeme nicht als standardsprachlich gelten lässt, steht somit empirischen Befunden gegenüber. Als weiteren Weg aus dem Dilemma wurde vorgeschlagen, das Varietätenkontinuum zwischen Standardvarietät und Dialekt kurzerhand durch Einschub einer weiteren Ebene zu erweitern. Dazu wurde die Trias Standard – Substandard – Nonstandard entwickelt. Nach Löffler (2005, 11) können diese Termini mit Hochsprache – Umgangssprache – Mundart gleichgesetzt werden. Allerdings erweist sich der mittlere Bereich (Substandard) als problematisch und ist bei Löffler explizit mit einem Fragezeichen versehen (ebd., 21), das wohl auf den ungeklärten Status verweisen soll: Ist Substandard nun Teil des Standards oder des Nonstandards? An dieser Stelle bleibt ferner offen, ob eine angenommene homogene Standardvarietät quasi einen Höchst-Standard ausmacht, während die nationalen Standardvarietäten zum Substandard gezählt werden. Genauso ungeklärt bleibt die Einordnung von großregionalen Umgangsvarietäten als Sub- oder Nonstandard. Auf der Suche nach einem Weg aus dem Dilemma der Abgrenzung von Standard und Nonstandard wurden im vorliegenden Beitrag verschiedene Versuche unternommen, die sich im Prinzip alle als Sackgassen erwiesen. Weder die Eigenschaften noch das Kräftefeld einer Standardvarietät führten zum Ziel. Ein Pfad, der vielleicht in die richtige Richtung weisen könnte, wird abschließend eingeschlagen, indem zwei weitere Aspekte geprüft werden: die von einer Stan-
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dardvarietät zu erfüllenden gesellschaftlichen Funktionen und die an sie gerichteten Erwartungen.
6 Funktionen von Standardvarietäten Standardvarietäten erfüll(t)en in Vergangenheit und Gegenwart verschiedene gesellschaftliche Funktionen, die auch für den Einzelnen relevant sind und mit vielfältigen und ganz unterschiedlich gewichteten Erwartungen verknüpft werden. Unumstritten ist eine ihrer wichtigsten Leistungen: das Ermöglichen einer überregionalen Kommunikation, die beim Entstehen der modernen Gesellschaft mit gesteigerter Mobilität und großräumigem Verkehr unverzichtbar wurde. Hier ist eine Standardvarietät gefragt, die in einem hohen Grade einheitlich ist und möglichst keinerlei dialektale oder soziolektale Variation aufweist, die das gegenseitige Verständnis erschwert. Eine solche eng umrissene Standardvarietät kann die große Vielfalt der sprachlichen Variation innerhalb einer Sprache überbrücken und den Sprechern unterschiedlicher Varietäten gegenseitiges Verständnis sichern. Dieses Anliegen ruft eine konservativ-normorientierte Haltung auf den Plan, die mit einer präskriptiven Kodifizierung und einer strikten Normtreue Hand in Hand geht. Ferner haben Standardvarietäten eine Repräsentationsfunktion, durch die sie gleichsam Stellvertreter für das Diasystem sind. Dies macht sich dadurch bemerkbar, dass eine Sprache meist mit ihrer Standardvarietät und nicht etwa mit einem Dialekt assoziiert wird. Nicht zuletzt werden sie im Fremdsprachenunterricht gelehrt. Für solche Repräsentationszwecke ist ebenfalls eine einheitliche Erscheinungsweise vorteilhaft, weil sie einen größeren Wiedererkennungswert (auch für Nicht-Muttersprachler) hat. Aus historischer Sicht spielten Einzelsprachen bzw. ihre Standardvarietäten eine wichtige Rolle bei der Bildung der europäischen Nationen. Insbesondere bei der Diskussion über die Zusammenfassung der deutschsprachigen Kleinstaaten zu einem Nationalstaat wurde immer wieder argumentiert, dass Personen gleicher Muttersprache eine zusammengehörende Nation bildeten und einen Anspruch auf politische Selbstverwaltung in einem gemeinsamen Staat hätten. Aufgrund der dialektalen Zersplitterung des deutschsprachigen Raumes war die Entwicklung einer einheitlichen Standardvarietät und ihre Normierung ein dringendes gesellschaftliches Anliegen. Die Bürger der deutschen Kleinstaaten sprachen zwar unterschiedliche Dialekte, konnten sich aber über eine gemeinsame überregionale Varietät als Angehörige ein und derselben Nation identifizieren. Sie fasste die Dialektsprecher gewissermaßen unter ihrem Dach zusammen. Selbst nach 1871
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wurde die Standardisierung weiter vorangetrieben. Es fanden Konferenzen zur Vereinheitlichung der Orthographie (1874 und 1901) statt, deren Ergebnisse 1902 im Orthographischen Wörterbuch von Konrad Duden festgehalten und für verbindlich erklärt wurden. Auch auf dem Gebiet der Lautung trieb man Standardisierung und Normierung voran und Theodor Siebs legte 1898 erstmalig das Wörterbuch Deutsche Bühnenaussprache ⁵ vor. An die Rolle der Standardvarietäten bei der Nationenbildung ist auch ihre identitätsstiftende Funktion geknüpft. Einzelsprachen und die dazugehörigen Standardvarietäten sind wesentliche Merkmale der persönlichen sowie der nationalen Identität. Die Zusammengehörigkeit einer ganzen Sprechergemeinschaft lässt sich am besten anhand einer weitgehend einheitlichen Standardvarietät aufzeigen, die für alle Sprecher gleichermaßen gilt. Etwas anders verhält es sich, wenn man sich nur mit einem Teil der Sprachgemeinschaft oder den Bewohnern einer bestimmten Region identifizieren möchte oder wenn man Sprecher einer plurizentrischen Sprache ist. In diesen Fällen wird man eine Standardvarietät mit Variationsmöglichkeiten bevorzugen, denn areale Varianten erlauben eine regionale oder nationale Verortung der Sprecher (z. B. Grüezi als Indiz für Schweizer Herkunft). Bei Sprechern einer plurizentrischen Sprache steht die jeweils eigene nationale Standardvarietät für Nähe,Vertrautheit und Authentizität innerhalb der eigenen Nation (vgl. Bickel/Hofer in diesem Band). Nationalvarietäten haben nach Clyne darüber hinaus eine Bedeutung für die Darstellung der staatlichen Eigenständigkeit: „Each national variety of Standard German gives the nation using it a symbolic marker of independent identity.“ (Clyne 1992, 137) Hier ist zu bedenken, dass nur ein eigenständiger Staat die erforderlichen Maßnahmen durchführen kann, um die Entwicklung und Sicherung einer eigenen Nationalvarietät zu garantieren. Neben der Ausarbeitung eines eigenen Binnen-Kodex gehört dazu beispielsweise auch die entsprechende Lehrerausbildung. Der Gebrauch derselben Sprache ist aber nicht nur ein Zeichen für die Zusammengehörigkeit der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft und für die Identifikation mit der Nation, sondern darüber hinaus Mittel der Abgrenzung von anderssprachigen Gemeinschaften. Bei plurizentrischen Sprachen erfolgt die Abgrenzung sogar innerhalb der Sprachgemeinschaft, denn Österreicher, Schweizer und Deutsche können sich durch die Verwendung der eigenen Nationalvarietät von den Sprechern der anderen Nationen distanzieren. „Pluricentric languages are both unifiers and dividers of peoples“, beschrieb Clyne (1992, 1) diesen Sachverhalt. Auch in diesem Fall ist wieder ein weit gefasster Begriff von ‚Standardvarietät‘ vorteilhaft, bei dem nationalspezifische Variation zulässig ist.
Ab der 19. Aufl. von 1969 unter dem Titel: Deutsche Aussprache.
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Standardvarietäten fungieren ferner als Messlatte für die schulische Sozialisation, da sie im Unterricht gelehrt werden. Das Beherrschen der Standardvarietät in Wort und Schrift ist unverzichtbar für das erfolgreiche Absolvieren der Schullaufbahn und wird häufig als Indikator für Intelligenz und Bildung aufgefasst. Schulbildung lässt sich besonders nachhaltig unter Beweis stellen, wenn man sogar eine eng gefasste Standardvarietät ohne Variationsmöglichkeiten korrekt verwenden kann. In den 1970er Jahren wurde intensiv untersucht, mit welchen Schulschwierigkeiten dialektsprechende Kinder, die die Standardvarietät nicht sicher beherrschten, zu rechnen hatten. Experten (vgl. z. B. Ammon 1972 u. v. a.) kamen zu dem Ergebnis, dass solche Defizite für Benachteiligungen in Ausbildung und Beruf verantwortlich zu machen seien und der Grad der standardsprachlichen Kompetenz daher auch für beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung entscheidend sei. Für manche Gruppierungen ist die Standardvarietät mit rein wirtschaftlichen Interessen verbunden. Dazu gehören beispielsweise Verlage, die in einer einheitlichen, allgemeinverständlichen und dialektfreien Sprache verfasste Druckerzeugnisse aufgrund des größeren Absatzmarktes lukrativer verkaufen können. So werden etwa Schweizer Autoren, die bei deutschen Verlagen publizieren möchten, häufig angehalten, die -Schreibung anzuwenden, obwohl dies in der Schweizer Rechtschreibung nicht vorgesehen ist. Die oben genannten gesellschaftlichen Funktionen von Standardvarietäten sind in der Regel auch für die Individuen einer Sprachgemeinschaft von Belang. Wer die Standardvarietät beherrscht, kann an der öffentlichen und überregionalen Kommunikation teilhaben, sich als Angehöriger einer Nation zu erkennen geben und sich gleichzeitig von anderen Nationen abgrenzen sowie seine Zugehörigkeit zur bildungsorientierten Sozialschicht beweisen.
7 Fazit Wie immer man es dreht und wendet, es gibt sprachliche Problemfälle, die nicht eindeutig einer Normebene zugeordnet werden können und vielleicht auch nicht nach den Kategorien richtig oder falsch beurteilt werden müssen. Standardvarietäten sind multifunktional, da sie eine ganze Reihe verschiedener Aufgaben erfüllen, die für eine Gesellschaft als ganze sowie für einzelne Individuen in unterschiedlichem Maße relevant sein können.Wer was zu welchem Zeitpunkt von einer Standardvarietät erwartet und welche Bedeutung ihr zugeschrieben wird, hängt von historischen, politischen und individuellen Umständen ab. Daher liegt der Schluss nahe, dass eine einheitliche und allgemeingültige Definition des Begriffs ‚Standardvarietät‘ kaum möglich ist, da sie von der jeweiligen im Vor-
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dergrund stehenden Funktion abhängt, die ihrerseits für die Ausprägung der Standardvarietät mit einem mehr oder weniger großen Ausmaß an Einheitlichkeit oder Variation verantwortlich ist. Zudem können sprachliche Zweifelsfälle als Sprachwandelphänomene aufgefasst werden, die schon immer in der Sprachgeschichte vorkamen. Daher sollte man sich von der Vorstellung einer invarianten Standardvarietät verabschieden und sich klar machen, dass sie nicht „fertig“ ist, sondern sich ständig weiterentwickelt. Sprachwandel ist notwendig, um Ausbau, Modernisierung und Anpassung an neue kommunikative Bedürfnisse zu ermöglichen. Darüber hinaus erfolgt auch eine Anpassung an eine veränderte Sprechermentalität, die sich durch einen geringeren Glauben an die Autorität von Wörterbüchern und Grammatiken bemerkbar macht. Typisch für Sprachwandel ist ferner, dass vorübergehend je eine alte und eine neue Variante zur Verfügung stehen. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis die neuen Sprachgebrauchsmuster Einzug in den Kodex finden. Die Duden-Grammatik zeigt Sprachwandel daher als Entwicklung in zwei Richtungen: „Sprachentwicklung ist so von zwei Tendenzen geprägt: der Tendenz der Ausweitung von Varianz auf der einen Seite und dem Streben nach Gleichförmigkeit andererseits.“ (Duden 2006, 1186). Unter Berücksichtigung dieser Aspekte bietet sich eine tolerante Auslegung des Standard-Begriffes an, der Variation ebenso zulässt wie fließende Grenzen zum Nonstandard und der den Bedürfnissen der Sprecher gemäß enger oder weiter gefasst werden kann.
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Regula Schmidlin
Gebrauch und Einschätzung des Deutschen als plurizentrische Sprache Abstract: Zu Ulrich Ammons Forschungsgebieten gehört das Deutsche als plurizentrische Sprache, dessen Erforschung er sowohl in theoretischer als auch in lexikographischer Hinsicht entscheidend geprägt hat. Der Begriff plurizentrisch bezieht sich auf Standardsprachen und ihre nationalen und regionalen Varietäten, die jeweils über eigene, vor allem lexikalische und phonologische, Varianten verfügen. Der folgende Beitrag fokussiert auf pragmatische und kognitive Aspekte der Plurizentrik: Wie häufig sind Varianten des Standarddeutschen in öffentlichen Texten? Hängt die Frequenz von Varianten ab von der Herkunft der Texte, der Textsorte, von ihrem Publikationsjahr? Und wie steht es um die Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher gegenüber diesen Varianten? Es zeigt sich eine Diskrepanz zwischen dem regen Gebrauch von Varianten in öffentlichen Texten einerseits und der kritischen Einstellung der Sprecherinnen und Sprecher andererseits, welche die Varianten oft nicht als standardsprachlich empfinden.* Keywords: Standarddeutsch, Plurizentrik, Gebrauch von Varianten in öffentlichen Texten, Spracheinstellungen, Laienlinguistik, sprachliche Normen
1 Der Forschungsbereich der Plurizentrik des Deutschen Ulrich Ammon kommt das Verdienst zu, die deutsche Sprache erstmals umfassend aus einer plurizentrischen Perspektive beschrieben zu haben (Ammon 1995). Die Plurizentrik ist ein theoretisches Modell, standardsprachliche Variation zu erfassen, die in geschriebener und formell gesprochener Sprache eine Tatsache ist.¹ Bezogen auf Types (und nicht auf Tokens) handelt es sich bei der plurizentrischen Variation, gemessen an der Gesamtsprache, nur um einen vielleicht 5 % umfassenden Anteil von Varianten, durch die sich die Varietäten voneinander unterscheiden. Damit weisen aber die Varietäten genügend vor allem phonologische und lexikalische, zu geringem Anteil morphologische, syntaktische und prag-
* Für wertvolle Hinweise zum Entwurf dieses Beitrags danke ich Helen Christen. Von linguistischen Laien wird die Plurizentrik von Standardsprachen oft für dialektale Variation gehalten. Auf diese Beobachtung wird im 3. Kapitel des vorliegenden Beitrags näher eingegangen.
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matische Eigenheiten auf, um als nationalspezifisch oder regionalspezifisch erkennbar zu bleiben. Zudem sind die Varianten als Tokens (im Sinne einzelner Vorkommnisse in der Sprachverwendung) in alltäglicher Sachprosa gut belegbar. Standardsprachliche Varianten haben sich aufgrund politisch-historischer Eigenentwicklung der so genannten Zentren der Standardsprache herausgebildet. Die Variation der Standardsprache wird jedoch nicht durch die Landesgrenzen allein strukturiert, wenn auch diese, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, eine besondere Rolle spielen. Entsprechend unterscheidet man zwischen spezifischen, nur in einer Varietät geltenden standardsprachlichen Varianten² und unspezifischen, in mehreren Varietäten geltenden Varianten³ sowie zwischen solchen, die nur in einzelnen Regionen gelten oder in mehreren, transnationalen Regionen.⁴ In Bezug auf das Englische wird das Konzept der Plurizentrik seit geraumer Zeit angewandt, wohl begünstigt durch die geographischen und politischen Distanzen, die zwischen den Varietäten des Englischen liegen (vgl. Clyne 1992). Auf das Deutsche wird das Konzept der Plurizentrik erst seit den 1960er Jahren übertragen (Kloss 1978 [1952]). Die teilweise konkurrenzierenden Begriffe polyzentrisch, plurizentrisch, multizentrisch, pluriareal und weitere Begriffe werden dabei wechselweise verwendet, um die Variation der deutschen Standardsprache der Gegenwart zu modellieren.⁵ Die historischen Vorläufer des plurizentrischen Konzepts standardsprachlicher Variation reichen allerdings bis zu den Provinzialwörterbüchern des 18. Jahrhunderts zurück (vgl. Haas 1994). Ulrich Ammon war es auch, der nach der Publikation der eingangs genannten Monografie (Ammon 1995) ein trinationales Forschungsprojekt in Kooperation zwischen den Universitäten Duisburg, Innsbruck und Basel initiierte, aus dem 2004 das Variantenwörterbuch des Deutschen
Man nennt die standardsprachlichen Varianten, welche die nationalen Varietäten ausmachen, Helvetismen (z. B. Beizug ‚Beiziehen, Heranziehen’) (VWB 2004, 101), Austriazismen (z. B. ausnehmen ‚trotz Dunkelheit, schlechter Sicht o. Ä. erkennen, unterscheiden, wahrnehmen’) (VWB 2004, 73) und Teutonismen (z. B. klasse ‚sehr gut; grossartig’) (VWB 2004, 409), Letzteres nur sehr ungern und weil es keinen Konsens über einen Alternativbegriff gibt. Zur Begriffsdiskussion vgl. Schmidlin (2011, 76). Z. B. Austro-Helvetismen (z. B. allfällig ‚eventuell, gegebenenfalls vorkommend’) (VWB 2004, 27) oder Teuto-Austriazismen (z. B. Freizeichen ‚Ton beim Telefon oder Fax, der anzeigt, dass die Leitung frei ist’) (VWB 2004, 262). So gibt es z. B. zahlreiche standardsprachliche Varianten mit den Geltungsarealen Süddeutschland, Schweiz und Österreich (z. B. herzig ‚niedlich, drollig’) (VWB 2004, 347). Zur Kontroverse Plurizentrik vs. Pluriarealität aus österreichischer Perspektive s. Scheuringer (1996) und Glauninger (im Druck).
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hervorging (fortan VWB). Dieses wird derzeit neu bearbeitet und erscheint voraussichtlich 2015 in zweiter Auflage. Im Gegensatz zu Ammons sprachsystematischer Perspektive nimmt der vorliegende Beitrag pragmatische und kognitive Aspekte der Plurizentrik des Deutschen in den Blick. Zunächst soll die Plurizentrik des Deutschen aus der Perspektive des Gebrauchs beleuchtet werden, d. h. der Verwendung in breit rezipierten, öffentlichen Texten. Gewissermassen als Mass⁶ für die plurizentrische Variation wird die Variantendichte herangezogen. Für die Erhebung der Variantendichte wird die Anzahl standardsprachlicher Varianten auf 100 Seiten⁷ hochgerechnet. Diese soll in Abhängigkeit verschiedener Variablen berechnet werden, z. B. des Entstehungsorts des Textes, der Herkunft des Autors, der Textsorte oder des Erscheinungsjahrs. Neben der Verwendung von standardsprachlichen Varianten in breit rezipierten Texten soll die Plurizentrik des Deutschen im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags aus der Perspektive der Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher gegenüber den Varianten erörtert werden. Wie zeigt sich die in Texten nachweisbare Plurizentrik des Deutschen als mentale Grösse bei den Sprecherinnen und Sprechern? Mit der Beantwortung dieser Frage soll die kognitive Relevanz des plurizentrischen Konzepts überprüft werden. Dabei soll auch erörtert werden, inwiefern die Repräsentation der Plurizentrik von aussersprachlichen Faktoren beeinflusst wird.
2 Zum Gebrauch von Varianten des Standarddeutschen in öffentlichen Texten 2.1 Methodisches Vorgehen zur Erhebung des Variantengebrauchs Um Aussagen zum Gebrauch von Standardvarianten in öffentlichen Texten zu ermöglichen, greife ich auf das Textkorpus zurück, das 1997– 2003 für die Erarbeitung des VWB zusammengestellt und ausgewertet wurde. Bei der Auswahl der Quellen wurde sowohl in Bezug auf die Verlagsorte als auch in Bezug auf die Herkunft der Autorinnen und Autoren auf eine breite regionale Verteilung geachtet. Unter den Pressetexten sind Produkte mit lokaler, regionaler wie auch überregionaler Reichweite vertreten. Dazu wurden verschiedene Publikations-
Die Schweizer Rechtschreibung kennt kein . Es wird durchgängig geschrieben. Diese hundert Seiten sind ein standardisiertes Mass, da die Seitenspiegel der verschiedenen untersuchten Printprodukte stark variieren.
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formen und -rhythmen berücksichtigt. Das Korpus, das im VWB ausgewertet wurde, umfasst für Deutschland, Österreich und die Schweiz jeweils folgende Textkategorien pro Zentrum: 50 Tages- und Wochenzeitungen, ca. 50 Zeitschriften, Illustrierte und Magazine, 40 populäre Sachbücher, 40 „gehobene“ Romane, 10 Kriminalromane, 10 Trivialromane, 10 Kinder- und Jugendbücher, 1500 Seiten Prosatexte aus literarischen Anthologien, ca. 120 Broschüren, Werbetexte, Formulare, Gesetzestexte, mündliche Quellen und Internetquellen. Bei den Sachtexten wurde zudem auf eine breite Verteilung der Texte auf inhaltliche Domänen geachtet, die sich an bereits vorhandenen volkskundlichen Kategorien orientierte.⁸ Bei der Erarbeitung des VWB wurden die Quellentexte von den Teams in Österreich, der Schweiz und Deutschland in mehreren Lesegängen auf standardsprachliche Varianten hin überprüft. Allfällige nationale Varianten des Standarddeutschen wurden durch Sprecher der jeweils anderen Zentren, also aus der Fremdperspektive, identifiziert. Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter markierten in einem ersten Schritt alle in den Texten vorkommenden Varianten, die ihnen als fremd erschienen. Dort, wo die Bearbeitenden regionale bzw. nationale Varianten vermuteten, schrieben sie, wenn möglich, die ihnen vertrauteren Entsprechungen darüber. Da dieses Vorgehen naturgemäss nicht immer eindeutige Beurteilungen hervorbrachte, wurden innerhalb der nationalen Teams regelmässig Besprechungen abgehalten, in denen über Zweifelsfälle befunden und über die definitive Markierung der Varianten entschieden wurde. Dann wurden die markierten Quellentexte an das nächste Zentrum geschickt, dort weiterbearbeitet und wieder an das Ursprungszentrum gesandt. Um der regionalen Variation innerhalb Deutschlands und Österreichs einigermassen gerecht zu werden, wurde auf ein Netz von Informanten aus allen Subregionen zurückgegriffen.⁹ Nach beendetem Rundlauf wurden die so ermittelten standardsprachlichen Varianten in einer Datenbank erfasst. Insgesamt lässt sich das Vorgehen bei der Erarbeitung des VWB so beschreiben: Man ging zunächst von der individuellen Repräsentation der Variation bei der einzelnen, linguistisch geschulten beurteilenden Person aus, überprüfte diese individuelle Repräsentation auf ihre Mehrheitsfähigkeit innerhalb der Forschungsteams und erhob schliesslich empirisch die Repräsentation
Z. B. Bildung/Erziehung, Brauchtum/Volkskunde, Geschichte, Wirtschaft, Gesundheit, Handwerk/Handarbeit, Bau/Architektur, häusliches Leben/Wohnen, Kinder-/Jugend-/Schüler-/Studentenkultur, Mode, Kunst/Kultur, Landeskunde, Medien, Soziales, Ehe, Natur, Öffentliche Institutionen/Post/Verwaltung, Politik, Recht, Religion/Glaube/Esoterik, Sport/Spiel, Technik/Industrie, Tourismus/Gastronomie und Verkehrswesen. Dies war in der Schweiz nicht nötig, da das Schweizerhochdeutsche (im Gegensatz zu den gesprochenen Mundarten) regional kaum variiert.
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im ganzen Sprachraum, soweit sie sich quantitativ messen lässt. Dies geschah mit Hilfe des WWW als Kontrollkorpus und einiger strukturierter Korpora sowie unter Einbezug bisheriger lexikographischer Forschungsergebnisse. Entscheidend beim WWW war die Funktion der domain-spezifischen Abfrage, die es ermöglichte, die Frequenz von Varianten auf österreichischen (site:at), deutschen (site:de) und schweizerischen (site:ch) Websites separat zu ermitteln. Nach solchen empirischen Überprüfungen erwiesen sich nur ca. 45 % der in den Quellentexten ursprünglich markierten Ausdrücke tatsächlich als regionale oder nationale Varianten, welche für die Aufnahme als Lemmata im VWB in die engere Auswahl kamen. Für weitere Einzelheiten zum empirischen Vorgehen bei der Erarbeitung des VWB verweise ich auf Bickel (2000) und Schmidlin (2011, 134– 142). Als Mitautorin des VWB war es mir möglich, die Belegdatenbank des trinationalen Forschungsprojekts im Hinblick auf eine Reihe von Forschungsfragen einer Analyse zu unterziehen. Dafür waren einige Kodierungs- und Erweiterungsarbeiten nötig. Folgende Fragen leiteten die Analyse: Wie gross ist der Anteil regionaler und nationaler Variation in Texten verschiedener Herkunft, verschiedener Textsorten, verschiedener Genres, verschiedener inhaltlicher Domänen und verschiedener Erscheinungsjahre? Im Korpus des VWB vertreten waren Texte, die zwischen 1950 und 2000 erschienen. Diese historische Bandbreite erlaubt eine, wenn auch bescheidene, diachronische Analyse. Variieren bestimmte Varietäten auf bestimmten sprachlichen oder textsortenspezifischen Ebenen mehr als andere? Sind z. B. österreichische Boulevardblätter reicher an standardsprachlichen Varianten als deutsche? Gibt es variationsneutrale Bereiche, z. B. das Feuilleton? Gibt es Bereiche, in denen die Variantendichte im Laufe der Zeit zunimmt und solche, in denen sie abnimmt? Bei den literarischen Texten wurde zusätzlich der Einfluss des Verlagssitzes¹⁰, der regionalen Herkunft der Autorinnen und Autoren, ihres Alter sowie ihres Geschlechts auf die Variantendichte in ihren Texten untersucht. Ich werde hier nicht alle Resultate erläutern können. Drei Teilbefunde werden herausgegriffen, nämlich jene zur textherkunftsspezifischen Variantendichte, zur Textsorte und zur diachronen Entwicklung. Für weitere Resultate verweise ich auf Schmidlin (2011).
Ich erhoffte mir damit Erkenntnisse zur Rolle der Verlagslektoren bei der Akzeptanz von Varianten. Es zeigte sich, dass das Fremd- oder Eigenlektorat keinen Einfluss auf die Variantendichte ausübte. Vgl. Schmidlin (2011, 171 f).
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2.2 Ergebnisse zum Variantengebrauch 2.2.1 Textherkunftsabhängige Variantendichte Nicht spektakulär, aber deutlich ist das Ergebnis, dass es keine variantenfreien Texte gibt. Es zeigen sich jedoch unterschiedliche Variantendichten je nach regionaler Herkunft der Texte, nach Textsorte, Genre und Erscheinungsjahr. Schweizer Quellen enthalten am meisten Varianten (durchschnittlich 187 Varianten auf 100 Quellenseiten), gefolgt von österreichischen Quellen (durchschnittlich 116 Varianten auf 100 Quellenseiten). Die wenigsten Varianten enthalten Quellen aus Deutschland (durchschnittlich 48 Varianten auf 100 Quellenseiten). Die statistische Varianzanalyse zeigt einen hoch signifikanten Einfluss der nationalen Herkunft der Texte auf ihre Variantendichte (p < 0.01).¹¹ Dass es in den untersuchten Texten mehr Helvetismen als andere Varianten gibt, kann einerseits so interpretiert werden, dass die Verwendung von Helvetismen von den Verfassern nicht gezielt vermieden wird. Bedeutet dies Selbstbewusstsein der Deutschschweizer Verfasser im Gebrauch von Helvetismen? Hier müsste man diejenigen Eigenvarianten gesondert beurteilen, bei denen sich die Deutschschweizer Verfasser gar nicht bewusst sind, dass es sich dabei um Helvetismen handelt. Dies war jedoch im Rahmen der Studie nicht möglich. Es muss also offen bleiben, ob die hohe Gebrauchsfrequenz aufgrund von sprachlichem Selbstbewusstsein oder aufgrund von Nichtwissen zustande gekommen ist. Andererseits kann der Befund der hohen Helvetismendichte auch mit der Fremdperspektive in Verbindung gebracht werden, welche den Ausgangspunkt für die Ermittlung der Varianten für das VWB bildete. Es zeigte sich, dass Schweizer Varianten öfters von Beurteilern aus Österreich und Deutschland gemeinsam als fremd markiert wurden. Beurteiler aus Österreich und Deutschland scheinen sich über die Fremdheit schweizerhochdeutscher Varianten also in stärkerem Masse einig zu sein als es die Beurteiler der jeweils anderen Zentren bei der Beurteilung von Varianten mit Geltungsareal Österreich und Deutschland sind. Dieses Ergebnis kann mit der unterschiedlichen Variantenbegegnungswahrscheinlichkeit in Verbindung gebracht werden, die wiederum durch die unterschiedliche Reichweite der Druckerzeugnisse auf dem deutschsprachigen Markt geprägt ist. Je kleiner die Zentren in Bezug auf Sprecherzahlen und Reichweite der Druckerzeugnisse sind, desto we-
Zählt man sowohl spezifische als auch unspezifische standardsprachliche Varianten als Types und nicht, wie in der Analyse berechnet, als Tokens, sind über 4700 Varianten mit Geltungsareal D ins Variantenwörterbuch eingegangen und je knapp 4000 Austriazismen und Helvetismen. Dass Helvetismentokens häufiger sind als Austriazismen und Teutonismen, kann also nicht einfach auf eine höhere Anzahl zur Verfügung stehender Types zurückgeführt werden.
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niger kommt deren Schriftlichkeit in Umlauf und desto weniger bekannt sind spezifische Varianten aus der Aussenperspektive. Deutschländische Schriftlichkeit wird im ganzen deutschen Sprachraum zur Kenntnis genommen – und deutschländische Varianten dadurch als mögliche „eigene“ Varianten in Betracht gezogen –, wohingegen die österreichische und insbesondere die schweizerische Standardvarietät kleinere Rezeptionsradien aufweisen.
2.2.2 Textsortenspezifische Variantendichte Einen signifikanten Einfluss auf die Variantendichte übt auch die Textsorte aus (p < 0.01).¹² Mit 59 Varianten auf 100 Seiten ist sie in literarischen Texten am geringsten, gefolgt von 77 Varianten auf 100 Seiten in Sachtexten und 93 Varianten auf 100 Seiten in Illustrierten/Zeitschriften und schliesslich 292 Varianten auf 100 Seiten in Zeitungen. Zumindest teilweise dürften diese Unterschiede damit zu erklären sein, dass die Beschäftigung mit nationalspezifischen Inhalten, z. B. dem politischen Tagesgeschehen, in Zeitungen am häufigsten und in literarischen Texten am seltensten sein dürfte. National- und regionalspezifische Inhalte erhöhen den Anteil der Sachspezifika und damit die Variantendichte. Nicht überraschend ist der Befund, dass kleinräumige Zeitungen (z. B. Bote der Urschweiz), auch wegen der lokalen Themen, mehr Varianten aufweisen als grossräumige (z. B. Neue Zürcher Zeitung), ebenso wenig wie die Tatsache erstaunt, dass die Variantendichte zwischen den Rubriken grosse Unterschiede aufweist, z. B. das Feuilleton mit einer geringen und der Lokalteil mit einer hohen Dichte. Je nach Herkunft, also Entstehungsort der Texte, zeigen sich in vergleichbaren Zeitungen jedoch unterschiedliche Variantendichten. Bspw. ist die Variantendichte in österreichischen Qualitätszeitungen mit grosser Reichweite (Die Presse) höher (426 Varianten auf 100 Seiten) als in vergleichbaren schweizerischen Zeitungen (Neue Zürcher Zeitung, 288 Varianten auf 100 Seiten) und viel höher als in vergleichbaren deutschen Zeitungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 79 Varianten auf 100 Seiten).¹³ Was Zeitungen mittlerer bis gehobener Qualität und mittlerer Reichweite anbelangt, sind es die Schweizer Zeitungen, in denen die Variantendichte deutlich höher ist als in vergleichbaren deutschen und österreichischen
Der Begriff Textsorte wird hier nicht in der textlinguistischen Bedeutung verwendet, sondern soll lediglich Illustrierte/Zeitschriften, Literatur, Sachbücher und Zeitungen voneinander abgrenzen. Die einzelnen Textsorten spiegeln also nicht einfach den gesamthaften Unterschied der herkunftsspezifischen Variantendichte (CH > A > D), sondern können, wie im Falle der Zeitungen, vom Gesamtunterschied abweichende Unterschiede aufweisen (A > CH > D).
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Zeitungen. Daraus können wir schliessen, dass gehobene Schriftlichkeit mit mittlerer bis grosser Reichweite in Österreich und der Deutschschweiz nicht zu einem Verzicht auf Varianten führt. Andere Analysen, die ich hier nicht ausführen kann, zeigen zudem, dass eine hohe Variantendichte keineswegs dem Boulevardjournalismus und der Trivialliteratur vorbehalten ist (vgl. Schmidlin 2011, 166). Varianten kommen also nicht nur im Blick und in der Kronenzeitung vor.¹⁴
2.2.3 Diachrone Entwicklung der Variantendichte Wie hat sich die Variantendichte im beobachteten Zeitraum entwickelt? Hinsichtlich der untersuchten Texte liess sich keine eindeutige Entwicklungsrichtung der Variantendichte und somit der plurizentrischen Variation des Standarddeutschen feststellen. Einzelne Schwankungen in der Variantendichte je nach Erscheinungsjahr der Texte bzw. je nach Alter der Autorinnen und Autoren (bei literarischen Texten) sind jedoch erwähnenswert: Jüngere deutsche Autorinnen und Autoren literarischer Texte verwenden im untersuchten Zeitraum (1950 – 2000) mehr Varianten als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen.¹⁵ Es muss hier offen bleiben, ob dies mit der Hinwendung zum Regionalkolorit zum Beispiel in Kriminalromanen oder in Erzählungen im Umfeld der Wende nach 1989 zu tun hat, mit einem vermehrten Gebrauch substandardsprachlicher Ausdrücke, die, zumindest teilweise, Teutonismen sind (z. B. Tanke, Pinkel), oder mit einer grösseren Variantentoleranz in der Lektoratspraxis. Im Gegensatz dazu verwenden jüngere Schweizer Autorinnen und Autoren literarischer Werke weniger Varianten als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen,¹⁶ was möglicherweise mit dem Wunsch nach breiter Rezeption im ganzen deutschen Sprachraum verbunden ist.Während also die deutschen Jungautoren die Varianten entdecken, versuchen sie die Deutschschweizer Jungautoren zu vermeiden. Bei literarischen Texten aus Österreich hat das Alter der Autorinnen und Autoren keinen Einfluss auf die Variantendichte. Dies ist ein erster Hinweis auf eine stabile Verankerung der
Hingegen sind in Boulevardzeitungen häufiger als in anderen Pressetexten Mundartwörter zu belegen, die Zitatcharakter haben und nicht zur Standardvarietät gehören, wie z. B. Grüsel ‚Person, die Abscheu, Ekel erweckt, Scheusal; garstiger, roher, grober Mensch’ (Schweizerisches Idiotikon Band 2, Spalte 809) im Blick, z. B. „Stopp für „Grüsel-Beizen“. Gäste erhalten Einblick in die Hygieneberichte der Beizen. So soll die Qualität insgesamt bessern.“ (Blick 11.01. 2013 http://www.blick.ch/news/wirtschaft/stopp-fuer-gruesel-beizen-id2165046.html (22.01. 2013). Für Einzelheiten zur statistischen Überprüfung dieses Befunds s. Schmidlin (2011, 166). Es gibt eine negative Korrelation des Jahrgangs der Autorinnen und Autoren mit der Variantendichte in ihren Texten (r = – 0.32, p < 0.05).
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österreichischen Varietät im Urteil der Sprecher – ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen. Die Variantendichte in Zeitungen nimmt insgesamt leicht ab (r = – 0.31, p < 0.01), was möglicherweise mit der zunehmenden Entregionalisierung der Medienlandschaft zu tun haben könnte – im Gegensatz zu Zeitschriften/Illustrierten, Sachbüchern und Literatur, deren Variantendichte sich im beobachteten Zeitraum nicht verändert. Warum sich die Zeitungen hier anders entwickeln als Zeitschriften, muss offen bleiben, ebenso wie generell nicht entschieden werden kann, ob die Zu- oder Abnahme der Variantendichten eher etwas aussagt über eine grösser oder kleiner werdende Variantentoleranz bei Lektoren und Redaktoren als über die Variantenfreudigkeit oder -abstinenz der Textautorinnen und Autoren. Das ist das eine methodische Problem, das sich bei diesem quantifizierenden Vorgehen stellt. Das andere methodische Problem ist, dass wir bei der Erarbeitung des Variantenwörterbuchs aus der Perspektive von 2004 auf z. B. Romane von 1950 zurückblicken. Die Differenzierung zwischen veralteten und regional ungebräuchlichen Wörtern ist daher – selbst, wenn man zeitgenössische Wörterbücher zum Abgleich konsultiert – in vielen Fällen eine Ermessensfrage; es sei hier unterstellt, dass die deutschsprachige Lexikographie der 1950er Jahre weniger variantenfreundlich war als die zeitgenössische. Trotz solcher Schwankungen in einzelnen Bereichen der untersuchten öffentlichen Texte zeigt sich insgesamt eine Konstanz der Variantendichte über den beobachteten Zeitraum hinweg. Die regionalen Ausprägungen der deutschen Standardsprache auf der einen Seite und die Bereiche der Einheitlichkeit des Gemeindeutschen auf der anderen scheinen im Gleichgewicht zu sein – dies, obwohl es teilweise noch an Bewusstsein für die Variation der Standardsprache und die Ebenbürtigkeit der Varietäten mangelt. Damit komme ich zum zweiten Bereich der Plurizentrik des Deutschen, der im vorliegenden Beitrag thematisiert werden soll: den Einstellungen gegenüber den Varianten und damit der kognitiven Relevanz des plurizentrischen Konzepts.
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3 Zu den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher aus dem ganzen deutschen Sprachraum gegenüber den Varianten des Standarddeutschen 3.1 Methodisches Vorgehen zur Erhebung der Einstellungen gegenüber den Varianten Vorstudien zum Plurizentrizitäts-Bewusstsein mit kleinen Gruppen von Versuchspersonen gibt es von Ammon (1995, 436 – 447) und Scharloth (2005 und 2006). Ich selbst habe vom Dezember 2004 bis Februar 2006 mittels eines Internetfragebogens Daten zum Gebrauch und zur Einschätzung nationaler und regionaler Varianten des Standarddeutschen von Sprechern und Sprecherinnen aus dem ganzen deutschen Sprachraum gesammelt. Zudem habe ich überprüft, wie gut die Befragten die Varianten geographisch einordnen können. Insgesamt haben 908 Personen aus allen Regionen des deutschen Sprachgebiets auf 88 Fragen geantwortet, wovon 68 Fragen auf linguistische Variablen und 20 Fragen auf soziale und demographische Variablen abzielten. Mithilfe dieses Fragebogens sollten Erkenntnisse zur Varietätenkompetenz und zu den individuellen Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher gewonnen werden, dies auch in Abhängigkeit ausgewählter sozio-demographischer Grössen. Dazu gehörte z. B. die regionale Herkunft der Gewährspersonen (fortan GP). Die Herkunft der deutschen GP wurde in sechs Regionen eingeteilt: D-südwest, D-südost, D-nordwest, Dnordost, D-mittelwest und D-mittelost.¹⁷ Bei den GP aus Österreich waren es vier Regionen: A-west, A-südost, A-ost und A-mitte. Die Einteilung in sechs deutsche und vier österreichische Subregionen verläuft grossräumiger als die Einteilung in Dialektregionen (vgl. Wiesinger 1983, Ammon 1995, 14– 17), liegt letzteren aber teilweise zugrunde. Sie entstand im Laufe längerer Fachdiskussionen mit den Mitarbeitern und Informanten aus allen Regionen Deutschlands und Österreichs zur Frage, welche grösseren geographischen Kommunikationsräume mit ähnlichem Gebrauchsstandard es gibt.¹⁸ Es wird also mit Einteilungen gearbeitet, deren Existenz empirisch noch nicht ganz abgesichert ist. Im Hinblick auf die lexiko-
Beispielsweise werden unter D-mittelost folgende Gebiete gefasst: Thüringen, Sachsen und Teile von Sachsen Anhalt. Für die Aufschlüsselung der übrigen Angaben s. Schmidlin (2011, VIII) bzw. Ammon et al. (2004, XVIII f). Diese Einteilung folgt der Klassifikation der Varianten nach Geltungsarealen, die im VWB (Ammon et al. 2004) verwendet wurden.
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graphische Markierung der standardsprachlichen Varianten ist man jedoch auf die Zusammenfassung von Geltungsarealen angewiesen. So wurde diese Unterteilung denn mangels einer Alternative gewählt. Bei den GP aus der Deutschschweiz verzichtete ich auf eine weitere Unterteilung in Subregionen, da die regionale Variation innerhalb des Schweizerhochdeutschen vernachlässigbar ist,¹⁹ insbesondere wenn die lexikalische Variation im Vordergrund steht.²⁰ Folgende Variablen zu Kenntnis und Gebrauch von Varianten des Standarddeutschen und zur Einstellung gegenüber diesen Varianten wurden erhoben: Loyalität gegenüber den Eigenvarianten; Kenntnis und Gebrauch der Eigen- und Fremdvarianten; Einschätzung der Normebene von Varianten; Fähigkeit, Varianten regional und national zu verorten. Mit dem Fragebogen sollen drei Komponenten abgedeckt werden, die in der Sozialpsychologie als konstitutiv für Einstellungen erachtet werden, nämlich die kognitive, affektive und konative Komponente. Die Reihenfolge bei der Nennung dieser Einstellungskomponenten ist nicht willkürlich. Verarbeitet werden Einstellungen über das Denken und Fühlen. Die Konsequenzen von Einstellungen zeigen sich im Handeln. Während die kognitive Komponente von Spracheinstellungen die Wahrnehmung bestimmter Phänomene betrifft, betrifft die affektive Komponente die Bewertung dieser Phänomene. Die konative Komponente schliesslich betrifft die Tendenz, auf eine bestimmte Art zu handeln, die sich aufgrund der kognitiven und affektiven Einstellungskomponenten erwarten lässt. Übertragen auf den in der hier referierten Studie verwendeten Fragebogen heisst dies, dass die Fragen zu Kenntnis und Gebrauch von Varianten sowie ihrer regionalen Zuordnung auf die kognitive Komponente der Spracheinstellungen abzielten. Die Fragen zur Einschätzung von Varianten hinsichtlich ihrer standardsprachlichen Geltung zielten auf die affektive Komponente der Spracheinstellung ab. Die Beobachtungen zur Variantenloyalität in konkreten Sprachgebrauchsbeispielen fokussierten auf konative Komponenten, also auf die Konsequenzen, welche die Einstellungen für das Handeln, in unserem Falle für das sprachliche Handeln, haben. Indem die Gewährspersonen Sätze vervollständigen müssen, geben sie zumindest einen Hinweis darauf, wie sie in einer gegebenen Situation sprachlich handeln würden. Für die Messung der Variantenloyalität wurden die GP dazu aufgefordert, aus einer Reihe von Varianten, deren standardsprachliche Geltung von der Lexikographie hinreichend bestätigt worden ist, diejenige(n) auszuwählen, die ihnen zur
Dies im Gegensatz zu den Deutschschweizer Mundarten, die sehr kleinräumig variieren. Vgl. aber Siebenhaar (1994) zum Einfluss von Dialekten auf die Aussprache des Schweizerhochdeutschen.
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Ergänzung von vorgegebenen Sätzen spontan am naheliegendsten erscheint bzw. erscheinen. Die Frage lautete dabei: „Mit welchem Wort würden Sie folgende Sätze in der Standardsprache spontan am ehesten ergänzen?“ Mehrfachnennungen und die Ergänzung der Auswahl durch andere Wörter waren möglich. Beispielsweise mussten die GP folgenden Satz ergänzen: „Er stolperte und bemerkte, dass seine ??? offen waren.“ Zur Auswahl standen Schuhbänder, Schuhbändel, Schnürsenkel, Schuhlitzen und Schuhriemen. Mit der Loyalität gegenüber den eigenen lexikalischen Varianten sollte erhoben werden, ob und wie stark sich die GP zu ihrer Varietätengemeinschaft zugehörig fühlen.²¹ Um die Antworten statistisch auszuwerten, wurde der Wert 1 gesetzt, wenn die GP ausschliesslich Varianten von anderen Regionen als ihrer Herkunftsregion wählte – aus der süddeutschen, österreichischen und schweizerischen Perspektive handelt es sich bei einer solchen Wahl meistens um nord-/mitteldeutsche Varianten oder Teutonismen. Wenn die GP sowohl die Variante(n) aus ihrer Herkunftsregion als auch Varianten aus anderen Regionen wählte, wurde der Wert 2 gesetzt.Wenn die GP nur die Varianten aus ihrer Herkunftsregion einsetzte, wurde der Wert 3 und damit der höchste Loyalitätswert gesetzt.
3.2 Ergebnisse zu den Einstellungen gegenüber den Varianten 3.2.1 Variantenloyalität Ob die GP eine Eigenvariante wählen oder abwählen, ist abhängig von ihrer regionalen Herkunft (p < 0.01). Die höchsten Loyalitätswerte weisen GP aus dem nördlichen und mittleren Deutschland auf. Dies ist primär darauf zurückzuführen, dass es für die norddeutschen GP, die in einer weitgehend entdiglossierten Zone leben und in der Regel nicht mehr als eine Variante in ihrem mentalen Lexikon zur Verfügung haben, gar nicht zu einem Loyalitätskonflikt kommen kann. Allerdings weisen auch die GP aus D-südwest und D-südost signifikant höhere Loyalitätswerte auf als die Schweizer GP (für beide Vergleichsgruppen p < 0.01). Die GP aus D-südwest trauen also bspw. der Variante Schuhbändel, welche lexikographisch für beide Regionen ausgewiesen ist, eine höhere standardsprachliche Geltung zu als es die Schweizer GP tun; diese wählen stattdessen Schnürsenkel. Entsprechend halten die GP aus der Schweiz Vorfahrt für angemessener für die Ergänzung des Beispielsatzes „Das rote Auto kommt von rechts und hat daher ???“ als Vortritt,
Der Begriff Variantenloyalität ist in der bisherigen Forschung noch nicht belegt, eine Ausnahme bilden die Arbeiten zur Dialektloyalität von Werlen et al. (2002).
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auch wenn Vortritt in der Deutschschweiz zweifellos das normale Wort ist für die Bedeutung ‚Recht, an einer Kreuzung oder Einmündung vor einem anderen herankommenden Fahrzeug durchzufahren’ (VWB 2004, 853). Insgesamt haben Schweizer GP signifikant tiefere Loyalitätswerte als GP aus D-südwest und A-west. Dass diese drei Regionen gleichermassen zum alemannischen Sprachgebiet gehören und, wenn auch mit gewissen Unterschieden, Sprachsituationen mit einem Nebeneinander von Dialekt und Standardsprache aufweisen, scheint bei der Einschätzung der Standardvarianten keine Rolle zu spielen. Die typologischdialektale Verwandtschaft führt nicht zu einem ähnlichen Normverhalten. Es ist stattdessen die Landesgrenze, die als Variantenloyalitätsgrenze sichtbar wird. Ein kurzer Blick auf soziodemographische Variablen zeigt, dass tiefe Loyalitätswerte, die mit Skepsis gegenüber der Standardsprachlichkeit der Eigenvarianten interpretiert werden können, oft bei GP mit weiblichem Geschlecht (p < 0.01) und jüngerem Alter (r = – 0.14, p < 0.01) vorkommen. Dass sich Frauen eher einer intendierten Norm bedienen als Männer, ist eine alte Erkenntnis der Soziolinguistik. Zudem wählen diejenigen Schweizer GP mehr Fremdvarianten (v. a. Varianten aus D-nord/mittel), die ihre Standardkompetenz als hoch einschätzen²² und die Standardsprache gemäss Selbstaussage regelmässig sprechen.²³ Hingegen korreliert für alle GP gesamthaft ein hoher Bildungsstand mit hohen Loyalitätsmittelwerten (r = 0.13, p < 0.01). Je gebildeter die GP sind, desto eher wählen sie die Eigenvarianten.
3.2.2 Kenntnis und Gebrauch von Varianten In einem nächsten Fragenblock hatten die GP anzugeben, wie gut sie exemplarische Varianten aus allen deutschen Sprachregionen kennen und ob sie sie selber verwenden. Beispielsweise wurden sie gefragt, ob ihnen der Austriazismus einlangen ‚ankommen, eingehen, eintreffen (bes. von Postsendungen, Nachrichten)’ (VWB 2004, 205) unbekannt ist, oder ob sie ihn schon gehört oder gelesen haben, aber die Bedeutung nicht genau kennen, oder ob sie ihn kennen und verstehen,
Es gibt bei den Schweizer GP zwischen der Selbsteinschätzung der mündlichen Standardkompetenz und den Loyalitätsmittelwerten sowie zwischen der Selbsteinschätzung der schriftlichen Standardkompetenz und den Loyalitätsmittelwerten schwach negative Korrelationen (r = – 0.12, p < 0.01 bzw. r = – 0.09, p < 0.01). Es gibt bei den Schweizer GP zwischen der Standardgebrauchsfrequenz und den Loyalitätsmittelwerten eine negative Korrelation (r = – 0.10, p < 0.05).
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ohne ihn selber zu verwenden, oder ob sie ihn kennen und verwenden.²⁴ Es zeigt sich, dass die Herkunft der GP einen signifikanten Effekt auf die Kenntnis- und Gebrauchswerte von Varianten hat (p < 0.01). So kennen GP aus den nördlichen, weitgehend entdiglossierten Regionen, wo die Begegnung mit Varianten vergleichsweise selten sein dürfte, am wenigsten Varianten. Am meisten Varianten kennen (und verwenden) GP aus der diglossischen Schweiz. Zwischen diesen beiden Polen liegen die Werte der GP aus den Regionen mit Standard-DialektKontinuum. Die Werte beziehen sich auf die abgefragten Varianten insgesamt. Nimmt man die Varianten aus den unmittelbar angrenzenden Regionen in den Blick, so zeigt sich, dass diese nicht besser gekannt und allenfalls verwendet werden als areal entferntere Varianten. Die Variante aufklauben ‚etw. vom Boden aufheben; aufsammeln’ (VWB 2004, 60) mit Geltungsareal Österreich und Süddeutschland und der spezifische Austriazismus einlangen ‚ankommen, eingehen, eintreffen (bes. von Postsendungen, Nachrichten)’ (VWB 2004, 205) sind den Schweizer GP trotz grösserer geographischer Nähe nicht bekannter, als sie es den GP aus Nord- und Mitteldeutschland sind. Nicht einmal die GP aus Südostdeutschland geben für den spezifischen Austriazismus einlangen höhere Kenntnis- und Gebrauchswerte an als die GP aus den anderen Regionen Deutschlands! Die strukturierende Wirkung der Landesgrenze auf die kognitive Repräsentation der Variation zeigt sich an diesem Befund erneut.
3.2.3 Einschätzung von Varianten hinsichtlich ihrer Standardsprachlichkeit Aufschlussreich sind die Resultate zur Einschätzung der Standardsprachlichkeit der Varianten. Diese wurde auf einer vierstufigen Skala zwischen Dialektalität und Standardsprachlichkeit erhoben.²⁵ Es zeigt sich, dass die normative Gültigkeit der plurizentrischen Varianten generell als schwach eingeschätzt wird, dies, obwohl die im Fragebogen vorgelegten Varianten lexikographisch gesehen unmarkierter Standard sind. Keine Variante erzielt durchwegs den Durchschnittswert 4 (= „standardsprachlich“). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Korrelation zwischen den Werten für Kenntnis und Gebrauch der Varianten und ihrer standardsprachlichen Einschätzung (r = 0.34, p < 0.01). Je besser eine Variante
Die Antworten wurden folgendermassen quantifiziert: „unbekannt“ = Kenntnis- und Gebrauchswert 1, „schon gehört oder gelesen, Bedeutung aber unklar“ = Kenntnis- und Gebrauchswert 2, „kenne und verstehe ich, verwende es selbst nicht“ = Kenntnis- und Gebrauchswert 3, „kenne ich und verwende es selbst“ = Kenntnis- und Gebrauchswert 4. „dialektal“ = 1, „eher dialektal“ = 2, „eher standardsprachlich“ = 3, „standardsprachlich“ = 4.
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bekannt ist, umso eher wird sie als standardsprachlich eingeschätzt, mit anderen Worten: Bei Varianten, die ihnen weniger bekannt sind, neigen die GP eher dazu, sie als nicht-standardsprachlich bzw. als dialektal abzuqualifizieren. Wieder zeigt sich die Landesgrenze bei den deutschen GP im Vergleich zu Dialektgrenzen als wirksamer; die deutschen GP urteilen trotz der Heterogenität von Dialekt-Standard-Konstellationen innerhalb Deutschlands in Bezug auf die Einstellung gegenüber Standardvarianten recht homogen. Sie schätzen die sechs erfragten Varianten,vor allem die Varianten mit Geltungsareal Österreich, Schweiz und Süddeutschland, als dialektaler ein als GP aus der Schweiz und aus Österreich (p < 0.01, gerechnet mit und ohne Varianten aus nord/mittel).²⁶ Die tiefe Einschätzung des standardsprachlichen Status nationaler und regionaler Varianten scheint also eine Art kognitiver Teutonismus zu sein. Am wenigsten Skepsis gegenüber der standardsprachlichen Geltung von Varianten legen österreichische GP an den Tag – insbesondere die GP aus Südost- und Mittelösterreich.²⁷ Auch die hohen Werte der österreichischen GP ändern aber nichts an der Tatsache, dass Austriazismen und Helvetismen absolut gesehen zwischen „dialektal“ und höchstens „eher standardsprachlich“ eingeschätzt werden. Beispielsweise schätzen deutsche GP den lexikographisch als standardsprachlich verankerten Helvetismus besammeln ²⁸ mit einem Wert um 1.5 zwischen „dialektal“ und „eher dialektal“ ein. Auch aus der Eigenperspektive wird dem Helvetismus besammeln die Standardsprachlichkeit nicht zugestanden; die Schweizer GP schätzen ihn mit einem Wert von 2.96 lediglich als knapp „eher standardsprachlich“ ein.²⁹ Varianten aus Deutschland kommen in Bezug auf die Einschätzung der standardsprachlichen Geltung ungleich besser weg als Austriazismen und Helvetismen. Beispielsweise wird der Teutonismus Klassenfahrt ‚von der Schule für Schüler
Ihre tiefe Einschätzung der Standardsprachlichkeit von Varianten hält die süddeutschen GP jedoch nicht etwa davon ab, Varianten dennoch zu verwenden – vgl. die weiter oben erwähnten Loyalitätswerte der süddeutschen GP. Die grössere Variantenakzeptanz bei österreichischen GP ist gerade im Kontrast mit der schweizerischen Variantenskepsis bemerkenswert. Die österreichische Varietät des Hochdeutschen scheint über höheres sprachliches Identifikationspotenzial zu verfügen als das Schweizerhochdeutsche in der Schweiz, wo die sprachliche Identifikation eher auf den Mundarten beruht denn auf dem zwar gern als Schriftsprache verwendeten, aber von vielen ungern gesprochenen Standarddeutschen. 1. ‚zusammentreffen’ 2. (selten) ‚(eine Gruppe von Menschen) dazu auffordern, sich an einem Ort einzufinden’) (VWB 2004, 105) Der Helvetismus speditiv ‚effizient, zügig’ (VWB 2004, 730) wird von österreichischen GP in seiner Standardsprachlichkeit sogar höher eingeschätzt als von den Schweizer GP selbst.
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(innen) organisierte Kurzreise’ (VWB 2004, 409) von allen befragten GP in seiner standardsprachlichen Geltung als hoch eingeschätzt.³⁰
3.2.4 Geographische und soziale Verortung der geschriebenen und gesprochenen Standardnorm Aus der unterschiedlichen Einschätzung der Standardsprachlichkeit nördlicher und südlicher Varianten des Standarddeutschen kann unschwer die weit verbreitete Überzeugung abgeleitet werden, dass die Standardsprache geographisch lokalisiert werden könne – eine Überzeugung, die seit langem mit dem linguistischen Common-Sense der Nicht-Lokalisierbarkeit des sprachlichen Standards im Widerstreit liegt. Dies ergaben auch die beiden offenen Fragen am Schluss des Fragebogens. In offener Frageform wurden die GP aufgefordert, die gesprochene und geschriebene Standardsprache geographisch und sozial zu verorten. Sie wurden gefragt, wo und von wem das beste Hochdeutsch gesprochen und geschrieben werde. „Der Norden Deutschlands“ und „Deutschland insgesamt“ sowie „Frage unbeantwortbar“ (oder ähnliche Formulierungen) besetzen die drei am häufigsten genannten Antworten. In Bezug auf die gesprochene Standardsprache ist „Norddeutschland“ die häufigste Nennung, in Bezug auf die geschriebene Standardsprache ist es „Frage unbeantwortbar“. Aber immer noch 25 % der GP aus Österreich, 42 % der GP aus der Schweiz und 55 % der GP aus Deutschland sehen das beste geschriebene Hochdeutsch in Deutschland, Norddeutschland oder Mitteldeutschland. Die am meisten verbreitete Auffassung über die Varietäten des Deutschen entspricht also eindeutig dem monozentrischen Modell, wonach es eine einzige, geographisch lokalisierbare Standardnorm gibt, von welcher (südliche) Varietäten abweichen. Jedoch gibt es unterschiedliche Antworten auf diese offenen Fragen in Abhängigkeit von der Herkunft der GP. Die Antwort „unbeantwortbar“, sowohl in geographischer als auch sozialer Hinsicht – aus plurizentrischer Perspektive die einzig mögliche Antwort –, ist öfters bei GP aus Österreich als bei GP aus der Schweiz und aus Deutschland zu finden. Dieser Befund kann als Normskepsis interpretiert werden, die in Österreich weiter verbreitet scheint als in der Schweiz und in Deutschland. Die beste gesprochensprachliche Kompetenz vermuten die GP bei Medienschaffenden und Gebildeten. GP aus Deutschland sehen die beste Kompetenz stärker bei Gebildeten als GP aus
Der tiefste Durchschnittswert für die Einschätzung der Standardsprachlichkeit liegt bei 3.13. Dies ist der Wert, den GP aus Ostösterreich der Variante Klassenfahrt zuordnen. Er liegt zwischen den Kategorien „eher standardsprachlich“ und „standardsprachlich“.
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Österreich und der Schweiz. Gerade GP aus der Schweiz vermuten die beste Kompetenz bei Medienschaffenden, betrachten das gute Sprechen also als berufliche Qualifikation. Diese Einschätzung ist bezogen auf die schriftliche Standardkompetenz nicht nur bei den GP aus der Schweiz, sondern bei allen GP zu beobachten. Die schriftliche Standardkompetenz wird insgesamt eher als Frage der beruflichen Spezialisierung (Medienschaffende, Lehrpersonen, Schriftsteller) gesehen denn als Frage der Bildung.
4 Fazit und Ausblick in Bezug auf das Schweizerhochdeutsche Obwohl die Verwendung standardsprachlicher Varianten in öffentlichen Texten empirisch nachgewiesen werden kann, bleiben eine monozentrische Standardideologie (zum Begriff Standardideologie vgl. Joseph 1987, Milroy/Milroy 1991, Cameron 1995, Haarmann 1997) und damit die Vorstellung der geographischen Lokalisierbarkeit der so genannt besten Hochsprache in den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher weiterhin bestehen. Dies manifestiert sich in der Skepsis in Bezug auf die standardsprachliche Geltung von Varianten des Standarddeutschen. Nicht nur die häufige Rezeption, sondern auch der eigene Gebrauch von Varianten führt offenbar nicht zu einer höheren Variantenakzeptanz in der Standardsprache. Das linguistisch-lexikographische Konzept der Plurizentrik von Standardsprachen ist im deutschen Sprachraum in den Köpfen der Sprecherinnen und Sprecher nicht angekommen. Zur Standardideologie gehört die Auffassung, dass die Einheitlichkeit einer Sprache der Normalzustand sei und sprachliche Variation der Ausnahmezustand bzw. ein Überbleibsel aus einer früheren Zeit. Nach dieser Auffassung kommt sprachliche Variation dadurch zustande, dass die Benutzer der Sprache zu wenig sorgfältig, zu wenig gebildet, zu faul und zu wenig tugendhaft seien (vgl. Cameron 1995, 40). Zur ideologischen Sicht auf die Standardsprache gehört auch die Auffassung, dass nur die völlige Einheitlichkeit einer Sprache eine reibungslose Kommunikation ermögliche und dass sprachliche Unterschiede ein kultureller Makel seien und unnötige Kosten und Energie bedeuten. In Bezug auf die geringe Akzeptanz von Helvetismen sehe ich folgende mögliche drei Gründe: Erstens werden im Schreib- und Lesealltag Wörterbücher wenig zur Kenntnis genommen, selbst von Lehrerinnen und Lehrern. Man beruft sich eher auf subsistente als auf explizite Normen. Dadurch kann sich die Kenntnis über Varianten des Deutschen und ihre lexikographisch verbürgte standardsprachliche Geltung zu wenig verbreiten. Vielen Schweizerinnen und Schweizern
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ist zudem unbekannt, dass es auch in Deutschland Varianten gibt. Insbesondere an Schulen gilt es, hier Aufklärungsarbeit zu leisten. Zweitens: Hinter der schlechten Einschätzung von Helvetismen könnte sich eine unsichere Einschätzung verbergen; im Zweifelsfall wählt man Varianten im Standardsprachgebrauch lieber ab, von denen man fürchtet, es handle sich um Helvetismen³¹. Dies wiederum dürfte damit zusammenhängen, dass in der Schweiz so viel Gedrucktes aus Deutschland gelesen wird, dass es dadurch im mentalen Lexikon der Sprecherinnen und Sprecher zu Synonymen kommt, die im Zuge der Standardideologie vertikalisiert werden, d. h. auf eine höhere Hierarchiestufe der Standardsprachlichkeit gesetzt werden. Drittens: In der Deutschschweiz wird die gesprochene Standardsprache von vielen Sprecherinnen und Sprechern als Importsprache empfunden. Dieser Eindruck dürfte früher vor allem durch die Verbreitung der nördlich geprägten Bühnensprache, später der gesprochenen Sprache der Massenmedien geprägt worden sein. Dabei wird verkannt, dass die Schweizer Standardsprache selbst aus einer längeren Tradition heraus entstanden ist. In der Deutschschweiz ist die Entwicklung hin zu sprachlichen Eigenheiten bereits in der frühen Neuzeit in Ansätzen fassbar, also etwa in der Zeit, als sich die Schweiz vom Deutschen Reich politisch zu lösen begann. Gleichzeitig hat der oberdeutsche Raum bspw. durch die zahlreichen Buchdruckereien einen eigenen Beitrag zur Herausbildung der gesamtdeutschen Standardsprache geleistet. Die Sprachgeschichte und damit die Geschichte der Standardisierung des Deutschen ist allerdings nicht Teil des allgemeinen Sprachbewusstseins.
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Aus Laiensicht wird der Begriff Helvetismus denn auch häufig nicht für eine standardsprachliche Schweizer Variante, sondern in der Bedeutung eines fehlerhaften Dialektalismus verwendet.
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Karina Schneider-Wiejowski
Zur Überarbeitung des Variantenwörterbuches am Beispiel der Teutonismen Abstract: Das 2004 erschienene Variantenwörterbuch des Deutschen wird derzeit an drei Arbeitsstellen – Duisburg, Basel und Wien – neu bearbeitet, denn aufgrund von Zeitknappheit konnten u. a. die Varianten der Viertelzentren des Deutschen in der Erstauflage aus dem Jahre 2004 nicht aufgenommen werden; dies wird nun nachgeholt. Doch nicht nur an dieser Stelle sind Lücken zu schließen, denn auch die Binnendifferenzierung Deutschlands wurde 2004 nur schemenhaft erfasst. In diesem Aufsatz sollen Anmerkungen zur Überarbeitung des Variantenwörterbuches am Beispiel der deutschländischen Varianten gemacht werden. Dabei sollte vor allem deutlich werden, dass Entscheidungen zur Standardsprachlichkeit von nationalen Varianten des Deutschen nicht aufgrund eines „Schwarz-Weiß-Schemas“ getroffen werden können und eine Vielzahl an Kriterien zu berücksichtigen ist. Keywords: Variantenwörterbuch, Standardsprache, Lexik, Varietät, Variante, Teutonismus, Korpuslinguistik, Vollzentren des Deutschen, soziales Kräftefeld einer Standardvarietät
1 Einleitung Auf der Welt existieren 6000 – 7000 Sprachen, aber nur 10 % von ihnen gelten als gut beschrieben (Haspelmath 2009). Sicherlich lässt sich sagen, dass die deutsche Sprache, was ihre Beschreibung der Grammatik und der Lexik anbelangt, als besonders gut dokumentiert gilt. Aus diesem Grund ist es immer wieder erstaunlich und faszinierend zugleich, dass sich trotz zahlreicher Publikationen und wissenschaftlicher Erkenntnisse zur deutschen Sprache stetig unbeantwortete Fragestellungen aufwerfen und neue Forschungsthemen ableiten lassen. Die nationalen Varianten der deutschen Sprache in Deutschland, die erstmalig im Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) kodifiziert wurden, gehören zu den bislang noch wenig erforschten Themengebieten der gegenwärtigen germanistischen Linguistik. Um sie soll es in dem hier vorliegenden Aufsatz gehen, indem Anmerkungen zur Neubearbeitung und Erweiterung des Varianten-
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wörterbuches¹, kurz VWB, am Beispiel der Teutonismen (deutschländische Varianten des Deutschen), gemacht werden. Der Thematisierung von nationalen Varianten des Deutschen geht eine plurizentrische Sicht der deutschen Sprache voraus. Von einer plurizentrischen Sprache wird genau dann gesprochen, wenn sie in mehr als nur einem Land als Amtssprache gebräuchlich ist und sich zudem standardsprachliche Unterschiede in den einzelnen Zentren auffinden lassen. Die Abgrenzung zwischen standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Formen ist ein schwieriges Unterfangen und kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.² Im Hinblick auf Fragen zu Standardvarietäten empfiehlt es sich allerdings uneingeschränkt, den normorientierten Zugang aus Ammon (1995a) anzunehmen, da bei Setzung von Normen nationalstaatliche Gebundenheiten der sozialen Kräfte eine Rolle spielen können. Wie Abb. 1 zu entnehmen ist, geht Ammon von vier Kräften – Normautoritäten, Kodifizierern³/Kodizes, Modellsprecher und -schreiber und Sprachexperten – aus. Standardvarietäten sind – im Gegensatz zu Nonstandardvarietäten⁴ – kodifiziert, sodass „ihre Formen in Wörterbüchern […] oder Regelbüchern […] beschrieben und veröffentlicht sind“ (Ammon 1995a, 74).⁵ Lehrer – die Normautoritäten – sind berechtigt,Varianten zu korrigieren, die durch Markierungen in den Kodizes als nonstandardsprachlich gekennzeichnet sind oder aber aus ihrer Sicht nicht der eigenen nationalen Varietät angehören. Das Korrekturverhalten der Lehrer wird dabei wiederum durch übergeordnete Instanzen wie z. B. Schulräte und Erlasse des Kultusministeriums gelenkt. Bei den Sprachexperten handelt es sich um professionelle Sprachwissenschaftler, die nicht mit den Kodifizierern gleichzusetzen sind. Sie beurteilen die Kodizes aus fachlicher Sicht; ihre Urteile können zu Veränderungen bei Neuauflagen führen. Auch die Modellsprecher und -schreiber spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Setzung und der Bekräftigung von Standardvarietäten, denn an ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Texten –
An dieser Stelle möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken, die – zusammen mit den Organisationen FWF und SNF – die Bearbeitung des Variantenwörterbuches unterstützt. Vgl. bspw. Schmidlin (2011, Kap. 3.1). Obwohl aus Gründen der Lesbarkeit im Text die männliche Form gewählt wurde, beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter. Werden Nonstandard-Formen aufgenommen, so sind sie dementsprechend markiert, bspw. als umgangs- oder jugendsprachlich. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ein Kodex auch Nonstandard-Formen beinhalten kann, die allerdings in der Regel aber auch als solche markiert sind. So z. B. markiert der Duden das Wort rattenscharf als ‚salopp‘ und gleichzeitig als ‚jugendsprachlich‘: http:// www.duden.de/rechtschreibung/rattenscharf (08.10. 2012).
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Abb. 1: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät nach Ammon (1995a, 80)
den Modelltexten – orientieren sich sowohl die Kodifizierer als auch die Sprachexperten und Normautoritäten. Deshalb verwundert es nicht, dass die Wirkungsrichtungen der einzelnen Instanzen als wechselseitig beschrieben werden: „Bei genauerer Betrachtung findet man Rückkoppelungsprozesse zwischen allen hier unterschiedenen Komponenten des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät. Die Normautoritäten berufen sich unter Umständen auch auf die Sprachexperten, so wie diese zur Rechtfertigung ihrer Auffassungen umgekehrt auf die Normautoritäten verweisen können.“ (Ammon 1995a, 79)
Auch von Bedeutung ist der Sprachgebrauch der Bevölkerungsmehrheit, wenngleich sich diesbezüglich unterschiedliche Meinungen gegenüber stehen: Ulrich Ammon ist der Meinung, dass sich der Sprachgebrauch der Bevölkerungsmehrheit nur indirekt auf die Standardnorm auswirkt, während Markus Hundt die Bevölkerungsmehrheit als Norminstanz betrachtet und ihr deshalb wesentlich mehr Gewicht zuspricht (vgl. Hundt 2009). Der Frage nach der Relevanz der Bevölkerungsmehrheit kann allerdings an dieser Stelle nicht beantwortet werden, auch ist sie für die Bearbeitung des Variantenwörterbuches nicht ausschlaggebend. Den-
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noch möchte ich anmerken, dass ich die Beantwortung dieser Frage als dringliches Desiderat bewerte.⁶ Nationale Varianten können auf unterschiedlichen Ebenen auftreten, z. B. auf der phonologischen, der lexikalischen und der grammatischen. Eine sprachliche Variante ist genau dann als nationale Variante zu bezeichnen, wenn sie in mindestens einem Zentrum einer Sprache standardsprachlich gebraucht wird und in mindestens einem Zentrum keine standardsprachliche Geltung besitzt, denn gilt eine sprachliche Form in allen Zentren der deutschen Sprache als Standard, so ist sie als gemeindeutsch zu bezeichnen. Bezüglich der Zentren lassen sich Vollzentren, Halbzentren und Viertelzentren voneinander unterscheiden; zudem ließe sich eventuell auch über Achtelzentren von Sprachen nachdenken. Vollzentren zeichnen sich dadurch aus, dass die standardsprachlichen Besonderheiten in eigenen Kodizes festgehalten und autorisiert sind. Sowohl für Deutschland, Österreich als auch die deutschsprachige Schweiz trifft dieses uneingeschränkt zu. Fehlen die eigenständigen Kodizes, so spricht man von einem Halbzentrum der jeweiligen Sprache: Für Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol ist dies deshalb die richtige Bezeichnung. Von Viertelzentren einer Sprache lässt sich sprechen, wenn die Sprache in diesen Zentren keinen Status als Amtssprache besitzt und zudem keine Kodifizierung vorliegt, aber dennoch Modelltexte und Sprachnormautoritäten existieren. Beispiele für Viertelzentren des Deutschen sind Rumänien und Namibia. Über Achtelzentren fehlt bislang jegliche wissenschaftliche Debatte; als erste Annahme könnte man angeben, dass in Achtelzentren lediglich Modelltexte und -sprecher existieren und die anderen Kräfte des sozialen Kräftefelds einer Standardvarietät nach Ammon (1995a) fehlen. Wie bereits beschrieben, soll in diesem Aufsatz die Erweiterung und Überarbeitung des Variantenwörterbuches thematisiert werden. Das Projekt, das mit seinen Arbeitsstellen in Basel (CH),Wien (A) und Duisburg (D) trinational ausgerichtet ist, kooperiert mit weiteren Experten in anderen Ländern. Die Erstauflage des Variantenwörterbuches brachte neue Einsichten in die arealen Differenzierungsprozesse von Standardsprachen und veranschaulichte die Sprachbesonderheiten des Deutschen ausgewogen. Für die zweite Auflage des Variantenwörterbuches werden die bereits bestehenden Wörterbucheinträge gründlich überarbeitet und neue hinzugefügt. Die Überarbeitung versteht sich dabei nicht nur als Erweiterung des dokumentierten Wortschatzes und als Kodifizierung nationaler Varianten aus den Viertelzentren, sondern auch als Modifizierung der bereits bestehenden Wörterbuchartikel. In dem hier vorliegenden Aufsatz soll am Beispiel von spezifischen
Vgl. dazu auch den Beitrag von Dovalil in diesem Band.
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Teutonismen (vgl. dazu Ammon 1995a) beschrieben werden, welche Überlegungen im Zuge der Erarbeitung angestellt werden müssen. Sprechen wir über Teutonismen, so müssen nachfolgend einige grundlegende Erklärungen zum Terminus an sich und zur Definition von nationalen Varianten im Allgemeinen getätigt werden; dies geschieht im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes. Im dritten Abschnitt wird es konkret um die Frage gehen, wie die Überarbeitung und Präzisierung der Teutonismus-Artikel realisiert werden soll. Daran anschließen wird sich eine Diskussion an konkreten Beispiel-Lemmata.
2 Teutonismen als nationale Varianten des Deutschen im Variantenwörterbuch 2.1 Nationale Varianten Ammon (1995a) stellt eine Typologie nationaler Varianten auf, die allerdings an dieser Stelle nur kurz angerissen werden kann. Er schlägt vor, zunächst zwischen „kodifizierten“ und „nicht-kodifizierten“ Varianten zu unterscheiden; Letztere nennt er „Varianten des Gebauchsstandards“.⁷ Eine weitere Unterscheidung betrifft die „Geltung“ und „Bekanntheit“ von nationalen Varianten: Während der Teutonismus Sahne sowohl in Österreich wie auch der Schweiz gut bekannt ist, sagt man dort in der Regel Rahm. Etwas anderes kann im Falle des norddeutschen Wortes Feudel (für ‚Putzlappen‘) beobachtet werden: Dieser Teutonismus ist in der Regel in Österreich und in der Schweiz auch nicht bekannt; dass er dort folglich keine Geltung besitzt, versteht sich von selbst. Neben „situationsunabhängigen“ und „situationsabhängigen“ Varianten, die die dritte Unterscheidung betreffen, und „austauschbaren“ versus „nicht austauschbaren“ Varianten, die als vierte Differenzierung genannt werden, lassen sich auch „Varianten einer Teilregion“ und „Varianten einer Gesamtregion“ voneinander unterscheiden: Während das Wort Abitur in ganz Deutschland seine Geltung besitzt, so ist dies bei Harke nicht der Fall, denn nur in Norddeutschland wird Harke gesagt; in Süddeutschland sagt man Rechen. Eine grundlegende Differenzierung jedoch betrifft die Unterscheidung von sogenannten „spezifischen“ und „unspezifischen“ Varianten: Eine nationale Variante ist eine spezifische Variante eines Zentrums, wenn sie nur in diesem
Als Beispiel wird an dieser Stelle frikative Aussprache von auslautendem geschriebenem g, also als [ς], auch in anderen Positionen als in unbetonter Silbe nach kurzem [I], z. B. in Wörtern wie weg, Tag, Teig aufgeführt.
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standardsprachliche Geltung hat und sie ist als unspezifisch zu bezeichnen, wenn sie auch in anderen Zentren standardsprachliche Geltung hat. Letztere lassen sich wiederum einteilen in unspezifische Varianten, deren Geltung a) in einer Gesamtregion des eigenen Zentrums und einer Gesamtregion eines anderen Zentrum, b) in einer Gesamtregion des eigenen Zentrums und einer Teilregion eines anderen Zentrums, c) in einer Teilregion des eigenen Zentrums und einer Gesamtregion eines anderen Zentrums und d) in einer Teilregion des eigenen Zentrums und einer Teilregion eines anderen Zentrums greift. In dem hier vorliegenden Aufsatz soll der Fokus auf den spezifischen Varianten des Deutschen in Deutschland, demnach den spezifischen Teutonismen, liegen. Im Variantenwörterbuch aus dem Jahre 2004 befinden sich ca. 900 spezifische Teutonismen, die im Zuge der Neubearbeitung und Erweiterung des Wörterbuches überprüft werden müssen.
2.2 Zum Begriff Teutonismus Der Terminus Teutonismus, welcher durch Löffler (1985) und Ammon (1994) eingeführt worden ist, wurde nicht von allen Sprachwissenschaftlern wohlwollend aufgenommen. Insbesondere von Polenz (1996) kritisierte den Begriff u. a. deshalb, weil für ihn die Nähe zum Ausdruck Teutone Spott erwecke. Er regte in besonderem Maße an, auf einen Einwort-Terminus zu verzichten und lediglich mit einer Umschreibung wie nationale Variante Deutschlands zu arbeiten. Diesen Vorschlag halte ich deshalb für problembeladen (vgl. SchneiderWiejowski/Ammon 2013), da die terminologische Analogie zu den bereits etablierten Termini Austriazismus und Helvetismus dadurch nicht mehr gegeben ist und es durchaus möglich wäre, dass der Verzicht auf den Einwort-Terminus als Dominanzanspruch missverstanden werden kann. Des Weiteren möchte ich für den Terminus Teutonismus – und damit gegen andere Varianten wie Germani(zi) smus oder Deutschlandismus (von Polenz 1999, 120) – argumentieren, da Germani (zi)smus eine zu weite Extension besitzt und zudem, gleichwohl wie es auch für Deutschlandismus gilt, nicht sinnvoll eingesetzt werden kann, wenn unspezifische Varianten begrifflich benannt werden sollen: Während Benennungen wie Austro-Teutonismen oder Helveto-Teutonismen sinnvoll erscheinen, dürfen Deutschland(ismus)-Austriazismen oder -Helvetismen oder Germa(nismus)-Aus-
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triazismen und -Helvetismen als „höchst mißverständliche Ausdrücke“ (Ammon 1999, 388) bezeichnet werden. Als letztes möchte ich das folgende Argument aufführen: Ein Indiz dafür, dass die Bedeutung des Adjektivs teutonisch oder des Substantivs Teutone nicht in vollem Umfang in mit demselben Basislexem (teuton) gebildete Ableitungen oder Zusammensetzungen einfließt, zeigt sich in gegenwärtigen Wortbildungen des Deutschen: So z. B. werden mit dem Ausdruck Teutonia oder Teutona, die sich teilweise als Markennamen verstehen, Kinderwagen⁸, Hotels⁹ oder Schlepperzubehör¹⁰ benannt. Auch ein Gebäude des Goethe-Instituts in Istanbul trägt die Aufschrift Teutonia. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Werbeindustrie Produkte absichtlich abwertet, indem Marken- oder Produktnamen mit besonders vielen negativen Konnotationen verwendet werden.
2.3 Kodifizierung von Teutonismen Bis zum Erscheinen des Variantenwörterbuches im Jahre 2004 wurden Teutonismen nicht als solche kodifiziert¹¹; die Absicht, eine umfassende Übersicht über die Plurizentrik des Deutschen zu geben, begann mit Ammons Werk Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. In einem Aufsatz zum Thema, der ebenfalls aus dem Jahre 1995 stammt, beschreibt Ammon „die Einseitigkeit der Dudenbände“ und regt, ausgehend von folgenden Fakten, zur Diskussion an: „Die Dudenredaktion sieht sich einerseits im ‚Dienst der Sprachkultur‘ und will ‚dazu beitragen, daß die deutsche Standardsprache nicht in Varianten zerflattert‘ […]. Andererseits möchte sie ‚die deutsche Sprache in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und im gesamten deutschen Sprachraum (…) dokumentieren‘. (Duden 1991, S.12 f.). Diese beiden Zielsetzungen sind nicht ohne weiteres zu vereinbaren und lassen sich auf unterschiedliche Weise ausbalancieren.“ (Ammon 1995b, 1)
Vielschichtigkeit lässt sich genau dann dokumentieren, wenn die Existenz von nationalen Varianten anerkannt wird. Ulrich Ammon macht zu Recht darauf aufmerksam, dass im Duden des Jahres 1991 Helvetismen und Austriazismen als solche gekennzeichnet wurden, die Etikettierung von Teutonismen allerdings Vgl. http://www.babyonlineshop.de/kinderwagen/Teutonia-Kinderwagen-Shop/ (23.12. 2012). Vgl. http://www.teutonia-hotel.de/. http://www.teutona.net/. Vgl. Schmidlin (2011), die zu dieser Thematik einen umfassenden Überblick gibt.
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fehle. Zwar werden Ausdrücke als ‚südd.‘, ‚nordostd.‘, ‚nordwestd.‘, ‚südwestd.‘ und dergleichen markiert, eine Markierung im Sinne von spezifischen und unspezifischen Teutonismen suche man allerdings vergebens. Wäre der Duden nur in Deutschland – und nicht auch in der Schweiz und in Österreich – im Gebrauch, so könnte man annehmen, dass die Nicht-Markierung von Teutonismen keine besonderen Schwierigkeiten mit sich brächte. Dies jedoch ist nicht der Fall: „Die Nicht-Markierung der Teutonismen in den Dudenbänden wäre weniger problematisch, wenn sie nur in Deutschland als Nachschlagewerke benutzt würden oder auf ihre eingeschränkte Verwendbarkeit in Österreich und der Schweiz ausdrücklich hingewiesen wäre. Beides ist nicht der Fall, in der Schweiz ist der Rechtschreibduden sogar amtliches Nachschlagewerk, und in Österreich ist er – trotz fehlender Amtlichkeit – weithin in Gebrauch. Österreich und die Schweiz verfügen selber über keinerlei Nachschlagewerke ähnlichen Umfangs, nicht einmal für die Rechtschreibung, erst recht bleibt den Österreichern und Schweizern bei sonstigen Sprachfragen nichts anderes übrig, als sich der vielfältigen sprachlichen Nachschlagewerke aus Deutschland zu bedienen, von denen diejenigen des Dudenverlags sicher die wichtigsten sind.“ (ebd., 2)
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem Variantenwörterbuch des Deutschen um das erste Wörterbuch, das der Konzeption von plurizentrischen Sprachen gerecht wird.¹² Es ist glattalphabetisch angeordnet und zudem gleichzeitig semasiologisch aufgebaut. Die Mikrostruktur der Artikel im VWB ist komplex: Das Stichwort wird mit Betonungsangabe – realisiert durch einen Unterstrich – und seinem Geltungsareal angegeben. Wie Abb. 2 verdeutlicht, handelt es sich beim Stichwort Abitur demnach um einen spezifischen Teutonismus, da der Ausdruck Abitur nur in Deutschland (D) und nicht in den anderen Zentren gilt. Die Verweise auf die anderen Varianten in den weiteren Zentren werden mit einem Pfeil symbolisiert (Matura, Reifeprüfung etc.). Sind Stil- (‚salopp‘, ‚derb‘, …) oder Altersangaben (‚veraltend‘, …) vonnöten, so stehen sie in einer Klammer hinter dem Lemma; in Falle des Lemmas Abitur findet sich eine besondere Angabe, nämlich jene, dass der Plural ungebräuchlich ist. Nach jeder Bedeutungserklärung (hier: ‚Prüfung oder Schulabschluss zur Erlangung der Hochschulreife; allgemeine Hochschulreife‘) folgt ein Belegsatz, der in der Regel aus Modelltexten im Sinne Ammons stammt. Am Schluss folgen Ableitungen und Komposita, die besonders häufig auftreten. Des Weiteren ist es möglich, dass regionale Spezifizierungen angegeben werden, wie dies in Abb. 3 der Fall ist. Abb. 3 zeigt den VWB-Artikel zum Ausdruck Aprikose. Bei diesem Ausdruck handelt es sich um eine unspezifische nationale Variante, weil sie so-
Zur Struktur solcher Sprachen vgl. u. a. Clyne (1992) und Ammon (1995a).
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Abb. 2: VWB-Artikel zum Lemma Abitur
Abb. 3: VWB-Artikel zum Lemma Aprikose
wohl in der Schweiz wie auch in Deutschland, nicht aber in Österreich gebräuchlich ist; in Österreich heißt die Frucht Marille. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ableitung Aprikosenwähe, zu welcher angegeben wird, dass sie sowohl in der Schweiz wie auch im Südwesten Deutschlands als standardsprachlich gilt. Damit gilt sie in anderen Regionen Deutschlands nicht als standardsprachlich. Areale Verbreitungen werden mit Bindestrich an die Länderkennung angehängt; sie sind zudem auch kombinierbar (z. B. D-süd/D-mittel). Während Deutschland auf der Ebene der Dialekte geografisch sehr vielfältig strukturiert ist, lassen sich auf der Ebene der Standardsprache sechs große Regionen voneinander abgrenzen, zwischen denen Unterschiede in der Aussprache,
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der Grammatik und dem Wortschatz bestehen¹³: D-nordwest, D-nordost, D-mittelwest, D-mittelost, D-südwest und D-südost. Im Variantenwörterbuch aus dem Jahre 2004 befinden sich bereits viele regionale Markierungen. Sie konnten in der Regel anhand von Urteilen zahlreicher Regionalexperten getroffen und durch Korpusanalysen gestützt werden (vgl. Bickel 2006). Im Zuge der Neubearbeitung des Wörterbuches werden die bestehenden regionalen Zuordnungen der Artikel einer erneuten gründlichen Prüfung unterzogen. Dies ist deshalb notwendig, da der Wortschatz einer Sprache ein offenes System ist, das aufgrund wechselnder kommunikativer Anforderungen der Sprachgemeinschaft ständigen Veränderungen unterliegt: Wörter können aussterben, neu entstehen, sich aus semantischer Sicht wandeln, ebenso kann sich ihr Gebrauchsareal verändern. Im VWB existiert überdies eine Kategorie von Einträgen, die sich „Grenzfall des Standards“ nennt. Ohne detailliert darauf eingehen zu können, handelt es sich – kurz gesagt – um Wörter, die dem Dialekt oder der Umgangssprache zuzuordnen sind, aber „öfter auch in Standardtexten vorkommen“ (VWB/Ammon et al. 2004, XII). Es versteht sich von selbst, dass insbesondere Einträge mit der Markierung „Grenzfall des Standards“ eine besonders gründliche (empirische) Überprüfung benötigen.¹⁴ Zwischen dem Erscheinen der ersten Auflage und der zweiten Auflage des Variantenwörterbuches wird vermutlich ein Jahrzehnt liegen. Weil die Lexik einer Sprache – im Gegensatz zu bspw. phonetischen oder syntaktischen Gegebenheiten – schnell wandelbar ist (Nübling et al. 2006, 2), ist es durchaus empfehlenswert, Wörterbücher stetig zu überprüfen und zu überarbeiten, um Aktualität gewährleisten zu können. Im Falle der Lemmata im Variantenwörterbuch muss es vordergründig zu einer Überprüfung hinsichtlich folgender Angaben kommen: a) die Berechtigung, weiterhin als Variante im VWB existieren zu dürfen, b) ihre Regionalmarkierung und c) ihre Stilmarkierung. Die Berechtigung, als Variante klassifiziert zu werden, entfällt z. B. dann, wenn sie als veraltet bewertet oder im Laufe der Zeit als gemeindeutsch eingestuft wird. Aus Platzmangel wird darauf im Verlauf dieses Textes allerdings nicht eingegangen werden. Überlegungen zur Bearbeitung der Regional- und Stilmarkierungen hingegen folgen in den nächsten Abschnitten. Vgl. Abb. 4 im Anhang. Es ist schließlich nicht auszuschließen, dass Ausdrücke, die womöglich im Jahre 2004 als Grenzfall des Standards klassifiziert worden sind, mittlerweile unmarkierte Varianten darstellen, sodass die oben genannte Etikettierung an diesen Stellen nunmehr entfällt.
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3 Überarbeitung der Teutonismen-Lemmata Die Überprüfung und Neubearbeitung der Lemmata im Variantenwörterbuch erfolgt anhand quantitativer und qualitativer Untersuchungen und soll in diesem Kapitel vorgestellt werden.
3.1 Experten-Befragungen Wie in Abb. 1 dargestellt wurde, stellen Sprachexperten eine wichtige Instanz bei der Setzung von Normen dar, indem sie qualitative Urteile abgeben. Dass es – unabhängig davon – in vielen wissenschaftlichen Disziplinen sinnvoll erscheint, qualitative und quantitative Methoden im Zusammenspiel zu betrachten, ist nicht neu. Auch in den sprachwissenschaftlichen Disziplinen werden – insbesondere seit Nutzung digitaler Korpora – qualitative Aussagen durch quantitative Erhebungen überprüft und gegebenenfalls revidiert oder präzisiert. Dies erweist sich deshalb als sinnvoll, weil bis zu Beginn der korpusgestützten Forschung oftmals nur deskriptive Aussagen zu sprachlichen Phänomenen vorlagen, die schlichtweg auf Intuitionen von Wissenschaftlern beruhten (Schneider-Wiejowski 2011). Nun könnte man meinen, dass menschliche Aussagen und Urteile über Sprachstrukturen – in Zeiten der Korpuslinguistik – nicht mehr notwendig sind, weil jegliche Fragen empirisch überprüft werden können. Doch eine rein quantitative Analyse ist nicht in jedem Falle als problemlos zu bezeichnen (Kap. 3.2). Betrachten wir kurz die Möglichkeit, Wörter und Phraseologismen durch menschliche Aussagen überprüfen zu lassen, denn von dieser Möglichkeit wird im Zuge der Neubearbeitung des Variantenwörterbuches Gebrauch gemacht, indem regionale Sprachexperten zur Beurteilung der Lemmata herangezogen werden: Bei den Regionalexperten¹⁵ handelt es sich in einigen Fällen um dieselben Personen, die bereits an der ersten Auflage des Variantenwörterbuches mitgearbeitet haben, andere sind neu hinzugekommen. Um die bereits bestehenden Artikel zu überprüfen, wurden alle Regionalexperten gebeten, die spezifischen Teutonismen auf ihre Standardsprachlichkeit hin zu beurteilen und gegebenenfalls Varianten anzugeben, von welchen sie glauben, dass sie anstatt dessen oder ergänzend dazu als standardsprachliche Varianten in der jeweiligen Region gelten. Des Weiteren wurde ihnen angeraten, in Zweifelsfällen weitere Experten zurate zu ziehen und die von ihnen ausgewählten Personen namentlich zu benennen.
Die Namen der Regionalexpertinnen und -experten aller Zentren können der Projekt-Webseite http://vwb.germa.unibas.ch/ entnommen werden.
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3.2 Korpusanalysen als quantitativer Zugang Per definitionem ist ein Korpus „eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen“ (Lemnitzer und Zinsmeister 2006, 7). Korpusanalysen haben insbesondere im letzten Jahrzehnt Einzug in die sprachwissenschaftliche Forschung genommen. Idealerweise sind die Korpusdaten digitalisiert und über eine (benutzerfreundliche) Schnittstelle abrufbar. Als größte deutsche digitale Textsammlungen gelten derzeit (für das Gegenwartsdeutsche) die Korpora des Instituts der deutschen Sprache (IdS), die über COSMAS¹⁶ zugänglich sind, und das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, kurz DWDS¹⁷. Im Zuge der Überarbeitung des Variantenwörterbuches können beide Textarchive genutzt werden. Hinzu kommt zum einen die Möglichkeit, die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Datenbank „wiso-net“, in meinem Text als WISO¹⁸ bezeichnet, zu nutzen, da über diese Datenbank ein Zugriff auf über 116 Millionen (tagesaktuelle) Medien (Stand: 23.12. 2012) möglich gemacht wird, und zum anderen die Nutzung von Online-Portalen einzelner Medien, da die meisten großen regionalen und überregionalen Zeitungen über eine Homepage verfügen, auf der ihre Artikel kostenlos durchsuchbar sind. Die Korpusanalysen werden sich, unabhängig davon, welche der Korpora (im weiteren Verlauf) genutzt werden, vordergründig auf gedruckte Pressetexte (im Sinne der Modelltexte nach Ammon) beschränken. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieses Sammelbandes wurde insbesondere die Presse-Datenbank in WISO genutzt¹⁹, was allerdings nicht ausschließt, dass auch das DWDS und die Korpora des IdS Mannheims im weiteren Verlauf als Datenbasis verwendet werden. Im Zuge der Neubearbeitung lässt sich sicherlich eine Vielzahl an Fragen aufwerfen, doch eine zentrale lautet: Wie können die digitalen Textarchive sinnvoll genutzt werden, um das VWB zu erweitern und zu modifizieren? Man könnte annehmen, dass der Erhebung von Frequenzen und ihr Vergleich mit Schwellenwerten die entscheidende Rolle im Sinne der Aufnahme, Nicht-Aufnahme oder gar Entfernung von Lemmata zukommt. Dies jedoch ist nicht der Fall: Die Beurteilung von Wörtern nur anhand von Schwellenwerten²⁰ kann proble-
Corpus Search, Management and Analysis System; abrufbar unter http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/; (24.12. 2012). Abrufbar unter http://www.dwds.de/project/ (23.12. 2012). Vgl. http://www.wiso-net.de (23.12. 2012). Vgl. dazu auch den Beitrag von Bickel/Hofer in diesem Band. Die Neubearbeitung des größten deutschen Wörterbuches (Grimm) (http://dwb.uni-trier.de/ Projekte/WBB2009/DWB/wbgui_py?lemid=GA00001) nimmt in aller Regel nur diejenigen Wör-
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matisch sein, da im Falle von (recht hohen) Schwellenwerten Gefahr besteht, dass zahlreiche Wörter herausfallen könnten, deren Gebrauchshäufigkeit in Zeitungstexten eher gering ist, obwohl der standardsprachliche Status uneingeschränkt gegeben ist.
4 Diskussion an Beispielen Diskutieren wir nun vier spezifische Teutonismen aus dem Variantenwörterbuch 2004: Tanke, Böller, Bringdienst und Heckmeck. Alle spezifischen Teutonismen wurden unseren Regionalexperten, wie bereits beschrieben, zur Überprüfung ihrer Standardsprachlichkeit vorgelegt. Nehmen wir als erstes das Lemma Tanke, das im VWB als Kurzform zum Wort Tankstelle aufgeführt und mit den Etiketten ‚salopp‘ und ‚Grenzfall des Standards‘ versehen wird. Geht man von dem Vier-Instanzen-Modell von Ammon aus, so kann es lohnenswert sein, zunächst die Instanz Kodizes zur Beurteilung zu nutzen. Im Online-Portal des Dudens²¹ taucht das Lemma Tanke unmarkiert auf, sodass diese Instanz diesen Ausdruck als standardsprachlich einstuft. Im Rechtschreibduden aus dem Jahre 2009 wird der Ausdruck als ‚umgangssprachlich‘ (ugs.) markiert. Wie Tab. 1 am Ende dieses Teilkapitels verdeutlicht, sind bis zur Endredaktion dieses Artikels noch nicht alle Regionalurteile eingegangen. Die gegenwärtige Beurteilung deutet darauf hin, dass das Lemma in bestimmten Regionen, Dnordwest und D-südost, als nonstandardsprachlich eingestuft werden muss. Die Überprüfung von 900 spezifischen Teutonismen durch eine repräsentative Anzahl an Normautoritäten wie z. B. Lehrer ist aus zeitlichen Gründen schwierig zu realisieren, aber das Überprüfen von Teutonismen in Modelltexten hingegen möglich. Eine Methode besteht darin, nach Belegen in überregionalen und gegebenenfalls auch regionalen Zeitungen zu suchen und neben Frequenzen auch eine qualitative Betrachtungsweise an den Tag zu legen. Bei reinen Frequenzerhebungen ist nicht auszuschließen, dass sich unter den Belegen einige finden lassen, die nicht als Indiz zur Bestätigung der Standardsprachlichkeit herangezogen werden können. Das ist u. a. dann der Fall, wenn ein Ausdruck z. B. in direkter oder indirekter Rede verwendet wird oder in einem Fließtext durch typografische oder orthografische Mittel (bspw. Kursivschrift oder Anführungszeichen) kenntlich gemacht wird.
ter auf, die in mindestens zehnfacher Ausführung vorhanden sind, viele Wörter auch erst bei dreißigfacher Belegung (Schneider-Wiejowski 2011, 99). Vgl. www.duden.de (23.12. 2012).
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Eine Suche in den Online-Portalen der Zeitungen DIE ZEIT und Süddeutsche Zeitung ²² und der Zeitschrift DER SPIEGEL nach dem Wort Tanke führt zu folgendem Ergebnis: In der Zeit²³ wird das Wort Tanke nur selten gefunden, und wenn, dann ist es in ein Zitat eingebettet²⁴ oder erscheint in einer Textform wie z. B. einem Blog-Eintrag oder einem Beitrag zum Thema „Politischer Witz“²⁵,welche ich nicht zu den Modelltexten im Sinne Ammons zähle. In eine verwandte Richtung weist auch der Befund aus der SZ Online: Zwar werden einzelne Belege angegeben, doch treten diese vordergründig in Texten auf, deren Modellcharakter nicht zweifelsohne vorhanden ist. Eine veränderte Sicht der Dinge bezüglich des Gebrauches des Wortes Tanke findet sich jedoch im Spiegel, denn hier stoßen wir auf Belege, in welchen das Wort unmarkiert auftaucht: 1a) Wohnungssuche, WG-Alltag, Vorlesungsirrsinn, Flirt im Freibad, Jobben an der Tanke – all das beschreiben Wittich und seine großartigen Darsteller mit leichter Hand. (Spiegel, 14.12. 2009) 1b) Es verfährt sich hingegen leicht, wer auf Landmarken achtet: rechts beim Bäcker, dann links an der Tanke. (Spiegel, 26.02. 2008) Wie bereits oben angedeutet, bietet die Datenbank WISO aufgrund ihrer großen Datenbasis sehr gute Recherchemöglichkeiten. Am 23.12. 2012 zeigt die Suche in über 116 Millionen Presseartikeln, dass 88 % aller Belege in deutschen, nur 2 % aller Belege in schweizerischen und 9 % in österreichischen Medien auftauchen, sodass die Etikettierung als Teutonismen sehr wahrscheinlich weiterhin bestehen bleiben wird.²⁶ Ob ein Stehsatz am Ende des Wörterbuchartikels darauf hinweisen wird, dass Tanke in A und/oder CH (immerhin) selten verwendet wird, wird noch zu beurteilen sein. Auf einem vergangenen Projekttreffen wurde
Der Großteil der nachfolgend präsentierten Belege aus den oben zitierten Medien wurde im Oktober 2012 erfasst. Im nachfolgenden Text wird der Name Süddeutsche Zeitung als SZ abgekürzt. Um die Lesbarkeit dieses Textes zu verbessern, verwende ich im Folgenden auch flektierte Formen der Zeitungs- und Zeitschriftennamen, die ich zudem kleinschreibe und zudem auf die Artikel verzichte. Z. B. in folgendem: „Da fuhr gerade ein Kleinlaster mit ’ner Ladung zur Tanke!“ (01.03. 2012, 10). „Der Eigenheim-Kredit, das biedere Eigenheim selber, der Präsident als Grundstücksverpächter für eine Tanke in Westerkappeln, die Mailbox-Wutattacke, es wirkt alles so kleinkariert, eines Großen nicht würdig.“ (Zeit, 05.01. 2012) Zur Erklärung: Die Normalverteilung eines gemeindeutschen Wortes entspricht der Verteilung der Textmenge innerhalb des Korpus: A: 10.5 % CH: 3.5 % D: 73.5 %. Wenn die Prozentzahl der Belegverteilung in einem Zentrum diesen Wert erreicht oder übersteigt, soll das Wort für das entsprechende Zentrum als Variante in Betracht gezogen und weiter geprüft werden. Zur Systematik und Methodik eines solchen Vorgehens siehe auch Bickel (2006).
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beschlossen, dass es sinnvoll ist, für eine Aufnahme von Lemmata zu plädieren, wenn sich jeweils bestimmte Frequenzen in WISO finden lassen: 50 Belege für CH, 150 für A und 1000 für D. Die Suche in WISO am 23.12. 2012 zeigt, dass die 1000erGrenze für Deutschland in hohem Maße überschritten wird: Gelistet werden über 5000 Belege, von welchen allerdings nach Überschlagen einer Vielzahl an Treffern etwa 1/3 von ihnen nicht dazugezählt werden dürfen, da es sich dabei um Belege für die flektierte Verbform („ich tanke“) handelt. Bezüglich einer Bewertung als Standard, Grenzfall des Standard oder gar Nonstandard empfiehlt es sich, 100 (aus unserer Sicht) brauchbare Belege en détail zu betrachten²⁷: In 11 von 100 Belegen wird das Lemma Tanke durch Anführungsstriche markiert. Doch was genau bedeutet es, wenn ein Ausdruck zu etwa einem Zehntel markiert auftaucht? Was bedeutet es, wenn vielleicht die Hälfte aller Belege betroffen ist? Fragen, die im Laufe des Projektes endgültig geklärt werden müssen. Vorläufig möchte ich dafür plädieren, dass insbesondere dann Vorsicht geboten ist, wenn ein Ausdruck in mindestens einem Drittel der Fälle markiert auftaucht. In solchen Fällen ist die Standardsprachlichkeit durch weitere Kriterien zu überprüfen und zunächst in Frage zu stellen. Betrachten wir nun ein zweites Beispiel: Böller. Nach Angaben im VWB (2004) handelt es sich um ein Lemma, das in der Bedeutung ‚[zur Jahreswende gezündeter] Feuerwerkskörper, Knallkörper‘ nur in Deutschland als nationale Variante gebräuchlich und dabei in allen deutschen Regionen bis auf den Südosten als standardsprachlich zu bezeichnen ist.Weder im VWB noch im Duden (Online und Rechtschreibduden 2009) finden sich Hinweise darauf, dass die Standardsprachlichkeit eingeschränkt sein könnte. Drei von vier Regionalexperten gaben an, dass es sich um ein standardsprachliches Lemma handelt; lediglich für Dnordwest gilt dies nicht. Die Recherche in der Zeit, dem Spiegel und der SZ führt zu folgendem Ergebnis: Für die gemeindeutsche Variante lassen sich in allen drei Medien zahlreiche Belege finden, z. B. 2a) Bengalische Feuer vernebelten das Frankenstadion, Böller explodierten. (SZ, 22.09. 2012) Belege für Böller als nationale Variante des Deutschen zu ermitteln, ist zeitaufwendig, da die Suche stark eingrenzt werden muss. In dem Zeitraum vom 27.12. 2011 bis zum 08.01. 2012, in welchem Belege dieser Art vermutet werden können,
Mit „brauchbar“ meine ich in diesem Falle, dass tanke als flektierte Verbform ebenso aus den 100 zu beurteilenden Belegen herausfällt wie z. B. der homonyme Namen Tanke, der z. B. in „Detlef Tanke“ gefunden worden ist.
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findet sich in der Zeit kein einziger Beleg dazu. Anders sieht es in der SZ aus. Hier findet man mehrere Belege für Böller in der nationalen Variante, u. a.: 2b) Landeskriminalamt warnt vor Silvester wieder vor illegalen Böllern aus Polen, Auch im Spiegel wird man fündig: 2c) Die Stadt hat unter Strafe verboten, Raketen und Böller abzubrennen. (Spiegel, 30.12. 2011) Eine auf Tage beschränkte Suche ist auch in WISO möglich; für den oben genannten Zeitraum werden am 23.12. 2012 707 Belege gefunden. Nach Ausschluss von homonymen Namen und gemeindeutschen Bedeutungen zeigt die Betrachtung von 100 Belegen, dass 10 von 90 Belegen eine Markierung durch Anführungsstriche erhält. Als weiteres zur Diskussion stehendes Beispiel möchte ich Bringdienst aufführen. Das Lemma wird im VWB (2004) mit der Erklärung ‚Dienst zur [regelmäßigen] Belieferung von Haushalten mit Waren‘ versehen. In der Version aus dem Jahre 2004 sind keine Hinweise auf regionale Beschränkungen zu finden. Bei detaillierter Untersuchung des Lemmas ist zunächst interessant, dass der Duden das Lemma (sowohl online wie auch gedruckt) nicht aufführt (Abruf vom 23.12. 2012). Die Regionalexperten urteilen wie folgt: In der Region D-nordwest herrscht Uneinigkeit bezüglich der Standardsprachlichkeit; für die anderen Regionen wird Standardsprachlichkeit angenommen. Wie auch für die bereits aufgeführten und diskutierten Beispiele Tanke und Böller kann auch im Falle des Wortes Bringdienst eine Analyse im Sinne des Gebrauchs in Modelltexten erfolgen. Die Untersuchung in der Zeit, der SZ und dem Spiegel ergibt an dieser Stelle, dass in allen Medien einschlägige Belege zu finden sind, z. B.: 3a) In den Hausfluren werden heute vor allem Flyer von Pizza-Bringdiensten und Umzugsfirmen ausgelegt […]. (Zeit, 16.04. 2011) 3b) Das Ziel des Teams um Dirk Wollherr und Kolja Kühnlenz ist, dass in Zukunft Automaten bestimmte Hol- oder Bringdienste erledigen können. (SZ, 09.08. 2010) 3c) Viele Versicherer haben spezielle Senioren-Unfallversicherungen im Programm, die Hilfeleistungen wie Einkauf, Putzen oder einen Mahlzeiten-Bringdienst enthalten. (Spiegel, 13.05. 2009) Die WISO-Suche zeigt, dass der Ausdruck nur in einem einzigen von 100 Belegen markiert wird; der Ausdruck Bringdienst steht dabei nicht alleine dar, sondern ist in eine Wortbildung integriert: „Nach-Hause-Bringdienst“ (Rheinische Post vom 14.08. 2012). Nimmt man an, dass die Markierung aufgrund der Komplexität und Kreativität der Wortbildung veranlasst worden ist, kommen wir hier zu dem eindeutigen Wert von 100 % an Unmarkiertheit.
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Nehmen wir noch ein viertes Beispiel hinzu: Heckmeck. Der Ausdruck Heckmeck soll nach Ausführungen im VWB in ganz Deutschland bis auf die mittelöstliche Region geltend sein und wird zudem als ‚abwertend‘ und ‚Grenzfall des Standards‘ gelistet. Der Online-Duden führt einen unmarkierten Artikel zu Heckmeck und listet interessanterweise über 30 Synonyme auf ²⁸; im Rechtschreibduden hingegen wird der Ausdruck als ‚umgangssprachlich‘ geführt. Zunächst können wir uns erneut auf die Urteile der Regionalexperten berufen, die Heckmeck fast alle als standardsprachlich einstufen; nur für die Region D-nordwest kann kein einheitliches Urteil gefällt werden. Entgegen der Angabe im VWB 2004 soll Heckmeck auch in D-mittelost als standardsprachlich gelten. Die überregionale Suche in den Modelltexten führt zu folgendem Ergebnis: Sowohl der Zeit wie auch in der SZ finden sich nur sehr wenige Belege für Heckmeck, von welchen der Großteil der Belege in direkter und indirekter Rede auftritt. Im Spiegel jedoch lassen sich allerdings auch Beispiele finden: 4a) Das ganze Seehofer-Heckmeck wirkte seltsam verdruckst und weit entfernt von jenem präpotenten Selbstbewusstsein, das Klatsch-Profi Sahner in seinen jungen Reporterjahren an anderen Politikern studieren konnte. (Spiegel, 28.09. 2009) 4b) Bauer gibt sich genervt von Wahl-Heckmeck und Korruptionsvorwürfen und sagt, er habe ‚gar keinen Bock mehr auf Asta-Arbeit‘ und die damit verbundenen Anfeindungen. (Unispiegel, 08.12. 2011) 4c) Wie auch immer das Heckmeck um YouTube ausgeht – für die Nutzer wird sich nicht viel ändern. (Spiegel, 07.08. 2007) Die Suche in der Datenbank WISO führt zunächst zu dem Ergebnis, dass – für die gesamte Bundesrepublik – 413 Belege gefunden werden. Da die 1000er-Grenze hier nicht überschritten wird, muss bei diesem Lemmata in besonderem Maße hingeschaut werden. Bei Analyse der ersten 100 Belege wird schnell deutlich, dass mehr als die Hälfte der Belege markiert auftaucht – sowohl in wörtlicher Rede als auch als eigen markiertes Wort. Um die Regionalzuordnung D-mittelost zu überprüfen, empfiehlt es sich, speziell in den Medien der Region D-mittelost zu suchen, die über WISO verfügbar sind: die Sächsische Zeitung, die Thüringer Allgemeine und die Thüringische Landeszeitung. Weil immerhin 77 Belege von 413 insgesamt in D-mittelost vorkommen, ist davon auszugehen, dass das Lemma auch dort gebräuchlich ist; diese Annahme deckt sich mit den Urteilen der Regionalexpertise. Betrachten wir nun alle vier Beispiele anhand von zwei zusammenfassenden Tabellen. Tab. 1 listet die Urteile aus den Regionen auf. In den meisten Fällen können klare Urteile abgeleitet werden, jedoch nicht in allen. Uneinigkeit unter
Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Heckmeck (08.10. 2012).
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mehreren Experten deutet tendenziell zunächst auf eine eingeschränkte Standardsprachlichkeit hin. Tab. 1: Urteile der Regionalexperten; √ = Standard, x = kein Standard, ? = Uneinigkeit unter Experten
Tanke Böller Bringdienst Heckmeck
D-nordwest
D-mittelost
D-südwest
D-südost
x x ? ?
√ √ √ √
√ √ √ √
x √ √ √
Gerade in solchen Fällen ist eine gründliche Korpusrecherche notwendig, die im Zuge der Überarbeitung des Variantenwörterbuches getätigt wird. Letztlich können im Falle aller Lemmata drei Parameter zur Beurteilung (Tab. 2) eingesetzt werden: das Vorhandensein in Kodizes und in ihnen sowohl mit oder ohne Markierungen, Expertenurteile und einige Ergebnisse aus den Korpusrecherchen. Tab. 2: Beurteilungsparameter Kodifizierung, Expertenmeinungen und Recherche in Modelltexten Kodifizierung: Duden-Online/ Rechtscheibduden Tanke
Standard/ Standard (ugs.) Böller Standard/ Standard Bringdienst n. kodifiert/ n. kodifiziert Heckmeck Standard/ Standard (ugs.)
Urteile der vier Experten zur Standardsprachlichkeit der Ausdrücke (Anzahl der Bejahungen der Standardsprachlichkeit im Nenner)
Markierte Verwendung in jeweils Belegen
/
/
/
/
?/
/
?/
/
Wie sich diese unterschiedlichen Ergebnisse in Einklang miteinander bringen lassen, ist Gegenstand der nachfolgenden – für diesen Moment abschließenden – Diskussion.
5 Diskussion Wie in den vergangenen Abschnitten deutlich geworden ist, ist das Überarbeiten der Wörterbuchartikel im Variantenwörterbuch des Deutschen kein leichtes Unterfangen: Wie so oft lassen sich sprachliche Konstruktionen in vielen Fällen nicht nach einem „Schwarz-Weiß-Schema“ ein- und zuordnen. Dies gilt auch für die im
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VWB geführten Lemmata. Die Beurteilung ihrer Standardsprachlichkeit erfolgt auf Grundlage verschiedener Instanzen: Die Kodifizierung im Duden (oder auch in anderen Kodizes) darf zur Beurteilung der Ausdrücke hinzugezogen werden, ebenso die Urteile der Sprachexperten. Des Weiteren ist es sinnvoll, Modelltexte nach Belegstellen abzusuchen und Frequenzen zu erheben. Theoretisch wären auch Urteile von Normautoritäten richtungsweisend; aus Zeit- und Kapazitätsgründen jedoch muss darauf verzichtet werden. Gegen Ende des Redaktionsschlusses dieses Artikels (Ende Januar 2012) konnte festgestellt werden, dass sich an allen drei Arbeitsstellen ein Punktesystem etabliert hat, nach welchem die jeweiligen Lemmata beurteilt werden können. Für Deutschland gilt Folgendes: Erreicht ein möglicher (neuer) Teutonismus den Schwellenwert von 1000 Belegen in Wiso, so erhält er 1 Punkt, im anderen Fall 0 Punkte. Als nächster Schritt ist die Stilebene hinzuzuziehen: Ein nach Ansicht der Projektmitarbeitenden ‚derber Ausdruck‘ erhält 0, ein ‚salopper‘ 1, ein ‚neutraler‘ 2 und ein ‚gehobener‘ Ausdruck 3 Punkte. Des Weiteren muss überlegt werden, ob Standard-Alternativen vorhanden sind, die häufig verwendet werden können oder nicht: Existieren häufig verwendete Standardalternativen, so erhält der Ausdruck 1, bei selten verwendeten oder nicht exakt synonymen Ausdrücken 2 Punkte und können keine Alternativen benannt werden, so erhält das Lemma 3 Punkte. Die Gesamtpunktzahl (1 Punkt = Löschkandidat, 2 Punkte = Löschkandidat/Grenzfall, 3 Punkte = Grenzfall, 4 Punkte = Grenzfall / unmarkierte Variante, ab 5 Punkte = unmarkierte Variante) entscheidet letztlich darüber, wie die weitere Untersuchung des Kandidaten aussieht. Ist es schwierig, zwischen einem Grenzfall und einer unmarkierten Variante zu unterscheiden, so können vor allem die Korpusbelege richtungsweisend sein, denn Grenzfälle treten des Öfteren in oder mit Markierungen auf. Selbstverständlich empfiehlt es sich uneingeschränkt, auch einen Blick in die Kodizes zu werfen, um dort verortete Markierungen in die Beurteilung mit einfließen zu lassen. Ferner werden auch die Urteile der Regionalexperten hinzugezogen: Bei einer Mehr- oder Vielzahl an Bestätigungen der Standardsprachlichkeit deutet dies auf darauf hin, dass es sich um ein unmarkiertes Lemma handelt. Ein wenig schwieriger ist die Entscheidung, ob ein Lemma als Grenzfall aufgenommen oder wieder verworfen wird. Auch hier muss eine ganzheitliche Analyse im Sinne der oben genannten Bewertungskriterien erfolgen.Weil sich das Variantenwörterbuch des Deutschen allerdings als Kodex der standardsprachlichen Varianten der deutschen Sprache versteht, geht die Tendenz dahin, die „2Punkte-Kandidaten“ nicht aufzunehmen, außer in jenem Falle, wenn sich diese Bewertung nicht mit den Urteilen der Regionalexperten in Einklang bringen und die Auswertung der Korpusbelege zudem vermuten lässt, dass es sich um einen unmarkierten Ausdruck handelt.
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Bevor sich dieser Aufsatz dem Ende neigt, möchte ich noch ein paar separate Anmerkungen zu den Regionalmarkierungen der Lemmata machen: Einerseits stehen uns die Urteile der Regionalexperten zur Verfügung, andererseits werden diese Art der Markierungen auch korpusgestützt untermauert werden. Die Aufnahme eines Kandidaten hängt u. a. von seiner Gebrauchshäufigkeit ab.Wir haben uns – wie bereits beschrieben – dazu entschieden, dass 1000 (verschiedene) Belege für ganz Deutschland für die Aufnahme eines Lemmas sprechen. Doch auch für die einzelnen Regionen Deutschlands können Schwellenwerte richtungsweisend sein. Zum Redaktionsschluss dieses Artikels standen die genauen Schwellenwerte für die einzelnen Regionen Deutschlands noch nicht endgültig fest; hinzu kommt, dass diese Werte ohnehin fortwährend eine Anpassung erfordern, sofern man in WISO arbeitet, da es sich um ein „Monitorkorpus“ (vgl. dazu Scherer 2006, 21) handelt, das stetig erweitert wird. Fakt jedoch ist, dass für die einzelnen Regionen unterschiedliche Schwellenwerte als Ausgangspunkt der Beurteilung dienen. Am 17.12. 2012 wurden folgende Schwellenwerte berechnet, die dafür sprechen, dass das jeweilige Lemma in den sechs Regionen gebräuchlich ist: D-mittelost (7.852.800 Artikel): 96 Belege; D-mittelwest (34.181.000 Artikel): 417 Belege; D-nordost (9.307.250 Artikel): 113 Belege; D-nordwest (5.032.200 Artikel): 61 Belege; D-südost (3.615.900 Artikel): 44 Belege und D-südwest (16.072.500 Artikel): 195 Belege. Die Korpusdaten zum regionalen Gebrauch werden – anhand aktualisierter Schwellenwerte – im Laufe des Frühjahrs 2013 erhoben und ausgewertet werden. Zu welchen Ergebnissen wir letztlich im Sinne der Neuauflage des Wörterbuches dabei kommen werden, wird mit der zweiten Auflage des Variantenwörterbuches öffentlich gemacht werden.
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Ammon, Ulrich/Bickel, Hans/Ebner, Jakob et al. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin/New York: de Gruyter. Bickel, Hans (2006): „Das Internet als linguistisches Korpus.“ In: Näf, Anton/Duffner, Rolf (Hgg.): Korpuslinguistik im Zeitalter der Textdatenbanken (= Linguistik online 28/3). 71 – 83. Clyne, Michael (1992): „German as a pluricentric language.“ In: Clyne, Michael (Hg.): Pluricentric Languages. Differing Norms in Different Nations. Berlin/New York: de Gruyter. 117 – 147. Dudenredaktion (Hg.) (2009): Duden 01. Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der neuen amtlichen Regeln. 25. Auflage. Band 1. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut (Dudenverlag). Haspelmath, Martin (2009): „The typological database of the World Atlas of Language Structures.“ In: Everaert, Martin/Musgrave, Simon (Hgg.): The use of databases in cross-linguistic studies. Berlin: de Gruyter (= Empirical Approaches to Language Typology 41). Hundt, Markus (2009): „Normverletzungen und neue Normen.“ In: Konopka, Marek/Strecker, Bruno (Hgg.): Deutsche Grammatik − Regeln, Normen, Sprachgebrauch. Berlin/New York: de Gruyter. 117 – 140. Lemnitzer, Lothar/Zinsmeister, Heike (2006): Korpuslinguistik: Eine Einführung. Tübingen: Narr. Löffler, Heinrich (1994) [1985]: Germanistische Soziolinguistik. 2., überarbeitete Auflage. Berlin: Schmidt (= Grundlagen der Germanistik 28). Nübling, Damaris/Dammel, Antje/Duke, Janet/Szczepaniak, Renata (2006): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen: Narr. Scherer, Carmen (2006): Einführung in die Korpuslinguistik. Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik. Band 2. Heidelberg: Winter. Schmidlin, Regula (2011): Die Vielfalt des Deutschen: Standard und Variation. Gebrauch, Einschätzung und Kodifizierung einer plurizentrischen Sprache. Berlin/New York: de Gruyter. Schneider-Wiejowski, Karina (2011): Produktivität in der deutschen Derivationsmorphologie. Bielefeld: Universitätsbibliothek Bielefeld. Dissertation. Schneider-Wiejowski, K. und Ammon, U. (2013): Deutschlandismen, Germani(zi)smus, Teutonismus. Wie sollen die spezifischen Sprachformen Deutschlands heißen? In: Muttersprache 1/2013. 48 – 65. von Polenz, Peter (1996): „Österreichisches, schweizerisches, deutschländisches und teutonisches Deutsch.“ In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 24. 205 – 220.
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Anhang
Abb. 4: Sprachgebiete Deutschlands, VWB (2004, XLIII)
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Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät als methodologischer Impuls für die Debatte über die Standardnormen Abstract: In diesem Aufsatz wird der für die Standard-Diskussion zentrale Normbegriff aus der integrierten Perspektive des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät von Ulrich Ammon und der Sprachmanagementtheorie analysiert. Im Vordergrund befinden sich dabei die Normgenese und das dynamische Wesen der Sprachnormen, die in der Indexikalität ihren Niederschlag finden. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten werden als Ausdruck von Interessen und Machtverhältnissen konkreter Akteure auf der Makro- und Mikroebene der metasprachlichen sozialen Prozesse interpretiert, in die der Sprachgebrauch eingebettet wird. Der dynamische Charakter der Sprachnormen lässt sich anhand einiger in Beziehung gesetzter Phasen der Sprachmanagementprozesse deutlich machen, die von Erwartungen ihrer Akteure abgeleitet werden. Keywords: Standardvarietät, Sprachmanagement, Norm, normative Erwartungen, kognitive Erwartungen, Akteure der Managementprozesse, soziale Kräfte, Macht, Makro- und Mikroebene
1 Anstelle einer Einleitung Die ersten Sätze wissenschaftlicher Beiträge beginnen mehr oder weniger regelmäßig mit einer Passage, in der die themenbezogenen Forschungsfragen erörtert und formuliert werden. Ich erlaube mir an dieser Stelle eine persönlichere Einleitung, die jedoch ihre sachliche Substanz keineswegs verlässt. Als ich in den Jahren 1999 und 2000 unter der Betreuung von Klaus Mattheier in Heidelberg meine Dissertation zu schreiben begann, habe ich zum ersten Mal von Ulrich Ammons sozialem Kräftefeld einer Standardvarietät gehört. Dieses Ereignis, zu dem es während eines Konsultationsgesprächs eben mit Klaus Mattheier gekommen ist, hat mein bereits vorhandenes Interesse am Phänomen der Standardsprachlichkeit bzw. der Sprachstandards nicht nur intensiviert, sondern vor allem meine damaligen Gedankengänge und Forschungsfragen weiter „soziologisiert“. Meine vorherigen Interessen hatten zwar schon immer eine normbezogene Komponente, zumal ich mir als Nichtmuttersprachler die Normen der deutschen Standardvarietät durch intensives Studium und weitere kommunikative Erfahrungen aneignete, aber meine Wahrnehmung der deutschen Grammatiken und Wörterbücher (tatsächlich im Plural – nicht einer Grammatik oder
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eines Wörterbuchs) war – zugegebenermaßen – eher strukturell als soziolinguistisch geprägt gewesen. Mit meinem Promotionsstudium, das für mich Prag und Heidelberg in zwei Phasen verknüpfte, begannen diejenigen Fragen zu überwiegen, in denen ihre soziale Relevanz viel deutlicher zum Ausdruck kam. Der Sprachgebrauch stellt einen unabdingbaren Bestandteil der von konkreten Akteuren mitgestalteten sozialen Prozesse, in denen sich erst herausstellt, welche Sprachmittel und -strukturen der Standardvarietät einer Einzelsprache angehören und welche nicht. Wenn die auf Standard zielenden Analysen adäquat bleiben wollen, dann sollten sie aus diesem metasprachlichen Umfeld nicht gerissen werden. Mein erstes Gespräch mit Ulrich Ammon im März 2000 auf der damaligen IDS-Tagung in Mannheim hat in mir diese stufenweise reifenden Tendenzen weiter bestärkt. Dadurch konnte ich die von Alena Šimečková und Jiří Doležal in Prag geschaffenen Grundlagen meiner linguistischen Forschungsinteressen um das Soziolinguistische erweitern, was ich nach meiner Rückkehr aus Heidelberg wiederum in Prag in der Forschungsgruppe von Jiří Nekvapil vertiefen konnte.¹
2 Das soziale Kräftefeld als Ausgangspunkt In diesem Beitrag unternehme ich einen Versuch, meine auf die Standardsprachlichkeit abzielenden Denkanstöße synthetisch darzubieten, in denen das soziale Kräftefeld einer Standardvarietät von Ulrich Ammon eine wichtige Rolle spielt – eine sehr wichtige, obgleich nicht die einzige. Der soziolinguistische oder vielleicht eher der soziologische Grundgedanke des Kräftefeldes spiegelt eine der wesentlichen Fragen wider, die in den Diskussionen über den Standard noch mehr erörtert werden sollten als bislang:Wer entscheidet über das, was der Standardvarietät angehört und was nicht mehr? Ulrich Ammons Antwort auf diese Frage – das soziale Kräftefeld – ist zu gut bekannt, als dass sie an dieser Stelle wiederholt werden müsste (vgl. Ammon 2003 und 2005). Bezeichnenderweise hat er selbst aber häufig auf verschiedenen Konferenzen (wie z. B. auf der IDS-Tagung im März 2004) oder bei anderen selbstständigen Vorträgen (z. B. im Mai 2007 an der KarlsUniversität in Prag) die Frage gestellt, welche weiteren Akteure sich an der Konstituierung der Standardvarietät beteiligen könnten. Das ist allerdings nur der erste Schritt, denn wenn es gelingt, konkrete Akteure zu identifizieren, stellt sich gleich die
Dieser Aufsatz ist mit der Unterstützung des internen Forschungsprojekts Das Sprachmanagement in Sprachsituationen der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag entstanden.
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Frage, wie genau dann solche Prozesse aussehen, in denen über die Standardsprachlichkeit entschieden wird. Soweit ich die Diskussion verfolgen konnte, hat Markus Hundt (2009) vor einigen Jahren einen Vorschlag eingebracht. Er kommentiert seinen Ausgangspunkt wie folgt: „Im Modell Ammons taucht der einfache Sprachproduzent, der Otto-Normalverbraucher der Sprache, nur als Umgebungsvariable auf. Die „Bevölkerungsmehrheit“ bettet die vier genannten Normfaktoren ein. Ich denke, dass der Sprachproduzent (zwar nicht als Individuum, aber qua wiederholter Nutzung neuer Sprachmuster) durchaus auch eine Norminstanz ist. Man könnte soweit gehen, im Sprachproduzenten den Souverän der Sprachnorm zu sehen.“ (Hundt 2009, 122)
Der Sprachsouverän ist hier konzeptuell wieder einmal um einiges abstrakter als Ammons soziale Kräfte. Ammon (1995, 73 ff. und noch ausführlicher 2003, 3– 8) bemüht sich nicht nur um die Identifizierung der einflussreichsten Akteure, sondern auch darum, die für die Standardnormgestaltung relevanten Verhaltensweisen möglichst konkret zu skizzieren. So kann jemand diskursiv Normautorität werden, wenn die Sprachbenutzer von einer solchen konkreten Person erwarten, dass sie (= die Normautorität) die Sprachproduktion anderer (= Sprachbenutzer) korrigieren wird bzw. darf. Genau dies ist eine der Explizierungen der nicht zu vernachlässigenden ungleichen Machtverhältnisse, die in den Interaktionen empirisch nachweisbar sind und die die gegenseitige Gewichtung der im Kräftefeld identifizierten Akteure zu präzisieren helfen (zu empirischen Beispielen vgl. Dovalil 2011). In diesem Zusammenhang stellen sich somit die Fragen, wie der Sprachsouverän für die empirische Forschung zu operationalisieren wäre, wie mächtig der Otto-Normalverbraucher in den Standard-Diskursen ist, und wie ernst etwa seine Meinung und Argumentation von anderen genommen wird, wenn er an der Lösung eines Zweifelsfalls teilnimmt. Bei einem spontanen Gespräch in einer Kneipe, bei dem es sich kaum um eine seriöse Auseinandersetzung handeln wird, braucht sich der OttoNormalverbraucher keine großen Sorgen zu machen. Aber wenn er eine Hausarbeit schreibt und im eigenen Sprachgebrauch zögert oder wenn er eine Bewerbung um eine Stelle formuliert? Lässt man sich nicht sprachlich beraten, um potenzielle negative Folgen zu vermeiden? Von wem? Oder verlässt man sich doch auf sich selbst mit all den möglichen Risiken? Diese hier nur beispielhaft aufgeworfene, aber durchaus sozial nicht zu unterschätzende Differenzierungsperspektive ist im Souverän-Konzept nicht ganz leicht zu finden. In der sozialen Wirklichkeit sind die Sprachbenutzer nämlich nicht unter allen Umständen unbedingt gleich (wozu das Souverän-Konzept verleiten könnte). Und nicht jeder Sprachbenutzer macht sich in den Entscheidungsprozessen über Standardsprachlichkeit gleich geltend. Die Existenz (von Normen) der Standardvarietäten und der damit verbundenen sozialen Ungleichheiten liefert dafür auch in der historischen Perspektive zahlreiche Nachweise. Als be-
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zeichnend kann die sozialgeschichtlich orientierte Analyse von Mattheier (1991) erwähnt werden. Diese Argumente befürworten die qualitativ orientierte Methodologie der Sprachnormenforschung, nach der die Normen erst als Ergebnisse eines interpretierenden Schlussverfahrens bzw. als Resultat interpretierender Rezeptionsprozesse aufzufassen sind (vgl. Gloy 1997, 28). In meiner vom Kräftefeld ausgehenden Definition der Standardvarietät sind Normen ebenso ganz explizit enthalten, hinter denen die bekannten konkreten Akteure mit ihren Interessen zu suchen sind: In Anlehnung daran kann Standard als eine Varietät aufgefasst werden, „deren Normen in gegenseitiger Übereinstimmung unter den Normautoritäten, Kodifizierern, Modellsprechern bzw. Modellschreibern und Sprachexperten einer Sprachgemeinschaft entstehen“ (Dovalil 2006, 59) oder – wie ich es heute vielleicht genauer formulieren würde – „von diesen Akteuren ausgehandelt werden“. Auf den Norm-Begriff gehe ich deswegen auch ein – vor allem wird die Bindung zwischen Normen und Erwartungen diskutiert, die es ermöglicht, nicht nur das Soziale bzw. das Intersubjektive in den Vordergrund zu rücken, sondern auch den Ausgangspunkt für die Erörterung der Zusammenhänge mit der Sprachmanagementtheorie zu beleuchten. Der lässt sich aber interessanterweise praktisch sofort in das eigentliche Ziel verwandeln, was nur scheinbar ein Paradox vorwegnimmt, wie unten gezeigt wird. Die Integration des sozialen Kräftefeldes in die Sprachmanagementtheorie, die schon an Daten empirisch ausprobiert wurde (vgl. Dovalil 2011, 74 ff.), wird diesmal anders angewandt werden, weil hier der Prozess-Charakter der Sprachnormen dargelegt werden soll:² Ein gewöhnlich auf die Implementierung konkreter Entwürfe hinauslaufender Sprachmanagementprozess wird diesmal als Rekonstruktion vom Sprachgebrauch (d. h. von der Implementierung konkreter Managementakte) begin-
Unter Sprachmanagement wird das Verhalten der Sprachbenutzer zur Sprache verstanden, wie es in Interaktionen – also diskursiv – geäußert wird. Ein Sprachmanagementprozess beruht auf Erwartungen individueller Sprachbenutzer und startet, wenn im Sprachgebrauch von diesen Erwartungen bestimmte Abweichungen vorkommen. Die Sprachbenutzer können die Abweichungen wahrnehmen/bemerken, müssen aber nicht. Die bemerkten Abweichungen können von den Benutzern bewertet werden, müssen aber nicht. Wenn sie negativ bewertet werden, können die Sprachbenutzer gewisse Korrekturen/Maßnahmen entwerfen, um die Abweichungen zu beseitigen, müssen aber nicht. Und im letzten Schritt kann es den Sprachbenutzern gelingen, diese Maßnahmen zu implementieren, was aber auch nicht immer passieren muss. Vgl. dazu die grafische Darstellung von Dovalil (2011, 73). Die Termini in den englischen Originaltexten lauten deviation from the norms/expectations, noting, evaluation, adjustment design und implementation (vgl. Nekvapil 2009 passim). Neuere detailierte Auslegungen der Sprachmanagementtheorie, für die es in diesem Aufsatz an Raum fehlt, sind außer diesen Quellen auch in Nekvapil (2011), Nekvapil/Sherman (2009a) ebenso wie in Nekvapil/Sherman (2009b) zu finden.
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nen und in die (normativen?) Erwartungen münden, die dem sprachlichen Handeln der relevanten sozialen Kräfte zugrunde liegen.
3 Die Makro- und Mikroebene im Lichte des Kräftefeldes Für die Analyse der Prozesse, in denen Normen konstituiert werden, gilt es, die Mikround Makroebene zu verknüpfen. Dazu eignet sich das Kräftefeld gut. Die Makroebene ist darin wohl am deutlichsten von Kodizes vertreten, die die Standardvarietät möglichst vollständig umfassen wollen³ und die als generelle, situationsunabhängige Nachschlagewerke erstellt werden. Die vor allem soziosituative oder textsortenspezifische Differenzierung des Sprachgebrauchs kann in den Kodizes schon aus praktischen Gründen nicht besonders ausführlich sein; von vielen Details des Standard-Gebrauchs auf der Mikroebene muss einfach abgesehen werden. Das überrascht nicht, denn auf der Makroebene werden an die Normen große Ansprüche gestellt: Die Normen sollen sich doch auf „gleichartige und zahlenmäßig nicht näher bestimmbare Kommunikationssituationen“ beziehen (Dovalil 2006, 26), wenn sie die enorme Komplexität der die Sprachbenutzer umgebenden sozialen Realität sinnvoll reduzieren und den Sprechern/Schreibern dabei helfen sollen, sich darin zu orientieren (vgl. Luhmann 2008, 31 ff.).⁴ Diese Makro-Perspektivierung wird auf der (und unter Berücksichtigung der) Mikroebene „indexikalisiert“, wie es sich durch die ethnografisch inspirierte Fragestellung verdeutlichen lässt: „Wer greift in wessen Sprachgebrauch wie, in welchen soziosituativen Kontexten und sozialen Netzwerken, mit welchen Absichten und mit welchen Folgen ein, wenn die schriftliche wie auch mündliche Sprachproduktion konkreter Sprachbenutzer als Standard (bzw. Nonstandard) beurteilt und danach weiter beeinflusst/verändert wird?“ (Dovalil, im Druck)
Die Normen kann man deshalb ihrer indexikalischen Komponente kaum „berauben“: “While performing language use, speakers display orientations both towards the immediate result of their actions […] as well as to the higher-level, non-immediate complexes of perceived
Dass sie beim Erreichen dieser Ziele trotzdem lückenhaft bleiben, ist nachvollziehbar. Die Allgemeinheit, d. h. das Makro von Normen, ist für Rechtsnormen besonders typisch. Die Gesetzgeber bemühen sich bekanntlich um ausreichend allgemein gehaltene Normformulierungen, um die Kasuistik – zu viele störende Einzelheiten der Mikroebene – zu vermeiden. Sie kodifizieren das Recht nicht für jedes einzelne Problem.
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meaningfulness (the superaddressee). We would say: they display orientations towards orders of indexicality – systemically reproduced, stratified meanings often called ′norms′ or ′rules′ of language, and always typically associated with particular shapes of language (e.g. the ′standard′, the prestige variety […].” (Blommaert 2005, 73, kursiv im Original)
Der Macht-Faktor und die Durchsetzbarkeit der Macht spielt dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle, wie schon oben angedeutet. Wie von Gloy (2004, 393– 394) ausgeführt wird, müssen diese Machtäußerungen gar nicht explizit sein. Die vermeintliche Macht reicht aus: Man braucht nur die Macht den anderen Akteuren zu unterstellen.⁵ Um noch einmal auf den Otto-Normalverbraucher von Hundt zurückzugreifen: Er kann sich gegen die von der Makroebene kommenden Management-Akte (Kodizes) sträuben – z. B. in Alltagsgesprächen mit Freunden, aber nicht im Schulunterricht. Das bedeutet, dass die Bottom-up-Perspektive in der Forschung natürlich keineswegs zu ignorieren ist, aber die auf der Top-down-Achse verlaufenden Prozesse auch nicht. Die Verknüpfung der Makro- und Mikroebene wird in konkreten Interaktionen erreicht, wenn man sich z. B. in Zweifelsfällen auf die Kodizes beruft. Oder – wenn dem Otto-Normalverbraucher konkrete Varianten von genügend mächtigen Kodifizierern als legitime Varianten aufgezwungen werden können, wird auch dies zur sozialen Realität, die forschungsrelevant bleibt (mehr zu den Bewegungen zwischen der Mikround Makroebene nach der Sprachmanagementtheorie vgl. Nekvapil 2009, 6– 8). Bezogen auf eine typisierte Situation heißt dies Folgendes: Lehrer treten als Normautoritäten auf, wenn sie in Zweifelsfällen gegenüber den Studierenden oder Schülern in überzeugender Weise ihre Lösungen als Normen durchsetzen und wenn die Studierenden oder Schüler sich gerade diese Inhalte aneignen. Die Rolle einer Autorität kann aber selbstverständlich angezweifelt werden, wenn z. B. Studierende gegen die Behauptungen von Lehrern Einwände erheben. Die Rolle der Autorität wird diskursiv fortgesetzt, wenn die Lehrer in solchen Situationen überzeugend argumentieren (sogar gegen die Kodifizierung). Wenn die Interagierenden diese Vorgehensweise für legitim halten, wächst dadurch auch die Aussicht auf die erfolgreiche Durchsetzung dieses Inhalts als Norm. Was für die Normadressaten jedoch überzeugend ist oder nicht, ist gerade eine Angelegenheit der jeweiligen Interaktion(en) in ganz konkreten sozialen Netzwerken.⁶ Die Überzeugungskraft geht mit der unent Gloy (1997, 32) argumentiert mit dem Thomas-Theorem, das noch unten für die Diskussion über die Erwartungen wichtig sein wird: „If men define situations as real, they are real in their consequences“. Am Rande sei bemerkt, dass die qualitative Methodologie, die hier so deutlich zum Vorschein kommt, noch weiter unterstrichen werden kann: Wie sieht eine Meinung oder ein Argument aus, die/das von den Beteiligten als überzeugend genug interpretiert wird? Besteht die Überzeugungskraft in der Fähigkeit, auf eine konkrete Seite in zwei oder drei Grammatiken zu verwei-
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behrlichen Legitimität solcher Managementakte einher und führt im Endeffekt zur Stärkung der Machtstellung der Autoritäten. Als noch überzeugender erweist sich die Handlung, wenn die Normadressaten auch in künftigen Zweifelsfällen mit diesen Lösungen erfolgreich bleiben. Wenn sich diese für die Akteure erfolgreichen Konstellationen wiederholen, wird die Norm stabiler. Mit anderen Worten kann an dieser Stelle vorausgeschickt werden: Die Erwartungen aller soziosituativ relevanten Akteure werden stufenweise aufeinander abgestimmt. Die sozialen Netzwerke der Akteure, für die Ammons Kräftefeld ein Beispiel ist und deren soziale Rollen auf der Mikroebene (der Interaktionen) beobachtbar sind, wurden von Gloy (1975, 35) analysiert. So können die Normautoritäten für Normvermittler ebenso wie für Normüberwacher gehalten werden.Wenn die Autoritäten eigene Normen (z. B. ohne Rücksicht auf die Kodifizierung oder Modelltexte) schaffen, dann treten sie als Normsetzer auf. Schüler, die im Standard primär sozialisiert sind, repräsentieren – im Schulunterricht – Gloys Normbenefiziare,weil sie davon profitieren, dass die Normautoritäten die Standardvarietät vermitteln und überwachen; die in Regiolekten sozialisierten Schüler stellen im gleichen sozialen Kontext die Normopfer dar. Die Interpretation der Rolle der Kodifizierer scheint nicht eindeutig, denn sie sind nicht als Normsetzer im richtigen Sinne des Wortes zu bezeichnen, wenn sie die Standard-Normen aufgrund der Modelltexte erfassen, formulieren bzw. registrieren (wollen). Diese Texte der professionell geschulten Sprecher und Schreiber sind eine konkrete Antwort des Kräftefeldes auf die Frage,wo die Datenquellen der Standardvarietät gefunden werden können. Es sind verschiedene Textsorten der Sachprosa, die über einen hohen Grad von Ausbau verfügen und im Sinne von Koch/Oesterreicher (2007) dem Pol der Distanz zuzuordnen sind. Mit Gloys Apparat ausgedrückt, spielen die Modellsprecher und -schreiber die Rolle der Vermittler oder der Normsetzer. Es braucht nicht betont zu werden, dass alle diese Rollen in Interaktionen gestaltet und umgestaltet werden und keine stabilen Identitäten konkreter Akteure im Kräftefeld repräsentieren. Die soziosituativen Kontexte dürfen nicht in der Methodologie ignoriert werden.
sen? Oder auf eine empirisch basierte Analyse, die als Expertenstudie, als Monographie oder als Korpusrecherche usw. publiziert und positiv bewertet worden ist? Und was passiert in den Situationen, wenn Studierende einwenden, dass die von ihren Lehrern als Nonstandard sanktionierten Varianten mit Verweis auf neue (oder auch alte!) Forschungsergebnisse eigentlich Standardvarianten sein sollen? Die Erkenntnis, dass diese oder jene Behauptung eines Lehrers nicht zu verteidigen ist oder dass der Lehrer seinen Studierenden „einen Fehler“ beibringt, ist nicht viel wert, bis diese Erkenntnis in die dafür relevanten Interaktionen gebracht und adäquat durchgesetzt worden ist.
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Diese Ausführungen, in denen es um die Akteure und deren Machtpositionen geht, betreffen z. B. auch das klassisch gewordene Standardisierungsmodell von Haugen (1966 und 1983). Auch für ihn lautet eine der zentralen Fragen – wer führt die Selektion der Formen durch, die als „Kandidaten“ daraufhin beurteilt werden, ob sie Bestandteil des Standards werden (= noting und evaluation). Wer kodifiziert sie (eigentlich die Formulierung von Maßnahmen für den empfehlenswerten Gebrauch der Varianten in angemessenen standardsprachlichen Kontexten). Und weiter – wer arbeitet und wie an der Akzeptanz der Varianten durch möglichst viele Sprachbenutzer, damit diese die Varianten tatsächlich gebrauchen und auf die Alternativen verzichten (= Implementierung). Außer Acht bleibt selbstverständlich nicht einmal die Frage nach den Akteuren der Elaboration des erreichten und implementierten Standards (neue Zyklen der Sprachmanagementprozesse).
4 Zum Norm-Begriff im Lichte der Sprachmanagementtheorie Die Spezifizierung des Norm-Begriffs kann direkt an den oben diskutierten MachtFaktor und die Erwartungen anknüpfen. In Anlehnung an Gloy (2004) sind Normen als Bewusstseinsinhalte mit regulativer Funktion aufzufassen, die die Sprachproduktion und diesbezügliche Erwartungen regulieren (sollen). Die Erwartungen sind jedoch gleich ausführlicher in die normativen und kognitiven zu differenzieren (hier aus Gründen des Platzmangels nur in Punkten vereinfacht zusammengefasst – mehr dazu vgl. Luhmann 2008, 40 – 53). Relevant ist, wie die Enttäuschungen abgewickelt werden, die entstehen,wenn sich Realität und Erwartungen auf Seiten eines Einzelnen nicht decken. Der Unterschied zwischen den beiden Arten der Erwartungen besteht darin, dass die kognitiven Erwartungen in Enttäuschungsfällen aufgegeben und durch andere ersetzt werden, was als Lernbereitschaft der Subjekte zu interpretieren ist. Die normativen Erwartungen werden dagegen trotz dieser Enttäuschungen nicht aufgegeben: „Als kognitiv werden Erwartungen erlebt und behandelt, die im Falle der Enttäuschung an die Wirklichkeit angepaßt werden. Für normative Erwartungen gilt das Gegenteil: daß man sie nicht fallenläßt, wenn jemand ihnen zuwiderhandelt. […] Normen sind demnach kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen.“ (Luhmann 2008, 42–43, kursiv im Original)
Für die Orientierung in der komplexen Realität ist wichtig, dass die Subjekte darüber Bescheid wissen, was sie voneinander zu erwarten haben: So kann man Erwartungen von Erwartungen entwickeln, bei denen gerade das Merkmal der gegenseitigen ge-
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glaubten Unterstellung von Bedeutung ist.⁷ Gloy (2004, 393) macht darauf auch mit Hilfe des Thomas-Theorems aufmerksam. Für den ontologischen Status von Normen sollte nun deutlich geworden sein, dass sie eine Untermenge von Erwartungen darstellen und deshalb tatsächlich als Bewusstseinsinhalte aufzufassen sind, nach denen (normgerecht) – oder im Widerspruch zu ihnen (normwidrig) – gehandelt, gesprochen oder geschrieben wird. Normen fallen demzufolge nicht mit der Sprachproduktion selbst zusammen; sie sind folglich nicht sprachinhärent. Wenn Sprachbenutzer (z. B. Lehrer, Redakteure in Verlagen, Korrektoren usw.) konkrete Managementprozesse initiiert haben, lassen sich die Sprachnormen (d. h. deontische Bewusstseinsinhalte mit regulativer Funktion) nun auf der sprachmanagementtheoretischen Grundlage folgendermaßen rekonstruieren: Die „Endprodukte“ bzw. der eigentliche Sprachgebrauch – ein korrigierter und danach veröffentlichter Zeitungsartikel, wissenschaftlicher Aufsatz oder verschiedene in mündlichen Interaktionen gemanagte Äußerungen – die die Implementierung von Managementakten darstellen, ermöglichen es im Falle einer teilnehmenden Beobachtung bzw. eines Follow-up-Interviews zu identifizieren, welche konkurrierenden Maßnahmen den realisierten Texten vorausgegangen sind (= adjustment designs). Diese von den Akteuren überlegten Maßnahmen erlauben es wiederum, auf deren Bewertung – und dadurch beispielsweise auf die zurückgewiesenen Alternativen – zu schließen. Von dieser Evaluation führt der nächste logische Schritt zu dem, was die Akteure beim Lesen oder Zuhören überhaupt wahrgenommen und bemerkt haben. Und was sie für Abweichungen halten, erlaubt Aussagen über die Bewusstseinsinhalte,von denen sich die korrigierten und implementierten Varianten unterscheiden (und deshalb gerade bestimmte Abweichungen repräsentieren). Dazu ein von mir vor kurzer Zeit erlebtes Beispiel:Wenn ein Herausgeber normativ erwartet, dass das Präfix „miss-“ im Verb „missverstehen“ im zweiten Status im Infinitiv I trennbar ist („misszuverstehen“ vs. „zu missverstehen“), und wenn er im Text eines Beiträgers die Form „zu missverstehen“ nicht übersieht (= noting), dann bewertet er die Form „zu missverstehen“ negativ.⁸ Für den Herausgeber liegt ein Sprachproblem vor. Bei dieser negativen Bewertung bleibt es aber nicht, weil sich der
Luhmann (2008, 35 ff.) bezeichnet solche Konstellationen, in denen A erwartet, dass B erwartet, dass A erwartet, als Erwartungserwartung. Diese gegenseitig verflochtenen Erwartungen lassen sich weiter verketten. Obwohl für die Fortsetzung des Sprachmanagements, durch das der Sprachgebrauch verändert wird, die negative Bewertung der identifizierten Abweichung entscheidend ist, wird die andere als negative Bewertung oder geradezu die positive aus der Theorie nicht ausgeschlossen. Neustupný (2003, passim) nennt die Effekte der positiven Bewertung gratification. Sie führen allerdings logisch nicht zur Beseitigung der Abweichungen, sondern zu deren Stabilisierung.
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Herausgeber für die Qualität der Sprachproduktion mitverantwortlich fühlt und außerdem über eine einfache Lösungsstrategie verfügt, die zur schnellen Beseitigung des Problems führen kann. Er korrigiert die Form „zu missverstehen“ auf „misszuverstehen“ und bei Verhandlungen mit dem Beiträger ist dieser Herausgeber auch in der Lage, die von ihm vorgeschlagene Variante (= adjustment design) auch gegen die Kodizes durchzusetzen – z. B. mit Hinweis auf die Vorkommenshäufigkeit im Google. Gerade die Skizze eines solchen Prozesses ermöglicht es im Rückblick, die deontischen Bewusstseinsinhalte mit regulativer Funktion als die dem Sprachmanagement zugrunde liegenden Normen zu veranschaulichen:
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Das ist eine ausführlichere Analyse dessen, wie Normautoritäten gewöhnlich handeln. Aus diesem Beispiel folgt aber nicht unbedingt, dass alle Phasen so bewusst ablaufen müssen, wie es hier zum Zweck der Transparenz Schritt für Schritt verdeutlicht wird. In bestimmten Interaktionen durchläuft der Prozess alle Phasen ziemlich schnell, in anderen Fällen können die Abläufe z. B. in der Phase der Bewertung gebremst werden, wenn Akteure zögern, oder auch in der Phase der Suche nach geeigneten Maßnahmen, die zur Beseitigung der negativ bewerteten Abweichungen dienen sollen. Heikel kann natürlich selbst die Implementierung sein, wenn die Akteure ihre Maßnahmen anderen Sprachbenutzern aufzwingen möchten. Solche Diskurse können auch mehr als jahrzehntelang dauern. Dass die Normen als Erwartungen aufgefasst werden, ist noch aus einem Grunde sehr wichtig. Wie Nekvapil/Sherman (2009b) empirisch nachweisen, können Sprachprobleme antizipiert werden, noch bevor die eigentliche Interaktion begonnen hat.⁹ In ihrer Studie wird eine solche Konstellation der Prozesse, in der man im Voraus mit dem operieren kann, was bemerkt und negativ bewertet werden wird, als pre-interaction management bezeichnet. Dementsprechend kann man sich auf das Antizipierte entweder vorbereiten, oder man kann handeln, um die antizipierten Probleme (einschließlich der Sanktionen) gar nicht entstehen zu lassen. Dazu dienen verschiedenartige Vermeidungsstrategien. Die Managementprozesse verlaufen vor den Interaktionen und regulieren die sprachlichen „Endprodukte“. Das Konzept des pre-interaction management kann natürlich als Folge eines erlebten Problems im Sinne von post-interaction management interpretiert werden. Wenn sich ein Subjekt aufgrund eines Enttäuschungsfalles belehren lässt, erweisen sich die ursprünglichen Erwartungen dabei als kognitiv und nicht als normativ.
5 Zusammenfassende Schlussbemerkung. Zum soziokulturellen Management der Sprachstandards und zur Reproduktion der Nachfrage nach Kenntnissen der Standardvarietät In welchen soziosituativen Kontexten entsteht überhaupt der Bedarf, standardsprachliche Texte zu produzieren und sich etwaigenfalls auf einen Kodex zu be-
Es ist in diesem Kontext kein Zufall, wenn Luhmann (2008, 43) z. B. schreibt: „Der Enttäuschungsfall wird als möglich vorausgesehen“.
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rufen? Wer tut es tatsächlich? Und im Falle der Akteure, die regelmäßig mit Kodizes umgehen – wie handeln sie, wenn sie z. B. in zwei Grammatiken auf auseinandergehende Normformulierungen stoßen? Im Hintergrund dieser beispielhaft formulierten Fragen befindet sich eine für einige Linguisten vielleicht ketzerische Überlegung, dass bestimmte Kodizes – ähnlich wie wahrscheinlich noch zahlreichere Fachstudien – manchmal völlig außerhalb der relevanten Diskurse bleiben und die Gestaltung des Standards de facto nicht beeinflussen. Die alle diese Überlegungen überdachende Frage könnte an dieser Stelle folgendermaßen formuliert werden: Welche sind die soziokulturellen (oder sogar sozioökonomischen) Bedingungen, die zur Etablierung solcher sozialen Netzwerke führen, in denen sich die Nachfrage nach Standard-Kenntnissen reproduziert oder in denen es sich sogar lohnen kann, über diese Kenntnisse aktiv zu verfügen? Ein Versuch, diese Frage zu beantworten, lässt sich in Dovalil (im Druck) finden – wahrscheinlich sind es primär die soziosituativen Kontexte, in denen es um die Aussicht auf gesellschaftlichen Erfolg im kulturellen oder ökonomischen Bereich gehen kann (standard as gatekeeper). Es sind die Schulen mit ihren Managementprozessen (Unterricht, Prüfungen), die zur Aneignung des Standards führen (sollen) (vgl. die Prozesse, die von Mattheier 1991 als Pädagogisierung und Popularisierung bezeichnet wurden). Oder kommt es zu diesen Prozessen heutzutage nicht mehr so intensiv? Im Fremdsprachenunterricht sind solche Managementprozesse sehr deutlich zu finden, obwohl sie nicht immer zur Vermittlung der Standardvarietät einer Fremdsprache führen müssen, sondern auch zu einer lingua franca. Beginnen diese Prozesse im DaMUnterricht doch schwächer zu werden? Und wenn dem so ist – liegt die Ursache (Folge?) darin, dass die Lehrer aufhören, Normautoritäten zu sein? Das heißt – wenn sie auch die Sprachproduktion ihrer Schüler korrigieren (möchten), bringen ihre Bemühungen fast keinen Nutzen, weil sie von den Schülern nicht mehr so ernst genommen werden (müssen) wie früher? Die Managementprozesse beginnen bei normativen Erwartungen, weil Normen die regulative Funktion haben. Aufgrund der normativen Erwartungen wird in den Sprachgebrauch eingegriffen. Die implementierten Maßnahmen (Korrekturen im weiten Sinne des Wortes) weisen die durchgesetzten Veränderungen nach. Für die kognitiven Erwartungen gilt es hingegen nicht; die von den kognitiven Erwartungen initiierten Prozesse brechen vor der Implementierung ab und führen deshalb keine Veränderungen im Sprachgebrauch herbei. Und da Ulrich Ammon sein soziales Kräftefeld einer Standardvarietät ebenso im Plurizentrismus des Deutschen kontextualisiert und in diesem Bereich forscht, kann dieser Beitrag wohl kaum anders abgeschlossen werden als mit einer kurzen Überlegung, die den Plurizentrismus aus dem Blickwinkel der Sprachmanagementtheorie interpretiert. Auch hier bietet sich nämlich das soziokulturelle Mana-
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gement als Ausgangspunkt an, das zur Etablierung unterschiedlicher Standardvarietäten führt.Wie verhalten sich z. B. die schweizerischen Normautoritäten zu ihrem Standard und wie dagegen andere Akteure wie z. B. die Bevölkerungsmehrheit? Welchen Lösungsstrategien glauben sie in Zweifelsfällen mehr? Bewerten sie den deutschen Standard negativ oder positiv? Bestimmte Antworten auf diese Fragen liefert z. B. Scharloth (2006). Als sehr deutliches Beispiel des Sprachmanagements auf der Makroebene, das sogar zum Bestandteil des primären EU-Rechts geworden ist, verkörpert das Protokoll 10 des österreichischen Beitrittsvertrags zur EU.¹⁰ Die soziokulturellen (d. h. auch politischen und wirtschaftlichen) Umstände waren in den 1990er Jahren für die österreichische Regierung günstig genug, um den Prozess bis zur Kodifizierung rechtlich verbindlicher (= zu implementierender) Maßnahmen zu führen. Pro-plurizentrisch orientiert ist aber auch die Expertengruppe (Bestandteil des soziokulturellen Managements), der auch Ulrich Ammon angehört.
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Es handelt sich um das Protokoll über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der EU. Es listet insgesamt 23 Austriazismen aus dem Bereich der Lebensmittelbezeichnungen auf, die den gleichen Status haben wie die bundesdeutschen Entsprechungen (z. B. Beiried – Roastbeef, Erdäpfel – Kartoffeln, Karfiol – Blumenkohl, Kren – Meerrettich usw.).
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Hans Bickel und Lorenz Hofer
Gutes und angemessenes Standarddeutsch in der Schweiz Abstract: Die deutsche Standardsprache bewahrt, trotz Medienkonvergenz, in der Schweiz sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen eine gewisse Eigenständigkeit. Sie ist – auch historisch – gepaart mit einer eher distanzierten Haltung gegenüber der Standardsprache und einer pädagogischen Sorge um deren korrekten Gebrauch. (Nord)deutschländische mündliche Varianten der Standardsprache haben ein ambivalentes Prestige und werden in den Medien allenfalls als Kontrast akzeptiert. Die Schweizer Varietät der deutschen Standardsprache lässt sich wissenschaftlich vielfältig fassen. So etwa in der Aussprache, der Schreibung und im Wortschatz. Insbesondere hier lassen sich mit korpuslinguistischen Methoden tausende von sog. nationalen Varianten finden und beschreiben. Trotz historischer Ausgleichsprozesse im gesamtdeutschsprachigen Wortschatz finden sich immer wieder neue Spezifika, die sich aus verschiedenen Sprachschichten speisen, u. a. auch aus dem Dialekt. Bildungsinstitutionen und -traditionen sowie Nationalstaatlichkeit wirken kohäsiv und tragen zum Fortbestehen der nationalen Sprachvarietät damit auch zur Identitätsbildung bei. Keywords: Variationslinguistik, areale Varianten, deutsche Sprache, Lexikographie, nationale Varianten, Plurizentrik, Schweiz, Standardsprache
1 Ausgangslage Der kulturelle und sprachliche Austausch unter den deutschsprachigen Ländern ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts, also seit der Einführung des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs, und verstärkt im 20. Jahrhundert mit der Erfindung der elektronischen Medien und dem enormen Wachstum der Verkehrsströme stark angestiegen. Es ist deshalb anzunehmen, dass nur wenige Menschen sprachlich soweit abgeschottet leben, dass sie nie in Kontakt mit Sprechern aus anderen deutschsprachigen Ländern kommen. Diese Feststellung gilt besonders für die Angehörigen der kleineren Zentren und Halbzentren¹ des Deutschen, die über
Zu den Begriffen Voll- und Halbzentrum s. Ammon/Bickel/Ebner et al. (2004, XXXI).
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Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Radio² und Fernsehen³ und auch durch direkten Kontakt mit deutschen Migranten⁴ und Touristen⁵ einen intensiven Kontakt zur deutschländischen Varietät des Deutschen haben. Trotzdem ist wenig von einer sprachlichen Konvergenz der verschiedenen Varietäten der deutschen Standardsprache festzustellen.Was sind die Gründe dafür, dass sich die Varietäten des Deutschen höchstens graduell angleichen, oder, auf die Schweiz bezogen, warum gibt es eine schweizerische Form des Standarddeutschen? Was sind die Merkmale dieser Sprachform, wie ist sie zu bewerten und welche Funktion hat sie aus wissenschaftlicher Sicht? Darum soll es im folgenden Artikel gehen. Als Ausgangspunkt dient die Frage, welchen Stellenwert das Standard- bzw. Hochdeutsche⁶ in der Schweiz für die Schweizerinnen und Schweizer hat und wie es bewertet wird. Dazu sollen Aussagen aus dem öffentlichen Diskurs herangezogen werden. Viele Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer betonen, sie hätten ein etwas verkrampftes Verhältnis zur Standardsprache. So haben in der Rekrutenbefragung von 1985 immerhin 25 % der Aussage „Wenn ich Hochdeutsch spreche, komme ich mir dumm vor“ zugestimmt (gegenüber 62 %, die „stimmt nicht“ angekreuzt hatten).⁷ Auch wenn man die Medien oder das Internet nach Aussagen zum Hochdeutschen durchforstet, stösst⁸ man immer wieder auf Aussagen, die ein problematisches Verhältnis zur Standardsprache erkennen lassen. Vielfach findet
Ausländische Radiosender erreichten 2007 rund 50 % der Deutschschweizer Bevölkerung. Quelle: http://modules.drs.ch/data/attachments/medienmitteilungen/070718 %20Medienmitteilung%20Nutzungszahlen%20SR%20DRS.pdf (19.01. 2013). In der deutschen Schweiz besassen ausländische Fernsehsender im Jahr 2011 einen Marktanteil von 63 %. Den grössten Marktanteil haben Sender aus dem benachbarten Ausland, d. h. aus Deutschland und Österreich. Quelle: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/ 16/03/key/ind16.indi-cator. 16010306.160105.html?open=160013#160013 (19.01. 2013). Ende 2011 bildeten deutsche Staatsangehörige nach den Italienern mit fast 277.000 Personen oder 3½% die zweitgrösste Ausländergruppe unter der ständigen Wohnbevölkerung (Quelle: Statistik des Bundesamts für Migration BFM). In grösseren Städten der Deutschschweiz sind die Zahlen noch wesentlich höher. In der Stadt Zürich wohnten 2011 knapp 8 % deutsche Staatsangehörige. Quelle: http://www.stadt-zuerich.ch/content/prd/de/index/statistik/bevoelkerung/ bevoelkerungsstand.html# (19.01. 2013). In der Schweizer Tourismusstatistik bilden Personen aus Deutschland seit Jahren die grösste Gruppe ausländischer Touristen. 2010 generierten sie 5.816.520 Logiernächte (Quelle: Schweizer Tourismusstatistik 2010, 13 ff.). Ausserhalb der Wissenschaft wird gewöhnlich der Terminus Hochdeutsch gebraucht, den wir hier synonym zu Standarddeutsch verwenden. Gutzwiller (1991, 156). Die Orthografie in diesem Aufsatz folgt der schweizerischen Norm und enthält dementsprechend keine -ß-Schreibungen.
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man sogar die Behauptung, in der Schweiz sei Hochdeutsch eine Fremdsprache, die eigentliche oder wahre Sprache in der Schweiz sei der Dialekt.⁹ So liest man etwa auf der Internetseite der Präsenz Schweiz, einer offiziellen Seite des Departements für auswärtige Angelegenheiten, „die Schriftsprache in der deutschen Schweiz ist Hochdeutsch – eigentlich die erste Fremdsprache, welche die Kinder in der Schule lernen.“¹⁰ Ähnliche Äusserungen kann man in vielerlei Variationen lesen. Immer wieder wird auch beklagt, dass die Hochdeutschkompetenz der Deutschschweizer Bevölkerung mangelhaft sei und auf dem Niveau einer gelernten Fremdsprache verharre. Entsprechend unsicher würden sich die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer fühlen, wenn Sie bei einer der eher seltenen Gelegenheiten die Standardsprache sprechen müssten. Schuld an diesem Manko sei, so wird meist argumentiert, der übertriebene Dialektgebrauch in allen angemessenen und unangemessenen Situationen und, wie das bei gesellschaftlichen Problemen häufig geschieht, auch die Schule, die nicht fähig sei, die Lust am Hochdeutschsprechen zu wecken. In einem Artikel im Tagesanzeiger Magazin (Nr. 6) von 2006 schreibt der Journalist Mathieu von Rohr unter dem Titel „Die Deutschschweizer entfremden sich vom Hochdeutschen und verkriechen sich im Dialekt. Helfen kann nur der Psychiater“ Folgendes: „Wenn man Deutschschweizer Kinder beobachtet, wie sie durchs Wohnzimmer rennen und das geschliffene Hochdeutsch der Fernsehserien nachahmen, kann man sich nur schwer vorstellen, dass sie einst ein hochproblematisches Verhältnis zu dieser Sprache entwickeln werden. Aber der Weg ist ihnen vorgezeichnet, es gibt kein Entrinnen: Eines Tages werden sie zur Schule gehen müssen, und dort werden Lehrer auf sie warten, die selber Mühe haben mit dem Hochdeutschen, und die in die Mundart wechseln, wann immer möglich.“ (von Rohr 2006, 14)
Auch auf politischer Ebene wurde teilweise ein Handlungsbedarf erkannt, besonders nachdem die erste PISA-Studie den Volksschülern mangelnde Sprachfähigkeiten attestiert hatte.¹¹ So forderte beispielsweise der Zürcher Nationalrat Hans Kaufmann, Mitglied der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei, in einem Vorstoss aus dem Jahr 2004, den Deutschunterricht in die Hände von aus Deutschland zugewanderten Lehrern zu legen, was neben einer Verbesserung der
Vgl dazu auch Hägi/Scharloth (2005). Vgl. http://www.swissworld.org/de/bevoelkerung/sprachen/standardsprachen_und_dialekte/ (19.01. 2013). Die Schweiz hatte im Bereich der Lesekompetenz den 11. Rang belegt, allerdings deutlich vor Deutschland und Österreich auf Platz 18 und 19; s. den OECD Bericht 2004 Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003, 323.
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Hochdeutschfähigkeiten gleichzeitig auch zu 30 % tieferen Lohnkosten führen würde.¹² Auch der damalige Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, der FDP-Regierungsrat Hans Ulrich Stöckling, schloss sich damals der Forderung nach mehr deutschen Lehrkräften an.¹³ Von der Mehrheit der Erziehungsbehörden wurde noch ein weiterer Vorschlag vorgebracht: Mit Beschluss vom 25. März 2004 wurde durch die Erziehungsdirektorenkonferenz die verstärkte Förderung der Standardsprache bereits ab der Vorschule, d. h. im Kindergarten, verlangt.¹⁴ Beide Forderungen wurden nicht oder nur teilweise umgesetzt. Denn nach ziemlich ausgiebigen öffentlichen Debatten über den stark angestiegenen Anteil von Zuzügern aus Deutschland in die Schweiz ist die Frage der Hochdeutschkompetenz vor allem bei den Rechtsparteien zugunsten der Frage nach der Bedeutung des Dialekts für die schweizerische Identität in den Hintergrund gerückt. In mehreren Kantonen wurden Volksinitiativen eingereicht und in Volksabstimmungen angenommen, die mindestens die gleichberechtigte Förderung der Mundart verlangten.¹⁵ Die Diskussion drehte sich plötzlich weniger um die mangelnde Standardkompetenz, sondern um den Verlust der schweizerischen Eigenständigkeit und damit der Identität. So mäandriert heute die öffentliche Meinung zwischen Wehklagen über die mangelnde Kompetenz und der Angst vor dem Verlust der identitätsstiftenden Mundart. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass solche Klagen über die mangelnden Hochdeutschfähigkeiten der Schweizerinnen und Schweizer nicht erst mit den Ergebnissen der Pisa-Studie aufgekommen sind, sondern schon ein beträchtliches Alter haben. Bereits 1577 hat sich der Basler Historiker und Stadtschreiber Adam Henricpetri im Widmungsbrief seines Geschichtswerkes Generalhistorien, das er zuerst auf Latein entworfen hatte, bei dem aus Franken in Deutschland stammenden Korrektor Nicolaus Höniger dafür bedankt, dass er ihm dabei behilflich gewesen sei, das Werk ordentlich ins Deutsche zu bringen, wie er es nennt¹⁶. Und 1724 lesen wir im Bernischen Freytags-Blättlein, dass man mindestens in Bern
Vgl. http://www.wottreng.ch/html/auch_der_edk-prasident_schiess.html (19.01. 2013). Ebd. Vgl. http://www.ides.ch/dyn/12876.php (19.01. 2013). Vgl. z. B. den Artikel von Julia Slater „Krieg“ Dialekt gegen Hochdeutsch geht weiter unter http://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/Krieg_Dialekt_gegen_Hochdeutsch_geht_weiter.html?cid=30252640 (22.11. 2012). Henricpetri, Adam: General Historien: Der aller Nammhafftigsten unnd Fürnembsten Geschichten Thaten und Handlungen so sich bey ubergebung und ende … Keyser Carols des Fünfften … in Geystlichen unnd Weltlichen sachen … zugetragen unnd verhandlet worden: Mit sampt etlicher Fürsten … Bildnussen … / Alles … zusammen gebracht … Durch Adam Henricpetri der Rechten Doctorn Burger und Orinarien der Loblichen Statt Basel. Getruckt zu Basel: durch Sebastian Henricpetri, [1577?].
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Schwierigkeiten mit dem Hochdeutschen habe und sich gar schäme, an „äusseren Orten“ Hochdeutsch zu sprechen. Dies ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo wenigstens die vornehmen Leute in den Städten gut Hochdeutsch könnten.¹⁷ Ja, die Verweigerung gegenüber dem Hochdeutschen ging damals gar so weit, dass die Gebildeten mit den Deutschen lieber Französisch als Hochdeutsch gesprochen haben.¹⁸ Die Klagen über masslosen Mundartgebrauch und mangelnde Hochdeutschkompetenz sind also kein Phänomen der neuesten Zeit, sondern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Sprachgeschichte der deutschen Schweiz seit dem 16. Jahrhundert. Ganz anders stellt sich die Situation in Deutschland und besonders in Norddeutschland dar. In Norddeutschland hat man seit dem 16. Jahrhundert in der Oberschicht begonnen, das Niederdeutsche zugunsten des Hochdeutschen aufzugeben. Hochdeutsch war im 16. Jahrhundert in Norddeutschland tatsächlich eine Fremdsprache, die mit dem Niederdeutschen kaum stärkere Ähnlichkeit hatte als mit dem Niederländischen.¹⁹ Daher gab es weniger Interferenzen zwischen Mundart und Standardsprache als im Süden, kein sogenanntes Kontinuum zwischen diesen beiden Sprachformen. Dazu kam in der norddeutschen Oberschicht eine starke Ablehnung nicht nur der niederdeutschen Mundarten, sondern der Mundarten überhaupt. Daher liest man vielfach, im Norden, also ausgerechnet in dem ehemals niederdeutschen Sprachgebiet, werde heute das richtige Hochdeutsch gesprochen. Als Zentrum des besten Hochdeutsch wird meist die Stadt Hannover genannt.²⁰ In der öffentlichen Meinung existiert damit ein Gegensatz zwischen einem normgerechten Norden mit einwandfreiem Hochdeutsch und einem Süden mit mundartlich kontaminiertem, schlechtem Hochdeutsch. Wie können diese Äusserungen aus dem Bereich des öffentlichen Diskurses, die das Hochdeutsche in der Schweiz als mangelhaft qualifizieren, aus sprachwissenschaftlicher Sicht beurteilt und eingeordnet werden? Erste Zweifel an der These von der mangelnden Standardsprach-Kompetenz in der Schweiz kommen,
Es heisst dort: „In allen wol-policirten Städten Teutschlandes reden wenigstens die vornehmen Leuth gut Teutsch, bey uns aber geschicht das Widerspiel: dahero wir uns auch nicht getrauen, an äusseren Orten Teutsch zu reden, weil wir uns unserer Sprach selbsten schämen müssen. Ich verlange keinen hochteutschen Accent, sondern allein, daß wir reden wie wir schreiben und lesen müssen.“ Bernisches Freytags-Blätlein: In welchem die Sitten unser Zeiten von der Neuen Gesellschafft untersucht und beschrieben werden. Band 4 (1724). Bern: Samuel Küpffer. 396. Trümpy (1955, 103). Sodmann (2000). Vgl. dazu insbes. Elmentaler (2012, 111– 115), auch http://de.wikipedia.org/wiki/ Standarddeutsch (24.11. 2012).
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wenn man ein Zitat wie das folgende aus einem Roman von Otto F.Walter liest. Hier wird der Lehrer einer Berufsschule, der sich offenbar zu stark am nördlichen Standard orientiert, mit folgenden Worten charakterisiert: „Dieses tadellose Hochdeutsch. Knapp, klar, immer männlich voll da, ein voller, kerniger Sound, ein Mann ein Wort, immer auf Beherrschung des Gegenübers aus, und die Möglichkeit, daß es im Leben vielleicht doch noch Probleme geben könnte, schloß diese Stimme aus.“ (Walter 1979, 62)
Hier wird deutschländisches Deutsch nicht als erstrebenswertes Vorbild dargestellt, sondern dient zur negativen Charakterisierung einer Person. Bereits diese eine Stelle legt nahe, dass es kaum Unvermögen ist, dass die Schweizer keine norddeutsch geprägte Standardsprache sprechen, sondern durchaus willentlich und absichtlich einen Schweizer Akzent durchscheinen lassen. Auch wenn man sich professionelle Mediensprecher am Radio und Fernsehen anhört, kann man diese in fast allen Fällen problemlos dem Zentrum des Deutschen zuordnen, aus dem sie stammen. Dies zeigt, dass auch professionelle Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen, die über eine spezifische Sprechausbildung verfügen, keine einheitliche Bühnenaussprache, sondern eine jeweils landesübliche oder landestypische Aussprache praktizieren. Bei Sprechern des Hochdeutschen ohne Sprechausbildung kommt das Landestypische noch viel stärker zum Ausdruck, auch bei Leuten, die professionell mit der deutschen Sprache zu tun haben, wie etwa bei Schriftstellern, Deutschlehrern oder Journalisten. Es gibt also deutliche, national geprägte Unterschiede in der Standardaussprache der Deutschen. Diese gehen keinesfalls auf mangelnde Kompetenz der Nichtdeutschen, also der Schweizer oder Österreicher zurück. Das wird beispielsweise deutlich an Reaktion von Radiohörerinnen und -hörern auf eine als allzu norddeutsch empfundene Aussprache in den elektronischen Medien der Schweiz. Es ist heute (noch) kaum denkbar, dass z. B. Nachrichten am Schweizer Radio mit norddeutscher Aussprache gesprochen werden. Fritz Schäufele, ehemaliger Sprechausbilder von Radio DRS, warnt in seinem „Vademecum für Mikrophonbenützer“ von 1970 explizit vor einer norddeutsch geprägten Sprechweise, die unweigerlich zu negativen Zuhörerreaktionen führe.²¹ Die verstärkte Zuwanderung von Deutschen in jüngerer Zeit hat keine grundlegende Veränderung dieser Einstellung bewirkt. Deutlich wurde dies beispielsweise anlässlich der Kontroverse um die Aussprache der Radio-Moderatorin Anette Herbst beim kulturell ausgerichteten öffentlich-rechtlichen Sender DRS 2²². Die aus Deutschland stammende Moderatorin, die ein prägnant nördlich ge-
Schäufele (1970, 14). Heute Radio SRF 2 Kultur.
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prägtes, deutschländisches Deutsch spricht, hatte eine heftige Debatte ausgelöst, welches Deutsch am Schweizer Radio denn gesprochen werden sollte. Das Radiomagazin ²³ schrieb zu dieser Kontroverse: „Die „D-Schnauze“ polarisiert das Publikum: Die Wiederkehr des Landigeists²⁴ ist der eine, die Verteidigung Anette Herbsts als sprachliche Entwicklungshelferin der andere Pol.“ Unpolemischer und aus wissenschaftlicher Sicht ein bisschen naiv drückte sich ein Zuhörer aus Therwil im Baselland in einem Leserbrief aus, als er forderte, am Radio solle man doch, „einfach ganz gewöhnlich Hochdeutsch sprechen“. Er identifiziert das deutschländische Deutsch damit als fremde, nicht normale oder eben ungewöhnliche Standardsprache für das Schweizer Publikum.
2 Schweizerhochdeutsch aus wissenschaftlicher Perspektive Was ist vor diesem Hintergrund angemessenes, richtiges Standarddeutsch für die Schweiz aus wissenschaftlicher Perspektive? Wenn man sich etwas eingehender mit der Sprachsituation der deutschen Schweiz auseinandersetzt, wird schnell klar, dass das in der Schweiz gesprochene Hochdeutsch tatsächlich nicht einem mangelhaften Versuch entspringt, die Nachbarn im Norden nachzuahmen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es in der Schweiz entsprechend der Theorie der plurizentrischen deutschen Sprache durchaus gültige standardsprachliche Normen gibt, die in einigen ganz wesentlichen Punkten von der Dudennorm in Deutschland abweichen. Am deutlichsten kommt dieses Normverständnis bei der Aussprache zum Ausdruck. Ziehen beispielsweise Deutsche in die Deutschschweiz, lernen deren Kinder häufig, wenn sie noch am Anfang der Schulausbildung stehen, zusätzlich zum mitgebrachten deutschländischen Hochdeutschen auch noch Schweizerhochdeutsch. Dies, um dem Normdruck der Schule und vor allem dem Normdruck ihrer Peergroup, nämlich dem ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, zu genügen. Sie werden also mit ihrer deutschländischen Aussprache nicht etwa zu Vorbildern für die schweizerischen Kinder, sondern legen die als fremdländisch empfundene Aussprache zugunsten einer schweizerischen Lautung ab. In der Rekrutenbefragung von 1985 haben 81 % die Frage, ob man bei der Aussprache des Hochdeutschen hören dürfe, dass jemand aus der Schweiz stammt, bejaht, obwohl
Radiomagazin Nr. 9 (2006, 7). Mit Landigeist wird die Geisteshaltung bezeichnet, die in der Landesausstellung 1939 als Abwehrhaltung gegenüber Nazideutschland zum Ausdruck kam.
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40 % gleichzeitig angaben, bereits für ihre schweizerische Aussprache belächelt worden zu sein.²⁵ Schweizerische Eigenheiten gibt es nicht nur bei der Aussprache, sondern genauso beim Wortschatz, der Grammatik und bei Redewendungen und Kollokationen. Das schweizerische Normverständnis in diesen Bereichen zeigt sich besonders deutlich daran, dass deutsche Agenturmeldungen für das Schweizer Publikum umgeschrieben und an das Schweizerhochdeutsche angepasst werden. Wörter wie Apfelsine, Sonnabend, Pokalwettbewerb oder Sahne werden in solchen Texten gewöhnlich durch ihre schweizerischen Entsprechungen Orange, Samstag, Cup und Rahm ersetzt. Somit richtet sich der Gebrauch des Hochdeutschen in der Schweiz zu einem guten Teil nach so genannt zentrumseigenem, schweizerischem Normverständnis, wie es der Theorie von der Plurizentrik der deutschen Standardsprache entspricht. Heute wird diese Theorie denn auch kaum mehr bestritten. Was sind die Merkmale der schweizerischen Varietät der deutschen Standardsprache? Wir gehen nur beispielhaft auf einige, besonders prägnante Merkmale ein. Besonders auffällig und ohrenfällig sind, wie dargelegt, die Unterschiede in der Aussprache. Hier bestehen auch die grössten Unsicherheiten der Sprecherinnen und Sprecher in der Schweiz, da die Standardsprache aufgrund der Diglossie fast nur in formalen Situationen und in der Schule gesprochen wird. Die Aussprachenorm in Deutschland ist weitgehend von der ursprünglich norddeutschen Aussprache geprägt. Vereinfacht kann man sagen, dass in Deutschland Hochdeutsch mit niederdeutsch inspirierter Aussprache zur Norm erhoben wurde.²⁶ In der Schweiz orientiert sich die Aussprache dagegen stärker an der Schrift, so gibt es z. B. keine r-Vokalisierungen, man spricht also [ˈfa:tɘr] und nicht [ˈfa:tɐ], zudem werden die Endsilben weniger stark abgeschwächt als in Deutschland. Auch wird -ig in Endsilben als -ig und nicht als -ich gesprochen, man spricht also nicht [ˈkø:nɪç], sondern [ˈkø:nɪg]; Doppelkonsonanten werden lang ausgesprochen, so dass ein deutlich hörbarer Unterschied zwischen Ofen und offen entsteht. Sodann spricht man die Standardsprache in der Schweiz langsamer, es gibt vermehrte Erstbetonung, man sagt beispielsweise gewöhnlich Ábteilung und nicht Abtéilung. Das Schweizerhochdeutsche hat zudem eine andere, ausgeprägtere Satzmelodie. Auffällig und für Deutsche sehr gewöhnungsbedürftig ist, dass es in der schweizerischen Aussprache zwischen den Wörtern eine weniger grosse Trennschärfe gibt. Wörter werden artikulatorisch fast ohne Trennmarkierung aneinandergereiht. Und schliesslich unterscheidet sich das
Gutzwiller (1991, 155). Mangold (1998, 1804).
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Schweizerhochdeutsche durch eine andere Aussprache von Einzelwörtern wie z. B. Departement [departɛˈmɛnt], rösten [ˈrø:stn̩], Motor [moˈto:r], Traktor [ˈtraktor].²⁷ Bei der Schreibung gibt es hingegen verhältnismässig wenig Unterschiede: Der auffälligste Unterschied ist das Fehlen des scharfen -ß- oder -sz-. Abweichend ist zudem die Fremdwortschreibung, die sich stärker an der Originalsprache orientiert, z. B. bei Wörtern wie Portemonnaie oder Spaghetti. Zahlenmässig bei weiten am meisten Unterschiede zwischen den Varietäten des Deutschen gibt es im Bereich des Wortschatzes: Jedes Vollzentrum des Deutschen hat mehrere Tausend eigene Varianten. Helvetismen sind beispielsweise Wörter wie handkehrum, Fahrausweis, Kampfwahl, nachdoppeln, rollstuhlgängig, fehlbar, Spritzkanne, Zwischenhalt, zuoberst. ²⁸ Ebenfalls zu den Helvetismen gehören sog. Sachspezifika. Das sind Gegenstände, Einrichtungen und vor allem Institutionen, die es nur in einem Land gibt oder die einander in den verschiedenen Ländern nur bedingt ähnlich sind wie beispielsweise Nationalrat, Motion, Finanzdelegation, Bauzone, Dienstbüchlein usw.; dann gibt es in den verschiedenen Zentren des Deutschen unterschiedliche Entlehnungen aus Fremdsprachen; so braucht man z. B. in der Schweiz Tumbler, in Deutschland Wäschetrockner, oder in der schweizerischen Fussballersprache häufig Corner, Goal, out, behind, Penalty anstelle der deutschen Entsprechungen Eckball, Tor, Seitenaus, Toraus, Elfmeter. Unterschiede gibt es auch bei Redewendungen; so wünscht man beispielsweise in der Schweiz, in Süddeutschland und Österreich ein gutes neues Jahr, in Mittel- und Norddeutschland ein frohes neues Jahr. In der Schweiz kann etwas aus Abschied und Traktanden fallen, d. h. als bedeutungslos, erledigt erklärt werden, eine Redewendung, die es nur in der Schweiz gibt. Diese willkürlich auswählten Beispiele machen deutlich, dass sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Varietäten des Deutschen nicht auf paar wenige Eigenheiten reduzieren lassen, sondern durchaus substantiellen Charakter haben.
Vgl. z. B. Ammon/Bickel/Ebner et al. (2004, LI ff.); Meyer (2006, 25 ff.). Eine nahezu vollständige Aufzählung mit rund 3.000 Stichwörtern enthält das Wörterbuch von Hans Bickel und Christoph Landolt (2012).
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3 Wie können nationale Varianten identifiziert werden? Es ist bei den meisten Wörtern und mehrgliedrigen Ausdrücken nicht ganz trivial festzustellen, ob sie zum Schweizerhochdeutschen zu zählen sind oder nicht. Ein Wort wie parkieren gehört zweifelsfrei dazu. Wie aber ist mit parken zu verfahren? Inwiefern wird es als fremd empfunden und sollte nicht als gleichberechtigte Variante neben parkieren propagiert werden? Und wie ist mit Wörtern umzugehen, die eigentlich dem Dialekt zuzuordnen sind, wie etwa Müesli, deren verhochdeutschte Variante Müsli sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen in der Schweiz als unpassend empfunden wird?²⁹ Solche Fragen lassen sich selbstverständlich durch Selbstbefragung und damit auch bis zu einem gewissen Grad individuell beantworten.Will man aber für die Sprachgemeinschaft festhalten, wie es nun um parkieren, parken und Müesli bestellt ist, ist es empfehlenswert, die Sache breiter abzustützen.Viele lexikalische Varianten des Schweizerhochdeutschen sind bereits seit Längerem beschrieben und in Wörtersammlungen und -büchern ausserhalb der allgemeinen Wörterbücher des Deutschen (z. B. in DUDEN – Grosses Wörterbuch der Deutschen Sprache 2012) festgehalten, so bei Panizzolo 1982, Meyer [1989] 2006, Ammon/ Bickel/Ebner et al. 2004, und Bickel/Landolt 2012. Die bisher ausführlichste Sammlung von schweizerhochdeutschen (und anderen) Varianten ist das Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon/Bickel/Ebener et al.) von 2004. Seine Entstehung ist eng verknüpft mit zwei Ansätzen zur Feststellung der nationalen und regionalen Spezifität von standardsprachlichen Varianten. Der eine Ansatz basiert darauf, Texte, die mutmasslich schweizerhochdeutsche Wörter enthalten, von Personen aus Deutschland und Österreich lesen und anstreichen zu lassen: Wörter, die sie nicht kennen oder die sie nicht selbst gebrauchen, sind möglicherweise schweizerhochdeutsche Wörter und sind Kandidaten für eine Aufnahme in ein Wörterbuch. Dieser Ansatz hat sich bewährt, hat aber den Nachteil, dass er stark von der Sprachkompetenz der Leser und Leserinnen abhängt und dass man an einen hohen Aufwand treiben muss, um Texte zu
Z. B. bei Schlink, Bernhard/Popp, Walter (1987) im Roman Selbs Justiz [Hervorhebung L.H.]: In Basel machten Judith und ich zum erstenmal halt. Wir […] parkten auf dem Münsterplatz. […] Wir gingen die paar Schritte zum ›Café Spielmann‹ [gemeint ist wohl das Café Spillmann], fanden einen Tisch am Fenster und hatten den Blick auf den Rhein […]. „Jetzt erzähl mal ausführlich, wie du das mit Tyberg eingefädelt hast“, bat ich Judith über dem Birchermüsli, das hier besonders köstlich zubereitet wird mit viel Sahne und ohne überzählige Haferflocken.
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beschaffen, die auch seltene Wörter enthalten. Zudem reicht in der Regel ein Vorkommen nicht aus, um einen Wörterbuchartikel zu rechtfertigen. Der andere Ansatz basiert darauf, die grossen Textmengen, die im Web und in digitalen Textarchiven gespeichert sind, für die Suche nach Schweizerhochdeutschen Wörtern und Ausdrücken heranzuziehen. Bedingung dafür ist, dass man über Wort-Kandidaten verfügt, die man überprüfen möchte. Das können einzelne Wörter sein, denen man zufällig begegnet ist, es können aber auch lange Listen von Wörtern und Ausdrücken sein, von denen man vermutet oder weiss, dass sie noch nie daraufhin befragt wurden, ob sie schweizerhochdeutsch sind oder nicht. Solche Listen lassen sich beispielsweise aus Texten erstellen, von denen man denkt, dass sie besonders viele für das Hochdeutsche in der Schweiz typische Wörter und Ausdrücke enthalten. Für die Neuauflage des Variantenwörterbuches, die gegenwärtig in Bearbeitung ist, wurden dazu unter anderem alle Texte, die im Schweizer Textkorpus enthalten sind³⁰ zu einer Wortformenliste mit rund einer halben Million Einträgen verarbeitet. Die verarbeiteten Texte sind gleichmässig über das 20. Jahrhundert, über verschiedene Textgattungen und Sachgebiete verteilt. Die Liste³¹ wurde daraufhin untersucht, ob die Wortformen besonders häufig in den schweizerischen Bereichen des Webs und ob sie besonders häufig in Schweizer Zeitungen vorkommen. Dazu wurde die Suchmaschine Bing und die Datenbank WisoNet verwendet. Dabei kann man sich zunutze machen, dass man im Web (Bing) oder in der Zeitungsdatenbank (WisoNet) selektiv sucht. Bing wie auch andere Suchmaschinen kennen Operatoren, mit denen sich die durchsuchten Dokumente in verschiedener Weise einschränken lassen – im vorliegenden Fall interessieren vor allem Einschränkungsmöglichkeiten im Hinblick auf die (Sprach‐)Geografie. Zwei Operatoren kommen dafür in Frage: Der Site-Operator und der Loc-Operator. Der Site-Operator erzwingt eine Einschränkung der gefunden Dokumente auf solche, die auf Servern mit einem bestimmen Länderkürzel liegen. Als Arbeitshypothese nimmt man dazu an, dass Server mit einer Adresse, die auf .ch endet, vorzugsweise Inhalte beherbergen, die eine Beziehung zur Schweiz haben.³²
Vgl. dazu Bickel et al. (2009). Abzüglich früher bereits bearbeiteter Wortformen und abzüglich einer Liste mit Schweizer Ortsnamen. Analog nimmt man diese Beziehung bei andern Top-Level-Domains an, etwa bei .de für Deutschland, .at für Österreich etc. Der Loc-Operator funktioniert ähnlich, die Einschränkung erfolgt allerdings nicht anhand des Länderkürzels, sondern anhand anderer Merkmale des betreffenden Webservers, möglicherweise unter anderem anhand der IP-Nummer des Servers,
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Vernünftig verwerten lassen sich die Resultate solcher Abfragen nur, wenn man sie mit etwas vergleichen kann. Um festzustellen, ob ein Ausdruck schweizerhochdeutsch ist, schaut man vorzugsweise nach, wie häufig er in Deutschland und in Österreich vorkommt. Direkt vergleichen kann man die Resultate jedoch nicht, da die zugrundeliegenden Textmengen unterschiedlich gross sind. Von völlig unspezifischen Wörtern wie Apfel, Brot, Fenster, fahren, Haus, Himmel, grau, kochen, Mantel oder Politik entfallen mit der Länderkürzel-Methode 67 % der Fundstellen auf Deutschland, 20 % auf Österreich und 7 % auf die Schweiz.³³ Weicht die Verteilung bei einem Wort deutlich von der angegebenen in dem Sinne ab, als der Anteil der für die Schweiz gefundenen Fundstellen deutlich über 7 % liegt, wie z. B. bei parkieren, so ist dies ein Indiz, dass es sich um eine spezifisch schweizerhochdeutsche Variante handelt. Dies ist bei den bekannten schweizerhochdeutschen Varianten trivial und bestätigt nur, was man ohnehin schon weiss. Es kann jedoch auch ein bestehendes Urteil z. B. dahingehend korrigieren, dass eine als deutschländisch geltende Variante wie parken auch in der Schweiz gebräuchlich geworden ist. Interessant sind solche vom Unspezifischen abweichenden Verteilungen aber vor allem dann, wenn es sich um Wörter handelt, die bisher nicht als schweizerhochdeutsche Varianten beschrieben worden sind.
4 Wie findet man Varianten, die nicht im Sprachbewusstsein verankert sind? Im frei zugänglichen Web findet man zwar Unmengen von Text, allerdings ist es schwierig, einen Überblick darüber zu bekommen, um welche Art Texte es sich handelt, wenn man es – wie beim Beispiel parkieren – mit Zehntausenden von Fundstellen zu tun hat. Als Textgrundlage zur Bestimmung neuer schweizerhochdeutscher Varianten benutzt man deshalb besser eine strukturierte Textsammlung. Da es sich häufig um Wörter handelt, die nur selten vorkommen, muss diese Sammlung jedoch gross sein. Die WisoNet-Datenbank hat sich punkto Struktur und Grösse als brauchbar erwiesen.³⁴ Benutzt wird von ihr derjenige Teil,
die sich geografisch recht deutlich via Geotargeting (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geotargeting) zuordnen lässt. In der Praxis liefern beide Abfrageverfahren meistens vergleichbare Resultate. Vgl. dazu auch Bickel (2006). Die Mannheimer-Korpora sind die einzigen frei zugänglichen, die in der Grössenordnung an das Wiso-Zeitungskorpus herankommen. Das Schweizer Textkorpus
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der Tages- und Wochenzeitungen beinhaltet.³⁵ Dieser Teil umfasste im August 2012 rund 1,2 Milliarden Wörter aus 12 grösseren und grossen Deutschschweizer Zeitungen³⁶ und aus Agenturmeldungen (insgesamt etwa 30 Milliarden Wörter).³⁷ Alle Wörter, die bei der Grobsuche mit der Suchmaschine ein „verdächtiges“ Muster aufweisen, d. h. die einen erhöhten Anteil für die Schweiz zeigen, werden in einem zweiten Schritt bei WisoNet abgefragt. Hier nun wird separiert nach Deutschschweizer, österreichischen und deutschen Zeitungen wiederum festgestellt, ob Abweichungen von der zu erwartenden Verteilung für unspezifische Wörter vorkommen.³⁸ Auf diese Weise gelingt es, schweizerhochdeutsche Varianten aufzuspüren, die von der Lexikographie bisher nicht oder zumindest nicht als schweizerhochdeutsche Varianten beschrieben worden sind und die, so darf man wohl schliessen, auch nicht im allgemeinen Sprachbewusstsein als Variante verankert sind. Man kann davon ausgehen, dass in den bestehenden Wörterbüchern fast alle Simplizia, die spezifisch für das Schweizerhochdeutsche sind, bereits verzeichnet sind. Nur relativ selten entstehen wirklich neue Wörter. Die meisten Neuerungen finden sich im Bereich der Ableitungen (z. B. Geklöne von klönen) und der Komposition (Berufsleute, Berufsschürze). Dabei kann eines der Ausgangswörter bereits ein Schweizerhochdeutsches sein (wie bei klönen, das in der Bedeutung von ‚weinerlich klagen, jammern‘ schweizerisch ist), oder es kann gemeindeutsch sein wie Beruf oder Leute. ³⁹ Manche Neuerungen treten auch als sogenannte Mehrwortausdrücke auf. Dies sind relativ stabile Verbindungen von getrennt geschriebenen Wörtern, die als Ganzes in ihren Einzelteilen typisch schweizerisch sind und deren Bedeutung oft nicht aus den Einzelbedeutungen der beteiligten Wörter zu erschliessen ist, wie in dicke Post. Die folgende Aufstellung zeigt einige Wörter und Ausdrücke, die nach unserem Wissenstand bisher nicht als schweizerhochdeutsch beschrieben worden sind (die oben genannten Beispiele eingeschlossen):
ist mit seinen 20 Mio. Textwörtern zu klein für zuverlässige statistische Frequenzauswertungen. Trotz gegenüber linguistisch ausgerichteten Korpora eingeschränkten Such- und Analysemöglichkeiten lohnt sich die Verwendung von WisoNet wegen seiner Grösse. Unberücksichtigt bleiben auch in der Datenbank enthaltene Fachzeitschriften. Allerdings ohne die Neue Zürcher Zeitung, die auf anderem Wege berücksichtigt wird. WisoNet ist fast tagesaktuell, d. h. das Archiv wächst täglich und lexikalische Neuerungen spiegeln sich darin fast genauso schnell wie in der Tagespresse. Im WisoNet-Zeitungsarchiv stammen 4 % aller Wörter aus der Schweiz, 12 % aus Österreich und 84 % aus Deutschland. Zu arealen Wortbildungsvarianten vgl. Kellermeier-Rehbein (2005).
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aufdatieren, Aufdatierung Berufsleute Berufsschürze dicke Post Dörrbohnen Faserpelz Geklöne Grosserfolg hinausspedieren kassenpflichtig
auf den neuesten Stand bringen, von engl. to update, hat sich nur in der Schweiz ausgebreitet Personen mit einer Berufsausbildung Arbeitskittel empörende Informationen gedörrte Bohnen Fleece weinerliches Klagen grosser Erfolg hinauskomplimentieren kennzeichnet die Eigenschaft einer Sache oder Dienstleistung, dass sie von der Krankenversicherung bezahlt werden muss Kerosen Kerosin, Flugbenzin kreuzfalsch ganz falsch oha lätz! auweia! pflotschen matschen Putzinstitut Reinigungsfirma Rollmaterial Gesamtheit von Schienenfahrzeugen Sagex® Styropor®, Polystyrolschaum scheibeln in (kleine) Scheiben schneiden Sexsalon Massagesalon, Bordell Sittenzerfall Sittenverfall tipptopp (attr. Adj.) kann in der Schweiz auch attributiv verwendet werden, z. B. ein tipptoppes Auto Trottoirüberfahrt Stück einer Quartierstrasse, die auf dem Niveau des Trottoirs verläuft trötzeln (ein wenig) trotzen Zapfenlocke Korkenzieherlocke Die Aufstellung ergibt ein buntes Bild: Wörter verschiedener Wortarten und ganz unterschiedlichen Inhalts stehen teils als Neuentdeckungen, teils als Neuzugänge zum Schweizerhochdeutschen beieinander. Einige, wie etwa oha lätz, pflotschen, scheibeln oder trötzeln werden der Dialekt-Prüfung (s. unten) möglicherweise nicht standhalten. Einige sind selten, aber dennoch klar als hochdeutsch belegt (hinausspedieren, Kerosen), einige sind relativ neu (aufdatieren, Aufdatierung, Sexsalon), und es ist noch nicht abzusehen, ob sie sich halten werden. Drei Viertel der Ausdrücke bestehen aus zwei Wörtern, einer, Trottoirüberfahrt, aus drei. Es entstammt einem riesigen Reservoir von drei- und mehrgliedrigen zusammengesetzten Wörtern (vor allem Substantive). Von denen sind viele spezifisch
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schweizerisch, sie werden aber, weil ihre Komponenten bereits beschrieben sind, nicht weiter lexikographisch bearbeitet, sei es, weil sie zu fachsprachlich, zu selten oder völlig durchsichtig gebildet und deshalb problemlos verständlich sind. Trottoirüberfahrt gehört jedoch eher nicht dazu und Bedarf einer Erklärung. Bei manchen Wörtern müsste ihre stilistische Statur noch genauer geklärt werden: Ein Sexsalon mag zwar sachlich ein Bordell sein, sprachlich scheint er jedoch einen andern Status zu haben (aber nicht einfach nur einen verhüllenden, wie der Massagesalon, sondern es scheint, dass eine Aufwertung stattfindet (Salon) und gleichzeitig die Dinge beim Namen genannt werden (Sex); ähnlich beim Putzinstitut).
5 Welche Sprachschichten soll man berücksichtigen? Mit dem beschriebenen Vorgehen werden nur journalistische Texte für die Ermittlung und Beschreibung von schweizerhochdeutschen Varianten berücksichtigt. Dies hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile überwiegen jedoch deutlich. Durch die Vielzahl der ausgewerteten Zeitungen wird eine noch viel grössere Anzahl von (in der Regel professionell) Schreibenden berücksichtigt, wodurch sich ausschliessen lässt, dass Individualstile ein zu grosses Gewicht erhalten können. Inhaltlich werden durch Tages- und Wochenzeitungen viele Lebensbereiche abgedeckt. Auch Fachsprachliches kommt, soweit es von den Redaktionen als genügend populär eingestuft wird, zur Sprache. Schliesslich ist Aktualität gewährleistet. Dadurch ist es möglich, auch auf Neuerungen wie aufdatieren zu stossen. Die Berücksichtigung von populären Fachzeitschriften und populärer Fachliteratur erweist sich als wenig gewinnbringend, da die gefundenen Wörter und Ausdrücke entweder auch in der Tages- und Wochenpresse vorkommen oder sich dann aber doch als zu fachspezifisch erweisen.⁴⁰ Die Tages- und besonders die Boulevard-Presse zeigen zweifelsohne Tendenzen zur teilweisen Verwendung mündlichkeitsnaher Sprache, unter anderem in Form von Interviews und Zitaten, oft auch als Aufmacher. Mündlichkeitsnah heisst in der deutschsprachigen Schweiz immer auch dialektnah. Dies hat zur Folge, dass sich in den Zeitungstexten viele Dialektwörter und -zitate finden, die
Für die erste Auflage des Variantenwörterbuches des Deutschen (Ammon/Bickel/Ebener et al.) von 2004 wurden populäre Fachzeitschriften herangezogen. Eine davon war die Tierwelt, aus der 20 Belegstellen zitiert wurde. Eine Durchsicht der Beispiele ergibt, dass sich alle durch solche aus der Tages- und Wochenpresse hätten ersetzen lassen.
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man nicht als hochdeutsch einstufen kann, deren Funktion innerhalb von hochdeutschen Texten jedoch klar die ist, Unmittelbarkeit und Authentizität herzustellen. Für die Feststellung und Beschreibung von schweizerhochdeutschen Varianten hat dies Folgen. Es gibt zwar einige recht klare Kriterien, mit denen man Dialektwörter als solche bestimmen und aussondern kann, aber sie gelten nicht immer. Am Beispiel Müesli kann man das schön sehen: Müesli ist seiner Herkunft nach mit dem charakteristischen Zwielaut -üe- und der typischen Verkleinerungsform -li zweifelsfrei ein Dialektwort. Gleichzeitig gibt es aber keine vernünftigen Alternativen dazu – Müsli wäre eine Variante, die jedoch, um es salopp zu sagen, in der Schweiz als Schwundstufe des ursprünglichen Wortes und als Zwitterwesen angesehen und deshalb kaum verwendet wird. Schliesslich wird man Müesli trotz seines Dialektcharakters kaum zwischen Anführungszeichen geschrieben finden. Und letztere sind das wohl am häufigsten eingesetzte Mittel, ein Wort oder einen Ausdruck als vom übrigen Text abgehoben, als mit anderer Stimme geäussert (sei es virtuell oder tatsächlich) zu markieren. In der Tat lässt sich in den journalistischen Texten bei genügender Beleganzahl der hochdeutsche Status eines typisch schweizerischen Wortes recht gut auch dadurch bestimmen, wie häufig es in Anführungszeichen vorkommt. Ein Wert von 20 % gilt dabei nach den bisherigen Erfahrungen als kritisch. Ist er höher, gilt das Wort oder der Ausdruck nicht als schweizerhochdeutsch, sondern als Dialekt (oder einer andern Sprachvarietät oder Sprache zugehörig).
6 Ursachen für die Entstehung und das Fortbestehen der nationalen Varietäten Für die Entstehung und das Fortbestehen der nationalen Varianten sind einerseits historisch-institutionelle und andererseits funktionale Ursachen verantwortlich. An historisch-institutionellen Ursachen sind die folgenden Punkte zu nennen: 1. Staaten sind Kommunikationsgemeinschaften. Auch wenn die Bedeutung der Nationalstaaten in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, so besitzen die Staaten immer noch eine Bedeutung für die Sprache. Dies zeigt sich z. B. bei den Medien, insbesondere bei Radio und Fernsehen, aber auch bei Zeitungen und Zeitschriften. In diesem Bereich haben die nationalen und regionalen Medien gegenüber der ausländischen Konkurrenz immer noch einen stärkeren Einfluss, und sie haben eine gewisse Vorbildfunktion für die Sprachteilhaber. 2007 haben 4 Mio. Personen oder 91,2 % der erwachsenen Bevölkerung der deutschen Schweiz täglich Radio gehört. Dabei hatten die schweizeri-
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schen Radiosender zusammen einen Marktanteil von 88.8 %. Ausländische Radiostationen spielen hier nur eine äusserst marginale Rolle.⁴¹ Weniger gross ist der Marktanteil schweizerischer Sender beim Fernsehen. Das Schweizer Fernsehen DRS kam 2004 in der deutschen Schweiz, wie eine PubliSuisse Analyse ergab, gesamthaft auf einen Marktanteil von 35 %, während die staatlichen Sender ARD, ZDF, ORF1, ORF2, und 3Sat zusammen knapp auf 17 % und die privaten Sender RTL, RTL2, Sat1 und Pro7 immerhin auf 23 % kamen.⁴² Man kann aber dennoch von einer starken Präsenz schweizerischer Sender auch im Bereich des Fernsehens sprechen. Von grosser Bedeutung sind,wie bei allen Sprachfragen, auch die Schulen. Sie unterstehen nationaler, in der Schweiz gar kantonaler Hoheit. Lehrbücher werden meist von kantonalen Lehrmittelverlagen oder schweizerischen Schulbuchverlagen hergestellt, und die Lehrerbildung ist kantonal organisiert. Damit existiert eine schweizerische Schultradition, die selbstverständlich auch eine sprachliche Tradition weitervermittelt. Eine grosse Rolle spielt auch die staatliche Administration. Ein Staatswesen hat einen vielfältigen Regulierungsbedarf. Es gibt eine Bundesverfassung, für jeden Kanton eine Kantonsverfassung, dazu auf allen Stufen Gesetze, Verordnungen und Reglemente. Jedes Staatswesen hat zudem spezifische Institutionen und Verwaltungseinheiten, die benannt werden müssen.Viele davon haben bereits eine lange Geschichte. Benennung und Terminologie sind daher meist stark durch nationale Traditionen beeinflusst und reflektieren diese Geschichte.
Aber es gibt nicht nur diese administrativ-organisatorischen Gründe für das Entstehen von und das Festhalten an nationalen Varianten, sondern es gibt auch kognitive Aspekte.
7 Die Funktion der nationalen Varianten Kognitive Aspekte und damit letztlich die Funktion der nationalen Varianten sind innerhalb der Variationslinguistik noch wenig erforscht.⁴³ Vor allem gibt es zurzeit noch wenig empirische Untersuchungen dazu. Wir nennen daher hier erst einige vorläufige Stichworte: Quelle: http://modules.drs.ch/data/attachments/medienmitteilungen/ 070718%20Medienmitteilung%20Nutzungszahlen%20SR%20DRS.pdf (19.01. 2013). Vgl. www.publisuisse.ch/mm/mm001/factsnfigures.pdf (19.01. 2013). Vgl. jedoch Schmidlin (2011).
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Nationale Varietäten sind in der heutigen globalisierten Welt nicht zufällig erhalten geblieben, sondern sie haben durchaus eine wichtige Funktion. Eine Hauptfunktion sehen wir in ihrer Bedeutung für die nationale Identität. Schweizerhochdeutsch hat stark mit der schweizerischen Identität zu tun. Die weiter oben angeführten Beispiele über die Standardaussprache in den elektronischen Medien haben gezeigt, dass deutschländisches Deutsch in Schweizer Medien trotz der relativ verbreiteten Rezeption deutscher Fernsehsender auch heute noch negative Reaktionen auslöst, weil die deutschländische Varietät als fremd wahrgenommen wird. Die eigene Varietät steht, wie Sara Hägi in ihrer Dissertation über den Umgang mit den nationalen Varietäten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache von 2006 schreibt, für Nähe und Vertrautheit, aber auch für Ausdrucksstärke und für Authentizität.⁴⁴ Die Frage der Authentizität lässt sich am besten am Beispiel von belletristischen Texten veranschaulichen. Wenn beispielsweise Rosalia Wenger (1978) in ihrer Lebensgeschichte über ihre Kindheit als Verdingkind im Emmental schreibt, benutzt sie wie früher auch Jeremias Gotthelf ganz selbstverständlich dialektnahe Wörter, die im Emmental gebräuchlich waren. So spricht sie vom Landjäger, von der Sägerei, dem Märit und dem Lädeli, von Rümpfen in ihren Strümpfen, von Matten mit Kühen und Wedelen als Feuerholz. Mit diesem Wortschatz wird die Lebenswirklichkeit im Emmental vor 100 Jahren echter, authentischer evoziert als mit einem neutralen gesamtdeutsch gültigen Wortschatz. Der Landjäger ist eben nicht genau dasselbe wie ein Polizist, eine Sägerei hat nicht denselben Klang wie ein Sägewerk und ganz unmöglich wäre die deutschländische Variante des Tante-Emma-Ladens anstelle des Lädelis. Dies gilt nicht nur für halbliterarische Texte wie diese Autobiografie. Auch die Autorinnen und Autoren literarischer Texte müssen sich in sprachlicher Hinsicht positionieren. Man kann keine längeren Texte schreiben, ohne dass nationale Varianten im Text erscheinen. Im Bereich des Wortschatzes gibt es immer wieder Fälle, bei denen für eine bestimmte zu benennende Sache ausschliesslich nur Varianten zur Verfügung stehen. Ob man Metzger, Fleischer, Fleischhacker oder Schlachter wählt, jedes Wort ist in seiner Verwendung regional eingeschränkt. Am ausgiebigsten zum Thema der sprachlichen Varianten in der belletristischen Literatur hat sich Hugo Lötscher geäussert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Erfahrung, die er bei der Publikation seines Romans „Der Immune“ mit dem damaligen Lektor des Luchterhandverlags gemacht hat. Lötscher hatte geschrieben, „der betrunkene Vater kommt nach Hause und trägt unter dem Arm das Überkleid“. Dies missfiel dem deutschen Lektor und man suchte ge-
Hägi (2006, 94/5).
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meinsam mit anderen am Verlag beschäftigten Mitarbeitern nach einer besseren Bezeichnung. Vorgeschlagen wurde, das Überkleid durch blauen Anton zu ersetzen, was von Lötscher vehement abgelehnt wurde. Für ihn war es undenkbar, dass der Schweizer Arbeiter zur Arbeit einen blauen Anton trägt. Damit hätte die Geschichte ihre geografische Verankerung, ihre Authentizität zugunsten einer künstlichen Stilisierung verloren.⁴⁵ Auch die anderen Schweizer Autoren verwenden Helvetismen, häufig und meist ganz selbstverständlich in Geschichten, die von der Schweiz handeln, so z. B. Christoph Geiser, der in seinem Roman Brachland⁴⁶ nicht nur Sachspezifika wie den Waggis an der Basler Fasnacht als selbstverständliche Bezeichnungen benutzt, sondern auch Helvetismen wie Trottoir, Kochbutter, Rahm, Abwart, Abwaschtrog oder Nachtessen. Silvio Huonder reflektiert in seinem Roman Adalina⁴⁷ die Helvetismen in einem Satz wie: „Im Morgengrauen fährt der Zug in den Grenzbahnhof ein. … Alte Wörter tauchen wieder auf. Billett statt Fahrkarte, Kondukteur statt Schaffner, Portemonnaie statt Brieftasche. Estrich statt Dachboden. Beiz, Münz, Sackmesser, Nastuch.“ Auf diese Weise werden die Helvetismen explizit als identitätsstiftend angesprochen. Noch weiter geht Tim Krohn (1998) in seinem Buch Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte, der mit den Helvetismen bewusst die Grenze zum Dialekt überschreitet und sie so als literarisches Stilmittel einsetzt. In seinem Buch kommen Sätze vor wie: „So hockte er auf das Müürli und sass nur da und liess es auf sich niederschneien und losete dem Schweigen und fand erst recht, dass es recht tötele.“ An diesen Beispielen wird deutlich erkennbar, wie wichtig die regionalen Varianten für die Authentizität von Texten mit einem Bezug zu realen Orten sind. Dies gilt nicht nur für Schweizer Texte, sondern für Texte aus allen Zentren einer plurizentrischen Sprache. So finden sich beispielsweise beim norddeutschen Autor Walter Kempowski reihenweise Teutonismen wie abnibbeln für ‚sterben‘, pulen für ,etw. mit den Fingern ablösen‘, Kiepe für den ‚Rückentragkorb‘ oder Büdel für eine ‚Tasche‘⁴⁸. Die Existenz jeweils eigener Normen in allen Zentren des Deutschen beweist, dass Hochdeutsch in der Schweiz keine Fremdsprache ist, sondern dass es vielmehr ein eigenes, schweizerisches Hochdeutsch gibt, das sich auf allen Ebenen der Sprache vom Hochdeutschen in den anderen deutschsprachigen Ländern unterscheidet, das aber den anderen Standardvarietäten gleichwertig ist.
Loetscher (1986, 33 f.). Geiser (1983). Huonder (1997, 23/4). Vgl. die entsprechenden Wortartikel im Duden (2012).
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Mit dieser Erkenntnis ist die Hoffnung verbunden, dass die Vorurteile vom schlechten Hochdeutsch, die, wie oben dargestellt wurde, seit Jahrhunderten bestehen und immer wieder aufs Neue bekräftigt werden, mindestens abgebaut oder vielleicht gänzlich zum Verschwinden gebracht werden können, so dass in Zukunft die schweizerische Varietät des Standarddeutschen mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein gesprochen und geschrieben werden wird. An den Schluss stellen möchten wir die Frage, die Michael Clyne 1993 in einem Aufsatz aufgeworfen hat: Who owns the German language? Es gibt in den deutschsprachigen Ländern keine Instanz, die Eigentumsrechte an der deutschen Sprache besitzt. Das Deutsche ist auch nicht an eine bestimmte Ethnie oder an ein Land gebunden, sondern gehört allen Deutschsprachigen. Einzig die Orthografie ist für den Bereich der Schule und der Verwaltung geregelt. Ausserhalb dieser Bereiche herrscht völlige Freiheit. Es gilt nur, diese Freiheit ohne falsche Rücksichten zu nutzen.
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Die süddeutsche und österreichische Aussprache mit Nord- und Südstandard des Deutschen in deutsch-finnischen Allgemeinwörterbüchern Abstract: In diesem Beitrag wird die lexikografische Erfassung der regionalen Besonderheiten der deutschen Sprache in vier deutsch-finnischen Allgemeinwörterbüchern untersucht. Drei Wörterbücher gehören der Kategorie der Handwörterbücher an, während eines die Kategorie der Großwörterbücher vertritt. Die linguistischen Bereiche, auf die sich die Untersuchung bezieht, sind Rechtschreibung, Aussprache und Betonung, Morphologie, Wortschatz, Syntax und Phraseologie. Es stellt sich heraus, dass die Beschreibung der regionalen Spezifika des Deutschen in den drei deutsch-finnischen Handwörterbüchern mit zahlreichen Mängeln, irreführenden Angaben, Inkonsequenzen und eindeutigen Fehlern behaftet ist. Im deutsch-finnischen Großwörterbuch lehnt sich die Darstellung eng an die Informationen in den Duden-Wörterbüchern und im „Variantenwörterbuch des Deutschen“ an. Keywords: Nordstandard, Südstandard, deutsch-finnische Lexikografie, Rechtschreibung, Aussprache, Betonung, Morphologie, Wortschatz, Syntax, Phraseologie
1 Einleitung Der deutschen Sprache kommt in insgesamt sieben Staaten die Rolle einer nationalen bzw. regionalen Amtssprache zu. In Deutschland, Österreich und der Schweiz bildet das Deutsche ein eindeutiges Sprachzentrum, in dem jeweils eine spezifisch ausgeformte Standardvarietät in Gebrauch ist. Somit kann das Deutsche einerseits als plurizentrische und andererseits als plurinationale Sprache charakterisiert werden. Da aber eine Standardvarietät des Deutschen beträchtliche regionale Unterschiede aufweisen kann, ist es begründet, das Deutsche auch als eine pluriareale Sprache zu bezeichnen. Vor allem durch die Veröffentlichungen von Ulrich Ammon (vgl. z. B. Ammon 1991, 27; 1995, 12, 49, 95 ff.; siehe auch VWB 2004, XXXI) hat sich die Auffassung vom Deutschen als plurizentrischer, -nationaler und -arealer Sprache in der einschlägigen Literatur verbreitet.
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In Anlehnung an Ammon (1995, 86) wird die Standardvarietät bzw. der Standard im Folgenden als eine sprachliche Erscheinungsform verstanden, die im Rahmen der überregionalen und der öffentlichen Kommunikation verwendet wird. Wenn der Standard eines Zentrums in eigenen Nachschlagewerken (besonders in Wörter- und Regelbüchern) kodifiziert ist, kann von einem Vollzentrum gesprochen werden. Sind dagegen eigene sprachliche Nachschlagewerke nicht vorhanden, handelt es sich um nationale Halbzentren einer plurizentrischen Sprache. Nationale Vollzentren der deutschen Sprache sind Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz (vgl. VWB 2004, XXXI). Auf der Ebene der Standardvarietät lassen sich für das Deutsche ein Nord- und ein Südstandard unterscheiden. Der Nordstandard gilt nur in nördlichen Teilen des Vollzentrums Deutschland, während der Südstandard sowohl die südlichen Teile Deutschlands als auch die beiden Vollzentren Österreich und die deutschsprachige Schweiz umfasst. Die Differenzierung zwischen Nord- und Südstandard entspricht in Grundzügen der dialektalen Einteilung der deutschen Sprache: Der Nordstandard erstreckt sich über die niederdeutsche, nicht selten aber auch über die mitteldeutsche Region, zum Geltungsbereich des Südstandards wiederum gehören die gesamte oberdeutsche Region und in bestimmten Fällen auch Teile der mitteldeutschen Region (vgl. Ammon 1995, 507 f., außerdem Korhonen 2002, 182). Unterschiede zwischen dem Nord- und Südstandard sind im Bereich der Rechtschreibung, der Aussprache und Betonung, der Morphologie, des Wortschatzes, der Syntax, der Phraseologie sowie der Pragmatik zu beobachten. Mit Ausnahme der Pragmatik soll die lexikografische Erfassung der sprachlichen Besonderheiten des Nord- und Südstandards unten anhand einer Auswahl deutsch-finnischer Allgemeinwörterbücher untersucht werden. Das Material wurde in vier Wörterbüchern gesammelt, von denen drei die Kategorie Handwörterbücher vertreten und eines die Kategorie Großwörterbücher vertritt. Als Untersuchungsobjekt hätte auch das Fehlen spezifischer Lemmata des Nord- und Südstandards gewählt werden können, darauf wird hier aber verzichtet. Stattdessen sei auf eine kleine Studie hingewiesen, in der ich Lemmalücken, die sich auf den Südstandard beziehen, in den gleichen deutsch-finnischen Handwörterbüchern wie in diesem Beitrag aufgedeckt habe (vgl. Korhonen 2002, 185 f.).
2 Zu den untersuchten Wörterbüchern Die oben erwähnten drei deutsch-finnischen Handwörterbücher sind die einzigen lexikografischen Nachschlagewerke, die in dieser Kategorie während der letzten 20 Jahre in Finnland erstellt worden sind. Das älteste Wörterbuch ist das im Jahr
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1991 erschienene deutsch-finnische Handwörterbuch von Paul Kostera, das Teil des Werks „Deutsch-finnisch-deutsches gemeinsprachliches Gebrauchswörterbuch mit Sprachführer“ ist (auch der finnisch-deutsche Teil wurde von Kostera verfasst). Nach eigener Aussage des Autors verzeichnet der deutsch-finnische Teil ca. 30.000 Lemmata und enthält in den Wörterbuchartikeln zumindest ebenso viele Anwendungsbeispiele. Kostera arbeitete in den 90er Jahren an der deutschfinnisch-deutschen Lexikografie systematisch weiter, sodass er im Jahr 2000 eine zweite Auflage seines Wörterbuchs vorlegen konnte; dabei wurde das Gesamtkonzept von Kostera (1991) für die Neuauflage beibehalten. Die Anzahl der Lemmata des deutsch-finnischen Teils von Kostera (2000) ist auf ca. 50.000 angestiegen, und dazu kommen mindestens ebenso viele Anwendungsbeispiele.¹ Der ersten Auflage des Wörterbuchs von Kostera folgte im Jahr 1992 das deutsch-finnische Wörterbuch „Saksa/Suomi“ von Ilkka Rekiaro, das wie Kostera (1991/2000) in ein deutsch-finnisch-deutsches Wörterbuch integriert ist (Verfasser des finnisch-deutschen Teils ist Rolf Klemmt). In Rekiaro (1992) wurden ca. 30.000 Lemmata aufgenommen, wobei anzumerken ist, dass bestimmte Idiome als Eingangslemmata von Wörterbuchartikeln auftreten. Das Wörterbuch von Klemmt/ Rekiaro wurde im Jahr 1999 in einer zweiten Ausgabe herausgegeben. Die wichtigsten Neuerungen waren die Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibregeln und die Hinzufügung von Ausspracheangaben. Der Lemmabestand wurde für den deutsch-finnischen Teil um ein Drittel erweitert, d. h. Rekiaro (1999) umfasst ca. 40.000 Lemmata. Die neueste Ausgabe des Wörterbuchs von Klemmt/ Rekiaro erschien im Jahr 2012. Es ist eine unveränderte Auflage der durchgesehenen zweiten Ausgabe von 2005, in der u. a. die Ausspracheanweisungen überprüft wurden und die Anzahl der Lemmata um mehrere Hundert neue Einträge erhöht wurde.² Das dritte deutsch-finnische Handwörterbuch der 90er Jahre ist das „Saksa–suomi-opiskelusanakirja“ von Aino Kärnä, das im Jahr 1995 auf den Markt kam. Die Anzahl der Lemmata beläuft sich auf ca. 31.000, die der Anwendungsbeispiele auf ca. 12.000. Im Jahr 1999 wurde eine durchgesehene und mit neuer deutscher Rechtschreibung ausgestattete Ausgabe des Wörterbuchs herausgebracht. Für diese Ausgabe, die Teil eines finnisch-deutsch-finnischen Wörterbuchs ist (Verfasser des finnisch-deutschen Teils sind Joachim Böger, Helmut Diekmann, Hartmut Lenk und Caren Schröder), wurden nur einige wenige inhaltliche Korrekturen vorgenommen, und das Gleiche trifft für die beiden Neuausgaben zu, die im Jahr 2000 bzw. im Jahr 2002 erschienen. Im Jahr 2007 wurde
Zum Wörterbuch von Kostera vgl. auch Korhonen (2001b, 289 f.; 2005a, 47 ff.). Zum Wörterbuch von Rekiaro vgl. auch Korhonen (2001b, 290 f.; 2005a, 49 f.).
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eine erweiterte und aktualisierte Ausgabe des Wörterbuchs von Böger/Diekmann/ Lenk/Schröder/Kärnä herausgegeben. Der Schwerpunkt der Aktualisierung war auf die Berücksichtigung von Neologismen gelegt worden, woraus sich im deutsch-finnischen Teil eine Gesamtzahl von ca. 45.000 Lemmata und Anwendungsbeispielen ergab. Im Jahr 2008 erschien dieses Wörterbuch noch zweimal, und zwar als unveränderte Auflage der Ausgabe 2007.³ Das für den vorliegenden Beitrag berücksichtigte deutsch-finnische Großwörterbuch ist das „Saksa–suomi-suursanakirja. Großwörterbuch Deutsch-Finnisch“ (Korhonen 2008). Es ist das einzige neuere deutsch-finnische Großwörterbuch, das gegenwärtig verfügbar ist. In dieses Wörterbuch, das eine völlige Neuentwicklung darstellt, wurden insgesamt etwa 200.000 Lemmata, Anwendungsbeispiele, Idiome und Sprichwörter aufgenommen. Der Anteil der Lemmata beträgt ca. 105.000, die Anzahl der Beispiele gut 86.000 und die der Idiome und Sprichwörter rund 9.000. Die Erstellung dieses Wörterbuchs war dringend erforderlich geworden, denn ein deutsch-finnisches Großwörterbuch war zuletzt im Jahr 1966 erschienen; es war die zweite Auflage von Lauri Hirvensalos „Saksalaissuomalainen sanakirja. Deutsch-Finnisches Wörterbuch“. Nach der zweiten Auflage wurde das Wörterbuch nicht mehr überarbeitet, sondern es wurden nur immer wieder neue Nachdrucke der Ausgabe 1966 hergestellt.⁴
3 Kostera (2000) In Kostera (2000) (= PK) lässt sich eine deutliche Tendenz erkennen, Besonderheiten des Nord- und Südstandards umfassend darzustellen. Zur Kennzeichnung dieser Spezifika verwendet PK folgende Marker: „A“ für Österreich, „CH“ für die Schweiz, „MD“ für Mitteldeutschland, „ND“ für Norddeutschland (genauer: nördliche Teile Westdeutschlands), „OD“ für Ostdeutschland (genauer: die DDR) und „SD“ für Süddeutschland. Bei der räumlichen Zuordnung von Lemmata und ihren Verwendungsweisen hat sich PK an den Duden-Wörterbüchern orientiert. Für Unterschiede in der Rechtschreibung werden in PK u. a. folgende Lemmata aufgeführt: (1) Check CH (243); Haxe SD (463); Mocca A (631)
Zum Wörterbuch von Kärnä vgl. auch Korhonen (2001b, 291 f.; 2005a, 50 f.). Zu Korhonen (2008) vgl. auch Korhonen (2005b; 2011b), zur Geschichte deutsch-finnischer Allgemeinwörterbücher außerdem Korhonen (2001a; 2001b; 2005a).
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Diese Angaben stehen etwa mit DUW (1996) im Einklang, für Haxe werden aber in VWB (2004, 340) auch die Marker „CH“ und „D-mittel“ angegeben. Die Angaben zur Aussprache und Betonung beziehen sich in den meisten Fällen auf österreichische Besonderheiten, vgl. z. B.: (2) Ammoniak A [a’mo:‐] (103); Orchester vars (= bes.) A [or’çɛstɐ] (675); Pyjama A [pi’‐] (720); Talon A [ta’lo:n] (879) Manchmal hat PK jedoch vergessen, die österreichische Aussprache anzugeben, so etwa bei Sellerie (817); es fehlt die Angabe [A myös (= auch) -’ri:]. Auch bei den Ausspracheangaben zu Bonbon (227) ist kein Marker „A“ vorhanden (es hätte angegeben werden sollen, dass in Österreich nur die Aussprache [bõ’bõ:] gilt). Außerdem ist die erste Angabe falsch ([bon’bon]; richtig: [bɔŋ’bɔŋ]). – Im Übrigen werden in PK Angaben meist zur Aussprache und Betonung in der Schweiz und/ oder in Süddeutschland und Österreich gemacht, z. B.: (3) Appartement CH myös [‐’mɛnt] (129); Labor A, CH [la:bo:ɐ] (569); Rum CH, A, SD [ru:m] (762) Im Falle von Appartement und Labor stimmen die Angaben mit denen in DUW (1996) überein, für Rum hätte die richtige Angabe [SD, A myös, CH vain (= nur) ru:m] gelautet. Auch hier ist PK nicht ganz systematisch, denn z. B. bei Abonnement (82) erscheint kein Vermerk zur schweizerischen Aussprache. – Auffällig ist die Beschreibung der Aussprache in folgenden Fällen (vgl. die Beispiele 4 und 5): (4) China ND myös [ʃi:‐], SD, A [ki:‐], CH [xi:‐] (244) Die Informationen sind hier genauer als in den Duden-Wörterbüchern, in denen neben der [ç]-Aussprache nur die süddeutsche und österreichische Aussprache mit [k‐] angegeben wird. Um konsequent zu sein, hätte PK die Ausspracheangaben nicht nur hier, sondern auch in weiteren ähnlichen Fällen (u. a. bei Chemie, vgl. DUG 1994, 630 zu SD, A und CH) auf diese Weise gestalten sollen (als Quelle hat PK hier Eichhoff 1978 benutzt). (5) erst vars MD, SD, CH [e:ɐʃt] (327); letzt(e) SD, CH [lɛtʃt(ə)] (588) Die [ʃt]-Aussprache ist nur bei erst und letzt(e) verzeichnet. Diese Beschreibung muss auf die betreffenden Sprachkarten in Eichhoff (1978) zurückgehen, wo die Verbreitung der Aussprache der beiden Lexeme dargestellt wird. PK weiß also offensichtlich nicht, dass sich die Aussprache [ʃt] nicht auf diese zwei Lexeme beschränkt. Außerdem ist die Beschreibung in (5) einerseits uneinheitlich (MD erscheint nur bei erst) und andererseits zu allgemein: Die [ʃt]-Aussprache trifft nicht auf den gesamten süddeutschen Raum zu (zum Geltungsbereich dieser Ei-
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genheit vgl. die Isoglosse in König 2004, 230 f., siehe aber auch Korhonen 2002, 191). Bei den Angaben zur Morphologie handelt es sich zumeist um Informationen über das Genus und den Plural von Substantiven. Zum Genus vgl. etwa die folgenden Beispiele: (6) Achtel ,achter Teil‘ CH m (92); Brezel A n (232); Couch CH m (246); Plastik ,Kunststoff‘ vars CH m (699); Prospekt A myös n (715); Radio ,Rundfunkgerät‘ A, CH, SD myös m (724) Bei Prospekt und Radio sind die Angaben zutreffend, wenn man sie mit den Duden-Wörterbüchern und mit VWB 2004 vergleicht. Bei Achtel sollte „CH yl (= meist) m“, bei Brezel „A myös n“ (so etwa in DUW 1996, 283, in VWB 2004, 137 aber nur Neutrum) und bei Couch „CH myös m“ stehen. Die Beschreibung der Substantive mit dem Suffix -tel ist nicht ganz systematisch, denn bei Drittel fehlt eine Notation zum Genus in der Schweiz. – Zu den Pluralangaben vgl. u. a.: (7) Billard A pl -s (217); Creme CH pl -n (246); Park CH pl Pärke (683); Scheit vars A, CH pl -er (777); Spediteur CH pl -en (837) Von diesen Lemmata weisen Billard und Scheit eine richtige Beschreibung auf, während die Angabe zu Creme mangelhaft ist (der n-Plural gilt auch in Österreich) und die Angaben zu Park und Spediteur ungenau sind (bei Park fehlt der Vermerk „yl“ und bei Spediteur der Vermerk „myös“). – Für die Darstellung der Verbmorphologie seien die Partizip II-Formen von hauen und senden (letzteres Verb mit Bezug auf Rundfunk und Fernsehen) als Beispiel angeführt: (8) gehaut murt (= mundartl.) A, SD (459); gesandt CH (817) Die Notation bei gesandt ist richtig, bei gehaut dagegen unklar. Da zwischen „murt“ und „A“ kein Komma erscheint, bleibt offen, ob sich „murt“ generell auf Mundarten im deutschen Sprachraum oder nur auf Mundarten in Österreich (und in Süddeutschland) bezieht. Da PK jedoch in der Regel nicht zwischen Mundarten in Österreich und Süddeutschland unterscheidet, ist anzunehmen, dass zwischen „murt“ und „A“ ein Komma vergessen wurde. Aber auch dann ist die Notation ungenau, denn gehaut beschränkt sich auf den Südosten Deutschlands (vgl. VWB 2004, 334). – Unter den wenigen Belegen für die Wortbildung zieht die folgende Beschreibung die Aufmerksamkeit auf sich: (9) Häuschen yleisk, ark (= standardsprachl., umgangssprachl.) ND, MD; Häusle, Häus(e)l ark SD; Häus(e)l, Häuserl A; Hüüsli CH (461) Die verschiedenen Diminutivendungen werden nur anhand von Haus dargestellt, d. h. von den anderen Lemmata in Diminutivform wird nicht auf Haus verwiesen
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(einzige Ausnahme: Ringlein). Bemerkenswert ist, dass in die Darstellung die schweizerdeutsche Form aufgenommen, aber die Form Häuslein weggelassen wurde. Für Häusle ist der Marker SD zu unspezifisch, zutreffend wäre „SWD“. Die Einträge in (9) stammen eindeutig aus Eichhoff (1978). Im Bereich der Lexik ist die Anzahl der Substantive und Bedeutungsvarianten von Substantiven, denen verbreitungsbezogene Marker zugeordnet wurden, recht hoch. Zum Beispiel in den folgenden Fällen stimmen die Notationen bei Substantiven und substantivischen Bedeutungsvarianten mit denen in den DudenWörterbüchern überein: (10) Abwasch ,Spülbecken‘ A (90); Autocar CH (167); Baute CH (178); Bickbeere ND (215); Blaukraut A, SD (222); Brasse, Brassen ND, MD (230); Eck ,Ecke‘ A, SD (283); Erstklässler CH, SD (328); Fleischlaibchen A (363); Füllfeder vars A, CH, SD (385); Harke vars ND (457); Hauptstraße ,Vorfahrtsstraße‘ CH (460); Karre vars MD, ND (521); Kittel ,Jackett‘ SD (531); Klump ND (537); Macker ,Arbeitskollege‘ ND (602); Matura A, CH (613); Rauchfangkehrer A (730); Schlack ND (782); Speicher ,Dachboden‘ vars MD, SD (837); Spengler vars A, CH, SD (837); Tunell A, CH, SD (911); Velo CH (955); Wake ND (1023); Zwetschke A (1103) Nicht selten weicht jedoch PK vom Duden ab, vgl. etwa: (11) Backhendl A (169); Fuhrwerk, Last(kraft)wagen‘ A, SD (385); Hausfrau, Zimmerwirtin‘ CH, SD (461); Leberkäse vars SD (581); Mangel ,Wäschemangel‘ CH, SD (607); Nockerl (keine Angabe) (662); Samstag vars A, CH, SD (767); Schlagobers A, CH (783); Spätzle SD (836) Bei Backhendl fehlt ein Marker für Bayern (PK hätte hier „SD“ angeführt, weil er zwischen Südwest und Südost keinen Unterschied macht), bei Leberkäse für Österreich, bei Nockerl für Bayern und Österreich und bei Samstag für Westdeutschland. Bei Fuhrwerk sollte „A“, bei Schlagobers wiederum „CH“ gestrichen werden, bei Hausfrau wären die richtigen Marker „SD“ und „A“, und bei Spätzle sollte als Marker „SWD“ erscheinen. Im Falle von Mangel wurden die beiden Marker versehentlich diesem Lemma und nicht dem Lemma Mange zugewiesen. – Der Umstand, dass PK bei bestimmten Lemmata oft Marker aufführt, die in den Duden-Wörterbüchern fehlen, lässt sich darauf zurückführen, dass er neben diesen Quellen auch weitere Werke (etwa Eichhoff 1977– 1978 und König 1996) herangezogen hat. Das Gleiche gilt für Fälle, in denen die Notationen in PK genauer sind als im Duden. Dafür seien nur die folgenden Beispiele angeführt (vgl. dazu die entsprechenden Sprachkarten in Eichhoff 1977– 1978 bzw. König 1996):
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(12) Abendbrot vars ND (74); Abendessen vars MD, SD, A (74); Berliner (Gebäck) ND, MD, CH (198); Bub MD, SD, A, CH (235); Christbaum MD, SD, A, CH (244); Klempner vars ND, MD, OD (535) Lemmata, die in den Duden-Wörterbüchern ohne räumliche Kennzeichnung auftreten, sind Abendbrot, Abendessen, Berliner und Klempner. Laut Duden kommt Bub nicht in Westmitteldeutschland vor, und bei Christbaum steht der unspezifische Marker „landsch.“. – Zahlreich sind auch die Belege für Verben und Bedeutungsvarianten von Verben, bei denen Marker des Nord- und Südstandards auftauchen. Dabei lassen sich ähnliche Verhältnisse wie für die Substantive beobachten, vgl. u. a.: (13) flacken SD (361); gucken MD, SD (445); harken vars ND (457); kalbern CH (517); kehren ,fegen‘ vars MD, SD, A (526); kneifen ,zwicken‘ ND (538); parkieren A, CH (683); plätten ND ,bügeln‘ (699); schippen A, ND, MD (781) Die Marker zu flacken, harken und kalbern sind die gleichen wie im Duden. Zu gucken und kneifen gibt es im Duden keine Marker, bei kehren fehlen im Duden die entsprechenden Notationen für Mitteldeutschland und Österreich (vgl. zu diesen Verben die Darstellungen in Eichhoff 1977 bzw. König 1996), bei parkieren und schippen ist der Marker „A“ zu streichen, und bei plätten fehlt der Marker „MD“. – Belege gibt es auch für Adjektive, Adverbien und Interjektionen, aber ihre Anzahl ist sehr gering. Im Großen und Ganzen sind die Notationen richtig, und wenn Unterschiede zum Duden vorkommen, erklären sie sich aus der Benutzung der Sprachkarten in Eichhoff (1977) bzw. König (1996). Auf dem Gebiet der Syntax kann erstens die Angabe des temporalen Hilfsverbs bei bestimmten intransitiven Verben der Körperhaltung erwähnt werden (im Nordstandard haben, im Südstandard sein). Zutreffend (A, CH, SD s) ist die Beschreibung nur bei sitzen (825) und stehen (854), bei hocken (484) und knien (538) ist sie mangelhaft (nur SD s; A und CH fehlen), und bei hängen (456), liegen (591) und stecken (854) wurde das Hilfsverb sein weggelassen. Zweitens sind für die Verbvalenz die folgenden Besonderheiten verzeichnet (die Beschreibungen sind richtig): (14) auf eine Zeitung abonnieren CH (83); Die Veranstaltung dauert nur während einiger Stunden. CH (1022) Drittens werden bei Lemmata, die kirchliche Feiertage bezeichnen, die Präpositionen wie folgt angegeben:
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(15) Himmelfahrt zu t⁵ SD an (475); Ostern vars SD an t vars ND zu (678); Pfingsten zu (vars SD an) (693); Weihnachten zu Die Notationen entsprechen nur bei Ostern den Duden-Angaben, sonst sind sie mangelhaft und uneinheitlich. Phraseologische Subklassen mit Markern für die geografische Verbreitung sind vor allem die Gruß- und Abschiedsformeln sowie die Kollokationen, vgl. zuerst zu den Formeln: (16) Behüt dich Gott! A, SD (436); grüß [dich t euch t Sie] Gott! A, SD (436); Grüeß eech! CH, A liik (444) Während es an den ersten beiden Notationen nichts auszusetzen gibt, sind die Marker „A“ und „liik“ (= Abkürzung für ,Geschäftsleben‘) bei der letzten Formel fehlerhaft. Es lässt sich nicht nachvollziehen, woher diese Notation stammt (außerdem lautet die Form des Pronomens ech, vgl. dazu die Sprachkarten in Eichhoff 1977 und König 1996). – Die Darstellung der Marker für die räumliche Zuordnung bei Kollokationen sei mit folgenden Beispielen veranschaulicht: (17) Schnee fegen vars ND; Schnee kehren vars SD; Schnee schieben vars ND; Schnee schippen vars MD, SD, A; Schnee schaufeln A, CH (791) Mit Ausnahme von Schnee kehren geht diese Beschreibung auf die entsprechende Sprachkarte in Eichhoff (1977) zurück. Bei Schnee schippen ist der Marker „A“ falsch, sonst stehen die Angaben mit den Eintragungen von Eichhoff in Übereinstimmung.
4 Rekiaro (2012) In diesem Wörterbuch (= IR) wird von regionspezifischen Markern kein Gebrauch gemacht, sondern dafür erscheinen folgende Kennzeichnungen: „Etelä-Saksassa“ (= in Süddeutschland), „Itävallassa“ (= in Österreich) und „Sveitsissä“ (= in der Schweiz). Dies lässt erkennen, dass Besonderheiten des Nordstandards hier keine Berücksichtigung gefunden haben. Aber auch bei der Markierung südstandardbezogener Lexeme und ihrer Bedeutungsvarianten geht IR äußerst sparsam vor; es konnten insgesamt nur 15 Lemmata mit entsprechenden Kennzeichnungen gefunden werden! Zur Rechtschreibung, Aussprache und Betonung sowie Mor-
„t“ ist eine Abkürzung für „tai“ (,oder‘).
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phologie sind keine Angaben anzutreffen, für Substantive und Bedeutungsvarianten von Substantiven konnten folgende Belege gefunden werden: (18) Billett ,Eintrittskarte‘, ,Fahrkarte‘ Sveitsissä; ,Briefkarte‘ Itävallassa (1203); Fahrausweis ,Führerschein‘ Sveitsissä (1309); Hochzeiter, Hochzeiterin EteläSaksassa ja Sveitsissä (1428); Jänner Itävallassa (1452); Jause Itävallassa (1452); Saisonier Sveitsissä (1685); Spital Itävallassa ja Sveitsissä (1747); Topfen Etelä-Saksassa (1788); Tram, Trambahn Etelä-Saksassa (1791) Zu Billett, Fahrausweis, Jänner, Jause und Spital gibt es nichts anzumerken. Bei Hochzeiter, Hochzeiterin, Saisonier und Topfen fehlt die Kennzeichnung „Itävallassa“, und zwischen Tram und Trambahn hätte unterschieden werden sollen: Tram wird auch in Österreich und der Schweiz verwendet, Trambahn auch in der Schweiz (laut DUW 2011, 1766 in Süddeutschland, laut VWB 2004, 797 f. in Bayern). – Von den Verben erfahren nur die folgenden zwei eine räumliche Zuordnung: (19) benützen erit (= bes.) Etelä-Saksassa (1181); verunfallen Sveitsissä (1855) Die Markierung bei benützen ist ungenau; das Verb ist auch in Österreich und der Schweiz in Gebrauch. Demgegenüber ist die Kennzeichnung bei verunfallen adäquat. – Für Adjektive und Adverbien finden sich keine, für Interjektionen zwei Belege, in denen die Markierungen korrekt sind: (20) grüezi Sveitsissä (1394); Salü Sveitsissä (1685) Regionale Eigenheiten der Syntax und der Phraseologie sind in IR nicht vermerkt. Für die Syntax fällt auf, dass das temporale Hilfsverb einige Male (z. B. bei stehen, stillstehen und strammstehen) in der Form hat/ist angegeben wird. Für den Wörterbuchbenutzer ist eine derartige Angabe irreführend, weil er denken muss, dass die Wahl des Hilfsverbs in diesen Fällen überhaupt frei ist.
5 Kärnä (2008) In ihrem Wörterbuch (= AK) benutzt die Verfasserin vier Marker, nämlich „A“ für Österreich, „CH“ für die Schweiz, „ND“ für Norddeutschland (nur zweimal) und „SD“ für Süddeutschland. AK scheint eine besondere Vorliebe für schweizerische Besonderheiten zu haben, denn im Wörterbuch kommt der Marker „CH“ fast dreimal so häufig vor wie etwa „SD“. In den Angaben zur Aussprache und Betonung begegnen keine regionspezifischen Marker, und auch die Rechtschreibung ist nur mit zwei Belegen vertreten (die Notationen sind richtig): (21) Haxe SD (789); Menu CH (860)
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Die weitaus meisten Belege für Markierungen im Bereich der Morphologie beziehen sich auf das Genus der Substantive, vgl. z. B.: (22) Biskuit A m (682); Dispens A f t. m (700); E-Mail A n (719); Gehalt ,Monatslohn‘ A, SD m (761); Kiefer (ein Schädelknochen) A n t. m (821); Koppel ,Gürtel‘ A f (832); Labsal A, SD f (840); Spachtel A f (944); Thermometer A, CH m (966); Wegscheid A f (1013) Nur bei Koppel, Spachtel und Wegscheid sind die Angaben nicht zu beanstanden. Falsch ist die Genusangabe bei Biskuit (in Österreich Neutrum) und Dispens (in Österreich nur Femininum). Mangelhaft ist sie bei E-Mail (Neutrum auch in Süddeutschland und der Schweiz), Kiefer (beide Genera auch in Bayern), Labsal (Neutrum auch in Süddeutschland und Österreich) und Thermometer (in Österreich und der Schweiz auch Neutrum). Bei Gehalt ist der Marker „SD“ zu tilgen (laut VWB (2004, 280) ist Gehalt in Österreich neben Neutrum auch Maskulinum; eine zutreffende Beschreibung wäre somit „A n t. m“). – Die Pluralangaben geben praktisch ausnahmslos Anlass zur Kritik: (23) Hag CH pl -e/Häge (784); Hospital SD pl -e (801); Kragen SD pl Krägen (834); Möbel A, CH pl -n (864); Vokabel A n pl -n (1004) Das Substantiv Hag hat in der Schweiz nur die Pluralform Häge, der Plural von Hospital lautet auch in Süddeutschland Hospitale/Hospitäler, die Form Krägen gilt auch in Österreich und der Schweiz, die richtige Pluralform von Möbel in der Schweiz wäre -/-n (in Österreich gilt nur der endungslose Plural), und der Plural des Neutrums Vokabel realisiert sich in Österreich als „Ø“. Wie in PK findet sich auch in AK eine Vielzahl von Substantiven und Bedeutungsvarianten von Substantiven, die mit einem regionspezifischen Marker versehen sind. Unter anderem in folgenden Fällen sind die Notationen als korrekt zu betrachten: (24) Ansuchen A (648); Camion CH (690); Feuilleton ,Aufsatz im Plauderton‘ A (741); Gabe ,Gewinn‘ CH (755); Goal A, CH (775); Kassier SD, A, CH (819); Kasten ,Schrank‘ SD, CH, A (819); Palatschinke A (884); Ross ,Pferd‘ A, CH, SD (913); Umfahrungsstraße CH, A (980) Bemerkenswert hoch ist aber die Anzahl unbefriedigender bzw. fehlerhafter Beschreibungen, vgl. beispielsweise: (25) Ausläufer ,Bote‘ SD (660); Bestattnis A, CH, SD (678); Butt ND (689); Depp ,Dummkopf‘ A (696); Exekution ,Pfändung‘ CH (732); Fasnacht CH (736); Kommissär A, CH (828); Matura A (858); Spitz ,Spitze‘ CH (946); Zuckerbäckerei ,Konditorei‘ CH (1028)
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Die richtigen Marker für Ausläufer sind „A“ und „CH“, für Depp „SD“, „A“ und „CH“, für Fasnacht „SD“ (bzw. „SWD“; so laut VWB (2004, 233)), „A“ (genauer: westliches A) und „CH“, für Kommissär „SD“, „A“ und „CH“, für Matura „A“ und „CH“ und für Spitz „Bayern“ (als Merkmal in AK nicht vorhanden), „A“ und „CH“. Bestattnis ist nur ein westösterreichisches Wort. Butt stammt zwar etymologisch aus dem Niederdeutschen, ist aber bezüglich seiner regionalen Verbreitung nicht auf Norddeutschland beschränkt, und bei Exekution und Zuckerbäckerei sollte anstelle von „CH“ als Marker „A“ erscheinen. – Von den Verbbeschreibungen ist die Hälfte fehlerfrei. Zu den problematischen Fällen gehören u. a. folgende Notationen: (26) ausschauen ,aussehen‘ SD (661); einsagen CH, A (714); exekutieren ,pfänden‘ CH (732); passen ,auf jmdn., etw. gespannt warten, lauern‘ A (886); richten ,in Ordnung bringen‘ CH, A (911); zuschauen A, CH (1032) Bei ausschauen, richten und zuschauen sollten die Marker „SD“, „A“ und „CH“ lauten. Auf einsagen treffen die Marker „SD“ und „A“, auf passen die Marker „Bayern“ und „A“ zu, und der korrekte Marker bei exekutieren ist „A“. – Für Adjektive, Adverbien und Interjektionen lassen sich insgesamt nur zehn Belege nachweisen. An fünf Beschreibungen muss Kritik geübt werden: (27) bereits ,beinahe‘ SD (675); gell SD (763); heurig A, CH (796); komplett ,voll besetzt‘ A, CH (828); servus CH, A (939) Die zutreffenden Notationen lauten wie folgt: bereits SWD, CH; gell SD, A, CH; heurig SD, A, CH; komplett A; servus Bayern, A. Mit Bezug auf heurig sei angemerkt, dass die Beschreibung bei heuer in AK (796) korrekt ist (A, CH, SD). Syntaktische Besonderheiten seien hier am Beispiel der Beschreibung des temporalen Hilfsverbs bei bestimmten intransitiven Verben im Südstandard (vgl. dazu oben) erläutert. Bei hängen (787), stehen (950), stillstehen (952) und strammstehen (954) wird sein korrekt (d. h. SD, A, CH) angegeben, bei bevorstehen (679) ist die Angabe mangelhaft (SD, A), und zu beistehen (673), davorstehen (694), gegenüberstehen (760), hocken (799), kauern (819), knien (825), liegen (849), sitzen (941) und stecken (950) wird keine Angabe gemacht. Zu phraseologischen Erscheinungen gehören die folgenden vier Belege: (28) grüß Gott! SD, A (776); grüß Gott! SD, A, CH (781); jmd hat den Jahrgang 1970 CH (811); in guten Treuen CH (971) Der Marker „CH“ bei grüß Gott! auf S. 781 ist falsch (die Grußformel wird nur in Süddeutschland und Österreich verwendet), sonst sind die Angaben richtig.
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6 Korhonen (2008) Im deutsch-finnischen Großwörterbuch (= JK) werden die Regionalismen mithilfe folgender Marker gekennzeichnet: „A“ für Österreich, „Baij“ für Bayern, „Berl“ für Berlin, „CH“ für die Schweiz, „MD“ für Mitteldeutschland, „ND“ für Norddeutschland, „NOD“ für Nordostdeutschland, „NWD“ für Nordwestdeutschland, „OD“ für Ostdeutschland, „OMD“ für Ostmitteldeutschland, „SD“ für Süddeutschland, „SWD“ für Südwestdeutschland, „WD“ für Westdeutschland und „WMD“ für Westmitteldeutschland. Die Beschreibung von Besonderheiten der Rechtschreibung geht u. a. aus den unten stehenden Beispielen hervor: (29) abendessen A (158); Defaitismus CH (478); Gulyás A (743); Haxe SD (770); Marroni CH (1027); Mocca A (1059); Négligé CH (1097); Schups SD (1350) Die Informationen zur Aussprache stammen zum größten Teil aus DUA (2005). Da in dieser Quelle keine regionalen Eigenheiten der Aussprache angegeben werden, sind sie auch in JK nicht vorhanden. Demgegenüber werden Unterschiede der Betonung berücksichtigt, vgl. etwa: (30) Anis A, CH [’a:‐] (217); Apostroph CH [’apo‐] (243); Buffet CH [’bʏfe] (447); ETH CH [’e:‐] (597); Fakir A [fa’‐] (609); Labor A myös, CH yl [’la:‐] (967); Portier A [‐’ti:ɐ̯] (1175); Sakko A [– ’–] (1276); Tingeltangel A [– – ’– –] (1531) Bei den morphologischen Angaben beziehen sich die Marker vor allem auf Genus und Numerus von Substantiven und auf die Verbflexion, vgl. zuerst zum Genus z. B.: (31) Bonbon A n (429); E-Mail vars SD, A, CH n (560); Foto CH myös f (648); Kader CH n (866); Marzipan A, muuten harv (= sonst selten) m (1027); Match CH m (1030); Pyjama A, CH myös n (1196); Spargel SD, CH myös f (1420); Terpentin A yl m (1525) Zu den Markern im Zusammenhang mit Angaben zum Plural vgl. u. a.: (32) Bengel ND myös -s (374); Billard A -s (412); Bogen vars SD, A, CH Bögen (427); Eck A -en (528); Erlass A Erlässe (584); Kerl ark ND myös -s (888); Kommando A myös -en (918); Kragen SD, A, CH myös Krägen (942); Saison SD, A myös -en (1276); Wagen SD, A myös Wägen (1716); Zubehör CH myös -den (1798) Die Darstellung der Verbflexion sei mit folgenden Beispielen veranschaulicht: (33) senden ,ausstrahlen‘ (Rundfunk, Fernsehen); ,ausstrahlen‘ (über eine Funkanlage) CH v* (= unregelmäßiges Verb) (1384); speisen CH myös v* (1424)
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Bei den wortbildungsbezogenen Markern handelt es sich um das Vorhandensein bzw. Fehlen eines Fugenelements in Komposita aus dem Südstandard: (34) Adventsonntag A (185); Fabriks- A (604); Hemdärmel A (778); Schweinsbraten SD, A, CH (1360); Sonnseite A, CH (1414); Wartsaal CH (1724); Zeigfinger CH (1780); Zugsabteil A, CH (1803) Von den lexikalischen Regionalismen mit entsprechender Kennzeichnung seien zuerst die Substantive vorgestellt. In (35) kommen alle in JK verwendeten Marker vor: (35) Abwasch ,Spülbecken‘ A (179); Atze Berl (260); Ausstich CH (323); Blechner SWD (419); Borke ND (430); Breze Baij, A (438); Brotzeit Baij (441); Bulette ND, vars Berl (448); Darg NWD (470); Heftel OMD (772); Huckel MD (827); Kutte ,Arbeitskittel‘ SD (966); Maräne NOD (1025); Plast OD (1169); Rappe (Küchengerät) WD (1209); Sturz ,Baumstumpf‘ WMD (1497) Wie Verben mit regionalem Geltungsbereich in JK charakterisiert werden, lässt sich dem nächsten Beispiel entnehmen: (36) alpen A, CH (197); apern SD, A, CH (242); beihalten WMD (363); bitzeln ,kleine Stücke von etw. abschneiden‘ MD (417); busseln SD, A (453); fegen ,säubern‘ vars ND; ,blank reiben‘ SD, CH (617); glätten ,bügeln‘ CH (722); kucken ND (956); metzgen SWD, CH (1042); nutzen vars ND (1122); nützen vars SD (1122); rechen SD, MD, A, CH (1217); schumpern OMD (1350); springen ,laufen‘ SD, CH (1439); veranlagen ,investieren‘ A (1634) Adjektive, Adverbien, Interjektionen und Partikeln mit regionaler Kennzeichnung sind in (37) illustriert: (37) eindrücklich CH, muuten harv (535); einlässlich SD, A, CH (541); lütt ark ND (1014); plierig ,schmutzig, nass‘ OMD (1171); raß SD (1210); stempelpflichtig A (1464); strack ,faul, bequem‘ WMD (1479); anhin CH (217); daheim vars SD, A, CH (465); freilich ,gewiss doch‘ vars SD (653); heuer SD, A, CH (795); innerorts vars A, CH (843); nimmer ,nicht mehr‘ SD, A (1112); sonderlich ,insbesondere‘ A, CH, muuten vanh (= veraltet) (1412); gelle MD (695); grüezi CH (739); salü ark CH, muuten murt (1277); servus ark vars SD, A (1387); eh ark SD, A (529); halt ark SD, A, CH (754); ne ark vars ND (1094) Bei der Markierung syntaktischer Eigenheiten wurde dem Gebrauch des temporalen Hilfsverbs bei bestimmten intransitiven Verben (vgl. dazu oben) besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dies liegt daran, dass die entsprechenden Angaben etwa in DUW (2007) und VWB (2004) manchmal voneinander abweichen. Im Falle
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differierender Beschreibungen diente der Usus in VWB (2004) als Richtschnur,vgl. z. B.: (38) anliegen SD, A, CH s (221); hängen SD, A, CH s (761); herumsitzen SD, A, CH s (790); hocken SD, A, CH s (819); knien SD, A, CH s (910); stecken SD, A, CH s (1458); vorstehen SD, A, CH s (1709) Während DUW (2007) etwa für Ableitungen und Komposita mit liegen, sitzen und stehen im Südstandard sowohl haben als auch sein vermerkt, wird in VWB (und folglich auch in JK) nur sein als Hilfsverb angegeben. Das Gleiche gilt für die einfachen Verben, bei denen sich DUW (2007) von VWB (2004) unterscheidet, vgl. hängen und stecken (laut DUW haben und sein) bzw. hocken und knien (laut DUW sein nur in Süddeutschland). – Ein weiterer Teilbereich der Syntax, dessen regionale Besonderheiten in JK beschrieben werden, ist die Verb- und Adjektivvalenz, vgl.: (39) jmdn. anfragen CH (211); jmdm. anläuten CH (220); jmdm. anrufen ark SWD, CH (227); jmdm. erbarmen A (575); eine Partei präsidieren CH (1181); auf etw. vergessen SD, A (1647); um etw. froh sein SD, CH (658) Der dritte syntaktische Aspekt, der hier genannt werden soll, ist der Gebrauch von Präpositionen bei bestimmten kirchlichen Feiertagen. Die Beschreibungspraxis sieht bei den entsprechenden Substantiven aus wie folgt: (40) Himmelfahrt an vars SD; zu vars ND (798) Die Beispiele aus dem Bereich der Phraseologie vertreten zwei Subklassen von Phraseologismen. In (41) handelt es sich um Idiome: (41) etw. bachab schicken CH (333); Butter auf dem Kopf haben ark SD, A (454); jmdm. ins Gäu kommen A, CH (676); jmdm. das Goderl kratzen ark A (727); im Handkehrum CH (759); zum Handkuss kommen A (759); einen Knödel im Hals [e] haben vars SD, A (911) Bei der zweiten Subklasse hat man es mit kommunikativen Formeln zu tun: (42) [ich] hab[e] die Ehre! vanh A (530); behüt dich Gott! SD, A (729); grüß [dich/ euch/Sie] Gott! SD, A (729); vergelt’s Gott! vars SD (729) Die wichtigsten Quellen für die Kennzeichnung der Regionalismen in JK waren die Duden-Wörterbücher und VWB (2004). Wenn die Markierungen im Duden unspezifisch waren (vgl. z. B. „landsch.“), wurde unter Heranziehung von weiteren Hilfsmitteln versucht, die regionale Verbreitung genauer zu erfassen. Dabei haben sich vor allem VWB (2004) und König (2004) als besonders nützlich erwiesen.
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Konnten Unterschiede etwa zwischen Duden und VWB (2004) festgestellt werden, wurde der Vorzug dem VWB (2004) gegeben (vgl. auch oben).
7 Fazit Die oben durchgeführte Analyse hat für die drei deutsch-finnischen Handwörterbücher zahlreiche Mängel, irreführende Angaben, Inkonsequenzen und auch ganz schwerwiegende Fehler bei der Erfassung sprachlicher Besonderheiten des Nord- und Südstandards zutage gefördert. Das Gesamtbild würde sich noch weiter verschlechtern, wenn die Reihenfolge der Marker, die fehlende regionale Kennzeichnung, die Relevanz der markierten Lemmata und entsprechenden Informationen und die Adäquatheit der finnischen Äquivalente der Lemmata näher untersucht worden wären (für die Darstellung des Südstandards in den drei Handwörterbüchern vgl. Korhonen 2002). Dass die Beschreibungen in IR und AK in so vielen Fällen korrekturbedürftig sind, muss darauf zurückgehen, dass diesen Wörterbüchern kein ordentliches lexikografisches Konzept zugrunde liegt. An mehreren Stellen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie sich die Unterschiede zwischen IR und AK einerseits und den einsprachigen deutschen Wörterbüchern und sonstigen Quellen andererseits erklären. Es bleibt der bedrückende Verdacht bestehen, dass diese deutsch-finnischen Wörterbücher von Personen verfasst wurden, deren Fachkenntnisse erstaunlich große Lücken aufweisen und die außerdem sehr nachlässig arbeiten und mit intuitiven Entscheidungen operieren. Im Vergleich zu IR und AK ist die lexikografische Darstellung der sprachlichen Regionalismen in PK weitaus besser. Das Wörterbuch basiert auf einem gut durchdachten Konzept, und der Verfasser ist im Unterschied zu IR und AK bei der Berücksichtigung von Eigenheiten des Nord- und Südstandards um ein ausgewogenes Verhältnis bemüht. Aus dem Vorstehenden ist jedoch ersichtlich, dass für die Darstellung von Regionalismen auch in diesem Wörterbuch nicht wenige Ergänzungen, Präzisierungen und Korrekturen erforderlich wären. Da auf der Basis der Erkenntnisse in Korhonen (2002) feststand, dass sich die lexikografische Erfassung von Regionalismen in den deutsch-finnischen Handwörterbüchern zum Teil in einem geradezu miserablen Zustand befindet, wurde bei der Erstellung des deutsch-finnischen Großwörterbuchs der Beschluss gefasst, u. a. auch die Besonderheiten des Nord- und Südstandards möglichst umfassend, sorgfältig und adäquat zu beschreiben. Der einzige Bereich, in dem es nicht möglich war, alle regionalen Spezifika darzustellen, ist die Aussprache. Im Ganzen scheint jedoch das Wörterbuch im Hinblick auf regionale Charakterisierungen sein Ziel erreicht zu haben: In mehreren Rezensionen (vgl. z. B. Jäntti 2009, 337; Keinästö 2009, 67; Pantermöller 2009, 232; Virkkunen 2009, 235; Häkkinen 2010,
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154) wird mit Genugtuung festgehalten, dass die sprachlichen Besonderheiten Nord-, Mittel- und Süddeutschlands sowie Österreichs und der Schweiz in JK nun die ihnen gebührende Beachtung erfahren haben.
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Jarmo Korhonen
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Csaba Földes
Sprachliche Praktiken im Spannungsfeld von Variation und Mehrsprachigkeit: Ein Beitrag zur Empirie Abstract: Ausgangspunkt des Beitrags ist die Kulturrealität, dass Angehörige zweibzw. mehrsprachiger Diskursgemeinschaften – zumindest innerhalb ihrer Gruppe – in vielerlei Hinsicht anders kommunizieren, d. h. mit ihren Sprachvarietäten anders umgehen als einsprachige Personen. Den Objektbereich des Beitrags bildet eine Mehrsprachigkeitskultur. Es geht um die Darstellung der Variationspraxis der Sprecher: Der Fokus liegt auf Sprachgebrauchsstrukturen bi- bzw. multilingualer Sprecher in einem komplexen Kontakt-, Konvergenz- und Interaktionsraum mehrerer Sprachen und Kulturen, mit dem Ziel, Merkmale und Strukturen einer solchen Redeweise am Beispiel des Deutschen als Minderheitensprache herauszuarbeiten. Mittels einer heuristischen Erfassung und Hinterfragung sprachlichkommunikativer Variation soll – generalisierend – zur Aufdeckung bilingualer sprachkommunikativer Szenarien und Praktiken sowie zur Modellierung des bilingualen Diskurs- bzw. Interaktionsmodus schlechthin beigetragen werden. Die Untersuchung hat erwiesen, dass die erschlossenen kontaktinduzierten Variationsphänomene das sprachlich-kommunikative Innovationspotenzial und die spezifische Dynamik eines zwei- bzw. mehrsprachigen und transkulturellen Kontextes reflektieren. Keywords: Variation, Zweisprachigkeit, Sprachkontakt, Interkulturalität, Hybridität, Synkretismus, Sprachdynamik, Sprachnormen
1 Themeneinstieg: Problemrahmen und Gegenstand Auch aus den Arbeiten des Jubilars tritt die durch Varietätenvielfalt hervorgerufene Mannigfaltigkeit der deutschen Sprache deutlich hervor (vgl. Ammon 2005).¹ Für die Untersuchung von variationsbedingter Dynamik sprachkommunikativer
So beschäftigte er sich intensiv mit Problemen der Stellung von Varietäten und Sprachen in Gesellschaften mit mehreren Varietäten oder Sprachen, beschrieb deren Konsequenzen für ihre Sprecher (z. B. Ammon 1989) und legte substanzielle Veröffentlichungen zur Theorie und Empirie der nationalen Varietäten des Deutschen vor (z. B. Ammon 2005).
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Handlungsstrategien und Techniken scheint mir das Kulturphänomen ‚Mehrsprachigkeit‘ einen ergiebigen und in gewisser Weise sogar prototypischen Fall zu verkörpern. Denn Sprecher wirken hier permanent und vielgestaltig auf die Sprache(n) ein, bestimmen ihren ‚Wandel‘ mit, indem sie sich (mehr oder weniger unbewusst) mit dem Funktionieren und dem System ihrer Sprachvarietät auseinandersetzen. Diese spontane, unmittelbare Organisierungstätigkeit einer bilingualen Diskursgemeinschaft bezüglich des Sprach- bzw. Sprachgebrauchssystems bildet den Gegenstand der Betrachtung. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist mithin die Alltagserfahrung, dass Angehörige zwei- bzw. mehrsprachiger Diskursgemeinschaften – zumindest innerhalb ihrer Gruppe – in vielerlei Hinsicht anders kommunizieren, d. h. mit ihren Sprachvarietäten anders umgehen als einsprachige Personen. In diesem Sinn behandelt der Beitrag eine bestimmte Mehrsprachigkeitskultur. Es geht um die Darstellung der Variationspraxis der Sprecher: Es wird auf Sprachgebrauchsstrukturen bi- bzw. multilingualer Sprecher in einem komplexen Kontakt-, Konvergenz- und Interaktionsraum mehrerer Sprachen und Kulturen fokussiert, mit dem Ziel, Merkmale und Strukturen bi- bzw. multilingualer Redeweise herauszuarbeiten. Die Beschreibung „gemischtsprachigen“ Sprechverhaltens und sprachlich-kommunikativer Variation erfolgt exemplarisch am Beispiel des Deutschen als Minderheitensprache in Ungarn.² Dabei beziehe ich mich auf Befunde und Erkenntnisse einer umfassenden variations- bzw. kontaktlinguistischen Feldforschung.³ Dadurch soll – generalisierend – zur Aufdeckung bilingualer sprachkommunikativer Szenarien und Praktiken⁴ sowie zur Modellierung des bilingualen Diskurs- bzw. Interaktionsmodus schlechthin beigetragen werden. Hierbei wäre die gesamte Spannbreite – von den lexikalischen Oberflächenstrukturen bis hin zum kommunikativen Stil und den Diskursnormen – interessant, auch wenn im Rahmen dieses Aufsatzes lediglich einige Aspekte ausgeleuchtet werden können.
Eine in vieler Hinsicht ähnliche sprachliche Situation ist auch in weiten Teilen Ostmittel-, Ostund Südosteuropas sowie der GUS-Staaten anzutreffen. Forschungsdesign, Grundkonzept und Hauptlinien wurden in Földes (2005, 22 ff.) detailliert ausgeführt. Im Folgenden greife ich auch auf Feststellungen und Ergebnisse früherer Publikationen zurück (Földes 2002 und 2007). In Anlehnung an Fiehler (2001, 97 f.), aber in einem konkreteren Sinne als bei ihm, verstehe ich unter „kommunikativen Praktiken“ ein Konzept der Diskursteilnehmer, an dem sie sich orientieren und mit dessen Hilfe sie ihre kommunikative Praxis – produktiv wie rezeptiv – strukturieren und organisieren.
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2 Der empirische Hintergrund Im Beitrag geht es um eine spezifische Sprach- und Sprachensituation,⁵ die besondere Variationsmuster des Deutschen aufweist, für die ein umfassender und durchdringender soziokultureller sowie sprachlicher Austausch – und als deren Folge Mehrsprachigkeit und Inter- bzw. Transkulturalität – den Bezugsrahmen darstellen. In dieser kulturellen „Fugen-Position“ ist das Deutsche weder Mutternoch Fremdsprache im herkömmlichen Sinne des Wortes. Die Sprach(en)verhältnisse der Ungarndeutschen werden seit über 250 Jahren grundlegend durch immer intensiver werdende „Außenkontakte“ mit dem Ungarischen und mit anderen Umgebungssprachen bzw. -varietäten gekennzeichnet: Ungarisch übt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen sukzessiv erstarkenden Einfluss auf das kommunikative Handeln und dadurch auf das Sprachrepertoire der Ungarndeutschen aus, wohingegen nach 1945 die Einwirkung des Ungarischen übermächtig wurde. Mithin ist der Realitätsbereich ‚Deutsch als Minderheitensprache‘ heute durch eine markante, zugleich aber immer instabiler werdende Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit – z. B. als „fluide“ Diglossie⁶ – und gleichzeitig durch eine enge Verquickung mit dem Ungarischen als überaus dominante Kommunikationssprache gekennzeichnet. In den verschiedenen Kommunikationszusammenhängen wird produktiv wie rezeptiv im Wesentlichen auf drei sprachliche Kodes und ihre subtilen Übergangs- bzw. Mischformen zurückgegriffen, und zwar auf die jeweilige ungarndeutsche Ortsmundart, auf die ungarische Standardvarietät und auf die deutsche Standardvarietät. Das heißt, dass die Situation durch eine Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit strukturell „unähnlicher“ Sprach(varietät)en mit „ungleichwertigem“ Status und Prestige geprägt ist. Dies führt zu einem asymmetrischen Charakter des Sprachenkontaktes. Die Situation könnte man in Ermangelung eines etablierteren Terminus vielleicht ‚bilinguale Dialekt-Standard-Diglossie‘ nennen. Den in der mündlichen Ingroup-Kommunikation verwendeten besonderen, bilingual-transkulturell geprägten Varietätentyp bezeichne ich als ‚Kontaktdeutsch‘ (vgl. Földes 2005, 37). Dabei sind die sprachlichen Formen und ihre Diskursrealisierungen durch eine außerordentlich hohe Dynamik gekennzeichnet, mitunter zeigen sich sogar Ansätze von Fluktuation sowie u.U. eine zunehmende Labilität. Folglich ist Okkasionalität ein immanentes Merkmal ungarndeutscher Redeweise. Demzufolge
Unter Sprachsituation wird Standort und Gesicht einer gegebenen Sprache (bzw. Varietät) in areallinguistischer, soziolinguistischer und systemlinguistischer Hinsicht verstanden; mit Sprachensituation bezeichne ich die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschende Konstellation von mehreren Sprachen (bzw. Varietäten) in einer Gesellschaft. Zur Opposition „rigide“ vs. „fluide“ Diglossie vgl. Pauwels (1986, 15).
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praktizieren Ungarndeutsche einen spezifischen, ausgesprochen kontextgebundenen bilingual-oszillierenden Sprech- bzw. Gesprächsstil, der in Abhängigkeit von den kommunikativen Bedingungen variiert wird und der sogar für die Symbolisierung sozialer Identität (und Alterität) eine Rolle spielt. Man kann es auch so formulieren: Die einzelnen Äußerungen sind im Hinblick auf ihre lexikalische und grammatische Gemischtsprachigkeit auf der Mikroebene jeweils weitgehend einmalig, spontan und variabel, sie haben jedoch auf der Makroebene gemeinsam, dass sich gleichartige Mechanismen des Synkretismus ergeben sowie dieselben Klassen und Typen von Hybridität entstehen. Das heißt: In der bilingualen Diskursgemeinschaft spricht „jeder auf eine andere Weise gleich“. Die der Untersuchung zugrunde liegende sprachlich-kommunikative Datenbasis stammt aus Hajosch/ Hajós (in der nördlichen Batschka, im Komitat Batsch-Kleinkumanien/Bács-Kiskun), dessen Ortsdialekt schwäbischer Provenienz ist.
3 Sprechen in einem Spagat zwischen zwei Sprachen und Kulturen Das sprachlich-kommunikative Verhalten ungarndeutscher Sprecher, die in mehrsprachigen und polykulturellen Räumen aufwachsen und leben, unterscheidet sich naturgemäß von dem einsprachiger Sprecher des Deutschen z. B. im zusammenhängenden deutschen Sprachraum. Als Reflex auf die veränderten kommunikativen Rahmenbedingungen ist die Schaffung neuer kommunikativer und sprachlicher Formen unumgänglich; sind doch die Sprecher in der Auseinandersetzung mit dem sprachlich-kulturellen Hintergrund einer Mehrheitsgesellschaft und einer Minderheitengemeinschaft angehalten, neue Diskursstrategien zur Verständigung zu entwickeln. Zum Ergebnis gehören u. a. spezifische Zwischenformen und (kreative) Verbindungen aus den verfügbaren Kodes. Es handelt sich im Grunde um drei verschiedene Typen sprachkommunikativer Kontaktphänomene: (a) Prozesse interlingualer Transfers/Übernahmen, (b) zwischensprachliche Kopien und (c) Sprachwechsel. Die ersten beiden Manifestationsarten fasse ich unter Hybridität, während Typ (c) als Synkretismus betrachtet wird. Das Konstrukt ‚Hybridisierung‘ betreffend⁷ bauen die meisten Konzeptvorstellungen der Forschungsliteratur größtenteils auf Bachtins kultursemiotischem Modell (2010, 244) auf: „Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung“. Der Terminus ‚Synkretismus‘ ist in der germanistischen Linguistik in dem von mir verwendeten Sinne –
Zu Inhalt, Entwicklung und Anwendung dieses kulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriffs siehe Bhabha (2012).
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als Bemühung um Harmonisierung unterschiedlicher Systeme – bisher nicht geläufig⁸ (zur Begriffsgeschichte vgl. Berner 1982); mit ihm wird in der Regel lediglich in einer ganz anderen Bedeutung als ‚formaler Zusammenfall verschiedener, ursprünglich getrennter grammatischer Funktionen‘ vor allem anhand des Kasussystems verschiedener Sprachen (Stichwort ‚Mischkasus‘) gearbeitet, vgl. etwa Baerman/Brown/Corbett (2005). Mein Begriffsapparat operiert mit ‚Synkretismus‘ eher auf der Ebene von Sprechhandlungen, ‚Hybridisierung‘ indessen beziehe ich auf sprachsystematische Prozesse.
4 Variationsdimensionen im Kontext von Zweibzw. Mehrsprachigkeit Dass zwei- bzw. mehrsprachige Sprecher in der gruppeninternen Kommunikation entsprechende sprachkommunikative Praktiken entwickeln, ist der Forschung seit Längerem bekannt. Bereits bei Haugen (1953, 60 ff.) findet man Hinweise auf die Unterscheidung zwischen einer von den Wörterbüchern und Grammatiken kodifizierten einsprachigen („rhetorischen“) Norm und einer „bilingualen“ Norm.⁹ Vor diesem Hintergrund kann für die Ausgestaltung eines Beschreibungs- und Interpretationsrahmens eine bilinguale Sprach- und Kommunikationskompetenz postuliert werden. Der Standard einsprachiger bundesdeutscher Sprecher (genauer: seine Verwendungsnorm) wird dabei der Anwendbarkeit halber gewissermaßen als Bezugsgröße (aber keineswegs als Bewertungsmaßstab!) angesehen. Eines der hervorstechenden Merkmale des neuen Varietätentyps ‚Kontaktdeutsch‘ besteht darin, dass seine Sprecher ihre Sprachwelten in aller Regel nicht strikt getrennt halten, sondern in ihren oralen kommunikativen Handlungen kreativ die Grenzen¹⁰ einer Sprache überschreiten, indem sie sprachkommunikative Möglichkeiten aus mehreren sprachlichen und kulturellen Systemen in den Dienst einer effektiven Interaktion stellen. Plakativ ausgedrückt: Ihre gesprochene Sprache „geht fremd“. Dabei ergeben sich Strukturen, Kombi-
Die iberoromanische Sprachwissenschaft kennt jedoch schon ähnliche Ansätze, z. B. Hill/Hill (1986, 57). Das Konstrukt „bilinguale Norm“ soll hier als eine Art gesprochene Gebrauchsnorm (ohne institutionelle normgebende Instanzen) verstanden werden (vgl. Földes 2005, 252 ff.). Dabei ist zu beachten, dass „Norm“ weniger eine linguistische, sondern eine soziologische Kategorie ist. Deswegen spielt die Frage eine entscheidende Rolle, welchen Normerwartungen man als Sprecher in einer Gemeinschaft entsprechen will. Sofern man im Falle von Sprachen – insbesondere in Mehrsprachigkeitskulturen – überhaupt von Grenzen sprechen kann.
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XQLOLQJXDOHV (QGH DP GHXWVFK VSUDFKLJHQ 3RO
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6SUDFKH Ä%´ 8QJDULVFK DOV %DVLVVSUDFKH Abb. 1: Der bilinguale Diskursmodus
nationen und Gebrauchspräferenzen, die herkömmliche einzelsprachliche Wohlgeformtheitsbedingungen verletzen, woraus sich – wie im Folgenden zu zeigen ist – eine enorme Herausforderung für die linguistische Theorie ergibt. Zwei- bzw. mehrsprachige Personen befinden sich in ihrer kommunikativen Alltagspraxis – wenn man ein psycholinguistisches interaktives Modell verwendet – an verschiedenen Punkten eines (doppelten) Situationskontinuums, die (als spezifische sinnhafte Weisen, ein Gespräch zu realisieren) verschiedene Diskurs- bzw. Interaktionsmodi verlangen, vgl. Abbildung 1 (Földes 2005, 65 f. und 2007, 46):¹¹ Bei Interaktionen mit ausschließlich unilingualen Sprechern sind die zwei- und mehrsprachigen Individuen jeweils an den beiden Enden des Kontinuums im unilingualen Sprachverwendungsmodus anzusiedeln.¹² Als Antipode zu den beiden agiert der bi- bzw. multilinguale Sprachverwendungsmodus (in der Abb. 1 in der Mitte), bei dem zwei- und mehrsprachige Sprecher mit Kommunikationspartnern interagieren, denen praktisch dasselbe sprachkommunikative Repertoire zur Verfügung steht und mit denen sie im Allgemeinen eine gemischtsprachige Kommunikation praktizieren, dabei also den Kode umschalten, Lexeme transferieren usw. Zwischen den beiden Extrempunkten des deutschen bzw. des ungarischen unilingualen Sprachverwendungsmodus liegen zwei ‚Halbkontinua‘. Innerhalb des jeweiligen Halbkontinuums können sich die Sprecher – z. B. je nach Kommunikati In teilweiser Anlehnung an Grosjean (2008, 40) und an Kallmeyer/Keim/Aslan/Cindark (2002, 5). In der Abb. 1 ganz links am deutschsprachigen und ganz rechts am ungarischsprachigen unilingualen Pol.
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onspartner, Thema, Situation etc. – in verschiedenen Intervallen befinden. Die Basissprachen A und B (in unserem Fall der ungarndeutsche Ortsdialekt und das Ungarische) sind am oberen bzw. unteren Rand angesiedelt, während das doppelte Kontinuum den mittleren Teil beansprucht. An den unilingualen Enden der beiden Halbkontinua passen sich die zwei- bzw. mehrsprachigen Personen also dem Sprachhandeln des ausschließlich einsprachigen Kommunikationspartners an. Ihre andere(n) Sprach(varietät)en werden (möglichst) vollständig ausgeschlossen (d. h. deaktiviert).¹³ Die Aufhellungen bzw. Verdunkelungen der Ellipsen zeigen, in welchem Grade die betreffende Sprache im gegebenen Falle aktiv ist. Die Mitte der Grafik markiert Situationen, in denen zwei- bzw. mehrsprachige Sprecher mit anderen zwei- bzw. mehrsprachigen Sprechern kommunizieren. In diesen Fällen gelangen in der Regel die beiden Sprachen A und B – z. B. in der Form von KodeUmschaltungen, wenn also im Rahmen einer Interaktion durchgehend zwei Sprachen verwendet werden – weitgehend zum Einsatz. Dabei wird jeweils diejenige Sprache, die als dominierende Basissprache der Kommunikation fungiert, naturgemäß etwas aktiver sein als die andere. So kann innerhalb eines Gesprächs – in Abhängigkeit von den situationsbestimmenden Faktoren – einmal die eine, einmal die andere Sprache als Basissprache dienen.¹⁴ Das bilingual-transkulturelle Variationsfeld ist umfangreich. Neben der Variation des Diskursmodus (einsprachig vs. zweisprachig) ist Variation auch im Hinblick auf die Sprache möglich. In diesem Punkt ist feiner zu differenzieren: Neben der Ebene des Sprachmaterials (= Form) ist auch die – in der Forschung kaum beachtete – konzeptuelle Ebene (= Inhalt) von Belang. Denn es gibt z. B. spezifische hybride Äußerungen (etwa im Bereich der Phraseologie; vgl. Beleg Nr. 7), die Konzepte der einen Sprache/Kultur mit dem Sprachmaterial der anderen ausdrücken. Zusammenfassend kann das Modell durch Abb. 2 veranschaulicht werden:
Ein komplettes Ausschalten der jeweils anderen Sprache kann allerdings nie vollkommen gelingen, weil auch im unilingualen Modus sich stets – evident oder latent – Spuren der anderen Sprache wiederfinden lassen. Abb. 1 soll nicht suggerieren, dass es einen absolut stabilen Zusammenhang zwischen Kontext und Sprachverwendung gibt. Attitüdenstrukturen und Einstellungskonzepte den betreffenden Varietäten gegenüber weisen eine starke individuelle Variation auf: In meinem Beobachtungsbereich trifft man z. B. sowohl Sprecher mit habitualisiert großem Deutschanteil als auch Sprecher mit habitualisiert großem Ungarischanteil.
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Csaba Földes
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Abb. 2: Bilinguale Variationsdimensionen
Dadurch sind bei zwei- bzw. mehrsprachigen Personen in zweierlei Hinsicht Hybridität und Synkretismus möglich: einerseits – auf der Ebene der Kommunikation – als eine Mischung bzw. ein Wechsel der Diskursmodi, andererseits – auf der systemlinguistischen Ebene – als eine Kombination bzw. eine Mischung von Elementen, Strukturen und Modellen. Aber selbst der bilinguale Diskursmodus kann variieren, je nachdem, ob die Redeprodukte mehr deutsch- oder mehr ungarischsprachige Anteile haben, d. h. ob sich das gegebene Sprechereignis im Schema (Abb. 1) etwas links oder etwas rechts von der Mitte befindet.
5 Vorgänge und Ergebnisse bilingualer Variation: sprachliche Hybridität und kommunikativer Synkretismus Aus der Vielfalt der Sprachenmischungserscheinungen, die im Rahmen meiner Forschungen an Hajoschs Material erschlossen werden konnte (vgl. Földes 2002, 2005 und 2007), sollen nun einige Belege die Spannbreite des Variationsfeldes bzw. einzelne Ausprägungstypen sprachlicher Hybridität und kommunikativen Synkretismus‘ exemplarisch verdeutlichen.
5.1 Ein Phänomenfeld der Hybridität: Transferenzen Lexik und Semantik: Im Bereich der besonders zahlreichen lexikalisch-semantischen Transferenzen wirken Belege wie Nr. (1) auf Anhieb – zwischen Befremdlichkeit und Faszination – recht spektakulär (siehe Földes 2002, 356).
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(1) Soll ma itt em polgármester ¹⁵ saj ajándék zimacsomagolni and teand legalább zwi, drei szaloncukor odr eappes naj? Akkor szép lenne. (Standarddeutsch,¹⁶ im Weiteren – SD: Soll man nicht dem „polgármester“ [= Bürgermeister] sein „ajándék“ [= Geschenk] zusammen-„csomagolni“ [= packen] und tut „legalább“ [= wenigstens] zwei, drei „szaloncukor“ [= Süßigkeit am Weihnachtsbaum] oder etwas hinein? Dann wäre es schön.)¹⁷ Transferenzen erscheinen nicht nur in Form von Übernahmen der Lautform, sondern gelegentlich auch latent als Nachbildungen, die ich Transferenz-Bildungen nenne, mit den Untertypen Übersetzungs-Transferenz, ÜbertragungsTransferenz, Modell-Transferenz und Bedeutungs-Transferenz (vgl. Földes 2005, 121 ff.). Dieser Phänomentyp wird im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs auch als Kode-Kopieren bezeichnet und im Rahmen eines „Code-Copying Model“ expliziert, vgl. Johanson (2005). Ein Beispiel: Modell-Transferenzen verkörpern eigentlich Transferenzen des Typs ‚Lehnschöpfung‘ (besser: ‚Transferenz-Schöpfung‘), also Nachbildungen, bei denen nicht das Wortmaterial, sondern lediglich die Prägeweise, d. h. die Bildungsart transferiert wird. Diese Neuprägungen sind also vom kontaktsprachlichen Muster in der Regel semantisch, aber nicht formal abhängig. Vgl.: (2) Jetz: mus: ma deam. Biabli d Hitz:awag ne:itua. (SD: Jetzt muss man dem Büblein die Hitzwaage [= das Fieberthermometer] hineintun.) Die Zusammensetzung Hitzwaage dürfte mit der Einwirkung von ungar. lázmérő (Fieberthermometer, eigentlich láz = ‚Fieber‘ + mérő = ‚Messer/Messgerät‘) zu Die Übernahmen aus dem Ungarischen erscheinen bei allen Belegen gemäß der ungarischen Orthographie und typographisch – zur prägnanteren Kennzeichnung und Hervorhebung – im Fettdruck. Darunter verstehe ich hier – zur größtmöglichen Wahrung der Authentizität – die textgetreue Wiedergabe des sprachlichen Belegs mit Elementen und Mitteln der deutschen Standardsprache, unabhängig davon, ob in der Standardvarietät in Deutschland die gegebene lexikalische oder morphosyntaktische Ausformung gebräuchlich ist oder nicht. Angesichts der Tatsache, dass das Deutsche eine plurizentrische Sprache darstellt, gibt es ja sowieso keinen gänzlich einheitlichen Standard. Zur verwendeten „Grobtranskription“ vgl. Földes (2005, 106 ff.). Ich bediene mich in all den Fällen, in denen die Phonem-Graphem-Beziehungen des Standards Deutschlands auch im dargestellten Dialekt gelten, des deutschen Schriftalphabets. Bei Abweichungen von diesen Korrespondenzen wird mit folgenden ergänzenden Zeichen operiert: Zur Kennzeichnung derjenigen langen Vokale des Dialekts, die im Standard Deutschlands nicht lang sind, wie auch zur Markierung von langen Konsonanten dient ein nachgestellter Doppelpunkt. In Zweifelsfällen verschiedener Art habe ich stets (der besseren Lesbarkeit halber) standardnähere Schreibungen bzw. der geschriebenen Sprache näher stehende Formen bevorzugt.
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erklären sein. Die Glieder entsprechen aber nur recht indirekt der Vorlage: Hitze ~ láz (Fieber) und Waage ~ mérő (Messer/Messgerät). Morphosyntax: Die Problematik der grammatischen Transferenzen ist in der Forschungsliteratur spärlicher bzw. weniger einheitlich bearbeitet (vgl. Földes 2002, 357). Müller hat in seiner zuerst 1861 erschienenen Schrift noch gemeint, dass „Sprachen in ihrem Vokabular zwar gemischt sein können, aber in ihrer Grammatik nie gemischt werden können“ (1994, 79). Diese Ansicht wurde von der nachfolgenden Forschung nahezu in den Rang einer Lehrmeinung erhoben. Noch heute vertreten viele Linguisten den Standpunkt, dass zwischensprachliche morphosyntaktische Beeinflussungen praktisch nicht möglich seien, vgl. Barba (1982, 181), Filipović (1986, 185) und Stepanova (1983, 198 f.). In dem von mir erhobenen und aufbereiteten Material konnte jedoch eine Reihe relevanter morphologischer und syntaktischer Kontaktphänomene nachgewiesen werden. Diese gehen in mancher Hinsicht wesentlich über das hinaus oder sind nur teilweise parallel zu dem, was an anderen Sprachenpaaren und unter anderen kulturellen Konfigurationen beschrieben wurde (vgl. ausführlicher Földes 2005, 149 ff.). Besonders frappierend sind Strukturen, bei denen die Grammatik sowohl deutsch als auch ungarisch ist. Beispielsweise findet man in Beleg Nr. (3) in einer lexikalisch relativ homogenen – einsprachig deutsch-dialektalen – Nominalphrase ein Phänomen, das als morphologischer Transfer aus dem Ungarischen explizierbar ist: (3) Schit:’s miar ans Gläsliba! ¹⁸ (SD: Schütte [= Gieße] es mir ins Gläslein!) Eine hybride Morphemstruktur kommt dadurch zustande, dass die Kontraktion aus Präposition (in) und Artikel (das) zwar noch deutsch ist, wobei eine Hybridisierung durch das ungarische Illativsuffix am Wortende erfolgt.¹⁹ Ein möglicher Grund für diesen Transfer der ungarischen Morphologie dürfte in der sprachökonomischen Leistung des Ungarischen in diesem Bereich liegen, nämlich darin, dass raumbezogene Richtungsangaben im Ungarischen durch die jeweiligen Illativsuffixe rein morphologisch realisiert werden, während man sie im Deutschen etwas aufwändiger durch Präfixe mit den davon abhängenden (und indirekt vom Verb bestimmten) Kasus in den Artikeln und Kernsubstantivendungen der Nominalgruppe – und somit morphosyntaktisch – ausdrückt. Über-
Die Endung -ba ist ein ungarisches Illativsuffix, d. h. ein Ortsbestimmungssuffix des inneren Raumes auf die Frage wohin? Eine solche zusätzliche Suffigierung beim Substantiv in einem Präpositionalgefüge ist ausnehmend aufschlussreich, wäre sie doch beim Kontakt von zwei flektierenden indogermanischen Sprachen nicht denkbar.
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dies zeigt dieser Beleg eine eigentümliche transkulturelle Dualität. Die grammatischen Relationen kommen doppelt (also in beiden Sprachen) und zudem mit kategorial unterschiedlichen Beziehungsmitteln zum Ausdruck: im Deutschen analytisch und im Ungarischen synthetisch. Eine weitere Auffälligkeit ist dabei die Frage der Vokalharmonie. Durch Nachfragen bei den Informant(inn)en und aufgrund weiterer analoger Beispiele wurde klar, dass in diesem Beleg im Prinzip auch die helle Variante -be – Gläslibe (‚ins Gläslein‘) – möglich wäre, ähnlich wie bei den Optionen Häfiliba oder Häfilibe (‚ins Häfilein‘ [Häferlein, Tässchen]). Bei Stämmen mit dunklen Vokalen – wie es der aus ausschließlich dunklen Vokalen bestehende Diphthong [ua] im folgenden Beispielwort belegt – ist hingegen nur die Suffixvariante -ba zulässig; vgl. z. B. Kruagba (‚in den Krug‘). Als aktuellen Trend kann man jedenfalls erkennen, dass die dunkle Variante -ba an Terrain gewinnt.²⁰ Insgesamt drängt sich die Frage auf, in welchen Fällen doppelte Markierungen grammatischer Beziehungen auftreten. Eine naheliegende Hypothese wäre, dass sie besonders dann bevorzugt werden, wenn ein entsprechendes Strukturmuster auch in der Basissprache, d. h. dem deutschen Basisdialekt, in irgendeiner Weise vorhanden ist. Das könnte die Transferenz fördern. Belegsatz Nr. (3) hätte ja auch in der Basisvarietät im unilingualen Modus mit hinein enden können, etwa: Schütte [eigentlich: Gieße] es mir ins Gläslein hinein! Das ungarische Illativsuffix steht mithin an der Stelle des (allerdings vom Substantiv getrennt zu schreibenden) Lokaladverbs hinein. Da es sich gewiss nicht um ein unikausales Phänomen handelt, müsste ein wirklich stichhaltiges heuristisches Erklärungsparadigma wohl zugleich mehrere Argumente auf verschiedenen Ebenen heranziehen. Möglicherweise kann man – neben Erklärungen der Sprachökonomie – auch argumentieren, dass derartige grammatische Transferenzen eher an strukturell komplexen und kognitiv schwierigen Stellen auftreten. Eine weitere faszinierende interlinguale Variationserscheinung kann man bei einigen Formen der Hybridisierungen in der Wortbildung entdecken. Sehr produktiv – auch in anderen Publikationen (z. B. Szabó 2010, 381) dokumentiert – sind beispielsweise die mit der ungarischen Vorsilbe akár- entstandenen kompakten „ungarndeutschen“ Pronominaladverbien, vgl. Beleg (4): (4) I han s tr ksait, ta kascht kau, akármonah, tas ta witt, t’ Wared sagitse tiar toch itt! (SD: Ich habe es dir gesagt, du kannst gehen, akár-[= egal]wohin, dass du
In einem allgemeineren Rahmen kann man dazu parallel beobachten, dass auch die neueren deutschen Lehnwörter im Ungarischen gegen die Vokalharmonie verstoßen, z. B. gründol. In der Rede in Deutschland lebender Ungarn genauso: vorfindenol. So bietet sich die Annahme an, dass diese Flexion die Fremdartigkeit markiert. Wahrscheinlich liegt mit diesem Stamm [+ foreign] eine wohl kaum bewusste Qualifizierung vor.
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willst [eigentlich: …wo du auch immer hinwillst], die Wahrheit sagen sie dir doch nicht! – schwäb. mo = ‚wo‘ + nah = ‚nach‘, entsprechend: monah = ‚wohin‘). Diese durch Zusammensetzung konstruierten ungarischen konzessiven Komposita werden vom bilingualen Sprachträger reetymologisiert. Dadurch tritt ihre Motivation klar in Erscheinung: Die Vorsilbe akár- ²¹ wird aus der Zusammensetzung isoliert und mit den deutschen Fragepronomina wohin und wie verknüpft. Es gibt auch weitere Formen wie akárwas, akármo (‚wo‘) etc. Nach meiner Ansicht kommt es deswegen zur Übernahme der Vorsilbe akárund zu verschiedenen damit gebildeten Komposita, weil die als Muster dienende ungarische Konstruktion sprachlich viel einfacher, ökonomischer und transparenter ist als die entsprechenden analytischen Ausdrucksweisen des Deutschen (w-Fragewort + auch immer + Nebensatz). Der Transparenz fällt eine besondere Bedeutung zu, weil sie dem kognitiven Prozess entgegenkommt, was den zwischensprachlichen Transfer begünstigt. Pragmatik: Mehrsprachigkeitsbedingte Variationsmuster treten nicht nur auf der Systemebene zutage, sondern sie erstrecken sich über die verschiedenen pragmatischen Dimensionen (einschließlich der nonverbalen und paralinguistischen Aspekte in ihrer jeweiligen Kulturspezifik der Sprachverwendungsbeziehungen) bis hin zur soziokulturellen Transferenz (vgl. Földes 2002, 359). So etwa kann man auf die Erfahrung in Zwei- bzw. Mehrsprachigkeitssituationen hinweisen, dass interethnische (kulturelle und sprachliche) Annäherungen und Berührungen oft mit der Übernahme der Umgangs- und Höflichkeitsstrategien, -modelle und -formeln einsetzen. Entsprechend liegen in meinem Material vielfältige Beispiele auch für Transferenzen auf der Text- bzw. Diskursebene vor. Dabei erscheint es mir wichtig festzuhalten, dass nicht nur einzelne Sprachelemente und -muster beeinflusst worden sind, sondern auf der Makroebene auch die Diskurstraditionen²² und die sprachlich-kommunikativen Verhaltensweisen. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Kommunikationsweisen und Diskursnormen der Ungarndeutschen – mit den entsprechenden Kulturmustern – heute eine Hybridqualität im Hinblick auf diejenigen der (weitgehend unilingual und unikulturell) bundesdeutschen und auf diejenigen der ungarischen Kommunikationsgemeinschaft verkörpern. Diese
Sinngemäß: ~ egal. In Anlehnung an Stehl (1994, 139) werden hier darunter die unterschiedlichen Sprech-, Textund Schreibtraditionen verstanden.
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Dimension dürfte auch im Hinblick auf die Theorie der sog. interkulturellen Kommunikation nicht ohne Bedeutung sein. Zu ihrer genauen Erforschung sind jedoch noch gründliche Vorarbeiten sowohl psycho-, neuro-, sozio- und pragmalinguistischer als auch ethnologisch-kulturanthropologischer Art erforderlich.
5.2 Ein Phänomenfeld des Synkretismus: Kode-Umschaltungen Viele intrasentenzielle Kode-Umschaltungen setzen seitens des Kommunikators eine ziemlich hohe bilinguale Sprachkompetenz voraus, denn es treten kaum syntaktische Konflikte zwischen den aufeinandertreffenden grammatischen Systemen auf. Das heißt, an den Schaltstellen werden die syntaktischen Regeln beider Sprachen weitgehend eingehalten, vgl. insbesondere den Schlussteil der Redesequenz Nr. (5). Hier folgt auf die ungarische kausale Konjunktion mer (eigentlich mert [‚weil‘]) die normative Satzgliedstellung des Deutschen, die in diesem Fall auch den Usancen des Ungarischen nicht widerspricht. (5) Máma túlvoltam a Dóránál, hajt hani iara Medili huajmksuacht. So groß ischt sie schau, már gagyog. Sechs Kilo hatse. And t Dóra hat so viel Mill, pis jetz hat sie ellawajl kenna a Mill vakaufa. Jetz hatsie ksajt, jetz kajt sie kuajna me hear, hadd nőjön ez a kislány. Nacht hama lang vazelt, iaran Ma ischt en Teutschland gi arbada, sie haud scha a nujs Haus, abr sie kennid itt najzia, well sie haud kuaj Geld. Jetz ischt iaran Ma uf Teutschland kanga, azon a pénzen bútort akartak venni, mer a Kuchi praucht ma au, and en tr Kuchi tenna hat sie no kar nix. (SD: Heute war ich bei der Dora, heute habe ich ihr Mädel [= ihre Tochter] heimgesucht. So groß ist sie schon, sie lallt schon. Sechs Kilo hat sie. Und die Dora hat so viel Milch, bis jetzt hat sie immer können eine Milch verkaufen. Jetzt hat sie gesagt, jetzt gibt sie keine mehr her, damit dieses Mädchen doch wachsen soll. Danach haben wir lang erzählt, ihr Mann ist in Deutschland arbeiten, sie haben schon ein neues Haus, aber sie können nicht einziehen, weil sie haben kein Geld. Jetzt ist ihr Mann nach Deutschland gegangen, von dem Geld wollten sie Möbel kaufen, weil eine Küche braucht man auch, und in der Küche drin hat sie noch gar nichts.] In manchen anderen Belegen funktioniert die zwischensprachliche Symbiose nicht mehr ganz so harmonisch. Im Beispiel Nr. (6) will die Sprecherin ihrer jüngeren Gesprächspartnerin, die genauso der deutschen Ortsmundart mächtig ist, etwas erklären, wobei sie ständig – fast verkrampft – den Zugriff auf das Ungarische sucht. Es ist aber offenkundig, dass dies nicht funktional bedingt ist, weil sie ja diese Sprache nicht sehr gut beherrscht. Daher entsteht ein kaum
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verständliches sprachliches Konglomerat aus verzweifelter ungarischer Wortsuche und urtümlichem ungarndeutschen Dialekt: (6) Ziegl ischt so vill, hogy … wiea soll i’s diar jetz uff Angrisch saga … hooo … hogy … hogy … hogy sok gyereket nevelnek, tudod … hogy sok gyerek van, tudod, és ahun [sic!] sok gyerek van, wiea sagid sie uff sealli Angresch, hogy ezek olyanok, mint a disznók, annyira [von der Gesprächspartnerin zur Hilfe vorgegeben: szaporák] szaporák, so kan däs sei, … s … s … s Ziegldorf, däs ischt szapora-Dorf, kasch au saga. (SD: Ziegel ist so viel, dass … wie soll ich es dir jetzt auf Ungarisch sagen … da … dass … dass … dass sie viele Kinder erziehen, du weißt … dass es viele Kinder gibt, und wo viele Kinder sind, wie sagen sie [= sagt man] auf solche [= das] ungarisch, dass diese so sind wie die Schweine, sie vermehren sich so, so kann das sein, [da]s … [da]s … [da]s Ziegeldorf,²³ das ist ein „szapora“- [= fortpflanzungsfreudiges] Dorf, kannst [du] auch sagen.) In bestimmten Fällen ist eine Unterscheidung, was als das „Eigene“ oder das „Andere“ bzw. „Fremde“ gilt, schwierig. Beleg Nr. (7) führt dies deutlich vor Augen (Földes 2005, 232 f.): (7) Aisri Nachpr iahran Bua, de:a ischt letért a rendes vágányról, nem jár iskolába and ear ischt greulig agresszív. (SD: Unseren Nachbarn ihr Bube, der ist aus dem Gleis geraten, er geht nicht in die Schule und er ist gräulich aggressiv.) Dieses Redesegment zeugt von einer dynamischen und variablen Verfasstheit sowohl der bilingualen Handlungskompetenz der Sprecher als auch der mentalen Repräsentation der beiden Kodes. Hier erfolgt die Kode-Umschaltung zunächst nur auf der Formebene, weil das der Formulierung zugrunde liegende Konzept innerhalb der Matrixsprache bzw. -kultur Deutsch bleibt. Eine (erste) Umschaltung fand anhand des Phraseologismus letért a rendes vágányról statt, der eigentlich die deutsche Wendung aus dem Gleis kommen/geraten (‚die gewohnte Ordnung und Regelmäßigkeit verlieren‘) ist. Das gebräuchliche ungarische Äquivalent dieser deutschen Wendung wäre nämlich letér a helyes útról (wörtlich: „vom richtigen Weg abkommen“) gewesen; die Sprecherin hat also nicht diese genommen, sondern die Bildlichkeit des deutschen Phraseologismus mit ungarischen Vokabeln ausgedrückt. Das Konzept betreffend, blieb ihre Äußerung
Anmerkung: In der Bedeutung von Dorf ist in Hajosch normalerweise Aat (’Ort’) gebräuchlich. Die Bezeichnung Ziegeldorf haben die Bewohner des Nachbardorfes Waschkut/ Vaskút als Spottnamen für Hajosch verwendet.
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deutsch, das sprachliche Gewand wurde aber schon ungarisch. Das ungarische Sprachmaterial hat schließlich – bei nem jár iskolába (‚er geht nicht in die Schule‘) – auch im konzeptuellen Bereich zu einer Kode-Umschaltung geführt. Man könnte sagen, dass eine „duale“ Kode-Umschaltung in zwei Schritten erfolgt ist: zunächst nur auf der Ebene des Sprachmaterials (d. h. der Formseite), dann auch auf der Ebene des Konzepts (d. h. des Inhalts). Auch besondere Arten von Synkretismus ließen sich aus meinen Sprachproben erschließen, vgl. (8) Ihr Kutya Hand, ²⁴ ihr Räudige! (SD: Ihr räudigen Hunde!) Dieser Beleg dokumentiert das von Bechert/Wildgen (1991, 3) sowie von Appel/ Muysken (2005, 129 ff.) als „Neutralitätsstrategie“ und von Ziegler (1996, 70) als „zwischensprachliche Dopplung“ bezeichnete Sprecherverhalten, bei dem die Mitteilung oder ein Teil von ihr nacheinander in der anderen Sprache wiederholt wird; ich bevorzuge eher ‚bilinguale Dopplung‘, da man dabei nicht in einem „zwischensprachlichen“ Bereich operiert, sondern mit einer Wiederholung desselben in zwei Sprachen zu tun hat. Auch in der Sphäre der Wortbildung ist dieses Phänomen präsent. Beispielsweise nennt eine Gewährsperson ihren Urgroßvater Nienipapa (aus Nieni = Urgroßvater + Papa = Opa), wohl weil sie zuerst das in diesem Fall zum Ungarischen zu zählende papa gelernt, während sie von den Eltern und den anderen Erwachsenen später zunehmend das schwäbische Nieni gehört hat. Daraus bildete sie diese hybride Kombination. Es ist auch hervorzuheben, dass als Folge von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit nicht lediglich mit den von 5.1 bis 5.2.2 illustrierten Variationsmustern zu rechnen ist, sondern auch mit z.T. recht subtilen Vermeidungsstrategien, Übergeneralisierungen u. a. Das heißt: Nicht nur das ist kontakt- bzw. variationslinguistisch relevant, w a s der zwei- bzw. mehrsprachige Sprecher sagt und w i e er das sprachlich formuliert, sondern auch was und warum er etwas n i c h t sagt, warum er sich bestimmter Zeichen(kombinationen) der einen Sprache gar nicht oder nur kaum bedient. So kann sich eine Sprache auch auf die Bevorzugung oder Vermeidung von Elementen, Strukturen und Modellen der anderen Sprache auswirken, was nur recht schwierig, z. B. durch aufwändige Frequenzuntersuchungen etc. fassbar ist.
Hand = ’Hund’.
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5.3 Kognitive Sicht In kognitiver Hinsicht sind synchrone Kontaktmanifestationsformen und Interaktions- bzw. Koproduktionsphänomene zwischen zwei (bzw. gelegentlich mehreren) Sprachsystemen das Produkt einer simultanen Aktivierung von mehreren sprachlichen Kenntnissystemen. Zum einen zeigt sich diese Koaktivierung im Nebeneinander (siehe Beleg Nr. 9), zum anderen in der Überblendung von Elementen beider Sprachen (etwa bei interlingualen Kontaminationen, vgl. Beleg Nr. 10). (9) Me:i Gwand han i: mes:a kimosogatni. (SD: Mein Gewand [= Kleid] habe ich müssen ausspülen [= durchwaschen], oder wie will ich denn [das] sagen?) (10) De:s Buach kam:t van s Gáboréks hear. (SD: Dieses Buch kommt von des [= den] Gábors.) Für die Sprecher handelt es sich um eine Art systemübergreifende Synonymie in einem größeren Rahmen, aus dem die angemessensten Elemente, Strukturen oder Modelle ausgewählt werden können.²⁵ Daher werte ich diese Vorgänge, systemtheoretisch gesehen, als normale Erscheinungsformen der Variation innerhalb eines zweisprachigen Handlungsrahmens.
6 Ein bilinguales Kommunikationsparadigma: Quelle von Kontaktkreativität Aus den präsentierten Belegen geht hervor, dass man bei der Betrachtung des „Intimlebens“ von bilingualen Kontaktvarietäten – auch mit Blick auf Dynamik und Variation – mit viel Zwitterhaftem, d. h. mit einer Spannbreite synkretischer Sprechhandlungen sowie hybridisierter Formen, Strukturen und Muster, die sich einer trivialen Dichotomisierung entziehen, konfrontiert wird. Die beschriebene Kontaktvarietät ist nicht additiv zu explizieren, stellt also kein „Mixtum compositum“ dar, sondern offeriert auch weitere, qualitativ neue Möglichkeiten im Sinne einer auf sprachlicher Transkulturalität beruhenden Kontaktkreativität. Hieraus ergeben sich oft, wie etwa Beleg Nr. (4), weitgehend neue, „Dritte-Raum-Qualitäten“, die etliche Differenzen und scheinbar Unvereinbares in eine Relation bringen sowie Grenzen zwischen „Innen“ (dem „Eigenen“) und „Außen“ (dem „Fremden“) verschieben bzw. verschwinden lassen (vgl. Bhabha 2012, 19 ff., aber
Einer weitgehend zwei- bzw. mehrsprachigen Kompetenz dauerhaft eine nur einsprachige Performanz zuzuordnen, wäre m. E. ein Widerspruch in sich selbst.
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auch Földes 2005, 68 ff.). So werden die präsentierten hybriden Irrelevanzkonstruktionen mit ak:a:r- von den Sprecher(inne)n in der Regel gar nicht als „fremd“ empfunden. Die einzelnen Manifestationsklassen und -typen des Sprachenkontakts auf verschiedenen Ebenen lassen sich als ein Kontinuum begreifen (vgl. Auer 1999; Földes 2005) und als solches darstellen. Ihre Vielfalt, Prozessualität und Flexibilität springen vorrangig auf dem Gebiet der Lexik, der Phraseologie und der Pragmatik ins Auge (siehe ausführlich Földes 2002, 352; 2005, 104 ff.). Aufgrund der durchgeführten Analyse lässt sich annehmen, dass es in der Sprache wenig gibt, was unter entsprechenden Bedingungen – Stichwort Kontextgebundenheit des Sprechens – nicht variieren bzw. sich nicht ändern würde (wobei allerdings diese Prozesse nicht ohne System und Regeln vor sich gehen).²⁶ Aus der Untersuchung geht ferner hervor, dass das besprochene „Kontaktdeutsch“ einen Mikrokosmos für sich darstellt und einer holistischen Betrachtung bedarf. In diesem Kontext wird deutlich, dass der individuelle Sprachgebrauch bei Zweibzw. Mehrsprachigen infolge seines dynamischen Facettenreichtums insbesondere im mikrostrukturellen Feinbereich des Sprachverhaltens kaum prognostizierbar ist. Folglich wäre es wünschenswert, dass die kontaktinduzierten Variationsphänomene in Zukunft stärker aus der Sicht des Individuums – und besonders des in der Forschung bislang eher vernachlässigten Rezipienten – erschlossen und beschrieben werden sollten. Für die Wahrnehmung von Sprachpraktiken und sprachlichen Kompetenzen in transkulturellen Kontexten ist eher eine Defizit-Sicht charakteristisch – sowohl aus einer Außensicht (Heterostereotyp) als auch aus einer Innensicht (Autostereotyp):²⁷ „laienlinguistisch“ wie auch sogar öfter in sprachwissenschaftlichen
Die kontaktinduzierten Variationsmuster sind offenbar systematisch. Denn bilingualer Sprachgebrauch gestaltet sich durchaus nach beschreibbaren Regularitäten und unterliegt inhärenten Synkretismus- bzw. Hybriditätsnormen. Gewissermaßen als eine neue Gegentendenz kann man allerdings auf die derzeitige mediale Stilisierung und Aufwertung des „ethnolektalen Deutsch“ in Deutschland („Kiezdeutsch“; „Kanak Sprak“, „Türkendeutsch“, „Türkenslang“, „Balkandeutsch“; vgl. Dirim/Auer 2004, Kern/ Şimşek 2006, Wiese 2012) bzw. auf das „Gemischt sprechen“ von Migrantenjugendlichen als Ausdruck ihrer Identität (vgl. Auer 2002, Kallmeyer/Keim/Aslan/Cindark 2002, Hinnenkamp 2011) hinweisen. Diese Fälle zeigen, dass Manifestationen von Interkulturalität als ein Zeichen für Identität dienen können. Übrigens fällt ferner anhand der das Objekt des Aufsatzes von Kallmeyer/Keim/Aslan/Cindark (2002) bildenden sog. Powergirls (selbstbewusste junge Türkinnen in Deutschland) auf, dass diese transkulturell ausgerichtete türkisch-deutsche soziale Gruppe weder türkisch noch deutsch noch mit einem deutsch-türkischen Hybridausdruck, sondern auf Englisch bezeichnet wird.
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Publikationen.²⁸ Diese Urteile basieren jedoch weitgehend auf einer Fehleinschätzung sprachlich-kommunikativer Variation. Das Gros der Transferenzphänomene ist m. E. nicht (unbedingt) als Problemfall anzusehen, zumal ja die grammatischen Regeln meist nicht verletzt werden: Eine weitgehende Integration der lexikalischen Elemente findet vielmehr durch eine phonetisch-phonologische, morphosyntaktische und semantische Anpassung an die Matrixsprache statt; bei Kode-Umschaltungen ist analogerweise ein hohes Maß an Harmonie der beteiligten Sprachvarietäten kennzeichnend. Die Belege zeugen also nicht von einem sprachkommunikativen Kompetenzmangel, sondern sie signalisieren gerade umgekehrt, dass der Sprecher in beiden Sprachen über eine Kompetenz verfügt, die es ihm ermöglicht, grammatisch und semantisch weitgehend funktionale Äußerungen zu produzieren und zu rezipieren; dabei ist es irrelevant, aus welcher Sprache die Redemittel zur Äußerung genommen werden (vgl. z. B. Beleg Nr. 1). Dasselbe gilt auch für die anderen Arten bilingualer Diskurspraktiken wie etwa für die oft mit erstaunlicher Virtuosität ausgeführten Kode-Umschaltungen (vgl. z. B. Beleg Nr. 5). Bilinguale Innovationen sind in mehrsprachigen und multi- bzw. transkulturellen Kontexten etwas Selbstverständliches, sobald die fremde Aura der kontaktsprachlichen Elemente, Strukturen und Muster verblasst bzw. verschwindet. Bilingual-transkulturelle Gemeinschaften sind folglich durch andere Normalitätserwartungen geprägt, ihnen steht in der gruppeninternen Kommunikation jede „sprachsystematische Fremdenfeindlichkeit“ fern. Ein sprachliches „Reinheitsgebot“ zu fordern, erschiene mir folglich für bi- bzw. multilinguale Kontexte als fehl am Platze. Cook (2011, 11) betont zu Recht: Die „Multikompetenz“ von Zweisprachigen kann nicht mit der Kompetenzstruktur von Einsprachigen verglichen werden. Bilinguale Sprecher lassen sich folglich von anderen lexikalischen, morphosyntaktischen, stilistischen etc. Filterkategorien leiten. Man kann nachweisen, dass dabei hybride Sprachprodukte dieselbe kognitive wie strukturelle Komplexität, denselben inhaltlichen Nuancenreichtum und dieselbe stilistisch-pragmatische Ausdruckskraft besitzen können wie Redeprodukte im Rahmen eines „streng“ (konsequent) einsprachigen Diskursmodus. Auch KnipfKomlósi (2003, 277) betont, dass etwa durch die Kode-Umschaltungen die systemlinguistische Kohärenz der Äußerungen zwar verletzt wird, zugleich aber (in der Perzeption der Akteure) die kommunikative Kohärenz der Äußerung eine Stärkung erfährt. Hinzu kommt, dass diese kommunikative Kohärenz ja durch eine kognitive Kohärenz unterstützt wird. Diese letztere beruht auf dem Wissen der
Belege sind zahlreich in Földes (2015, 253 ff.) aufgezählt worden.
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Kommunikatoren, nämlich dass die Gesprächspartner die Elemente, Strukturen und Modelle ungarischer Provenienz mitsamt ihren Konnotationen kennen und sie folglich angemessen zu verstehen und situationsadäquat zu deuten vermögen. Denn Sprachverarbeitung ist nicht nur Kognition, sondern auch Kommunikation (vgl. Rickheit 1995, 16). Der lebensweltliche kommunikative Handlungs- und Interaktionsraum erfordert von bilingualen Personen ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Sprachen und den Diskursmodi. Somit sollte nicht ein „Entweder-oder“, sondern ein „Sowohl-als auch“ gelten. Insgesamt kommt es darauf an, in welchem Ausmaß, in welcher Intensität und mit welcher Frequenz Vorgänge von kommunikativem Synkretismus und sprachlicher Hybridität stattfinden und auch darauf – wie bereits erwähnt –, ob die hybriden Redeprodukte wirklich den Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen der Empfänger- bzw. Replikasprache angepasst werden (können). Hybride Redeprodukte sind naturgemäß nur im weitgehend bi- bzw. multilingualen Diskursmodus als funktional anzusehen. Letztlich geben die jeweiligen Situationen und die Diskurstypen den Ausschlag. In diesem Sinne könnte bei der analysierten ungarndeutschen Sondervarietät die ausgeprägte Neigung zu kommunikativem Synkretismus und sprachlicher Hybridität u.U. (aber natürlich nicht bei jeder Manifestationsform) als Ergebnis hochgradiger – ich nenne sie – ‚Kontaktkreativität‘ charakterisiert werden, wie auch als Ausdruck einer eigenständigen soziokulturellen Identität. Insofern sind die sprachlich-kommunikativen Kontaktausprägungen als kulturelle Artefakte und als kulturelle Instrumente zugleich zu betrachten, d. h. als Hervorbringungen einer Hybriditätskultur und als Mittel zu deren Aufrechterhaltung (vgl. in diesem Zusammenhang auch Franceschini 1999). Wenn eine Sprache/Sprachvarietät in der Lage ist, Einheiten, Strukturen und Modelle aus anderen Sprach(varietät)en aufzunehmen und sie ihrem eigenen Sprachsystem, dessen Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen entsprechend zu adaptieren und zu integrieren, ist das ein beredtes Zeugnis der Lebenskraft der betreffenden Sprache/Sprachvarietät sowie der ‚ethnolinguistischen Vitalität‘ (Terminus nach Myers-Scotton 2010, 50 f.) der Diskursgemeinschaft. Hybriditäten – besonders lexikalische Transferenzen – waren schließlich der Preis für die funktionale Erhaltung der behandelten (aber auch anderer) ungarndeutschen Varietät(en), wenngleich in einem strukturell etwas veränderten Zustand. Es sollte ohnehin nicht um einen „Erhalt“ im traditionellen Sinne einer Konservierung, sondern um eine „Modernisierung“ der gegebenen Varietät gehen. Denn Variabilität ist ein inhärentes Merkmal natürlicher Sprachen (vgl. Coseriu 1992, 284); eine „funktionelle“ Sprache lebt ja letztendlich von den verschiedenen Arten der Variation.
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Gleichwohl sind bei der heute für meinen Analysegegenstand kennzeichnenden Instabilität der Zweisprachigkeit zunehmende Labilitäts- bzw. Destabilisierungsmomente, insbesondere in lexikalischer Hinsicht und nicht selten im Hinblick auf die Diskurs- (bzw. Textproduktions‐)kompetenz, d. h. auf die „kommunikative Fitness“ der Sprecher (Terminus nach Sager 2001, 198), unübersehbar. Labilitäts- bzw. Destabilisierungserscheinungen markieren einen facettenreichen, lang andauernden und keineswegs linearen Prozess. Schließlich lässt sich wohl auch der Ansatz von Oksaar (1991, 173) sowohl auf die zweisprachige Kommunikationskultur im Allgemeinen als auch auf die von mir untersuchten deutsch-ungarischen Beziehungen im Besonderen anwenden. Daraus lässt sich ableiten, dass (a) etwa die verschiedenen Hybriditätstypen (z. B. inwieweit integrierte morphosyntaktische Transferenzen auftreten) von den Kommunikationspartnern abhängen und dass (b) bei den bi- bzw. multilingualen Sprechern zwei kommunikative Verhaltensweisen – auch im Sinne von „Kulturstandard“ (zu diesem Begriff vgl. Thomas 2003, 24 ff.) – zu unterscheiden sind: (1) das normative Leitkonzept, das vor allem um formale Korrektheit bemüht ist und das unter dem Aspekt sprachlicher Richtigkeit mit einer raschen und mehrschichtigen Analyse- und Synthesearbeit die falschen Möglichkeiten auszuschließen sucht, und (2) das rationelle²⁹ Leitkonzept, das sich eher an der inhaltlichen Exaktheit³⁰ und Effektivität orientiert. Bi- bzw. multilinguale Personen erblicken ja die Kriterien der „Richtigkeit“ nicht in irgendwelchen inhärenten Gesetzmäßigkeiten des Sprachsystems, vielmehr ist für die Kommunikation zwischen ihnen eher ein rationelles Leitkonzept (mit jeweils unterschiedlichen „Gruppen-Normen“) ausschlaggebend. Man sollte in der Forschung zwischen dem weitgehend statischen Konzept „expliziter Standardnormen“³¹ (die Sprachvariation und -innovation kaum beachten) und dem dynamischen Konzept „impliziter Nonstandard-Normen“ wie etwa den Gebrauchsnormen in zweisprachiger Redeweise (die nicht zuletzt auf Sprachvariation und -innovation aufbauen) in Theorie, Methodologie und Empirie sorgfältig differenzieren.
Anders als ich bedient sich Oksaar durchweg des Adjektivs rational (1991, 173). Im Sinne einer semantisch-kommunikativen Exaktheit, die des Öfteren mit emotionalen und sozialen Konnotationen einhergeht. Mit der Terminologie und der normtheoretischen Verortung der Problematik beschäftigt sich z. B. Németh (2010, 165 ff.) ausführlich.
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7 Schlussreflexion Spätestens seit der Verbreitung empiriegestützter sozio- und variationslinguistischer Untersuchungen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts muss einleuchten, dass der konkrete Sprachgebrauch sowohl in ein- als auch in zwei- bzw. mehrsprachigen Kontexten weitaus mannigfaltiger ist, als das standard- und normbezogene Arbeiten darstellen; vgl. die Komplexität der Variationsdimensionen, die aus Abb. 2 hervorgeht. Unter Bezug auf die „Dynamic Systems Theory“ (vgl. Verspoor/Behrens 2011, 25 ff.) ist aber nicht nur die Sprache allgemein, sondern auch die Sprachlichkeit des Einzelnen als ein dynamisches System aufzufassen, welches die aktuellen Wissensbestände sämtlicher dem Sprecher bekannten Sprachen und Varietäten umfasst und durch dauernde Interaktion mit signifikanten Umgebungsbedingungen wie auch mit internen Einwirkungen einem permanenten Wandlungsprozess unterliegt. Folglich gelten sprachliche „Variationen“ und „Abweichungen“ häufig nicht als individuelle Fehlleistungen, sondern als Reaktionen bzw. Innovationen auf neue kommunikative Herausforderungen. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für die Sozio- und Variationslinguistik: All die verschiedenen sprachsystematischen Konsequenzen kommunikativer Dynamik wären sowohl hinsichtlich einsprachiger als auch bilingualer Sprechhandlungszusammenhänge (einschließlich von Aspekten der „natürlichen“ wie auch der „künstlichen“ Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit) theoretisch wie praktisch stärker zu reflektieren, analytisch zu erfassen und heuristisch zu beschreiben.
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Harald Haarmann
Wer hat das Theater erfunden? Reflexionen zu Langzeitwirkungen im Sprachkontakt Abstract: Zum Kanon unserer Schulausbildung wie auch des akademischen Unterrichts an Universitäten gehört der Umgang mit althergebrachten Lehrmeinungen darüber, wie sich der Kulturwortschatz der modernen Sprachen entwickelt hat. Als älteste Quellen werden diesbezüglich das Griechische und das Lateinische hervorgehoben. Es lohnt sich zu fragen, ob es denn noch ältere sprachliche Quellen für unsere modernen Kulturwörter gibt und, wenn ja, wie man diese erschließen kann. Neueste Forschungen zur griechischen Sprachgeschichte haben sensationelle Erkenntnisse über eine breite Schicht vorgriechischer Elemente im altgriechischen Wortschatz erbracht. Dies sind nicht nur Spezialtermini, sondern auch weit verbreitete Kulturwörter wie Keramik, Metall, Theater, Mythos, Psyche u. a. Im vorliegenden Beitrag geht es darum, Langzeitströmungen für Prozesse von lexikalischen Transfers (mit Zwischenstufen über Vermittlersprachen) zu beleuchten. Keywords: vorgriechische Kultur und Sprache (pelasgisch, alteuropäisch), Donauzivilisation, religiöse Rituale und Theaterwesen, theatralische Performanz und Theaterarchitektur, Assimilation und Integration von Lehnwörtern, kulturelle und sprachliche Langzeitwirkungen Wenn man nach den Ursprüngen zentraler Institutionen der europäischen Kulturgeschichte sucht, lohnt es, in die griechische Antike zu schauen. Dies ist jedenfalls die Einstellung, mit der wir erzogen werden und in die wir über unsere Schulerziehung eingeübt werden. Und in der griechischen Antike wird man auch fündig, denn diese ist ja in idealer Weise dokumentiert: in schriftlichen Quellen, in Bauwerken, in der Kunst und in der Sprache. Denn was wären unsere modernen Sprachen ohne die zahlreichen Kulturwörter griechischer Herkunft? Wir glauben zu wissen, dass wir die Kenntnis der Töpferei, der Metallbearbeitung, des Theaterwesens und vieler anderer Bereiche den Griechen verdanken, denn unsere Kulturwörter weisen ja in diese Richtung. Ausdrücke wie Keramik, Metall, Theater usw. stammen aus dem Griechischen. Wenn dies so ist, warum soll man weiter über griechisch-deutsche Sprachkontakte nachsinnen, wo doch die Wörter und Sachen und deren Beziehungen geklärt sind? Es lohnt sich allerdings, den Wahrheitsgehalt des europäischen Geschichtsbildes zu hinterfragen, das uns den Innovationsschub der griechischen
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Harald Haarmann
Zivilisation suggeriert. Die neuere Forschung zur antiken Kulturgeschichte hat inzwischen Erkenntnisse geliefert, die Vorstellungen von der Einmaligkeit griechischer Errungenschaften ins Wanken bringen und eine Revision althergebrachter Schulweisheiten fordern. Dem vorsokratischen Philosophen Parmenides, der im 5. Jahrhundert v.Chr. lebte, wird die folgende Sentenz zugeschrieben: „Von Nichts kommt nichts“. Die griechische Zivilisation mitsamt ihren Institutionen hat nicht bei null angefangen, sondern sie hatte Vorbilder. Die Griechen der Antike haben die Errungenschaften ihrer Vorgänger in Südosteuropa ausgebeutet wie einen Steinbruch für den Aufbau ihrer eigenen Hochkultur. Und dazu gehören die Keramikherstellung, die Metallbearbeitung, das Theaterwesen und vieles andere. Die vorgriechische Bevölkerung hatte ihre eigene Sprache.Vielleicht waren es mehrere Einzelsprachen, die aber eng miteinander verwandt waren. Mit Hilfe ihrer Sprache(n) bauten sich jene Menschen, die Alteuropäer, ihre Kultur auf. Die Sprache der Alteuropäer ist nur in Fragmenten erhalten, und zwar in Form alter Substratwörter im Wortschatz des Griechischen und anderer Sprachen Südosteuropas. Trotz der fragmentarischen Zerrissenheit der alten Sprache scheint in diesen Fragmenten doch Einiges von der natürlichen Umwelt, von den Aktivitäten der frühen Ackerbauern, von der Lebensqualität und den Glaubensvorstellungen der Alteuropäer auf. Was das fragmentarische Überleben alteuropäischen Sprachguts betrifft, so ist der Lehnwortschatz des Griechischen von besonderem Interesse. Das Griechische ist seit dem 17. Jahrhundert v.Chr. schriftlich überliefert und seither kontinuierlich geschrieben worden. Die griechische Sprache saugte sich voll wie ein Schwamm mit diesen zunächst fremden Elementen. Die entlehnten Ausdrücke alteuropäischer Herkunft wurden in die lexikalischen Strukturen des Altgriechischen integriert. Bald schon wurden die ursprünglichen Fremdelemente nicht mehr als fremd empfunden, und sie blieben auch nicht wie Fossilien isoliert, sondern gingen eine Art Symbiose mit den einheimischen Bezeichnungsstrukturen ein. Wörter wie Keramik, Metall und Theater klingen griechisch, weil die Griechen diese Ausdrücke verwendeten und an uns weitervermittelt haben. Diese lexikalischen Elemente gehören aber nicht zum griechischen Erbwortschatz, das heißt, diese Wörter haben keine Entsprechungen in indoeuropäischen Sprachen, und sie sind auch keine Entlehnungen aus irgendeiner Sprache des Nahen Ostens oder des Alten Orients. Warum nicht? Nun, weil weder die Keramikherstellung noch die Metallbearbeitung oder das Theaterwesen orientalischer Herkunft sind. Dies sind zivilisatorische Domänen, die lange vor den Griechen in Europa ausgebildet worden sind. Und bei den betreffenden griechischen Termini handelt es sich um Elemente des vorgriechischen Substrats. Keramik leitet sich vom griechischen Basiswort „keramos“ ab, womit die von Töpfern verwendete Tonerde (und auch
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allgemein die Töpferei) bezeichnet wurde. In den neuesten etymologischen Studien wird keramos als „pre-Greek“ ausgewiesen (Beekes 2010, 674 f.). Metall geht auf griech. „metallon“ zurück; dies ist ebenfalls ein Ausdruck aus vorgriechischer Zeit (Beekes 2010, 937). Die Keramikherstellung erreichte bereits im 5. Jahrtausend v.Chr. einen hohen Stand in der inzwischen gut erforschten Donauzivilisation (Haarmann 2011, 118 ff.). Vor wenigen Jahren ist endgültig geklärt worden, dass die Anfänge der Metallschmelze in Europa zu suchen sind (Pernicka/Anthony 2009, 168 f.). Damit wird eine lang tradierte Lehrmeinung hinfällig, wonach die Metallverarbeitung vom Nahen Osten nach Europa gelangt wäre. Kupfer wurde seit ca. 5400 v.Chr. verarbeitet, Gold seit rund 4500 v.Chr. Die ältesten, aus Gold gefertigten Artefakte der Welt stammen aus der kupferzeitlichen Nekropole von Varna (Haarmann 2012). Das Schmelzen von Kupfer und Gold setzt spezialisiertes technisches Knowhow und die Verwendung von Brennöfen voraus, in denen Temperaturen von über 1000° Celsius erreicht und kontrolliert werden können. Solche Brennöfen haben die Alteuropäer erfunden und lange Zeit benutzt; als Substratwort hat sich die Bezeichnung für einen solchen Brennofen im Altgriechischen erhalten: kaminos, wovon sich Kulturwörter wie dt. Kamin, engl. chimney, franz. cheminée usw. – mit veränderter Bedeutung – ableiten. Der Ausdruck für Kupfer im Griechischen, chalkos (bzw. kalchos), ist ein Lehnwort aus der vorgriechischen Substratsprache (Beekes 2010, 1611 f.). Im Altgriechischen hat auch ein altes einheimisches Wort für Gold überlebt, agchouros (Beekes 2010, 17 f.). Aus späterer Zeit stammt ein semitisches Lehnwort für diesen Begriff, chrusos. Und wie steht es mit dem Theaterwesen? Die Spurensuche in diesem Kulturbereich ist nicht so einfach und geradlinig wie im Fall der Töpferei und der Metallbearbeitung. Die Feststellung, wonach die Griechen das Theater eingeführt hätten, ist halb wahr und gleichzeitig halb falsch. In der Tat haben die Griechen die ersten architektonischen Konstruktionen geschaffen, die wir Theater nennen. Für die Zuschauertribünen der ältesten Theater, die im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden, wurden Berghänge ausgehöhlt, in die man rechtwinklige Sitzreihen einbaute. Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurden dann immer mehr Theater in einer runden Form gebaut. „An inward-facing circle allows maximum eye-contact; each person knows that other people know because each person can visually verify that others are paying attention“ (Chwe 2001, 5). Die Motivation dafür,Theater in der für die europäische Tradition der Theaterarchitektur allgemein bekannten Rundform zu bauen, ist wohl zu Recht in der demokratischen Idee der erlebten Gemeinsamkeit an öffentlichen Plätzen gesucht worden, denn die ersten Rundbauten entstanden in Athen zur Zeit der Demokratie (Ober 2008, 200 ff.). Das größte Theater der griechischen Geschichte wurde im 4. Jahrhundert v. Chr., zu Beginn der hellenistischen Ära, gebaut. Dies war das Dionysos-Theater
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am südöstlichen Hang der Akropolis in Athen. Hier fanden rund 17.000 Zuschauer Platz (Roselli 2011, 64 ff.). Die halbrunde Form des griechischen Theaters wurde später von den Römern zum Typ des Amphitheaters mit seiner elliptischen Formgebung perfektioniert (Bomgardner 2000). Das größte Amphitheater der römischen Welt war das Colosseum in Rom, das zwischen 72 und 80 n. Chr. erbaut wurde, mit Sitzplätzen für rund 50.000 Besucher. Während der römischen Ära verlor das Theater seine ursprüngliche Bedeutung als Bühnentheater. Im Colosseum wurden zwar auch ab und zu klassische Dramen aufgeführt, die Arena diente aber vorrangig als Schauplatz für Gladiatorenkämpfe und öffentliche Aufzüge. Die Betrachtung über das antike Theaterwesen hat sich bisher auf Aspekte der Architektur beschränkt. Dieser Bereich ist typisch griechisch – und später römisch – geprägt. Wenn die Griechen als Erste Theater gebaut haben, waren sie auch die Ersten, die dafür Aufführungen kreiert haben? Sind die Spiele, die in den antiken Theatern aufgeführt wurden, performative Innovationen der Griechen? Sind auch die Inhalte der Aufführungen, der Stoff der Tragödien und Dramen, typisch griechisch? Diesbezüglich fallen die Antworten anders aus als im Hinblick auf die Architektur. Die Griechen haben das Genre der Theaterspiele von ihren Vorgängern übernommen, und in diesem Transferprozess einer kulturellen Tradition ist die Motivation zu suchen, warum die Griechen anfingen, Theater als Aufführungsplätze zu bauen. Woher aber kann man wissen, dass es Theaterspiele auch schon vor den Griechen gab? Diesbezüglich vermittelt die etymologische Forschung den entscheidenden Hinweis. Das Stammwort, von dem griech. theatron abgeleitet worden ist, gehört zum Kreis der Substratelemente. Thea ist vorgriechischen Ursprungs und bedeutet ‚Aufführung am Rande ritueller Handlungen; Spektakel‘ (Beekes 2010, 536). Der Ausdruck theatron lässt die beiden Hauptquellen des antiken Theaterwesens erkennen. Thea weist auf den performativen Aspekt der Theaterspiele hin, während das griechische Ableitungssuffix -tron auf den besonderen Platz hindeutet, der speziell für Aufführungen reserviert war. Die ursprüngliche Bindung der Theaterspiele an rituelle Handlungen scheint in der Grundbedeutung von thea auf. Die Anthropologen sind sich seit Längerem einig darüber, dass die Ursprünge des Theaterwesens in religiösen Traditionen zu suchen sind. „Rituals are performative: they are acts done; and performances are ritualized: they are codified, repeatable action. The functions of theatre identified by Aristotle and Horace – entertainment, celebration, enhancement of social solidarity, education (including political education), and healing – are also functions of ritual. The difference lies in context and emphasis.“ (Schechner 1994, 613) Allerdings ist es bisher nicht gelungen, Übergangsprozesse vom Ritual zum Theater für einzelne Kulturen aufzuzeigen. Es scheint, solche Übergänge bleiben
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verborgen im Dunkel der Vorgeschichte. Und doch ermöglicht die Klärung der Wortgeschichte von theatron eine nähere Bestimmung der Transformation. Den Griechen selbst war gemäß ihrer eigenen Überlieferung bewusst, dass die Aufführung dramatischer Spiele ursprünglich an die uralte Tradition religiöser Prozessionen anknüpfte, die seit ältester Zeit und durch die gesamte Antike veranstaltet wurden, und die sich in der christlichen Ära fortsetzten. Der Ausdruck für Prozession im Altgriechischen ist thiasos, auch dies kein Erbwort, sondern ein Substratwort (Beekes 2010, 548). Die ältesten Prozessionen, die überliefert sind, waren die dionysischen (zu Ehren des Weingottes Dionysos), die panathenaischen (zu Ehren der Stadtgöttin Athene) und die eleusinischen (zu Ehren der Kornmutter Demeter); (Connelly 2007, 167 ff.). Was die Assoziation des Theaters mit den Prozessionen betrifft, so wird in der neueren Forschung zur antiken Theatergeschichte die Aufmerksamkeit auf die Abschlussphase ritueller Handlungen gelenkt. Entscheidend für das Verständnis ist „the position of the ‚theatre‘ as end-point of a procession. The procession was the core of the rural Dionysia, and theatrical performances an addendum“ (Wiles 1997, 26).Während Theaterspiele ursprünglich am gleichen Ort wie die Prozessionen abgehalten wurden, erfolgte mit der Verlagerung in eigens dafür reservierte Bezirke, die Theater, eine Abkoppelung vom rituellen Geschehen. Diese Abkoppelung hatte aber allein formale Bedeutung. Inhaltlich blieb der religiöse Charakter der Aufführungen jedoch erhalten. Dies ist noch deutlich in der inhaltlichen Aufmachung des ältesten Genres von Theaterspielen zu erkennen, in der Tragödie (Dihle 1994, 91 ff.). Angesichts der Einbettung des Theaterwesens in vorgriechische Kulturtraditionen erübrigt es sich fast zu erwähnen, dass auch der Ausdruck für die Akteure in einer Tragödie, die Tragöden, ein Lehnwort aus der Substratsprache ist: tragodos ‚Sänger und Tänzer im tragischen Chor; Tragöde‘ < vorgriech. (Beekes 2010, 1498). In einer griechischen Tragödie werden die schicksalhaften Verstrickungen der Menschen thematisiert, die mit ihrer Handlungsweise auf Kollisionskurs mit dem Willen der Götter liegen. Die typischen Akteure sind Göttergestalten, deren Kommunikation durch den Chor vermittelt wird, und die in ihr Schicksal verstrickten Menschen. In den Tragödien wurde den Griechen der Antike vor Augen geführt, dass Abweichungen vom rechten Verhaltensmuster (insbesondere im Hinblick auf die von den Göttern festgesetzten Normen für die menschliche Gesellschaft) für das Individuum fatale Folgen nach sich ziehen konnten. Die Tragödien waren also Lehrstücke für das Gesellschaftsleben, und dieses Leben – sowohl der Griechen wie auch von deren Vorgängern – stand ganz im Zeichen der Willensbildung ihrer Göttergestalten. Wenn wir vom Standpunkt des Deutschen und seines Kulturwortschatzes aus das europäische Theaterwesen betrachten, reicht es nicht, in unserer kulturhis-
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torischen Retrospektive bis in die griechische Antike zurückzugehen. Dies hieße, auf halbem Weg stehen zu bleiben. Die griechische Zivilisation hat uns zwar mit dem Schlüsselbegriff (theatron) und der damit assoziierten Terminologie ein geeignetes sprachliches Instrumentarium vermittelt, die Tradition der Theaterspiele ist aber ein Echo aus der vorgriechischen Ära. Die obigen Betrachtungen zu den Ursprüngen der Keramikherstellung, der Metallverarbeitung und der europäischen Theatergeschichte verweist lediglich auf einige Beispiele für vorgriechische kulturelle Kontinuität. Es gibt über ein Dutzend Domänen, für deren Terminologien vorgriechische Ursprünge auszumachen sind, und aus all diesen Bereichen hat das Deutsche Elemente (über griechische Vermittlung) in seinen Kulturwortschatz aufgenommen. Die vorgriechischen Elemente des Griechischen sind inzwischen in einer Datenbank (angelegt vom Autor) gesammelt, die im vergangenen Jahr komplettiert worden ist. Gestützt auf diese Materialbasis ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass ein nicht unbedeutender Anteil unseres deutschen Kulturwortschatzes nur „schein-griechisch“ ist und in Wirklichkeit aus viel älteren lexikalischen Schichten stammt. Die Ausdrücke vorgriechischer Herkunft im Wortgebrauch des Deutschen und anderer moderner Kultursprachen, die sich in der Sprachenlandschaft Europas produktiv erhalten haben, sind über den Export europäischer Kolonialsprachen in alle Welt verbreitet worden. Wenn wir Ausdrücke wie Aroma, Kirsche, Olive, Petersilie, Pflaume, Wein, Narzisse, kolossal, dynamisch, ethnisch und viele andere verwenden, sind wir uns kaum bewusst, wie alt diese eigentlich sind. Selbst zentrale Begriffe unserer geistigen Kultur werden mit Ausdrücken bezeichnet, die griechisch klingen, aber tatsächlich aus der vorgriechischen Substratsprache stammen. Dazu gehören unter anderem Hymne (< griech. humnos < vorgriech.), Mythos (< griech. muthos < vorgriech.) und Psyche (< griech. psyche < vorgriech.). Vielleicht sollten wir unser kulturelles Gedächtnis animieren, Elemente des alteuropäischen Spracherbes ganz bewusst zu tradieren, denn früher oder später wird sich das Wissen über den Stellenwert Alteuropas für die zivilisatorische Entwicklung Europas festigen. Dafür benötigen wir Marker, mit denen wir den Rahmen unserer Geschichtsbetrachtung abstecken können, und das können Wörter sein, die wir in unserem kulturellen Gedächtnis entsprechend „markieren“. In den letzten Jahren ist eine ständig wachsende Zahl an Studien zu Phänomenen kultureller Langzeitwirkung entstanden. Dazu gehören Analysen zu Motiven und Erzähltraditionen der mündlichen Überlieferung (z. B. Poruciuc 2010) ebenso wie Dokumentationen über die Kontinuität von Maßeinheiten (z. B. Ilievski 1997). Die dabei thematisierten Zeitspannen erstrecken sich über Tausende von Jahren. Es mag auf den ersten Blick leichtfertig erscheinen, kulturelle Kontinuität für einen extrem weiten zeitlichen Bogen aufzeigen zu wollen. Es ist aber durchaus nicht leichtfertig, sich auf Entwicklungsstränge kultureller Lang-
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zeitwirkungen – wie das von Fernand Braudel in den 1940er Jahren entwickelte Konzept der longue durée – einzulassen, vorausgesetzt, man wählt sein methodisches Instrumentarium mit Sorgfalt aus (s. Lai 2004 für eine kritische Würdigung von Braudels Ansatz). Immer mehr Einblicke in das Wirken des kulturellen Gedächtnisses bei den Völkern Südosteuropas lassen immer mehr Konturen einer facettenreichen Identität erkennen, mit der die heutigen Menschen leben und die sie an die nachfolgenden Generationen weiter vermitteln (s. Haarmann 2011, 258 ff. zur Forschungsliteratur): ‒ über ihren Sprachgebrauch (mit Substratelementen der alteuropäischen Sprache); ‒ über ihre mündlich überlieferten Geschichten und Lieder (mit Varianten der Flutgeschichte und anderen prähistorischen Erzählmotiven); ‒ über ihre Folklore (mit dem Hora-Tanz, dem Ringtanz aus der neolithischen Periode, oder mit rituellen Tänzen anlässlich religiöser Feste); ‒ über ihr handwerkliches Know-how (mit der Tradition der uralten Bauweise der Plinthos-Wand, lehmverschmiertem Flechtwerk auf einem Steinfundament; Gebrauch von Tonstempeln zum Stempeln von Ornamenten und traditionsreichen Kultursymbolen in rituelle Brotlaibe); ‒ über ihre Vertrautheit mit architektonischen Formen, die sie in historischen Bauten umgeben, mit der Formgebung von Backöfen oder mit Gerätschaften und Gefäßen, die seit Jahrtausenden ihre Form nicht verändert haben; ‒ über den Schnitt von Volkstrachten und deren Accessoires sowie dazu gehörende Haartrachten (mit Motiven, die aus der alteuropäischen Kunstform ornamentierter Figurinen bekannt sind); ‒ über ihre Kultursymbole (mit Logos bestimmter Berufsgruppen, die auf die Motive neolithischer Tonstempel anspielen, und mit traditionsreichen Motiven, die in Textilien eingewebt werden); ‒ über den kontinuierlichen Gebrauch von Maßeinheiten (z. B. die Bezeichnungen von Lasten oder von Hohlmaßen für Getreide); ‒ über das Brauchtum und rituelle Handlungen bei Volksfesten und religiösen Festlichkeiten (mit dem rituellen Brotbacken und dem Ornamentieren symbolischer Brotlaibe als Votivgaben); ‒ über die Religiosität, die auf die Jungfrau Maria ausgerichtet ist (mit ihren Anspielungen auf das Kultwesen antiker Göttinnen, den Töchtern und Enkelinnen der Gestalt der neolithischen Göttin); ‒ über Bestattungsbräuche (mit der Zwei-Phasen-Ordnung bei den orthodoxen Christen Griechenlands: Erstbestattung des Leichnams – Zweitbestattung der Gebeine von Verstorbenen nach Abschluss des Verwesungsprozesses);
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über allerlei Vorstellungen zur magischen Wirkung von Dingen oder Symbolen (mit Anklängen an uralte Zahlenmagie, Hexen- und Geisterglauben).
Das Studium kulturell-sprachlicher Langzeitwirkungen ist äußerst komplex und erfordert methodische Präzision im Umgang mit einer breit ausgefächerten Palette von Vergleichsobjekten. Es können die vielfältigsten Variationen auftreten, die auf die verschiedenartigsten Transformationen im Horizont der Zeit hindeuten, wie dies Ilievski (1997, 64 ff.) am Beispiel der in den Balkanländern verwendeten Hohlmaße aufgezeigt hat. Begriffsinhalte können sich ebenso verändern wie terminologische Nomenklaturen. Nur eine solide kulturhistorische Analyse ermöglicht den Zugriff auf die Quellen von Langzeitprozessen und auf die Kräfte, die sie ausgelöst haben und die sie steuern. Derzeit ist es noch nicht möglich, eine allgemeine Theorie über kulturelle Langzeitprozesse zu formulieren, insbesondere im Hinblick auf die Problematik, welche kulturellen Eigenschaften, Technologien und Sprachmuster mit größerer Wahrscheinlichkeit tradiert werden als andere. Aussagen darüber sind nur a posteriori möglich, d. h. im Rahmen nachträglicher Rekonstruktionen. Eine hilfreiche Orientierung für die zukünftige Forschung bietet vielleicht das aus der Literaturtheorie und Historiographie bekannte Modell der losen Enden (rope model) (Haarmann 2009, 235 f.). In dieser figürlichen Analogie mit scheinbar chaotisch gebündelten, lose herabhängenden Fäden “ … winden sich sowohl kurze als auch lange, dünne und dicke Fäden, die sich überlagern und gleichermaßen entscheidend beitragen zur Ausbildung einer gewundenen, dennoch starken Ganzheit mit offenen Enden, eine Ganzheit, deren Stärke gerade darin besteht, aus vielen ungleichen, gewundenen Fäden geformt zu sein.“ (Kronfeld 1996, 63)
Mit anderen Worten: Althergebrachte Überlieferungen werden im Horizont der Zeit verwoben mit jüngeren Traditionen, und zusammen bildet sich auf diese Weise die komplexe Ganzheit aus, die wir „Kultur“ nennen. Zum alteuropäischen Kulturerbe gehören sowohl materielle Elemente (das Sichtbare in der Kultur) als auch symbolische Formen (das Unsichtbare in der Kultur, d. h. die geistige Kultur). Die Domäne der geistigen Kultur ist die eigentliche Grundlage des kulturellen Gedächtnisses, und gerade für diesen Bereich sind inzwischen detaillierte Dokumentationen erarbeitet worden: „Die Konturen dessen, was die klassische Tradition der Mythologie werden sollte, ist zu erkennen an den prähistorischen Artefakten, die von Archäologen ausgegraben werden. Aber solche Konturen sind auch sozusagen „vorauserzählt“ worden – dies ist ein Paradox vom chronologischen Standpunkt aus betrachtet – in den Werken der Folklore, die erst in der Neuzeit aufgezeichnet worden sind. Und wie bestimmte Merkmale prähistorischer Schreine
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sich zu Basiselementen christlicher Kirchen entwickelten (…), so findet vieles von dem, was wir als Mythologie kennen, seinen Ursprung – mehr oder weniger direkt – im rituell-kulturellen Leben der prähistorischen Bauern.“ (Poruciuc 2010, xiv)
Die Spurensuche der vergangenen Jahre hat entscheidend zum Aufbau neuen Wissens über das alteuropäische Kulturerbe beigetragen, und es ist inzwischen eine reiche Forschungsliteratur über diesen Themenkreis entstanden (s. die bibliographischen Übersichten bei Poruciuc 2010, 148 ff. und Haarmann 2011, 267 ff.). Die Neuerkenntnisse stützen auch die kulturelle Identitätsfindung der Menschen, die in den Kulturlandschaften der damaligen Donauzivilisation leben und das alteuropäische Kulturerbe im Spiegel ihrer eigenen Geschichte erkennen. Die Kontinuität des fragmentarisch überlieferten alteuropäischen Kulturerbes in der Neuzeit lässt konzentrische Kreise ihres Wirkungsradius erkennen. Da ist zunächst das Spektrum der althergebrachten Traditionen im ehemaligen Kernland der Donauzivilisation. Dieses geographische Areal, wo das Echo der Welt Alteuropas in vielerlei Transformationen und auch teilweise in Verzerrungen nachhallt, ist sozusagen der innere Kreis, wo Menschen mit diesem fragmentarisierten Kulturerbe in ihrem Alltagsleben umgehen. Die Kontinuität beschränkt sich aber nicht auf den inneren Kreis, sondern zieht auch weitere Kreise. Die diesbezüglichen Elemente weisen auf Kontinuität in Einflussbereichen mit bemerkenswerter Ausdehnung, die den inneren Kreis gleichsam konzentrisch erweitern. Zu diesen Erweiterungen gehört im weiteren Sinn auch der Bestand an Kulturwörtern im Deutschen, die über das Griechische vermittelt wurden, aber selbst Teil des fragmentarisch erhaltenen alteuropäischen Sprachguts sind.
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Hans Goebl, Yves Scherrer und Pavel Smečka
Kurzbericht über die Dialektometrisierung des Gesamtnetzes des „Sprachatlasses der deutschen Schweiz“ (SDS) Abstract: Im vorliegenden Beitrag wird in knapper Form sowie unter Beilage von sechs Farbgraphiken ein erster Bericht über eine im Sommer 2012 durchgeführte, EDV-gestützte Kooperation zwischen einem Computerlinguisten (Yves Scherrer) und zwei Romanisten (Pavel Smečka und Hans Goebl) erstattet. Diese bestand im Transfer einer Datenmatrix, die von Yves Scherrer zu den Daten des SDS (betreffend 565 aller 573 Messpunkte und rund 200 Atlaskarten) erstellt worden war, nach Salzburg, wo sie in die dialektometrische Software VDM („Visual DialectoMetry“) übernommen und nach den darin implementierten Methoden quantitativ und visualisatorisch weiterverarbeitet wurde. Die in diesem Beitrag präsentierten sechs Kartenbeigaben bestehen aus drei Ähnlichkeitskarten, einer IsoglossenSynthese, einer Synopse der Schiefen-Werte und einer Baum-Analyse. Darauf werden im SDS latent vorhandene, aber prima vista nicht erkennbare (synthetischquantitative) Raumstrukturen sichtbar. Diese verfügen über eine ähnlich bemerkenswerte Prägnanz und Regularität, wie sie zuvor in den Daten zahlreicher romanischer und englischer Sprachatlanten nachgewiesen werden konnten. Keywords: Sprachatlas der deutschen Schweiz, Dialektologie, Dialektometrie, Sprachgeographie, Datensynthese, Numerische Klassifikation, Visualisierung
1 Zur Vorgeschichte des Projekts Habent sua fata non solum libelli, sed etiam proiecta. Die hier in geraffter Form vorzustellende Dialektometrisierung¹ des schweizerdeutschen Sprachatlasses SDS verdankt ihre Durchführung einem kongressbedingten Zufall. Im Juli 2012 habe ich (= HG) in Wien am 7. Kongress der Société Internationale de Dialectologie et Géolinguistique (SIDG) einen Vortrag des jungen Schweizer Computerlinguisten Yves Scherrer gehört, der inhaltlich auf sehr ausgedehnten Typisierungen der Daten des SDS beruhte, die ihrerseits – wie ich von Y. Scherrer nach kurzer Zeit
Unter „Dialektometrisierung“ ist die Anwendung dialektometrischer Methoden auf die Daten eines Sprachatlasses zu verstehen. Hier handelt es sich um Anwendung aller im Programm VDM implementierten Methoden.
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erfahren konnte – im Netz in graphisch sehr attraktiver Form zugänglich sind: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/prod/sdsviewer.html² (vgl. dazu Scherrer 2010). Nach einem kurzen Blick auf diese Adresse war klar, dass es sich hier um Daten handelte, die all jene Bedingungen erfüllten, die eine in dialectometricis übliche Datenmatrix haben musste. Da Y. Scherrer einem Transfer dieser Daten nach Salzburg nicht nur sofort zustimmte, sondern diesen auch zügig durchführte, konnten in den nachfolgenden sechs Wochen (von Ende Juli bis Mitte September 2012) im Wege einer vortrefflichen und effizienten Zusammenarbeit zwischen Genf (Yves Scherrer) und Salzburg (Pavel Smečka) alle kanonischen Stufen einer Dialektometrisierung „à la salzbourgeoise“³ durchlaufen werden. Diese waren: 1) auf der Grundlage der von Yves Scherrer erhaltenen x/y-Koordinaten der 565 helvetischen Meßpunkte des SDS: Erstellung einer polygonisierten Grundkarte mit nachfolgender Legendierung, 2) passende Umsortierung sowie nachfolgende Einspeicherung der empfangenen Daten in das Salzburger Dialektometrie-Programm „Visual DialectoMetry“ (VDM), 3) Durchführung der in VDM implementierten Berechnungen und Visualisierungen. Während der zuvor zitierte Punkt 3 eine Sache von ganz wenigen Minuten war, gaben die beiden anderen Punkte meinem Mitarbeiter P. Smečka doch einige Nüsse zu knacken auf. Diese lagen sowohl im Bereich der Grundkarte als auch in jenem der Daten-Präparierung. Bei der Grundkarte galt es zunächst, das territorial ja nicht zur Gänze kohärente Gebiet der deutschen Schweiz so in die allgemein bekannte Silhouette der Eidgenossenschaft einzupassen, dass jedem Betrachter das Zusammendenken der v. a. im Bereich Graubündens und des Tessin gelegenen räumlichen Diskontinuitäten⁴ möglich sein sollte. Ferner sollten dem Polygonnetz auch die Kantonsgrenzen aufmoduliert und zudem die Namen der peripher gelegenen Kantone in der Außenlegendierung sichtbar gemacht werden. Bei der Erstellung der Datenmatrix musste darauf geachtet werden, die in den Scherrer-Daten vorhandenen Doppelbelege⁵ zu eliminieren, weil VDM – wenigs Abgerufen am 06.02. 2013. Siehe dazu die Bibliographie unter: https://www.sbg.ac.at/rom/people/prof/goebl/dm_publi.htm (26. 2. 2013). Man werfe dazu einen Blick auf die Karten 1– 6 und achte dabei auf den Bereich Graubündens und des Tessin. Man kann die Präsenz solcher Mehrfachbelege auf den auf der SDS-Webpage sichtbaren Kartenlegenden (rechts oben) leicht feststellen. Dort wird immer die Anzahl jener SDS-Messpunkte angegeben, an denen ein visualisierbarer linguistischer Typ (bzw. ein „Taxat“) vorkommt. Wenn die Summe der Vorkommensfrequenzen aller Typen die Maximalzahl (= 565) der berücksichtigten Messpunkte des SDS übersteigt, dann liegen an bestimmten Punkten des SDS Mehrfachantworten vor.
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tens in seiner Standardform – nicht für die Verrechnung von Mehrfachbelegen eingerichtet ist. Bei dieser Gelegenheit wurden die von Y. Scherrer zur Verfügung gestellten Kartentypisierungen⁶ auch nach linguistischen Kriterien (Phonetik, Morphosyntax, Lexikon) markiert, so dass die Bildung entsprechender Subkorpora möglich wurde. Nach dem Abschluss all dieser Einrichtungsarbeiten konnte P. Smečka eine Datenmatrix aus 565 Meßpunkten und 216 Arbeitskarten in VDM einspeisen und den weiteren Berechnungen zuführen. Die auf diese Weise ermöglichte quantitative Klassifikation der Daten des SDS war allerdings nicht in Scherrers ursprünglichem Forschungsplan enthalten: sie ist daher sozusagen ein „Nebenprodukt“. Die eigentliche Motivation Scherrers, dem SDS bestimmte Karten zu entnehmen, nach linguistischen Kriterien zu typisieren und den sich daraus ergebenden Ertrag in weiterer Folge zu digitalisieren, lag in einem computerlinguistisch orientierten Projekt zur Generierung dialektaler Wörter und Sätze anhand von (syntaktisch analysierten) standarddeutschen Wörtern und Sätzen. Dazu wurden sogenannte georeferenzierte Transfer-Regeln erstellt, mit deren Hilfe – je nach gewähltem Zieldialekt – ein vorgegebener hochdeutscher Text in unterschiedlicher Weise dialektal variiert werden konnte. Dabei behandeln verschiedene Typen von Transfer-Regeln Phänomene aus der Phonologie, Morphologie und dem Lexikon (vgl. dazu Scherrer/Rambow 2010 und Scherrer 2011). Diese Transfer-Regeln wurden so definiert, dass sie Dialektwörter gemäß einer weiten Dieth-Schreibung (vgl. Dieth 1986) generieren, d. h. ohne die Setzung von Diakritika zur Angabe der Vokalqualität. Dabei ist die auf den originalen Lautkarten des SDS vorfindbare Präzision (mit bis zu fünf Abstufungen zwischen einem geschlossenen u und einem offenen o) nicht gefragt. Bei der computativ durchgeführten Kodierung der SDS-Daten wurden daher im Wege einer Datenkomprimierung und -vereinfachung diejenigen Dialektvarianten in einer Gruppe zusammengefasst, die mit dem gleichen Dieth-Graphem verschriftlicht werden. Y. Scherrer hat alle 565 helvetischen Meßpunkte des SDS berücksichtigt, jedoch die in Italien gelegenen acht walserdeutschen Messpunkte⁷ beiseitegelassen. Zwar ist die Anzahl der von Y. Scherrer und P. Smečka herauspräparierten Arbeitskarten (= 216) zweifelsfrei anzugeben, doch ist es nicht so einfach, diese in eine prozentuelle Relation zur Gesamtanzahl der Karten des SDS zu setzen. Beim Durchblättern der acht Bände des SDS und beim parallelen Zusammenzählen der solcherart ermittelbaren Kartenmengen bin ich auf die Zahl 1762 gekommen. Trüb/ In der Terminologie der Salzburger Dialektometrie wird eine derartige Typisierung als „Taxierung“ bezeichnet. Der dabei als Gruppenrepräsentant herauspräparierte Typ heißt in Salzburg „Taxat“: vgl. dazu DS I, 16 f. Vgl. Hotzenköcherle (1962, 92).
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Trüb (2003, 18) geben in ihrem Handbuch zum SDS explizit als Gesamtanzahl den Wert 1548 an. B. Kelle (2001, 21) spricht in seiner pionierhaften Erstdialektometrisierung von SDS-Daten gar nur von „geschätzten“ 1300 Karten. Nun: die von uns benützte Menge von 216 Arbeitskarten, die auf fast ebenso vielen Originalkarten des SDS beruht, liegt also anteilsmäßig zwischen 16,6 % (Kelle) und 12,2 % (mit Bezug auf 1762) des Gesamtdatenbestandes des SDS. Nach all unseren bisherigen Erfahrungen mit der Dialektometrisierung von Daten vor allem romanischer Atlanten⁸ kann bei einem so kleinen Prozentsatz nicht eo ipso erwartet werden, dass dabei stabile (quantitative) Raumgliederungen entstehen. Allerdings ist hier genau das in völlig eindeutiger Weise geschehen. Aus Platzmangel müssen wir auf eine diesbezügliche Demonstration verzichten. Ich sehe aber den Hauptgrund für diesen Sachverhalt in der überaus sorgfältigen Selektion passender SDS-Originalkarten durch Y. Scherrer. Sollte aber jemand Lust und Laune haben, die Zahl der typisierten Karten des SDS zu vermehren, dann kann der Ertrag dieser Arbeit – gewisse Formalia natürlich vorausgesetzt – in die schon vorhandene Datenmatrix eingefüllt und damit deren Aussagekraft in nützlicher Weise erweitert werden.
2 Zur dialektometrischen Verfahrenskette Die Dialektometrie (DM) ist eine mustererkennende Disziplin, bei der qualitative Daten als Input dienen, in spezieller Weise vermessen, dann durch den Vorgang der Ähnlichkeits- und Distanzmessung quantifiziert und abschließend in der Form quantitativer Heuristika (Karten, Diagramme etc.) – also in phänomenologisch transformierter Form – dem Forscher erneut zur Verfügung gestellt werden.⁹ Die von mir und anderen Dialektometern seit rund 40 Jahren verwendeten (geo)statistischen Verfahren entstammen weitestgehend der Numerischen Taxonomie (oder Klassifikation), während die bei der Erstellung der Heuristika verwendeten visualisatorischen Methoden der Quantitativen Kartographie ¹⁰ entlehnt worden sind.
Ich verweise hier nur auf die Großatlanten ALF (Galloromania) und AIS (Italo-, Sardo- und Rätoromania) und meine diesbezüglichen Arbeiten von 2003, 2007 und 2008. Siehe dazu auch die „Dialektometrischen Studien“ (DS) von 1984, wo man sehr detaillierte methodische, wissenschaftstheoretische und -geschichtliche Hinweise zur DM findet. Die dort präsentierten Beispiele stammen aus Teilbereichen von ALF und AIS. Vgl. dazu die drei Bände unserer DS aus dem Jahr 1984. Vgl. dazu DS I, 86 f.
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Abb. 1: Dialektometrische Verfahrenskette: von den Originaldaten (hier: SDS) bis zu den dialektometrischen Karten; grau hinterlegt: im Text und im Kartenanhang angesprochene bzw. verwendete Methoden und Heuristika
Abb. 1 veranschaulicht die Prinzipien des damit verbundenen Datenflusses. Aus dem zu analysierenden Sprachatlas wählt der Dialektometer eingangs den ihn interessierenden Sektor aus: das können alle Messpunkte und alle Karten eines Sprachatlasses oder nur Teile davon sein (Position 1). Diese Daten werden,wozu es sowohl in Germanistik wie in Romanistik eine reiche Tradition gibt, anschließend nach bestimmten (fachlichen = linguistischen) Kriterien gruppiert (bzw. „taxiert“)¹¹ und damit einer ersten Vermessung (auf der nominalen bzw. kardinalen Mess-Skala) unterzogen. Dabei entsteht die Datenmatrix (Position 2). Diese hat hier die Dimensionen 565 (Messpunkte) mal 216 (Arbeitskarten) und verfügt über die Untergruppen Phonetik, Morphosyntax und Wortschatz. ¹²
Diese Taxierung erfolgte im vorliegenden Fall durch Y. Scherrer (mit einigen wenigen Adaptierungen durch P. Smečka). Dazu drei Beispiele: zur Phonetik: SDS Band I, Karte 45: Donnerstag. Diese zeigt die Verteilung der Varianten donnstag und dunnstag. Die Karte verfügt damit über (nur) zwei Varianten (bzw. Taxate) und ist daher binym (oder 2-nym). Siehe dazu auch den Beginn von Kapitel 2, die Note 13 und die Abbildung 2. Zur Morphosyntax: SDS Band III, Karte 1. Man sieht darauf das Fehlen oder Vorhandensein des auslautenden -n bei Infinitiven. Diese Karte ist daher 2-nym. Zum Lexikon: SDS Band IV, Karte 155 ein wenig. Diese informiert über die räumliche Schichtung der folgenden acht Varianten: bitz, bitzli, chlai, chlei, chli, chläi, weeni, wenig. Diese Karte ist daher 8-nym.
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3 Von den SDS-Daten zur Datenmatrix Im vorliegenden Fall hat die von Yves Scherrer mit massiver EDV-Unterstützung vorgenommene Taxierung 216 kartographische Typisierungen erbracht, die in der Salzburger DM-Diktion „Arbeitskarten“ genannt werden. Die folgende Tabelle zeigt deren kategorielle Zugehörigkeit und Herkunft aus dem SDS: Tab. 1: Kategorielle Zugehörigkeit und Anzahl der Arbeitskarten sowie deren Herkunft aus dem SDS Linguistische Kategorie
Anzahl der Arbeitskarten
Vorkommen im SDS (Band x)
Phonetik: Vokalismus (Qualität) Phonetik: Vokalismus (Quantität) Phonetik: Konsonantismus Morphologie: verbal Morphologie: nominal Lexikon Syntax Summe
I II II II III IV, V, VI III
Eine nähere Analyse des Inhalts solcher Datenmatrizen hat in allen von mir bislang untersuchten Fällen sehr auffallende Regularitäten erbracht. Dazu zählt die Tatsache, dass es unter den Arbeitskarten grob und fein gegliederte Exemplare gibt, also solche, die nur über wenige Taxate¹³ verfügen, und wieder andere, die viele Taxate besitzen und damit sehr bunt gegliedert sind. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer variablen (taxatorischen) Polynymie. Nun hat sich immer wieder gezeigt, dass es in aller Regel viele Arbeitskarten mit einer nur ganz groben Gliederung (Oligo-nymie: also mit wenigen Taxaten) und nur wenige mit einer eher feinen – bzw. fallweise sogar als „regellos“ oder „chaotisch“ zu bezeichnenden – Gliederung gibt (Poly-nymie: also mit sehr vielen Taxaten). Zwischen diesen beiden Extremen ergibt sich ein fließender Abfall, wie ihn Abb. 2 zeigt. Formal handelt es sich dabei um Spielarten von Exponentialfunktionen. Bei unserem Korpus oszilliert die bei der Taxierung erhobene Polynymie zwischen 2 und 18, wobei insgesamt 792 Taxate definiert worden sind. Jedes dieser Taxate verfügt über ein nach der Menge der Messpunkte und deren geographischer Verteilung sehr variabel gestaltetes Areal, wobei alle diese Areale in der bekannt komplexen Weise miteinander verzahnt sind. Die Datenmatrix bildet damit viel-
Hinweis: Die linguistisch interessierende Variation beginnt erst bei 2 Taxaten, also bei binymen Arbeitskarten.
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Abb. 2: Darstellung des Verhältnisses zwischen karteninterner Polynymie (= Anzahl der Taxate pro Arbeitskarte) und der Menge der betreffenden Arbeitskarten; zum besseren Verständnis (mit Bezug auf die drei links außen stehenden Histogramm-Säulen): im untersuchten Gesamtkorpus von 216 Arbeitskarten (AK) verfügen 82 AK jeweils nur über 2 Taxate, 52 AK über 3 Taxate und 41 AK über 4 Taxate (etc.)
gestaltige sprachgeographische Sachverhalte ab, wie man sie – abgesehen von Y. Scherrers „SDS Online“¹⁴ – etwa beim Durchblättern des „Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (KSDS) in sehr anschaulicher Weise vorfindet. Die in Abb. 2 sichtbaren quantitativen Relationen stellen einen kommunikativen Notwendigkeiten geschuldeten Reflex der „basilektalen Bewirtschaftung des Raumes durch den Homo loquens“ dar, sind also die Emanation einer Art von „Raum-Grammatik“, die von den Sprechern einer bestimmten Gegend (unbewusst bzw. implizit) im basilektalen Umgang miteinander verwendet wird. Wir sehen darin seit vielen Jahren das Grund-Theorem¹⁵ der in Salzburg betriebenen Dialektometrie.
Vgl. dazu: http://latlntic.unige.ch/~scherrey/prod/sdsviewer.html (06.02. 2013). Dazu gehört auch die Annahme, dass die jeweilige „basilektale Bewirtschaftung“ in sehr zuverlässiger Weise durch das Instrument des „Sprachatlasses“ in der Form von Einzelmessungen erfasst und nach der Synthetisierung dieser Einzelmessungen in toto sichtbar gemacht werden kann. Es wird aber dabei auch unterstellt, dass es neben der basilektalen Bewirtschaftung eines Raumes auch zahlreiche andere Spielarten der Bewirtschaftung desselben Raumes durch den Menschen gibt: z. B. die genetische, matrimoniale, ökonomische, verkehrsspezifische
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4 Von der Daten- zur Ähnlichkeits- und Distanzmatrix In weiterer Folge (siehe Abb. 1, Abschnitt B) werden die 565 Messpunktvektoren der Datenmatrix mittels eines für solche Daten tauglichen Ähnlichkeitsmaßes paarweise (allgemein ausgedrückt: Bezugspunkt j mit Vergleichspunkt k) verglichen.¹⁶ Diese Paarvergleiche erfolgen hier mittels des Standard-Ähnlichkeitsmaßes der Salzburger Dialektometrie RIW („Relativer Identitätswert“). Dabei fallen (bei N = 565) nach der kombinatorischen Formel N/2 × (N – 1) insgesamt 159 330 Messwerte an, die zunächst – siehe Position 3 – in der quadratischen Ähnlichkeitsmatrix (565 mal 565 Messpunkte) und – nach einer einfachen Transformation (100 – RIW = RDW) – in der Distanzmatrix gespeichert werden. Die darin enthaltenen Messwerte werden als „Relative Distanzwerte“ (RDW) bezeichnet.
5 Zur visualisatorischen Auswertung der Ähnlichkeits- und Distanzmatrix In Abb. 1 repräsentieren die Positionen C und 4 den Vorgang und den Ertrag der Visualisierung der in Ähnlichkeits- und Distanzmatrix enthaltenen (quantitativen) Daten. Das Ziel dieser Visualisierung ist, dem Dialektometer bzw. dem quantitativ arbeitenden Dialektologen graphisch klar und zugleich suggestiv gestaltete Heuristika in die Hand zu geben, mit deren Hilfe er synthetischen (und eben nicht mehr nur atomistisch-analytischen) Fragestellungen seiner Disziplin nachgehen kann. Da es sich dabei nicht um als „endgültig“ oder „allwissend“ anzusehende Erkenntnishilfen handelt, ist es wichtig, dass sie vom Dialektometer so verändert und angepasst werden können, wie das der Benützer eines Fernrohrs bei der zielorientierten Betrachtung der Natur macht. Das Salzburger DM-Programm VDM bietet die dazu nötigen Hilfestellungen: diese bestehen – abgesehen vom durchgehenden und frei einstellbaren Einsatz von Farben – nicht nur in der Wahl verschiedener Ähnlichkeitsmaße¹⁷ und Intervallalgorithmen (hier: MINMWMAX
(etc.) Bewirtschaftung. Daraus ergeben sich – stets mit Blick auf denselben Raum – sehr interessante interdisziplinäre Perspektiven. Dazu ein Verständnisbeispiel: beim Vergleich der Messpunkte 1 und 2 stehen 216 Taxat-Paare zum Vergleich an. Wenn 120 davon miteinander identisch und folglich 96 nicht miteinander identisch sind, dann ergibt diese Relation nach der Logik des RIW eine Ähnlichkeit von 55,55 % (= 120 : 216). Vgl. DS I, 74 f.
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und MEDMW) und der Anzahl der damit einzufärbenden Intervalle (zwischen 2 und 20), sondern auch in der Zurverfügungstellung eines ganz speziell für dialektologische Zwecke komponierten Spektrums an Ausgabe-Heuristika. Wir haben nämlich nicht wahllos in die uferlos große „Trickkiste“ der Statistik gegriffen, sondern die in VDM implementierten Heuristika unter genauer Bedachtnahme auf die überkommenen Fragestellungen der Sprachgeographie ausgesucht. Auf Abb. 1 erkennt man sie unter der Position D. Daraus werden in diesem Beitrag drei Ähnlichkeitskarten, eine Schottenkarte, eine Parameterkarte und eine Baumanalyse exemplarisch vorgestellt.
6 Vorstellung von sechs dialektometrischen Karten 6.1 Drei Ähnlichkeitskarten Siehe die Karten 1– 3. In kartographischer Hinsicht gehören die Karten 1– 3 zur Klasse der Flächenmosaik- oder Choroplethen-Karten¹⁸. Das Grundnetz des SDS wurde dabei nach den Prinzipien der Voronoi-Geometrie polygonisiert. Es besteht daher aus 565 klaffungs- und überlappungsfreien Polygonen, die – je nach zu visualisierendem Messwert – mit einer Spektralfarbe belegt werden können. Dabei entsteht ein färbiges Gesamtprofil, dessen Gliederung die räumliche Verteilung der sichtbar zu machenden (quantitativen) Variable zeigt. Das Auge des Betrachters vollzieht dabei den Akt der Erkennung eines Musters, dessen Struktur eine besondere dialektologische bzw. linguistische Bedeutung zugeschrieben wird. Auf den Karten 1– 3 ist eine genau definierte Variable zu visualisieren, nämlich die geolinguistische Ähnlichkeit – stets anhand der in der Datenmatrix enthaltenen Informationen – der Dialekte von Zürich, Freiburg (im Üechtland) sowie Bosco Gurin zum Rest des Netzes, also zu den verbleibenden 564 Messpunkten des SDS¹⁹. Ein rascher Blick auf die Karten 1– 3 zeigt – abgesehen von einer stupenden Regularität der drei Choroplethenprofile – etwas, was in der Geographie und anderen raumzentrierten Wissenschaften seit weit mehr als einem Jahrhundert
Vgl. dazu DS I, 90 f. Die zu diesen Prüfbezugspunkten gehörenden Polygone verbleiben auf den Ähnlichkeitskarten immer in Weiß.
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sehr oft beobachtet und in regelmäßigen Abständen in immer neue „Gesetze“²⁰ verpackt wurde: nämlich dass ein x-zentriertes quantitatives Phänomen (hier also die geolinguistische Ähnlichkeit) mit steigender Entfernung vom Punkt x kontinuierlich (und keineswegs „ungeordnet“) abnimmt. Dieser an und für sich auch in der Sprachgeographie keineswegs erstaunliche Sachverhalt kommt im Falle der Visualisierung über die Choroplethentechnik dann am besten heraus, wenn man die bildlich darzustellenden 564 RI-Werte über den Intervallalgorithmus MINMWMAX²¹ und unter Verwendung von 6 Farbstufen visualisiert. Rechts oben sieht man die Legende, die über den Zusammenhang zwischen Messwert und Farben informiert. Sie gibt zugleich an, wie viele Polygone von einer bestimmten Farbe abgedeckt werden. Da die 564 Ähnlichkeitswerte alle Eigenschaften einer ganz „normalen“ Häufigkeitsverteilung haben – deren mathematische Gestalt vom rechts unten befindlichen Histogramm²² angedeutet wird –, ist es sinnvoll, deren statistische Kennwerte (wie Minimum, Mittelwert, Maximum, Standardverteilung, Schiefe etc.) zu beachten. So wird auf der Karte selber die Lage der jeweiligen Minimal- und Maximalwerte durch weiße Schraffuren auf Blau und Rot angezeigt. Der Intervallalgorithmus MINMWMAX ist – so wie der auf den Karten 4 und 5 verwendete Algorithmus MEDMW²³ – mittelwert-zentriert. Dies bedeutet, dass die Intervalle 1– 3 unterhalb und die Intervalle 4– 6 oberhalb des arithmetischen Mittels (auf Karte 1: 65,14) liegen. Die verbleibenden Intervallgrenzen werden zunächst durch Drittelung der Spanne zwischen Mittel- und Minimalwert (für die Intervalle 1– 3) und dann durch eine weitere Drittelung der Spanne zwischen Maximal- und Mittelwert (für die Intervalle 4– 6) errechnet. Die von den roten und orangefarbenen Polygonen aufgespannte Fläche gibt den zum Dialekt des jeweiligen Prüfbezugspunkts in sprachtypologischer Hinsicht affinsten Bereich wieder. Allerdings unter der Maßgabe, dass man hier an eine quantitativ operierende Sprachtypologie²⁴ denkt, was vielen qualitativ arbeitenden Linguisten und Dialektologen nicht leicht fällt. Die letzte diesbezügliche „Entdeckung“ (von 1970) ist das Tobler’sche Gesetz, benannt nach dem Schweizer Geographen Waldo R. Tobler. Es besagt, dass räumlich verteilte (quantitative) Variablen mit der euklidischen Distanz negativ korreliert sind: einem räumlichen Abfall einer Variable entspricht also – stets mit Blick auf einen bestimmten Ausgangspunkt – eine Zunahme der euklidischen Distanz. Zu den Details vgl. DS I, 93 f. Vgl. dazu DS I, 97 f. Vgl. dazu DS I, 93 f. Es ist möglich, dabei in sehr zutreffender Weise die Metaphorik der „Landschaft“ einzusetzen; doch ist diese hier – anders als bei Hotzenköcherle 1984 – stets quantitativ zu verstehen.
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Auf den Karten 1 und 2 erkennt man also prima vista über die Farben Rot und Orange das sprachtypologische „Freundschafts“-Feld von Zürich und Freiburg sowie über die Farbe Dunkelblau die Heimat der „Antipoden“ dieser beiden Ortsdialekte, wobei in beiden Fällen die weißen Schraffuren auf die Verortung des jeweils „besten Freundes“ und des „Erzfeindes“ hinweisen. Klarerweise liegen im Sinn des Tobler’schen Gesetzes die jeweils besten Freunde gleich neben den beiden Prüfbezugspunkten, während die „Erzfeinde“ ganz weit weg beheimatet sind. Da in formaler Hinsicht jede Ähnlichkeitskarte auf dem Inhalt eines von N Vektoren einer Ähnlichkeitsmatrix beruht, gibt es hier in toto 565 Ähnlichkeitskarten. Mittels VDM kann man diese spielend leicht vor sich auf dem Bildschirm paradieren lassen. Besonders eindrucksvoll ist dabei das konsekutive Anklicken benachbarter Polygone, weil solcherart einander stark ähnelnde Choroplethenprofile sichtbar werden, die – sequentiell angeordnet – einen richtiggehenden „Film“²⁵ ergeben. Der heuristische Wert von Ähnlichkeitskarten ist breit gestreut und sehr umfassend. Hier können nur wenige Applikationen erwähnt werden: darunter ist die Anwendung auf Sprachinseln besonders eindrücklich. Das Prinzip der Ähnlichkeitsmessung und der daraus resultierenden Visualisierung gestattet es nämlich, bei der Wahl eines Sprachinsel-Dialekts als Prüfbezugspunkt die Herkunft des betreffenden Sprachinsel-Dialekts in sehr klarer Weise deutlich zu machen. So erkennt man auf Karte 3 sehr klar, wohin der Walser-Dialekt von Bosco Gurin²⁶ optimal vernetzt ist – nämlich in den Oberwallis²⁷ mit einem Maximum in Visperterminen (siehe die weiße Schraffur auf Rot) –, und auch, wie sich dieser Dialekt zu den zahlreichen anderen Walser Sprachinsel-Dialekten des SDS (v. a. in Graubünden) verhält.
Mittels PowerPoint oder anderen entsprechenden Progammen kann man für Vortragszwecke sehr eindrucksvolle Bildsequenzen zusammenstellen. Dabei verbleibt ein Choroplethenprofil etwa 5 Sekunden stehen und gleitet darnach in etwa 1– 2 Sekunden in das nächste über. Diese Technik heisst „Diaporama“ (frz. „fondu enchaîné“). Das weiß belassene Polygon von Bosco Gurin liegt direkt an der Westgrenze des Tessin, auf gleicher Höhe wie der Legendeneintrag Tessin/Ticino. Der Schweizer Kanton Wallis ist zweisprachig: die westliche Hälfte (Unterwallis) ist frankophon, die östliche Hälfte (Oberwallis) germanophon.
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6.2 Eine dialektometrische Isoglossen-Synthese („Schottenkarte“) Siehe Karte 4. Ganz unzweifelhaft war für die Sprachgeographen aller Neueren Philologien die (kartographisch ja nicht unproblematische) Herstellung von Isoglossen-Synthesen sehr nützlich. In den verschiedenen Disziplinen gibt es dazu variabel intensive Bemühungen und Traditionen. Wie der als Germanist und Romanist tätige schwäbische Dialektologe Karl Haag (1860 – 1946) schon im Jahr 1898 sehr klar und deutlich gezeigt hat, eignen sich die Seiten von Voronoi-Polygonen ganz hervorragend zur parallelen Ziehung von Einzelisoglossen. Unser 565 Polygone enthaltenes SDS-Netz verfügt in seinen räumlich kohärenten Partien über 1551 Polygonseiten, entlang derer auf Karte 4 statt Ähnlichkeiten (nach RIW) nunmehr ebenso viele geolinguistische Distanzen (nach RDW) visualisiert werden. Die Visualisierung erfolgt aus optischen bzw. sehpsychologischen Gründen anhand des Intervallalgorithmus MEDMW und mit 10 Farbklassen. MEDMW erzeugt – erneut zu beiden Seiten des Mittelwerts der RDWVerteilung – mengenmäßig (d. h. nach der Anzahl der Polygonseiten, „Zwischenpunkte“ oder „Schotten“) – möglichst gleich große Klassen. Diese wiederum generieren einen für das Auge prägnanteren Gesamteindruck. Die kartographische Umsetzung erfolgt in zwei Richtungen: Je größer der pro Schotte zu visualisierende RD-Wert ist, desto dicker und blauer wird diese realisiert. Und umgekehrt: Je kleiner dieser RD-Wert ist, desto dünner und röter wird die betreffende Schotte gezeichnet. Die geolinguistische Botschaft von Karte 4 ist sehr klar: die prominentesten Isoglossenbündel verlaufen sehr oft entlang von Kantonsgrenzen, wobei in dieser quantitativen Perspektive früher von der Fachwelt diskutierte Grenzlinien (wie z. B. die „Brünig-Napf-Reuss-Linie“) nicht durch einen durchgängig sichtbaren Abgrenzungseffekt auffallen. Ich habe – ausgehend von der bei Kelle (2001) zitierten Literatur – mit meinen Romanisten-Augen die germanistische Produktion bis 2012 durchforstet und bin dabei auf keinen Versuch einer ähnlich linienbasierten Datensynthese gestoßen. Hier sei noch angemerkt, dass mit den weiter oben angegeben Subkorpora (Phonetik, Morphosyntax und Lexikon) tendenziell sehr ähnliche SchottenLandschaften erzeugt werden können. Weitergehende Interpretationen müssten freilich den Germanisten vorbehalten bleiben.
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6.3 Eine Parameter-Karte („Synopse der Schiefen“) Siehe Karte 5. Im Zuge zahlreicher dialektometrischer Analysen hat es sich immer wieder gezeigt, dass über die synoptische Kartierung (stets bezogen auf ein Netz von N Messpunkten, wozu es ja immer N Ähnlichkeitsverteilungen bzw. -karten gibt) bestimmter Kennwerte dieser N Ähnlichkeitsverteilungen sehr nützliche Einblicke in die „basilektale Bewirtschaftung (des betreffenden Raumes) durch den Homo loquens“ gewonnen werden können. Ein dafür ganz besonders tauglicher Parameter ist die Schiefe, also ein Maß für die Symmetrie einer Häufigkeitsverteilung, die eine ganz besondere geolinguistische Bedeutung hat. Es ist nämlich mit ihrer Hilfe möglich, ein Phänomen zu messen, das in der Germanistik „Sprachausgleich“ heißt. Umgedeutet auf die Belange der DM bedeutet dies, dass es Dialekte gibt, die ihren typologischen Charakter größeren oder kleineren Ausgleichsdynamismen in ihrer jeweiligen Geschichte verdanken. Auf der Karte 5 liegt die folgende Farblogik vor: – Blau: großer Sprachausgleich (= hohe Dynamik beim Sprachkontakt: demnach Diffusions- und Irradiationsgebiete); – Rot: kleiner Sprachausgleich (= kleine Dynamik beim Sprachkontakt: folglich Relikt- und Isolationsgebiete). Diesbezüglich ist die Karte 5 sehr klar gegliedert: Die (räumlich kompakt auftretenden) roten Gebiete in Süden verweisen auf eine – relativ zum Ganzen gesehen – geringe Dialektdynamik (mit einem „Minimum“ in der Ortschaft Fideris, Graubünden). Die (räumlich stets bandförmig auftretenden) blauen Konfigurationen verweisen dagegen auf Zonen mit besonders hohen Expansions- bzw. KontaktRaten (mit einem „Maximum“ in Zurzach, Kanton Aargau). Auffällig ist die blaue Kreisformation rund um den Kanton Zürich und die die blaue Schwelle im Süden des Kantons St. Gallen. Die erstere deute ich – stets an zahlreiche ähnlich gelagerte romanische Fälle denkend²⁸ – als Hinweis auf eine dominante (= irradiative) Stellung des Dialekts der Stadt Zürich, die zweitere als Hinweis auf einen Sprachkontakt-Dynamismus in drei Richtungen: zwischen St. Gallen und Glarus, zwischen St. Gallen und Graubünden und auch zwischen Glarus und Graubünden. Man darf dabei freilich nicht vergessen, dass die Karte 5 auf quantitativen Messwerten beruht, die ihrerseits das Resultat komplexer Transformationen von zahlreichen, synthetisch be-
Vgl. dazu DS I, 150 f. sowie v. a. Goebl (2003, 81 ff.; 2007, 215 ff.; 2008, 46 ff.).
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trachteten qualitativen Urdaten sind. Diese Analyse hat jedenfalls eine hohe diachrone Relevanz.
6.4 Eine Baum-Analyse (Dendrogramm nach der Methode von Joe Ward Jr.) Siehe Karte 6. Die hier vorzustellende Baum-Analyse zielt gegenüber den zuvor gezeigten Analysen in eine – statistisch gesehen – völlig andere Richtung: hier geht es um den Einsatz der in den 565 Vektoren der Ähnlichkeitsmatrix abgespeicherten quantitativen Variation zur Klassifikation dieser 565 Vektoren (bzw. „Elemente“) in hierarchisch gegliederte Gruppen, wozu verschiedene Algorithmen eingesetzt werden können. Diese Verfahren gehören zum Bereich der „hierarchisch-agglomerativen Klassifikation“ und werden seit etwa 70 Jahren mit großem Erfolg vor allem in Biologie, Psychologie und Ökonomie sowie in den Erdwissenschaften eingesetzt. Auf die Angabe technischer Details muss hier aus Platzgründen verzichtet werden. Hier sollen zwei Hinweise genügen: – statistisch: der Prozess der Agglomeration beginnt bei den 565 „Blättern“ des Baumes und besteht aus 564 stets binären Agglomerations- bzw. FusionsSchritten (siehe auf Karte 6 den ganz zu unterst liegenden Pfeil); – linguistisch: die Interpretation des erzeugten Baumes erfolgt stets von der Wurzel zu den Blättern und setzt eine gestufte Einfärbung von vom Linguisten als charakteristisch angesehenen Teilen des Baumes („Dendremen“) voraus. Alle Dendreme müssen darnach in den Raum zurückprojiziert werden („Choreme“). Nur durch diese Spatialisierung kann diese Analyse ihren geolinguistischen Nutzen entfalten. Die hier gezeigte Analyse beruht auf einem in geolinguisticis sehr nützlichen Algorithmus, der vor rund 50 Jahren vom amerikanischen Statistiker Joe Ward Jr. (1926 – 2011) definiert worden ist. B. Kelle hat in seiner baum-zentrierten Studie von 2001²⁹ nicht diesen, sondern den Algorithmus „Complete Linkage“ verwendet. Klarerweise ergeben verschiedene Algorithmen verschiedene Resultate, die jedoch in aller Regel in eine ähnliche Richtung weisen. Das ist auch hier der Fall.
Die Studie von Kelle beruht auf einem gleichmäßig auf 101 Messpunkte ausgedünnten Netz des SDS und rund 170 taxierten Karten des SDS (entnommen den SDS-Bänden I bis III).
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Im mittels VDM errechneten Ward-Dendrogramm wurden zu DemonstrationsZwecken (nur) zehn wurzelnahe Dendreme eingefärbt, nummeriert und spatialisiert. Die hier sichtbaren Gruppierungen können mittels VDM nach Bedarf unschwer anders (d. h. gröber oder feiner) gestaltet und zudem individuell koloriert werden. Die hier gezeigte Lösung stellt also nur eine von vielen denkbaren Optionen dar. Man beachte zunächst die räumliche Kohärenz der Choreme. Der Struktur des Baumes kann man leicht entnehmen, dass die oberste (und erste) Bifurkation zwei Gruppen (Positionen A und B) erzeugt, in deren erster (A) die Mega-Dendreme/ Choreme 1– 4 und in deren zweiter (B) die Mega-Dendreme/Choreme 5 – 10 liegen. Auf der Karte ergibt das eine perfekte Zweiteilung des SDS-Netzes entlang einer von Nord nach Süd (ungefähr zwischen Rheinfelden und dem Gotthard) verlaufenden Bruchlinie. Man kann nun in weiterer Folge diese beiden Mega-Gruppen (A und B) sukzessive aufspalten. Dabei zerfällt die Osthälfte (B) in die Makro-Dendreme/Choreme 5 – 6 sowie 7– 10. In der Westhälfte (A) entstehen dabei die Makro-Dendreme/ Choreme 1– 2 sowie 3 – 4. Und so weiter. Die an gemeinsamen Astgabeln hängenden Dendreme/Choreme sind natürlich einander ähnlicher als jene, die an verschiedene Bifurkationen angebunden sind. Doch zeigt diese Analyse nicht auf einen Punkt bezogene relationale Ähnlichkeiten von der Art jener, die auf den Karten 1– 3 sichtbar sind. Überdies haben die auf unseren sechs Farbprofilen aufscheinenden „Grenzen“ nicht denselben klassifikatorischen Status. Auf den Karten 1– 3 und 4 entsprechen sie den in Schulatlanten oft verwendeten Höhenschichtlinien (Isohypsen). Die auf Karte 4 sichtbaren blauen „Linien“ folgen noch am ehesten dem alltagssprachlichen Begriff von Grenze. Hingegen wirkt bei den auf Karte 6 sichtbaren Chorem-Umrandungen der damit verbundene „Grenz-Effekt“ nur in das Innere des betreffenden Chorems. Dies deshalb, weil – was auf der Karte 6 nicht direkt sichtbar ist – die einzelnen Choreme auf jeweils verschiedenen Ebenen liegen, und zwar so wie die entsprechenden Dendreme im Baum. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, die in Wurzelnähe befindliche Bifurkations-Hierarchie diachron zu interpretieren und als zeitlich gestaffelte Ausgliederungen einer ab initio als kohärent gedachten Fläche zu betrachten³⁰. Auch hier entfaltet sich der volle Nutzen solcher Analysen erst dann, wenn man zum einen den Ertrag verschiedener Algorithmen miteinander vergleichen
Vgl. dazu v. a. Goebl (2003, 84 ff.).
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und zum anderen diese Algorithmen auf verschiedene linguistische Korpora anwenden kann. Beides ist mit VDM leicht möglich.
7 Schlussbemerkung Dieser Beitrag ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: – Durch seine Genese in der Form einer spontan organisierten Kooperation zwischen Genf und Salzburg und – Durch den von Romanisten getätigten Zugriff auf germanistisch relevante Daten. In beiden Fällen müssen kundige Leser um Nachsicht für fallweise Irrtümer und Fehlinterpretationen gebeten werden. Doch enthält dieser interdisziplinäre Versuch auch weiterführende Perspektiven: Über das Programm VDM und das in Salzburg bereits „angelegte“ Projekt SDS kann die derzeit aktuelle Menge von (nur) 216 Arbeitskarten jederzeit vermehrt und damit die „Relevanz“ dieser Datenverdichtung erhöht werden. Abschließend danke ich den Ko-Autoren Y. Scherrer und P. Smečka sehr herzlich für ihre technische Mithilfe und viele vertiefende Gespräche sowie meinem Sohn Werner für die passgenaue Herstellung der Druckvorlagen für die zwei Figuren und sechs Karten. Bei der Polygonisierung des SDS-Netzes hat dankenswerter Weise der Salzburger Geograph Bernhard Castellazzi einige Hürden beseitigt.
Literatur Dieth, Eugen (1986): Schwyzertütschi Dialäktschrift. 2. Auflage. Herausgegeben von Christian Schmid-Cadalbert. Aarau: Sauerländer. Goebl, Hans (2003): „Regards dialectométriques sur les données de l’Atlas linguistique de la France (ALF): relations quantitatives et structures de profondeur.“ In: Estudis Romànics 25. 59 – 120. Goebl, Hans (2007): „Sprachgeographische Streifzüge durch das Netz des Sprachatlasses AIS.“ In: Ladinia XXXI. 187 – 271. Goebl, Hans (2008): „La dialettometrizzazione integrale dell’AIS. Presentazione dei primi risultati.“ In: Revue de Linguistique Romane 72. 25 – 113. Hotzenköcherle, Rudolf (1962): Einführung in den Sprachatlas der deutschen Schweiz. A. Zu Methodologie der Kleinraumatlanten, B. Fragebuch, Transkriptionsschlüssel, Aufnahmeprotokolle. Bern: Francke.
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Hotzenköcherle, Rudolf (1984): Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz. Herausgegeben von Bigler, Nikolaus/Schläpfer, Norbert/Börlin, Rolf. Aarau, Frankfurt am Main, Salzburg: Sauerländer. Kelle, Bernhard (2001): „Zur Typologie der Dialekte in der deutschsprachigen Schweiz: Ein dialektometrischer Versuch.“ In: Dialectologia et Geolinguistica 9. 9 – 34. Scherrer, Yves (2010): „Des cartes dialectologiques numérisées pour le TALN.“ In: Actes de la 17e conférence sur le Traitement Automatique des Langues Naturelles (TALN 2010). Montréal. 1 – 4. Scherrer, Yves (2011): „Morphology generation for Swiss German Dialects.“ In: Systems and Frameworks for Computational Morphology. Second International Workshop (SFCM 2011). Berlin, Heidelberg: Springer. 130 – 140. Scherrer, Yves/Rambow, Owen (2010): „Natural Language Processing for the Swiss German dialect area.“ In: Tagungsband der Zehnten Konferenz zur Verarbeitung Natürlicher Sprache (KONVENS 2010). Saarbrücken: Universaar. 93 – 102. Trüb, Rudolf und Lily (2003): Sprachatlas der deutschen Schweiz. Abschlussband: Werkgeschichte, Publikationsmethode, Gesamtregister. Tübingen, Basel: Francke.
Abkürzungen AIS: Jaberg, Karl/Jud, Jakob (Hgg.) (1928 – 1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. Zofingen: Ringier (Neudruck: Nendeln [Liechtenstein]: Kraus, 1971). ALF: Gilliéron, Jules/Edmond, Edmont (Hgg.) (1902 – 1910): Atlas linguistique de la France. Paris: Champion (Neudruck: Bologna: Forni, 1968). DM: Dialektometrie DS: Goebl, Hans (1984): Dialektometrische Studien. Anhand italoromanischer, rätoromanischer und galloromanischer Sprachmaterialien aus AIS und ALF. Tübingen: Niemeyer (= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 191 – 193). KSDS: Christen, Helen/Glaser, Elvira/Friedli, Matthias (Hgg.) (2010): Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz. Frauenfeld, Stuttgart, Wien: Huber. SDS:Sprachatlas der deutschen Schweiz (1962 – 1997): Begründet von Heinrich Baumgartner und Rudolf Hotzenköcherle in Zusammenarbeit mit Konrad Lobeck, Robert Schläpfer, Rudolf Trüb und unter Mitwirkung von Paul Zinsli. Herausgegeben von Rudolf Hotzenköcherle, fortgeführt und abgeschlossen von Robert Schläpfer, Rudolf Trüb und Paul Zinsli. Bern, Basel: Francke. VDM: Visual DialectoMetry. In Salzburg verwendetes Dialektometrie-Programm. http://ald.sbg.ac.at/dm/ (06. 02. 2013).
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Karten
Karte 1: Ähnlichkeitskarte zum Prüfbezugspunkt 536 (laut SDS: ZH37): Ort Zürich, Kanton Zürich; Ähnlichkeitsmaß: RIWjk; Intervallalgorithmus: MINMWMAX 6-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
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Karte 2: Ähnlichkeitskarte zum Prüfbezugspunkt 218 (laut SDS: FR7): Ort Freiburg, Kanton Freiburg; Ähnlichkeitsmaß: RIWjk; Intervallalgorithmus: MINMWMAX 6-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
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Karte 3: Ähnlichkeitskarte zum Prüfbezugspunkt 434 (laut SDS: TI1): Bosco Gurin, Kanton Tessin; Ähnlichkeitsmaß: RIWjk; Intervallalgorithmus: MINMWMAX 6-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
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Karte 4: Isoglossensynthese (Schottenkarte); Distanzmaß: RDWjk; Intervallalgorithmus: MEDMW 10-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
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Karte 5: Synopse von 565 Schiefen-Werten; Ähnlichkeitsmaß: RIWjk; Intervallalgorithmus: MEDMW 6-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
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Karte 6: Dendrographische Analyse nach J. WARD Jr.; Ähnlichkeitsmaß: RIWjk; Auflösung nach Dendremen und Choremen: 10-fach; Korpus: 216 Arbeitskarten (alle linguistischen Kategorien)
Jakob Ebner
Aufhin – hinauf – nach oben – hoch Betrachtung zu den Lokaladverbien in sprachgeschichtlicher, soziolinguistischer und arealer Sicht Abstract: Das System der deutschen Lokaladverbien stellt ein anschauliches Beispiel für die Übergänge und Bruchlinien zwischen Sprachschichten, Altersschichten und Sprachgebieten dar. Das Spektrum reicht von einem differenzierten System des Dialekts, das alle Aspekte von Lage/Richtung und Perspektive ausfüllt, über Kurzformen, die bereits einzelne Kategorien vereinfachen, bis zur Aufgabe des Systems am Beispiel hoch. Die Frage wird aufgeworfen, wieweit ein solcher Systemwandel auch die sprachliche Orientierung und das Denken beeinflusst. Keywords: Lokaladverb, Dialekt, standardsprachliche, Variante, sprachliche Orientierung, Systemwandel Adverbien, die eine Lage oder Richtung angeben, werfen seit jeher sowohl für die Areallinguistik als auch für die Soziolinguistik interessante Fragen auf, die in ihrem Ausmaß noch nicht vollständig geklärt sind, was allerdings auch in diesem kleinen Beitrag nicht geleistet werden kann. Ich möchte nur einige Überlegungen anstellen, die sich daraus ergeben, dass sich an den Lokaladverbien Naht- oder Bruchstellen zwischen Sprachgeschichte, Sprachgeographie und Soziolinguistik zeigen. Bisher richtet sich das Interesse vor allem auf die Dialekte mit ihrem Adverbsystem. Darüber hinaus können Sprachentwicklungen beobachtet werden, die nicht nur die Dialekte, sondern auch die Standardsprache betreffen, und hier nicht nur einzelne Wörter, sondern ein ganzes System, weswegen auch die gesamte Einstellung zu Sprache mit bedacht werden muss. Es wird letztlich um die Frage gehen, ob ein differenziertes, aber kompliziertes System, oder ein einfaches, aber undifferenziertes System von den Sprachbenutzern angestrebt wird und ob es für die Kommunikation sinnvoll ist. Da keine dialektologische Gesamtdarstellung angestrebt wird, beschränke ich mich in den Beispielen vor allem auf die bayrisch-österreichische Sicht, die in den Prinzipien aber von allgemeiner Gültigkeit ist. Anzumerken ist noch, dass hinauf, herunter usw. als Wort bezeichnet werden, auch wenn sie in zusammengesetzten Verben (hinaufgehen, herunterfallen usw.) vorkommen.
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1 Das System der dialektalen Lokaladverbien Das Oberdeutsche hat ein ausgeprägtes und differenziertes System der Lokaladverbien. Es ist in den Sprachatlanten, Wörterbüchern und Publikationen ausführlich beschrieben¹ und muss hier nicht wiederholt werden. Als Anknüpfungspunkt und zur Information gebe ich eine vereinfachte tabellarische Übersicht über das mittelbairische, also altbayerisch-österreichische System. Kleine Anmerkungen betreffen Wörter, die nur in Bayern üblich sind, sowie südbairische Formen. Was das System so differenziert macht, ist die doppelte Unterscheidung: einerseits zwischen Lage (statisch) und Richtung (dynamisch), andererseits die Perspektive: zum Sprecher gerichtet (her) oder vom Sprecher weg (hin). Zudem gibt es die grundsätzlichen Wortbildungsmuster nach der Anordnung der Bestandteile: die richtungsangebende Silbe her bzw. hin und die lageangebende Präposition auf, aus, in, über usw. Der präfigierte Typ setzt die richtungangebende Silbe vor die Präposition (z. B. hinein), der suffigierte Typ hinter die Präposition (z. B. einhin)². Der präfigierte Typ ist der in der deutschen Standardsprache geltende, für den Dialekt ist zwar der suffigierte Typ kennzeichnend, aber sowohl regional als auch funktional ist auch der präfigierte Typ vorhanden. Tab 1: Richtungsanzeigende (dynamische) Adverbien des Mittelbairischen (in Klammern häufige Schreibformen in umgangssprachlichen Texten) Perspektive → adverbiale Kategorie ↓
zum Sprecher gerichtet (her)
vom Sprecher weg (hin)
/ein, innen/ /aus, außen/ /auf, oben/ /ab, unten/ /an, heran/ /über, jenseits-diesseits/ /um (die Ecke); jenseits-diesseits/ /vor, vorne/ /zu/ /durch/ /entfernt, weg/ /hinter, hinten/ /nach, folgend/
einher (eina) ausher (aussa, außa) aufher (auffa) abher (aba, oba, owa) anher** (ana) übher (üwa) umher (umma) fürher (füra, fira) zuher (zuwa) durchher (dura) danher (dana, dona) hínt(er)her° (hintera) nachher (nacha)
einhin (eini) aushin (aussi, außi) aufhin (auffi) abhin (abi, obi, owi) anhin** (ani) übhin (üwi) umhin (ummi) fürhin (füri, firi) zuhin (zuwi) durchhin (duri) danhin (dani, dini) hínt(er)hin (hinteri) nachhin (nachi)
Z. B. Stadelmann (1978); Rowley (1980); Glaser (1992); Klein (2001); Reichel (2003). Hinderling (1980, 251).
Aufhin – hinauf – nach oben – hoch
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Tab. 2: Lageanzeigende (statische) Adverbien des Mittelbairischen (in Klammern häufige Schreibformen in umgangssprachlichen Texten) Perspektive → adverbiale Kategorie ↓
beim Sprecher (hier)
nicht beim Sprecher (dort)
/ein, innen/ /aus, außen/ /auf, oben/ /ab, unten/ /über, jenseits/diesseits/ /um (die Ecke); jenseits-diesseits/ /zu/ /entfernt, weg/ /vor, vorn – hinter, hinten/
herin(nen), hinn(en) heraußen, heraußt heroben herunten herent(en), (her)üben hérum herbéi herdánt vorán
drin(nen), dinn(en)* draußen, daußen*, daußt* droben, doben* drunt(en), dunt(en) drent(en), dent(en)*, drüben hínum hiebéi dant, hindánt hint
/Kategorie/ * bes. südbair. ** bes. bayr. ° selten oder hypothetisch
Zusätzlich zu den Formen in der Tabelle kommen noch zwei Aspekte: Kontrastakzent und Verlaufsangabe. Beim Kontrastakzent³ wird ein Gegensatz emphatisch betont. Dazu wird der präfigierte Typ verwendet: Hínaus tragst du die Milchkanne, hérein nimmst du dann das Holz mit. Hínauf geht es noch leicht, aber hérab tun mir die Knie weh.
Allerdings liegt die Betonung auf dem Präfix, was diese Formen trotz gleichlautender Schriftform deutlich von dem standardsprachlichen Wort unterscheidet. Bei der Verlaufsangabe⁴ wird nicht nur die Tatsache der Bewegung festgestellt (durch her, hin), sondern auch der Verlauf der Bewegung nachgezeichnet (durch da‐). Sie wird mit Kontrastform und vorangestelltem da- gebildet: Trag das Holz dahinaus.
Die Tabelle wäre also zu ergänzen durch weitere Spalten⁵: ‒ für Kontrastformen: herein/hinein, heraus/hinaus, herauf/hinauf, herab/hinab, herum/hinum, herfür/hinfür, herzu/hinzu, herdan/hindan. (Formen mit üb-, anund hint- sind nicht vorstellbar.)
Vgl. Hinderling (1980, 270). Schmidt (1980, 203). Vgl. Scherl-Nömeier (1980, 207).
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für Verlaufsangaben: daherein/dahinein, daheraus/dahinaus, daherauf/ dahinauf, daherab/dahinab, daherum/dahinum, daherzu/dahinzu, dahinfür/ daherfür, dahinterhin.
Die dialektalen Formen mit -her (abher, ausher usw.) sind etymologische Schreibungen für von der Schreibung deutliche abweichende Lautungen, die dadurch entstehen, dass -her und -hin schwach betont und daher nur durch ein auslautendes -e oder -i erkennbar sind. In umgangssprachlichen schriftlichen Texten werden daher Behelfsschreibungen wie aussi, eini, füra, ummi verwendet. In Österreich verwendet man meist -i, was der eher geschlossenen Aussprache entspricht, in Bayern dürfte die Schreibung mit -e überwiegen. Es gibt aber keine exakte Abgrenzung.
2 Sprachgeschichtliche Aspekte Welchen Stellenwert hat das oberdeutsche Adverbsystem in der gesamtdeutschen Sprachentwicklung? Die germanischen Sprachen bringen durch die Wahl des Verbs die Bewegungsart zum Ausdruck (z. B. fahren, gehen, laufen) und fügen den Weg, die Richtung oder die Lage adverbial hinzu. Romanische Sprachen drücken eher den Weg und das Ziel durch das Verb aus (z. B. ital. attraverso il fiume ‘ich überquere den Fluss’), die Bewegungsart ist nicht so wichtig und wird eventuell adverbial hinzugefügt (z. B. nuotando ‘schwimmend’). Die adverbiale Angabe kann im Deutschen die Form eines Adverbs oder eines präpositionalen Ausdrucks (z. B. in die Stadt) haben. Da im Deutschen diese Präpositionalphrase oft die Angabe von Lage oder Richtung übernimmt, fällt für das ursprüngliche Adverb diese Aufgabe weg und es wird zu einem Präfix eines zusammengesetzten Verbs, z. B. in ausgehen, heimfahren, was sich dann orthographisch durch die Zusammenschreibung ausdrückt.⁶ Schließlich verlieren diese neuen Präfixe oft ihre lokale Bedeutung, z. B. mit dem Geld auskommen. Man bezeichnet das als „adverbiellen Zerfall“. Um die lokale Bedeutung der Richtungsangaben klarzustellen, bedarf es nun eines neuen Adverbs, nämlich her oder hin. Die Verben erhalten eine doppelte Partikel. Diese ermöglicht neben der lokalen Angabe zusätzlich die Angabe einer Sprecherperspektive. Im Grunde sind Ausdrücke wie Komm herein! oder Ich fahre hinein in die Stadt redundant, weil die lokale Angabe bereits im Verb vorhanden ist. Die beiden Angaben sind aber nicht völlig bedeutungsgleich, sondern situativ
Rowley (2007, 34).
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verschieden, sie können z. B. zusätzlich zur Richtung auch eine resultative Komponente beisteuern.⁷ Es stellt sich die Frage, warum gerade diese Dialekte ein solch ausgeprägtes System haben im Gegensatz zum Mittel- und Norddeutschen und auch zur Standardsprache. Eine erschöpfende Antwort gibt die Linguistik nicht. Einer Vermutung nach erfordert die Kommunikation in einer gesprochenen Sprache, wo ausgefeilte schriftliche Angaben zu Personen- oder Raumbezeichnungen, wie sie in einer Schriftsprache vorhanden sind, fehlen, die Erhaltung eines differenzierten Systems.⁸ Die Lokaladverbien werden daher im Dialekt eher deiktisch gebraucht, in der Standardsprache eher kontextunabhängig, d. h. ihre Bedeutung wird nicht erst durch den Zusammenhang klar.⁹ Die Methode der adverbialen Zusammensetzungen ist sprachgeschichtlich relativ jung, da keine andere verwandte Sprache dieses System kennt, sondern die einfachen Wörter, z. B. engl. out, noch voll im adverbialen Gebrauch stehen.¹⁰ Die sprachgeschichtliche Entwicklung ist aber auch innerhalb des Dialektsystems zu sehen. Nach dem Wechsel vom germanischen Simplextyp zum oberdeutschen Wortbildungstyp entstand zuerst der präfigierte Typ. Erst ab dem 13. Jh. entwickelte sich daneben der suffigierte Typ, sodass beide Typen nebeneinander existierten, bis sich durch Ausgleichsbewegungen in bestimmten Regionen ein Typ durchsetzte.¹¹ Es entstand eine klare Abgrenzung zwischen dem BairischAlemannischen mit dem suffigierten und dem Schwäbisch-Fränkischen mit dem präfigierten Typ.
3 Der Systemwandel im Dialekt Wenn das Dialektsystem auch als stabil betrachtet werden kann, gibt es auch hier Veränderungen. Ein Grund ist die Altersentwicklung innerhalb des Dialekts. So sind im Bayrisch-Österreichischen Formen mit Schwund des auslautenden Nasals oder Frikativs heute veraltet, z. B. ein (gesprochen als nasaliertes -ei‐), das von eini (einhin) verdrängt wird, ähnlich aua (mit getilgtem -s‐) für jüngeres aussa (aushin). ¹²
Vgl. Eroms (1980, 14 f.); Rowley (2007, 35). Eichinger (1980, 35). Reichel (2003, 59). Hinderling (1980, 251 f.). Die genaue sprachgeographische und -geschichtliche Argumentation siehe bei Hinderling (1980, 265 – 280). Scheuringer (1990, 267 ff.).
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Es ist aber auch die Tendenz zu Ausgleichsformen festzustellen, etwa dass für beide Richtungen (hin und her) eine einheitliche Form geprägt wird. Diese Entwicklung lässt sich aber nicht nur auf einen Aspekt der Wortbildung oder Lautgeschichte zurückführen, sondern weist auf eine grundlegende Systemänderung insofern hin, als es nicht mehr als nötig erachtet wurde, die Perspektive (her oder hin) auseinanderzuhalten.¹³ Das ist keine Vereinfachungstendenz, sondern hat einen systemimmanenten Grund. In dem Satz Pass auf, dass du nicht abifallst steht der Sprecher vermutlich unter dem Baum, versetzt sich aber offensichtlich in die Lage des oben Befindlichen. Der Sprecher kann sich in andere Personen transponieren. Es geht um das Problem der schon von Karl Bühler behandelten Deixis.¹⁴ Ein Sprecher kann sich in unterschiedlicher Weise in eine Position denken oder sich an der Situation beteiligt fühlen. Es gibt also viele Beispiele oder Situationen, in denen die Richtung nicht nach dem üblichen Schema festgestellt werden kann. Daher besteht das Bestreben nach richtungsneutralen Formen, und da im System keine vorgesehen ist, wird eine Form als Neutralform angesehen. In vielen Fällen ist die Hin-Form stark auf Entfernung vom Sprecher festgelegt, während die HerForm als neutral gesehen wird.¹⁵ Es stellt sich die Frage, warum der auch in der Standardsprache intakte Unterschied in der Perspektive durch die Präfixe her- und hin- zunehmend aufgegeben wird. Vermutet wird, dass der zweite Wortteil, also die Angabe der Lage durch die Präposition, als wichtiger angesehen wird als die Perspektive, oder dass einfach Modeerscheinungen eine Rolle spielen. Gegen alle diese Überlegungen gibt es Gegenargumente. Die psychologischen Ursachen für die Aufgabe der Sprecherperspektive bleiben ungeklärt.¹⁶ Am ehesten ist anzunehmen, dass die Sprecher innerlich den Standpunkt des Angesprochenen einnehmen („Deixis am Phantasma“).¹⁷ Wenn aber die Perspektive aufgegeben wird, besteht natürlich der Bedarf nach einer unmarkierten, neutralen Form. Das kann dadurch geschehen, dass ein Adverb, das ursprünglich für eine der beiden Richtungen stand, als neutrale Form verwendet wird, also z. B. rüber (aus herüber) sowohl für her- als auch für hinüber, oder dass nach einer von vornherein nicht markierten Neutralform gesucht wird.¹⁸ Es geht dabei nicht nur um Vereinfachung; das dialektale System mit der durchorganisierten Dichotomie kann auch hinderlich sein, wenn es um eine perspektivisch nicht festgelegte Aussage geht.
Hinderling (1980, 280 ff.). Ausführlich zur Theorie von Deixis und Origo in Reichel (2003, 59 – 81; 216 ff.). Reichel (2003, 221 f.). Eichinger (1980): 22; Rowley (2007, 37 f.). Eichinger (1980, 34). Eichinger (1980, 24 f.).
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4 Der Übergang zur Umgangssprache In einer Großstadt, in der der Bezug zum Basisdialekt verloren gegangen ist, werden Ausgleichformen gebildet. Dabei geht es aber nicht mehr um die Frage Dialekt oder Standard, sondern generell um die Unterscheidung der Richtungsangabe. Ausgangspunkt sind die standardsprachlichen Paare hinauf/herauf, hinaus/heraus, hinüber/herüber. Diese konnten verallgemeinert werden, indem statt des Präfixes der letzte Laut mit der Präposition verbunden wurde, also nauf oder rauf, naus oder raus, nüber oder rüber. Die Entscheidung zwischen der n-Form oder r-Form ist aber nicht mehr eine semantische, sondern eine geografische. Die Formen rauf, raus, rein usw. sind wohl ursprünglich norddeutsch, heute aber gesamtdeutsch, die Formen nein, naus, nüber usw. vor allem bairisch.¹⁹ In Österreich war ursprünglich die n-Form verbreitet. In dem berühmten Wienerlied „Der stille Zecher“ von Hermann Leopoldi heißt es in den 1950er Jahren noch „Da gengans in die Oper ‘nein, die singen noch viel lauter und die sperrt keiner ein“. Heute hat sich die r-Form auch in Österreich durchgesetzt und die n-Form wird als bayerisch empfunden. Beim Übergang vom basisdialektalen System zur großräumigen Umgangssprache sind zwei Möglichkeiten zu sehen: Übernahme dialektaler Formen oder neu gebildete Ausgleichsformen aus der Standardsprache. Dabei spielt auch die Schriftlichkeit eine Rolle, da umgangssprachliche Formen auch in literarischen Texten verwendet werden. In Gebieten, die noch stark dialektal geprägt sind, werden Formen des dialektalen Systems in die Umgangssprache übernommen. Allerdings geschieht das in einer begrenzten Auswahl. So werden als veraltet empfundene Formen abgestreift, aber auch solche, die aufgrund der Lautung schriftlich schwer wiedergegeben werden können. Das Repertoire grenzt sich auf wenige Grundformen aussi, aussa, eini, ummi, umma ein, weniger aber auf Formen für abher, abhin, da für das dialektale verdumpfte a eine gültige Schriftform fehlt, sodass Schreibungen wie oba, owa, aba, abi immer Behelfsformen sind. Wenn Helmut Qualtinger im „Herrn Karl“ Verben wie abaschaun, abistessen verwendet, kann er davon ausgehen, dass die Leser die Dialektaussprache mitlesen, abgesehen davon, dass es ein von ihm selbst vorgetragener Theatertext ist. Seltenere Formen wie füri, füra, zuwa finden sich schriftlich kaum. Die Tatsache, dass solche Formen des dialektalen Systems überhaupt übernommen werden, beweist, dass das System im Bewusstsein tief verankert ist. So ist zu beobachten, dass auch in Städten bei Menschen, die weitgehend Standard-
Ausführlich zum Dialekt in Bayern und Österreich siehe Scheuringer (1990, 355 – 369).
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sprache verwenden, als letzter dialektaler Rest Formen wie eini oder aussi bleiben. Oder umgekehrt: Auf dem manchmal mühsamen Weg zur Standardsprache stolpert man gerade als letzte Hürde bei Lokaladverbien.
5 Das standardsprachliche System Im heutigen standardsprachlichen System sehen wir nun das Ergebnis einer sprachgeschichtlichen Entwicklung. Das System schwankt zwischen traditioneller Perspektivensicht, regionalen Ausprägungen, lexikalisierten Formen und der Tendenz zu neutralen Ausgleichsformen. Tab. 3: Standardsprachliche Richtungsadverbien (dynamisch) Perspektive → zum Sprecher ge- umschreibend adverbiale Kategorie richtet (her) ↓ Ich komme /ein, nach innen/
herein
/aus, nach außen/
heraus
/auf, nach oben/ /ab, nach unten/ /ab, nach unten/ /über, jenseits-diesseits/ /um (die Ecke); jenseits-diesseits/ /vor, nach vorne/ /zu/ /entfernt, weg/ /hinter, nach hinten/
herauf herab herunter herüber
nach innen/ nach drinnen nach außen/ nach draußen nach oben
vom Sprecher weg (hin) – Sie geht
umschreibend
hinein
nach innen/ nach drinnen nach außen/ nach draußen nach oben
hinaus
nach unten von drüben
hinauf hinab hinunter hinüber
nach unten nach drüben
herum
–
–
–
hervor herzu – hinterher°
von vorne –
– hinzu – –
nach vorne – – nach hinten
umschreibend
von hinten
Tab. 4: Standardsprachliche Adverbien der Lage (statisch) Perspektive → adverbiale Kategorie ↓
zum Sprecher gerichtet (hier) Ich bin hier
umschreibend
vom Sprecher weg (dort) Sie ist dort
/ein, innen/
herinnen
/aus, außen/
heraußen
/auf, oben/
heroben**
hier innen/hier drinn(en) hier außen/hier draußen hier oben/hier droben
darinnen+, drin dort innen/dort (nen) drin(nen) draußen dort außen/dort draußen droben dort oben/dort droben
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Perspektive → adverbiale Kategorie ↓
zum Sprecher gerichtet (hier) Ich bin hier
umschreibend
vom Sprecher weg (dort) Sie ist dort
umschreibend
/ab, unten/
herunten**
drunten
/über, jenseits-diesseits/ /um (die Ecke); jenseits-diesseits/ /vor, vorne/ /zu/ /entfernt, weg/ /hinter, hinten/
herüben**, hüben+ –
hier unten/hier drunten hier drüben°
drüben
dort unten/dort drunten dort drüben
–
–
–
hier vorn(e)
– – – –
dort vorn(e)
– – – –
– hier hinten
– dort hinten
/Kategorie/ ** bayr.–österr. ° selten oder hypothetisch + veraltet unterstrichen: neutrale Form
Im Vergleich mit der Tabelle zum dialektalen System ist an Einzelheiten auffällig, dass einige Kategorien nicht mehr besetzt sind, z. B. /weg, entfernt/, /zu/ (statisch). Andere sind im System lückenhaft. Bei /jenseits-diesseits/ bleibt nur noch herum in der Bedeutung ‚um die Ecke, in einer kreisförmigen Bewegung‘, während im Dialekt umher auch i. S. v. ‚herüber‘, und zwar in zwei Bedeutungen: ‚um (die Ecke), hervor‘ und ‚über (den Fluss), über (die Mauer)‘ verwendet werden kann. Interessanter sind zwei systematische Unterschiede: zwischen den in den Spalten „umschreibend“ in Tabelle 5.2 genannten Formen, wie dort außen, dort drinnen, einerseits und den Bildungen mit dar-, wie darauf, darin(nen) andererseits. Die Formen mit dar- entstanden aus dem hinweisenden Adverb da und dem Hiatustilger -r-. Natürlich kann auch im Dialekt eine Verdeutlichung durch dort oder hier erfolgen (geh dort aussi, komm da eina), was für das System keine Rolle spielt; im Standarddeutsch sind die Hinweise aber frequenter und zum Teil notwendig. Das Präfix dar- ist hier allerdings mit dem Adverb verschmolzen und nur noch in veralteten Resten erhalten. Grimm und Adelung verzeichnen noch darinnen, daroben, darunten, allerdings mit Verweis auf drinnen, droben, drunten, Adelung auch daraußen. In der weiteren Entwicklung geht der Hinweis auf die Entfernung, das „dort“, verloren. Es kommt insofern zu einer Lexikalisierung, als draußen, drinnen, droben, drunten mit den einfachen Adverbien außen, innen, oben, unten gleichgesetzt werden. Sprachgeschichtliche Entwicklungen vollziehen sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass regional oder hinsichtlich
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des Alters verschiedene Einschätzungen vorhanden sind. Personen mit sprachhistorischen Einsichten – häufig mit Kenntnissen des Dialekts – haben noch die Vorstellung, dass in drinn(en) ein darinnen, eine Entfernung, mitgedacht ist. Sie empfinden somit eine Koppelung hier drinnen als unlogisch, da hier und dort einen Widerspruch darstellen. Städtisch oder dialektfern aufgewachsenen Personen ist dieser Einwand fremd. Möglicherweise hat sich der Sinn für den Unterschied zwischen außen und draußen, innen und drinnen usw. in Österreich, wo ältere Spracherscheinungen oft konserviert werden, länger gehalten, sodass im Austriazismenwörterbuch des Dudenverlags²⁰ folgende Artikel zu finden sind, die aber einen heute vielfach veraltenden Zustand beschreiben. Wir übernehmen sie der Einfachheit wörtlich, zumal auch Belege zu sehen sind. draußen: a) (gemeind.) im Freien: wir können heute draußen frühstücken. b) (gemeind.) außerhalb eines Raumes: bleib draußen; draußen vor dem Haus. In dieser Bed. ist das Wort österr. (und bayr.) nur verwendbar mit einer Blickrichtung von innen nach außen. „Bleib draußen!“ kann nur jmd. sagen, der sich im Inneren befindet, in D auch, wer sich außerhalb des Raumes befindet. Österr. daher nicht hier draußen, sondern nur dort draußen. Statt hier draußen sagt man in Österr. urspr. hier ↑außen, das aber veraltet ist und durch ↑heraußen ersetzt wird. Auch nach draußen ist unüblich, dafür hinaus. – Die in D übliche Verwendung von draußen wird heute aber auch in Österr. zunehmend üblich drịnnen: 1. steht österr. für das in D übliche drin in der Bedeutung ‘darin’: als Belohnung würde er mir etwas von drinnen erzählen (Hochgatterer, Süße 221); Aber der Reiz wäre eben in der Symmetrie gelegen, dass man auch die Gegenbewegung drinnen hätte. (Haas,Wetter 36); *etwas ist drinnen: österr. (und südd.) Form, (in D) etwas ist drin. 2. analog zu ↑draußen ist das Wort österr. (und bayr.) urspr. nur mit einer Blickrichtung von außen nach innen gesehen verwendbar, daher nur dort drinnen, nicht aber hier drinnen, dafür urspr. hier ↑innen, das aber veraltet ist und durch ↑herinnen ersetzt wird
Entsprechend die Artikel „außen“ und „innen“: außen: 1. (gemeind.) an der Außenseite: das Haus außen verputzen, der Becher ist außen und innen vergoldet. 2. (veraltend) außerhalb eines Raumes (von einer räumlich neutralen Position, also weder aus der Sicht eines im Inneren noch eines außerhalb des Raumes Befindlichen), in D dafür draußen: Ein komisches Gefühl, wenn du gleichzeitig innen und außen bist. (Haas, Knochenmann 6); … man hat mich auch am Elterntisch oft zum Essen gezwungen, bis ich nach außen aufs Klo gegangen bin und … gebrochen habe (Winkler, Muttersprache 60). – Wenn eine Blickrichtung ausgedrückt werden soll, heißt es ↑draußen. ↑heraußen, innen ịnnen: für innen und drinnen gelten dieselben Verhältnisse wie für ↑außen und ↑draußen. Bei ↑drinnen wird immer eine Blickrichtung von einem außerhalb eines Raumes Stehenden nach innen vorausgesetzt, es heißt daher nicht hier drinnen, sondern urspr. hier innen (al-
Ebner (2009, 98 f.).
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lerdings veraltet, dafür meist ↑herinnen): Weil der Brenner ist ja jetzt schon innen gestanden, in der Villa von der Jurasic Helene. (Haas, Knochenmann 89)
Aber auch im älteren „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ von Klappenbach-Steinitz findet sich zu außen der Eintrag²¹ veraltend österr. draußen, Ggs. drin: außen warten, bleiben (mit Literaturbelegen aus Anzengruber und Brecht),
zu innen ²² österr. drin(nen), Ggs. außen: innen bleiben, warten
Wir sind hier beim Thema nationale Varianten der Standardsprache angelangt, die sich in zweierlei Weise zeigen: einerseits in der Konservierung eines älteren Zustands, andererseits in Resten der dialektalen Basis, die zu den in Bayern und Österreich standardsprachlichen Formen mit her- in heraußen, herinnen, heroben, herunten, herüben führen. Die Umschreibungen sind eine gemeindeutsche Entwicklung innerhalb des standardsprachlichen Systems, in dem ausreichend Richtungsadverbien für beide Perspektiven zur Verfügung stünden (herauf, herab, hinauf, hinab usw.)²³, die aber zunehmend durch adverbiale oder präpositionale Phrasen (hier oben, hier unten, nach oben, nach unten usw.) ersetzt werden.²⁴ Die Ursachen sind nicht eindeutig festzulegen. Es kann daran liegen, dass der Schwerpunkt der Richtung oder Lage nicht mehr im Adverb, das ja meist als Präfix Teil eines Verbs geworden ist, sondern in der Bedeutung des Verbs selbst liegt. Es zeigt sich ein Übergang von synthetischem zu analytischem Sprachbau.²⁵ Beim synthetischen Sprachbau werden die Bedeutung und die grammatischen Beziehungen innerhalb des Wortes ausgedrückt, z. B. schnäuzen, beim analytischen Sprachbau werden diese außerhalb des Wortes durch Hilfswörter oder andere Mittel ausgedrückt, z. B. die Nase putzen. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen hinauf und nach oben. Die analytischen Ausdrücke sind zugleich meist die Erklärungsformeln in Wörterbüchern. Tendenziell kann man feststellen, dass das
Klappenbach-Steinitz (31967, Band 1, 376). Klappenbach-Steinitz (1969, Band 3, 1. Aufl. 1956). Eine tabellarische Darstellung des Systems siehe Reichel (2003, 80 f.). Vgl. Reichel (2003, 67). Vgl. Lewandowski (1973/1975, Band 1, 45; Band 3, 721).
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Oberdeutsche eher dazu neigt, synthetisch zu formulieren, was mit dem stärkeren Bezug zu historischen Formen und Dialekten übereinstimmen würden. Das klärt aber nicht den Wunsch nach dieser Veränderung. Man könnte auch eine allgemeine Flucht vor einem differenzierten System annehmen, die auch in der Aufgabe von grammatischen Formen, wie Kasus oder Verbformen, eine Parallele hätte. Wir haben es vermutlich mit einer generellen Tendenz zu „neutralen“, unmarkierten Formen zu tun, mit denen dann bausteinartig die verschiedenen Perspektiven und lokalen Kategorien erzeugt werden können. Das dialektale System hat dagegen noch ein differenziertes Geflecht für die verschiedenen Aspekte, enthält aber keine unmarkierten Positionen mehr, wie sie in älteren Sprachperioden oder, wie oben bereits erwähnt, in Nachbarsprachen noch vorhanden waren. Das Dialektsystem ist also kein „ideales System“, das neben der Sprecherperspektive auch die neutrale, absolute Position abdecken würde.²⁶ Im Bairischen sind Reste solcher unmarkierter Wörter ohne Sprecherperspektive noch vorhanden: innen, außen, oben, unt/ünt (unten), voran (vorne), hint (hinten). Das heutige standardsprachliche System ist Momentaufnahme einer Entwicklung, in der sich neutrale Formen (innen, außen usw.) mit lokal determinierten Formen, die aber als neutrale Formen lexikalisiert sind (drinnen, draußen usw.), überschneiden. Die Entwicklung zum standardsprachlichen System war also folgende: 1. Aufgabe der „neutralen“ Formen innen, außen, 2. Ersatz durch lexikalisierte darFormen drinnen, draußen, die in dieser Form ihre Lokalisierung verloren haben, 3. Ersatz der Adverbien durch Umschreibung mit Adverb oder Präposition + neutrales Adverb hier drinnen, hier draußen (älter hier innen / hier außen, regional herinnen / heraußen). Die Frage ist allerdings, ob diese Formen nicht nur sprachgeschichtlich bedingt sind, sondern auch semantische Unterschiede eine Rolle gespielt haben. Dazu eine Tiefenbohrung an einem einzelnen Text, nämlich dem Roman „Woher wir kommen“ von Barbara Frischmuth.²⁷ In den Textstellen vom Typ Umschreibung ist in Klammern eine mögliche Ersatzform hinzugefügt: Die Hündin mit den beiden Welpen trabte unbeirrt den einen der beiden Pfade nach oben. (S. 44) (hinauf) Bis auf zwei weitere Bilder hängte Ada nach zwei Wochen alle ihre Bilder wieder eigenhändig ab, nahm sie mit nach oben in die Werkstatt … (S. 263) (hinauf)
Vgl. Eichinger (1980, 25). Frischmuth (2012).
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Jenny nickte, nahm dann Walker … an der Hand, ging mit ihm nach oben. (S. 118) (hinauf/ins Obergeschoß) Ohne Schuhe huschten sie so leise wie möglich die Treppe nach oben. (S. 162) (hinauf) Dazu schlugen sie in den Boden der Wölbung ein Loch, so dass die Pfrillen hineinschwimmen, den Köder fressen konnten, jedoch auf dem Weg nach draußen von den Resten der Wölbung in der Flasche zurückgehalten wurden. (S. 57) (hinaus) Wenn einer von innen die Flasche wieder aus dem See zog, wurden zwar einige Pfrillen vom auslaufenden Wasser nach draußen gespült, … (S. 57) (hinaus/ins Freie) Ada benützte die Gelegenheit, um zum Rauchen nach draußen zu gehen. (S. 81) (hinaus/ins Freie) Robin … hatte mich … an der nächsten Haltestelle nach draußen geschafft (S. 185) (hinaus/ins Freie) … weil es ein Raucherlokal war, in dem sie nicht für jede Zigarre nach draußen musste. (S. 267) (hinaus/ins Freie)
Man kann folgenden Schluss ziehen: Wenn bei der adverbialen Angabe eine weitere lokale Angabe steht, z. B. den Weg hinauf, ins Obergeschoß hinauf u. Ä., besteht die Neigung zu einem einfachen Adverb mit Richtungsangabe (hinauf); wenn keine weitere Angabe steht, ist eine gewisse Bedeutungsnuance zu vermuten: bei oben ‚im Obergeschoß‘, bei hinaus ‚ins Freie‘. Bei Ich gehe hinaus liegt demnach der Schwerpunkt auf der Bewegung, bei Ich gehe nach draußen das Ziel, und zwar den Gegensatz zum Innenraum betonend. Eine weitere Möglichkeit, die Richtung nach oben zu kennzeichnen, ist das Präfix auf-, die wohl schwerpunktmäßig, aber nicht nur in Österreich vorkommt, z. B. ein aufgebogenes Stück Draht. Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“²⁸ ist diese Form mit Präfix zwar nicht regional markiert, aber der Beleg aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil die etwas aufgebogene Spitze der Nase deutet darauf hin. Im österreichischen Zeitungskorpus von COSMAS²⁹ finden sich für das Partizip aufgebogen viermal so viele Belege wie für nach oben gebogen.
6 Sonderfall hoch Das Adjektiv hoch kann als Richtungsadverb in Sätzen wie Ich gehe die Treppe hoch verwendet werden. Diese Verwendung stammt vermutlich aus dem 20. Jh. In den
Duden (2012) (nur elektronisch). Vgl. http://www.ids-mannheim.de/cosmas2.
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Wörterbüchern des 18. und 19. Jh. ist sie jedenfalls nicht verzeichnet. Bei Hoffmann, Heinsius,Weigand, Campe, Adelung und Grimm sind zusammengesetzte Verben mit hoch- nicht aufgenommen. Ausnahmen: Bei Hoffmann hochhalten in der Bedeutung ‚werthalten‘, bei Grimm hochfahren im Zusammenhang mit ‚stolzes Betragen‘, hochpreisen ‚anerkennen‘, hochstapeln. Das kann auch daran liegen, dass in der damals gängigen Orthographie Verben nicht zusammengeschrieben wurden. Dann wären sie aber unter dem Simplex hoch abzuhandeln gewesen. Das geschieht nur in wenigen Fällen. Campe (1808, 2, 747) führt an: hoch bitten, bedauern, beleidigen, beschimpfen, sich hoch beklagen, hoch verwundern; hoch gilt hier als Synonym zu sehr. Adelung führt unter hoch nur übertragene Bedeutungen sowie solche ohne Richtung an, wie hoch tragen ‚in größerer Höhe tragen‘. Den Weg im 20. Jh. zeigt das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ von Klappenbach-Steinitz. Unter dem Stichwort hoch ³⁰ findet sich unter 2. /ohne Maßangabe/ die Bedeutung c) ‚nach oben, in die Höhe‘, allerdings nur mit Beispielen Hände hoch!, hoch vom Stuhl!, ugs. Kopf hoch; sie war morgens immer als erste hoch (aufgestanden). Es sind also jedes Mal spezielle Aufforderungen und besondere Verwendungsweisen. Für die konkrete Bedeutung sind die Komposita abzufragen. Unter diesen sind Partizipien mit übertragenen Bedeutungen in der Überzahl, z. B. hochbetagt, hochbeglückt, hochberühmt, hochentwickelt, hochfahrend, hochgebildet, hochgezüchtet. Unter den konkreten Bedeutungen hat eine ganze Gruppe die für unseren Zusammenhang aufschlussreiche Markierung „umgangssprachlich, norddeutsch, mitteldeutsch“, jeweils bei der ersten Bedeutung, weil grundsätzlich die konkrete Bedeutung als erste angeführt wird: hochbringen: umg. 1. norddt., mitteldt. jmdn., etw. nach oben bringen, schaffen: die neuen Möbel werden in den 3. Stock hochgebracht; die Besucher des Aussichtsturms mit dem Fahrstuhl hochbringen. hochfahren: 1. norddt., mitteldt. umg. (jmdn., etw.) nach oben, hinauffahren: der Kranke wurde im Fahrstuhl hochgefahren; mit dem Auto bis zum Gipfel hochfahren. hochgehen: 1. norddt., mitteldt. umg. nach oben, in die Höhe gehen: die Treppen hochgehen; sich nach oben, in die Höhe bewegen: der Schlagbaum, der Vorhang auf der Bühne geht hoch (wird hochgezogen), sowie weitere übertragene Beispiele. hochholen: norddt., mitteldt. umg. jmdn., etw. nach oben holen, schaffen: das Kind holt Kohlen aus dem Keller hoch. hochklettern: norddt., mitteldt. umg. nach oben klettern: der alte Mann kletterte mühsam die baufällige Stiege hoch
Klappenbach-Steinitz (1969), Band 3, 1. Aufl. 1866.
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hochkommen: 1. norddt., mitteldt. umg. nach oben kommen, hochsteigen: die Frau kam den Berg hoch. hochkriechen: norddt., mitteldt. umg.: nach oben kriechen: der Käfer kriecht am Blattstengel hoch hochnehmen: norddt., mitteldt. umg.: etw., jmdn. nach oben nehmen, in die Höhe halten: die Schleppe, das Kind hochnehmen.
Unter den Komposita finden sich weitere Lemmata, die eine Bewegung nach oben angeben, die aber nicht areal oder stilistisch markiert sind: hochblicken, hochfliegen, hochheben, hochjagen, hochklappen, hochkrempeln, hochrecken, hochschlagen (hochkrempeln), hochschnellen, hochstapeln (in die Höhe stapeln), hochstrecken, hochtürmen, hochwinden, hochwuchten, hochziehen.
Der Unterschied zwischen den markierten und unmarkierten Stichwörtern ist nicht eindeutig. Erst das „Große Wörterbuch der deutschen Sprache“ der Dudenredaktion führt in großer Zahl Komposita mit Richtungsangabe (hocharbeiten, hochbiegen, hochbinden, hochblicken, hochbringen, hochdienen, hochdrehen, hochfahren, hochgehen, hochspielen, hochspringen, hochsteigen, hochtragen, hochziehen, hochzüchten) oder mit Lageangabe (hochachten, hochhalten, hochschätzen, hochwollen), jeweils konkret oder übertragen, als uneingeschränkt standardsprachlich und überregional an. Im österreichischen Sprachgebrauch ist hoch als Richtungsangabe sehr fremd, und das deshalb, weil nicht einfach ein einzelnes Wort übersetzt werden müsste, sondern weil das Denksystem gestört wird. Als Basis der Raum- und Richtungsvorstellung kann man noch immer von einem differenzierten System wie im Dialekt ausgehen, auch wenn es nicht mehr angewandt wird. In den Tabellen zum Adverbsystem kommt die Kategorie /Höhe – Tiefe/ nicht vor, diese liegt auf einer anderen Ebene als Perspektive und Richtung. Hoch kann das Ausmaß nach oben (der Schnee liegt zwei Meter hoch) oder die Lage (der Ort liegt 2000 m hoch) angeben. Trotzdem kommt hoch in Österreich schriftlich häufig vor. Allgemeiner Sprachgebrauch und Mediensprachgebrauch klaffen weit auseinander. Als literarisches Beispiel wieder betreffende Sätze aus dem Roman von Barbara Frischmuth: Plötzlich hob Jonas Jenny hoch, legte sie sich über die Schulter (S. 31) (in die Höhe/empor) Sie spazierten die Serpentinen der Autostraße hoch (S. 43) (hinauf)
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Die Waagrechte der landwirtschaftlich genutzten Fläche zu einer Senkrechten der Wohnraumbeschaffung für Millionen Zuwanderer hochgezogen. (S. 170) (in die Höhe/empor) Ada begrüßte Jenny, hob dann Jeremy hoch, während Walker sich an ihrem Regenmantel festhielt. (S. 285) (auf/in die Höhe/empor)
In Klammern stehen wieder Möglichkeiten des Ersatzes für dieses hoch. Wenn im Satzzusammenhang ein Weg angegeben wird, also eine Perspektive (die Straße hoch), ist ein Ersatz durch hinauf möglich und sinnvoll. In den anderen Fällen geht es nur um die hohe Lage, aber ohne Perspektive. Dafür kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage: empor und in die Höhe. Das eine ist veraltet oder gehoben, das andere als Wortgruppe sperriger und wenig ökonomisch; auf ist älter und heute seltener. In diese Bresche springt nun hoch. Ein Beispiel aus dem Roman: Weil die beiden, ohne sich um ihre Leiblichkeit zu scheren, direkt in den Himmel aufgefahren sind wie seinerzeit der Mann aus Nazareth? … Mohammed hat sich dazu auf eine Stute gesetzt, also ist anzunehmen, dass auch Vedat zum Himmel emporgeritten wäre. (S. 205)
Hier kommt sowohl auf als auch empor vor, allerdings stilistisch einem religiösen Kontext zugeordnet, wo empor zutreffend ist. Der Import von hoch aus dem deutschländischen Deutsch kann eine weitere Ursache haben. Vergleicht man das Vorkommen von hochkommen, hochsteigen und hochgehen im österreichischen Zeitungskorpus in COSMAS, so ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen konkreter und übertragener Bedeutung sowie eventueller Phraseologismen und typischer Kollokationen. Beim frequentesten Beispiel hochkommen haben 13 % die konkrete Bedeutung, 18 % bildlichen und phraseologischen Gebrauch, 24 % betreffen den semantischen Bereich „sozialer Aufstieg“ und 43 % Kollokationen mit Wörtern für Gefühle (Gefühle / Emotionen / Stimmungen / Erinnerungen / Zorn / Wut). Bei dem am wenigstens frequenten hochgehen sind 16 % konkret, aber 42 % in Verbindung mit Bombe und 26 % in dem Phraseologismus Es geht hoch her (oder Variationen davon). Auch bei diesem begrenzten statistischen Material wird die Einflugschneise für die Wortschatzwanderung deutlich: der metaphorische Gebrauch. Dieser ist in den Medien stark ausgeprägt und wird auch generell in Österreich in hohem Maß aus deutschländischen Medien übernommen. Der konkrete Gebrauch ist nur in geringem Maß vertreten. Wenn hoch nun als Richtungsangabe verwendet wird, werden die Kategorien endgültig verwischt. Hoch fällt auch insofern aus jedem System, als das Gegenstück tief nicht in gleicher Weise für hinunter stehen kann. Es fehlt eine wichtige sprachliche Unterscheidung. Es handelt sich bei hoch nicht einfach um den Import einer einzelnen Vokabel, der ja im Sprachaustausch normal und unproblematisch
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wäre, sondern um eine systemfremde Erscheinung. Ähnliches wird zu beobachten sein, wenn der sich langsam anbahnende Import von systemfremdem außen vor für draußen, außerhalb durchgesetzt hat.
7 Fazit Die Standardsprache hat das alte differenzierte Dialektsystem der Lokaladverbien aufgegeben und sich einem vorerst einfacheren, „flacheren“ System zugewandt. Es ist dabei aufgrund unterschiedlicher Entwicklungstendenzen und -geschwindigkeiten in divergierende historische, grammatische, areale, soziolinguistische und psycholinguistische Kraftfelder geraten: diffenziert oder einfach, analytisch oder synthetisch, Dialekt oder Standardsprache, norddeutsch oder oberdeutsch, österreichisch oder deutschländisch. Dadurch ist das System nicht wirklich klarer geworden. Zu den grammatischen und semantischen Fragen, die sich dabei stellen, darf auch die psychologische Frage angefügt werden, ob die generelle Entwicklung zu einem undifferenzierten System auch das Denken und die sprachliche Orientierung beeinflusst, wenn das System, in diesem Fall das gesamte lokale Adverbialsystem, gestört wird.
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Jakob Ebner
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Norbert Dittmar
Reflexionen über das Entstehen eines deutschen Dialekts am Beispiel multiethnisch geprägter jugendsprachlicher Stile in Großstädten Abstract: Multiethnisch geprägtes Deutsch nach dem Berliner Dialektwort Kiez (deutsch) zu benennen, ist im soziolinguistischen Lichte gesamtgesellschaftlicher Variation und ihrer sozialen wie regionalen Vielfalt eine naive (und populistische) Vereinfachung. Multiethnisch geprägtes Sprechen (oder ethnolektale Stile) eröffnet demgegenüber mehr Distanz zum Forschungsgegenstand, der in unterschiedlichen regionalen und sozialen Zentren als (Ethno)Lekt oder Varietät genauer (und quersprachlich vergleichbar) soziolinguistisch zu beschreiben ist. Nicht nur naiv sondern schon irreführend ist die Vereinnahmung des durch Mehrsprachigkeit, Varietäten-/Sprachwechsel und grenzenüberschreitende Interaktionssituationen gekennzeichneten Kommunizierens als deutscher Dialekt. Welche soziolinguistischen Umgebungsfaktoren und variationsbezogenen Parameter bei einer Beschreibung des multiethisch geprägten Deutsch zu berücksichtigen sind, wird im zentralen Teil des Aufsatzes erläutert. Keywords: Varietätenlinguistiik, Soziolinguistik, Mehrsprachigkeit, Pragmatik, Dialektologie
1 Die soziolinguistische Großwetterlage¹ „Alle reden vom Verschwinden der Dialekte, wir NICHT!“, so könnte man die provokative These von Heike Wiese (2012) auf den Punkt bringen, ein neuer Dialekt entstehe in multiethnischen Vierteln unserer Großstädte. Einerseits ist diese These für Soziolinguisten eine spannende Herausforderung, die theoretischen und methodischen Kriterien zu überdenken, mit denen wir bisher Dialekte, vor allem
Linguistische Observatorien gibt es in Italien nicht, auch keine, soweit ich sehe, darauf spezialisierte Wochen- oder Monatszeitschriften, die regelmäßig mit Nachdruck und systematisch soziolinguistische „Sprachbefindlichkeitsmessungen“ vornehmen und uns nach dem Prinzip „wie das Wetter gerade ist“ mit der Pünktlichkeit von Wetterberichten kundtun „was gerade der aktuelle Sprachgebrauch ist“ (Pier Paolo Pasolini zit. nach Tullio di Mauro, Osservatorio Linguistico, Introduzione, Linguaggi, N° 1, 1984, Übersetzung ins Deutsche von ND).
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ihren Wandel im Angesicht moderner Globalität, beschrieben und bewertet haben. Andererseits verschafft mir das dictum „Kiezdeutsch = Dialekt im Entstehen“ (vgl. Wiese 2012, 10) einen willkommenen Anlass, einige soziolinguistische Kriterien aufzustellen, deren Geltung das Entstehen eines Dialekts überprüfbar machen können. Dabei wird es oft geboten sein, sich weit aus dem Fenster der geborgenen Studienzimmer dialektologischer Forschungsstandards hinauszulehnen. Wiese nennt „Kiezdeutsch“ einen „spannende(n) neue(n) Dialekt“ (2012, 19), der eine „eigene Dialektgrammatik bildet“ (ebd., 10)², denn „es gibt grammatische Regeln, die für diesen Dialekt charakteristisch sind“ (ebd., 155), und zwar nicht nur in einem lokalen Territorium wie Berlin Kreuzberg, „sondern über unterschiedliche Regionen hinweg“ (ebd., 13). Hieran knüpfen meine Reflexionen an, denn das Verdienst von Heike Wiese, in einer Mischung aus populär- und sprachwissenschaftlichen Argumenten in die sympathischen vielfältigen Spielarten multiethnischen Sprechens einzuführen, möchte ich durch keinerlei pedantische fachwissenschaftliche Kritikastereien einer Rezension trüben.³ Gleichwohl teile ich ihre Meinung, dass es eine soziolinguistische Herausforderung ist, multiethnisches Sprechen im Deutschen, das sich ja aus den unterschiedlichsten Ressourcen speist, varietätentypologisch und sprachsystemisch genauer zu untersuchen, auch weil dieses Sprechen mit vielen Vorurteilen verbunden ist und in Schulkontexten besser verarbeitet werden sollte. Was aber macht dieses Sprechen nun gleich zu einem „Turbo-Dialekt“ (ebd., 231)? Und welche methodischen und theoretischen Standards sollen für Untersuchungen gelten, die sich den Nachweis hier entsteht ein Dialekt auf die Fahnen schreiben? Im Folgenden winke ich mit dem soziolinguistischen „Zaunpfahl“ – mir scheint, dass grundständige variationslinguistische Methodik in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten ist.
Siehe die gleiche Terminologie auf S. 148. Ich müsste mich in viele fachwissenschaftliche Einzelheiten verlieren, die ohnehin nicht das Hauptanliegen des Buches sind. Vielmehr wird schlüssig – und meiner Meinung nach zu Recht – gezeigt, dass multiethnisches Deutsch ein legitimer Sprechstil ist und in seinen vielseitigen Eigenschaften wert ist, von uns geschätzt zu werden. Diese Meinung teile ich.
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2 Die mikro(sozio)linguistischen Störfaktoren langfristiger Voraussagen Pier Paolo Pasolini reflektierte in seinen Tagebüchern darüber, warum man nicht ebenso wie Wettermeldungen („che tempo che fa?“) Sprachgebrauchssmeldungen („che linguaggio che fa?“) in den Medien finde.⁴ Gute Idee, aber wie sollen wir es methodisch anstellen, aktuellen Sprachgebrauch zu diagnostizieren? Welche begrifflichen und methodischen Überprüfungskriterien sollen für das Entstehen eines Dialekts gelten?
Begriffsklärungen (1) Kiezdeutsch „Kiezdeutsch ist ein Sprachgebrauch im Deutschen, der sich unter Jugendlichen in Wohnvierteln wie Berlin-Kreuzberg entwickelt hat“ (12/13). Für den Begriff spricht, dass Pia Quist für multiethnisches Schwedisch den mit einem Viertel in Stockholm verbundenen Begriff Rinksby-Schwedisch verwendet hat (vgl. Wiese 2012). Außerdem gehört es zur variationslinguistischen Argumentation amerikanischer (und nicht nur dieser) Anthropologen, die Alltagserfahrungen von Sprechern in dem Sinne ernst zu nehmen, dass ein auf ihren Erfahrungen gegründeter Begriff für eine Sprechweise auch Hyperonym in anthropologischer Sprachbeschreibung ist (vgl. u. a. Saville-Troike 1982). Gegen die Verwendung dieses Begriffs spricht, dass ‒ Stadtviertel in anderen Städten andere Kommunikationsgemeinschaften darstellen mit eigenständigen kommunikativen Praktiken; ‒ die anthropologischen Untersuchungen (z. B. zu sprachlichen Minderheiten) den in solchen Gesellschaften entstandenen Begriff erst nach langfristigen teilnehmenden Beobachtungen (Längsschnittuntersuchungen) wählen; solche Untersuchungen sind mir im deutschsprachigen Rahmen nicht bekannt; ‒ mir die Wahl des Begriffs Kiez für die vorliegenden Verhältnisse nicht glücklich erscheint. Kiez ist etymologisch gesehen ein slawisches Wort, dessen Gebrauch Schildt/Schmidt (1987) in ihrer Geschichte des Berlinischen in die Gründungszeit Berlins (12. Jh.) datieren. Es war das Wort für „Zusammenwohnen“ in kleinen Siedlungen. In bestimmten Wohnbezirken Berlins gilt das Wort je nach Viertel und Erfahrungen als Gemeinschaft heute noch als
Siehe Anmerkung 1.
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Bezeichnung für Zusammengehörigkeitsgefühl im nachbarschaftlichen Wohnen. Auch wenn wir es nicht gern wahrhaben wollen: Das war zu Zeiten von „Herrn Lehmann“ vor dem Mauerfall in Kreuzberg sicher der Fall; die Wohnstrukturen und die nachbarschaftlichen Verhältnisse / Wertsysteme haben sich aber in den letzten Jahren erheblich verändert. In welchem Ausmaß: Das wäre genau zu untersuchen. Mit der Bezeichnung Kiez legen wir (nun auch schon sich wandelnde) Kreuzberger Verhältnisse für Viertel in anderen Städten zugrunde. Da wäre erst einmal nachzuweisen, dass die soziologischen Parallelverhältnisse gelten. So wie Thomas Luckmann aus Sicht der elementaren kommunikativen Interaktionsverhältnisse die Makrosoziologie für eine „Protosoziologie“ hält (Luckmann 1979), so betrachte ich das multiethnische Deutsch in ethnisch gemischten Vierteln von Großstädten als Protovarietät, d. h. wir haben es mit emergenten, höchst fluktuierenden (und noch NICHT gefestigten) jugendsprachlichen Verwendungsweisen zu tun, die auf jeden Fall KEINE generationsübergreifende Stabilität besitzen. Labov (in vielen Veröffentlichungen, siehe Dittmar 1987) und Cheshire (SL Handbuch 2008) haben als Hauptquelle für stabile normenbezogene Varietätenverhältnisse die Erwachsenengrammatik herangezogen. Auch wenn multiethnisch geprägtes Deutsch (MED) als Begriff nicht griffig und schlagwortartig genug ist, ziehe ich diese protovarietätentypische Bezeichnung vor. Das ist ein Arbeitsbegriff wie Substandard in den anglophonen Forschungen mit der gelassenen Konnotation wait and see!
(2) Dialekt Multiethnische Sprechstile im Deutschen können, um überhaupt erst einmal dieser Varietät einen Namen zu geben, durchaus Dialekt genannt werden. Zieht man jedoch die äußerst traditionsreiche Dialektforschung als Bezugspunkt heran, kommen zahlreiche Bedenken gegen eine angemessene Inanspruchnahme des Begriffs für MED auf. Ammon (1983) gibt eine „Explizitdefinition“ von Dialekt in einer logischen Formel (die wir hier nicht reproduzieren) und erläutert den Sachverhalt so: „Ein Dialekt ist eine Langue derart, daß es 1. für sie mindestens eine weitere langue mit hoher grammatischer Ähnlichkeit gibt, daß es 2. eine langue gibt, die gebietsmäßig echt in ihr enthalten ist und daß 3. weder ihre Schreibweise noch ihre Lautung und ihr Lexikon noch ihre Syntax amtlich normiert sind“ (Ammon 1983, 64). Auf den ersten Blick – so allgemein gehalten ist die Definition – kann man MED hier einordnen. Mit D1, D2, …Dn indiziert Ammon (1987) Inklusionsverhält-
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nisse für lokale Dialekte innerhalb regionaler Territorien. Nicht erfasst wird jedoch von dieser Definition die Möglichkeit, dass ein gleich strukturierter Stadtteildialekt (nach dem Muster „Kreuzberg“) in Mannheim (Weststadt), Frankfurt (Innenstadt) oder München Schwabing (u. a.) anzutreffen ist. An mehreren unterschiedlichen Orten den gleichen Dialekt unter dem Dach der Standardvarietät des Deutschen vorzufinden, ist – außer für von anderen Standardsprachen als dem Deutschen überdachte Dialekte, z. B. Russlanddeutsch – bisher nicht vorgesehen und eben empirisch auch nicht ausgewiesen worden. Die Ähnlichkeiten – z. B. Artikelausfall, Ausfall lokaler Präpositionen, Verwendung von Funktionsverbgefügen mithilfe von Verben wie machen und Semimodalverben wie lassen und brauchen – wären korpuslinguistisch nachzuweisen. Ein weiteres zentrales soziolinguistisches Detail wäre allerdings zu belegen: eine relativ geschlossene Kommunikationsdichte in MED. Besteht nämlich ein alltägliches Code-Switching diskursbezogen oder innerhalb von Sätzen mit einer anderen Sprache (Türkisch, Polnisch, Serbisch etc.), so wäre die Pragmatik dieses zweisprachigen Sprechstils in die begrifflichen Zuweisung des MED zu einem Dialekt zu überprüfen. Dialektstudien beziehen sich auf die Struktur (die linguistischen Merkmale) eines lokalen oder regionalen Dialekts ausschließlich oder in Bezug auf den diesen jeweils überdachenden Standard. Dialektsprecher nutzen in der Regel dialektale und standardnahe Sprechstrukturen des Deutschen – im Falle von MED ist die kommunikative Kompetenz aber meist mehrsprachig/ zweisprachig. Lüdi (1996, 240 – 42) führt unter „diskursive Manifestationen der Zweisprachigkeit“ endo- und exolinguale Modi der Kommunikation an und fordert die Anerkennung einer „echte(n) mehrsprachige(n) Kompetenz“ in bilingualer Perspektive. Wenn hybrides Sprechen zum Kommunikationsalltag von MED-Sprechern gehört (und das ist m. E. der Fall), dann müssen wir kommunikative Praktiken von einsprachigen (muttersprachlichen) und zweisprachigen Sprechern unterscheiden. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Datendokumentation: Wir benötigen Daten aus unterschiedlichsten Kommunikationssituationen mit Gesprächspartnern, die unterschiedliche soziale und interaktive Rollen in der Gesellschaft haben, Freunde, gute Bekannte aus der Nachbarschaft, institutionelle Repräsentanten aus Bibliotheken, Geschäften, Arzt- und Rechtspraxen (u. a.) des gleichen Viertels. Je nach sozialem Sprecherhintergrund werden Sprachwahlen, hybride Diskurse, Peergroupstile, mündlich-informelle und standardnahe Register praktiziert. Für die zur Anwendung gelangenden Stile und Register wäre der Begriff der mehrsprachigen kommunikativen Kompetenz dem der einsprachig-dialektalen Kompetenz vorzuziehen. Um das deutlicher werden zu lassen, ziehe ich einen Vergleich aus dem italienischen Dialektspektrum heran.Verglichen mit dem Italienischen als Regionaloder Standardsprache ist Neapoletanisch eine salient abweichende Mischspra-
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che.⁵ Es haben sich in ihr französische, katalanische und spanische Wörter und Wendungen mit dem Italienischen sedimentiert und über die Jahrhunderte zu kommunikativen Praktiken arrangiert. Die in den Stadtdialekt importierten Muster wurden mit den italienischen Strukturen zu einem Praxiskode stilisiert. Er wird von Generation zu Generation weitergegeben, Neapolitaner schreiben (mündlich vorgetragene) Gedichte in diesem Dialekt und bringen ständig neue Varianten von Liedern (canzoni) in ihm hervor. Eine solche generationsspezifische Verankerung des Dialekts ist ja auch eines seiner typischen Merkmale – ganz im Unterschied zu dem jugendsprachlichen MED, von dem wir zur Zeit noch nicht wissen, wie – und ob überhaupt – es zur Erwaschsenensprache mutieren wird. Das Entstehen eines neuen Dialekts, so seien hier nochmals einige Argumente zusammengefasst, verlangt von der Dokumentation dieser sprachlichen Existenzform empirische Nachweise ‒ von Muster- bzw. Regelanwendungen über eine Generationsspanne (i); ‒ über konventionelle einsprachige Gebrauchskonventionen in einigen alltäglichen informellen kommunikativen Gattungen (ii); ‒ von identifizierbaren Räumen, in denen gleich (nach zugrunde gelegten Kriterien) gesprochen wird (iii). (i) betrifft den Nachweis „existiert als Erwachsenengrammatik“. (ii) thematisiert die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, in welchem Maße der kommunikativen Kompetenz eher ein hybrider, zweisprachiger Diskursmodus zugrunde liegt. In welchem Maße ist der dialectus emergens auf dem Wege zu einer eigenen stabilen Struktur? Es werden in Wiese (2012) pro Eigenständigkeit einzelne diskursive, eindrucksvolle Fragmente angeführt, die Frage aber bleibt: Wurden besonders homogene Teile aus einem Diskurs herausgeschnitten? Welche (strukturelle, belegdichte) Kollektion des sprachlichen Musterwissens muss vorliegen, damit ich aus den Belegen so etwas wie eine „Dialektgrammatik“ schließen kann? Diesem Punkt widmet sich der nächste Abschnitt. Zu (iii) ist abschließend zu sagen, dass der Nachweis für gleiche grammatische Regeln in Stadtteilen geographisch weit auseinanderliegender deutscher Großstädte schwierig sein dürfte. Eher und leichter wäre anzunehmen, dass es sich um Protosoziolekte handelt, also Stile, die von ihrer sozialen Umgebung in Städten in
Seit eineinhalb Jahren lebe und unterrichte ich in Neapel und bin von der lebendigen kommunalen Praxis dieses Dialekts sehr beeindruckt. Vgl. u. a. Nicola De Blasi (2012) Storia Linguistica di Napoli. Carocci Editore, Roma.
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vergleichbarer Weise geprägt werden („proto-“ meint hier die sprachliche Jugendlichenkür für einen normierten Erwachsenensoziolekt).
Methodologie (3) Variation und Regeln Eigene Studien zur Beschreibung von MED (=multiethnisch geprägtes Deutsch) in Dittmar (2009, 2010) belegen eine große Variationsbreite in der Anwendung von Regeln MED sprechender Jugendlicher. Ich nehme einmal 3 Regeln heraus, die – strukturell gesehen – in jeder kommunikativen Gattung häufig belegt sind: (a) der Ausfall des (un)bestimmten Artikels, (b) der Ausfall lokaler Präpositionen (z. B. ich gehe Schule anstatt ich gehe in die Schule), (c) die Vorvorfeldbesetzung einer Äußerung durch ein Adverbial (heute Morgen, ich treffe meinen Freund).⁶ Im gleichen Kontext (strukturelle Definition des linken und rechten Kontextes) wurde die Regel von den Sprechern (Jugendliche des Öczelik – Korpus, vgl. Dittmar 2010) in sehr unterschiedlichen Häufigkeiten mal angewandt, mal nicht angewandt. Um den Trend der Systemhaftigkeit z. B. dieser drei Regeln genauer zu erfassen, muss man ein Korpus zusammenhängender Diskurse in Bezug auf die Variabilität hin jeder einzelnen Regel beschreiben. Die Sprecher, nach soziolinguistischen Kriterien definiert, sollten aus einem natürlichen kommunikativen Netzwerk stammen, das über gemeinsame Tätigkeiten/Praktiken der Sprecher ausgewählt worden ist. Mit Instrumenten wie der Variablenregelanalyse oder der Varietätengrammatik können Grade der Systemhaftigkeit von Regeln bestimmt werden. Dies ist, wie in Skibà, Dittmar/Bressem (2010) ausgeführt wird, eine vorteilhafte Vorgehensweise, weil quantitative Daten bei einem soziolinguistischen Problem, das noch NICHT systematisch untersucht worden ist, wichtige grundlegende Erkenntnisse darüber vermitteln, welche Untersuchungsmaßnahmen bei einem ersten Befund sinnvoll einzuleiten sind. Mit anderen Worten: Solche auf die Ermittlung von Graden der Systematizität angelegten Analysen geben uns die Richtung an, der qualitative Detailuntersuchungen folgen sollten. Die Genauigkeit grundlegender variationslinguistischer Beschreibungen wächst mit längsschnittspezifischen teilnehmenden Beobachtungen der gewählten Sprechergruppe. Ein attraktives Ziel ist eine in diesem Sinne kombinierte Untersuchung. Eigentlich sind solche Feststellungen wie die gerade angeführten trivial, wenn man bedenkt, dass die zweite Auflage des
Es handelt sich um typische Beispiele, die ich hier ohne Rückgriff auf ein Korpus zum besseren Verstehen anführe; es geht mir hier nur um methodische Grundsatzfragen.
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Handbuches Soziolinguistik vorliegt und so zahlreiche vorbildliche Variationsanalysen in den siebziger und achtziger Jahren vorgelegt wurden.
(4) Stile und Register Wie in Dittmar (2010 a, b) ausgeführt, können Varietäten als unter dem Dach der Standardsprache geordnete, in ihr enthaltene (kleine) langues oder Subsprachen betrachtet werden. Wie entstehen aber Varietäten, was sind Protovarietäten oder Varietäten in statu nascendi? Es sind m. E. soziale Stile, die sich je nach kommunikativen Praktiken (siehe den Begriff community practices in Spreckels 2008) in spezifischen Kommunikationsgemeinschaften bilden, zeitlich begrenzte Moden ohne systemische Folgen oder Wegbereiter veränderter kommunikativer Praktiken darstellen. In den achtziger Jahren kamen weibliche Stile auf, die sich über die Jahre durchsetzen konnten. Teile davon haben auch in die Kodifizierungen der Standardsprache Eingang gefunden. Soweit ich sehe, wird MED in den nächsten Jahren keinen verändernden Einfluss auf die Schriftsprache haben. Dialekte haben dies ja in der Regel auch nicht. Solange das MED keine nachweisbaren ausgeprägten Systeme bildet, die in eine Art Erwachsenengrammatik münden, ist es m. E. sinnvoll, MED als Bündel sozialer Stile zu bezeichnen, die aus dem Observatorium Sociolingusticum genauer beobachtet werden sollten⁷ – alle neu aufkommenden Entwicklungen sollten wir ernst nehmen und erst einmal soziolinguistisch genauer beschreiben. Bei aller Begeisterung (und Bewunderung) für die innovativen Muster im MED, die verbunden mit einem eigenen Reiz prosodischer Performanz einhergehen, sollten wir vor allem das Registerproblem ernst nehmen. Schon immer hat sprachlicher Minimalismus einen großen Charme auf uns Sprachbenutzer ausgeübt. Die nur mit allerwenigsten Worten auf den Punkt der Realität gebrachten Sachverhalte im Pidgin-Deutsch (vgl. Heidelberger Forschungsprojekt ‚Pidgin-Deutsch‘ 1975, zit. in Dittmar 2012) fand ich gerade in dieser Fragmentarität höchst wirkungsvoll, zutreffend, ästhetisch. So sehr Linguisten innovative „Sprachspiele“ lieben, so sollten sie doch auch die soziale Realität der Sprecher, in unserem Fall die des MED, näher in Betracht ziehen. Über einen innovativen Dialekt oder über einen neuen globalistischen McSpeech könnten wir uns noch mehr freuen, wenn klar wäre, dass die Sprecher dieser neuen „Redekunst“ sich auch in allen formellen kommunikativen Gattungen via Vgl. oben den Beginn des Kapitels 2: Pier Paolo Pasolini hatte die originelle Idee, parallel zu Wetterstationen Sprachbefindlichkeitsstationen (osservatorio linguistico) einzurichten, denn ähnlich wie die Frage wie ist denn das Wetter heute? könnten wir uns fragen Wie fühlt sich die Sprache heute an? Was hat sich im Sprachgebrauch geändert?
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standardnahes Sprechen behaupten können. Ich rate hier zur Vorsicht: Wir sollten genau hinschauen und bei aller Sympathie für den kreativen sprachlichen Wildwuchs keine Gelegenheit auslassen, darauf hinzuweisen, dass die MEDSprecherInnen, seien es nun muttersprachlich oder zweisprachig aufgewachsene Jugendliche, sich auch im deutschen Standard üben müssen – nur so können sie wertvolle, unverzichtbare Mitgestalter und kreative Sprachveränderer unserer Gesellschaft sein und in Zukunft auch bleiben! Unabhängig davon, ob das innovative MED nun ein Dialekt, eine aufkommende kreolische Variante oder eine interkulturelle Jugendsprache des Deutschen ist (sicher hat es von all diesem etwas), ist die Registerfrage eine zentrale. WAS IMMER IN KULTURELLEN FREIRÄUMEN UND INFORMELLEN NISCHEN DER KOMMUNIKATIVEN ALLTAGSPRAXIS AN MÜNDLICHEM VERSTÄNDIGUNGSDEUTSCH GESPROCHEN WIRD – entscheidend ist, dass diese Sprachbenutzer, in engen einsprachigen oder sprachgärungsoffenen multiethnischen Milieus groß geworden, die Standardvarietät in Rede und Schrift beherrschen, denn sie ist die „einlassende“ oder „ausschließende“ Torhüterin der formalen kommunikativen Gattungen, die den Weg freischaltet für ein aktives Mitmischen in unserer Gesellschaft – ALLE sollten diese Chance haben! Aber zurück zur Methode. Zukünftige soziolinguistische Forschung zum MED sollte drei Aspekte mit Vorzug erforschen: ‒ Wie regelkonsistent ist der MED-Gebrauch im Alltag in breit dokumentierter informeller Rede und von welchen interaktiven und gruppenspezifischen Faktoren/Konstellationen wird er bestimmt? ‒ Wird komplementär zur Sprechsprache die Standardvarietät beherrscht – mit welchen Graden an Korrektheit und pragmatischer Angemessenheit? ‒ Welche Funktionen haben bei Zweisprachigen die eine und die andere Sprache im Alltagsgebrauch – werden sie hybride benutzt, wie verhalten sich schwache und starke Sprache zueinander, sind die Kompetenzen in der einen und der anderen Sprache systemisch getrennt oder ineinander verschränkt? Auch wenn muttersprachliche und „multiethnische“ Jugendliche ey, lan, tschüsch, artikellose Nomina und präpositionslose Lokative in ganz ähnlicher oder sogar gleicher Weise verwenden, gibt es im Gebrauchsrepertoire doch verwendungsbezogene Unterschiede, die letztlich auch in Unterschieden in der Identität und in dem Potenzial der sozialen Identifizierungen wurzeln (vgl. Haarmann 1996 zur „Identität“ unter kontaktlinguistischen Gesichtspunkten).⁸
In Steckbauer, Bahlo, Dittmar/Pompino-Marschall (2013, im Druck) beschreiben wir, wie muttersprachliche Jugendliche aus Berlin (Steglitz, Charlottenburg) über Auseinandersetzungen
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3 Multiethisches oder Deutsch in multiethischer Perspektive Die Frage entsteht mit dem MED ein neuer Dialekt? ist ein „weites Feld“ (Fontane, Effi Briest), und es ist erfreulich, dass so viele verschiedene Forschungsprojekte an Lösungen soziolinguistischer Beschreibungsangemessenheit und eines geeigneten Katalogs didaktischer Konsequenzen im Unterricht arbeiten. Wir können mit Geduld neuen Diagnosen entgegensehen, um uns – je nachdem – neu zu engagieren. So bleibt Raum, mich einem übergeordneten, vielleicht sogar noch gravierenderen Problem zuzuwenden: der ethischen Verantwortlichkeit der Soziolinguisten.Viele sprachpolitische und sprachsoziologische Fragen bedrängen das moderne Deutsch: ‒ Wird es globalisiert und auf eine international marginale Sprache herabgestuft? ‒ Wie viel Englisch verträgt das moderne Deutsch? ‒ Verliert Deutsch als Wissenschaftssprache an (u. a. terminologischer) Ausdrucksdifferenzierung? Diese Fragen sind mit weiteren verbunden: ein Netz multiethischer Prinzipien wäre für den multiethnisch und multimodal ausufernden Kraken Sprachgebrauch anzusetzen. Drei Probleme seien herausgegriffen: Eines hat mit der schnellen Verbreitung unserer Bücher und Aufsätze zu tun. Weniger und gezielt schreiben scheint angesagt anstatt das Gleiche oder Ähnliches in unterschiedlich orientierten Zeitschriften oder in anderen Sprachen unterzubringen. Oft wird ja der gleiche Inhalt nicht nur im Englischen, sondern auch im Französischen, Italienischen oder Spanischen formuliert.Weniger Redundanz, weniger Papier, weniger Platznahme in den Medien wäre eine unter weiteren nützlichen multiethischen (ökologischen) Maximen. Daher stelle ich den jüngst verfassten und im Druck befindlichen Aufsatz „…erzähl mal das mit dem Insulaner…“ – Formale, funktionale und prosodische Aspekte jugendsprachlicher Narrationen (Daniel Steckbauer (Münster), Nils Bahlo (Münster), Norbert Dittmar (Berlin und Neapel) und Bernd Pompino-Marschall (Berlin) im von Helga Kotthoff
mit türkischstämmigen Jugendlichen erzählen und dabei sehr deutlich Abgrenzungen von diesen formulieren (im onomastischen wie prosodischen Sinne). Sie teilen dabei mit denen, die Ziel ihrer identitätsspezifischen Abgrenzung sind, bestimmte MED-Eigenschaften, informell würde man das als „gemäßigtes“ MED bezeichnen. Auch wenn ich das MED am liebsten unter dem Hut „kommunale (kommunikative) Praktiken“ (vgl. Eckert in Spreckels) sehen würde, ist es doch unrealistisch davon auszugehen, dass es hier keine identitätsspezifischen Ein-, Aus- und Abgrenzungen gibt, die natürlich auf das Sprachverhalten abfärben.
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herausgegebenen Sammelband zur Jugendsprache) auf meine Homepage (FUBerlin).⁹ In diesem Aufsatz werden Erzählungen analysiert, die Konflikte zwischen muttersprachlichen deutschen Jugendlichen und solchen mit türkischem Migrationshintergrund betreffen. Es wird deutlilch, dass identitätsbezogene soziale Abgrenzungen gezogen werden. Auch wenn wir als Soziolinguisten engagiert sind, die Integration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund optimal zu fördern, müssen wir uns der gruppenspezifischen Widersprüche bewusst sein und diese Realität in sprachpolitische Perspektiven einbeziehen. Auch ein zweites Problem könnte in multiethischer Perspektive fruchtbar angegangen werden: die ethische Aufgabe der Soziolinguisten, über den zu Unrecht stigmatisierten Varietäten oder Stilen den ideologischen und entmystifizierenden Schleier zu lüften und deren liebenswerte Seiten realitätsbezogen aufzuzeigen. Was das MED angeht, so finde ich, gerade an die charmanten Eigenschaften des Italienischen gewöhnt, die in direkter Frische auf den Punkt gebrachten Formulierungen, oft angenehm provozierend und stets eigentlich mit prosodischem Pfiff (vgl. die innovativen Ergebnisse hierzu von Friedericke Kern 2012) hervorgebracht, liebenswert. Hier können wir als Soziolinguisten unser gewichtiges, forschungsgestütztes Urteil positiv in die Vision einer demokratischen, multiethnischen deutschen Gesellschaft einbringen. Und gerade aus diesem Grund ist es auch nichtsdestoweniger unsere ethische Pflicht, auf mögliche gesellschaftlich relevante „Schattenseiten“ des MED aufmerksam zu machen, sollte sich in der Forschung zeigen, dass zwar informelle, aber keine ausgebauten formellen Register des Deutschen zur Verfügung stehen. Diese Diskussion habe ich in dem in diesem Jahr von den französischen Germanisten zu veröffentlichenden Band Zentrum vs. Peripherie unter dem Titel Dudenlegitimiertes vs. ethnolektales Deutsch. Realität vs. mediale Inszenierungen geführt. Dort finden sich Fragmente für den ethischen Umgang mit dem soziolinguistischen Status des MED (auf meiner Homepage einzusehen). Ein drittes Problem in dem multiethischen Prinzipienkatalog, den Gebrauch der Wissenschaftssprache Deutsch betreffend, habe ich schlicht dadurch zu lösen versucht, weitestgehend deutsche Termini zu verwenden. Englisch geprägte (und als solche bekannte) Termini sind für mich kein Tabu. Nehmen wir als Beispiel den bekannten Begriff monitoring im Zweitspracherwerb. Diesen kann ich als international anerkannten Begriff einführen, indem ich in Klammern dahintersetze „im Folgenden Kontrollinstanz“. Damit habe ich den englischen Begriff eingeführt und – ohne moralische Belehrung – gleichzeitig verdeutlicht, dass im Folgenden
Vgl. dazu http://www.geisteswissenscaften.fu-berlin.de/we04/Mitarbeiter/nordit/index.html. Die zwei Aufsätze finden sich unter „Dokumente“ auf der Startseite rechts oben.
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Norbert Dittmar
der deutsche Begriff benutzt wird. Als Experte Vorbild zu sein scheint mir wirkungsvoller, als moralische Grundsätze gegen den Gebrauch – an sich nützlicher – fremdsprachlicher Begriffe anzuführen. FLUCTUAT NEC MERGITUR
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Reflexionen über das Entstehen eines deutschen Dialekts
207
Lüdi, Georges (1996): „Migration und Mehrsprachigkeit.“ In: Goebl, Hans/Nelde, Peter H. et al. (Hgg.): Kontaktlinguistik. Ein Internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Volume 1. Berlin/New York: de Gruyter. 320 – 327. Lüdi, Georges (1996): „Mehrsprachigkeit.“ In: Goebl, Hans/Nelde, Peter H. et al. (Hgg.): Kontaktlinguistik. Ein Internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Volume 1. Berlin/New York: de Gruyter. 233 – 245. Schildt, Joachim/Schmidt, Hartmut (Hgg.) (1992): Berlinisch. Geschichtliche Einführung in die Sprache einer Stadt. Berlin: VEB Leipzig. Saville-Troike, Muriel (1982): The Ethnography of Communication. Oxford: Basil Blackwell. Skiba, Romuald/Dittmar, Norbert/Bressem, Jana (2010): „Planning, collecting, exploring, and archiving longitudinal L2 data: Experiences from the P-Moll project.“ In: Ortega, Lourdes/Byrnes, Heidi (Hgg.): The longitudinal study of advanced L2 capacities. New York: Erlbaum Taylor and Francis. Spreckels, Janet (2008): „Identity negotiation in small stories among German adolescent girls.“ In: Narrative Inquiry 18, 2. 393 – 413. Steckbauer, Daniel/Bahlo, Nils/Dittmar, Norbert/Pompino-Marschall, Bernd (im Druck): „‚…erzähl mal das mit dem Insulaner…‘ – Formale, funktionale und prosodische Aspekte jugendsprachlicher Narratione.“ In: Kotthoff, Helga (Hg.): Jugendsprache. Freiburg im Breisgau (= Akten des Freiburger Kolloquiums 2012). Wiese, Heike (2012): Kiezdeutsch. Ein Dialekt entsteht. München: Beck Verlag.
Eva Neuland
Soziolinguistische Dimensionen (inter)generationellen Sprachgebrauchs Abstract: In der Entwicklung der germanistischen Soziolinguistik hat der Faktor Jugend in den letzten Jahrzehnten eine bedeutende Rolle gespielt. Die Kategorie der Generation wurde hingegen bislang noch nicht systematisch in die soziolinguistische Forschung einbezogen. Es wird die These vertreten, dass die in der Soziologie unterschiedenen Dimensionen des Generationsbegriffs, und zwar die gesellschaftliche, familiale und die intergenerationelle, sowie zwei zusätzlich eingeführte, nämlich eine ideologische und eine kulturkontrastive Dimension fruchtbare Forschungsperspektiven für die Soziolinguistik eröffnen können. Der Beitrag verweist auf einige bestehende Anknüpfungspunkte, vernachlässigte Traditionen, neue Fragestellungen und Forschungsdesiderate. Keywords: Dimensionen des Generationsbegriffs, germanistische Soziolinguistik, intergenerationelle Kommunikation, soziolinguistisches Varietätenmodell, Soziologie In der Medienöffentlichkeit ist der Generationsbegriff zur Zeit fast allgegenwärtig. Öffentliche Debatten zu grundlegenden gesellschaftlichen Differenzen und Widersprüchen wie Arm und Reich, Alt und Jung, zum Wandel von Generationen und Generationsverhältnissen sind ein brisantes Dauerthema in den Medien. Laufend werden neue Generationsbilder generiert: von „Generation Golf“ zu „Generation Gold“, von „Generation Praktikum, Revolte, Stütze…“ bis zur „Generation der vielen Möglichkeiten“. Generationskonflikte, -spaltungen und -kämpfe werden medial stilisiert und mit ihnen Phänomene wie Jugendwahn und Altersangst, Seniorenlawinen, Krieg der Alten und Krieg den Alten. Der Generationsbegriff erscheint als Seismograph für Gesellschafts- wie Mentalitätsanalysen. Während der Generationsbegriff aufgrund seiner „multidisziplinären Perspektiven“, wie es im der Untertitel eines soziologischen Sammelbandes von 2009 heißt, in den Bildungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften eine bedeutende Rolle spielt, ist er für die Sprachwissenschaft hingegen noch kaum erschlossen. Dies gilt erstaunlicherweise auch für die Soziolinguistik.
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Eva Neuland
Abb. 1: Focus-Titel „Jung gegen Alt“ (1996)
1 Zur Entwicklung der germanistischen Soziolinguistik Eine germanistische Soziolinguistik, die sich auf die Erscheinungsweisen von Sprache im deutschen Sprachraum konzentriert, entwickelte sich zu Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts mit der üblichen Verzögerung gegenüber der Entwicklung der allgemeinen Soziolinguistik, die in den 50er Jahren von den Vereinigten Staaten ausging. Entscheidende Impulse lieferten in Deutschland einerseits gesellschafts- und bildungspolitische Rahmenbedingungen, und zwar: ‒ die sog. Bildungskatastrophe und die Suche nach möglichen Ursachen, ‒ die Entdeckung der sog. Sprachbarriere als Hindernis für schulischen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg, ‒ die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungssystem und wissenschaftliche sowie fachpolitische Entwicklungen andererseits, und zwar: ‒ die Entwicklung der linguistischen Pragmatik und Kommunikationsforschung, ‒ sowie vor allem auch der empirischen Sprachforschung.
1.1 Soziale sowie regionale Herkunft Das Gegenstandsfeld der deutschsprachigen Soziolinguistik war zunächst stark auf die schichtenspezifischen sowie auf die regionalen Unterschiede im Sprach-
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gebrauch ausgerichtet, wobei die Erforschung der letzteren an die lange Tradition in der deutschen Dialektologie anknüpfen konnte.¹ Der wesentliche Paradigmenwechsel betraf jedoch die Umorientierung von einer sprachbezogenen auf eine sprecherbezogene Linguistik. Mit dem für die Entwicklung der germanistischen Soziolinguistik zentralen Stichwort vom: Dialekt als Sprachbarriere wurde seinerzeit der Bedeutung der regionalen Ausprägung des Sprachgebrauchs Rechnung getragen. Daraus ergab sich eine für die deutsche Sprachsituation spezifische Erweiterung der Sprachbarrierenthese in der Rezeption der Forschungen des britischen Erziehungswissenschaftlers Basil Bernstein und der von ihm entwickelten Theorie der linguistischen Codes. Zugleich stiftete dieses Stichwort eine Verbindung der Soziolinguistik zu Schule und Sprachunterricht. Den frühen empirischen Forschungen von Ulrich Ammon ist ein wichtiger Beitrag zur Klärung des Zusammenhangs von „Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule“ (1972) sowie von „Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung“ (1973) zu verdanken.
1.2 Geschlecht sowie Migration Neben den Variablen der sozialen und regionalen Herkunft traten in den 1980er Jahren verstärkt die Faktoren Geschlecht und Migration in den Blickpunkt der germanistischen Soziolinguistik, wobei auch in diesen beiden Bereichen Chancenungleichheiten und Bildungsbenachteiligungen als Auslösefaktoren für die Forschung Beachtung fanden. Der Faktor Geschlecht entwickelte sich mit der sprachpolitischen Forderung nach geschlechtergerechtem Sprachgebrauch zum Kernpunkt der frühen feministischen Linguistik; heute herrscht überwiegend die Bezeichnung von gender als sozialem Geschlecht vor. Der Faktor Migration, früher auch als: ethnische Herkunft bezeichnet, bildet demgegenüber einen zunehmenden Schwerpunkt in der aktuellen Soziolinguistik und den Forschungen zu Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Genderlinguistik und Migrationslinguistik haben sich zum Teil aber auch zu eigenständigen Teildisziplinen entwickelt.
Vgl. die fachgeschichtliche Rekonstruktion der germanistischen Soziolinguistik bei Löffler (42010).
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Abb. 2: Das soziolinguistische Varietätenmodell (Löffler 2010, 79)
1.3 Jugend sowie Alter Seit den 1980er Jahren fand ein weiterer außersprachlicher Faktor Beachtung in Soziolinguistik und empirischer Sprachforschung, und zwar: die Jugend. Jugendsprache wurde seitdem ein immer wichtigeres Forschungsfeld. In der Soziolinguistik wurde sie verschiedentlich begrifflich zu fassen versucht, so als Juventolekt, Gerontolekt², Alterssprachen. Zur Veranschaulichung sei auf das soziolinguistische Varietätenmodell verwiesen, wie es von Löffler (2010) präsentiert wird (Abb. 2): Löffler charakterisiert solche Lebensalter-Sprachen als transitorische Soziolekte und bestimmt die Sprache der Erwachsenen als „soziolektale Normalstufe“ (2005, 118), die lange Zeit kein besonderes linguistisches Interesse gefunden habe. Die Seniorensprache sei aufgrund der Bereitschaft zum Archaisieren und Wiederaufnehmen der Grundmundart immer schon von besonderer Bedeutung für die klassische Dialektologie gewesen.
So bei Dittmar (1997, 229 ff.); Veith (2005, 172 ff.).
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In der Jugendsprachforschung ist die Frage nach dem linguistischen Stellenwert der Jugendsprache bis heute umstritten. Allerdings mehren sich die Zweifel an dem Versuch, Jugendsprache als diastratische Varietät zu bestimmen. Demgegenüber kann Jugendsprache selbst als ein Variationsspektrum angesehen werden, in dem verschiedene soziale Faktoren, darunter eben auch die regionale Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit und Migrationsgeschichte eine Rolle spielen dürften.³ Eine spezifisch soziolinguistische Sicht kann sich aus der sprecherbezogenen Perspektive ergeben und zur Bestimmung von „Jugendsprache“ als Ensemble subkultureller Stile führen. Weiterhin bleibt für die aktuelle Jugendsprachforschung festzuhalten, dass die Dimension des Alters, wie sie bei Löffler mit der Sprache der Erwachsenen und der Seniorensprache als weitgehend unbearbeitete Forschungsfelder gekennzeichnet wurden, bis heute nicht weiter verfolgt wird. Es ist allerdings höchst aufschlussreich, dass bei der Erforschung der Jugendsprache der Kontrast zur Erwachsenensprache gleichsam als Subtext fast immer mitgedacht wird. Dies hat jedoch noch nicht zu einem systematischen Einbezug der Kategorie Generation in die soziolinguistische Forschung geführt. Ein Überblick über die Beiträge des dreibändigen internationalen Handbuchs zur Soziolinguistik, das Ulrich Ammon gemeinsam mit Norbert Dittmar, Klaus Jürgen Mattheier und Peter Trudgill 2005 in 2. Auflage herausgegeben hat,weist allein den Beitrag von Jenny Cheshire zu: Alter und generationsspezifischer Sprachgebrauch als thematisch einschlägig auf. An dieser Stelle sei dafür plädiert, die generationelle Perspektive verstärkt in die soziolinguistische Forschung einzubeziehen. Dadurch wird einerseits das Gegenstandsfeld der soziolinguistischen Jugendsprachforschung entschieden erweitert, indem der generationelle Kontext im Hinblick auf sprachliche Abgrenzungen sowohl zur vorangehenden Generation der Eltern/Erwachsenen als auch zur nachfolgenden Generation der jüngeren Geschwister/Kinder genauerer Betrachtungen einbezogen werden kann. Und andererseits können neue soziolinguistische Dimensionen generationellen Sprachgebrauchs fruchtbar gemacht werden. Dies sei im Folgenden noch genauer skizziert.
2 Dimensionen des Generationsbegriffs⁴ Der Generationsbegriff eignet sich in besonderer Weise als Bezugsbegriff für die Soziolinguistik und ihr Gegenstandsfeld Sprache und Gesellschaft. Gemeinhin
Vgl. dazu Neuland (2008, 69). Im Folgenden beziehe ich mich auf Grundgedanken meines Beitrags aus dem Jahr 2012.
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wird in der Soziologie das Konzept der Generation im Hinblick auf Gesellschaft oder im Hinblick auf Familie definiert, wie Kohli/Szydlik (2000) ihren Sammelband: Generationen in Familie und Gesellschaft programmatisch betitelt haben. Beide Bezugsgrößen, Familie und Gesellschaft, werden gewöhnlich getrennt behandelt, doch macht der Generationsbegriff zugleich die Verbindungen zwischen ihnen deutlich. Von Kohli stammt das folgende Schlüsselzitat: „Auf beiden Ebenen ist das Generationskonzept ein Schlüssel zur Analyse der Bewegung durch die Zeit. In der Abfolge der Generationen schaffen Familien und Gesellschaften Kontinuität und Veränderungen im Hinblick auf Eltern und Kinder, ökonomische Ressourcen, politische Macht und kulturelle Hegemonie. In allen diesen Feldern sind Generationen eine Grundeinheit sowohl von sozialer Reproduktion wie von sozialem Wandel – also von Stabilität und Erneuerung (oder Umsturz).“ (Kohli 2009, 233)
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Der gesellschaftliche Generationsbegriff umfasst makroanalytisch Personen, die in einem begrenzten Zeitraum geboren wurden und deshalb bestimmte historische Ereignisse in ähnlichem Lebensalter erfahren haben. Kohli/ Szydlik (2000, 7) schlagen vor, drei Arten von gesellschaftlichen Generationen zu unterscheiden, und zwar politische, kulturelle und ökonomische Generationen. Wie Bude (2000) am Beispiel der 1968er zeigt, stiften der verbindende Generationszusammenhang und seine sprachliche Klassifikation soziale Identität als lebenszeitliche Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft und ein Wir-Gefühl, das zugleich biographisch relevant ist. Für die Soziolinguistik kommt damit insbesondere die kontextuelle, historisch-gesellschaftliche Dimension zum Tragen. Der familiale Generationsbegriff bezeichnet mikroanalytisch im ursprünglichen Wortsinne der Erzeugung die Generationsfolge der Abstammungslinie. Die intergenerationellen Beziehungen im familialen Generationsverbund können weiter nach funktionalen, affektiven und assoziativen Dimensionen unterschieden werden (Kohli/Szydlik 2000, 11). Fend (2009, 101) hebt aus erziehungswissenschaftlicher Sicht funktional die intergenerationelle Transmission von Werthaltungen und Weltorientierungen hervor, bei der der kommunikative Austausch zwischen Eltern und Kindern als entscheidende Moderatorvariable wirkt. Für die Soziolinguistik ist dabei vor allem die funktionale Bedeutung des familialen Generationsverbundes von Interesse. Gesellschaftlicher und familialer Generationsbegriff stehen in enger Verbindung; Generationsbeziehungen lassen sich als dritte Dimension des Generationsbegriffs unterscheiden. Die 68er-Generation liefert viele Beispiele für die Verbindung von politischen und kulturellen gesellschaftlichen Dimensionen, die im Kontext der familialen Generationsdimension zu manifesten Generationskonflikten geführt haben. Verbindungen zwischen den kulturellen und
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ökonomischen gesellschaftlichen Dimensionen und der familialen können hingegen zur heute zu beobachtenden Entdifferenzierung von familialen Generationsunterschieden beigetragen haben. Für die Soziolinguistik stellt die intergenerationelle kommunikative Interaktion ein ganz zentrales Forschungsfeld dar. Alle drei soziologischen Dimensionen können gerade durch die Multidimensionalität und den interdisziplinären Spannungsreichtum wesentliche soziolinguistische Erkenntnismöglichkeiten und Erfahrungsfelder erschließen: ‒ der Bezug auf die gesellschaftliche Dimension des Generationsbegriffs wird die je spezifischen gesellschaftlich-historischen Kontexte erklären helfen, innerhalb derer sich bestimmte Sprachgebräuche historischer Generationen herausbilden und wandeln können; ‒ der Bezug auf die familiale Dimension macht die funktionalen Leistungen erkennbar, die der familiale Generationsverbund für die kulturelle Reproduktion, für die Tradierung von Erziehung und Bildung, und zwar insbesondere durch Spracherziehung und sprachliche Sozialisation erbringt; ‒ der Einbezug der relationalen Generationsdimension eröffnet den Blick auf Generationskonstellationen, die durch historisch je unterschiedliche Differenzen, Konflikte und Brüche gekennzeichnet sind, die in der sprachlichen Interaktion ausgetragen werden. Für die Soziolinguistik erscheinen mir zwei weitere Dimensionen von Bedeutung, die gleichsam quer zu den drei bislang in der Soziologie eingeführten Dimensionen liegen und diese weiter differenzieren können: ‒ Als vierte Dimension soll zusätzlich zusätzlich die Produktion von Ideologien in Form von Altersbildern und Generationsstereotypen unterschieden werden, die sich in je zeitgebundener Topik, in Redensarten und in Diskursen niederschlagen und ihre Wirksamkeit entfalten. ‒ Eine fünfte Dimension ergibt sich schließlich in kulturkontrastiver Hinsicht, da alle bislang genannten Dimensionen je nach kulturellen Kontexten unterschiedlich ausgestaltet werden können, wie es sich z. B. im unterschiedlichen sprachlichen Umgang mit dem Alter in verschiedenen Kulturen zeigt.
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3 Soziolinguistische Arbeitsfelder 3.1 Der gesellschaftliche Generationsbegriff in Sprachgeschichte und Sprachwandel Betrachten wir das Generationskonzept als Schlüssel zur Analyse gesellschaftlicher Bewegungen durch die Zeit, so erschließen sich unmittelbar auch Prozesse sozialen und sprachlichen Wandels, wie sie in kulturwissenschaftlich ausgerichteten Studien zur Sprachgeschichte und zum Sprachwandel erörtert werden. Das Generationskonzept wird insbesondere von der jüngeren Sprachgeschichtsschreibung fruchtbar aufgegriffen. Auch für die historische Soziolinguistik erschließen sich dabei neue Perspektiven. So spielt der Sprachgebrauch der „68er-Generation“ für die Geschichte der Jugendsprachforschung und für die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen Jugendbewegungen und neuen Sprachgebrauchsweisen eine besondere Rolle. Der gesellschaftliche Generationsbegriff ist nicht nur für die synchrone Analyse von Generationen in der Sprachgeschichte, sondern auch für die Beschreibung und Erklärung des diachronen Zusammenhangs von Generation und Sprachwandel von Bedeutung. Gerstenberg (2012) weist aus linguistischer Sicht der Jugend eine wichtige Rolle als periodisierende Entität durch die Entwicklung und Ausbreitung sprachlicher Innovationen zu. Die These von Jugendlichen als „Neuerern“ wird aktuell im Kontext der Nutzung neuer Medien durch Jugendliche relevant: Heute ist von einer „Generation Facebook“ die Rede,⁵ die sich von den vorhergehenden Generationen der Eltern und Großeltern nicht nur durch eine virtuose Beherrschung der neuen Medien, sondern eben auch durch die Einführung neuer Kommunikationsweisen mit einem gewandelten Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit charakterisieren lässt. Im Rückgriff auf soziologische Überlegungen wird auch zu prüfen sein, ob und wie sich der Generationsbegriff dabei von einem politischen zu einem kulturellen verlagert hat. In der Schnittstelle von gesellschaftlichen und familialen Generationsbegriffen ist schließlich ein weiterer Schwerpunkt der soziolinguistischen Sprachforschung zu lokalisieren, und zwar die Generationen von Migranten und ihrer Sprachen. Gegenwärtig ist von der dritten Generation von Migranten in Deutschland die Rede, die sich durch ihre hiesige Geburt und den Besuch des hiesigen Schul- und oft auch Universitätssystems von den vorangegangenen Generationen der Eltern und Großeltern unterscheiden. Die generationelle Abfolge
Vgl. dazu den Beitrag von Brommer/Dürscheid (2012).
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steht dabei in engem Zusammenhang mit dem Wandel oder gar dem Verlust der Herkunftssprachen in der alltäglichen Sprachpraxis. Wenden wir uns kurz einigen mit dem familialen Generationsbegriff verbundenen soziolinguistischen Arbeitsfeldern zu.
3.2 Der familiale Generationsbegriff in Sprachentwicklung und Sprachsozialisation In der frühen Soziolinguistik spielte – Bernsteins „Studien zur sprachlichen Sozialisation“ (dt. 1972) zufolge – der Sprachgebrauch in der Herkunftsfamilie eine zentrale Rolle für die Sprach- und Identitätsentwicklung des Kindes. Demnach dienten insbesondere die sog. elterlichen Kontrolltechniken in restringierter Form von Imperativen oder in elaborierter Form ausführlicher Begründungen der Übermittlung von sozial unterschiedlichen Wertvorstellungen und der Tradierung sozialer Rollen, vor allem des Geschlechts und der Generation. Aus dem deutschsprachigen Raum steuerten Ulrich Oevermann u. a. „Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen Interaktion“ (1977) in der Familie bei. Obwohl auch heute noch ein bedeutsames soziolinguistisches Phänomen in Kindheit und Jugend, wird dieser generationelle Aspekt von der aktuellen soziolinguistischen Forschung, auch der Jugendsprachforschung, im deutschsprachigen Raum bedauerlicherweise völlig vernachlässigt.⁶ Familiale Kommunikationsprozesse sind immer auch in der relationalen Generationsdimension zu erfassen, die ein zentrales Gegenstandsfeld für die linguistische Gesprächs- und Kommunikationsforschung darstellt.
3.3 Der relationale Generationsbegriff in der intergenerationellen Kommunikation Die relationale Generationsdimension ist für sozio- und pragmalinguistische Fragestellungen besonders fruchtbar, werden doch die unterschiedlichen generationellen Konstellationen interaktiv ausgetragen, und dies oft mit sehr unterschiedlichen Gesprächsmustern und -regeln. So bilden v. a. Vater-Sohn-Konflikte wichtige Motive in der familialen und gesellschaftlichen Kommunikation in fiktionalen wie in nicht-fiktionalen, in historischen wie aktuellen Texten.
Ansätze ergeben sich jedoch bei Quasthoff/Krah (2012).
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An dieser Stelle können die gesellschaftlich-historische Generationsdimension und damit der Aspekt der „Bewegung durch die Zeit“ weiterführende Erkenntnisse vermitteln: Wie haben sich generationelle Ordnungen und damit auch intergenerationelle Kommunikationsprozesse gerade auch im familialen Kontext in den letzten Jahrzehnten verändert? Im Unterschied zu früheren Zeiten scheint sich heute in vielen Familien ein salopperer und informellerer Umgangsstil durchgesetzt zu haben. Anredeformen von Jugendlichen wie „meine Alten“ oder abgeschwächter „meine Oldies“ sind – auch in Abwesenheit der Eltern – durchaus nicht immer abwertend gemeint. Wie sind die Ergebnisse der Jugendsprachforschung zu deuten, dass die Bedeutung der sozialen Abgrenzung zur Eltern- und Erwachsenengeneration beim Gebrauch der Jugendsprache heute – zumindest explizit – nicht mehr eine so große Rolle zu spielen scheint,wie es etwa in der 68er-Generation der Fall gewesen sein mag? Können wir dies als linguistische Belege für die soziologische These vom Schwinden der Generationsdifferenzen ansehen? Und spricht nicht auch die rasche Übernahme jugendsprachlicher Ausdrucksweisen in die Allgemeinsprache für eine weitere Entgrenzung der Jugend als Entwicklungsphase zugunsten des Phänomens „Jugendlichkeit“ als Prestigefaktor? Und wie ist schließlich die Kommunikation mit der Generation der Großeltern, mit hochbetagten „Alten“ zu charakterisieren? Können auch in der familialen Kommunikation Merkmale des sog. patronisierenden Sprechens entdeckt werden, wie sie von Ryan und Kwong-See (2003) für institutionelle Kommunikation mit älteren Menschen festgestellt worden sind?⁷ Diese und viele andere soziolinguistische Fragen in der intergenerationellen Kommunikation sind noch unzureichend gelöst.
3.4 Generationen als soziale Stereotype in Diskursanalyse und Sprachkritik Wenden wir uns zuletzt einer kurzen Betrachtung der ideologischen Dimension des Generationsbegriffs zu, wie sie sich in Altersbildern und Generationsstereotypen manifestiert, die sie bereits in der Einleitung dieses Beitrags als Beispiele aus aktuellen öffentlichen Debatten zitiert wurden. Sprachlich werden sie konkretisiert in Form von Topoi, Phraseologismen⁸ oder auch Argumentationsmustern in Diskursen, die sprachkritisch zu analysieren sind.
Vgl. dazu Fiehler (2012). Vgl. dazu die Ausführungen von Balsliemke (2012).
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Die Vielfalt der kurzfristigen Mode-Etikettierungen von „Generation Praktikum, Revolte, Stütze…“ bis zur „Generation der vielen Möglichkeiten“ sollte allerdings den Generationsbegriff und dauerhafte und tragfähige Generationsdifferenzierungen nicht verwässern. Solche sozialen Konstruktionen sind schließlich in der Kultur- und Sprachgeschichte zurück zu verfolgen. Sie wandeln sich im Laufe der Zeit je nach gesellschaftlich-historischen Gegebenheiten und entstehen nicht beliebig, sondern symptomatisch und können daher auch, wie einleitend vermutet, Gesellschafts- und Mentalitätsanalysen als Seismograph für sozialen und kulturellen Wandel dienen. So ist es kein Zufall, dass mit der gesteigerten Wertschätzung der Jugendlichkeit als Prestigesymbol seit der Jahrtausendwende auch das Altersbild, wie Thimm (2009) ausführt, überpositiv revidiert wurde. Dass die hinter der „Generation Gold“ oder „Best Ager“ ebenso wie hinter den Jugendlichen und sich jugendlich Gebenden stehende Kaufkraft ökonomischer Generationen dabei eine Rolle gespielt haben mag, ist zu Recht zu vermuten. Dies konnte bei einer Analyse von Generationsbildern und ihrem Wandel in der Werbung gezeigt werden⁹. Mit der Entdeckung spezifischer Zielgruppen und mithin spezifischer Identifikationsfiguren als Werbeträger sind die Faktoren von Lebensalter und Generationszugehörigkeit in den Blick der Werbung gerückt und haben damit auch die Werbesprache zum Gegenstandsfeld soziolinguistischer Stilanalysen gemacht. Die Entdeckung der jüngeren Generation in der Werbung geht bis in die 1960er Jahre zurück: Die „Teenager“- und „Twen“-Generation bildete eine erste Konsumgeneration für den Markt von Mode, Kleidung, Kosmetik, Musik u. a. m. Heute enthalten besonders die bekannten Jugendmagazine wie Bravo, Mädchen und Popcorn jugendtypische Werbeanzeigen mit sprachlichen Merkmalen, die als jugendsprachlich gelten und die Jugendsprache damit zugleich wieder stereotypisieren. Jugendliche selbst stehen solchen offensichtlichen Vermarktungsprozessen durchaus kritisch gegenüber. Bei der Entdeckung der älteren Generationen in der Werbung kann in den letzten 10 bis 15 Jahren jedoch ein bemerkenswerter Wandel der Generationsbilder konstatiert werden: Und zwar von den „defizitären Alten“, deren körperliche Beeinträchtigungen (z. B. nächtlicher Harndrang) oft euphemistisch beschönigt werden, zu den „jungen Alten“, deren Lebensstile durch Erlebnis und Genuss gekennzeichnet werden (Abb. 3).
Dazu ausführlicher Neuland (2013).
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Abb. 3: Focus-Titel „Was heißt hier alt? (51/ 2007)
Im Genuss des Konsums findet in Werbeanzeigen aber schließlich auch eine Angleichung der Generationen und der kontrastiven Generationsbilder statt: „Unsere Vorstellung von Luxus“ lautet ein Slogan der BRAX-Werbung, die mindestens drei Generationen in genussvoller Harmonie präsentiert (Abb. 4).
4 Ausblick auf kulturkontrastive Dimensionen des Generationsbegriffs Während für den Einbezug der gesellschaftlichen, familialen, relationalen und ideologischen Generationsdimensionen Anknüpfungspunkte in der germanistischen Soziolinguistik gefunden werden konnten, bleibt ein kulturkontrastives Arbeitsfeld weitgehend noch zu erschließen. Ein Anknüpfungspunkt bildet jedoch die vergleichende Betrachtungsweise der Anredeformen in verschiedenen Kulturen, sofern sie sich auf den sprachlichen Umgang mit verschiedenen Generationen beziehen. Weiterhin lassen sich zu allen vorgenannten Arbeitsfeldern kulturkontrastive Analysen vorstellen, die den Rahmen einer germanistischen Soziolinguistik notwendig überschreiten. So zeigt sich am Ende unserer Betrachtungen die Fruchtbarkeit der Multidimensionalität des Generationsbegriffs für soziolinguistische Fragestellungen sowie die enge Verwobenheit der verschiedenen Dimensionen, die zugleich als Schlüssel zur Analyse von Bewegungen durch die Zeit dienen. Was aber bleibt
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Abb. 4: Werbeanzeige von BRAX (2012)
sprachlich, und was geht sprachlich verloren? In der Sprache sind Zeitmarkierungen und Ungleichzeitigkeiten zugleich aufgehoben, wie Cherubim anschaulich resümiert.¹⁰
Literatur Ammon, Ulrich (1972): Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule. Weinheim: Beltz. Ammon, Ulrich (1973): Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung. Eine empirische Untersuchung zu einem vernachlässigten Aspekt von Sprache und sozialer Ungleichheit. Weinheim: Beltz. Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J./Trudgill, Peter (Hgg.) (2005): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Auflage. Berlin/New York: de Gruyter. Balsliemke, Petra (2012): „Noch nicht in die Jahre gekommen… Altersdiskriminierung als Gegenstand der Sprachkritik.“ In: Neuland, Eva (Hg.): Sprache der Generationen. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag (= Thema Deutsch. Band 12). 322 – 339. Bernstein, Basil (1972): Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf: Schwann.
Vgl. dazu der Beitrag von Cherubim (2012).
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Eva Neuland
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Soziolinguistische Dimensionen (inter)generationellen Sprachgebrauchs
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Hitoshi Yamashita
Die verschleiernde Funktion der Sprache Abstract: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit vielfältigen Aspekten der verschleiernden Funktion der Sprache. Ausgehend von der Diskussion über die Scheinhaftigkeit der pronominalen Anrede im Deutschen wird in der vorliegenden Arbeit versucht zu zeigen, ob und wie die oberflächliche Höflichkeit auf der Satzebene die soziale Stellung der Kommunikationspartner widerspiegelt. Des Weiteren wird gezeigt, dass diese Funktion auch auf der Diskursebene, sowohl in der alltäglichen Kommunikation als auch im wissenschaftlichen Text zu finden sind. Zum Schluss werden bezüglich der politischen Diskurse in Japan mit der verschleiernden Funktion zusammenhängenden Strategien nämlich Todai Waho vorgestellt. Keywords: Anrede, verschleiernde Funktion der Sprache, Höflichkeitsformen, Unhöflichkeit, alltägliche Kommunikation, wissenschaftlicher Diskurs, politischer Diskurs
Einleitung¹ 1972 hat Ulrich Ammon eine, verglichen mit seinen sonstigen Veröffentlichungen eher kleinere Arbeit bezüglich der pronominalen Anrede im Deutschen geschrieben. In dieser Studie hat er den damals im öffentlichen Leben weit verbreiteten symmetrischen Gebrauch der pronominalen Anrede Du und Sie mittels der dialektisch-materialistischen Methode und durch die historische Analyse untersucht und festgestellt: „Die symmetrische Anrede mit Sie suggeriert also eine Gleichheit, die faktisch keinesfalls gegeben ist“ (Ammon 1972, 81). Er schreibt auch: „Überhaupt enthalten die Anredeformen viel falschen Schein. Dies gilt sowohl für symmetrische Anrede mit Du als auch für diejenige mit Sie“ (a.a.O. 80). Ausgehend von dieser Überlegung über die Scheinhaftigkeit der pronominalen Anrede werden in dem vorliegenden Beitrag vielfältige Phänomene dieser Funktion der Sprache behandelt. Wenn die Anredeformen „viel falschen Schein“ enthalten und die in der sozialen Wirklichkeit existierende fundamentale Ungleichheit zwischen den Kommunikationspartnern verschleiern, so könnte man etwas allgemeiner von der verschleiernden Funktion der Sprache sprechen. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Zusammenfassung meiner bisherigen Untersuchungen (d. h. von meiner Magisterarbeit bis zur jüngsten, vgl. Literaturverzeichnis), die etwas variierend herangezogen werden, ohne jeweils im Einzelnen darauf hinzuweisen (vgl. Yamashita 1987).
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Im Folgenden wird anhand einiger Ergebnisse meiner bisherigen Untersuchungen und mittels neuerer Materialien versucht zu zeigen, wie die Sprache die Wirklichkeit zum Teil widerspiegelt, zum Teil jedoch nicht und mit ihrem falschen Schein Signifikantes verschleiert. In Analogie zu der Scheinhaftigkeit der Anredeformen wird zuerst auf der Satzebene gezeigt, wie die oberflächliche Höflichkeit der Äußerungen die Hierarchie der Kommunikationspartner widerspiegelt, aber dann wird konstatiert, dass die Höflichkeitsform auch unabhängig von der sozialen Stellung des Hörers verwendet werden kann. Des Weiteren wird gezeigt, dass ähnliche Phänomene auch auf der Diskursebene zu finden sind: nämlich bei den Diskursen bezüglich der japanischen Höflichkeitsformen und Dialekte sowie bei einem Thema aus Japans Politik, den Atomkraftwerke fördernden politischen Diskursen.
1 Die verschleiernde Funktion der Anrede Ammon erklärt zuerst mit Hilfe von Karl Bühlers Organonmodell, dass die Anredeformen und damit auch die Anredepronomen einen genuin soziolinguistischen Untersuchungsgegenstand darstellen. Er schreibt: „Die in sprachlichen Äußerungen enthaltenen Informationen hinsichtlich der drei Komponenten Sprecher, Hörer, Gesprächsgegenstand lassen sich als deren Bedeutungen im weiteren Sinne auffassen. Danach sind also drei grundlegende Bedeutungsdimensionen zu unterscheiden. Die Linguistik im engeren Sinne befaßt sich primär mit den auf den Gesprächsgegenstand bezogenen Bedeutungen. Demgegenüber beziehen die Sozio- und auch die Psycholinguistik die auf Sprecher und Hörer zielenden Bedeutungsdimensionen mit ein – ohne freilich den Gesprächsgegenstand prinzipiell auszuschließen.“ (Ammon 1972, 73 f.) Es waren jedoch R. Brown und A. Gilman, die schon 1960 eine einflussreiche Arbeit zu diesem Thema beigetragen haben². Auch Ammons These basiert auf einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Arbeit. Die Autoren haben den Zusammenhang zwischen Anredeformen und Sozialstruktur mit den „zwei der Analyse allen sozialen Lebens grundlegenden Dimensionen – den Dimensionen der ‚Macht‘ und der ‚Solidarität‘“ (Brown/Gilman 1982, 163) anhand empirischer Daten aufgezeigt. Sie meinen: „Bis weit ins 19. Jh. herrschte die Machtsemantik vor; und Kellner, gemeine Soldaten und Angestellte werden mit T (Duzen) angesprochen, Eltern,
Bei dieser Arbeit zitiere ich nach der deutschen Übersetzung von Günter Radden.
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Meister und ältere Brüder dagegen mit V (Siezen).³ Im letzten Jahrhundert hat jedoch, wie alle unsere Belege übereinstimmend bezeugen, die Solidaritätssemantik die Oberhand gewonnen…. Heraus ergibt sich schematisch ein einfaches eindimensionales System mit dem reziproken T für die ‚Solidarität‘ und dem reziproken V für die ‚Nichtsolidarität‘“ (a.a.O. 173). Zum Schluss ihres Artikels stellen sie fest: „Wir haben versucht darzustellen, dass die neuere Richtung eines Wandels im Pronominalengebrauch einen Wunsch ausdrückt, das Solidaritätsethos auf jede Person auszuweiten. Der offensichtliche Rückgang eines expressiven Wechsels zwischen T und V ist schwerer erklärbar. (…) Vielleicht möchten sich die Europäer gern selbst davon überzeugen, dass das einmal aufgenommene Solidaritätsethos nicht zurückgenommen werden kann, dass im gegenseitigen T Sicherheit liegt“ (a.a.O. 197). Dagegen hat, wie oben schon erwähnt, Ammon postuliert, dass die symmetrische Anrede mit Sie eine Gleichheit suggeriere, die faktisch keinesfalls gegeben sei. Darüber hinaus kritisiert Ammon die beiden Autoren: „Auch Brown und Gilman sehen im Gebrauch von Anredepronomen den Ausdruck von Ideologie. (…) Brown und Gilman unterscheiden jedoch nicht mehr sorgfältig zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Sie stellen daher keine Diskrepanz fest zwischen der sozialen Wirklichkeit und dem, was sich im Gebrauch der Anredepronomen ausdrückt. Sie bleiben letzten Endes selbst der Ideologie verhaftet“(Ammon 1972, 77 Anm.7). Auf das Thema, dass Wissenschaftler selbst der Ideologie oder dem „Zeitgeist“ verhaftet bleiben können, werde ich in dem vorliegenden Beitrag später noch einmal zurückkommen. Die Darstellung der Scheinhaftigkeit der Sprache in der heutigen Gesellschaft und ihre Beschreibung als „Ausdruck der herrschenden Ideologie, die für die bestehenden Verhältnisse eine schützende und stabilisierende Funktion hat“ (a.a.O. 77), halte ich heute immer noch für wichtig für die Soziolinguistik.⁴ Jedoch, um zu zeigen, ob die Sprache die Wirklichkeit widerspiegelt oder nicht, scheint mir die methodische Beschränkung Ulrich Ammons auf die Anredeformen nicht ganz angemessen. Daher habe ich anhand eigener empirischer Erhebungen versucht zu ermitteln, ob sprachliche Äußerungen auf der Satzebene faktische soziale Unterschiede widerspiegeln.
Die Symbole T (für das „natürliche“, ursprünglichere Pronomen der 2. Person Singular) und V (für das später entstandene Höflichkeitspronomen) werden von den beiden Autoren eingeführt und auch von vielen Sprachwissenschaftlern aufgegriffen. Angesichts der seriösen, jedoch sehr verwirrenden Berichte von dem Fall Fukushima ist das Thema auch für die Mitglieder der Gesellschaft überhaupt sehr relevant. Auch darauf komme ich später im Abschnitt 6 zurück.
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2 Hörerspezifische Höflichkeitsformen Zu diesem Thema habe ich zwei mündliche Interview- und eine schriftliche Fragebogenerhebung durchgeführt (vgl.Yamashita 1989, 1992, 1993). Aus Gründen der Platzersparnis begnüge ich mich jedoch damit, einen Teil der Ergebnisse des zweiten Interviews vorzustellen und verzichte auf eine genauere Darstellung der Vorgehensweise bei der Erhebung. Bei diesem Interview umfasste die Probandengruppe 53 Personen. Diese waren mittlere Angestellte, die bei neun Unternehmen in Duisburg arbeiteten, welche eine diesbezügliche Anfrage meinerseits positiv beantwortet hatten. Das Interview wurde in den jeweiligen Firmen durchgeführt und dauerte durchschnittlich 40 bis 50 Minuten, wobei die ersten zehn Minuten für die Erklärung der Untersuchung verwendet wurden. Alle Antworten wurden auf Tonband aufgenommen. Die Probanden wurden zuerst gebeten, Personen mit bestimmten sozialen Eigenschaften aus ihrem Bekanntenkreis auszuwählen, die bei der Erhebung die Hörer-Rolle spielen, nämlich a) Ehepartner, b) Freund, c) Höhergestellte, d) Gleichgestellte und e) Niedrigergestellte. Die Namen der ausgesuchten Personen wurden zur Vermeidung möglicher Verwechslungen auf einen Zettel aufgeschrieben. Beim Interview wurde, auf diesen Zettel zeigend, gefragt: „Wie begrüßen Sie sie/ihn, wenn Sie morgens aufstehen (oder wenn Sie diese Person morgens treffen)?“ Bei diesem Interview wurden die sprachlichen Formulierungen von Sprechakten, wie Begrüßen, Entschuldigen, Fragen, Einladen, Vorschlagen, VorschlagAblehen und Auffordern (Bitten) gesammelt. Hier werden nur die Ergebnisse von Anrede und Entschuldigung dargelegt.⁵ Bezüglich der Anrede werden die Hörer im privaten Bereich ausnahmslos mit dem Du angeredet, während im öffentlichen Bereich beide Anredepronomina verwendet werden. Das heißt, gleichgültig, ob die angesprochene Person Ehepartner ist oder Freund, ob er/sie jünger ist oder älter usw., wenn man mit ihm/ihr Um die Formulierung einer Entschuldigung zu veranlassen, wurde die folgende Frage gestellt: a) Ehepartner: „Angenommen, Sie haben Ihrer Frau (Ihrem Mann) versprochen, dass Sie um 18 Uhr heimkommen. Aber wegen unerwartetem Besuch können Sie nicht so früh heimkommen. Was sagen Sie zu ihr (ihm) am Telefon?“ b) Freund: „Angenommen, Sie haben Ihrem Freund (Ihrer Freundin) versprochen, dass Sie ihn (sie) am Sonntag besuchen. Aber weil Sie sehr beschäftigt sind, können Sie das nun nicht tun. Was sagen Sie zu ihm (ihr) am Telefon?“ c) Höhergestellte, d) Gleichgestellte und e) Niedrigergestellte: „Angenommen, Sie haben mit c (d, e) einen Termin vereinbart. Aber weil Sie aufgehalten wurden, kommen Sie zu spät. Was sagen Sie dann zu ihm (ihr)?“
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eine enge Beziehung hat, wird er/sie automatisch geduzt. Im öffentlichen Bereich konnte jedoch eine deutliche Beziehung zwischen den Anredepronomina und den Hörerrollen festgestellt werden: Während Höhergestellte und Niedrigergestellte viel öfter gesiezt werden, werden Gleichgestellte öfter geduzt als gesiezt. Betrachten wir nun die Ergebnisse hinsichtlich der Entschuldigung. Zur Veranschaulichung der Heterogenität dieser Ergebnisse sollen zuerst kurz die konkreten Daten zweier Probanden dargestellt werden. (Bei den Beispielssätzen bedeutet z. B. „3a“, dass diese Formulierung von dem dritten Probanden zu a (Ehepartner) geäußert ist. Genauso bedeutet „b“ Freund, „c“ Höhergestellte, „d“ Gleichgestellte und „e“ Niedrigergestellte.) 3a: Schatz, ich habe leider noch einen wichtigen Termin dazwischen bekommen. Und ich kann leider erst später nach Hause kommen. 3b: VN (Vorname), ich wollte zwar gerne zu dir kommen. Aber du wirst Verständnis haben… Hab’ bitte Verständnis, dass ich hier einfach den Termin nicht einhalten kann. 3c: Herr NN (Nachname), tut mir furchtbar leid, die Verkehrsverhältnisse in Köln sind ja so schwierig. … Ich bin leider zu spät gekommen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür. 3d: Herr NN, tut mir furchtbar leid, ich hab’s also leider nicht geschafft, aber hier in Ruhrgebiet… Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür. 3e: Herr NN, tut mir furchtbar leid, aber es war wieder der übliche Stau. 4a: Hör mal, heute Abend habe ich noch einen wichtigen Termin dazwischen bekommen (meistens im Zusammenhang mit unserem Chef), und da soll ich dabei sein und es wird wohl etwas später werden. 4b: Du, mir ist am Sonntag was anderes dazwischen gekommen. Verabreden wir uns halt für einen anderen Tag. 4c: Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, ich habe noch diese Sache erledigen müssen, und das hat keinen Aufschub geduldet. 4d: VN, hör mal, diese Sache ist mir dazwischen gekommen, tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. 4e: Herr NN, tut mir leid, ich bin durch diese Sache aufgehalten worden, habe mich leider etwas verspätet. Wie die Daten zeigen, besteht der Sprechakt „Entschuldigen“ aus verschiedenen untergeordneten Sprechakten wie „Anrede“, „Grundangeben“, „Entschuldigung“, „Angabe des Sachverhaltes“, „Bitte um Verständnis“ und „Vorschlag bzw. Wiedergutmachung“. Wenn man die rohen Daten nach diesen sprechaktlichen Komponenten sortiert, kann man die gesamten Daten in 645 Komponenten un-
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terteilen. In der Tabelle 1 wird die Distribution dieser Sprechakte je nach den Hörerrollen dargestellt. Bei dieser sehr groben Analyse wird gezeigt, dass im privaten Bereich, wo der Hörer ausnahmslos mit dem Du angeredet wird (bei „a“ und „b“), beim Sprechakt „Entschuldigen“ je nach der Eigenschaften der Hörerrolle ein deutlicher Unterschied zu finden ist. Während dem Ehepartner gegenüber nicht so oft das Wort Entschuldigung geäußert wird, wird dem Freund gegenüber diese Formulierung öfter verwendet. Es wird also gezeigt, dass auch im privaten Bereich je nach dem Kommunikationspartner unterschiedliche sprachliche Äußerungen ausgewählt werden.Wenn man die oben genannten Daten genauer analysiert, kann man auch im öffentlichen Bereich zwischen den Höhergestellten und Niedrigergestellten unterschiedliche Formulierungen feststellen, obwohl dies aus der Tabelle 1 nicht hervor geht. Zum Beispiel werden den Höhergestellten gegenüber mehr Ausdrücke wie „Entschuldigen Sie bitte“, „Ich bitte um Entschuldigung“ oder „Entschuldigung“ verwendet, während den Niedriger- und den Gleichgestellten gegenüber eher Ausdrücke wie „es tut mir Leid“, „es tut mir sehr Leid“ oder einfacher „Tut mir Leid“ benutzt werden, was aus den Beispielsätzen 4c und 4e zu entnehmen ist. Tab. 1: Sprechakt-Komponente und Hörerrolle a Entschuldigung Grund angeben Angabe des Sachver-haltes Anrede Bitte um Verständnis Vorschlag Summe
b
c
d
e
Summe
a) Ehepartner, b) Freund, c) Höhergestellte, d) Gleichgestellte und e) Niedrigergestellte
Auch bei den Ergebnissen des anderen Sprechaktes „Fragen“ zeigt sich, dass den Höhergestellten gegenüber mehr Fragesätze mit Konjunktiv II („Könnten Sie mir bitte die Telefonnummer von XY geben?“) verwendet werden, gegenüber den Niedriger- und Gleichgestellten hingegen mehr Sätze mit Indikativ („Können Sie mir bitte die Telefonnummer von XY geben?“ oder „Haben Sie die Telefonnummer von XY?“). Daraus ergibt sich, dass man im Deutschen die Möglichkeit hat, auch bei symmetrischem Gebrauch von Du bzw. Sie, je nach der sozialen Eigenschaft des jeweiligen Kommunikationspartners, unterschiedliche sprachliche Formulierungen auszuwählen. Insofern könnte man entgegen Ulrich Ammons These behaupten, dass die Sprache die soziale Wirklichkeit durchaus widerspiegelt. Anders formuliert, es gibt im Deutschen unterschiedliche und differenzierte Höflichkeitsformen.
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Aber dann taucht eine andere Frage auf, ob diese Höflichkeitsformen immer die „wirkliche Höflichkeit“ ausdrücken, wie etwa eine respektvolle, und zuvorkommende Einstellung des Sprechers gegenüber dem Hörer, oder ob es nicht unter Umständen unhöfliche Höflichkeit oder höfliche Unhöflichkeit gibt, wie von Friederike Braun erwähnt wurde (vgl. Braun 1988).
3 Unhöfliche Höflichkeit und höfliche Unhöflichkeit Wer sich mit dem Thema Höflichkeit beschäftigt hat, kann sich an die Worte von Goethe erinnern „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?“⁶ Auch ein Sprichwort sagt: „Mit guten Worten verkauft man schlechte Waren.“ Es liegt nahe, dass es unhöfliche Höflichkeit gibt. Schriftliche Befragungen und/oder Interview-Erhebungen wären jedoch zur Klärung bzw. zur Ermittelung dieser Phänomene nicht geeignet. (Es wäre eher unsinnig, den Probanden zu fragen: „Lügen Sie, wenn Sie zu Ihrem Ehepartner/zu Ihrer Ehepartnerin höflich sind?“ Genauso wäre es unmöglich, einen Verkäufer oder eine Verkäuferin zu fragen: „Ist es wahr, dass man mit guten Worten schlechte Waren verkauft?“) Daher muss man eine andere Methode finden. Wahrscheinlich könnte man konkrete Kommunikationssituationen beobachten und die Beteiligten danach fragen, wie sie die jeweilige Situation einschätzen. Und so habe ich bei einer kontrastiven Untersuchung eine Erhebung der teilnehmenden Beobachtung durchgeführt: Für verschiedene Szenen wurden in Deutschland und in Japan Tonbandaufnahmen erstellt.⁷ Muttersprachliche Beobachter werten die Aufzeichnungen nach drei Kriterien aus, nämlich Höflichkeit, Freundlichkeit und Distanz. Vor dieser Erhebung wurden die Exploratorinnen darum gebeten, ihrerseits fünf bezüglich der Höflichkeit unterschiedliche Sätze aufzuschreiben, dann wurden sie weiter gebeten, bei der Untersuchung auf dem Niveau „höflich“ zu bleiben. Die jeweilige Einschätzung wurde direkt nach der Beobachtung in einem Protokollbogen mit eventuellen Zusatzbemerkungen festgehalten.⁸ Im Folgenden sind die Sätze der deutschen Exploratorinnen wiedergegeben:
Harald Weinlich hat diese Worte als Titel seiner Rede anlässlich der Ehrung mit dem KonradDuden-Preis auserwählt. Zu den juristisch-ethischen Aspekten vgl. Brinker/Sager (1996, 25 f.) Die Erhebungen wurden in Deutschland (Nordrhein-Westfalen) vom 2.7.1996 – 23.1.1997 und in Japan (Kansaigebiet) vom 6.– 17. 3.1999 jeweils in mittelgroßen Städten (mit 100.000 bis 500.000
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Höflichkeitsformen gar nicht höflich: 1) Ich brauch ’nen Duft, so was Frisches. Haben Sie da was? 1’) Ich brauche Parfum. weniger höflich: 2) Ich brauche ein Geschenk für meine Mutter, am besten einen Duft. 2’) Haben Sie Parfum? neutral: 3) Guten Tag, ich hätte gern einen Duft für meine Mutter. Was könnten Sie mir empfehlen? 3’) Guten Tag, ich suche ein Parfum für meine Mutter. höflich: 4) Guten Tag, ich suche einen Duft für meine Mutter. Könnten Sie mir etwas empfehlen? 4’) Guten Tag, ich suche ein Parfum für meine Mutter. Können Sie mir etwas empfehlen? sehr höflich: 5) Guten Tag, ich suche einen schönen Duft für meine Mutter. Könnten Sie mir vielleicht behilflich sein und mir etwas empfehlen? 5’) Guten Tag, entschuldigen Sie bitte. Ich hätte gern ein Geschenk für meine Mutter. Könnten Sie mir bitte weiterhelfen?
Diese Sätze wurden vor der Untersuchung spontan formuliert. Sie dienen einerseits als Indizien für die oben diskutierte Vielfältigkeit der deutschen Höflichkeitsformen. Andererseits sind sie auch ein Beweis dafür, dass man das Niveau der Höflichkeit seiner Äußerung beliebig arrangieren kann, gleichgültig, wie man die Situation oder den Hörer einschätzt. Man kann sich als eine höflichere oder weniger höfliche Person inszenieren. Zum Zweck der vorliegenden Diskussion soll ein Beispiel für ein als „weniger höflich“, aber „sehr freundlich“ bewertetes Gespräch betrachtet werden, nämlich ein äußerlich unhöfliches, innerlich jedoch höfliches Gespräch auf einem Postamt mit einer jüngeren Postbeamtin (P). Zu diesem Gespräch notierten die beiden Exploratorinnen (Bgit/Bte): „Beamtin sehr jung, sehr persönliches Gespräch zwanglos“, „die Beamtin war noch sehr jung. Sie wirkte sehr freundlich, aufgeschlossen und hilfsbereit, sehr lockere Umgangsformen! Unbefangen, zwanglos.“ Das Gespräch ist gekennzeichnet durch persönliche Äußerungen wie die monologische, sehr spontane Äußerung, „verstehe ich gar nicht >scheiße…< (Zeile 27). Aufgrund solcher spontanen und offenen Äußerungen sowie eines in dieser öffentlichen Situation nicht angemessenen, vulgären Ausdrucks wurde das Gespräch als „weniger höflich“ eingestuft. Die Postbeamtin ist jedoch freundlich und verhält sich engagiert und hilfsbereit. Diese Beamtin holt sofort die Zollinhalts-
Einwohnern) durchgeführt. Als vergleichbare Interaktionen wurden u. a. Verkaufssituationen in Parfümerien, Kosmetikgeschäften, Lederwarengeschäften, Kaufhäusern, Buchhandlungen, auf der Post, bei Optikern aufgenommen. Dabei wurde natürliches Sprachverhalten initiiert durch Fragen wie: „Ich brauche ein Geschenk. Was würden Sie empfehlen?“ Die Aufnahmen umfassen 77 Situationen mit deutschen und 71 mit japanischen Sprechern.
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angabe für die Kundin und erklärt humorvoll, „schreiben Sie ‚Kleidung‘, nicht ‚ein Socken und eine Unterhose‘“ (Zeile 93). Transkription des Gesprächs auf einem Postamt 22 Bgit: das andere achtundsechzig ne 23 Bte: 24 P: jetzt gucken wir mal hier Vereinigten Staaten doch gibt’s es auch 25 Bgit: LACHT 26 Bte: LACHT 27 P: seefahrt SIE LIEST ETWAS VOR verstehe ich gar nicht >scheiße
< also auf dem
[…] 85 Bgit: und es sollte also möglichst doch genau schreiben was drin ist ne? 86 Bte: 87 P: das wäre besser ne wenn Sie 88 Bgit: 89 Bte: LACHEN 90 P: aber jetzt aber geschirr haben dann brauchen Sie nicht jede einzelne tasse schreiben Sie geschirr 91 Bgit: 92 Bte: 93 P: oder kleidung schreiben Sie „kleidung“ nicht ein socken und eine unterhose dann und das nicht 94 Bgit: ja OK LACHT ja↓ vielen dank ne tschüß 95 Bte: ja↓vielen dank tschüß 96 P: haben Sie zwei habe ich Ihnen gegeben alles klar↓*2* das war’s↑ OK bitte tschüß
In diesem Gespräch wird sehr prägnant dargestellt, dass man sich auch mit „unhöflichen“ sprachlichen Elementen freundlich und aufgeschlossen und in diesem Sinne „höflich“ verhalten kann. Fassen wir die wichtigsten, oben genannten Punkte kurz zusammen: Es wird festgestellt, dass die Sprache auf der Satzebene die wirklichen Unterschiede der Eigenschaften des Hörers widerspiegeln kann und dass in den natürlichen Kommunikationssituationen unhöfliche Höflichkeit bzw. höfliche Unhöflichkeit zu finden sind.
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4 Die verschleiernde Funktion der Sprache in wissenschaftlichen Diskursen In wissenschaftlichen Diskursen werden manchmal gewisse Stereotypen hingenommen und akzeptiert, und folglich werden die hinter diesen Stereotypen verschleierten Probleme ignoriert und nicht kritisch betrachtet. Im vorliegenden Beitrag sollen die Diskurse über Höflichkeitsformen, Keigo genannt, kurz behandelt werden. Keigo wird in Japan nicht nur im Alltagsleben benutzt, sondern Keigo stellt auch einen beliebten Untersuchungsgegenstand dar. Darüber hinaus ist Keigo ein Gegenstand der Sprachenpolitik Japans, weil es staatliche Empfehlung gibt, die besagt, wie man Keigo richtig verwendet. Diese makrosoziolinguistischen Aspekte sind meines Wissens ansonsten nirgendwo zu finden. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass das Keigo bei der Standardisierung der japanischen Sprache seit der Meiji-Restauration Hand in Hand mit dem Kokugo (der japanischen Standardvarietät) eine wichtige Rolle spielte und immer noch spielt (vgl. Yamashita 2001b). Hier werden jedoch die drei nationalen Empfehlungen behandelt, die in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) bis zur Gegenwart (2007) herausgegeben worden sind. A) Kore-kara no Keigo („Der künftige Höflichkeitsausdruck“, 1952)⁹ Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg herrschte in Japan sprachliche Verwirrung. Bruno Lewin berichtet: „Die Unsicherheit auf einem so wesentlichen Sektor der sprachlichen Kommunikation hat auch den mit dem japanischen Kultusministerium zusammenwirkenden Sprachbeirat (Kokugo-shingikai) auf den Plan gerufen, der nach zweijährigen Beratungen auf seiner 14. Vollversammlung am 14. April 1952 unter dem Vorsitz von Kyosuke Kindaichi Empfehlungen zur Verbesserung des soziativen Sprachgebrauchs herausgab. Sie trugen den Titel Kore-kara no Keigo („der künftige Höflichkeitsausdruck“) und wurden im Mai desselben Jahres vom Kultusministerium verabschiedet“ (Lewin 1969, 173 f.). Im Artikel 1 dieser Empfehlungen ist die Grundidee zusammengefasst: „Der bisherige Höflichkeitsausdruck, wie er sich in der älteren Zeit entwickelt hat, Lewin hat den ganzen Text der ersten Empfehlungen ins Deutsche übersetzt. Ich zitiere hier seine Übersetzung; die anderen beiden Empfehlungen wurden von mir übersetzt. Lewin übersetzt Keigo als „Höflichkeitsausdruck“. Dafür habe ich das Wort „Höflichkeitsformen“ benutzt. Es sollte auch angemerkt werden, dass die ersten Empfehlungen auf Japanisch Kengi hießen und vom Kultusministerium wie ein Gesetz verabschiedet wurden. Die anderen heißen auf Japanisch Toshin, was ‚Antwort auf die Frage (des Kultusministers)‘ bedeutet. Die zweiten und die dritten Empfehlungen brauchten vom Kultusministerium nicht verabschiedet zu werden.
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besaß mehr Kompliziertheiten, als notwendig sind. Von nun an sollen beim Höflichkeitsausdruck diese Übertreibungen vermieden, falsche Anwendungen berichtigt und möglichste Klarheit und Einfachheit angestrebt werden“ (a.a.O. 174). Diese Empfehlungen waren zwar kurz, aber sie beinhalten konkrete Beispiele, welche Höflichkeitsausdrücke in Zukunft verwendet werden sollten. Es sollte festgehalten werden, dass mit diesen Empfehlungen eine möglichst klare und einfache Anwendung solcher Ausdrücke angestrebt wurde. B) Gendaishakai ni okeru Keii-Hyougen („Ausdrucksformen des Respekts in der gegenwärtigen Gesellschaft“, 2000) Ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis der 22. Sprachbeirat unter dem Vorsitz von Sachiko Ide die zweiten Empfehlungen „Gendaisyakai ni okeru Keii-Hyougen“ („Ausdrucksformen des Respekts in der gegenwärtigen Gesellschaft“) herausgab. Im Vorwort steht ihre Essenz: „Der Sprachbeirat schlägt als einen wichtigen Begriff für die Auseinandersetzung über die Sprachverwendung in der gegenwärtigen Gesellschaft „Keii-Hyougen“ (‚Ausdrucksformen des Respekts‘) vor. Unter KeiiHyougen wird eine Sprachverwendung verstanden, die in einer Kommunikationssituation je nach Gesprächspartner und Sprechsituation auf Grund der gegenseitigen Achtung und des Respekts gewählt wird. Die Persönlichkeit des Partners achtend wählt der Sprecher sowohl Ausdrücke des Keigo als auch Ausdrucksformen außerhalb des Keigo“. Diese zweiten Empfehlungen werden ausführlicher dargestellt, aber es werden keine konkreten Beispiele normativer Ausdrücke angeführt. Zu beachten ist, dass in diesen neuen Empfehlungen von der „klaren und einfachen Anwendung des Höflichkeitsausdrucks“ nicht mehr die Rede ist. Stattdessen steckt hierin Brown und Levinsons „positive politeness“ (Brown/Levinson 1987). Der Ausdruck Keigo scheint dort sogar absichtlich vermieden worden zu sein.¹⁰ C) Keigo no Shishin („Richtlinien für die Höflichkeitsformen“, 2007) Bloß sieben Jahre später wurden die dritten Empfehlungen mit dem Titel „Keigo no Shishin“ („Richtlinien für die Höflichkeitsformen“) nach einjährigen, aber sehr intensiven Beratungen unter dem Vorsitz von Takashi Atouda herausgegeben und am 2. Februar 2007 publiziert. Im Titel wird der Begriff Keigo erneut in den Vordergrund gerückt. Im Gegensatz zu den zweiten Empfehlungen wurden in den Der 22. Sprachbeirat des Kulturministeriums (Kokugo-shingikai) war der letzte seiner Art und wurde bald nach der Herausgabe der zweiten Empfehlungen aufgelöst. Die Aufgabe der japanischen Sprachpolitik wurde aber von dem mit der Behörde für Kultur (Bunka-cho) zusammenwirkenden Kulturbeirat (Bunka-shingikai) übernommen.
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dritten, sehr umfangreichen Empfehlungen hauptsächlich die normativen Verwendungsweisen von Keigo erläutert, von theoretischen Erklärungen bis zu Vorschlägen für die alltägliche Anwendung. Sogar konkrete Beispiele mit ausführlichen Erklärungen zu Zweifelsfällen haben dieses Mal nicht gefehlt. Es war interessant, dass die dritten Empfehlungen eine fünffache Unterteilung vorschlugen anstatt der bisherigen gewöhnlichen dreifachen Kategorisierung des Keigo. Dadurch schien das Keigo sogar noch komplizierter geworden zu sein als bisher. Diese fünffache Unterteilung stellt eine wesentliche Eigenschaft der neuen Empfehlungen dar, worüber auch in den Medien oft berichtet wurde. Die Entwicklung dieser staatlichen Empfehlungen bezüglich der Höflichkeitsformen zeigt den Zusammenhang zwischen Zeitgeist und Forschung. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, wodurch eine deprimierende Atmosphäre im Volk und im ganzen Land herrschte,wollte Kyosuke Kindaichi, der Vorsitzende des Beirats, die altmodische und feudalistisch orientierte Sprachverwendung abschaffen und wünschte sich klarere und einfachere Keigo-Verwendung. 50 Jahre später ist man in Japan durch das wirtschaftliche Wachstum selbstbewusster und sieht sich als gleichberechtigt mit den anderen Völkern. Und so hat Sachiko Ide, Vorsitzende des Sprachbeirats und eine weltweit bekannte Höflichkeitsforscherin, die Empfehlung erneuert und die Idee der „Politeness“-Theorie von Brown und Levinson als Grundlage der staatlichen Empfehlung eingeführt. Aber dann wollten Japanologie-Linguisten wie Yasuto Kikuchi, Kommissionsmitglied des Kulturbeirats, den japanischen Begriff Keigo, der in der zweiten Empfehlung weggelassen worden war, wieder in die Empfehlungen aufnehmen. Sie haben den Begriff sogar noch differenzierter und genauer kategorisiert, als ob sie entgegen der ersten Empfehlung sagen wollten, einfache und klare Keigo-Regeln genügten nicht, um in der japanischen Gesellschaft richtige sprachliche Höflichkeitsformen zu verwenden. Die Japanologen haben durch diese dritte Empfehlung, sozusagen mit einer offiziellen Garantie, die wissenschaftlichen Ergebnisse der Keigo-Forschung rehabilitiert und stabilisiert. Mir schien, dass die wissenschaftliche Forschung für die Aufrechterhaltung der Praxis des Keigo benutzt wurde. Selbstverständlich wurde diese Empfehlung auch für diejenigen formuliert, die mit dem Keigo-System nicht ganz vertraut sind. Sprachwissenschaftler und Schriftsteller, die sie formuliert haben, haben sich viel Mühe gegeben und nützliche Erklärungen zu Zweifelsfällen dargestellt. Trotzdem wurde dabei vorausgesetzt, dass man, wenn man in der Gesellschaft keine sprachliche Schwierigkeit haben will und ferner eine gute Anstellung finden möchte, das Keigo-System richtig beherrschen müsse und möglichst höflich sprechen solle. Dabei handelt es sich wieder um ein Stereotyp. Das Stereotyp besagt, für ein besseres Leben brauche man Keigo. Mit diesem Stereotyp soll das Problem verschleiert werden,
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dass es auch Personen gibt, die, z. B. aufgrund ihrer sozialen Situation, Keigo nicht richtig verwenden können. Es wird ignoriert, welche realen Schwierigkeiten diese Menschen haben und warum sie solche Schwierigkeiten haben. In diesem Sinne verschleiert die präzise wissenschaftliche Darstellung von Keigo ein soziales Problem. In der Dialekt-Forschung kann man ähnliche Probleme feststellen. 1958 schreibt Takeshi Shibata: „Wenn man einmal spontan Dialekt gesprochen hat und von den anderen belacht wurde, hat man einen Dialekt-Komplex, also einen Minderwertigkeitskomplex aufgrund seines Dialekts. Wenn man unter diesem Komplex leidet, hat man keine Lust mehr zu sprechen“ (Shibata 1958, 91). Der Dialekt-Komplex in Japan ist sehr bedenklich. Und so schlägt Shibata vor, um diesen Dialekt-Komplex zu überwinden, sich mehr und mehr eine Gemeinsprache anzueignen (a.a.O. 137)¹¹. Shibata hat das sicherlich mit den besten Absichten vorgeschlagen, als Sprachwissenschaftler wollte er etwas für diejenigen tun, die die Standardvarietät nicht gut beherrschen. Wie bei der Höflichkeitsempfehlung kann jedoch durch diese Lösung das eigentliche Problem nicht beseitigt werden, nämlich das Problem derjenigen, die ausschließlich oder fast ausschließlich Dialekt sprechen können. Sein Vorschlag enthält wiederum ein Stereotyp: für ein besseres Leben brauche man keinen Dialekt, sondern die Standardvarietät. Darüber hinaus gibt es in Japan bezüglich der „Literacy“ auch die Behauptung, dass die Quote der alphabetisierten Japaner fast 99 % betrage und dass es in diesem Land gar keine Probleme mit Analphabetismus gebe (vgl. auch Yamashita 2009). Hinter diesen schmeichelhaften Zahlen versteckt sich allerdings die Tatsache, dass mehr als eine Million Menschen weder schreiben noch lesen können. Ihre Probleme werden durch dieses Stereotyp zugleich verschleiert und ignoriert. Diese schönrednerischen Behauptungen verschleieren auch ein anderes Problem, nämlich, dass man, selbst wenn man lesen und schreiben konnte, nicht zwangsläufig in der Lage war, wichtige Informationen richtig zu verstehen, wie etwa, dass ein Atomkraftwerk gefährlich sei und dass es gegebenenfalls zu einem schwerwiegenden Unfall kommen könne. Dabei haben wiederum die wissenschaftlichen Diskurse eine Rolle gespielt. Zum Schluss sollen diese Probleme behandelt werden.
Shibata spricht zwar nicht von der „Standardvarietät“, aber die „Gemeinsprache“, die er hier erwähnt, bedeutet in etwa „Standardvarietät“. Seiner Meinung nach gab es damals in Japan noch keine richtige „Standardvarietät“.
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5 Die verschleiernde Funktion im Fall Fukushima In Anlehnung an Adornos Worte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, sagte Ryuichi Sakamoto, Musiker und Aktivist hinsichtlich der Atomkraft: „Nach Fukushima zu schweigen, ist barbarisch“. Vor Fukushima wusste man zwar durchaus, dass Atomkraftwerke gefährlich sein können. Trotzdem hat man, etwas vereinfacht gesagt, den Diskursen der schönredenden Wissenschaftler, der Regierungssprecher und der Vertreter von Tepco geglaubt, die behaupteten, die Atomkraftwerke seien sicher, sie würden nicht havarieren, Japan brauche unbedingt Elektrizität, die Elektrizität der Atomkraftwerke sei sauberer und billiger usw. Die meisten Naturwissenschaftler haben in der gemeinsamen Planung mit der japanischen Regierung ein Stereotyp fingiert: für ein besseres Leben brauche Japan unbedingt Atomkraft. Ich nehme an, dass einige dieser Wissenschaftler wirklich davon überzeugt waren.Viele kannten die Gefahr, wollten sich jedoch nicht gegen die Atomenergie positionieren. Es gab aber einige Wissenschaftler, die von Anfang an gegen die Atomkraft waren und vor der Gefahr einer möglichen Havarie warnten. Einer von diesen wenigen Experten war Hiroaki Koide. Er schreibt in seinem Buch wie folgt: „Ich hatte von der Zukunft der Atomkraftwerke geträumt und so habe ich angefangen, in diesem Fach zu studieren. Aber bald erkannte ich die Gefahr und habe mein Denken um 180 Grad umgedreht. Ich dachte, Atomindustrie sei ein Symbol der Diskriminierung. Der Vorteil des Atomkraftwerks ist die Herstellung von Elektrizität. Aber es handelt sich dabei um nichts anderes als „bloße Elektrizität“. Menschenleben oder die Zukunft der Kinder sind viel wichtiger als diese Elektrizität. Kernenergie hat mehr Nachteile als Vorteile.Wir kennen auch Methoden, um Elektrizität zu erzeugen, ohne dabei Atomkraftwerke zu verwenden. Als ich die Gefahr der Atomkraft merkte, gab es damals in Japan nur drei Atomkraftwerke. Ich habe versucht, den anderen Bürgern diese Gefahr mitzuteilen und keine Atomkraftwerke mehr produzieren zu lassen, ich habe darüber nachgedacht, welche anderen Methoden es gibt. Aber vergebens, jetzt gibt es sogar 54 Atomkraftwerke in Japan …“ (Koide 2011, 2; übersetzt von H. Yamashita)
Er hat sich also im Gegensatz zu den meisten Wissenschaftlern eindeutig gegen die Atomenergie positioniert. Das bedeutet, dass er seine wissenschaftliche und berufliche Karriere als Forscher aufgeben musste. Da er gegen Atomkraftwerke war und dies in der Öffentlichkeit bekannte, konnte er und wollte er an der Universität nicht mehr in eine höhere Position aufrücken. Er ist immer noch – im Alter über 60 Jahren – als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Kyoto tätig. Hinter den euphemistischen Diskursen von der Sicherheit der Atomkraft werden auch solche Formen struktureller Diskriminierung verschleiert. Es ist heute nicht mehr schwierig, etwas gegen Atomenergie zu sagen oder zu schreiben, weil wir alle wissen, dass ein Atomkraftwerk havarieren und insofern
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sehr gefährlich sein kann. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami haben wir erkannt, dass wir in Bezug auf die möglichen Gefahren belogen wurden. Bei den Berichten der japanischen Regierung und den Nachrichten der Massenmedien direkt nach dem Erdbeben vom 11. 3. 2011 gab es ein großes Durcheinander. Darauf wird in dem vorliegenden Beitrag jedoch nicht eingegangen, denn in Deutschland gibt es dazu viele Informationen. Es ist aber interessant, dass die deutschsprachigen Japanologen oft die deutschen Medien kritisieren (Felix 2012, Coulmas/Stalpers 2011, Bürgin 2012). Nur ein einziges Beispiel sei hier angeführt. Sascha W. Felix schreibt über die deutsche Presse: „Wie Pilze schossen plötzlich tatsächliche oder vermeintliche ‘Experten’ aus dem Boden, die natürlich auch nicht über mehr Information verfügten als die Japaner, aber fröhlich vor sich hin spekulieren durften, um Deutschland auf den Untergang des Abendlandes bzw. der Welt vorzubereiten“ (Felix 2012, 20). In der Anmerkung fügt er hinzu: „Lieblingsausdruck dieser Experten ist: ‚wir gehen davon aus, dass…‘ Heißt im Klartext: eigentlich haben wir keine Ahnung, aber das macht sich nicht so gut, denn wir sind ja Experten. Also tun wir so, als hätten wir Ahnung, und erzählen irgendetwas, was Aufmerksamkeit in der Sensationspresse hervorruft. Dann dürfen wir auch mal ins Fernsehen oder erscheinen in der Presse und die ganze Familie kann sich darüber freuen, was Papa für ein toller Kerl ist“ (a.a.O.). Mit dieser Erklärung offenbart Felix den verschleiernden Sprachgebrauch der deutschen „Experten“. Mir scheint, dass sich diese Redeweise mit der Todai-Waho von Ayumu Yasutomi überschneidet. Um das letzte Beispiel der verschleiernden Funktion zu zeigen, möchte ich nun diese Todai Waho (‚Redeweise der Universität Tokio‘) vorstellen.¹² Yasutomi (2012, 16) zufolge verwenden viele Professoren der Universität Tokio diese Redeweise, um die anderen zu manipulieren. Sie wird jedoch auch von Politikern oder Bürokraten verwendet, um die Bürger zu manipulieren und den Mythos von der Sicherheit der Atomkraftwerke zu überzeugen.Yasutomi meint, dass wir den Bann dieser Redeweise brechen müssen, um uns von der struktuellen Diskriminierung der Gesellschaft zu befreien. Todai-Waho besteht aus den folgenden 20 Redeweisen: 1. Nicht der eigenen Überzeugung folgen, sondern der eigenen sozialen Position entsprechende Gedanken annehmen, 2. Den Kommunikationspartner so interpretieren, wie für die eigene soziale Position günstig ist, 3. Das Ungünstige ignorieren und nur auf das
„Todai“ ist eine Abkürzung für die Universität Tokio, vergleichbar mit „FU“ für Freie Universität Berlin. Die Universität Tokio wird in Japan als die beste und die angesehenste Universität betrachtet und steht an der Spitze der Universitäten-Hierarchie.
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Günstige erwidern, 4. Wenn nichts Günstiges vorhanden ist, nur über Belangloses sprechen und ausweichend darüber hinwegreden, 5. Mit vollem Selbstvertrauen sprechen, auch wenn es unzuverlässig und unlogisch ist, 6. Um eigene Probleme zu verschleiern, diejenige heftig kritisieren, die ähnliche Probleme haben, 7. Bei der Gesprächssituation sich so verhalten, als ob man eine hervorragende Person wäre, 8. Sich selbst als Zuschauer betrachten und den Gesprächspartner kategorisieren, etikettieren, beliebige Eigenschaften befestigen und substanzieren und als solche erklären, 9. Lügen mit Ausreden wie dieser: „Ich fürchte, es könnte zu einem Mißverständnis führen, aber“, 10. Einen Sündenbock beleidigen, damit den Hörer/Leser erpressen und eine entgegenkommende Haltung einfordern, 11.Wenn man merkt, dass der Gesprächspartner weniger Kenntnisse besitzt, dann ungeachtet des eigenen Ansehens mit vollem Selbstvertrauen möglichst viele, schwierige Begriffe verwenden, 12. Die Fairness der eigenen Diskussionsbeiträge bestätigen, auch wenn es unbegründet ist, 13. Für seine Position Günstiges sammeln, 14. Hammelfleisch auf das Ladenschild schreiben, aber Hundefleisch verkaufen, 15. Ehrlichkeit durch unverständliche Selbstkritik inszenieren, 16. Mit unverständlicher Logik den Gesprächspartner verwirren und die eigenen Behauptungen rechtfertigen, 17. Alle abweichenden Meinungen nicht gelten lassen, sich selbst als Wissender darstellen und alles aufzählen, was man weiß, 18. Alle abweichenden Meinungen nicht gelten lassen, das Gespräch hinziehen und dem Gesprächspartner plötzlich die eigene Meinung aufzwingen, 19. Immer das Ganze ausgewogen im Blick behalten, wenn man sich äußert, 20. Mit oberflächlichen Entschuldigungen die Schwierigkeiten überwinden, „wenn …, so muss ich mich entschuldigen …“ Ich nehme an, dass sich in diesen Redeweisen, sinngemäß übersetzt in diesen kommunikativen Strategien, die verschleiernde Funktion der Sprache verkörpert. Viele Wissenschaftler und Politiker benutzten und benutzen immer noch diese Redeweise, um auf ihren Behauptung zu bestehen, um ihre soziale Position bzw. ihre Meinung zu rechtfertigen oder um Vertrauen zu gewinnen. Wenn dem so ist, könnte man aber zu dem Schluss gelangen, dass die Sprache zwar eine verschleiernde Funktion haben kann, dass es aber die Menschen sind, die diese Funktion der Sprache geschickt missbrauchen und die anderen beliebig zu manipulieren.
6 Schluss In diesem Artikel habe ich versucht, ausgehend von den Anredepronomina, zu zeigen, dass sich die verschleiernde Funktion der Sprache sowohl auf der Satzebene als auch in wissenschaftlichen und politischen Diskursen finden lässt. Vor
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allem führt die oben genannte Todai Waho in Japan zu gravierenden sozialen Problemen. Ulrich Ammon hat einmal im Vorwort für den japanischen Band Gengo to sono Chii („Sprache und ihre Stellungen“) geschrieben, dass er mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit letztlich etwas zur Lösung von sozialen Problemen beitragen wolle.¹³ Wenn die verschleiernde Funktion der Sprache zur Vertuschung sozialer Probleme, für Diskriminierung oder Einschüchterung missbraucht wird, müssen wir als gesellschaftlich engagierte Linguisten ernsthaft über Möglichkeiten nachdenken, wie wir solchen Formen strukturellen Manipulation wirksam entgegentreten können.
Verzeichnis der Transkriptionszeichen * ** *3,5* *4:50* (… …) ↑ ↓ >vielleicht
Dh h ĂĐŚĞŶ t^ ,ĂŵďƵƌŐ DƺŶĐŚĞŶ dƐŝŶŐŚƵĂ ϵϰͬϵϱ t^ ϵϰͬϵϱ t^ ϵϮͬϵϯ t^ ϬϮͬϬϯ Abb. : Vergleich der Absolventenquoten – Ausländerstudium²⁹
Hatten Studierende dieser Gruppe nach einer verlängerten Studienvorbereitungszeit erst im Wintersemester 2004/05 ihr grundständiges Studium begonnen, so befanden sie sich zum Zeitpunkt unserer Datenanalyse im elften Semester ihres Fachstudiums. Zahlen für die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH Aachen), die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) und die Ludwig-MaximiliansUniversität München (LMU München) aus Heublein/Sommer/Dietz (2004, 60 RWTH Aachen, 80 HAW,
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Wie bereits beim Vergleich der Schwundquote gilt auch für diese Vergleiche, dass die Angaben der RWTH Aachen, der HAW und der LMU sich auf die Absolventen- und Schwundquoten aller Bildungsausländer beziehen, die Angaben der UDE nur auf die chinesischsprachige Austauschstudierendengruppe des Projekts. Die Zahlen belegen, dass die Absolventenquote des Projekts innerhalb der Schwankungsbreite der von den drei Vergleichsuniversitäten berichteten Absolventenquote für das Ausländerstudium generell liegt, möglicherweise sogar – wegen der großen Gruppe der sich noch im Studium befindlichen Studierenden – deutlich höher. Die abschließende Betrachtung des Projekterfolgs auf der Basis der Absolventenquote bleibt der geplanten Fortschreibung der Analyse im Jahre 2013 vorbehalten, die Einschätzung auf der Basis der vorliegenden Daten liefert zunächst nur Tendenzen.
3 Forschungsansätze aus dem Tsinghua-Projekt Ein kleiner Teil der für die Studienvorbereitung der Gruppen zur Verfügung stehenden Finanzmittel wurde über die Jahre – ergänzt um eingeworbene Mittel aus anderen Quellen³⁰ – auch dazu genutzt, Hinweise darauf zu generieren, wie die Schwundquoten gesenkt und die Absolventenquoten weiter erhöht werden können. Auftretende Probleme innerhalb des Austauschprojekts sollten genauer beschrieben und theoretisch so aufgearbeitet werden, dass sich Hinweise auf praktisch umsetzbare Lösungen innerhalb des Projekts ergeben. Im Fokus standen hierbei zunächst Störungen, wie sie bedingt durch die kulturellen Unterschiede³¹ innerhalb des akademischen Betriebs zwischen China und Deutschland gerade zu Beginn des neuen Studienabschnitts im Ausland auftreten. Divergierende Erwartungen und Erfahrungen in Bezug auf die Unterrichtsinteraktion, die Stellung der Prüfungsvorbereitung innerhalb des Gesamtkonzepts der Studienvorbereitung und die Rollenerwartungen an DozentInnen und StudentInnen erwiesen sich dabei als besonders stark kulturell determinierte Störfaktoren für die Unterrichtsgestaltung. Die Studierenden über die veränderten Rahmenbedingungen des Studiums im Sinne einer wirklichen Studienvorbereitung aufzuklären, stellt sich konsequenterweise immer zugleich als Relativierung der Handlungs-, Einstellungs-
Hamburg, 96 LMU, München). Zahlen für die UDE nach Angaben des Akademischen Auslandsamtes/ eigene Auszählungen. So wurden zwei der insgesamt acht im Rahmen des Projekts entstehenden/entstandenen Promotionen mit einem Stipendium des chinesischen Staates finanziert und eine weitere mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die hierzu angestellten Betrachtungen orientieren sich an den von Hofstede entwickelten Kulturdimensionen. Vgl. Hofstede (1986) und Hofstede (1991).
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und Wertgefüge der deutschen MitarbeiterInnen des Projekts dar. Dabei hilft die Aufklärung über die fremden Maßstäbe, das eigene Handeln in seiner kulturellen Bedingtheit zu erkennen und vermeidet so, die jeweils eigenen Maßstäbe absolut zu setzen. Das verhindert an vielen Stellen Kontaktblockaden zwischen den Studierenden und DozentInnen im Unterricht: „Kulturelle Unterschiede [im Handeln, DSA], die außerhalb der Erkenntnis liegen, werden gewöhnlich der Ungeschicktheit, Grobheit oder dem mangelnden Interesse des anderen zugeschrieben.“ (Hall 1976, 143) Die konkreten Auswirkungen der kulturellen Differenzen auf die Lehr-Lernsituation aufmerksam registrieren heißt, sie für eine prozesshafte Fortentwicklung des Projekts im Dienste einer möglichst effizienten Vorbereitung der Studierenden auf die sprachlichen (und die darüber hinausgehenden) Anforderungen eines Studiums in Deutschland zu nutzen.³² Dass die chinesischen Studierenden innerhalb des Projekts sprachlich auf ihr Studium vorbereitet werden und verbreitet vor allem sprachliche Schwierigkeiten für ihr Scheitern in Deutschland verantwortlich gemacht werden, rückt natürlich vornehmlich Aspekte des Fremdspracherwerbs und des (Fremd‐)Spracherhalts in den Mittelpunkt der im Rahmen des Projekts angestellten Untersuchungen. „An erster Stelle“, so resümiert Hongjie Chen (2012, 51) die Forschungslage zu den Ursachen des Scheiterns in Deutschland, „sind die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache anzuführen. Unzureichende Sprachkenntnisse haben dabei in hohem Maße zu vielen anderen Problemen beigetragen, wie z. B. geringes Verständnis der Vorlesungen, geringe Teilnahme an Seminaren, Kontaktscheu gegenüber deutschen Studierenden sowie mangelhafte Integration in die deutsche Gesellschaft und Kultur.“³³ Tatsächlich dokumentieren auch im Rahmen des Projekts angestellte Untersuchungen nicht nur einen tendenziell langwierigeren Fremdspracherwerb, sondern auch eine unter den Bedingungen des Fachstudiums nachlassende Sprach- und Sprechfertigkeit der chinesischen Studierenden (vgl. Chen, Yu 2012, 51). Den Zusammenhang zwischen den zunehmenden sprachlichen Limitierungen der Studierenden und den sozialen Bedingungen, unter denen die Studierenden ihr Studium absolvieren, untersucht zurzeit ein ebenfalls mit Mitteln des Projekts initiiertes Folgeforschungsvorhaben (vgl. Ossenberg (in Vorbereitung)). Forschung, konkrete Studienvorbereitung und Arbeit von Institutionen, die das Fachstudium begleiten, arbeiten auf skizzierte Weise einander zu, was dazu beitragen soll, dass sich die Erfolgsindikatoren weiter verbessern. Nicht zuletzt die Kommunikation der Verzahnung von Forschung und Praxis an die Partner in China stärkt das Vertrauen in die Arbeit vor Ort und verstetigt letztlich das Interesse chinesischer
Vgl. ausführlich Scholten-Akoun/Sun (2009). Chen, Hongjie (2012, 51).
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Studierender am Studienangebot der UDE. Die berichtete Entwicklung an der UDE, die sich in den letzten Jahren vom Trend des Auslandsstudiums junger ChinesInnen ansatzweise sogar abkoppeln konnte, belegt dieses Interesse. In größerem Umfang gelingt jedenfalls – und das ist sicher der bedeutendste Aspekt des Projekts – in steigendem Maße die Grundlegung der Ausbildung vieler junger AkademikerInnen und deren Sozialisierung in einer kulturell different strukturierten akademischen Umwelt. In geringerem Umfang trägt das dann auch – und Indizien dafür hat der vorliegende Bericht geliefert – dazu bei, die Bedeutung des Deutschen als Wissenschafts- und Wirtschaftssprache zu stärken.³⁴
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In „geringerem Umfange“ ist wichtig zu betonen, weil Ammon schon früh auf einen Trend hingewiesen hat, der eine solche Wirkung der Internationalisierung der Hochschulen konterkariert. Die zunehmenden Einrichtungen englischsprachiger Studiengänge an deutschen Universitäten marginalisieren Deutsch als Wissenschaftssprache und senken die Motivation zum Deutschlernen für Studienzwecke, langfristig vielleicht auch die Motivation zum Studium in Deutschland generell. Vgl. hierzu auch He (2013).
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Die deutsche Sprache für chinesische Studierende an deutschen Hochschulen Einstellungen, Gebrauch und Beherrschung Abstract: Dieser Aufsatz thematisiert eine empirische Erhebung zur Frage, wie chinesische Studierende an deutschen Hochschulen mit der deutschen Sprache umgehen. Mittels Fragebögen werden die Einstellungen der untersuchten Personen zu Deutsch sowie deren Sprachengebrauch im Studium und Alltag ermittelt. Zudem wird durch simulierte mündliche Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH) das Niveau der Sprechkompetenz im Deutschen gemessen und dann mit der Note in der DSH, welche die Probanden vor dem Eintritt ins Fachstudium bestanden haben, verglichen. Daraus ergibt sich die Entwicklung der Sprechkompetenz. Anschließend werden mittels statistischer Tests Faktoren aus den Einstellungen und dem Sprachengebrauch bestimmt, die sich auf die mündliche Kompetenz im Deutschen auswirken. Keywords: chinesische Studierende, Deutsch, Chinesisch, Einstellungen, Sprachengebrauch, Sprechfertigkeit im Deutschen
1 Einleitung Laut der amtlichen Hochschulstatistik von dem Statistischen Bundesamt (2012) studierten im Wintersemester (WS) 2011/12 insgesamt 25.521 Chinesen an deutschen Hochschulen. Damit stellen sie die größte Gruppe ausländischer Studierender dar. Ungefähr jeder zehnte ausländische Studierende kommt aus China. Der schnelle Zuwachs an chinesischen Studierenden in Deutschland begann Ende des letzten Jahrhunderts. Während im WS 1996/97 lediglich 4.980 chinesische Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren, lag deren Anzahl nur neun Jahre später bereits bei 27.390. Allerdings ging die Zahl seit 2006 leicht zurück. Die chinesischen Studierenden an deutschen Hochschulen sind in ihrer absoluten Mehrheit Bildungsausländer, die ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht an einer (inner‐)deutschen Bildungseinrichtung erworben haben und in der Regel erst zum Studium nach Deutschland gekommen sind. Der Anteil liegt in den letzten Jahren stabil bei rund 95 %. Die Entwicklung der Zahl der Bildungsausländer verläuft ähnlich wie die der Gesamtzahl der chinesischen Stu-
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$Q]DKO FKLQHVLVFKHU 6WXGLHUHQGHU $Q]DKO %LOGXQJVDXVOlQGHU DXV &KLQD Abb. 1: Anzahl der Studierenden aus China an deutschen Hochschulen (Quelle: Statistisches Bundesamt)
dierenden. Seit dem WS 2000/01 bilden die Chinesen die größte Gruppe der Bildungsausländer an deutschen Hochschulen (Abb. 1). Für den Studienaufenthalt in Deutschland ist der Erwerb der deutschen Sprache unentbehrlich, bereitet den chinesischen Studierenden jedoch große Schwierigkeiten (vgl. z. B. Bauersachs et al. 1984; Meng 2005; Guan 2007; Qi 2007). Auch in den zahlreichen Untersuchungen über ausländische Studierende in Deutschland wurden die Deutschdefizite der Studierenden einhellig festgestellt (vgl. z. B. Isserstedt/Schnitzer 2005; Isserstedt/Link 2008; Bärenfänger 2008; Petereit/Spielmanns-Rome 2010). Für Heublein (2006, 9) sind mangelnde Deutschkenntnisse ein zentrales Problem des Ausländerstudiums, und zwar in allen Studienphasen. Die überwiegende Zahl der empirischen Untersuchungen sind jedoch Querschnittsbeobachtungen, die wenige Informationen über sprachliche Entwicklungen im Zeitverlauf liefern. Sporadisch wurde berichtet, dass sich die Sprachprobleme mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland verringern (vgl. EMNID 1963; Schade 1968; Kotenkar 1986; Ehling 1987 und speziell zu chinesischen Studierenden Bauersachs et al. 1984). Andererseits wurde in der jüngeren Literatur davon berichtet, dass chinesische Studierende während des Deutschlandaufenthalts nur wenig Deutsch sprechen und ihre Sprachkenntnisse nicht wesentlich verbessert haben (vgl. Han 2006, 408; Wang 2007, 11 f., 314 ff.). Anzu-
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merken ist, dass sich diese Aussagen über die sprachliche Entwicklung nicht auf Sprachtests stützen, sondern entweder auf den Selbsteinschätzungen der Studierenden oder den Empfindungen der Beobachter basieren. Der Aufenthalt in der zielsprachlichen Umgebung scheint nicht unbedingt wie intuitiv erwartet zum Beherrschen der Zielsprache zu führen. In der Zweitspracherwerbsforschung wird der Kontext des Auslandsstudiums mehr als kompliziert angesehen. Eine Reihe von zugrunde liegenden Fragen gilt als unbeantwortet: “How students actually spend their time while abroad, which language they speak with friends […], the purpose for which and the amount of time they actually spend using the target language.” (Freed 1995, 28)
Die vorliegende Untersuchung zielt eben auf die Beantwortung der Fragen ab, ob die chinesischen Studierenden in Deutschland Deutsch für wichtig halten, zu welchem Zweck und wie oft sie Deutsch benutzen und ob hierzu andere Sprachen in Konkurrenz stehen. Weiterhin gilt zu untersuchen, wie gut die chinesischen Studierenden Deutsch beherrschen und ob sich ihre Kenntnisse im Laufe des Studiums verbessern. Anstatt alle Aspekte der Sprachkompetenz zu betrachten, konzentriert sich die Arbeit auf die Fertigkeit des Sprechens. Durch zeitlich auseinander liegende Sprachtests werden das Niveau und die Entwicklung der Sprechkompetenz ermittelt.
2 Stichprobe und Datenerhebung 2.1 Probandenauswahl Probanden der vorliegenden Untersuchung sind in erster Linie chinesische Studierende, die als Bildungsausländer mit ausgewiesenen Deutschkenntnissen zum Studium an einer deutschen Hochschule zugelassen wurden und einen akademischen Abschluss im Erst- oder Masterstudium anstreben. Ausgeschlossen sind Studierende, die sich hinsichtlich z. B. der Studienvoraussetzungen und -bedingungen, der finanziellen Lage und des Alters von der Mehrheit der Studierenden unterscheiden. Denn diese Faktoren können sich auf die Einstellungen zu Deutsch, den Sprachengebrauch und den Weitererwerb von Deutsch auswirken (vgl. z. B. Kuhs 1989; Spolsky 1990, Segalowitz/Freed 2004) und dadurch die Formulierung präziserer Aussagen erschweren. Dies gilt zuerst für jene Bildungsausländer, die keinen Abschluss an der immatrikulierten deutschen Hochschule anstreben oder sich im Promotionsstudium befinden. Ausge-
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schlossen werden ferner diejenigen chinesischen Bildungsausländer, die ohne oder nur mit geringen Deutschkenntnissen das Studium aufgenommen haben. Diese sind vor allem in den mehr oder weniger englischsprachigen Studiengängen immatrikuliert, in denen Deutschkenntnisse nicht benötigt werden oder erst im Verlauf des Studiums, bspw. durch Pflichtkurse, aufgebaut werden. Da in der amtlichen Studentenstatistik die chinesischen Studierenden nicht nach den oben definierten Kriterien gruppiert sind, ist die Größe der Population dieser Studie unklar. Demzufolge konnte eine Stichprobe nach dem Zufallsprinzip nicht realisiert werden. Außerdem scheint eine dezentrale Erhebung in verschiedenen Befragungsregionen aus technischen, organisatorischen und ökonomischen Gründen kaum möglich. Für die vorliegende Untersuchung wurde daher eine Gruppe von chinesischen Studierenden an der Universität Duisburg-Essen herangezogen, die nach einer Deutschausbildung an einem Sprachkolleg in Duisburg die DSH an der hiesigen Universität bestanden und das Fachstudium dort aufgenommen haben. Hervorzuheben ist, dass die ausgewählten Studierenden die DSH an demselben Prüfungsinstitut bestanden haben. Dieses Profil macht erstens das Deutschniveau der Probanden zu Beginn des Fachstudiums definierbar und messbar. Zweitens wird die Schwankung des Schwierigkeitsgrads von den einzelnen DSH-Prüfungen, die großenteils aus der dezentralisierten Erstellung, Organisation und Benotung der Prüfung von verschiedenen Instituten resultiert, in Grenzen gehalten. Die Vergleichbarkeit der DSH-Leistungen der Probanden wird dadurch gesichert. Insgesamt haben 72 chinesische Studierende an allen Erhebungsetappen der vorliegenden Untersuchung teilgenommen. Diese Studierenden stammen aus fünf Gruppen, die von 2002 bis 2005 zeitlich nacheinander nach Duisburg gekommen sind. Die DSH haben sie jeweils bei einem der insgesamt elf Termine bestanden.
2.2 Fragebogen und mündliche DSH-Prüfungen Eine schriftliche Befragung mittels Fragebogen wurde durchgeführt, um Rahmeninformationen über die sprachlichen und sozialen Situationen im studentischen und alltäglichen Leben der Probanden zu ermitteln. Der Fragebogen wurde auf Chinesisch verfasst und gliedert sich in fünf Teile: Angaben zum Studium, zur Anwendung der deutschen Sprache in Studium und Alltag, zu sozialen Kontakten, Selbsteinschätzung jetziger Deutschkenntnisse sowie persönliche Angaben. In dem vorliegenden Aufsatz wird nur eine Auswahl von Variablen dargestellt und interpretiert. Den gesamten Fragebogen und dessen deutsche Übersetzung findet man in Chen (2012, 207 ff., Anhang 1 und 2).
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Da alle Probanden mit einer bestandenen DSH ins Fachstudium eingetreten sind, kann das Testformat DSH als Messinstrument eingesetzt werden. Die bestandene mündliche DSH dient als Messung der Ausgangskompetenz und die zeitversetzte Kontrollmessung wird realisiert, indem die DSH wiederholt wird, d. h. die Studierenden werden erneut mit einer mündlichen Prüfung in Form der DSH konfrontiert. Um die Reliabilität und Validität des Re-Tests zu gewährleisten und damit eine solide Grundlage für den späteren Leistungsvergleich zu schaffen, wurde der ReTest so konzipiert, dass jeder einzelne Test die Prüfungsbedingungen der DSH widerspiegelte. Die Prüfungsaufgaben wurden auf der Grundlage des Originalmaterials der DSH der Universität Duisburg-Essen erstellt. Für die Dokumentation der Prüfungen wurde der originale Protokollbogen und Bewertungsschlüssel besorgt. Als Prüfer wurden 6 DaF-Dozenten eingesetzt, welche seit 2003 die mündliche DSH der Universität Duisburg-Essen abgenommen und benotet haben. Zwei nebeneinander liegende Räume standen jeweils als Vorbereitungs- und Prüfungsraum zur Verfügung. Im Zeitraum von März bis Mai 2007 wurden die 72 Einzeltests durchgeführt, wobei stets versucht wurde, die Bedingungen bei der mündlichen DSH zu simulieren und beim einzelnen Test konstant zu halten.
3 Einstellungen zu Deutsch und zu dessen Weitererwerb Ob man eine Fremdsprache gerne verwendet, ob man sich bemüht, sie weiter zu erwerben, hängt in großem Ausmaß davon ab, welche Einstellung man zu dieser Sprache hat. Einstellungen sind latente Variablen, die nicht direkt beobachtbar sind. Deshalb müssen beobachtbare Sachverhalte, also Indikatoren, dem Begriff zugeordnet werden, so dass dieser auch erfass- bzw. messbar wird. Wegen des begrenzten Rahmens der Untersuchung wurde im Fragebogen das facettenreiche Konstrukt der Einstellungen nur ansatzweise durch ausgewählte Fragen gemessen.
3.1 Einstellungen zur Nützlichkeit der Deutschkenntnisse Im Fragebogen gibt es einen Fragenkomplex mit fünf Items in Form von Statements. Die Probanden wurden aufgefordert, zu jedem Statement den Grad der Zustimmung oder Ablehnung auf eine Fünfer-Skala von 5 = „trifft völlig zu“ bis 1 =
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„trifft gar nicht zu“ anzugeben. Die Antworten der Probanden lassen sich in der folgenden Tabelle darstellen: Statement Angemessene Deutschkenntnisse sind für eine erfolgreiche Durchführung des Fachstudiums unentbehrlich. Man braucht nur so viel Deutsch, dass man die Prüfungen an der Universität besteht. Mit besseren Deutschkenntnissen kann man sich in die deutsche Gesellschaft besser integrieren. Gute Deutschkenntnisse tragen zur Aufnahme und Pflege der Sozialkontakte bei. Mit besseren Deutschkenntnissen hat man später bessere Berufsaussichten.
Skalenmittelwert , , , . ,
Betrachtet man die Skalenmittelwerte der Statements, ist bei den Probanden ein überwiegend positives Meinungsbild zur Nützlichkeit der Deutschkenntnisse festzustellen: Statement 3 und 5 fanden kaum Ablehnung. Gute Deutschkenntnisse führen nach Ansicht der Probanden nicht nur zur gesellschaftlichen Integration, sondern auch zum Erfolg im Studium und Beruf. Statement 2 ist das einzige, bei dem die Meinungen relativ auseinander gingen.
3.2 Deutschkurs nach der DSH Ein weiterer Indikator für die Einstellungen zur Zielsprache ist der Besuch eines oder mehrerer Deutschkurse nach der DSH. Denn die Teilnahme an einem studienbegleitenden Sprachkurs ist nicht verpflichtend. Wer sich freiwillig für solche Sprachkurse anmeldet, dem sind seine eigenen Sprachdefiziten bewusst oder/und er ist motiviert, seine Deutschkenntnisse zu vertiefen. Außerdem ist es ein entscheidender Unterschied, ob man seine Deutschkenntnisse nur vertiefen will oder tatsächlich etwas gegen die Sprachdefizite unternimmt. Neun Probanden haben nach der DSH einen Deutschkurs besucht. Mit 12,5 % liegt die Quote der Kursbesucher deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 48 % in der 18. Sozialerhebung¹ vom Jahr 2006 (vgl. Isserstedt/Link 2008, 26). Für die Probanden, die nach der DSH keinen Deutschkurs besuchten, gab es eine weiterführende Frage nach den Gründen für den Verzicht auf weiterführen-
Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks wird alle drei Jahre durchgeführt und stellt die umfassendste Dokumentation der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland dar. Die Situation der ausländischen Studierenden wird gesondert ermittelt und analysiert, auf die sich dieser Aufsatz bezieht.
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den Unterricht. Der am häufigsten genannte Grund ist der Zeitmangel. Mehr als 60 % der Antwortenden haben den Grund angekreuzt. Mit deutlichem Abstand folgen die Gründe „keine inhaltlich angemessenen Kurse“ und „Kursgebühren zu hoch“ (beide 21,3 %). Knapp ein Fünftel der Antwortenden behauptet, nicht über studienbegleitende Deutschkurse informiert zu sein. Zehn Probanden (16,4 %) fanden einen Kursbesuch nicht nötig. Als weitere Gründe wurden genannt: keine Lust, Studiengang komplett auf Englisch, wegen Aufenthalts in China verpasst und Verschlossenheit bzw. keine Lust auf menschlichen Kontakt. In der 18. Sozialerhebung ist die Begründung „nicht nötig“ hingegen mit 30 % der am häufigsten genannte Grund (vgl. Isserstedt/Link 2008, 26). Vergleicht man die Zahlen der beiden Untersuchungen, scheint die Situation bei den chinesischen Probanden viel dramatischer: die häufiger empfundene Notwendigkeit auf der einen Seite und die wesentlich niedrigere Teilnahmequote auf der anderen Seite.
3.3 Notwendigkeit des Weitererwerbs von Deutschkenntnissen Im Fragebogen wird weiterhin danach gefragt, ob und in welchen Bereichen die Probanden ihre jetzigen Deutschkenntnisse verbessern wollen. Insgesamt lässt sich bei den meisten Probanden eine positive Einstellung feststellen. 70 der 72 Probanden (97,2 %) hielten eine Vertiefung für notwendig. Den Wunsch, höhere Sprechkompetenz im Deutschen zu erzielen, äußerten 69 Probanden. Die einzige Ausnahme bildet hier eine Germanistikstudentin im Hauptstudium, die eher eine Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz wünscht.
4 Sprachengebrauch der chinesischen Studierenden 4.1 Sprachen der Lehre an der Universität An der Universität ist die Sprache des Studiengangs, der Lehrveranstaltungen, der Skripte oder Pflichtlektüre etc. institutionell vorgeschrieben. Die Studierenden haben keinerlei Einfluss darauf. Eine Sprachvorgabe dieser Art beeinflusst aber in großem Maße, in welchen Sprachen die Studierenden mit den Lehrenden und Kommilitonen kommunizieren. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Dominanz der englischen Sprache als internationale Wissenschaftssprache wird das Beherrschen des Englischen als zugrunde liegende Studierfähigkeit angesehen. In den internationalen Studiengängen wird neben oder statt Deutsch auch Englisch
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als Lehr- und Arbeitssprache eingesetzt. Auch in den deutschsprachigen Studiengängen gibt es zahlreiche Veranstaltungen, die in Englisch abgehalten werden. Unabhängig von der Unterrichtssprache können die Studierenden heutzutage englischsprachige Fachliteratur kaum umgehen. Insgesamt ist das Gewicht der englischen Sprache schwer zu erfassen. Es variiert je nach Studiengang und Semester und hängt auch direkt von den Lehrenden der Veranstaltungen ab. Um Einsicht in die sprachliche Situation an der Universität zu erhalten, wird im Fragebogen nach Sprachen der Lehre und deren Gewichtung gefragt. Nur eine Probandin studiert komplett auf Englisch. 31 Probanden (43 %) haben sowohl englisch- als auch deutschsprachige Lehrveranstaltungen. Davon gibt es einen Probanden, der das Studium überwiegend auf Englisch hat. Bei acht Probanden nehmen die beiden Sprachen eine gleichrangige Stellung ein und bei 22 Probanden (31 %) werden die Lehrveranstaltungen größtenteils auf Deutsch abgehalten. Für 40 Probanden (56 %) ist Deutsch die einzige Sprache der Lehre. Insgesamt lässt dies die Behauptung zu, dass Deutsch als Sprache der Lehre im Studium noch eine dominante Rolle spielt. Ob sich diese Situation mit dem zunehmenden Angebot an fremdsprachlichen Studiengängen an deutschen Hochschulen verändert, muss abgewartet werden.
4.2 Verwendung der deutschen Sprache im Studium und Alltag Im Fragebogen werden vier für das Studium und Leben typische Situationen der Sprachverwendung ausgewählt nämlich 1) in Fachgesprächen, 2) bei der Lektüre der Fachliteratur, 3) bei der Medienrecherche für Alltagsinformationen und 4) zum Zweck der Unterhaltung in der Freizeit. Die ersten beiden Variablen beziehen sich eher auf den Sprachgebrauch im Rahmen des Studiums und die letzten beiden vor allem auf den alltäglichen Bedarf. Abbildung 2 zeigt die Skalenmittelwerte (1 = „nie“, 5 = „sehr oft“) der Gebrauchshäufigkeit der verschiedenen Sprachen in den abgefragten Situationen. Es ist deutlich zu erkennen, dass sowohl im Studium als auch im Alltag nur Deutsch und Chinesisch eine rege Verwendung finden. Englisch ist lediglich eine vergleichsweise marginale Bedeutung zuzuschreiben. Im Studium wird Deutsch insgesamt etwas häufiger verwendet als Chinesisch (3,68 vs. 3,15). Dieser Vorsprung ist allerdings eindeutig der Lektüre der deutschsprachigen Fachliteratur zu verdanken: Im Studium wird wesentlich mehr auf Deutsch gelesen als auf Chinesisch (3,71 vs. 2,47). Diese Situation ist die einzige der vier abgefragten Situationen, wo Deutsch Chinesisch überragt. Ein anderes Ergebnis wäre hier auch kaum denkbar, denn die Probanden studieren in Deutschland, wo Lehrveranstaltungen mehrheitlich auf Deutsch abgehalten
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Abb. 2: Verwendung von Sprachen im Studium und Alltag (Quelle: Chen 2012, 109)
werden und die einschlägige Literatur in deutscher Sprache angeboten wird. Überraschend ist eher, dass überhaupt so viel auf Chinesisch gelesen wird; 29 % der Probanden machen das nämlich oft oder sehr oft. Bei Gesprächen über fachliche Themen wird Deutsch von Chinesisch knapp übertroffen (3,65 vs. 3,83). Mit Ausnahme von zwei Probanden wurde Deutsch von allen Probanden bei Fachgesprächen benutzt. 56,9 % der Probanden bewerteten die Verwendung mit „oft“ oder „sehr oft“. Bei der Verwendung von Chinesisch ist eine Polarisierung zu beobachten: Während 12,5 % der Probanden nie auf Chinesisch über fachliche Themen diskutieren, machen 73,6 % der Probanden dies oft oder sehr oft. Die Verwendung von Deutsch in der Freizeit liegt eindeutig unter der von Chinesisch (3,26 vs. 4,29). Besonders zum Zweck der Unterhaltung wird Deutsch wenig bevorzugt. Der Skalenmittelwert von 2,86 besagt eine Häufigkeit unter der Stufe „gelegentlich“. Im Gegensatz dazu wird Chinesisch fast absolut verwendet (4,42). 93,1 % der Probanden benutzen oft oder sehr oft chinesischsprachige Unterhaltungsangebote wie Bücher, Zeitschriften, Filme, Fernsehsendungen etc. Die rege Verwendung von Chinesisch in der Freizeit wird vor allem durch das Internet ermöglicht und begünstigt. Es ist den einzelnen Internetbenutzern überlassen, von welchem Anbieter und in welcher Sprache sie Informationen beziehen und Unterhaltungsprogramme genießen. Durch die virtuellen Communities und Foren ist man nicht nur mit Menschen im Heimatland, sondern auch mit anderen
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Auslandschinesen vernetzt. Dass der Austausch in der Muttersprache stattfindet, ist nicht nur bequemer und effizienter, sondern für viele ist die Existenz der chinesischen Gemeinschaft im Internet auch psychisch von großer Bedeutung. Sie teilen ihre Geschichte und Gefühle, suchen Trost und emotionale Unterstützungen.
4.3 Soziale Kontakte Soziale Kontakte liefern aus einer anderen Perspektive Aufschlüsse darauf, in welchen Sprachen und wie oft die untersuchten Personen mit anderen Menschen kommunizieren. Die Kontaktpersonen der Probanden wurden anhand ihrer Muttersprache zu Gruppen zusammengefasst: deutsche Muttersprachler, andere Chinesen und nicht-chinesische Ausländer (NCA). Die tatsächlich gebrauchten Sprachen bei der Kommunikation müssen aber nicht unbedingt mit den Muttersprachen der Teilnehmer übereinstimmen. Deswegen muss zusätzlich überprüft werden, welche Sprachen man bei der Kommunikation mit Personen bestimmter Muttersprache(n) verwendet, und zwar jeweils mit welcher Häufigkeit. Die Antworten zeigen folgendes Bild: Die Kommunikation mit deutschen Muttersprachlern findet größtenteils auf Deutsch statt (Skalenmittelwert = 4,44, 1 = „nie“ bis 5 = „sehr oft“), gelegentlich auf Englisch (2,43) und nur in sehr geringen Fällen auf Chinesisch (1,18). Unter den Chinesen wird fast ausschließlich auf Chinesisch kommuniziert (4,93). Mit NCA wird deutlich mehr auf Deutsch kommuniziert (3,96) als auf Englisch (2,40). Der Abstand zwischen Deutsch und Englisch fällt kleiner aus als bei den Kontakten mit Deutschen. Dies hängt sicherlich von den Deutschkenntnissen ab, über welche die NCA verfügen. Insgesamt ist die Behauptung zulässig, dass die Probanden mit Deutschen und NCA hauptsächlich auf Deutsch kommunizieren und mit ihren Landsleuten fast ausschließlich auf Chinesisch. Abbildung 3 zeigt die Skalenmittelwerte (1 = „nie“, 5 = „sehr oft“) der Kontakthäufigkeiten mit verschiedenen Personengruppen. Sowohl fachlich als auch privat bestehen die meisten Kontakte zu den anderen Chinesen. Besonders im privaten Bereich sind die Kontakte mit den Landsleuten ausgeprägt dominant (4,43). 59,7 % der Probanden geben an, sehr oft private Kontakte zu Chinesen zu haben.Weitere 27,8 % bezeichnen die Kontakte als häufig. Die wenigsten Kontakte haben die Probanden zu den NCA. Anders als mit ihren Landsleuten sind die Probanden mit deutschen Muttersprachlern und NCA fachlich enger vernetzt als privat.
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Abb. 3: Soziale Kontakte (Quelle: Chen 2012, 114)
Dieser Befund deckt sich mit den Antworten auf eine andere Frage im Fragebogen nach den Partnern der Fachgespräche: Die Häufigkeit der mit chinesischen Studierenden geführten Fachgespräche liegt mit einem Skalenmittelwert von 3,83 eindeutig höher als die mit nicht-chinesischen Studierenden (2,82) und Lehrenden (2,51).
4.4 Wohnverhältnisse Die Wohnverhältnisse der Studierenden sind ein relevanter Aspekt ihres sozialen Umfelds. Die Kontakte mit den Mitmenschen können einerseits im großen Maße von den Wohnverhältnissen beeinflusst sein. Andererseits lässt sich an der Wohnform ablesen, mit welchen Personen der Befragte gerne zusammenbleibt, besonders wenn er sich diese Wohnform selbst ausgesucht hat. Sporadische Beobachtungen lassen die Vermutung zu, dass die chinesischen Studierenden mit ihren Landsleuten zusammenwohnen und demzufolge auch in Deutschland im privaten Umfeld in der Muttersprache kommunizieren. Anhand der Anzahl der Mitbewohner mit Deutsch, Chinesisch oder sonstigen Sprachen als Muttersprache(n) lassen sich die Wohnverhältnisse in drei Kategorien einordnen, nämlich rein chinesische, nicht-chinesische und gemischte Umgebung. Unter einer rein chinesischen Umgebung wird verstanden, dass Chinesisch die Muttersprache aller Mitbewohner ist. In einer nicht-chinesischen Umgebung wohnt man, wenn kein Mitbewohner Chinesisch als Muttersprache
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spricht. Von einer gemischten Umgebung ist zu sprechen, wenn es unter den Mitbewohnern sowohl chinesische als auch nicht-chinesische Muttersprachler gibt. Probanden, die alleine wohnen, werden der zweiten Kategorie zugeordnet. 50 Probanden wohnen in einer rein chinesischen Umgebung. Das macht einen Anteil von 69,4 % aus und damit die größte Gruppe. Davon haben 35 Probanden eine private Wohnung gemietet. Alle 18 Probanden, die mit (Ehe)Partner/in zu zweit wohnt, haben eine rein chinesische Wohnumgebung. Dies impliziert gleichzeitig, dass der/die (Ehe)Partner/in ebenfalls Chinesisch als Muttersprache spricht. Mit Abstand folgen 17 Probanden (23,6 %), die in sprachlich gemischten Verhältnissen wohnen. Lediglich fünf Probanden (6,9 %) haben keine chinesischen Mitbewohner, davon wohnen wiederum zwei alleine. Nicht uninteressant ist der Befund, dass die sprachlich gemischte Umgebung fast ausschließlich (16 von 17 Probanden) im Studentenwohnheim vorkommt. Hier ist die Vermutung zulässig, dass diese Konstellation durch Zuordnung vom Studentenwerk zufälligerweise zustande gekommen ist – das wurde auch mehrfach von den Probanden bestätigt. Im Gegensatz dazu bilden die Probanden auf dem freien, privaten Wohnungsmarkt fast ausschließlich mit ihren Landsleuten eine Wohngemeinschaft. 35 der 37 Probanden, die nicht alleine in einer privaten Wohnung wohnen, haben nur chinesische Mitbewohner. Die Antworten auf die Frage nach der bisher längsten Wohnform in Deutschland liefern ein ähnliches Bild: 49 Probanden (damit 68,1 %) haben am längsten ausschließlich mit Chinesen zusammen gewohnt. Mit Abstand folgen 14 Probanden (19,4 %), die am längsten in einer sprachlich gemischten Wohnumgebung gelebt haben. Acht Probanden (11,1 %) behaupten, dass sie am längsten allein gewohnt haben. Nur ein Proband hat am längsten ausschließlich mit NichtChinesen die Wohnung geteilt.
5 Beherrschung der Sprechfertigkeit im Deutschen 5.1 Noten des Re-Tests In der DSH-Simulation, die als Re-Test dient, wurden zwölf Studierende (16,7 %) für ihre besonders guten Deutschkenntnisse mit der Note DSH-3 ausgezeichnet. 46 Studierende (63,9 %) bekamen die Note DSH-2, die als Nachweis der sprachlichen Studierfähigkeit für die uneingeschränkte Zulassung oder Einschreibung zu allen Studiengängen und Studienabschlüssen gilt. 14 Studierende (19,4 %) haben nur die Stufe DSH-1 erreicht. D. h. diese Studierenden, die vorher mit einer bestandenen DSH zumindest auf der Niveaustufe DSH-2 das Fachstudium aufgenommen
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haben, könnten nun wegen nicht ausreichender Sprachfähigkeit nur in Ausnahmefällen zugelassen werden.²
5.2 Vergleich der Noten beider Messungen Die sprachliche Entwicklung jedes Probanden ergibt sich aus dem Vergleich der Noten in der echten und simulierten DSH. Bevor die Noten verglichen werden können, ist eine Vereinheitlichung bzw. Umrechnung der Noten vorzunehmen. Hintergrund dafür ist die Verabschiedung der neuen Rahmenordnung über Deutsche Sprachprüfungen für das Studium an deutschen Hochschulen (RO-DT) im Jahr 2004. Unter den 72 Probanden gibt es 53 Studierende, die zu einem der vier Testtermine die DSH im alten Format bestanden haben. Die anderen 19 Probanden haben ihr Zeugnis in einer der sieben reformierten Prüfungen erworben. Die Reform betrifft vor allem die Einführung differenzierterer Ergebnisse. Dabei wurde die grobe Zweiteilung des Prüfungsergebnisses in „bestanden“ und „nicht bestanden“ durch eine 4-stufige Notenskala von „DSH-3“, „DSH-2“, „DSH-1“ bis „nicht bestanden“ ersetzt. Wenn mindestens 67 % der Anforderungen erfüllt sind, wird nach der alten RO-DT das Ergebnis „bestanden“ und nach der neuen RO-DT je nach erreichter Prozentzahl DSH-2 oder DSH-3 ausgewiesen. Für die Umrechnung der Noten in beiden Systemen muss man die für die Probandengruppe eingesetzten Benotungsverfahren im Detail betrachten und auf die erst in den Prüfungsdokumentationen zu findenden, differenzierteren Zwischennoten zurückgreifen. Im alten Prüfungsverfahren hat das Prüfungsteam bei der Bewertung zuerst das Schulnotensystem von 1,0 bis 6,0 verwendet. Die 4,0 bildete die Grenze zwischen „bestanden“ und „nicht bestanden“. Im neuen Bewertungssystem werden zuerst Punkte vergeben. Die Summe der erreichten Punktzahlen wird anschließend in das prozentuale Ergebnis umgesetzt und einer Niveaustufe von „nicht bestanden“ bis DSH-3 zugeordnet. Um eine direkte Vergleichbarkeit zu erreichen, werden Noten anderer Formen in Schulnoten umgerechnet (Genaues Umrechnungsraster siehe Chen 2012, 85). Vergleicht man die Noten der echten und simulierten DSH, ergibt sich dann Abbildung 4.
DSH-3 bedeutet, dass zumindest 82 % aller 300 Punkte erreicht wurden. DSH-2 entspricht dem Punktbereich 67– 81 % und DSH-1 57– 66 %. In der Praxis wird ein Prüfungsergebnis ab DSH-2 als bestanden gewertet.
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Abb. 4: Sprachliche Entwicklung (in %)
Mehr als die Hälfte (58,3 %) der Probanden hat im Re-Test eine schlechtere Note bekommen. Lediglich 18 Probanden, damit genau ein Viertel, haben besser abgeschnitten als in der DSH. Anders gesagt kann bei 75 % der Probanden keine positive Entwicklung der Sprechkompetenz nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis ist weit von der fast intuitiv hergeleiteten Erwartung entfernt, dass die Sprechkompetenz aller Probanden im Laufe ihres Fachstudiums in Deutschland zunimmt. In der Verbesserungsgruppe wurde das Ergebnis im Durchschnitt um 0,9 Noten verbessert. Elf von 18 Probanden haben ihre Leistung zumindest um eine Note verbessert. Den größten Fortschritt von zwei Noten erzielte ein Student, der die mündliche DSH knapp bestanden hatte und nun in die Spitzengruppe DSH-3 aufgestiegen ist. Die durchschnittliche Leistungsdifferenz fällt mit 1,2 Noten in der Verschlechterungsgruppe größer aus. Bei 30 Probanden, d. h. 42 % aller Re-TestTeilnehmer, hat sich deren Leistung mindestens um eine Note verschlechtert, bei sieben davon (10 %) sogar mindestens um zwei Noten. Die größte Differenz beträgt 3,3 Noten und bedeutet praktisch einen Absturz von der Niveaustufe DSH-3 auf die DSH-1.
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6 Einstellungen und Gebrauch als Faktoren des Spracherfolgs Die Ergebnisse des Re-Tests haben ein unerwartetes Bild über den Zustand und die Entwicklung der Sprechfertigkeit im Deutschen gezeigt. Weiterführende statistische Tests haben bewiesen, dass sich Faktoren aus den Einstellungen zu Deutsch und aus dessen Gebrauch auf den Lernerfolg auswirken³.
Deutschkurs nach der DSH Neun Probanden haben nach der DSH einen Deutschkurs besucht und erreichten wesentlich höhere Punktzahl im Re-Test als diejenigen, die das nicht taten (Durchschnittspunkte = 238 vs. 217, t = 2,562, df = 70, p < 0,05). Die studienbegleitenden Deutschkurse scheinen den Probanden zu besseren Leistungen im ReTest verholfen zu haben. Der positive Effekt kommt deutlicher zum Ausdruck, wenn die Kursinhalte in Betracht gezogen werden: Die Kurse für das Sprechen sind mit einem Anteil von 61,5 % die am meisten besuchten Kurse. Danach folgen Kurse für das Hören (23,1 %) und Lesen (15,4 %). Nur bei einem Probanden gehört das Sprechen nicht zum Kursinhalt. Alle neun Probanden haben die Niveaustufe DSH2 erreicht und drei davon sogar DSH-3. Ausnahmslos haben diese drei Probanden an Kursen für die Sprechfertigkeit teilgenommen.
Deutsch als Lehrsprache Oft hört man in den öffentlichen Diskussionen und in Fachkreisen die Befürchtung, dass die zunehmende Gewichtung der englischen Sprache im Studium die ohnehin noch nicht befestigten und aufbaubedürftigen Deutschkenntnisse ausländischer Studierender beeinträchtigen würde. Ein t-Test von zwei unabhängigen Gruppen zeigte, dass Probanden, die mehr Lehrveranstaltungen auf Deutsch besuchen, signifikant besser abschnitten (t = 2,180, df = 70, p = 0,033) als diejenigen, die zumindest genauso zahlreiche Veranstaltungen auf Englisch wie auf Deutsch haben. Die erstere Gruppe erzielte einen Durchschnittswert von 222 Punkten. Die letztere Gruppe bekam hingegen nur 205 Punkte; Keiner in der
Für die Berechnung der Korrelation werden die gestuften Noten in Form von Schulnoten genommen und für t-Tests die erreichten Punktzahlen.
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Gruppe erreichte im Re-Test das Niveau DSH-3 und die Hälfte bekam eine Note im Bereich DSH-1.
Verwendung von Deutsch im Studium Es liegt nah, dass man umso besser im Re-Test abschneidet, je öfter man Deutsch bei Fachgesprächen praktiziert. Die Korrelation zwischen der Gebrauchshäufigkeit (1 = nie bis 5 = sehr oft) und dem Re-Test-Ergebnis erweist sich als signifikant (r = -0,308, p < 0,01). Das Minuszeichen besagt, je häufiger man Deutsch bei Fachgesprächen verwendet, desto niedrigere Note erreicht man im Re-Test. Im Schulnotensystem kennzeichnet jedoch eine niedrigere Note eine bessere Leistung. 44 % der Probanden, die nie oder selten auf Deutsch mit anderen über fachliche Themen diskutieren, bekamen im Re-Test eine Note im Bereich DSH-1. Von den insgesamt zwölf Probanden mit dem DSH-3-Niveau führen acht (66,7 %) oft oder sehr oft Fachdiskussionen auf Deutsch. In ähnlichem Zusammenhang stehen die Note im Re-Test und der Umfang der Lektüre deutschsprachiger Fachliteratur (r = -0,255, p = 0,030). Von den Probanden, die nie oder selten deutschsprachige Fachliteratur lesen, entfällt die eine Hälfte auf die Stufe DSH-1 und die andere auf die Stufe DSH-2, d. h. keiner gelangt auf die DSH-3-Stufe. Wiederum stammen zwei Drittel der Probanden, die das Spitzenniveau erreichten, aus der Gruppe, die oft/sehr oft deutschsprachige Fachliteratur liest.
Deutschsprachige soziale Kontakte Wie zu erwarten ist, bewältigen die Probanden den Re-Test umso besser, je mehr Kontakte sie zu Deutschen haben. Das ergibt sich aus der Korrelation der erzielten Note mit dem Summenwert der Fach- und Privatkontakte zu Deutschen (r = -0,270, p = 0,022). Werden die beiden Arten von Kontakten getrennt betrachtet, ist die signifikante Korrelation bei den fachlichen Kontakten nicht mehr nachweisbar (r = -0,125, p = 0,296). Zum Vorschein kommt, dass die privaten Kontakte signifikante Auswirkungen auf das Sprachniveau haben (r = -0,312, p = 0,008). Von den 30 Probanden mit keinen oder nur wenigen privaten Kontakten zu Deutschen bekam ein Drittel die schlechteste Zensur DSH-1. Bei den Probanden, die gelegentlich bzw. oft/sehr oft Kontakte zu Deutschen haben, ist der DSH-1Anteil mit jeweils 9,5 % eher klein. Die DSH-3-Quote fällt hingegen bei den kontaktreichen Gruppen (oft/sehr oft) mit 28,6 % deutlich höher aus als bei den kontaktarmen Gruppen (keine/wenige, 16,7 %).
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Ein ähnliches Bild bekommt man bei der Betrachtung des Kontaktverhaltens zu den NCA. Insgesamt tragen intensive Kontakte zu NCA zur besseren Leistung im Re-Test bei (r = -0,300, p = 0,011). Während die Korrelation bei den fachlichen Kontakten sich nicht als signifikant erweist (r = -0,205, p = 0,085), ist ein signifikanter Zusammenhang bei den privaten Kontakten festzustellen (r = -0,333, p = 0,004).
Nicht-chinesische Wohnumgebung Eine einfache Varianzanalyse ergab, dass es einen Effekt der sprachlichen Wohnumgebung (F(2, 69) = 3,714, p < 0,05) gibt. Ein anschließend angewandter Scheffé-Test zeigt, dass die in einer nicht-chinesischen Umgebung wohnenden Probanden besser (p < 0,05) abgeschnitten haben als die in einer rein chinesischen Umgebung, aber nicht signifikant besser (p = 0,056) als die in einem gemischten Wohnverhältnis. Hier liegt der p-Wert von 0,056 zwar knapp über dem allgemein verwendeten Signifikanzniveau von 0,05, für die vorliegende relativ kleine Stichprobe ist dieser Wert aber schon beachtenswert. Die Ergebnisse der beiden letztgenannten Gruppen sind ebenfalls nicht signifikant voneinander verschieden. Durchschnittlich erzielten Probanden aus der nicht-chinesischen Wohnumgebung 247,2 Punkte – eine Note im Bereich DSH-3. Die anderen zwei Gruppen landen im Bereich DSH-2, wobei die Gruppe aus der gemischten Umgebung die aus der rein chinesischen Umgebung knapp übertrifft (218,2 vs. 217,8). Bei genauerer Betrachtung kommt der Effekt einer deutschsprachigen Wohnumgebung noch deutlicher zum Vorschein: Die einzigen zwei Probanden, die jeweils ausschließlich mit einem deutschen Freund eine WG teilen, haben 285 bzw. 271 Punkte bekommen.
7 Fazit Die empirischen Befunde zeichnen ein recht besorgniserregendes Bild: Obwohl die meisten Probanden Deutsch für nützlich halten und die Notwendigkeit einer Vertiefung ihrer Deutschkenntnisse, insbesondere ihrer Sprechfertigkeit einsehen, wird Deutsch in ihrem Studium und Alltagsleben nur sehr begrenzt gebraucht. Außerhalb der Lehrveranstaltungen wird Deutsch besonders stark von Chinesisch verdrängt. Hinsichtlich des privaten Kontaktkreises und des Wohnumfeldes bewegen sich die Probanden eher in einem chinesischsprachigen Milieu.
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Die kritische Sprachengebrauchssituation der chinesischen Studierenden, die von unzureichenden Kontakten mit der deutschen Sprache gekennzeichnet ist, erscheint einer soliden Beherrschung von Deutsch nicht förderlich. Nur bei einem kleinen Anteil von Probanden wurde die erwartete Verbesserung der Sprechkompetenz festgestellt. Dass Englisch sich als eine der Lehrsprachen an deutschen Hochschulen etabliert hat, stellt einen weiteren Faktor dar, der den Weitererwerb von Deutsch behindert. Eine unzulängliche Sprachbeherrschung kann nicht nur die erfolgreiche Durchführung des Studiums beeinträchtigen, sondern auch weitere Orientierungs- und Anpassungsprobleme auslösen bzw. verschärfen. Die Sprachdefizite erschweren vor allem den chinesischen Studierenden, soziale Kontakte außerhalb des Kreises ihrer Landsleute aufzunehmen und zu pflegen. Unzureichende Integration in die deutsche Hochschule und Gesellschaft, kulturelle Isolation und ggf. psychische Probleme sind dann oft die Folge. Ohne angemessene Deutschkenntnisse würde den ausländischen Studierenden eine tiefere Form von Austausch mit der Kultur des deutschen Studienlandes versagt bleiben. Das Studium in Deutschland würde sein Qualitätssiegel verlieren, wenn ausländische Studierende trotz mehrjährigen Deutschlandaufenthalts das Land nicht richtig kennen. Eine angemessene Beherrschung der deutschen Sprache sollte als eine wichtige Qualifikation gefördert und vermarktet werden, um die Attraktivität der deutschen Hochschulen auf dem Bildungsmarkt weltweit zu steigern und damit die besten Köpfe aus der ganzen Welt zu gewinnen.
Literatur Bärenfänger, Olaf (2008): „Akkulturation als vernachlässigte Schlüsselvariable für den Studienerfolg im Ausland.“ In: Gutjahr, Jacqueline/Yu, Xuemei (Hgg.): Aspekte der Studienvorbereitung und Studienbegleitung. München: Iudicium. 27 – 48. Bauersachs, Waltraut et al. (1984): Chinesische Studierende in der Bundesrepublik Deutschland: Sprachliche Vorbereitung und Situation. Göttingen: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Chen, Yu (2012): Verbessern chinesische Studierende ihre Sprechfertigkeit im Deutschen während des Fachstudiums in Deutschland? Eine empirische Untersuchung unter Berücksichtigung sozialer Aspekte. Frankfurt am Main: Lang. Ehling, Manfred (1987): Als Ausländer an deutschen Hochschulen: das Studium von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland – historische, theoretische und soziale Aspekte. Darmstadt: Verlag für wissenschaftliche Publikationen. EMNID (1963): Studenten aus Entwicklungsländern an deutschen Hochschulen. Bonn: Akademischer Verlag (= Veröffentlichungen aus Kultur und Politik 4).
Die deutsche Sprache für chinesische Studierende an deutschen Hochschulen
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Ammon 1995 didaktisiert: Die deutsche Sprache in DACH¹ und ihre Realisierung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Abstract: Es ist Ulrich Ammons Verdienst, die Plurizentrizität des Deutschen detailliert zu erfassen, eine fundierte Terminologie vorzulegen und das „Problem der nationalen Varietäten“ in seiner Komplexität gut verständlich und nachvollziehbar zu machen. Im Bereich Deutsch als Fremdsprache hat Ammon (1995) für viel Klarheit gesorgt und eine Basis geschaffen, die die deutsche Sprache nicht unbedingt einfacher für den Unterricht macht, aber greifbarer. Im Folgenden zeige ich exemplarisch, wie, ausgehend von Ammon (1995), in Fortbildungen für Lehrkräfte die Plurizentrizität im Kontext von Deutsch als Fremdsprache diskutiert werden kann. Es handelt sich dabei um ein Thema, das Lehrende wie Lernende einerseits interessiert, das aber nach wie vor in der Umsetzung in Unterrichtsmaterialien wie in der Lehrkräfteausbildung am Anfang steht (vgl. Hägi 2006 und i. Dr.). Die Lektüre „des schwarzen Buchs“, wie Ulrich Ammon sein Standardwerk (Ammon 1995) nennt, und die Konsultation des Variantenwörterbuchs (Ammon et al. 2004) sei damit für die Praxis weiter angeregt und unbedingt empfohlen. Keywords: Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als plurizentrische Sprache, Variantenwörterbuch, Standardsprache, Varietät, Variante
1 Ausgangslage Grüezi. Ein Demonstrationszentrismus² (Ammon 1995, 99). Ich verwende ihn ganz bewusst, signalisiere damit, dass ich aus der Schweiz komme, aus der Deutschschweiz genau genommen. Darf ich also Deutsch als Fremdsprache unterrichten? DACH steht für Deutschland (D), Österreich (A) und die Schweiz (CH) – die Kürzel werden im Kontext von Deutsch als Fremdsprache v. a. im Zusammenhang mit der Landeskundedidaktik (DACH-Landeskunde, DACHL-Prinzip), verwendet. Das L steht für Liechtenstein (auch wenn es eigentlich FL heißen müsste), das z. B. in der DACHL-AG ebenfalls vertreten ist (vgl. www.dachl.eu, Hägi 2011) Zentrismus ist ein Synonym für nationale Variante, ein Demonstrationszentrismus also eine bewusst eingesetzte, nationale Variante.
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Abb. : Zitatensammlung (nach einer Idee von polis aktuell: Sprache und Politik. /, )³
Kann ich denn „richtig“ Deutsch? Fragen dieser Art begleiten mich nun viele Jahre. Häufig werden sie von anderen gestellt, wenn sie hören, wie ich spreche und was ich beruflich mache. Österreicherinnen und Österreicher, die im Bereich Deutsch als Fremdsprache tätig sind, machen ähnliche Erfahrungen (vgl. Ransmayr 2006). Deutsche Kolleginnen und Kollegen haben es da ein bisschen leichter: Dass sie Deutsch unterrichten können, wird kaum in Frage gestellt. Auch muss kaum jemandem erklärt werden, wo Deutschland liegt, ständige Verwechslungen mit Schweden (statt Switzerland) oder Australien (statt Austria) liegen nicht vor. Es gibt keine deutschländischen Varianten, die als Demonstrationszentrismen funktionieren und wie Grüezi oder Servus bewusst eingesetzt werden, um einen Schweiz- oder einen Österreichbezug herzustellen.⁴ Den Deutschland-Bezug
Die Zitate sind folgendermaßen zusammengestellt: „Die Volksrepublik China …“ (Ziauddin 2009, 11); „Wo krieg ich…“ (ebd., 14); „An der Queens University…“ (http://sprachennetz. blogspot.co.at/2010/08/immer-weniger-britische-schuler-lernen.html − 8. 3. 2013); „Klönen…“ (Kühnhanss 2003, 19); „Ohne Deutsch kann man hier nichts machen“ (http://www.stiftungmercator.de/themencluster/integration/foerderunterricht-fuer-kinder-und-jugendliche-mit-migra tionshintergrund/projektfilm.html – 8. 3. 2013), „German is…“ (www.guardian.co.uk/education/ 2010/aug/24/who-still-wants-learn-languages –8. 3. 2013). Die anderen Aussagen sind mündlichen Gesprächen entnommen. Beispiele hierfür finden sich z. B. in der Tourismus-Werbung (vgl. „Servus Österreich“), in Lehrmaterialien (vgl. den Lehrwerkstitel „Grüezi, Sprechen Sie Deutsch?“ Abderhalden u. a. (1995) sowie den Übungstyp „Grüezi, grüezi“ in Clalüna-Hopf/Plettenberg 1993) oder in der Literatur (vgl. Hägi 2006, 86), etwa bei Markus Werner:
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können Deutsche jedoch sprachlich keineswegs vermeiden; in Aussprache und Wortschatz outen auch sie sich (vgl. Ammon 1995, 375 ff.). Die Fachtermini, die dieses Phänomen erfassen, heißen Teutonismus (Ammon 1995, 99, vgl. auch Schneider-Wiejowski in diesem Band) und nationales Schibboleth⁵. Da die nationalen Varietäten in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Ammon 1995, 484 ff.), sind deutschländische Varianten in Österreich und der Deutschschweiz grundsätzlich bekannter als umgekehrt in Deutschland Austriazismen oder Helvetismen.⁶ Nichtsdestotrotz können auch Teutonismen in Österreich oder der Deutschschweiz für Aufregung oder Irritation sorgen, wenn z. B. Tschüss! auch für die Sie-Form verwendet wird (in A und CH wird Tschüss nur in der Du-Form verwendet) oder Zollstock bei Ikea in der Deutschschweiz nicht verstanden wird.⁷ Es kann nicht genug sensibilisiert werden dafür, dass es Deutsch als Standardsprache auch außerhalb von Deutschland gibt (und in der Deutschschweiz beispielsweise nicht nur Schwyzerdütsch, also Dialekt gesprochen wird). Eine solche Sensibilisierung ist einerseits notwendig, um Komplexe und Diskriminierung abzubauen (vgl. Hägi i. Dr.).⁸ Andererseits ist das Bewusstsein um die
„[Ich erwachte] aber erst vollständig, als mich jemand beim Oberarm packte und Grüezi. sagte. Es konnte nur zwei Möglichkeiten geben: entweder war das heimatliche Grußwort noch ein Halbtraumbestandteil, oder ich hatte eine arabische Äußerung phonetisch mißhört. Ich starrte den Mann, der neben dem Bett stand, an, dunkler Teint, dunkle buschige Augen, buschige Brauen, weißer Kittel, umgehängtes Stethoskop, und der Mann streckte mir die Hand hin und sagte glasklar Grüezi. Es ist merkwürdig, vielleicht auch ein wenig beschämend, wie dieses eine Wort mich belebte, wie es sich in meiner Seele sofort verknüpfte mit der Vorstellung von Qualität, mit Gefühlen des Aufgehoben- und Gerettetseins.“ (Werner 1998, 52 f. Hervorhebungen S. H.) „[N]ationale Schibboleths [sind] solche Varianten, an denen andere, nicht die Angehörigen des betreffenden nationalen Zentrums selber, die nationale Zugehörigkeit eines/r Sprechers/erin erkennen. Der soziolinguistische Terminus Schibboleth wurde nach der Bibel-Episode gebildet, nach der die geschlagenen Ephraimiten, die sich – um der Tötung zu entgehen – unter die Sieger gemischt hatten, an der besonderen Aussprache des Wortes Schibboleth ‚Ähre‘ identifiziert wurden (Richter 12: Verse 5 – 6).“ (Ammon 1995, 204). So sind beispielsweise folgende Varianten (vgl. Abb. 1) hauptsächlich im eigenen Zentrum bekannt: Sessel A (Stuhl CH D), sich ausgehen A D-südost (‚gerade noch reichen‘) oder klönen CH (‚weinerlich klagen; jammern‘); vgl. Ammon u. a. (2004, s. v.). Klönen (‚sich unterhalten‘) ist aber auch D-nord. Vielleicht durch ein anderes Beispiel austauschen? Eine solche Episode ist nachzulesen bei Ziauddin (2009, 14). Im Variantenwörterbuch (Ammon u. a. 2004, s. v.) heißt es entsprechend: „Zollstock D […] ›zusammenklappbarer Stab mit Maßeinteilung; Meterstab‹“, ihm entsprechen die Varianten „Zollstab A“, bzw. „Meter A CH“. Auch im fachlichen Kontext ist man nicht vor „nett gemeintem“ Nachahmen gefeit, so ist zum Beispiel der Ausdruck „es geht sich aus“ (vgl. Abb. 1) einer österreichischen Moderatorin beim Sektionsleiter/-innentreffen zur Internationalen Deutschlehrer/innentagung (IDT) 2009 von
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Abb. 2: a) Müsli b) Müesli c) Müesli (CH) Müsli (A D) © Ingo Faulstich
standardsprachlichen, nationalen Varietäten eine Grundlage für eine trinationale Zusammenarbeit im Kontext von Deutsch als Fremdsprache, die sich bewährt beispielsweise in einer gemeinsamen Prüfung wie dem Zertifikat Deutsch oder der unter der Schirmherrschaft des Internationalen Deutschlehrer/innenverbands (IDV) stehenden DACHL-Arbeitsgemeinschaft⁹. Eine solche Zusammenarbeit wiederum ist die Voraussetzung für eine wirksame Sprachenpolitik (vgl. Ammon 2011, Sorger 2012).
2 Bekömmlicher Deutschunterricht Müsli, das erste Bild (Abb. 2a) veranschaulicht es, ist im Deutschschweizer Dialekt eine kleine Maus (Muus, Müsli CH-Dialekt), in Deutschland und Österreich hingegen die standardsprachliche Bezeichnung für eine gesunde Mahlzeit mit frischem Obst und Haferflocken. Diese Speise (Abb. 2b), von Dr. Bircher in der Schweiz (!) „erfunden“, heißt dort Müesli oder Birchermüesli. Will man also im gesamtdeutschsprachigen Raum appetitlich frühstücken (Abb. 2c), ist zu differenzieren zwischen Müesli (CH) und Müsli (A, D). „Bekömmlicher Deutschunterricht“ bezeichnet einen Unterricht, der für die Lernenden im Kontext, in dem sie die Sprache verwenden und nutzen, hilfreich ist, also den Lernenden und ihren Bedarfen gerecht wird. Ein bedarfs- und ler-
deutschen Kollegen belächelt und die Standardsprachlichkeit bzw. Angemessenheit des Ausdrucks angezweifelt worden. Die DACHL-AG setzt sich zusammen aus Institutions- und VerbandsvertreterInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie einem Abgeordneten aus Liechtenstein. Ausführliche Informationen finden sich auf der Seite www.dachl.eu.
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nerorientierter Unterricht ist kein Unterricht „ab der Stange“, sondern immer wieder neu auszuhandeln. Die Illustration (Abb. 2) zeigt auch das Größenverhältnis, in dem die amtlich (auch) deutschsprachigen Länder Deutschland, die Schweiz und Österreich zueinanderstehen. Im Vergleich zu Deutschland hat die Schweiz politisch wie wirtschaftlich deutlich weniger Einfluss und Macht. Bezeichnenderweise verbreitete sich das Müesli auch via Deutschland in der Welt mit entsprechender Monophtongierung (vgl. z. B. russ. mjusli). Dem asymmetrischen Verhältnis, in dem die drei amtlich deutschsprachigen Länder bzw. die drei Vollzentren der deutschen Standardsprache (Ammon 1995, 484 ff.) zueinander stehen ist selbstverständlich im DaF-Unterricht Rechnung zu tragen: Für den produktiven Spracherwerb ist es sinnvoll, diejenige Varietät als Zielvarietät zu wählen, mit der größten kommunikativen Reichweite, in der Regel also die Varietät Deutschlands. Grundsätzlich kann aber jede Standardvarietät dem Deutschunterricht als produktive Varietät zu Grunde liegen. Nicht zu empfehlen ist hingegen die gleichzeitige Behandlung von Standardund Nonstandardvarianten. Selbstverständlich können Nonstandardvarietäten Teil des Unterrichts sein (vgl. Studer 2002 und den sehr gelungenen Ansatz in Maurer 2001), aber es muss Lernenden wie Lehrenden jeweils klar sein, wann eine Variante standardsprachlich oder nonstandardsprachlich ist. Eine Vermischung oder unklare Terminologie führt hingegen dazu, dass das Österreichische Deutsch und Schweizerhochdeutsch als Dialekt wahr- und in ihrer Standardsprachlichkeit nicht ernst genommen werden. Müsli (Abb. 2a), um beim Beispiel zu bleiben, ist also in zweifacher Hinsicht für einen plurizentrischen Deutschunterricht schwer verdaulich: Zum einen, weil es in der Deutschschweiz eine dialektale Variante ist, es bei der Plurizentrik jedoch um die standardsprachliche Varianz geht und zum andern weil Müsli im standardsprachlichen Kontext nicht als Variante gekennzeichnet ist, Lernende also davon ausgehen könnten, dass es sich dabei um eine gemeindeutsch Konstante handelt. Wünschenswert ist entsprechend eine differenzierte Darstellung und Zuordnung wie in Abb. 2c).
3 Was heißt Standard? Das Kräftemodell einer Standardvarietät (ver‐)stehen Wann ist etwas standardsprachlich, wann nicht? Und wer entscheidet das? Diese Fragen beschäftigen Lehrkräfte in Fortbildungen zu Deutsch als plurizentrischer
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Sprache besonders. Das soziale Kräftemodell einer Standardvarietät (Ammon 1995, 80) ist hierbei aufschlussreich, in den Workshops visualisiere (vgl. Abb. 3)¹⁰ und exemplifiziere ich es. Wenigen Lehrkräften ist bewusst, dass sie, in ihrer Funktion, in der sie qua Amt korrigieren (müssen), unmittelbar am Standardisierungsprozess mitbeteiligt sind. Nach dem Kräftemodell einer Standardvarietät (Ammon 1995, 73 ff.) sind Lehrkräfte, genauso wie Verlagslektoren Normautoritäten: Mit dem Rotstift in der Hand entscheiden sie darüber, ob etwas in einem Text akzeptabel ist oder nicht. (Stellvertretend für andere Normautoritäten, bitte ich an der Stelle in den Fortbildungen eine Teilnehmerin/einen Teilnehmer aufzustehen und das – auf Abb. 3 am Boden liegende – Plakat „Normautoritäten: Korrekturen“ zu halten und als Lehrperson die Normautorität zu personifizieren). Selbstverständlich gibt es Unsicherheiten, auch bei Lehrkräften, z. B. Zweifelsfälle orthographischer, grammatischer, stilistischer Art. In diesem Fall (ich bitte an der Stelle eine weitere Person aufzustehen, sie repräsentiert ein/en Mitarbeiter/in z. B. der Dudenredaktion oder des Österreichischen Wörterbuchs und hält das nächste Plakat „Sprachkodex (Kodifizierer)“ vgl. Abb. 3) konsultieren Lehrkräfte in der Regel ein Nachschlagewerk, den Kodex, z. B. den Duden. Da Sprache sich ständig verändert und weiterentwickelt, ist ein Kodex, sobald er erscheint, bereits im Begriff zu veralten. Mit anderen Worten, es kann immer sein, dass etwas noch nicht im Kodex steht, aber bereits in standardsprachlichen Texten und Kontexten (z. B. in der journalistischen Praxis) unmarkiert Verwendung findet. (An der Stelle bitte ich eine dritte Person aufzustehen, sie repräsentiert als Nachrichtensprecher/in und Journalistin eine/n Modellsprecher/in bzw. Modellschreiber/in). Modelltexte wiederum bilden die Grundlage für den Kodex. Die vierte Kraft innerhalb des Modells ist der/die Sprachexperte/in, (ich bitte eine vierte Person aufzustehen), jemand wie z. B. Ulrich Ammon, der die Dudenredaktion darauf aufmerksam macht, dass im Duden nicht zwischen gemeindeutschen Konstanten und deutschländischen Varianten unterschieden wird¹¹, und es zwar ein Dudenbändchen gibt Wie sagt man in Österreich (Ebner [1969] 42009) und eines Wie sagt man in der Schweiz (Meyer 1989), eines mit dem Titel Wie sagt man in Deutschland? jedoch fehle (vgl. Ammon 1994).
Bei den Plakataufschriften handelt es sich, abgesehen von der gut lesbaren Aufschrift „Sprachkodex (Kodifizierer)“ um folgende: „Normautoriäten: Korrekturen“, „Modellsprecher/schreiber: Modelltexte“ und „Sprachexperten: Fachurteile“, vgl. Abb. 1 bei Schneider-Wiejowski in diesem Band. So steht im Duden zwar bei Marille „österr. für Aprikose“ oder Velo „schweiz. für Fahrrad“, Teutonismen wie Tüte, Abitur oder Azubi sind jedoch unmarkiert (vgl. Schneider-Wiejowski in diesem Band), unterscheiden sich also nicht von gemeindeutschen Konstanten wie Baum, Haus, Himmel.
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Abb. 3: Das Kräftemodell einer Standardvarietät (nach Ammon 1995, 80), aufgenommen am Österreich Institut Brno (Fortbildung am 27. 05. 2006).
Das Modell, durch vier Personen dargestellt (in der Fortbildung können sie nun weiter befragt werden zu ihrer Funktion und Beziehung zu den anderen Kräften), macht einerseits deutlich, dass bei einheitlicher Ansicht der vier Kräfte, klar und eindeutig ist, ob etwas standardsprachlich ist oder nicht, es im andern Fall aber zu so genannten Grenzfällen des Standards kommt. Andererseits macht das Modell transparent, dass jedes Vollzentrum zu unterschiedlichen Antworten gelangt, schließlich unterscheiden sich die Kodices (vgl. Duden vs. Österreichisches Wörterbuch), genauso wie Modelltexte und Expertenurteile. Und Lehrende akzeptieren beispielsweise in – D: Tschüss in der Sie-Form – A: Der Teller steht am Tisch. (im Sinne von ‚auf dem‘) – CH: stossen (z. B. als Türaufschrift) Was auf der einen Seite der Grenze also als korrekt gilt, kann auf der anderen Seite unter Umständen als Fehler angestrichen werden.
4 Besonderheiten? Varianten sind normal und alltäglich, so dass es unangemessen wäre, von Besonderheiten zu sprechen. Vor allem sind Varianten unumgänglich, da in vielen Fällen, wie das Beispiel ‚steif geschlagener Süßrahm‘ verdeutlicht (Abb. 4, vgl.
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Abb. 4: Aber bitte mit… (Hägi 2007, 5) (© Ingo Faulstich)
Hägi 2007), einfach keine gemeindeutsche Alternative vorhanden ist, man also eine Variante wie Sahne (D), Rahm (CH) oder Schlag (A) wählen muss. Dass mit Blick auf den gesamtdeutschsprachigen Markt, für Leute, die davon leben wollen, die deutschländische Varietät mitunter die attraktivere ist (so z. B. für den österreichischen Sänger Udo Jürgens, der „mit Sahne“ singt), ist der Asymmetrie geschuldet, die plurizentrischen Sprachen inhärent sind. In der individuellen Begegnung können Varianten natürlich als besonders empfunden werden, als besonders unerwartet, witzig oder besonders irritierend. Dafür ist im Unterricht Deutsch als Fremdsprachen zu sensibilisieren und Lernenden Strategien an die Hand zu geben, die ihnen in solchen Situationen hilfreich zur Hand sind, wie z. B. das Nachfragen oder Nachschlagen im Variantenwörterbuch (Ammon u. a. 2004). Außerdem ist es sinnvoll, zu unterscheiden zwischen „gefährlichen“ Varianten, z. B. falschen Freunden, die zu wirklichen Missverständnissen führen können (z. B. Käsekuchen D vs. CH, Paprika A D vs. CH, eine 5 A D vs. CH) und „ungefährlichen“, die man zuerst vielleicht nicht versteht (z. B. Hausverstand) oder einfach in dieser Form nicht kennt (z. B. Einbahn, Kassa).¹² Weiß man um die Tatsache, dass einem ständig Varianten ganz unerwartet begegnen können und auch darum, dass für andere gerade diese Variante „das
Die Beispiele gehen alle auf persönliche Begegnungen und Erlebnisse zurück: Käsekuchen ist in der CH herzhaft, in D süß, Paprika in der CH klein und scharf, in A und D das, was in der CH Peperoni heißt, eine 5 ist in der CH eine gute Note (da 6 die beste ist), in A und D mangelhaft, der Austriazismus Hausverstand ist gesunder Menschenverstand, vgl. Variantenwörterbuch (Ammon u. a., s. v.).
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Normale“ ist (z. B. Hausverstand A, Kulturbeutel D, Teigwarensalat CH), ist die Voraussetzung für eine entspannte, wertschätzende Kommunikation geschaffen.¹³ Viele Deutschlernende kennen außerdem bereits andere plurizentrische Sprachen und sei es Englisch, so dass auch Deutsch als plurizentrische Sprache keine Besonderheit darstellt, wenn es auch Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern des Deutschen häufig selber wenig bewusst ist (vgl. Schmidlin 2011).
5 Exemplarisch, Praxis, DACH „Die Plurizentrik ist kein Phantom“ (Schmidlin 2011, 300). Für den Bereich Deutsch als Fremdsprache ergeben sich daraus Konsequenzen für den Unterricht selber z. B. in Bezug auf die Materialienwahl, den Umgang mit und die Thematisierung von nationalen Varietäten. Diese Thematisierung kann selbstverständlich nur exemplarisch sein. Die Sensibilisierung für die Varietäten, die Markierung von Varianten und die Unterscheidung von gemeindeutschen Ausdrücken und deutschländischen Varianten ist jedoch von Anfang an möglich, wie entsprechende Umsetzungen in Lehrwerken zeigen (vgl. Böschel/Giersberg/Hägi 2008). Die standardsprachliche Varianz gilt als „wichtige Brücke zwischen Spracherwerb und Landeskunde“ (ABCD-Thesen 1990, 307). Wie beim DACHL-Prinzip¹⁴ geht es bei der Plurizentrik letztlich darum,vor allem das Gemeinsame zu betonen, im Sinne einer Berücksichtigung des gesamtdeutschsprachigen Raums, im Sinne einer gemeinsamen Sprache, im Sinne einer Normalität von standardsprachlichen Varianten. Normal ist in dem Zusammenhang auch, dass niemand in allen Varietäten gleichermaßen kompetent ist, es also immer wieder neue standardsprachliche Varianten zu entdecken gibt. Viele davon sind im Variantenwörterbuch (Ammon u. a. 2004) nachzuschlagen. Es bedarf in erster Linie einer Akzeptanz der Varianz, einer ausgewogenen Berücksichtigung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache und der Bereitschaft, in immer neuen Varianten-Begegnungen Neues zu erfahren – wie die Umsetzung im einzelnen dann aussieht, bleibt letztlich den Lehrkräften bzw. ihrer Einschätzung der Zielgruppe überlassen und kann hier nur exemplarisch angedeutet werden (vgl. Abb. 5).
Ein Gegenbeispiel wäre der Ansatz des Korrigierens von Varianten, in der Annahme, es handle sich um Fehler. So hörte ein Österreicher in Berlin immer wieder, wenn er in einem Café gefragt hatte, ob „dieser Sessel noch frei“ sei (vgl. Abb. 1), die Antwort: „Das ist ein Stuhl, aber er ist noch frei.“ Das DACHL-Prinzip ist nachzulesen unter www.idvnetz.org/veranstaltungen/dachl-seminar/ dachl-prinzip.htm (12.03. 2013).
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Abb. 5: Fünf am Tag (Botta Diener 2007, 22)
Das linguistische Konzept der Plurizentrik sollte Lehrkräften jedoch vertraut sein, um die Umsetzung im Unterricht adäquat zu gewährleisten.
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Rupprecht S. Baur, Stefan Ossenberg und Marina Zarudko
Deutsche und russische Stereotypen im Vergleich Zur Erforschung von nationalen Bildern in unseren Köpfen Abstract: Basierend auf den Überlegungen zu Stereotypen von Lippmann (1922) und deren Weiterführung durch Katz/Braley (1933) sowie der daraus folgenden Ausarbeitung anhand von Eigenschaftenlisten für Befragungen durch Sohdi/ Bergius (1953) und in neuerer Zeit Apeltauer (2002) und Grünewald (2005) stellt dieser Aufsatz erste Forschungsergebnisse eigener Erhebungen zu nationalen Stereotypen in Russland und Deutschland dar. Dabei wird auch die Frage aufgeworfen, wie Eigenschaftslisten zur Befragung auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen erarbeitet und wie Online-Befragungen durchgeführt werden können. Keywords: Stereotyp,Vorurteil, Russlandbild, Deutschlandbild, Eigenschaftsliste, Einstellungen, Sprachlernmotivation, Interkulturelle Kommunikation
1 Einleitung Die Bundesrepublik Deutschland versucht die Stellung der deutschen Sprache in der Welt durch eine „Sprachverbreitungspolitik“ zu stützen (vgl. Ammon 1991). Wichtige Faktoren, die beim Lernen und der Verbreitung fremder Sprachen eine Rolle spielen, sind dabei u. a. der ökonomische Nutzen der Sprachkenntnisse, das Prestige der Sprachen und die tradierte Schulsprachenpolitik eines Landes. Wir nehmen an, dass jenseits dieser nachweisbaren und untersuchten Faktoren auch eine Einstellung zu dem Land, in dem die Sprache gesprochen wird und den dort lebenden Menschen ein wichtiger Faktor für die Sprachlernmotivation ist. Die Sprachlernmotivation wird – so unsere Hypothese – auch durch unsere Vorstellung über die anderen Völker und Nationen geprägt. Unsere „Bilder im Kopf“ (vgl. Lippman 1922) lassen uns gewisse Eigenschaften bestimmten Nationen und Völkern zuschreiben. Diese Form der Konzeptualisierung der Welt hilft den Menschen, einzelne Ereignisse zu klassifizieren, das Verhalten des einzelnen Menschen zu erklären und hilft auf diese Weise einerseits bei der Weltorientierung (vgl. Apresjan 1995, 351), andererseits beruht sie auf vorgefertigten Meinungen, die übernommen werden (vgl. Kon 1966, 188).
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Umso positiver unsere Heterostereotypen sind (also das, was wir über das Land und die Menschen, die die Zielsprache sprechen, denken), desto mehr wird die Sprachlernmotivation unterstützt. Je negativer unsere Heterostereotypen sind, desto geringer ist die Sprachlernmotivation. Diese an ein Land und eine Nation gebundene Aussage gilt heute wahrscheinlich nicht mehr für das Englische, aber durchaus für viele Nationen, die mit einem Land, einer Kultur und einer Sprache verbunden werden. Das gilt auch für die von uns untersuchten „Deutschen“ und „Russen“.
2 Theoretischer Hintergrund Als Erster beschäftigt sich mit dieser in der Einleitung aufgeworfenen grundlegenden Frage Walter Lippman (1922). Seine Definition des Stereotypenbegriffs wird auch heute noch als gültig angesehen. Letztlich bauen alle Theorien und Erhebungen zu den Stereotypen auf sein grundlegendes Werk „Public Opinion“ (Lippmann 1922) auf. Seiner Argumentation folgend, dass Stereotype sowohl der Vereinfachung und Organisation der Umwelteindrücke als auch der Aufnahme und Verarbeitung von Eindrücken dienen; zudem die „Bilder in unseren Köpfen, die das subjektive Abbild von der Wirklichkeit bestimmen und sich als schematisierte Vorstellung zwischen Außenwelt und Bewusstsein schieben“ (Lippmann 1922), maßgeblich auch für unser aller Handeln sind, schließen sich schon im Jahr 1933 Katz und Braley an. Weltweit als Erste stellen die beiden Soziologen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Eigenschaftenliste mit 84 Adjektiven auf, mit der sie diese Einstellungen messen. Dabei befragten Katz und Braley exemplarisch 100 Princeton-Studenten. Diese sollten zehn Eigenschaften auswählen, die sie mit „Deutschen“, „Italienern“, „Iren“, „Engländern“, „Amerikanern“, „Chinesen“, „Japanern“ und „Türken“ verbinden. Neben diesen Nationen wurden dabei auch Stereotype zu „Negern“ und „Juden“ abgefragt. Darauf folgend wurden die Studenten gebeten, eine Top-5-Liste aus den zehn ausgewählten Eigenschaften auszuwählen.Von Katz und Braley aufgenommene Begriffe wie primitiv, brutal und naiv werden von fast allen Forschern im Laufe weiterer Stereotypenerhebungen übernommen und genutzt. So wird die Eigenschaftenliste von Katz und Braley in der Folge im deutschen Sprachraum auch von Sohdi und Bergius 1953 als Konzept aufgegriffen. Jedoch fragen Sohdi und Bergius in ihrer Untersuchung zusätzlich nach dem Geschlecht der Befragten. Dabei zeigen sie in ihrer Befragung von 881 Deutschen, dass diese Differenzierung nicht nur sinnvoll ist, sondern auch, dass bei Männern und Frauen unterschiedliche Stereotypen über Nationen bestehen. Nach zwei
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‚völkischen‘ Gruppen unterteilt wurden dabei den Probanden 207 Wörter vorgelegt, die sie einzelnen Völkern zuschreiben konnten. Im Gegensatz zur amerikanischen Studie wurde den Versuchspersonen bei Sohdi und Bergius jedoch nicht vorgegeben, wie viele Bezeichnungen für eine Gruppe angestrichen werden sollten. An diese Studien anschließend entwickelt Apeltauer 2003 in einer Erhebung über das Deutschlandbild von Norwegern eine eigene Eigenschaftenliste, die sowohl die Kategorien von Sohdi und Bergius als auch die von Katz und Braley aufnimmt. Apeltauer reduziert dabei von 207 Eigenschaften auf 178. In seiner Erhebung befragte der deutsche Fremdsprachenforscher norwegische GymnasialSchüler (154) und deren Lehrer (6) sowie eine weitere Person und stellte dabei fest, dass die Okkupation Norwegens durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg für das Bild der Deutschen in Norwegen bis heute eine große Rolle spielt. Festzustellen war dabei auch, dass jüngere Schüler über einfach strukturierte Fremdenbilder verfügen, ältere Gymnasiasten jedoch schon eine differenziertere Blickweise auf „Deutsche“ entwickelt hatten. Da die Anzahl der befragten Schüler und insbesondere auch Lehrer sehr gering ist, kann Apeltauers Untersuchung zwar als methodologisch anregend, aber nicht als repräsentativ gewertet werden. In jüngster Zeit hat sich Matthias Grünewald (2005) mit der Stereotypen-Forschung im Kontext von Deutschland und Japan beschäftigt und dabei methodologisch neue Perspektiven aufgezeigt. In seiner Untersuchung wird keine ungeprüfte Übernahme der in früheren Untersuchungen etablierten Eigenschaften vorgenommen, sondern er führt wie Katz und Braley eine eigenständige Voruntersuchung durch, in der die Eigenschaften der Deutschen aus Sicht der Japaner herausgefiltert werden und anschließend eine größere Gruppe von Japanern über diese Eigenschaften befragt wird. So erscheint bei ihm beispielsweise erstmalig die Eigenschaft umweltbewusst – eine Charakteristik, die heute zweifellos bei Befragungen in Listen von Eigenschaften – nicht nur bei Deutschen – aufgenommen werden muss. Es ist jedoch festzustellen, dass der überwiegende Teil der Eigenschaften, die Grünewald in seiner Erhebung nutzt, schon bei Apeltauer zu finden ist. Zur Ermittlung von Eigenschaften, die zur Befragung von Stereotypen hinzugewonnen werden könnten, wäre auch eine Durchsicht der Studie des Goethe Instituts nützlich, durch die in 18 europäischen Ländern in einer Online-Befragung die Deutschlandbilder erhoben wurden und an der 13.000 Personen teilgenommen hatten (vgl. Deutschland-Liste im Anhang). Eigenschaften könnten ggf. aus den dort gestellten Fragen Was gefällt Ihnen überhaupt nicht an Deutschland? und Was gefällt Ihnen am besten an Deutschland? gewonnen werden. Eine Befragung von 1003 Personen zu Stereotypen im deutsch-russischen Kontext wurde im Jahr 2007 im Rahmen einer Ausstellung in Berlin durch das
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Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführt. Diese Untersuchung suggeriert aufgrund der großen Anzahl der Befragten Repräsentativität, die u. E. nicht gegeben ist. Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung stellen wir im Folgenden vor.
3 Die Forsa-Studie aus dem Jahr 2007 Anlässlich der Ausstellung „Unsere Russen – Unsere Deutschen. Bilder vom Anderen. 1800 bis 2000“ veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Dezember 2007 eine in einem Zeitraum von 11 Tagen erhobene Umfrage zum Russlandbild der Deutschen, an der 1003 Deutsche ab einem Alter von 18 Jahren teilnahmen (vgl. Springer/Jahn 2008).Wesentliche Unterschiede zwischen der von unser durchgeführten Untersuchung und der des Forsa-Instituts liegen in der Durchführung, den erfragten Eigenschaften und der Aufbereitung der Ergebnisse. Einerseits ist bei der Forsa-Studie die Anzahl der Befragten mit 1003 Teilnehmern deutlich höher, andererseits unterscheiden sich die Methoden der Untersuchungen erheblich. Den Teilnehmern in unserer Befragung wurden 178 Merkmale zur Auswahl vorgelegt, die Teilnehmer der Forsa-Studie konnten dagegen nur aus 30 Eigenschaften wählen. Im Ergebnis vermittelt die Studie des anerkannten Meinungsforschungsinstituts einen zwiespältigen Eindruck. 45 Prozent der Befragten vertreten laut Befragung des Forschungsinstituts die Meinung, dass das Russlandbild der Deutschen allgemein negativ sei, 13 Prozent waren gegenteiliger Meinung. Im Gegensatz dazu ist das Russlandbild der Befragten selbst überwiegend positiv. Über mögliche Gründe, die zu dem vermuteten negativen Russlandbild im deutschen kollektiven Bewusstsein geführt haben, kann man nur spekulieren: eventuell durch die negative Berichterstattung in den Medien über Themen wie den Tschetschenien-Konflikt, die Spaltung der russischen Gesellschaft in Arm und Reich, die russische Mafia, Berichte über die Missachtung der Menschenrechte, usw. Der persönliche Eindruck von Russland fällt bei 30 Prozent der deutschen Teilnehmer dagegen positiv aus. Bei 20 Prozent überwiegen negative Eindrücke. Das vermutete Deutschlandbild der Russen wird mit 46 Prozent, also fast der Hälfte aller deutschen Befragten, ebenfalls positiv gesehen. Nur 19 Prozent glauben, dass Russen Deutschland in einem negativen Licht sehen (Forsa 2007). Auch die persönlichen Kontakte zwischen Russen und Deutschen entwickelten sich nach der Forsa-Umfrage insgesamt freundschaftlich. Die deutschen Heterostereotype im Bezug auf Russen werden dabei durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: trinkfest (90 %), gastfreundlich (88 %), tapfer (78 %), gefühlsbetont (65 %), großzügig (62 %), friedliebend (62 %), staatsgläubig (60 %), gebildet (56 %)
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In diesen Eigenschaften spiegelt sich die insgesamt positive Einschätzung des Russlandbilds der Deutschen wieder. Die erste Eigenschaft trinkfest kann als Euphemismus für Alkoholismus eingeschätzt werden. Diese Eigenschaft stört aber das gegenseitige Verständnis der beiden Völker nicht. Die Eigenschaft staatsgläubig kann aus deutscher Sicht als mangelndes demokratisches Bewusstsein der Russen interpretiert werden. Um diese Vermutung bestätigen zu können, müssten jedoch auch qualitative Erhebungen zu den Eigenschaften durchgeführt werden. Aus unserer Sicht dürfen die Ergebnisse der Forsa-Erhebung nicht überinterpretiert werden, denn es wurden nur 30 Eigenschaften zur Auswahl ‚angeboten‘, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass einige Eigenschaften sehr häufig genannt werden, steigt. Dadurch erklären sich für einige Eigenschaften (trinkfest, gastfreundlich, tapfer, gefühlsbetont, großzügig und friedliebend) die hohen Werte zwischen 62 und 90 Prozent, die bei der Auswahlmöglichkeit von sehr viel mehr Merkmalen nur selten erreicht werden. Leider gibt die Forsa-Befragung auch keine Auskunft darüber, ob nur die oben benannten Eigenschaften abgefragt wurden oder ob es sich bei den veröffentlichten Ergebnissen dieser Erhebung um eine Auswahl durch das Forschungsinstitut handelt. Die Umfrage suggeriert Wissenschaftlichkeit, die nicht gegeben ist. Die Erhebungsmethode und die Auswahl der Befragten werden nicht beschrieben. Ob es sich bei den Befragten in Bezug auf Alter und Geschlecht um einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Gesellschaft handelt, bleibt genauso unbeantwortet wie die Frage nach den Termini „gestützte“ und „ungestützte“ Befragung (vgl. Forsa 2007, 5/6). Selbst in der begleitenden Publikation zur Ausstellung (für die nach Angaben von Forsa diese Erhebung durchgeführt wurde) fehlt jede Darlegung des methodischen Ansatzes und der Durchführung (vgl. Springer/Jahn 2008). Sicherlich sollte man auch wissen, dass es sich bei der Untersuchung um eine Auftragsarbeit für die Gasfirma Wingas handelt, die zu diesem Zeitpunkt eine Tochterfirma des großen deutschen Chemiekonzerns BASF und des marktbestimmenden russischen Konzerns Gazprom war. Daher sollte auch die Zielrichtung der Studie kritisch hinterfragt werden. Deutlich wird dies beispielsweise an der Frage zum „Einfluss der Energiepartnerschaft auf die deutsch-russischen Beziehungen“, bei der 85 Prozent der Befragten glauben, dass die Zusammenarbeit im Energiebereich dazu beiträgt, „auch die politischen Beziehungen der beiden Länder zu verbessern“ (Forsa 2007, 17). Es wird also nicht nur nach den Einstellungen zu Russen und Deutschen gefragt, sondern man hat den Eindruck, dass gezeigt werden soll, dass die Gasgeschäfte sich auf das politische Klima positiv auswirken. Durch die Form einer Auftragsarbeit ergibt sich somit ein ‚Geschmäckle‘.
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4 Die Untersuchung von Auto- und Heterostereotypen in Deutschland und in Russland Anknüpfend an die zuvor angeführten Forschungen und basierend auf der Eigenschaftsliste von Apeltauer führten wir eine Erhebung zu den Auto- und Heterostereotypen in Russland und Deutschland durch. An unserer Untersuchung nahmen zwei Gruppen teil: zum einen eine deutsche, zum anderen eine russische Probandengruppe. Die Größe der deutschen Untersuchungsgruppe umfasste 224 Personen. Den Großteil der Befragten bildeten Studenten des Grundkurses „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“ an der Universität Duisburg-Essen mit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren. Befragt wurden 162 weibliche und 53 männliche Personen. In Russland wurden 322 Personen befragt, wobei Dozenten und Studenten der Staatlichen Tschernyschewskij-Universität Saratow den Großteil der Befragten bildeten. Das Alter der Befragten war hier breit gefächert und lag zwischen 16 und 77 Jahren, die Anzahl der weiblichen und männlichen Befragten war ungefähr gleich. Während sich die Erhebung in Deutschland mehr auf die Meinungen und Erfahrungen junger deutscher Akademiker stützte, war die Erhebung in Russland in den Faktoren des sozialen Status und im Alter gemischt. Basis für die Befragung der Teilnehmer hinsichtlich ihres individuellen Meinungsbildes über Deutsche und Russen war eine 178 Eigenschaften umfassende Liste (s. Anhang 1), die Apeltauer wie erwähnt bereits bei seinen Forschungen über Deutschland und die Deutschen aus norwegischer Sicht verwendete (Apeltauer 2002, 17). Zusätzlich wurde ein Arbeitsauftrag an die Probanden verteilt: 1. Kreuzen Sie auf dem Blatt an, welche Eigenschaften Sie für Russen für zutreffend halten. 2. Aus allen Eigenschaften, die Sie ausgewählt haben, schreiben Sie auf einem gesonderten Blatt die fünf Eigenschaften (hierarchisiert 1. – 5.) auf, die Sie für besonders typisch halten. Auf diesem Blatt geben Sie bitte im Kopf ebenfalls an: Name, Studienfach, Geschlecht, Alter, Nationalität 3. Begründen Sie die Typizität: Auf diesem dritten Blatt beschreiben Sie auch, worauf sich Ihre Meinung über die Russen gründet. 3.1 Sagen Sie, woher Sie Ihr Wissen über die Deutschen/Russen haben und ob Sie schon persönlichen Kontakt zu Deutschen/Russen hatten. 3.2 Geben Sie Beispiele dafür, welche die jeweiligen ausgewählten Eigenschaften der Russen belegen oder illustrieren. (Für jede der fünf Eigenschaften!)
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Von den 178 Merkmalen die den Teilnehmern der Untersuchung zur Auswahl standen, stechen bei der Analyse der Ergebnisse zehn deutlich heraus. Mit ‚deutlich‘ sind hier all diejenigen Nennungen gemeint, die von mehr als 20 Prozent der Untersuchungsteilnehmer angegeben wurden. Am meisten wurden bei der Top-5-Hierarchisierung deutscher Autostereotpyen (also Deutsche über Deutsche) folgende zehn Eigenschaften aus den vorgegebenen 178 Eigenschaften gewählt (hier sortiert nach Häufigkeit der Nennung): bürokratisch (79 %), fernsehbegeistert (73 %), pflichtbewusst (65 %), zuverlässig (61 %), gute Ärzte (59 %), materiell eingestellt (56 %), handwerklich begabt (56 %), gute Techniker (47 %), gute Wissenschaftler (47 %), wenig Zivilcourage (46 %)
Wie zu sehen ist, wählten Vertreter der deutschen Befragtengruppe bei den Autostereotypen nicht nur positiv belegte Begrifflichkeiten, um ihre Mitbürger zu beschreiben und zu definieren: vier von zehn Nennungen der ‚top ten‘ sind negativ behaftet. Nach Meinung von 79 Prozent der in Deutschland Befragten ist die deutsche Gesellschaft stark durch bürokratische Strukturen geprägt. 56 Prozent meinen, dass die Deutschen materiell eingestellt sind und 46 Prozent der Deutschen sind zudem davon überzeugt, dass Deutsche wenig Zivilcourage haben. Hervorheben möchten wir auch, dass die Eigenschaft fernsehbegeistert laut der Befragung (73 %) den zweiten Platz der Rangliste besetzt. Diese auf den ersten Blick ‚neutrale‘ Eigenschaft ist in Deutschland eher negativ konnotiert, wie auch die von Probanden angeführten Beispiele belegen: der hohe Fernsehkonsum der Deutschen wird mit ‚körperlicher Passivität‘ oder der ‚Aufgabe individueller Interessen‘ assoziiert. Als positive Eigenschaften halten sich die Deutschen, der Befragung folgend, selbst für pflichtbewusst und zuverlässig. Sie sind überzeugt von der handwerklichen Begabung der eigenen Nation und schätzen ihre Ärzte, Techniker und Wissenschaftler als besonders gut ein. Bei den russischen Autostereotypen überwiegen folgende zehn Eigenschaften (ebenfalls nach Häufigkeit in der Rangfolge angeführt): heimatliebend (90 %), hübsche Frauen (86 %), humorvoll (77 %), kameradschaftlich (68 %), sportlich (67 %), gastfreundlich (63 %), umgänglich (63 %), tapfer (62 %), gute Hausfrauen (61 %), Nationalstolz (59 %)
Im Unterschied zu der deutschen Gruppe sind alle Selbstzuschreibungen der Russen positiv. In der Befragung erhält die Heimatliebe mit 90 Prozent den höchsten Wert. Dieses Stereotyp steht in einem gewissen Gegensatz zu der Tatsache, dass sehr viele Russen auswanderungswillig sind und viele das Land auch
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verlassen. Interessant erscheint auch, dass es typisch weibliche Eigenschaften gibt (hübsche Frauen, gute Hausfrauen) und typisch männliche (kameradschaftlich, sportlich, tapfer). In einer weiteren Untersuchung, die wir noch nicht abgeschlossen haben, scheint sich zu zeigen, dass Frauen häufiger die weiblichen und Männer häufiger die männlichen Eigenschaften als typisch benennen. Weiterhin dominieren bei den Antworten Klischees, die Charakterzüge der Russen repräsentieren. Das sind hier: Kameradschaftlichkeit, Gastfreundlichkeit, Umgänglichkeit und Humor. Im Gegensatz zu der russischen Befragung sind die Autostereotypen der deutschen Gruppe im Vergleich dazu relativ negativ geprägt. Es ist möglich, dass der hohe Prozentsatz negativer Einschätzungen der angeführten Eigenschaften alters- und ‚berufsbedingt‘, d. h. auf das kritische Denken der Studierenden zurückzuführen ist. Dieser Frage werden wir in weiteren Untersuchungen nachgehen. Anders, und zudem kontrastierend, sieht dies bei den Heterostereotypen ‚der‘ Deutschen über ‚die‘ Russen aus. An der Spitze stehen folgende zehn Eigenschaften: heimatliebend (55 %), traditionsgebunden (46 %), Nationalstolz / Klassenunterschiede (43 %), familiengebunden (42 %), gastfreundlich (41 %), stolz (38 %), Zusammengehörigkeitsgefühl (37 %), zäh (34 %), schlechte Demokraten (31 %), hübsche Frauen (30 %)
Um diese Eigenschaften durch Beispiele weiter zu illustrieren, hier zwei Nennungen aus dem offenen Teil des Fragebogens, die das Bild deutscher Probanden über Russen und Russland illustrieren: A) „Ehemalige russische Mitschüler haben viel von ihrer Heimat erzählt und von den verschiedenen Orten, aus denen sie kamen. Es machte immer den Eindruck, als würden sie wehmütig davon erzählen. Oft schien es so, als wären sie lieber in Russland geblieben, mussten aber aus finanziellen Gründen ihr Land verlassen und versuchten sich hier ein grundständiges Leben aufzubauen, meist geleitet von den Eltern.“ (weiblich, 21 Jahre, deutsch) B) „Durch das Zusammenwohnen mit russischen Mitbürgern ist mir immer wieder aufgefallen, dass russische Musik gehört wurde, viel Wodka getrunken wurde, wodurch viele nachbarliche Auseinandersetzungen stattfanden. Und immer wieder wurde beteuert, wie schön Russland wäre und, dass man gerne wieder zurückziehen würde, wenn es ginge. Man würde sich überall in Russland zu Hause fühlen, was in Deutschland nicht der Fall ist.“ (weiblich, 23 Jahre, deutsch)
Insgesamt haben die deutschen Befragten ein positives Bild von Russen, wie an den beiden oben angeführten Auszügen aus den Erhebungen zu sehen ist. Die Eigenschaft Nationalstolz ist für Deutsche – anders als für andere Nationen – nach
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unseren Beobachtungen nicht positiv konnotiert. Nationalstolz und Nationalismus werden von den Deutschen – bedingt durch die historische faschistische Erfahrung – als eng beieinander liegend betrachtet. Als negative Zuschreibung existieren im Russlandbild der Deutschen die Eigenschaft Klassenunterschiede. Dies zeigen folgende Kommentierungen: C) „Mein Wissen über Russen […] stammt daher, dass einer meiner engsten Freunde in der Nähe von St. Petersburgs aufwuchs. Zum anderen daher, dass die Familie meines Großvaters auf der Krim lebte: durch die Politik der Zarin Katharina dort angesiedelt und im Zweiten Weltkrieg dort von den Russen vertrieben und in russische Gefangenschaft geraten. Viele Mitglieder meiner Familie sprechen noch Russisch. In Russland gibt es große Unterschiede in der Bevölkerung: viele der reichsten Menschen der Welt sind Russen, eine neue sehr reiche Oberschicht hat sich entwickelt – Moskau ist eine der teuersten Städte der Welt. Gleichzeitig gibt es in Moskau nicht einmal genügend notärztliche Versorgung. Es leben zugleich 20 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.“ (weiblich, 21 Jahre, deutsch) D) „Mein Wissen über Russen habe ich weitestgehend aus den Medien, das heißt, aus dem Fernsehen und aus der Zeitung. Dass es in Russland Klassenunterschiede gibt, kann man daran erkennen, dass in Russland die meisten Milliardäre leben und das es aber zugleich auch viele Leute gibt, die in völliger Armut leben. Erst letztens wurde der grenzenlose Reichtum einflussreicher Russen im Fernsehen dokumentiert. Im Gegensatz dazu gibt es viele Obdachlose und viele Russen, die am Existenzminimum leben.“ (weiblich, 19 Jahre, deutsch)
Weitere häufige Nennungen sind mit 31 Prozent der Befragten schlechte Demokraten, und 30 Prozent der Deutschen finden, dass Russinnen hübsche Frauen sind. Hier stimmt interessanterweise das Autostereotyp der Russen mit dem Heterostereotyp der Deutschen über die Russen überein. Es wird dabei künftig zu überprüfen sein, wie diese Eigenschaften in weiteren Befragungen bewertet werden, wenn mehr Männer und Personen unterschiedlicher Alterskategorien an unseren Befragungen teilgenommen haben werden. Zudem werden wir in künftigen Befragungen, auch das Merkmal attraktive Männer aufnehmen. Russen schreiben den Deutschen folgende Eigenschaften zu: sauber (31 %), gute Techniker (29 %), diszipliniert (27 %), kultiviert (20 %), reserviert (18 %), sparsam (16 %), gute Ärzte (14 %), traditionsgebunden (13 %), Nationalstolz (11 %), sportlich (9 %)
Die Eigenschaft Sauberkeit scheint sich weniger auf das äußere Erscheinungsbild der Deutschen und die angenommene Körperhygiene zu beziehen, sondern wird in erster Linie mit der Sauberkeit der deutschen Städte und Straßen (im Vergleich mit Russland) verbunden. Die Eigenschaften ordentlich und sauber korrespondieren miteinander. Hier Auszüge aus den freien Erläuterungen des Fragebogens:
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E) „Die Deutschen gelten als besonders sauber. Ich habe gehört, dass sie ihre Straßen mit dem Pulver oder sogar Shampoo waschen.“ (männlich, 18 Jahre, russisch) F) „Ich habe gehört, dass die Klamotten sauber bleiben, wenn man sich weiß gekleidet auf den Asphalt setzt. So sauber sind die deutsche Straßen.“ (weiblich, 17 Jahre, russisch) G) „Sauberkeit und Ordentlichkeit gelten als Visitenkarten der Deutschen. Während meines Aufenthaltes in Deutschland war ich von der Sauberkeit der deutschen Städte überrascht.“ (weiblich, 23 Jahre, russisch)
Mit den häufig genannten Heterostereotypen Sauberkeit, Disziplin und Reserviertheit werden hier übrigens Eigenschaften genannt, die den ‚Deutschen‘ von den ‚Russen‘ bereits seit Jahrhunderten zugeschriebenen werden. Hinzu kommen ökonomische und wissenschaftliche Bewertungen, die sich in den genannten Eigenschaften gute Techniker (29 %) und gute Ärzte (14 %) wiederfinden. Dazu Kommentierungen der Probanden: H) „Maschinenbau ist in Deutschland sehr gut entwickelt. Die deutschen Autos wie BMW, Mercedes, Porsche werden weltweit am meisten verkauft. Die Russen kaufen sogar deutsche Gebrauchtwagen.“ (männlich, 22 Jahre, russisch) I) „Es besteht große Nachfrage nach deutscher Technik (Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen). Miele, Siemens, Bosch sind führende Unternehmen in der Welt.“ (weiblich, 27 Jahre, russisch)
Zur Medizintechnik und den Ärzten wird Folgendes gesagt: J) „Manche schwerkranke Patienten fahren nach Deutschland, weil in deutschen Krankenhäusern hochqualifizierte Spezialisten arbeiten. Die Kliniken sind modern ausgestattet.“ (weiblich, 25 Jahre, russisch) K) „In Deutschland werden heute erfolgreich solche Krankheiten geheilt wie Krebs und Blutkrankheiten. Das ist dadurch bedingt, dass es in Deutschland außer guten Ärzten auch die notwendigen Geräte gibt, was in Russland fehlt.“ (weiblich, 47 Jahre, russisch)
Laut den bisherigen Ergebnissen der Befragung herrschen im russischen Bewusstsein positive Stereotypen über die Deutschen vor. Bei manchen Eigenschaften muss allerdings eine interkulturelle Perspektive eingenommen werden, wenn man zu einer angemessenen Bewertung kommen möchte. Wie wir bereits ausführten, ist die Eigenschaft Nationalstolz aus deutscher Sicht nicht positiv konnotiert, aus russischer Sicht ist es jedoch positiv, wenn sich ein Individuum zu seinem Land bekennt, sein Land liebt und darauf stolz ist. Das gilt für Russen (als Autostereotyp) in gleicher Weise wie für die Deutschen (als Heterostereotyp).¹
Das wird auch durch die Forsa-Untersuchung (s.o.) bestätigt.
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Umgekehrt können die beiden Eigenschaften reserviert (18 %) und sparsam (16 %) aus russischer Sicht nicht positiv interpretiert werden. Reserviertheit wird von Russen eher negativ eingeschätzt, weil diese Eigenschaft bei der Herstellung persönlicher Kontakten hinderlich ist. Das häufig zunächst reservierte und korrekte Verhalten der Deutschen ist ein Gegenpol zu der russischen Selbsteinschätzung, die sich in den Autostereotypen humorvoll (77 %), kameradschaftlich (68 %), Gastfreundlichkeit (63 %) und Umgänglichkeit (63 %) widerspiegelt. Im russischen Kontext erhält auch die den Deutschen zugeschriebene Eigenschaft sparsam eine negative Färbung – der Begriff kann als ein Euphemismus für das Adjektiv geizig angesehen werden. Der rationale Umgang mit Geld ist für die Deutschen charakteristisch. Die Russen denken jedoch, dass die im Vergleich zu den Russen wohlhabenden Deutschen mit dem Geld ‚großzügiger‘ umgehen könnten.² Wenn wir abschließend noch einmal auf die Forsa-Untersuchung zurückkommen und sie mit unserer Studie vergleichen, so ist festzustellen, dass eine breite Anzahl von 178 Eigenschaften wie in unserer Studie zu einer statistischen Streuung führt, die ein realistischeres Bild der Einstellungen wiedergibt. Auch hier zeigen sich aber trotz der größeren Wahlmöglichkeit bestimmte Eigenschaften für Russen und Deutsche, für die es bei den Befragten große Übereinstimmungen gab. Nicht überraschend waren die Ergebnisse für die deutsche Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Die Eigenschaft staatsgläubig hat bei Russen im Unterschied zu dem Verständnis in Deutschland jedoch eine positive Färbung. Nach Meinung der Russen kümmert sich der deutsche Staat sehr um seine Bürger: Es gibt Sozialhilfe und sogar Flüchtlinge und Zuwanderer werden versorgt. Auch die Russlanddeutschen, die ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, werden nach der Übersiedlung vom deutschen Staat unterstützt – aus russischer Perspektive eine großzügige Fürsorge, durch die das Stereotyp des deutschen Staates, an den man „glauben“ kann, weiter gespeist wird.
5 Erkenntnisse In unserer Erhebung zeigte sich, dass durch die Übernahme der zusammenfassenden Stereotypen-Eigenschaftenliste von Apeltauer sowohl eine Chance als auch ein Risiko liegt: Durch die über 70 Jahre lang dauernde Diskussion der Eigenschaftslisten in Fachkreisen hat sich eine Grundlage an anerkannten Begrifflichkeiten gebildet, die zur Durchführung von Stereotypenbefragungen hilf-
Vgl. hierzu auch die Bewertung der Russen durch die Deutschen als großzügig.
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reich ist und auf die jederzeit zurückgegriffen werden kann. Auch Vergleiche zwischen den Studien werden dadurch möglich. Jedoch zeigen neuere Studien (wie die der Forsa und die von Grünewald), dass es bestimmte Eigenschaften gibt, die hinzugefügt werden sollten und die in der Zusammenführung der tradierten Eigenschaften bei Apeltauer fehlen. Eine Eigenschaftsliste sollte in gewissen Abständen überprüft und angeglichen werden, um gesellschaftliche Veränderungen auch begrifflich widerspiegeln zu können. Dabei kommen, wie gezeigt, neue Begriffe oft nur durch offene Vor-Befragungen zustande, z. B. bei der ForsaUmfrage die Begrifflichkeiten trinkfest ³ und friedliebend sowie bei der Befragung Grünwalds der Terminus umweltbewusst. Gleichzeitig wird deutlich, dass in einer Diskussion über die „Bilder in unseren Köpfen“ nicht nur die Einführung neuer Begrifflichkeiten im Fokus stehen sollte, sondern auch bereits eingeführte und übernommene Eigenschaften ständig überprüft werden sollten. Existieren doch in den vorangegangen Studien oft Eigenschaften, die entweder auf historischen Begebenheiten oder auf veralteten sozialen Strukturen und Wertebildern basieren. Solche Eigenschaften ohne Diskussion und ohne Aktualitätsabgleich ‚blind‘ zu übernehmen, birgt das Risiko, aktuelle Einstellungen nicht erheben zu können und Vorurteile (und wohlgemerkt keine Stereotype) von Epoche zu Epoche weiterzutragen. Eine solche Angleichung fehlt bei Apeltauer. Aus diesem Grund werden wir für die Fortführung unserer Studien die Begrifflichkeiten noch einmal überprüfen. Zudem sollten Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort der Befragten statistisch ausgewertet werden. Denn es ist vielleicht ein Unterschied, ob Menschen in Russland zum Deutschlandbild befragt werden, die in Ostsibirien oder im europäischen Teil Russlands leben. Und in Deutschland könnten sich Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern zeigen. Solche statistischen Differenzierungen sind bisher nicht vorgenommen worden. Des Weiteren werden wir künftig mit Online-Erhebungen arbeiten, da sich das Verschicken, Austeilen und Einsammeln von Fragebögen in Papierform als mühsam erweist. Auch wenn wir in Deutschland nicht darüber nachdenken: Papier, das Ausdrucken und das Verschicken von Fragebögen u. a.m. stellt für Forscher in Russland eine erhebliche finanzielle Belastung dar, die heute vermieden werden kann. Durch das Internet sind Erhebungen auch online möglich. Die Vorteile dabei wären zum einen die Möglichkeit einer direkten Rückkopplung zu den Befragten, eine direkte Erfassung der Antworten ohne die Problematik von Übertragungsfehlern in der Datenmatrix, zum andern eine daraus resultierende enorme Zeit-
Hier ist über einen Euphemismus wie trinkfreudig nachzudenken.
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ersparnis bei der Auswertung. Durch die Möglichkeiten der digitalen Datenerfassung ergeben sich aber noch weitere Vorteile: So können doppelt eingegebene Fragebögen sofort erkannt, anhand der mitübermittelten IP-Adressen die regionale Herkunft erfasst und Daten ohne Aufwand nach bestimmten Kriterien sortiert werden. Künftige Untersuchungen werden aus diesen Gründen methodologisch und inhaltlich neue Perspektiven aufzeigen.
Literatur Ammon, Ulrich (1991): Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin/New York: de Gruyter. Apeltauer, Ernst (Hg.) (2002): Interkulturelle Kommunikation. Deutschland – Skandinavien – Grossbritannien. Tübingen: Narr. Apresjan, Ju (1995): „Dejksis v leksike i grammatike i naivnaja kartina mira [Deixis in Lexik und Grammatik und die naive Weltsicht].“ In: Semiotika i informatika 28, 28. Moskau: PIK WINTI. Deutschland-Liste (2011): http://www.goethe.de/ins/be/prj/dli/deindex.htm (15. 02. 2013). Forsa (2007): Das Russland-Bild der Deutschen. Wahrnehmung, Urteile und Stereotype. http:// www.wingas.de/fileadmin/Presse_PDF/2007/Charts_PK_Druckversion.pdf(14. 02. 2013). Gačev, Georgij (1998): Nacional′nyje obrazy mira. Kurs lekcij [Die Nationalen Vorstellungen von der Welt. Ein Lehrbuch]. Moskau: Akademija. Grünewald, Matthias (2005): Bilder im Kopf. Eine Longitudinalstudie über die Deutschlandund Deutschenbilder japanischer Deutschlernender. München: Iudicium. Katz, Daniel/Braley, Kenneth (1933): „Stereotypes of one Hundred College Students“ In: Journal of Abnormal and Social Psychology 28. 280 – 290. Kon, Igor (1966): „Psichologija predrassudka. O social′no-psichologičeskich kornjach ėtničeskich predubeždenij [Die Psychologie des Vorurteils. Über die sozialpsychologischen Wurzeln ethnischer Vorurteile].“ In: Novyj mir, Moskau: Izvestija. 187 – 205. Lippmann, Walter (1989): Die öffentliche Meinung. Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer (Übersetzung von „Public Opinion“ 1922). Sodhi, Kripal S./Bergius, Rudolf (1953): Nationale Vorurteile. Berlin: Duncker und Humblot. Springer, Philipp/Jahn, Peter (2008): Unsere Russen – unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000. Berlin: Ch. Links.
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Anhang Merkmalliste für Deutsche (Erhebung in D) Studienfächer / Beruf Geschlecht: Alter: Deutsche sind / haben… (bitte ankreuzen)
Nationalität:
Sonja Vandermeeren
Kulturdimensionen und Stereotype: eine empirische Untersuchung in Dänemark und Deutschland Abstract: Interkulturelle Kompetenz wird in Wirtschaftskreisen als eine wesentliche Schlüsselqualifikation angesehen. Sie hilft, Absatzmärkte zu erschließen und mit ausländischen Geschäftspartnern effektiv umzugehen. Interkulturelle Kompetenz bietet Handlungssicherheit in internationalen Kontaktsituationen. Kulturwissen und Wissen um Stereotype sind zwei wesentliche Bestandteile der interkulturellen Kompetenz. Der vorliegende Beitrag geht kurz auf die Begriffe „Kultur“ und „Stereotype“ ein und verknüpft sie vor dem Hintergrund des Konzepts „Kulturdimension“ miteinander. Die Auswertung einer empirischen Studie mit dänischen und deutschen Studierenden als Informanten bietet einerseits die Möglichkeit einer Kulturanalyse und eines Kulturvergleichs. Andererseits können stereotype Vorstellungen von Dänen und Deutschen behandelt und verglichen werden. Außerdem wird versucht, die mehrheitliche Selbstwahrnehmung der Informanten mit der mehrheitlichen stereotypen Eigenkulturwahrnehmung bzw. Fremdkulturwahrnehmung zu vergleichen. Keywords: Kultur, Kulturdimensionen, Stereotype, Autostereotype, Heterostereotype
1 Einleitung Kommunikation ist abhängig von der Übereinstimmung zwischen dem, was Kommunikationsteilnehmer auszudrücken meinen, und dem, was die anderen Teilnehmer verstehen. Oder anders formuliert: Die Enkodierung und die Dekodierung einer Botschaft müssen sich decken, wenn eine Verständigung zustande kommen soll. Ein erfolgreiches En- und Dekodieren von Botschaften in interkulturellen Interaktionen ist ohne Wissen um die Kultur der Kommunikationspartner nicht möglich. En- und Dekodierungsfertigkeiten sind nicht nur verbaler Natur (zum Beispiel die Fähigkeit, sich pragmatisch verständlich auszudrücken), sondern beinhalten auch Paraverbales (zum Beispiel das Treffen einer akzeptablen Lautstärke) und Nonverbales (zum Beispiel das Zeigen der angemessenen Mimik und Gestik).
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Beim En- und Dekodieren im interkulturellen Kontakt spielt außerdem die Wahrnehmung des Kommunikationspartners eine Rolle. Zu einem großen Teil ist diese Wahrnehmung von Stereotypen geprägt. Beim Versuch, den Kommunikationspartner einzuschätzen, wird in grenzüberschreitenden Kontakten häufig auf stereotype Vorstellungen zurückgegriffen. Kulturwissen und Wissen um Stereotype sind also zwei wesentliche Bestandteile der interkulturellen Kompetenz. Es muss darauf hingewiesen werden, dass interkulturelle Kompetenz erstens auch Fremdsprachenkenntnisse und zweitens nicht nur fremdkulturelles, sondern auch eigenkulturelles Wissen voraussetzt (Losche 2009, 30). Wissen um die eigene Kultur macht Verständnis für Fremdkulturelles erst möglich.
2 Was ist Kultur? In Anlehnung an den Psychologen Alexander Thomas (1999) kann Kultur als ein Orientierungssystem, welches das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln der Mehrheit der Kulturmitglieder beeinflusst, definiert werden. Was passiert, wenn in interkulturellen Interaktionen das eigenkulturelle Orientierungssystem versagt? Unterschiedliches Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln erschweren die Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen erheblich. Thomas (1991, 5) sieht gewisse Toleranzgrenzen. Werden diese überschritten, so wird dies jedoch als fremd und anormal empfunden.
3 Wie lassen sich Kulturen in ihrer Unterschiedlichkeit erfassen? Das Konstrukt der Kulturdimensionen hilft, die grundlegenden Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns, welche die Mehrheit der Mitglieder einer Kultur als normal und verpflichtend betrachtet, zu erfassen. Ein wichtiger Wegbereiter des Ansatzes der Kulturdimensionen ist Edward T. Hall (1973). Er hat sich u. a. mit den Dimensionen „Kontextorientierung“ und „Zeitverständnis“ beschäftigt. Kulturen mit einem geringen Kontextbezug vernachlässigen den Kontext, d. h. Kommunikationspartner setzen nur wenig gemeinsames Vorwissen voraus. Sie drücken sich daher sehr explizit aus. Einen geringen Kontextbezug haben Kulturen, deren Mitglieder in der Kommunikation eher direkte Botschaften senden
Kulturdimensionen und Stereotype
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und die Aufgabenorientierung oder die Sachorientierung bevorzugen (Losche 2009, 23). In einer Kultur mit hohem Kontextbezug ergibt sich ein Großteil der Kommunikation stillschweigend aus dem Kontext, d. h. aus dem gemeinsamen Vorwissen. Die Kommunikationspartner versuchen, offene Konflikte und somit Gesichtsverlust für das Gegenüber zu vermeiden. Sie bevorzugen also die Beziehungsorientierung. Sie achten außerdem sehr auf indirekte nonverbale Zeichen. Die Dekodierung der Botschaft ist ohne Kenntnis der kulturellen Regeln des Zwischen-den-Zeilen-Lesens demnach nicht möglich. Mitglieder von Kulturen, die ein monochrones Zeitverständnis haben, planen, was sie zu welchen Zeitpunkten in welcher Reihenfolge machen. In Kulturen mit einem polychronen Zeitverständnis werden Aktivitäten gleichzeitig angegangen und durchgeführt. Durch seine Arbeit mit Kulturdimensionen ist Geert Hofstede bekannt geworden. Er definiert Kulturdimensionen als Aspekte einer Kultur, die sich im Verhältnis zu anderen Kulturen messen lassen (Hofstede 1993, 29). Aus einer groß angelegten empirischen Studie filterte er zunächst vier Dimensionen kulturspezifischer Unterschiede heraus. Auch sein Schüler Fons Trompenaars bietet einen Katalog mit Kulturdimensionen an. Beide Forscher beschäftigen sich vorrangig mit der interkulturellen Kommunikation im Wirtschaftsbereich. Im Folgenden werden die mittlerweile sieben Dimensionen von Hofstede und die sieben Dimensionen von Trompenaars präsentiert. Hofstede unterscheidet zwischen Kulturen mit geringer und hoher Machtdistanz, je nach Bedürfnis nach Hierarchie und Statusdifferenzierung. Die Machtdistanz ist der Grad, bis zu welchem die weniger mächtigen Kulturmitglieder erwarten und akzeptieren, dass Macht ungleich verteilt ist (Hofstede 2001, 28). Eine der Fragen, mit denen das Ausmaß der Machtdistanz in einer Kultur gemessen werden kann, ist die Frage, ob an Vorgesetzten Kritik geäußert werden darf. In bestimmten Kulturen ist Selbstverantwortung (Individualismus) wichtig, in anderen die Identifizierung mit Gruppen, die loyale Mitglieder schützen (Kollektivismus) (Hofstede 2001, 66 f.). Bei einer weiteren Dimension unterscheidet Hofstede zwischen Maskulinität und Femininität. In maskulinen Kulturen sind die Geschlechterrollen klar voneinander abgegrenzt. Männer haben bestimmend, hart und materiell orientiert zu sein. Frauen dagegen müssen bescheidener und sensibler sein sowie mehr Wert auf Lebensqualität legen. In femininen Kulturen überschneiden sich die Rollen der Geschlechter. Sowohl Frauen als auch Männer sollen bescheiden und feinfühlig sein, sowie Wert auf Lebensqualität legen (Hofstede 2001, 115).
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Die vierte Dimension, die Hofstede postuliert, nennt sich Unsicherheitsvermeidung. Sie beschreibt, inwieweit sich eine Kultur durch ungewisse und unvorhergesehene Situationen bedroht fühlt. Eine Kultur, die Unsicherheit vermeidet, benötigt Regeln und Sicherheitsmaßnahmen (Hofstede 2001, 156 – 158). Langzeitorientierung setzt Tugenden, die auf künftigen Erfolg ausgerichtet sind, voraus: Anpassungsvermögen, Fleiß, Beharrlichkeit und Sparsamkeit. Kurzzeitorientierung lässt sich mit Vergangenheit und Gegenwart verbinden. Kennzeichnend sind Respekt vor Traditionen, Angst vor Gesichtsverlust und soziales Pflichtbewusstsein. Indulgenz ist das Gegenteil von Zurückhaltung. Genauer gesagt zielt die Indulgenz auf den verhältnismäßig großen Umfang, in dem Kulturmitglieder das Leben genießen, sich Spaß gönnen und sich beispielsweise konsumorientierte oder sexuelle Wünsche erfüllen (Hofstede et al. 2008, 9). Die Mitglieder monumentalistischer Kulturen sind stolz und beständig. In nichtmonumentalistischen Kulturen wird Bescheidenheit und Flexibilität belohnt (Hofstede et al. 2008, 10). Trompenaars erste Dimension erfasst, ob einer Kultur Regeln oder Beziehungen wichtiger sind. Universalistische Kulturen sind stark regelorientiert. Regeln gelten für alle gleichermaßen. Situationsabhängige Ausnahmen werden nur ungern gemacht. Wenn jemand gegen eine Regel verstößt, muss er mit Konsequenzen rechnen. In partikularistischen Kulturen sind Mitglieder eher Verwandten und Freunden als Regeln verpflichtet (Beziehungsorientierung) (Trompenaars 2011, 31). Die zweite Dimension („Individualismus – Kommunitarianismus“) ist völlig identisch mit der zweiten Dimension von Hofstede („Individualismus – Kollektivismus“). Die nächste Dimension („Emotionalität bzw. Affektivität vs. Neutralität“) beschreibt, ob der Ausdruck von Gefühlen akzeptiert wird (Trompenaars 2011, 69). Emotionalität und Affektivität werden von einer lebhaften Mimik begleitet. Expressivität entspannt den Gesichtsausdruck und die Haltung (Trompenaars 2011, 79). Wer versucht, die eigenen Gefühle zu verbergen, versteift in Mimik und Haltung. Kulturen, die spezifische Interaktionen bevorzugen, trennen den privaten Bereich klar von weniger privaten Bereichen. Die verneinende Antwort auf die Frage, ob mit Kollegen über Privates gesprochen wird, bringt die Spezifizität ans Licht. Kulturen, die Diffusität bevorzugen, legen den Begriff „Privatsphäre“ großzügig aus. Der Zugang vom Öffentlichen zum Privaten ist verhältnismäßig einfach (Trompenaars 2011, 81). Diffusität deckt sich teilweise mit Indirektheit und Partikularismus (also auch Beziehungsorientierung). Spezifizität beinhaltet auch Direktheit und Regelorientierung.
Kulturdimensionen und Stereotype
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Die Dimension „Statuszuschreibung“ hat die beiden Pole „Zuschreibung eines verliehenen Status“ und „Zuschreibung eines errungenen Status“. Errungener Status wird den Mitgliedern einer Kultur aufgrund ihrer eigenen (zum Beispiel beruflichen) Leistung zugeschrieben. Völlig anders ist es, wenn in einer Kultur einem die Familienherkunft Status verleiht. Die Einstellung der Zeit gegenüber kann vergangenheits-, gegenwarts- oder zukunftsorientiert sein. Dabei ist es wichtig, ob der Zeitbegriff sequentiell oder synchron geprägt ist. Synchron ist ein Synonym von polychron. Kulturen mit einem eher sequentiell geprägten Zeitbegriff planen ihre Aktivitäten genau, führen sie nacheinander aus und bevorzugen Pünktlichkeit (Trompenaars 2011, 120 ff.). In einigen Kulturen ist eher die Vorstellung, dass Menschen ihr Leben selbst in der Hand haben,verankert (Eigenkontrolle). In anderen Kulturen herrscht eher der Glaube, dass äußere Umstände die Menschen kontrollieren, vor (Fremdkontrolle). Hier wird an das Schicksal geglaubt und werden äußere Umstände als Gründe für Erfolg und Misserfolg gesehen (Trompenaars 2011, 141 ff.). Das Konzept der Kulturdimensionen bietet eine Chance der Verminderung kulturell determinierter Missverständnisse. Bereits definierte Kulturdimensionen werden in interkulturellen Trainingsprogrammen benutzt. Wissen um Kulturdimensionen hilft dabei, die Probleme, die bei interkulturellen Begegnungen entstehen, zu lösen. Ohne dieses Wissen werden fälschlicherweise die Ursachen dieser Probleme dem Gegenüber angelastet. Man meint, das Gegenüber verhält sich nicht „normal“. An verschiedenartige Kulturnormen wird weniger gedacht. Die Kommunikation funktioniert nicht oder nur bedingt und die Geschäftsbeziehungen werden in Mitleidenschaft gezogen.
4 Wie unterschiedlich sind die dänische und die deutsche Kultur? Es folgen die Ergebnisse einer Fragebogenaktion, die aus meiner Lehrveranstaltung „Interkulturelle Kommunikation“ an der Universität Kiel hervorgegangen ist. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde in Anlehnung an Hofstede, Trompenaars und Hall ein englischsprachiger Fragebogen zu Kulturdimensionen und Stereotypen für Studierende der Universität Kiel und der Syddansk Universitet entwickelt. Der neueste von Hofstede entwickelte Fragebogen für Firmenmitarbeiter erhebt Daten zu sieben Kulturdimensionen. Jede Dimension wird den Befragten verschiedener Kulturen in Form von 4 Fragen angeboten. Die Antworten auf jeden Block von 4 Fragen ergeben zusammen einen Wert (einen sogenannten Kultur-
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index) für die betreffende Dimension. Für jede Kultur werden so Werte für die Dimensionen ermittelt, die dann mit den Werten einer anderen Kultur verglichen werden können (Hofstede et al. 2008). Anders als Hofstede habe ich nicht exakt 4 Fragen pro Dimension formuliert (meistens weniger, gelegentlich mehr). Neben den Kulturdimensionen von Hofstede habe ich auch die Kulturdimensionen von Hall und Trompenaars berücksichtigt. Außerdem habe ich versucht, mittels des Chi-Quadrat-Tests auf der Ebene der Fragen signifikante Unterschiede zwischen den untersuchten Kulturen ans Licht zu bringen. Kulturindizes habe ich nicht berechnet. Die Fragen wurden möglichst dimensionen- und informantengerecht sowie eindeutig, konkret und einfach formuliert. 101 deutsche und 71 dänische Wirtschaftsstudierende haben den Fragebogen ausgefüllt. Berücksichtigt werden nur die Studierenden, die seit Geburt die deutsche bzw. dänische Nationalität haben. Dies trifft auf 87 % der befragten Deutschen und 82 % der befragten dänischen Studierenden zu. In die Berechnungen gehen somit 85 deutsche Informanten und 53 dänische ein. 47 % der dänischen Befragten sind weiblich, während nur 35 % der deutschen Befragten weiblich sind. Für die erste Fragebatterie „in choosing a job, how important would it be for you to …“ mussten die Studierenden aus sechs Antworten wählen: 1. extremely important, 2. important, 3. slightly important, 4. slightly unimportant, 5. unimportant und 6. extremely unimportant. In Vorbereitung auf die Chi-Quadrat-Tests wurden die Antworten 1, 2 und 3 gebündelt. Die gilt auch für die Antworten 4, 5 und 6. Das Kreuzen der elf Fragen der ersten Fragebatterie mit der Variablen „Nationalität“ lieferte nur einen signifikanten Unterschied bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von unter 5 %, d. h. bei einer Signifikanzgrenze von .05. In der Tabelle werden die kumulierten Prozente der ersten drei Antworten für die einzige Frage, welche die dänischen und deutschen Studierenden signifikant anders beantwortet haben, angegeben. An der Tabelle lässt sich ablesen, dass es den dänischen Informanten wichtiger als den deutschen ist, Kollegen zu haben, die direkt zu ihnen sind. Der Unterschied zwischen den Dänen und den Deutschen ist statistisch sehr signifikant. Tab. 1: Erste Fragebatterie in choosing a job
It is imporSignitant for me to fikanz Dänen Deutsche
have colleagues who are straightforward to me (Direktheit der Anderen)
, %
, %
.
Kulturdimensionen und Stereotype
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In der zweiten Fragebatterie werden den Informanten Gedanken und Wertvorstellungen in Form von neun Aussagen beschrieben. Die Studierenden konnten einer Aussage zustimmen (1. strongly agree, 2. agree, 3. slightly agree) oder diese ablehnen (4. slightly disagree, 5. disagree, 6. strongly disagree). Auch hier werden die angekreuzten Antworten gruppiert und nur signifikante Unterschiede aufweisende Antworten präsentiert. Es zeigt sich, dass Deutsche eher als Dänen der Aussage „being successful is a matter of luck“ zustimmen. Wenn wir die Informanten zwischen den beiden Extremen des Kontinuums der Dimension „Umweltverständnis“ positionieren, so sind sowohl die Dänen als auch die Deutschen ziemlich zentral einzuordnen, die Deutschen aber in Richtung des Pols „Fremdkontrolle“ und die Dänen in Richtung des Pols „Eigenkontrolle“. Auch die Dimension „Statuszuschreibung“ wurde im dänisch-deutschen Verhältnis gemessen. Für die Deutschen sind sowohl errungener als auch verliehener Status wichtig, errungener Status ist ihnen aber wichtiger als verliehener Status. Für die Dänen ist nur errungener Status einigermaßen wichtig. Sowohl verliehener als auch errungener Status sind für Dänen signifikant unwichtiger als für Deutsche. Was die Zuschreibung eines errungenen Status betrifft, liegt der Signifikanzwert nur ein wenig unter der Signifikanzgrenze von .05. Bei der Zuschreibung eines verliehenen Status liegt der Signifikanzwert weit unter der Signifikanzgrenze. Der Unterschied zwischen Dänen und Deutschen ist hier also sehr signifikant. Tab. 2: Zweite Fragebatterie with the following statements Dänen being successful is a matter of luck (Umweltverständnis: Fremdkontrolle) being respected is based on family background (Zuschreibung eines verliehenen Status) being respected is based on what one has succeeded in doing (Zuschreibung eines errungenen Status)
I agree Deutsche
Signifikanz
, %
, %
.
, %
, %
.
, %
, %
.
Die dritte Fragebatterie „How important is it in your opinion that your professors display the following ways of behaving in seminars“ umfasst acht Fragen. Nur die Beantwortung einer einzigen Frage hat zu signifikant unterschiedlichen Antworten geführt. Ein Chi-Quadrat-Test hat gezeigt, dass obwohl sowohl die dänischen als auch die deutschen Studierenden die Indirektheit ihrer Dozenten zu schätzen wissen, die deutschen Studierenden dies signifikant mehr tun als die dänischen. Im Vergleich mögen die dänischen Studierenden Direktheit also statistisch signifikant mehr als die deutschen. Die Antwort auf die diesbezügliche Frage aus der ersten Fragebatterie bestätigt dies. Der Vergleich der Antworten auf
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die beiden Fragen stellt uns jedoch auch vor Probleme. Es muss geklärt werden, ob der hierarchische Status der Gesprächspartner (Kollege versus Professor) das Ausmaß an akzeptierter Direktheit beeinflusst. Der Vergleich der Antworten macht auf jeden Fall deutlich, dass Dimensionen nicht undifferenziert bipolar beschrieben werden dürfen. Tab. 3: Dritte Fragebatterie that my professors display the following way of behaving in seminars
It is important for me Dänen Deutsche
Signifikanz
communicating to the students in an indirect/tactful way (Indirektheit eines Anderen)
, %
.
, %
Jeder Informant/jede Informantin gab beim Ausfüllen der Fragebatterie „Please indicate the approximate probability that you would …“ für jede beschriebene Handlung und Einstellung auf einer Sechspunkteskala von 100 % bis 0 % an, wie genau diese für ihn/sie zutrifft. Vergleicht man die Antworten der dänischen und deutschen Studierenden miteinander, stellt man fest, dass die dänischen indirekter als die deutschen sind: nur 41,2 % der dänischen Studierenden würden einen Freund in einer direkten Art kritisieren, während 78,6 % der deutschen Studierenden angeben, dies zu tun. Was die damit zu verbindende Kulturdimension „Beziehungsorientierung“ betrifft, zeigt sich, dass die dänischen Studierenden – anders als zu erwarten – nicht beziehungsorientierter als die deutschen Studierenden sind. Von Informanten wie den deutschen Studierenden mit einer stark ausgeprägten Direktheit, würde man eine weniger ausgeprägte Beziehungsorientierung erwarten. Es stellt sich die Frage, ob das Alter der Befragten die Antworten beeinflusst hat. Wiederum wird sichtbar, dass die Auswertung Differenzierungen verlangt. Wenn wir uns die Antworten auf alle Fragen bezüglich Direktheit bzw. Indirektheit anschauen, hat es den Anschein, dass deutsche Studierende lieber Sender als Empfänger direkter Botschaften sind. Dänische Studierende dagegen scheinen (obwohl sie selber verhältnismäßig indirekt sind) mit direkten Botschaften sehr gut zurechtzukommen. An der Tabelle kann noch abgelesen werden, dass deutsche Studierende – wenigstens was den Umgang mit eigenen Fehlern betrifft – vergangenheitsorientierter als dänische sind.
Kulturdimensionen und Stereotype
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Tab. 4: Vierte Fragebatterie Probably I would (approximate probability > %)
Dänen
Deutsche
Signifikanz
criticise a friend in a very direct way (eigene Direktheit) lie to protect a friend (Beziehungsorientierung) think about mistakes I made in the past (Vergangenheitsorientierung)
, %
, %
.
, %
, %
.
, %
, %
.
5 Was sind Stereotype? Stereotype sind die von den Mitgliedern einer Kultur geteilten Annahmen hinsichtlich der Eigenschaften der Mitglieder einer anderen Kultur. Diese Eigenschaften sind nicht immer mit Wertungen verbunden. Und wenn sie mit Wertungen verknüpft werden, so sind diese nicht notwendigerweise negativ. Stereotype Vorstellungen beeinflussen aber immer das Verhalten gegenüber Mitgliedern der anderen Kultur. Stereotype können als mentale Abkürzungen, die es erlauben, sich im Umgang mit Mitgliedern einer anderen Kultur (schnell) zurechtzufinden, bezeichnet werden. Stereotype Vorstellungen helfen in interkulturellen Interaktionen, die minimalen Kenntnisse bezüglich des Kommunikationspartners aufzustocken und somit den Kommunikationspartner berechenbar zu machen. Diese Berechenbarkeit ist jedoch nur Schein. Es wird nur ein mentales überschaubares Bild des Kommunikationspartners konstruiert. Wir haben auch mentale Bilder der Eigenkultur im Kopf. Diese werden Autostereotype oder kulturelle Selbstbilder genannt und sind Teil unserer Identität. Der Deutlichkeit halber werden Stereotype, die sich auf eine Fremdkultur beziehen, als Heterostereotype oder kulturelle Fremdbilder bezeichnet. Die Unterschiede zwischen den Auto- und Heterostereotypen (wir Deutsche sind … aber die Dänen sind …) werden vor allem bei Problemen in interkulturellen Interaktionen in den Vordergrund treten.
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6 Welche stereotypen Vorstellungen haben Dänen und Deutsche von sich selbst und voneinander? Der Fragebogen enthält auch zwei Fragebatterien, mit denen stereotype Vorstellungen festgestellt werden können. Die Stereotype wurden unter Berücksichtigung der untersuchten Dimensionen und der Arbeiten von Andersen (1997) und SchrollMachl (2007) ausgewählt. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass sich eine kulturdimensionenorientierte Beschreibung einer Kultur mit den stereotypen Vorstellungen der betreffenden Kultur verknüpfen lässt. Die Fragen „Wie ist eine Kultur?“ und „Wie wirkt eine Kultur?“ sind miteinander zu verbinden. Im Anschluss an die Behandlung der stereotypen Vorstellungen der dänischen und deutschen Informanten wird die Art dieser Verbindung behandelt. Mittels eines einzigen Katalogs von sechzehn stereotypen Aussagen wurden sowohl Auto- als auch Heterostereotype ermittelt. Die geschlossenen Fragen, mit denen Heterostereotype abgefragt werden, wurden nicht von allen Informanten ausgefüllt. Im Durchschnitt haben ca. 13 % diese Fragen nicht beantwortet, wahrscheinlich weil sie sich keine Meinung bilden konnten. Es zeigt sich, dass dänische Studierende mehr extreme heterostereotype Vorstellungen als deutsche haben. Bei sechs heterostereotypen Aussagen ist die kumulierte Prozentzahl derjenigen, die zustimmen, höher als 90 %. Ca. 98 % der Dänen halten die Deutschen für fleißig. Ca. 96 % meinen, dass sie explizite und detaillierte Information liefern. Ca. 94 % stufen sie als regelorientiert ein. Ca. 92 % gehen davon aus, dass Deutsche viel Respekt vor Vorgesetzten haben, pflichtbewusst sind und das Leben genießen wollen. Im Vergleich: Die deutschen Studierenden habe nur zwei extreme heterosterotype Vorstellungen: Dänen wollen ihr Leben genießen (ca. 93,2 %) und haben viel Nationalstolz (90,7 %). Es handelt sich auch hier um die kumulierten Prozentzahlen für die Antworten „strongly agree“, „agree“ und „slightly agree“. Die stereotype Vorstellung, dass Dänen weniger explizite und detaillierte Informationen als Deutsche geben, kann folgendermaßen quantifiziert werden: 65,3 % der deutschen Informanten sind der Meinung, dass Dänen explizite und detaillierte Informationen lieferten, während 91,8 % der deutschen Informanten angeben, dass Deutsche explizite und detaillierte Informationen liefern. Die Vergleichszahlen der dänischen Befragten: 73,6 % meinen, Dänen gäben explizite und detaillierte Informationen. Wie oben angeführt gehen 95,8 % davon aus, dass Deutsche dies tun. Eine 2003 durchgeführte Bedarfsanalyse (Vandermeeren 2003) zeigte zudem, dass sich Firmen aus Schleswig-Holstein tatsächlich mehr Informationen von ihren dänischen Geschäftspartnern wünschen.
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Welche autostereotypen Vorstellungen der Dänen unterscheiden sich signifikant von den heterostereotypen Vorstellungen der Deutschen? Die deutschen Studierenden schreiben den Dänen signifikant mehr Respekt vor Vorgesetzten und mehr Nationalstolz zu als die dänischen Studierenden den Dänen zuschreiben. Die deutschen Studierenden betrachten die Dänen außerdem als signifikant weniger individualistisch und arrogant als die dänischen Studierenden die Dänen betrachten. Die dänischen Studierenden bezeichnen die Dänen also als arroganter als die deutschen Studierenden dies tun. Tab. 5: Auto- und Heterostereotype von Dänen I agree with the following statements
Dänen
Deutsche
Signifikanz
Danes have a lot of respect for superiors Danes have a lot of national pride Danes are individualists Danes are arrogant
, % , % , % , %
, % , % , % , %
. . . .
Die dänischen Probanden stufen deutsche Menschen als signifikant weniger individualistisch ein als die deutschen Probanden deutsche Menschen. Die dänischen Informanten schreiben deutschen Menschen aber mehr Stolz, Risikobereitschaft, Nationalstolz und Unpünktlichkeit zu als die deutschen Informanten. Für die dänischen Studierenden sind deutsche Menschen also weniger pünktlich und haben mehr Nationalstolz als für deutsche Studierende. Wie erwartet schreiben Deutsche den Deutschen wenig Nationalstolz zu. Tab. 6: Auto- und Heterostereotype von Deutschen I agree with the following statements
Dänen
Deutsche
Signifikanz
Germans are proud people Germans are individualists Germans like taking risks Germans have a lot of national pride Germans are unpunctual (are usually late)
, % , % , % , % , %
, % , % , % , % , %
. . . . .
Die Informanten wurden auch darum gebeten, zwei offene Fragen zu beantworten, und zwar: „Sometimes commercials on television make use of characteristics of nationalities, e. g. Frenchmen enjoying their lives. What characteristics of Danes could be used in television commercials?“ und „What characteristics of Germans could be used in television commercials“. Sie durften diese Fragen in ihrer eigenen Muttersprache beantworten. Fast alle Antworten auf die offenen Fragen konnten kodiert werden, indem sie den Kulturdimensionen zugeordnet wurden.Wenn eine Äußerung eines Informanten nicht oder nicht explizit bei einer Dimension (z. B. „Zeitverständnis“) eingeordnet werden konnte, wurde sie einem überdachenden
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affinen Bereich (z. B. „Zeit“) zugeordnet. So entstand der unten stehende Stichwortkatalog. Die Kulturdimensionen und deren Pole (z. B. „Langzeitorientierung“, „sequentielles Zeitverständnis“) werden in dem folgenden Stichwortkatalog in Großbuchstaben geschrieben. Stichwortkatalog: ZEITVERSTÄNDNIS und Zeit SEQUENTIELLES ZEITVERSTÄNDNIS (z. B. pünktlich) ZUKUNFSTORIENTIERUNG (z. B. fortschrittlich) LANGZEITORIENTIERUNG (z. B. arbeiten hart) Traditionelles (z. B. Lederhosen) Historisches (z. B. Nationalsozialismus) AUFGABEN-/SACHORIENTIERUNG (z. B. pflichtbewusst) NEUTRALITÄT (z. B. kühl) versus AFFEKTIVITÄT (z. B. warmherzig) LEISTUNGSVERSTÄNDNIS und Leistung LEISTUNGSORIENTIERUNG (z. B. technisch fokussiert) Leistungen/Errungenschaften (z. B. wirtschaftlicher Erfolg) UNSICHERHEITSVERMEIDUNG (z. B. bürokratisch) versus RISIKOBEREITSCHAFT (z. B. spontan) DIREKTHEIT (z. B. direkt) INDULGENZ und Konsumgüter (z. B. das Leben genießen, gern Bier trinken, Bier) REGELORIENTIERUNG (z. B. Regeln befolgend) UMWELTVERSTÄNDNIS und Umwelt (z. B. naturverbunden, schönes Land) MONUMENTALISMUS (z. B. stolz) versus BESCHEIDENHEIT/FLEXIBILITÄT (z. B. flexibel) BEZIEHUNGSORIENTIERUNG (z. B. freundlich)
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Die deutschen Eigenschaften werden zuerst behandelt. Von den 85 deutschen Informanten haben 35 die deutsche Pünktlichkeit („sequentielles Zeitverständnis“) genannt und 11 erwähnten, dass Deutsche hart arbeiteten („Langzeitorientierung“). 25 deutsche Informantenäußerungen können zu der Dimension „Aufgabenorientierung“ bzw.“ Sachorientierung“ gestellt werden (z. B. pflichtbewusst, zuverlässig, genau, präzise, exakt, sorgfältig, akkurat, pedantisch). 8 Informantenäußerungen lassen sich dem Pol „Neutralität“ zuordnen (z. B. nicht emotional, kalt, kühl, verschlossen). 6 deutsche Studierende nennen deutsche technische oder wirtschaftliche Leistungen. Die Kulturdimensionen „Unsicherheitsvermeidung“ und „Direktheit“ lassen sich jeweils auch mit 6 Äußerungen bestücken. Unter „Indulgenz und Konsumgüter“ lassen sich 14 Äußerungen einordnen (z. B. mit Freunden Bier trinken, Party, Autos lieben, Wurst). Die 53 dänischen Informanten nennen auch die deutsche Pünktlichkeit („sequentielles Zeitverständnis“) und die harte Arbeit („Langzeitorientierung“) am häufigsten. Unter „Indulgenz und Konsumgüter“ lassen sich 9 dänische Äußerungen einordnen (z. B. Bier trinken). Wie äußern sich die Befragten zu den Dänen? Die deutschen Befragten betrachten die Dänen als freundlich („Beziehungsorientierung“), beschreiben ihr „Umweltverständnis“ (z. B. lieben Strand und See naturbelassen, sind naturverbunden) und die dänischen Landschaften. Die Dänen werden von ihnen nicht nur als locker, entspannt, offen und warmherzig („Affektivität“), sondern auch als zufrieden und glücklich („Indulgenz“) bezeichnet. Auch die Antwort „Hotdogs“ kam häufiger vor („Konsumgüter“). Der National- und Royalstolz der Dänen blieben auch nicht unerwähnt („Monumentalismus“). Die dänischen Studierenden betonen, dass die Dänen das Leben genießen und glücklich sind („Indulgenz“).
7 Wie lassen sich die Begriffe „Kultur“ und „Stereotype“ verknüpfen? Fons Trompenaars beschreibt in seinem Buch „Riding the Waves of Culture“ (S. 25) Kultur als eine Anzahl von Normalverteilungen – für jede Kulturdimension eine Normalverteilung, d. h. eine Häufigkeitsverteilung der Kulturmitglieder mit zwei niedrigprozentigen Enden (links und rechts) und einer großen Anhäufung von Mitgliedern in der Mitte (Abb. 1). Die Abbildung veranschaulicht, dass Kulturdimensionen die dominierenden Betrachtungsweisen, Werte und Handlungen der Mehrheit der Kulturmitglieder erfassen und dass sich Kulturen teilweise überlappen. Sie zeigt auch, wie Kulturen, die sich, was eine bestimmte Dimension betrifft, si-
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Abb. 1: Kulturdimensionen und stereotype Vorstellungen
gnifikant unterscheiden, extreme stereotype Vorstellungen voneinander haben können. Sie beschreiben sich gegenseitig ausgehend von den Kulturmitgliedern, die am meisten auffallen. Diese befinden sich an einem der Enden der Normalverteilung und bilden somit nur eine kleine Minderheit. Stereotype sind Übertreibungen. Versuchen wir anhand eines Beispiels die mehrheitliche Selbstwahrnehmung der dänischen Informanten (ein bei dieser Zielgruppe gemessener Kulturaspekt) ihrer autostereotypen und der heterostereotypen Vorstellung der deutschen Informanten gegenüberzustellen. Fast die Hälfte der dänischen Studierenden gibt an, dass sie Nationalstolz empfänden. Fast drei Viertel der dänischen Studierenden gehen davon aus, dass Dänen einen großen Nationalstolz besitzen. Fast alle deutschen Studierenden schreiben den Dänen einen großen Nationalstolz zu. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die mehrheitliche Selbstwahrnehmung, mithilfe derer Dimensionen quantifiziert werden, sehr deutlich von stereotypen Vorstellungen unterscheidet. Die Stereotype sind extremer und übertrieben. Tab. 7: Selbstwahrnehmung der Dänen und stereotype Vorstellungen Mehrheitliche Selbstwahrnehmung der Dänen feel national pride MONUMENTALISMUS , %
Mehrheitliche Kulturwahrnehmung der Dänen Danes have a lot of national pride autostereotyp Heterostereotyp , %
, %
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8 Zusammenfassung und Ausblick Neben Kulturdimensionen sind auch Stereotype eine Erscheinungsform interkultureller Kommunikation. In interkulturellen Situationen werden dem Gegenüber (positive und negative) Eigenschaften je nach Herkunftskultur zugeschrieben. Wissen um Kulturdimensionen und um die stereotype Wahrnehmung des Gegenübers sind wichtige Komponenten der interkulturellen Kompetenz. In diesem Beitrag werden im Rahmen einer Voruntersuchung die Antworten von deutschen und dänischen Wirtschaftsstudierenden auf Fragen, die fünfzehn Kulturdimensionen und sechzehn Stereotype abdecken, ausgewertet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die dänischen und deutschen Informanten vor allem in Hinblick auf fünf Kulturdimensionen unterscheiden: „Direktheit“, „Umweltverständnis“, „Statuszuschreibung“, „Beziehungsorientierung“ und „Vergangenheitsorientierung“. Es muss noch untersucht werden, ob diese Vergangenheitsorientierung eventuell mit einer Zukunftsorientierung zu verknüpfen ist (wird über die Vergangenheit nachgedacht, um die Zukunft besser gestalten zu können?). Beim Vergleichen der stereotypen Vorstellungen dänischer und deutscher Informanten fallen die Vorstellungen bezüglich Nationalstolz und Individualismus besonders auf. Diese sind signifikant unterschiedlich, unabhängig davon, ob sie Dänen oder Deutsche als Objekt haben. Die dänischen Studierenden schreiben den Dänen weniger Nationalstolz zu als die deutschen Studierenden, während sie den Deutschen mehr Nationalstolz als die deutschen Informanten zuschreiben. Individualismus messen die dänischen Informanten den Dänen mehr bei als den deutschen Informanten. Den Deutschen messen sie weniger Individualismus bei als die deutschen Informanten. Die Voruntersuchung hat außerdem zu folgender Erkenntnis geführt: Die kulturdimensionengebundenen Unterschiede zwischen Dänen und Deutschen sind noch stärker differenzierbar. So können zum Beispiel zusätzliche Fragen bezüglich der Dimension „Direktheit“ zwischen dem Akzeptieren direkter Botschaften beim Dekodieren und dem Praktizieren von Direktheit beim Enkodieren im Kontakt mit bestimmten Gesprächspartnergruppen differenzieren. Es empfiehlt sich, noch eine weitere Voruntersuchung (ähnlich im Umfang) mit Angestellten dänischer und deutscher Firmen als Informanten durchzuführen, um einen eventuellen Einfluss der Informantenvariablen entdecken zu können. Mithilfe beider Voruntersuchungen können die im dänisch-deutschen Kontext relevanten Kulturdimensionen bzw. stereotype Vorstellungen identifiziert werden, die in der umfangreicheren Hauptuntersuchung „Nationale Stereotype und Marketingstrategien in der deutsch-dänischen interkulturellen Kommunikation“ (einem Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Sprache und Kommunikation an
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der Süddänischen Universität Odense und dem Germanistischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) näher zu untersuchen sind.
Literatur Andersen, Anne-Marie (1997): Interkulturelle Wirtschaftskommunikation in Europa: Deutschland – Dänemark. Tostedt: Attikon. Hall, Edward T. (1973): The silent language. New York: Anchor. Hofstede, Geert/Hofstede, Gert Jan/Minkov, Michael/Linken, Henk (2008): Manuel Values Survey Module (2008). www.geerthofstede.nl (25. 02. 2013). Hofstede, Geert (1993): Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen – Organisationen – Management. Wiesbaden: Gabler. Hofstede, Geert (2001): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. München: DTV. Losche, Helga (2009): Interkulturelle Kommunikation. Sammlung praktischer Spiele und Übungen. Augsburg: Ziel-Verlag. Schroll-Machl, Sylvia (2007): Die Deutschen – Wir Deutsche. Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, Alexander (1991): Kulturstandards in der internationalen Begegnung. Saarbrücken: Verlag für Entwicklungspolitik. Thomas, Alexander (1999): „Kultur als Orientierungssystem und Kulturstandards als Bausteine.“ In: IMIS-Beiträge 10. 91 – 130. Trompenaars, Fons/Hampden-Turner, Charles (2011): Riding the Waves of Culture. Understanding diversity in global business. London & Boston: Nicholas Braeley. Trompenaars, Fons (1993): Handbuch globales Managen – Wie man kulturelle Unterschiede im Geschäftsleben versteht. Düsseldorf, Wien, New York, Moskau: Econ Verlag. Vandermeeren, Sonja (2003): „German language needs in Danish companies.“ In: Hermes Journal of Linguistics 31. 13 – 29.