»Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion« im Licht der katholischen Soziallehre / Identity and the Tradition of Catholic Social Thought: Understanding »Diversity, Equity, and Inclusion«. 3428190432, 9783428190430

Das Schlagwort »Diversity, Equity, and Inclusion« (»Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion«) dient in wachsendem Maße in

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German Pages 217 [220] Year 2023

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»Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion« im Licht der katholischen Soziallehre / Identity and the Tradition of Catholic Social Thought: Understanding »Diversity, Equity, and Inclusion«.
 3428190432, 9783428190430

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S ozia l e Ori enti er ung Band 30

„Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ im Licht der katholischen Soziallehre/ Identity and the Tradition of Catholic Social Thought: Understanding „Diversity, Equity, and Inclusion“ Herausgegeben von Stefan Mückl

Duncker & Humblot · Berlin

Stefan Mückl (Hrsg.)

„Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ im Licht der katholischen Soziallehre/Identity and the Tradition of Catholic Social Thought: Understanding „Diversity, Equity, and Inclusion“

Sozia le Orientierung herausgegeben von

Anton Rauscher (†) ∙ Stefan Mückl ∙ Arnd Uhle

Band 30

„Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ im Licht der katholischen Soziallehre/ Identity and the Tradition of Catholic Social Thought: Understanding „Diversity, Equity, and Inclusion“ Herausgegeben von Stefan Mückl

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0720-6917 ISBN 978-3-428-19043-0 (Print) ISBN 978-3-428-59043-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Schlagwort „Diversity, Equity, and Inclusion“ (abgekürzt „DEI“), auch im Deutschen zunehmend als „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ präsent, dient in wachsendem Maße in Politik, Wirtschaft, Universität, in Teilen auch schon in der Kirche, dazu, im Namen einer (tatsächlich oder vermeintlich benachteiligten) Minderheit der (zumeist) schweigenden Mehrheit bestimmte Verhaltensweisen aufzuerlegen und ihren Sprachgebrauch zu steuern. Sofern „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ Respekt vor der Würde eines jeden Menschen, Toleranz, Teilhabe und Solidarität bedeuten, stammen sie aus der christlichen Tradition und verdienen Unterstützung. Geht es aber darum, Verhaltensweisen zu propagieren und durchzusetzen, welche der christlichen Moral und Anthropologie – zudem nicht selten dem geltenden Recht – widersprechen, stellt sich der katholischen Soziallehre die dringende Aufgabe der Kritik wie der Verdeutlichung ihrer Lösungsansätze im Hinblick auf bestehende Ungerechtigkeiten. Vor diesem Hintergrund widmete sich das 16. Deutsch-Amerikanische Kolloquium, das vom 24. bis 29. Juli 2022 an der University of St. Thomas in St. Paul (Minnesota) stattfand, dem Rahmenthema „,Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion‘ im Licht der Katholischen Soziallehre“. Wie bei den früheren, seit 1990 wechselweise in Deutschland und in den Vereinigten Staaten stattfindenden, Kolloquien, trafen sich Vertreter verschiedener Fachdisziplinen, um das Rahmenthema aus interdisziplinäre Perspektive zu untersuchen und zu diskutieren. Neben grundsätzlichen Fragen wurde den aktuellen Tendenzen in ihrer historischen Perspektive ebenso Raum gegeben wie den Herausforderungen von „DEI“ für das Handeln von Staat wie Kirche und ihren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Auch an dieser Stelle gilt es, herzlichen Dank auszusprechen: Herr Kollege Richard Dougherty (University of Dallas, Texas) hat in Nachfolge seines Fakultätskollegen William Frank die Teilnahme der amerikanischen Wissenschaftler koordiniert. Bei der organisatorischen Vorbereitung des 16. Deutsch-Amerikanischen Kolloquiums leistete Herr Kollege Martin Schlag (University of St. Thomas) vor Ort wertvolle Hilfe. Schließlich danke ich dem Verlag Duncker & Humblot vielmals für die bewährt gute Zusammenarbeit bei der Herstellung dieses Berichtsbandes. Rom, im Oktober 2023

Stefan Mückl

Inhaltsverzeichnis I. Grundlagen/Foundations Richard J. Dougherty What is an American? The Identity of Catholics in the American Polity . . . . . .

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Francis Fast Thomas Aquinas and the Function of Law in Regulating Individual Identity . . .

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II. Aktuelle Tendenzen in historischer Perspektive/ Current Trends in Historical Perspective Jürgen Aretz Das Jahr 1968: Deutsche Reminiszenzen und aktuelle Bezüge . . . . . . . . . . . . . .

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Giuseppe Franco Für ein gerechteres und inklusiveres Wirtschaften: Der Beitrag der Franziskanischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Schlag Die Relevanz der Deutsch-Amerikanischen Tradition des sozialen Katholizismus für die zeitgenössische Bewegung „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“

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III. Herausforderungen für das Handeln von Staat und Kirche/Challenges for the State and the Church Christian Hillgruber Meinungsfreiheit in Zeiten von Wokeness und Cancel Culture . . . . . . . . . . . . . . 101 Stefan Mückl „Es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt“ (2 Tim 4,3): Herausforderungen für den Verkündigungsdienst der Kirche . . . . . 119 Matthew Walz Overcoming the Limits of Identity Politics. Religion and Manners as Dispositive for Social Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

8

Inhaltsverzeichnis

IV. Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft/ Impact on the Economy and Society Lothar Häberle Diversität in Deutschland – zwischen „Nur-Vielfalt“, Antidiskriminierung und Macht im Recht. Zur Wirkmächtigkeit politischer Agenden . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Nicholas T. Pinchuk Diversity: The Power and the Perils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Manfred Spieker Sexuelle Vielfalt – Woher kommt und was will das Gender-Mainstreaming? . . 195 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

I. Grundlagen/Foundations

What is an American? The Identity of Catholics in the American Polity By Richard J. Dougherty The past decade in America has seen a wide-spread debate about the question of how we honor or recognize notable historical figures. A growing movement to reconsider past honorees has resulted in a reconsideration of the rationale behind such recognition, with the practical result being that statues have been torn down, some removed to private spaces or sold off, buildings renamed, and programs and institutions renamed or reconfigured as well. Much as one might decry the heated rhetoric and violence that have accompanied these actions, one might at the same time recognize that there is nothing inherently wrong with engaging in a regular rethinking of one’s commitments and tailoring one’s response to issues of the day. But such considerations should be made under the most favorable conditions for analysis, including an open discussion of the pros and cons of taking a particular position, and a full treatment of the facts of the case as we know them. For example, in Washington, D.C., there is statue known as the Freedman’s Memorial, which celebrates the issuance of the Emancipation Proclamation; the statue depicts Abraham Lincoln standing tall over a freed slave, with Lincoln seemingly recognizing the newly-found freedom of the former slave with a hand gesture slightly above him. Objections have been raised to the statue, as to some it seems to indicate that the freedman has not done anything to earn that freedom but is beholden to someone else – there is a perceived absence of agency in the former slave. It would be good here in assessing the relative merits of the statue to recognize the voice of Frederick Douglass, a sometime fierce critic of President Lincoln, but an advocate of the memorial; indeed, he spoke at the unveiling of the statue, in these words: “The trust that Abraham Lincoln had in himself and in the people was surprising and grand, but it was also enlightened and well-founded. He knew the American people better than they knew themselves, and his truth was based upon this knowledge.” Douglass concluded his comments by noting that, “when the foul reproach of ingratitude is hurled at us [free blacks], and it is attempted to scourge us beyond the range of human brotherhood, we may calmly point to the monument we have this day erected to the memory of Abraham Lincoln.”1 Douglass’ comments 1 Frederick Douglass, Oration delivered on the occasion of the unveiling of the Freedmen’s Monument in memory of Abraham Lincoln, in: Lincoln Park, Washington, D.C., April 14th, 1876. With an appendix (accessed at: www.loc.gov/resource/lcrbmrp.t0c12/?st=gallery).

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may not sway everyone in their assessment of the merits of retaining the statue, but they should at least cause us to think more fully about its meaning. The American situation is not all that unique in the longer perspective of things; clashes between civilizations have occurred routinely over the centuries, sometimes between struggling nations and sometimes within one nation or people, when there has been a significant shift, maybe even a revolution, that has produced antagonizing sides. Indeed, the complication of conflicting claims of honor or dishonor, acknowledgment or rejection, can be perhaps best be seen when new orders or modes arise in the same people or nation. An especially interesting example might be found in the way in which the Roman Empire in its waning days came to coexist with the emerging Christian religion. One struggle that was fraught with potential for chaos was the treatment of the old pagan gods and goddesses, and what to do with their temples, so many of which resided in prominent places in the city of Rome. Thus, seventeen centuries ago, at the collapse of the western sphere of the Roman Empire, the newly-protected Christian religion had to come to grips with how it would treat the vestiges of the classical world, including its religion, literature, philosophy, and memorials. One of the most contested questions concerned the destiny of the Altar of Victory, which was the source of much rancor in the latter decades of the fourth century, attacked and resurrected multiple times.2 The Arch of Constantine gives us another example of the complications of honor and dishonor, and how conflicting cultures interact with each other. The Arch was constructed between 312 and 315 and was meant to recognize the tenth anniversary of Constantine’s accession to the throne. But the construction was animated in large part by his victory over Maxentius in 312, especially at the Battle of the Milvian Bridge. Two notable elements, then, can be found in this regard – what is celebrated is a victory over Rome, or a Roman (that is, a civil war), and, looking back on it from a later perspective, there is no hint in the Arch of the Christian vision of the Cross Constantine is said to have had before the battle. There is a hint of religiosity, perhaps at the vision in particular, in the inscription on the Arch, which refers to Constantine having been “inspired by the divine” (instinctu divinitatis), but there is nothing more particular to that claim – left ambiguous, it could of course refer to the Christian God, but is yet not antagonistic toward pagan sentiments.3 One might contrast that depiction of Constantine with the one brought to fruition 1,300 years later, by Gian Lorenzo Bernini, for St. Peter’s Basilica. Originally designed for the interior of the church, it ended up in the Scala Regia, connecting the cathedral to the Vatican Palace. The common name given the statue, “The Vision of Constantine,” acknowledges the difference between the two memorials; Bernini 2 See especially J. J. Sheridan, The Altar of Victory: Paganism’s Last Battle, L’Antiquité Classique 35 (1966), 186 – 206. 3 On the background and construction of the Arch, see “A Monumental Imperial Biography,” Archaeology, March/April 2022 (accessed at: www.archaeology.org/issues/458-2203/ features/10335-rome-constantine-arch).

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has Constantine staring up at the vision of the Cross, with light bearing down on him as a blessing from above. One might also consider the depictions found in Raphael’s “Room of Constantine,” which similarly focuses on the religious imagery connected to Constantine’s victory, calling attention to the battle as a focal point of the triumph of Christianity over the pagan world.4 The point of the illustration here is that the Christians in later centuries, after the acceptance and then endorsement of the Christian religion in the empire, did not feel compelled to tear down the Arch of Constantine, nor alter it so as to depict Constantine as a Christian emperor. How is this question related to the contemporary movement to promote Diversity, Equity, and Inclusion in so many facets of public life? The questions we ask about how we understand these important and often contentious principles are questions that illuminate much about ourselves, our community, our civilization, and our place in the unfolding of human affairs. Thinking about how earlier generations addressed conflicting conceptions of honor should assist us in assessing the importance of diversity, equity, and inclusion, and thus provide us with a more fruitful background for addressing the contemporary contestations. The current preoccupation with such concerns, in other words, has not arisen in a vacuum, and an understanding of past encounters will help to illuminate the possibilities of achieving a degree of harmony on the questions before us.

I. America’s Founding Identity In contemporary debates one often hears views or actions that one disagrees with being described as “un-American;” surely this is meant to disparage such views in such a way as to rule them out of polite company, to suggest that they are so far beyond the pale that they do not need to be responded to. But any such assertion must carry with it a sense that there is something identifiably American, such that we can say what does and what does not legitimately fit into that category. But how do we go about assessing what it means to be an American, and thus what might count as an “un-American” opinion or action? We might start with the quintessential statement of fundamental principles from the American founding, the Declaration of Independence. The document sets out to justify the right of revolution for the colonists by declaring that circumstances may arise in which it would be necessary “for one people to dissolve the political bands which have connected them with another and to assume among the powers of the earth, the separate and equal station to which the Laws of Nature and of Nature’s God entitle them.”5 Leaving aside for the moment the question of what kind of necessity is meant here, and whether the Laws of Nature and Nature’s God do in fact 4 I thank Wayne Ambler for the parallel references to the Arch and both Bernini and Raphael; see his remarkable website and podcasts found at https://getreadyforrome.com. 5 Declaration of Independence, July 4, 1776.

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entitle a people to a separate station, our question is what is meant by the reference in the Declaration to “one people” – what is the nature and make-up of that “one people?” A cogent answer to that question might provide us an entry into thinking about how to classify someone or something as “un-American.” One answer to the question of what is an American can be found within the argument of the document itself. Perhaps the most famous lines of the Declaration of Independence are those that begin the second paragraph: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness …” The “we” that hold these truths to be self-evident may best be understood to represent the “one people” referred to in the previous passage. And what the “we” are said to accept is this fundamental – indeed, “self-evident” – truth, that all men are created equal. In this light one might say that the uniform acceptance of the claim to equality is at the root of the argument of the Declaration, and that what it intends is that the “one people” who make up the American order are those who acknowledge the truth of that claim. This assertion, of course, makes a philosophic and universal claim into a formative description of the revolutionaries who are united in their support of separation. If this is the right understanding of the claim of the Declaration of Independence then it is possible to understand the principle of American unity and community as being grounded in that assertion of equality, and that it would be in principle, if not in practice, possible for anyone, anywhere, at any time, to become a part of that political order – by simply accepting the self-evident truth that all men are created equal. But is it true that anyone can become an American? An alternative view might be found in an illuminating but puzzling passage from the Federalist Papers, where Publius provides us with something of a different way of thinking about what it means to be “one people,” how to think about the principles or practices that unite the Americans. In Federalist 2, in the context of discussing the unity of the American experience, Publius makes the following comment: “I have as often taken notice that Providence has been pleased to give this one connected country to one united people – a people descended from the same ancestors, speaking the same language, professing the same religion, attached to the same principles of government, very similar in their manners and customs, and who, by their joint counsels, arms, and efforts, fighting side by side throughout a long and bloody war, have nobly established general liberty and independence.”6

Here one finds a very different way of understanding what unites the people of the colonies, now states. The perplexing part of the sentiment expressed here is that while one can acknowledge that the characteristics mentioned are traditionally understood to be the distinctive elements of a nation or people it seems decidedly untrue of the 6 Federalist 2, The Federalist Papers, ed. Jacob E. Cooke, Wesleyan University Press, Middletown (CT) 1982, p. 9.

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Americans above all, even in 1787. Note that Publius does refer to the acceptance by Americans of “the same principles of government;” those principles of government are not necessarily the same thing as the self-evident truths of the Declaration on Independence. So, we seem be presented with two different conceptions of what it means to be an American. One claim is that to be an American means embracing the universal assertion of equality, which would bring in its wake the recognition of natural rights. The second would entail the experience of a common history, language, and religion – a common culture or inheritance. In light of these considerations, and with particular interest in the experience of Catholics in America, let us turn to examine the American experience, and how Catholics saw themselves as a part of or distinct from that American experiment in republican government. The larger issue, of course, is how we think about the question of inclusion or diversity in the society at large. But before turning to that question it should be noted that while the American experience contains multiple examples of antipathy toward Catholics, it was not always a uniform hostility. There certainly were those who militated in favor of the inclusion of religious tests for office under the Constitution, for example, tests which would likely have excluded Catholics from holding office.7 One response to this hostility can be found in the following remarks by James Iredell, at the North Carolina Ratification Convention debates, on July 30, 1788: “I met, by accident, with a pamphlet this morning, in which the author states, as a very serious danger, that the pope of Rome might be elected President. I confess this never struck me before; and if the author had read all the qualifications of a President, perhaps his fear might have been quieted … A native of America must have very singular good fortune, who, after residing fourteen years in his own country, should go to Europe, enter into Romish orders, obtain the promotion of cardinal, afterwards that of pope, and at length [still] be so much in the confidence of his own country as to be elected President. It would be still more extraordinary if he should give up his popedom for our presidency.”8

Iredell’s satirical approach to the exclusion of Catholics did not persuade everyone to fully accept Catholics, but it was not unusual to find significant defenses of religious toleration in the founding era, contributing in part to the ratification of the First Amendment and its protection of the free exercise of religion. 7 Many state constitutions from the American founding era did include religious tests for office, often explicitly designed to exclude Catholics; see, for example, the North Carolina Constitution of 1776: “That no person, who shall deny the being of God or the truth of the Protestant religion, or the divine authority either of the Old or New Testaments, or who shall hold religious principles incompatible with the freedom and safety of the State, shall be capable of holding any office or place of trust or profit in the civil department within this State” (Section XXXII; available at: https://avalon.law.yale.edu/18th_century/nc07.asp, visited 20 October 2023). 8 Quoted in Jonathan Elliot (ed.), The Debates in the Several State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution, Burt Franklin, New York 1888, vol. 4, pp. 195 – 196.

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A later reflection by Abraham Lincoln, in response to the rise of extremist groups like the Know-Nothings in the United States, suggests a common approach to such attitudes: “I am not a Know-Nothing. That is certain. How could I be? How can any one who abhors the oppression of negroes, be in favor of degrading classes of white people? … As a nation, we began by declaring that ‘all men are created equal.’ We now practically read it ‘all men are created equal, except negroes.’ When the Know Nothings get control, it will read, ‘all men are created equal, except negroes, and foreigners, and catholics.’ When it comes to this I should prefer emigrating to some country where they make no pretence of loving liberty – to Russia, for instance, where despotism can be taken pure, and without the base alloy of hypocracy [sic].”9

Lincoln, then, did not see the American principle as fundamentally at odds with the interests of Catholics. and did not think it necessary or desirable to exclude Catholics from the public life and political discourse of the country.

II. Tocqueville on Religion and Democracy Early on in his monumental work Democracy in America, Alexis de Tocqueville identifies what he takes to be the remarkable “point of departure” for the development of democracy in American: it is the “product” he says, “of two perfectly distinct elements that elsewhere have often made war with each other, but which, in America they have succeeded in incorporating somehow into one another and combining marvelously. I mean to speak of the spirit of religion and the spirit of freedom.”10 In what way is religion understood to be respectful and indeed appreciative of the good of human freedom, though, for Tocqueville? He puts it as follows: “Religion sees in civil freedom a noble exercise of the faculties of man; in the political world, a field left by the Creator to the efforts of intelligence. Free and powerful in its sphere, satisfied with the place that is reserved for it, it knows that its empire is all the better established when it reigns by its own strength alone and dominates over hearts without support.”11

Tocqueville surely has in mind the effects of the French Revolution on his own country; the persecution of religion there done precisely in the name of liberty highlights the historical tension he notes between the two interests, that of liberty and of religion.12 But religion can also serve as a hindrance to political liberty, as Tocque9 Letter to Joshua F. Speed, Aug. 24, 1855 (Abraham Lincoln, Speeches and Writings, 1832 – 1858, ed. Don E. Fehrenbacher, Library of America, New York 1989, p. 364). 10 Democracy in America, The University of Chicago Press, Chicago 2000, p. 43: “Je veux parler de l’esprit de religion et de l’esprit de liberté.” 11 Ibid., p. 43; presumably by “without support” here Tocqueville means without legal support. 12 In his own work on the background to the French Revolution, though, Tocqueville denies that the Church was a specific target of the revolutionaries; rather, he argues, the Church was

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ville himself outlined in the chapter under discussion; the American colonists were often fleeing religious persecution, and once settled in America often enough were not advocates of religious freedom for others in the colony.13 But to what extent was it true, as Tocqueville claims, that political liberty saw religion as an ally, and that religion saw civil freedom as the proper sphere of the mind, set aside by God for that task? He does not say much about the question at this point of the text, but it is a theme that runs throughout the book as a whole. The precise connection between the political order and the religious order interests him from the beginning of his investigations into America and modern democracy. Early in his trip to America, in a letter to his friend Louis de Kergorlay, Tocqueville identifies what he discerns as a particular character to the practice and beliefs of religion in America. Religion is dominant in the social sphere, he notes, encouraging church-going and abstention from amusement, and yet at the same time he sees it as often enervating: “Faith is evidently inert; enter the churches (I mean the Protestant ones) and you hear them speak of morality; of dogma not a word, nothing that could in any way shock a neighbor, nothing that could reveal the hint of dissidence.”

There exists a kind of toleration, he notes, but it looks often like mere indifference, which “is pushed so far that in public establishments like prisons, the homes for juvenile delinquents … seven or eight ministers of different sects come to preach successfully to the same inmates.”14 And with what results? “The infallible response is this: the different preachers, because they occupy themselves only with treating the platitudes of morality, cannot do harm to one another.”15 It is for reasons such as this that Tocqueville comes to suggest in the remainder of Democracy in America that Catholicism will likely come to have an outsized influence in America, and thus on democracy in general. The distinctiveness of Catholicism, found in both its universality and its particularism (in worship and doctrine), is at one and the same time antithetical to the prevailing sentiments of the day and also coherent enough that it is attractive to nonbelievers.16 One of the more significant arguments Tocqueville undertakes in the first volume of Democracy in America is his account of how one goes about maintaining the identified with the central and centralizing authority in the country, and was thus caught up in the general persecution of the old regime (see The Old Regime and the Revolution, The University of Chicago Press, Chicago 1998, especially Book Three, Chapter 2). 13 On this point, see my essay, The Role of Religion in the American Political Experience, in: Klaus Stüwe (ed.), Der öffentliche Charakter der Religion in der liberalen Demokratie/The Public Character of Religion in Liberal Democracy, Duncker & Humblot, Berlin 2018, pp. 1 – 14. 14 Democracy in America (note 10), p. 48. 15 Ibid., pp. 48 – 49. 16 See his discussion especially in Volume II, Part One, Chapter 6, “On the Progress of Catholicism in the United States.”

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democratic republic, given the forces at work in promoting an ill-advised egalitarian tyranny.17 In that context he is led to focus his attention on the importance of sustaining mores in the republic, mores which he argues are, in America, primarily grounded in religion. Tocqueville seems here to be motivated by an interest in defending a kind of political moderation for religion, especially in marrying the future of Catholicism with some understanding of the inevitability of republican government, but one that the Church herself was wary of, in large part because of the excesses of the French Revolution. Tocqueville hopes to show the possibility of establishing a republican government that does not necessarily descend into these excesses of democratic tyranny, and he sees the example of the American experience as an antidote to the suspicion with which many Catholics approached defenses of democracy. But Tocqueville argues that Catholicism uniquely prepares the populace for the flourishing of free government, as it is grounded in a kind of egalitarianism that is less likely to be corrupted into the false or failed egalitarianism he warns about.18 The “depraved taste for equality” which he denounces leads the weak to want to drag down the strong, and would prefer equality in servitude to freedom and inequality.19 The equality that Catholicism demands of its adherents, though, is of a different kind. “In the matter of dogmas, Catholicism places the same standard on all intellects; it forces the details of the same beliefs on the learned as well as the ignorant, the man of genius as well as the vulgar; it imposes the same practices on the rich as on the poor, inflicts the same austerities on the powerful as the weak; it compromises with no mortal, and applying the same measure to each human, it likes to intermingle all classes of society at the foot of the same altar, as they are intermingled in the eyes of God.”20

Tocqueville does acknowledge that Catholics in America do not commonly get carried away “violently” by their beliefs toward democratic or republican principles, but they are not naturally opposed to such principles either, and as a result of their minority status they are led to embrace the protections afforded them through the law. That is, Catholics understand that only the security of the rights of the people will provide for their own rights to be protected, and so they advocate for all in part as a way of advocating for themselves. As a result, Tocqueville comments, one can say that “in the United States there is no single religious doctrine that shows itself hostile to democratic and republican institutions.”21 17

See the extended discussion in Volume I, Part Two, Chapter 9. See in particular his concerns about the kind of egalitarianism that seeks to punish excellence, and thus degrades the human soul; see Volume I Part 1, Chapter 3: “… but one also encounters a depraved taste for equality in the human heart that brings the weak to want to draw the strong to their level and that reduces men to preferring equality in servitude to inequality in freedom” (pp. 52 – 53). 19 Ibid.; Tocqueville repeats this concern in Volume II of Democracy in America (see Volume II, Part 2, Chapter 1). 20 Ibid., p. 276. 21 Ibid., p. 277. 18

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In Tocqueville’s view Catholics in America derive a benefit from the freedom of religion guaranteed under the Constitution.22 Yet, he also seems to take something of a jaundiced eye toward that relationship between religion and politics, as we see in a number of his observations. For example, when discussing the “missionary spirit” in America, he suggests that it would be wrong to attribute it to an otherworldly design, as the missionary spirit is really interested in the good order of society, and thus defending civil society and republicanism are at its heart.23 The missionary is meant to focus on this world, thus in the free society one has to accommodate oneself to the people’s tastes; as Tocqueville suggests, “it is proven to me daily in a very learned manner that all is well in America except precisely the religious spirit that I admire.”24 Still, religion is much more necessary in a democratic or free country than it is in a despotism: “How could society fail to perish if, while the political bond is relaxed, the moral bond were not tightened? And what makes a people master of itself if it has not submitted to God?”25 Picking up on a thread of his argument from the opening of the work, Tocqueville observes that in America the clergymen themselves attribute the success of America largely to the separation of church and state. Indeed, he says, no one doubts this, or no one says anything other than that.26 One last observation on Tocqueville’s account of religion here will be helpful in light of our larger theme. Tocqueville, we have seen, suggests that religion is strongest when it is independent, or when it is not united with any given political authority: “When a religion seeks to found its empire only in the desire for immortality that torments the hearts of all men equally, it can aim at universality; but when it comes to be united with a government, it must adopt maxims that are applicable only to certain people. So, therefore, in allying itself with a political power, religion increases its power over some and loses the hope of reigning over all.”27

And yet, one might argue, religion will likely not at any time, anywhere, come to rule over all men ever. So, one might ask, why would Tocqueville come to make the choice for separation, rather than governmental support for religion, or the establish22

It should be noted that this is close to the opinion set forth by Pope Leo XIII in his 1895 Encyclical to the American bishops: “For the Church amongst you, unopposed by the Constitution and government of your nation, fettered by no hostile legislation, protected against violence by the common laws and the impartiality of the tribunals, is free to live and act without hindrance”, see Section 6 of Pope Leo XIII, Encyclical Longinqua, 6 January 1895; in: Claudia Carlen (ed.) The Papal Encyclicals, 1878 – 1903, The Pierian Press, Ypsilanti (MI), 1990, p. 364. 23 Democracy in America (note 10), pp. 280 – 281. 24 Ibid., p. 281. 25 Ibid., p. 282. 26 Ibid., pp. 282 – 283. Drawing on what Tocqueville has already argued, one might say that of course no one doubts this, at least publicly, for to be caught saying such a thing would render one outside the majority, and he has already informed us of what happens to people in a democracy who are outside the majority. See Volume I, Part Two, Chapter 7, on the dangers of the tyranny of the majority. 27 Ibid., p. 284.

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ment of religion? Is it something in the nature of Tocqueville’s understanding of religion, or of modern manifestations of religion, that militates in favor of the kind of freedom for religion that he seems to promote? Or is it something in his understanding of civil society and the 700-year-old democratic revolution he has spoken of that draws him to this conclusion?28 Does Tocqueville understand that democratic peoples, or Americans in particular, have a different kind of religious character, one that militates in favor of accommodating the variety or multiplicity of religions? Much has been written about this question, which is a corollary of the development of the argument concerning whether religious freedom strengthens or weakens religion. That is not exactly our question, but it affects it insofar as people come to think of themselves and their allegiances as attached especially to their religious identity, their political identity, their civic identity, or some combination of such things. One episode in American history might illustrate more clearly the issues addressed herein. Archbishop John Ireland, long-time Bishop of the St. Paul Diocese, was a monumental figure at the turn of the last century in the Catholic Church in America, and in the larger community. As builder of the St. Thomas Aquinas Seminary, he also was the impetus behind the founding of the University of St. Thomas. Bishop Ireland had a special and prolonged interest in the question of the role Catholics played and should play in America, and repeatedly extolled the virtues of the American order as ideal for the flourishing of the Catholic Church. In his address on the occasion of the 100th anniversary of the establishment of the American hierarchy, November 10, 1889, he noted the unique possibilities open to the Catholic Church in America, and the great boon found in the American Constitution: “An inestimable advantage to us is the liberty which the Church enjoys under the Constitution of the United States. Here no tyrants cast chains around her; no concordat limits her actions, or cramps her energy … The Republic at its very birth guaranteed liberty to Catholics at a time when, in nearly all other lands, governments, both Protestant and Catholic, were oppressing the Church; and during its whole history the Republic has not failed to make good its guaranty. To-day, in how few countries outside our own is the Church really free! If great things are not done by Catholics in America, the fault lies surely with themselves, and not with the Republic.”29

Ireland’s promotion of devotion to the American order suffuses his writings, such as in the address he gave in 1903 to the New York Commandery of the Loyal Legion, on the subject of “Patriotism:” “America born into the family of nations in these latter times is the highest billow in humanity’s evolution, the crowning effort of ages in the aggrandizement of man. Unless we take her 28

On this point see his Introduction to Volume I, published in 1835, where Tocqueville suggests the leveling effect of democracy goes back 700 years (“The clergy opens its ranks to all … equality begins to penetrate through the church to the heart of government …;” Democracy in America [note 10], pp. 3 – 4). 29 John Ireland, The Mission of Catholic in America. The Church and Modern Society: Lectures and Addresses, The Pioneer Press Mfg. Depts, St. Paul 1905, I:82-3.

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in this altitude we do not comprehend her; we belittle her towering stature, and conceal the singular design of Providence in her creation.”30

One does not have to read far into Bishop Ireland’s works to find many such passages, encomia to the America which he thought most hospitable to the flourishing of Catholicism.31 One of the controversies Bishop Ireland was engaged in during his tenure as bishop was the question of the role of what were commonly called “national” churches in America, churches that catered to immigrants from particular European countries and their families. In brief, Bishop Ireland and others advocated moving away from the model of the national church in favor of a more integrated and assimilationist church model.32 The defenders of the national church model, though, argued that it worked quite well, and led to the flourishing of Catholicism in America, while at the same time strengthening the faith of immigrants and their families in a new land, where it otherwise might be relatively easy to blend in to the larger non-Catholic community. As Marvin O’Connell points out in his majestic biography of Bishop Ireland, in 1875 there were 1.5 million German Catholics in America, by 1881 there were 2,067 priest, “flourishing German religious orders, 117,000 children enrolled in German Catholic schools – almost exactly the same number as those attending all other Catholic schools – 30,000 German laymen organized into the Central Verein, for the defense and promotion of the faith, (and) five daily German-Catholic newspapers maintained for the same purpose.”33 The German Catholics were, it was claimed, quite content to leave other parishes alone, so if the Irish were happy with their “simple, humdrum liturgies they learned when they lived under the lash of the penal laws in Ireland,” so be it. But for the Germans “sacramental celebrations were splendid and characterized by pomp and elevated by music,” and they should be entrusted to their own preferences in such matters.34 By contrast, the Ireland position, which came to be characterized as the “Americanist” view, wished for greater unity, and much stronger assimilation into the larger community, something which they thought would be better for the Church and would improve the life of the community at large. This struggle gives us an early glimpse into our larger concern – in this 19th century debate all Catholics, or at least those entrusted with making decisions about what 30 John Ireland, Patriotism: its duty and value: An Address before the New York Commandery of the “Loyal Legion,” New York, April 4, 1894, Union Saint-Jean-Baptiste Collection Documents, 3. 31 On the achievements of the Catholic Church in American in the 19th century, in developing organizations to promote Catholic teaching and service, see my essay (note 13). 32 On the larger question of Catholic assimilation in America, among many works see, for example, Richard D. Alba, Social Assimilation Among American Catholic National-Origin Groups, American Sociological Review 41 (1976), pp. 1030 – 1046. 33 Marvin O’Connell, John Ireland and the American Catholic Church, Minnesota Historical Society Press, St. Paul 1988, pp. 222 – 223. 34 Ibid., p. 223.

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policy to take for the Church, were compelled to think through the question of their own identity. Do they think of themselves as Catholics, as Americans, as Germans (or at least as carriers of a German, or Irish, or Italian heritage), or some blend of all such things? It is not simply a question of where one’s allegiance lies, of course, but also of what steps one ought to take to promote or defend that identity, and to what extent such identities are malleable. That is, even if we accept the claim that one’s Catholic identity is primary, we then have to pursue the question of what consequences that has for how we think about our relationship with our political order.

III. Conclusion Part of the contemporary discussion about diversity and exclusion, as we have seen, concerns the question of what it means to be an American, and what it means to describe something as un-American. Commentators are often, then, led to refer to those who disagree with them as “hating America.” But I am not sure that this is rightly the way to understand such disagreements. Rather, it seems that there are different ways of understanding what it means to be “American” or “unAmerican,” with some wanting to emphasize one set of characteristics and others a different set. From the Catholic perspective, we might be led to think beyond the perspective of simple opposition or dichotomies and consider our political order in a more capacious manner. That is not to suggest that there is anything wrong with patriotism or pride in one’s people or history, but rather to recognize that we live in a complicated world, that our institutions, leaders, and fellow men are populated by or are themselves fallen human beings, and that we might always be attentive to the ways in which we can more fully understand those complications and work to improve the conditions of our community. Catholics, as members of a distinctive political order, must work within their present circumstances as they find them. Christians are taught to go and teach all nations (Matthew 28:19 – 20) but cannot do that if they altogether disengage themselves from the vagaries of the world. The articulation of the demands for diversity, equity, and inclusion are all around, and it behooves us to come to understand what exactly the consequences of that development might be. And, importantly, it seems imperative to not abandon the legitimate goals that might fall under the umbrella of these terms, and in doing so to refrain from surrendering the language to the most extreme voices in public life. As Archbishop Ireland himself put it at the turn of the last century: “Our work is in the present, and not in the past. It will not do to understand the thirteenth century better than the [twentieth]; to be more conversant with the errors of Arius or Eutyches than those of contemporary infidels or agnostics …”35

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Ireland (note 29), p. 90.

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That does not mean, of course, that everyone should be involved in every political activity. St. Paul teaches us that there are a variety of talents, and that different people are given different gifts (1 Corinthians 12:4 – 11). Those who have a talent for those public and political activities, then, ought not to refrain from undertaking them. We might end with a return to Tocqueville, who, in an August, 1857, letter written following a trip to England, comments as follows on what he has observed there: “I was struck this time in England, as I have previously been, to see how a religious sentiment conserved its power, without becoming something that absorbs and destroys all other motives of human action. Nothing could be further from what one sees in so many Catholic countries in which the great bulk of people do not think about religion at all, and a small number of people think of nothing but religion. I have always thought that there was danger even in the best of passions when they become ardent and exclusive. I do not make an exception for the passion for religion; I would even put it in front, because, pushed to a certain point, it, more than anything else, makes everything disappear that is not religion, and creates the most useless or the most dangerous citizens in the name of morality and duty. I confess that I have always (in petto) considered a book like The Imitation of Jesus Christ, for example, when considered other than as instructions intended for the cloistral life, as supremely immoral. It is not healthy to detach oneself from the earth, from its interests, from its concerns, even from its pleasures, when they are honest, to the extent the author teaches; and those who live according to what they read in such a book cannot fail to lose everything that constitutes public virtues in acquiring certain private virtues.”36

In the wake of events under the past years that have culminated in one sense in the development of a politics of identity, one wonders what exactly we have gained and what we have lost in that process, especially as Catholics and as Catholic citizens. Numerous questions remain for us to answer, not the least of which is what public role that commitment to Catholic teaching might have, and whether we see ourselves as full members of our political community, or, sometimes, as simply seeking to carve out a protective niche for ourselves, wherein we can pursue our fundamental interests unencumbered by the demands of a hostile order.37 It is a matter of great 36

Tocqueville to Louis de Kergorlay (August 4, 1857; in: Alexis de Tocqueville, Selected Letters on Politics and Society, ed. Roger Boesche, pp. 356 – 357). As he adds, “A certain preoccupation with religious truths which does not go to the point of absorbing thought in the other world, has therefore always seemed to me the state that conforms best to human morality in all its forms” (p. 357). 37 In a discussion of the work of John Courtney Murray, David Schindler suggests that Murray’s thesis, articulated most fully in We Hold These Truths, places religion in the position of being a negative choice – that is, that in holding out the principle of religious freedom as freedom from coercion, the emphasis is concentrated on removing the element of coercion, and that is how we best ought to interpret the First Amendment. But Schindler argues that accepting that turn means the essence of religious freedom is anti-coercion, not the fullthroated free exercise of religion that sees religion as a positive good for society and for the individual, and so religion can come to be seen as simply a matter of private choice (Heart of the World, Center of the Church: Communio Ecclesiology, Liberalism, and Liberation). Similarly, Kenneth Craycraft in his book The American Myth of Religious Freedom, notes that Lockean religiosity is tempered by its political concerns, such that toleration is not a principle

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important in the contemporary order that we arrive at a fulsome understanding of what the demands for diversity, equity, and inclusion precisely consist in, and how we best respond to them so as to turn the challenge into a productive development for the public order. Zusammenfassung Die gegenwärtige öffentliche Diskussion über „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ geht regelmäßig davon aus, daß diese Fragen neu sind und daß die sozialen und politischen Probleme, die sie aufwerfen, daher bisher unbekannt waren. Es gibt jedoch viele historische Beispiele für das Aufeinandertreffen politischer, sozialer und religiöser Einheiten, die uns lehren können, wie wir unsere aktuelle Situation angehen sollten – man denke beispielsweise an das Aufeinandertreffen des heidnischen und des christlichen Roms, der alten Griechen und Perser oder die Spaltung des Christentums in der frühen Neuzeit. In all diesen Fällen wurden die Menschen dazu gezwungen, darüber nachzudenken, was es bedeutet, zu einer bestimmten Gemeinschaft zu gehören oder von ihr ausgeschlossen zu sein, und wie oder ob man die Wahrnehmung überwinden kann, in einer bestimmten Ordnung ein „Außenseiter“ zu sein. Für die Katholiken in Amerika waren diese Fragen von der Gründung des Landes an drängend, da sie oft als Bürger zweiter Klasse behandelt und regelmäßig die Aufrichtigkeit ihres Patriotismus gegenüber der amerikanischen politischen Ordnung bezweifelt wurden. Dieser Beitrag befaßt sich mit der Frage nach den Katholiken in Amerika, indem er ein einzigartiges Beispiel für die Erfahrung der deutsch-amerikanischen Katholiken und die unterschiedlichen Auffassungen untersucht, die im 19. Jahrhundert darüber geäußert wurden, wie weit die Katholiken bei der Verschmelzung ihrer Lebensweise mit derjenigen der größeren Gemeinschaft gehen sollten. Dies führt zu einer Betrachtung der umfassenderen Frage von Identität und Zugehörigkeit und inwieweit man einen Teil seiner Identität (das Katholisch sein) mit einem anderen wichtigen Teil seiner Identität (dem Amerikanisch sein) vernünftigerweise verschmelzen kann.

but a tactic, and when push comes to shove it will give way to political concerns of the day – or of the ruling entity.

Thomas Aquinas and the Function of Law in Regulating Individual Identity By Francis Fast In this paper I will be examining one part of this conference’s theme, identity, through the thought of Thomas Aquinas. In particular, I would like to consider how he understands the relationship between law and identity and the degree to which he thinks that the law needs to concern itself with questions of identity as it legislates for the public good. I will argue that he does, in fact, think that the law must play an active role in shaping the identity of individuals, but along a different conceptual axis than what many contemporary discussions consider when they approach the issue of identity in politics. My paper will have three parts. In the first, I will try to establish a rough analog for the modern concept of identity in the thought of Aquinas and will argue that identity is, of itself, a potency that needs to be brought into actuality. Second, I will argue that the law has a distinct role in bringing identity from potency to actuality. Finally, I will consider the way that Aquinas understands the Old Law and the New Law to do this most perfectly, with a proper ontological foundation for the formation of identity, beyond the capacity of the human law. This argument suggests that according to the conception of Aquinas, the approach of classical liberalism leaves a legislative void that is currently being addressed by the new left, but that the church has the capacity to fill this void through her own internal legislative structures.

I. Framing the Problem Within the contemporary “identity wars,” which often posit a tension between gender and sex as their axis, there is an emerging tension between a vision of identity which can be autonomously self-created, and a growing belief that identity needs to be bolstered by the law. The infamous claim of Justice Kennedy – now defunct as a legal precedent – that each individual has the right to “define one’s own concept of existence”1 was seen as a general basis for establishing a laissez faire attitude toward certain practices, such as abortion, which would remove impediments from the individual’s self-determination. Increasingly, however, the more radical gender theorists such as Judith Butler argue that “performative language,” such as the pronouns 1 Cf. U.S. Reports: Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey, 505 U.S. 833. 1991.

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his or her which assign gender to an object are actually responsible for creating the gendered identity of the object – including objects that are male and female, such as a human child.2 The work of self-definition thus progresses from an insistence upon reproductive rights to the deconstruction of language. While the former view seems to treat the role of society still through the lens of classical liberalism – at least in the sense that society can allow the individual act of self-definition by “getting out of the way” and permitting free choice – the latter rejects this view by positing that the very act of language, which is intrinsically social, is responsible for the work of identity definition; hence, the work of self-creation is pushed into a social context. This task of linguistic deconstruction is just the tip of the iceberg in what Herbert Marcuse referred to as a politics of “repressive tolerance.”3 Adopting the more active role of society in the work of defining identity, Marcuse argues that all “repressive” political movements must themselves be repressed in order to make way for a transformed society that is tolerant in the sense that it actively promotes the ideology of progress, and destroys anything counter to it. Implicit in this latter notion is a conviction that, because society must have an active function in the work of defining identity, it must also actively promote and normalize alternative identities, as even a laissez faire approach has built-in regulative mechanisms which form identities and hence which must be overcome through social action. One response to this approach is to double down upon the tack of classical liberalism, arguing for a more traditional conception of tolerance as an antidote to the new repressive model, and, in certain respects this might prove the best practicable approach, but it is here that I think a reexamination of Aquinas may be helpful in considering whether the Marcuse an approach to identity is exploiting a gap in the classical liberal framework. I will argue that, for Aquinas, there is a certain way in which man is required to “define the meaning of his own existence,” as well as a need for him to let his identity be formed in a social – and more specifically, legal – context, but that much depends on how we define our terms. When considered in light of Aquinas, the approach of classical liberalism reveals itself to presuppose an authoritative legislative community, and especially a religious community, which provides an order within which identity is defined by the work of the individual under the law; in the absence of this regulative order, therefore, it should be no surprise to find pressure to transpose this religious work into the legal realm – along increasingly arbitrary lines. Joseph Ratzinger has written much about the importance of anchoring western civilization in its Catholic foundations.4 My hope is that understanding the necessity Thomas sees for the individual to articulate his own identity within a

2 E. g., cf. Judith Butler, Excitable Speech: A Politics of the Performative, Routledge, New York 1997. 3 Cf. Repressive Tolerance in: Robert Paul Wolff/Barrington Moore, Jr./Herbert Marcuse (eds.), A Critique of Pure Tolerance, Beacon Press, Boston 1969, pp. 95 – 137. 4 E. g., cf. Joseph Ratzinger, The Spiritual Roots of Europe: Yesterday, Today, and Tomorrow, in: Joseph Ratzinger/Marcelo Pera, Without Roots, Basic Books, New York 2006.

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legal structure will highlight another aspect of this argument and illustrate the uniquely Catholic solution to the problem. There are two ways to approach the concept of identity from within the Thomist tradition. The first is to consider the individual hypostasis, which is a union of body and soul, as the “identity” of the individual since this is most properly the complete human person. As Aquinas observes, it is not the soul alone which is the man – a view which he associates with Plato – but rather: “in natural things the definition does not signify the form only, but the form and the matter,” such that “it belongs to the notion of this particular man to be composed of this soul, of this flesh, and of these bones.”5 This view is emphasized by scholars such Antonia Fitzpatrick, who correctly emphasizes the importance of the body in Aquinas’s conception of identity,6 and there is a growing awareness of the role Aquinas’s emphasis on the body played in the development of John Paul II’s theology of the body. In the strictest sense, any attempt to discuss the individual’s identity that fails to give a hylomorphic account has truncated its account of human nature, and no part of my argument is intended to diminish this aspect of Aquinas’s thought.7 But in another sense that will be important for what follows, Aquinas acknowledges that it is acceptable to identify the “man himself” with the soul, as Aristotle frequently does: “According to the Philosopher (Ethic. ix, 8), a thing seems to be chiefly what is principal in it; thus, what the governor of a state does, the state is said to do. In this way sometimes what is principal in man is said to be man; sometimes, indeed, the intellectual part which, in accordance with truth, is called the inward man; and sometimes the sensitive part with the body is called man in the opinion of those whose observation does not go beyond the senses. And this is called the outward man.”8

In this second sense, the soul becomes identified with the “man himself” because of its principality, because it is chief in the realm of activity. So, we are able to consider the individual’s identity in an integral sense, as the composition of body and soul, or hone in on that part that is originative of action, that is the principal within the ordered whole. For the purposes of this paper, I will not try to systematically map these notions of identity over those in the contemporary discussion, but will note that there are ways that Aquinas recognizes that the actuality of the body is an intrinsic part of our identity, another way in which he identifies the soul with our identity, and that this corresponds generally with the primacy that is alternately placed upon both the body and the soul as definitive of our identities in the current debate. 5 Summa Theologiae (S. Th.) I, q. 75, a. 4. All citations from Aquinas in this essay are drawn from the editions published by the Aquinas Institute, eds. John Joy et al. Lander, WY: retrieved from Aquinas.cc 2022. 6 Antonia Fitzpatrick, Thomas Aquinas on Bodily Identity, University Press, Oxford 2017. 7 E. g., Thomas Petri, Aquinas and the Theology of the Body: The Thomistic Foundations of Thomas Aquinas’s Anthropology, Catholic University of America Press, Washington (DC) 2016. 8 S. Th. I, q. 75, a. 4.

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Now part of the difficulty that arises in questions around identity is whether we should understand identity to be something innate and unchangeable – in Thomistic terms, part of natural actuality of the individual – or something that is dynamic and self-defined, i. e., something that exists in the individual in potency. The difficulty, for Aquinas, is that there are aspects of the individual’s identity that are both potency and actuality. Insofar as the hypostasis is both form and matter, it has both an intrinsic aspect of potentiality in virtue of its matter, and is specifically defined by its form, and made determinate to this specific nature. So, the body could be altered to take on a different substantial form, but this would be to denature it: to give it the identity of a different substance. Ironically, therefore, while materiality is a principle of changeability, it also requires determinacy by nature in order to remain this specific kind of thing hence, it is not on the side of matter, primarily, that there is need for individual definition. Rather, it is on the side of the form, the soul, that there is the greatest need for determination. Aquinas addresses this in his “treatise on happiness” when he asks whether happiness is a good of the soul. He writes: “If then, we speak of man’s last end, as to the thing itself which we desire as last end, it is impossible for man’s last end to be the soul itself or something belonging to it. Because the soul, considered in itself, is as something existing in potentiality: for it becomes knowing actually from being potentially knowing; and actually virtuous, from being potentially virtuous. Now since potentiality is for the sake of act as for its fulfilment, that which in itself is in potentiality cannot be the last end. Therefore, the soul itself cannot be its own last end.”9

It is on the side of our intellectuality that there is the greatest need to be brought from potency into act. Inasmuch as the soul is the form of the body, it is what gives the human person its first actuality, but it has need to be brought into second actuality through encountering a knowable object and acquiring the virtues that allow for the pursuit of the good. In this sense, the identity of the “inner man” is fundamentally indeterminate in a way that the hypostasis is determinate, although it is indeterminate in the mode of a natural potency, rather than with the indeterminacy of matter. Thus, the human person can be brought into a healthy condition through gaining a determinacy of soul, or it can gain a kind of determinacy that is unhealthy. Now it is not the focus of this paper to assess fully what it means for the identity to become actual in a way that is healthy, but I will note – and I will return to this – that the soul can either become determined according to the truth, or a lie, and it is essential for human happiness that the soul’s determinacy have a proper ontological foundation. It is in considering the process by which the soul is thus actualized that it will become increasingly clear why it is important for there to be a legislative framework for the development of identity.

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S. Th. I-II, q. 2, a. 7.

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II. The Means The first point to establish is that it is work occurring within the individual that develops the individual’s identity. It cannot be imposed externally. In the passage quoted above from the Treatise on Happiness, Aquinas observes that “if we speak of man’s last end, as to the attainment or possession thereof, or as to any use whatever of the thing itself desired as an end, thus does something of man, in respect of his soul, belong to his last end: since man attains happiness through his soul.”10 Any consideration of how the identity is developed must recognize it is properly the activity of the soul that develops and shapes the soul. St. Thomas signals this at the start of the Second Part of the Summa when he observes that, while the first part discussed what comes to be through the work of God as natural, the second part turns to consider the imago dei “inasmuch as he too is the principle of his actions, as having free-will and control of his actions.”11 St. Thomas further clarifies this when he observes that uniquely human action, that springs from “the man as man,” is any action over which the individual is dominus, master, proceeding from reason and “a deliberate will.”12 There is a certain sense in which man, as his own master, must bring his own soul into actuality through the act of his own will, to the extent that the soul is made actual through the acquisition of the virtues, which are the result of repeated actions. He brings something new into being through his acts of volition and the habit of the virtues, and that something is his very self. But it is essential to emphasize, at this juncture, that this does not mean that in Thomistic thought the will takes the soul as its own object. As the intellect is brought into actuality by the true, which is referential to being, so also the will operates with reference to the good, which, as was noted earlier, is not the soul itself, but being itself.13 While it is by means of the will that the soul is brought into the actuality of the virtues, the will’s object is the good, which is defined by its own innate natural inclination toward the last end of being. This inclination toward the good as the source of the will’s action is the principle Aquinas uses to establish the natural law as a sort of taxonomy of human goods grounded in the order of human being.14 While we are able to bring our own souls into actuality through our action, it is as an agent cause, not a final cause, and the end that gives the soul ontological grounding is determined for us by nature. As Aristotle notes in the Ethics, while the virtues are not natural in the sense that they do not exist in us by nature, nevertheless they are natural in the sense that they accord with nature and we are by nature suited to acquire them.15 It is nature that provides the pattern for the actualized human identity, through the order of being whereby the reason is to master the lower passions, and 10

Ibid. S. Th. I-II, Prologue. 12 S. Th. I-II, q. 1, a. 1. 13 S. Th. I-II, q. 2, a. 2. 14 S. Th. I-II, q. 94, a. 2. 15 Cf. Aristotle, E¯thika Nikomacheia (EN), 1103a14-b25.

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although we are masters of ourselves with regard to agency, we must serve nature if we are to be happy.16 Ultimately, Aquinas thinks that this culminates in the need to develop in ourselves the capacity to know and love God as the source of all being, which knowledge and love would bring our identities into full actuality. Thus, for Aquinas, we can say that identity is found integrally in the hypostasis, but also in a secondary way in the soul itself. It is when one recognizes this fact that one also discovers that the individual’s identity needs to be brought from potency to actuality through the action of the individual, whereby he acquires the knowledge and virtues for which his soul exists in potency. In this sense, we may truly say that for Aquinas, there is a sense in which each individual does need to “define the meaning of his own existence,” but on the side of the agent cause rather than the final cause, since the proper object of the soul, being itself, arises from a reality external to the soul which the soul does not get to define.

III. The Work of the Law With this prefacing framework, let us consider specifically the role that law has to play in this process of self-actualization. Obviously, whatever role the law plays, it fits within a framework that recognizes that it is the work of the individual to develop the formal characteristics of his identity, a fact which nevertheless does not mean that the work of developing identity is a merely individualistic endeavor. I would like to highlight four different aspects of the process of development that require – or at least are strongly benefitted – by the function of the law: a) The clarification of the nature of the human good in general and the virtues in particular; b) the habituation of the culture in the virtues; c) the establishment of a culture that honors the virtues and promotes their acquisition by establishing structures of civic friendship; and d), within the Christian religion in particular, the exemplary regulation of the life of virtue through the revealed law and the sacraments, which draw us into friendship with God. I will conclude by explaining why, within Aquinas’s thought, if these social structures are lacking, the ordered development of individual identity is almost impossible, and intellectuality will tend to be replaced by an arbitrary willfulness that ultimately descends into barbarism. There are two passages in the treatise on law that exist in a certain tension with each other, a tension which helps to develop the precise way in which the law is supposed to regulate individual identity. On the one hand, Aquinas argues that the function of the law is to “make men good.”17 He specifically observes that it does so insofar as it develops the virtues by means of habituation.18 Since, as Aquinas notes, it is the soul itself that is brought into actuality by the virtues, it is the function of the law 16

Cf. Aquinas, Senteniae super Ethicorum (SSE), II.1.249. S. Th. I-II, q. 92 a. 1. 18 S. Th. I-II, q. 97, a. 1.

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to bring the soul from potency to actuality by bringing it into activity in the life of the virtues. At first, this seems to be in conflict with the earlier claim that it is the action of the will that brings the soul into actuality, but, in reality, this claim helps to cut a Gordian knot from early in Aristotle’s Nicomachean Ethics, where he notes that although the virtuous act must result from a habit, we only develop the habit through acting correctly – in other words, you must act correctly in order to develop the capability of acting correctly.19 Viewed from the standpoint of the individual, the relationship between virtue and habit poses a bit of a chicken and egg problem; viewed from the standpoint of society, this problem is abolished, since it is the work of society to train individuals to act according to the virtues. In this sense, the moral vision of the law serves as a certain limiting factor through which virtues will be developed within the population as a whole, or as an outline of the moral habituation that will occur within the populace.20 This is one reason why Aristotle observes that the political community must exist “before the individual” because it is what brings the individual into existence both in his physical and his moral capacities.21 Moral action cannot bypass the intellect and will of the individual, but these need to be trained by social structures in order to develop the capacity for action. The context of law is the one that allows the potency of the soul to become actualized, and the individual to acquire a distinct “identity.” Within this civic process, it is essential that the natural (and, as Aquinas also notes, the divine) law serve as a guide for the human legislation.22 Legislation that accords with nature draws the individual into activity that has an ontological foundation and develops him according to an order that anchors his development in reality. As noted earlier, if the soul is to move from potency to actuality, it must do so with an eye toward the actual – that is, the order of being – which ultimately needs to force a theological orientation,23 but can begin with a more limited ontology of human nature. On the other hand, as Aquinas observes, it is possible for the law to develop its citizens with an eye toward a good that is merely posited by the regime, such as pleasure or wealth, rather than the good that is good for the human person. As he comments on Aristotle’s Politics, every political community is ordered by the will of the community,24 i. e., the highest object of the collective will, which could be the natural law, or could even be something as base as “the unity of the community itself,”25 as Socrates 19

SSE, II.2.287. I am not claiming here that it is absolutely impossible to acquire the virtues without the structure of the law, but merely that the law facilitates the development of the virtues and makes them much easier. In this sense, it is natural for us to learn the virtues within the context of the law, just as Aquinas elsewhere argues that monogamy is natural because it makes the work of governing the family easier. 21 Cf. Aristotle, Politics, 1253a1 ff. 22 S. Th. I-II, q. 95, a. 3. 23 S. Th. I-II, q. 3, a. 1. 24 Cf. SSP II.1. 25 Cf. SSP II.2. 20

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proposed, which turns the community toward forms of nationalism. In each case, the identity of the citizen, insofar as he has been formed by the law, becomes ordered toward the goods of the community. It is only when the communal good is in accord with the natural law that the tension between the “good man” and the “good citizen,” as Aristotle frames it, is resolved, and the community forms the individual identity in a way that brings his soul toward reality. Yet in tension with this is Aquinas’s subsequent observation that the law orders men toward the life of virtue insofar as the virtue pertains to the common good.26 There remains an aspect of human identity that is outside the reach of the law, yet cannot properly be said to be outside the general concern of the law (i. e. the human good) and is certainly not outside the concern of the individual who is trying to grow in virtue: those virtues that pertain most centrally to the individual qua individual, which are that aspect of the self that does not pertain to the community per se. Aquinas observes, for example, that fortitude may be cultivated for the sake of the individual, or for the sake of the defense of the community.27 This means that there remains something partial about the law’s regulatory work from the standpoint of the individual identity, which nevertheless needs regulation from the standpoint of the individual.28 In order to discuss how this aspect of individuality needs to develop within a social context, I would like to consider two elements of the community that are of concern of the law, but over which the law has only indirect control: honor and friendship. Both of these are mechanisms by which each individual becomes able to grow in virtue beyond what formal legal precepts can access and must be attended to by the law in order to build a society that fulfills the final test of the community’s legal structures: a happy one.29 An observation Aristotle makes in his discussion of the “regime of Phaleas” is that every society needs to attend to the dispensation of honors.30 The proximate reason for this is that the most ambitious men in a society will always fight over honor (the many, Aristotle thinks, are more concerned with wealth) and there needs to be a mechanism for satisfying them. The preeminent form of honor Aristotle identifies is holding office, which is significant because honor becomes synonymous with leading others in virtue. However, he highlights another aspect of honor in the Nicomachean Ethics: honor, he observes, takes the place of virtue in the lives of the

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S. Th. I-II, q. 92, a. 1. Ibid. 28 Consider, for example, Aquinas’s arguments in S. Th. I-II q. 98, a. 6, that human beings need some explicit law beyond what they can individually determine according to their own reason. 29 SSP II.1.2. 30 Cf. SSP II.8. 27

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most ambitious, not because they fail to care for virtue, but because honor is the chief means by which they come to know that they are virtuous.31 Aquinas comments: “Men seem to seek honor in order to grasp a solid opinion about themselves that they are good and that they may believe this from others. They seek, therefore, to be honored by the prudent, who have correct judgment, and from among those who know them, who are better able to make a judgment about them, and they seek to be honored for their virtue, through which someone is good.”32

In Aquinas’s reading of Aristotle, honor is valued chiefly for its pedagogical function, as a mechanism for bestowing on an individual a “solid opinion” that they are good. This social mechanism for affirming virtue is extremely important, because at the heart of virtuous action is an epistemological problem: how do we know that we have acquired the virtues when there are so many different factors impacting our decisions, and the state of our own characters has a tendency to affect our judgment? One way of overcoming this is the generic doctrine of the mean, which helps narrow the field of possible action.33 A second mechanism for this is the human law, which, as was discussed above, enumerates the precepts of the natural law. But the receipt of honor forges the link between the precepts and particular actions in a way that the more generic human law cannot. Aristotle argues that men seek honor so that they can believe that they are virtuous through the opinions of others; hence, the receipt of honor, especially when bestowed by those who are held up as exemplars of virtue, helps to identify for each individual whether they have attained to human excellence, and confirms in them their self-knowledge. The development of a culture of honors helps give a particularity to the precepts of the law that would be lacking if the law simply gave dictates but failed to hold up exemplars. But a more perfect and comprehensive way of forming the soul, and hence the identity, is the development of a culture of civic friendship. There is a certain limit upon honors, inasmuch as they can easily be given falsely, or they might reflect the perceptions of the many in a way that misses intimate particulars. As Aquinas noted above, it is important for the individual receiving honor that the one bestowing the honor actually knows him. Aristotle highlights, in passing, what is once again an epistemological problem when he observes that large political communities are always flawed because the citizens lack sufficient knowledge of each other to under31

Cf. EN 1095a14-b13. SSE I.5.65: homines videntur honorem quaerere ut ipsi firmam opinionem accipiant de se ipsis quod sint boni et quod ab aliis hoc credatur, et ideo quaerunt homines honorari a prudentibus, qui sunt recti iudicii, et apud eos a quibus cognoscuntur, qui melius possunt de eis iudicare, et quaerunt honorari de virtute, per quam aliquis est bonus (my own translation). 33 Aristotle’s argument when he elaborates the doctrine of the mean is specifically a negative argument, that we can know that those actions which are in the extreme are not correct, but he doesn’t give a precise account of how we can know what action does strike the mean, and more generally offers additional negative accounts for how to avoid going wrong – like knowing the propensities of one’s own character and where it takes strong pleasure – than he does define the way of knowing how to act correctly. Cf. EN 1109a1 ff. 32

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stand who is worthy of receiving honor, especially the honor of office. Within a large community, most virtue is easily overlooked, and, while the principle of subsidiarity helps decentralize some of this process, the reality remains that honor is flawed as a mechanism for affirming virtue because the knowledge each individual has regarding others must be limited in a large group. A more comprehensive and specific mechanism for shaping the soul is friendship. Friendship, says Aristotle, is the main good that is pursued by every legislator.34 This is at first confusing, and seems to contradict Aquinas’s observations that a) the good is the chief end of the law, and b) the development of the virtues is the chief end of the law, but, in reality, this precept is identifying the chief mechanism whereby virtue both public and private is developed and promoted within the populace. Aristotle observes in his treatment of friendship that, in a friendship of virtue, each friend delights in the virtue of the other and sees in the other an image of his own virtue.35 In one sense, the friendship is something that is able to arise because of virtue that is already there – so it does not occur in a social vacuum – but, in another sense, friendship is able to confirm for an individual that they possess virtues worthy of esteem by someone in whom they themselves recognize the life of virtue. What public honors aim at, friendship completes most perfectly: the promotion of virtue by means of the existence of a society that recognizes virtue and is drawn toward it. One might reflect here on the role that monastic communities have perennially had in forming the identity of the west. It also gives context to the truth which Aquinas notes, that marriage is one of the greatest schools of friendship, as the institution of marriage has, as a certain moral perfection, the friendship between spouses.36 Finally, it is also present in Aristotle’s observation that marriage is the best institution for training the loves of the next generation, because, as Aquinas argues, “paternal discipline” is the foundation that gives the greatest shape to the identity of each citizen,37 since it begins at birth. The main point here is that, in the context of the thought of many of the tradition’s best minds, the law’s best means for forming the identity of its citizens lies in its promotion of private institutions such as marriage, the family, and other schools of friendship which can more directly form the citizens. So, in short, while the law provides the general framework for how the identity of citizens will be formed through the acquisition of virtue, it must do more in this regard than simply articulate the goods of the natural law by precept. The civic community has a responsibility to form the identities of its citizens by training them in virtue and ordering them toward the common good: first by establishing those legal precepts that clarify the natural law in the realm of action; second, by establishing those institutions that allow for virtue to receive honor within the community; and, finally, by establishing a culture that promotes friendship. Within this context, 34

Cf. EN 1162a22-b16. Cf. EN 1168b1 ff. 36 Summa contra gentiles (SCG) III.123. 37 S. Th. I-II, q. 95, a. 1.

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the individual is able to develop his own identity according to the virtues; outside of it, the soul has few helps, but will remain unformed and disordered.

IV. Divine Law and Human Identity And it is here that I would like to conclude by considering how we should think about all of this in light of the Divine law because, within the account that Aquinas gives, the Old and New Laws are also legislative social structures. As noted briefly, above, the human law has an obligation to follow either the natural law or the divine law, and the church itself provides much of the legislation that forms identity among the faithful. Indeed, Aquinas’s treatment of both the Old and the New Law has, as one of its axes, this very question of identity, and it is here, I think, that we see the culmination of what he has said thus far in his discussion of the natural and human laws, along with his treatment of Aristotle. There are several distinct ways that both the Old and the New Law help establish an identity among the faithful. First, by clarifying the secondary precepts of the natural law; second, by the cultivation of the virtues through the sacraments; but third, especially by the reestablishment of man’s friendship with God through Jesus Christ. In this work, they replicate in part the direct work of the human law but do so more perfectly because they are founding their precepts on the revelation of God; however, they also transcend what the work of the human law is able to accomplish by linking man with the true ontological foundation of personhood in a way that human society is only able to loosely replicate. Through the friendship with God achieved in the fulfillment of the Divine Law, each man becomes most fully actual as a person by entering into the source of personhood itself, the life of the Holy Trinity. The overall account that Aquinas gives of the Old Law is that it clarifies the natural law and reestablishes the force of its secondary precepts.38 He observes that the Old Law had to be given after men had spent some time living merely according to reason to break down their pride in their own intellects, and the conviction that reason alone was sufficient to be saved.39 While the natural law is accessible to all in theory, in practice its acquisition is strongly aided by divine revelation – and at this present moment, we get a striking affirmation of this principle in the increasingly prevalent view that the natural law is a religious conviction. The Old Law gives definition to the natural law with some level of specificity, bringing it down to the level of particular precepts; thus, Aquinas sees in the decalogue an articulation of the immediate secondary precepts of the natural law,40 paralleling his claims about the ius gentium,41 that establishes a rational praxis toward both God and men. But the law extends far beyond 38

Cf. S. Th. I-II, qq. 98 – 99. S. Th. I-II, q. 98, a. 6. 40 S. Th. I-II, q. 100, a. 1. 41 S. Th. I-II, q. 95, a. 4.

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the decalogue, and one of Aquinas’s favorite examples of a secondary precept of the law, “rise up before the hoary head,” is a stipulation of the law that goes down to the level of manners.42 If we understand the first layer of identity to be the establishment of habits that order the activity of our characters in daily life, then the Old Law does this par excellence, with rituals for each facet of life that ensure a robust cult that sanctifies a whole people in their interactions with each other and with God.43 Yet there is another layer of identity-formation that Aquinas thinks the New Law is able to accomplish in a unique way: the sanctification of the inner man. The dichotomy between outer and inner sanctification is a constant theme in his analysis of the Old and New Laws, to the point that he actually states that those who had been formed by the Old Law in such a way that it penetrated to their inner dispositions and move them with love were, in fact, living under the New Law.44 The inner transformation enacted by grace brings about a formation of identity in a much more comprehensive way. This claim is brought to life acutely in Aquinas’s comment on the words of St. Paul that “all you who have been baptized into Christ have been clothed with Christ”; on one level, of course, the clothing with Christ is an overt image of the adoption of an identity, Christ’s identity, as our own, but Aquinas’s interpretation of it emphasizes inner renewal. He writes: “(J)ust as burning wood takes on fire and shares in fire’s activity, so he who receives the virtues of Christ has put on Christ: stay in the city until you are endued with power from on high (Luke 24:49). This applies to those who are inwardly clothed with the virtue of Christ: put on the new man, who according to God is created in justice and holiness of truth.”45

To be “clothed with Christ” is not to adopt an extrinsic persona, but to acquire the infused virtues and become animated by them, thereby sharing in the activity of Christ himself. Thus, the promise of the New Law is a true formation of identity of the inner man, a character for the soul that animates it with the spirit of Christ. Ultimately, the culmination of this new identity is the animation of the soul with the love of God, and the restoration of its order toward God as its highest good.46 Thus, to take on the identity of Christ is to become animated with that love that brings human life to its fulfillment and associates the meaning of the individual’s existence with the true meaning of human life as such. The adoption of the Christ-identity, viewed in this way, not only makes the individual identity “good,” but also draws the individual into a life that is at the very source of personhood: the life of the Trinity. Within his Trinitarian theology, Aquinas identifies the source of the personhood found in each member of the Trinity with the 42

S. Th. I-II, q. 100, a. 1. Cf. especially Aquinas’s account of the different functions of moral, judicial, and ceremonial precepts in S. Th. I-II, q. 99. 44 S. Th. I-II, q. 107, a. 1 ad 2. 45 Aquinas, Sententiae Super Galatians 9.84. 46 S. Th. II-II, q. 25, a. 1. 43

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primal relations that are found between the persons.47 The Word is a person because he exists in relation to the Father, as His eternal image; the Spirit is a person because He exists in relation to both the Father and the Son as the procession of love between them. To be a person is, in its archetypical source, to be in relation with God as a knower and lover. In this sense, the fall, by cutting us off from a direct encounter with God, also undercut some aspect our personhood by separating us from the source of determinacy that is to animate our being. Cut off from God, a determinate identity is, in a sense, impossible, since it becomes arbitrary – a mere personal or social construct with no ontological foundation. The friendship with Christ brought about through the incarnation and the sacramental life makes actual in us a life of virtue founded on the eternal divine life that no merely human friendship could ever begin to approximate.

V. Conclusion As I noted at the start, Joseph Ratzinger has argued vigorously that Europe, and indeed the West as a whole, needs to return to its spiritual roots or wither.48 The West is increasingly in its own identity crisis as it strives to allow everyone within its sphere to define themselves, having embraced a multicultural approach, but fearing to impose its own traditional identity on anything. My argument is not necessarily that the West should reject its multicultural approach, but it should recognize that the individual’s identity is not autonomous and self-defining but receives its definition from an actuality external to itself. I have argued, first, that we should think of the human person as a “first actuality” rather than a “second actuality”; that the “second actuality” of the person is developed through the construction of an identity that is built around the habits of the virtues; that this identity is established through social regulation that promotes the virtues by articulating what is right and wrong, and establishing a culture of civic friendship that honors virtue and castigates vice; and finally, that the life of the Christian faith solidifies the ontological foundation for this life of virtue by establishing friendship with Christ, which builds the virtues in us through the sacraments, and orders us toward the love of God. On the one hand, the Catholic mind needs to acknowledge that the full ontological foundation for an identity is found in the Catholic Church, which establishes what we might call a sacramental culture that orders the soul toward participation in the life of the Trinity. But on the other hand, every religion or culture which is grounded in the natural law provides a framework for growing an individual’s identity according to nature and establishing a context for human friendship that promotes the growth of virtue. Non-Christian religions (or civic communities) cannot order the soul toward God and perfect it in the love of the good, but they can begin the work of forming identity in virtue – and in this sense, the Church must recognize their legitimacy as regulative 47 48

S. Th. I, q. 29, a. 4. Cf. Ratzinger (note 4).

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communities, whose work is inchoate but valid through the link with the natural law, and their primacy over and against the simple rights of the individual to self-determine. And to take this point further, on some level the work of these communities is necessary within their own context because they prevent their own societies from descending into chaos. Though every individual is a dominus over their own lives and virtue is developed only through the exercise of the will, this work of the will is only made fruitful in a social context that allows for the work of law and friendship to give it a proper order toward the good. Without a structured order within which the will can operate, the individual will fail to develop a capacity to live an ordered life and will descend (or remain in) the life of what Aristotle calls a “barbarian,” who, as Aquinas observes, has never learned to be governed by reason and the word, but can only assert his will upon his surroundings by force, and who experiences any movement contrary to his desire as a kind of force. While this may be an “identity” in one sense, it is one that lacks any ordering principle, and, in another sense, is determinate only accidentally, insofar as circumstances and desire present stimuli as possible objects of the will. Such a soul has perhaps been better described by Dante than anyone else: one who has “lost the good of the intellect.”49 So in short, I would argue that, according to Aquinas, the identity of the individual is something that must receive a certain amount of regulation by the legal community, because, without such regulation, the will remains unable to effectively move the soul from first to second actuality. This does not immediately mean that we ought to advocate for a specific form of government, but that we must recognize the dependence of liberal structures upon religion for their continued order, and that the West does need to more deliberately promote its own spiritual identity if it is not to fall into an identity crisis. Tocqueville observed that as a political community becomes increasingly free, religion must become increasingly restrictive,50 and something of this seems to accord with Aquinas. Aquinas argued, after all, that there are two swords of authority in this life, not merely one – but both are necessary for a properly regulated civic life. Either the state or religion must present to each citizen a pattern for a well-ordered identity that will enable the citizen to act in such a way that the soul becomes animated by the life of virtue. If neither community undertakes this task, then in practice, the soul can do little but turn either toward the senses, or toward itself – and this is Dante’s vision not of paradise, but of the pilgrim who is lost “in the forest dark” and needs a Virgil to find himself again. Zusammenfassung Die moderne Identitätspolitik, wie sie von Autoren wie Judith Butler oder Herbert Marcuse formuliert wurde, geht davon aus, daß die individuelle Identität durch Strukturen entwickelt 49 50

Dante, Divina Commedia, Inferno III.16 – 18. Tocqueville, Democracy in America, Book II, Section 1, Chapter 5 ff.

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werde, welche einer gesetzlichen Regulierung bedürften, um die individuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen. Der klassische Liberalismus antwortet auf diese Behauptung, indem er versucht, Bereiche individueller Autonomie abzugrenzen, um das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung zu wahren. In diesem Beitrag wird das Verständnis von Thomas von Aquin von Identität und Rechtsetzung untersucht und dargelegt, daß er eine aktive Rolle des Rechts bei der Gestaltung der individuellen Identität anerkennt, allerdings auf einer anderen konzeptionellen Grundlage. Letztendlich findet sich für Thomas die perfekte Regelung der individuellen Identität im göttlichen Gesetz, während die Macht des menschlichen Gesetzes in seiner Autorität über die individuelle Identität begrenzt werden muß. Nach der Lektüre der Schriften von Thomas von Aquin läßt sich die Berechtigung des Ansatzes von Autoren wie Butler anerkennen, wenn sie eine Verbindung zwischen der privaten Identität eines Individuums und öffentlichen Phänomenen wie der Sprache herstellen. Umgekehrt hat auch der klassische Liberalismus Recht, wenn er eine Begrenzung spezifischer politischer Regulierungen der Identität fordert. Der Beitrag von Thomas unterstreicht die Bedeutung eines theologischen Horizonts für die gesetzgeberische Gestaltung des Individuums.

II. Aktuelle Tendenzen in historischer Perspektive/ Current Trends in Historical Perspective

Das Jahr 1968: Deutsche Reminiszenzen und aktuelle Bezüge Von Jürgen Aretz Vor 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, haben im besonderen zwei Ereignisse die Geschichte des geteilten Deutschland geprägt: der Volksaufstand in der DDR von 1953, der von der sowjetischen Besatzungsmacht blutig unterdrückt wurde, und der Mauerbau von 1961, mit dem die DDR die Fluchtbewegung in den Westen unterbinden wollte. Was damals geschah, war unmittelbare Folge des Kalten Krieges, der Deutschland und Europa jahrzehntelang geteilt und sein Schicksal bestimmt hat. Nur wenige Jahre nach dem Mauerbau schien dieser Hintergrund für Teile der damaligen Studentengeneration keine wirkliche Bedeutung mehr zu haben. Es ist die erste Generation von Studenten, die „nicht einmal mehr Kindheitserinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit besaß“1 und eine Äquidistanz zu den USA und der Sowjetunion entwickelte. Das gehört zu den Voraussetzungen und Erklärungsansätzen, die 1968, das Jahr der Studentenrevolte, in verbreiteter Wahrnehmung zu einem „Epochenjahr in der Lebensgeschichte der westdeutschen Demokratie“ machten2 , es wurde „Mythos, Chiffre und Zäsur“3. Tatsächlich ist „68“ in diesem Kontext eine unzulängliche zeitliche Begrenzung. Die Ereignisse und Entwicklungen, die mit dieser Jahreszahl verbunden werden, reichen teilweise deutlich weiter zurück und zugleich über dieses Jahr hinaus. Die Annäherung an das Jahr 1968 kommt im Hinblick auf Deutschland, genauer: Westdeutschland, zu einem besonderen Befund. Die deutsche Wahrnehmung übersieht oft, daß „68“ mit seinen Aktionen und Demonstrationen in (West-)Berlin und Frankfurt, Heidelberg und anderen Orten trotz deutscher Besonderheiten kein national begrenztes Phänomen war. Amerikanische Beobachter werden im Zusammenhang mit diesem Jahr zuerst an die Bürgerrechtsbewegung denken, an die Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy und an den Vietnam-Krieg, der zum Trauma der Nation wurde. Er hat die Gesellschaft erschüttert, ihre Spaltung vertieft und das Ansehen der USA weltweit verändert. In ihrer von Zweifeln freien Selbstwahrnehmung wie in der verbreiteten Außenwahrnehmung galten sie bis dahin als Hort der Demokratie, der ma1 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, 2000, S. 328. 2 Ebd., S. 326. 3 Vgl. Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, 2000.

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teriellen Möglichkeiten und als Modell für ein glückliches Leben. Jetzt, 1968, kämpften junge Wehrpflichtige in einem fernen Land, und die Bilder des Krieges und des Sterbens wurden der amerikanischen Öffentlichkeit und der Welt jeden Tag im Fernsehen vor Augen geführt. Der Vietnam-Krieg wurde zum globalen Thema. In Lateinamerika und Japan kam es zu gewalttätigen Studentenprotesten, es ging um Demokratie, und es ging um eine antiamerikanische Stoßrichtung. In Frankreich führten die Mai-Unruhen von Studentendemonstrationen über einen Generalstreik in eine veritable Staatskrise, die nur mit äußerster Anstrengung bewältigt werden konnte und massive Nachwirkungen in Gesellschaft und Staat hatte. Eine ganz andere Entwicklung schien die Tschechoslowakei zu nehmen, die bis dahin als ein besonders „linientreuer“ Appendix der Sowjetunion galt. Die Menschen setzten ihre Hoffnungen auf eine systeminterne Reformbewegung, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte einging. Dahinter stand der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen. Am 21. August 1968 walzten sowjetische Panzer den Demokratisierungsversuch nieder, so wie zuvor bereits in der DDR (1953) und in Ungarn (1956). Auch polnische Reformansätze wurden im Keim erstickt. Eine Folge der Vorgänge war die von Moskau noch im selben Jahr erlassene Breschnjew-Doktrin, mit der die UdSSR die ohnehin eng begrenzte Souveränität ihrer Satellitenstaaten festschrieb. Sie alle hatten das von der Sowjetunion vorgegebene sozialistische System zu garantieren, politisch, ökonomisch und militärisch. Der so definierte Sozialismus entsprach den machtpolitischen Interessen der Sowjetunion. Unter veränderten ideologischen Voraussetzungen setzte die Sowjetunion die Idee eines (groß-)russischen Reiches fort, das dem Grunde nach ein Kolonialreich eigener Art war – und noch ist. Der Untergang der UdSSR im Jahre 1991 bedeutete für viele Kommunisten und Nationalisten nicht das Ende ihrer nationalistisch überhöhten Idee eines „Groß-Rußland“. Diese Idee hat durch Putin eine realpolitische Renaissance erfahren. Henry Kissinger sieht heute eine russische Außenpolitik, die einen „mystischen Patriotismus in ein imperiales Anspruchsgehabe“ übersetze4. Es zeigt sich eine politische Kontinuität, die in offenem Gegensatz steht zu westlichen Wertevorstellungen wie der Anerkennung von universal geltenden Menschenrechten, des Selbstbestimmungsrechts der Völker oder der Achtung vor völkerrechtlich verbindlichen Vertragsabschlüssen. Putin hat wiederholt erklärt, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Katastrophe der jüngeren Geschichte gewesen sei. Bedauern für die Millionen Opfer früherer Gewaltherrschaft gibt es nicht. Es bleibt die Vorstellung von der imperialen Größe Rußlands, die wesentlich zur Erklärung der bereits früher begonnenen Auseinandersetzung mit der Ukraine beiträgt. Sie wird seit 2022 als offener Krieg geführt. 4

FOCUS Nr. 27 vom 2. Juli 2022, S. 50 (51).

Das Jahr 1968: Deutsche Reminiszenzen und aktuelle Bezüge

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Die europäische Linke sah sich nach den Prager Ereignissen von 1968 in einem Dilemma, das für viele unauflösbar war und letztlich zum Untergang verschiedener kommunistischer Parteien in Europa geführt hat, so der Kommunistischen Partei Frankreichs. Die Linke mußte sich nach Prag zwischen zwei Wegen entscheiden, die keinen Kompromiß zuließen: Das Wagnis eines demokratischen Sozialismus schloß das Herrschaftsmonopol aus, das die sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien bisher erhoben und das zwingend die uneingeschränkte Unterstützung der Sowjetunion als der Führungsmacht des Ostblocks erforderte. Sie hatte in Prag gezeigt, daß sie diese Solidarität auch mit Gewalt zu erzwingen bereit war. Exakt in diese Zeit fällt das fast völlig vergessene Kapitel Biafra-Krieg. Im ölreichen Südosten des Vielvölkerstaates Nigeria erhoben sich die Igbo (Ibo), ein weitgehend katholisches Volk. Sie versuchten, die von der Kolonialmacht Großbritannien gezogenen Grenzen zu überwinden und für ihr großes Siedlungsgebiet die Unabhängigkeit zu erlangen. Die nigerianische Zentralregierung schlug diesen Versuch nationaler Selbstbestimmung mit brutalen Maßnahmen nieder. Sie schreckte auch nicht vor einem Hungerkrieg zurück. Der humanitären Katastrophe fiel mindestens eine Million Menschen zum Opfer; andere Schätzungen reichen bis zu zwei Millionen. Das war die Größenordnung der Opferzahlen in Indochina. Die Regierung Nigerias konnte vor allem auf die politische und militärische Unterstützung Großbritanniens zählen, dessen Politik wesentlich die Interessen eines Ölkonzerns vertrat. Das Bemühen im besonderen christlicher Initiativen in Westeuropa, jenseits der britisch-nigerianischen Propaganda wahrheitsgetreu aufzuklären und konkret zu helfen, fand nur ein sehr begrenztes Echo. Eine wirksame Unterstützung durch die westlichen Demokratien gab es nicht – mit Ausnahme Frankreichs. Aus dem Engagement französischer Ärzte in Biafra entstand die Hilfsorganisation „Médecins Sans Frontières“ (Ärzte ohne Grenzen), die 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Zu den wenigen Linken in Deutschland, die Solidarität mit den Menschen in Biafra zeigten, gehörte der spätere Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass. Er appellierte an die Menschen, Auschwitz habe „hinter Stacheldraht“ stattgefunden; nun geschehe ein „Völkermord vor aller Augen“. Für „transnational verknüpfte Proteste“, wie es sie im Hinblick auf Vietnam gab, spielte Biafra kaum eine Rolle. Das war nicht das Thema der „Neuen Linken“, die „unser Bild von den Protesten dieses Jahres bis heute bestimmt“5.

I. „Neue“ und „alte“ Linke Die „Neue Linke“ bezeichnete eine Sammlung verschiedener politischer Gruppierungen und Persönlichkeiten, die durchaus unterschiedliche sozialistische Vor5 Lasse Heerten, Der Biafra-Krieg als globales Medien- und Protestereignis, Aus Politik und Zeitgeschehen vom 6. August 2021, S. 2.

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stellungen verfolgten, aber einig waren in der „Überwindung“ des bestehenden „kapitalistischen Systems“. Diese „Neue Linke“ prägte die studentische Protestbewegung des Jahres 1968 im Westen Deutschlands und in West-Berlin. Sie lehnte herkömmliche Konventionen ab, stellte das Bestehende samt der Staats- und Rechtsordnung der Bundesrepublik in Frage und propagierte einen kämpferischen Internationalismus, ein schon fast „typisch deutsch“ zu nennendes „Sich-Verantwortlich-Fühlen“ für die ganze Welt6. Hannah Arendt hielt dem schon Ende 1967 entgegen, natürlich gehe es uns an, wenn „in Persien, Vietnam und Brasilien ,unwürdige Zustände‘ herrschen, aber es liegt wahrhaftig nicht an uns. Das, scheint mir, ist eine Art umgekehrter Größenwahnsinn. Probieren Sie einmal, Politik in Persien zu machen, und Sie werden rasch davon geheilt sein … Worauf es politisch ankommt, ist limitiert denken lernen.“7 Das Entstehen der „Neuen Linken“ bedeutete nicht, daß die „Alte Linke“, die der traditionellen marxistisch-leninistischen Politik folgte, untergegangen wäre. Das Gegenteil war der Fall8. Für sie stand in erster Linie die DKP, eine Nachfolgeorganisation der KPD, die 1956 durch das Bundesverfassungsgericht verboten worden war. Auch die DKP-Gründung fiel in das Jahr 1968. Sie folgte in völliger Distanzlosigkeit den politischen Vorgaben der DDR-Staatspartei SED, durch die sie politisch und finanziell am Leben gehalten wurde. Bei Bundestagswahlen blieb die DKP eine unbedeutende Splitterpartei. Den Einzug in den Bundestag hat sie stets weit verfehlt. In den konkreten gemeinsamen Aktionen der Protestbewegung waren „Neue Linke“ und „Alte Linke“ für Außenstehende nicht ohne weiteres zu unterscheiden. Die kommunistische „Alte Linke“ suchte sich die Protestbewegung für die Destabilisierung der „spätkapitalistischen BRD“ zu Nutze zu machen, die freilich nicht in der erhofften Weise eintreten sollte. Der Straßenprotest führte rasch zu harten Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der „staatlichen Ordnungsmacht“, wie die Polizei apostrophiert wurde. Mit solchen Auseinandersetzungen hatte die Polizei bis dahin keinerlei Erfahrungen. Sie reagierte psychologisch und taktisch in wenig überzeugender, noch von obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen geprägten Weise; eine Deeskalationsstrategie gab es nicht. Das wiederum hatte zur Folge, daß gerade in den Universitäten und unter Intellektuellen eine Solidarisierung mit den linken Demonstranten eintrat, die über den studentischen Kreis der „Protestbewegung“ hinaus reichte. In der breiten Bevölkerung und nicht zuletzt der Arbeiterschaft9 fand die Protestbewegung keine Unterstützung, wie Umfragen auswiesen. Weit mehr als die Hälfte der Menschen sahen durch die Studentenunruhen „Sicherheit und Ordnung gefähr6 Gerd Langguth, Protestbewegung am Ende. Die Neue Linke als Vorhut der DKP, 1971, S. 11. 7 Vgl. Götz Aly, Unser Kampf 1968, 4. Aufl. 2018, S. VI. 8 Vgl. dazu Langguth (Fn. 6). 9 Kielmansegg (Fn. 1), S. 329.

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det“10. Wenig mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende, nach der Wiedergewinnung eines „normalen“ Lebens und nicht zuletzt dem Erreichen eines gewissen Wohlstandsniveaus sahen viele Bürger in den Protestierenden eine Gefahr für das mühsam Aufgebaute. Nicht selten reagierten Bürger auf den Protest mit der Forderung nach scharfen Gegenmaßnahmen. Anlaß für den ersten großen, bundesweit wahrgenommenen Protest war der Staatsbesuch von Reza Pahlavi, Schah von Persien, im Jahre 1967. Die Bundesrepublik unterhielt enge wirtschaftliche Beziehungen mit diesem Land, das als Musterbeispiel eines gelungenen Reform- und Modernisierungsprozesses im Nahen Osten galt. Die rechtsstaatlichen Defizite des autoritären Regimes blieben in Wirtschaft und Politik weithin unbeachtet. Nachdem der Besuch des Schahs bereits am damaligen Regierungssitz in Bonn zu Auseinandersetzungen geführt hatte, gab es bei dem anschließenden Besuch in (West-)Berlin gewaltige Gegendemonstrationen unter Führung des Sozialistischen Studentenbundes Deutschlands (SDS). Unter den zahlreichen Gruppen und Initiativen der „Neuen Linken“ spielte er zu dieser Zeit und bis Ende der 1960er Jahre eine dominierende Rolle, auch wenn er selbst auf seinem Höhepunkt nur etwa 2.500 Mitglieder zählte – bei einer Gesamtstudentenzahl von damals ca. 300.000. Ursprünglich die Studentenorganisation der SPD, hatte der SDS die politisch-programmatischen Neupositionierungen der SPD – u. a. die Anerkennung der Westbindung und die Wiederbewaffnung – in scharfer Form abgelehnt. Die SPD reagierte nach längerem Zögern 1961 mit einem Unvereinbarkeitsbeschluß, der die gleichzeitige Mitgliedschaft in SDS und SPD untersagte. Die Sozialdemokratie wurde zum „Intimfeind“ der Neuen Linken11, so, wie sie am Ende der Weimarer Republik Intimfeind der KPD gewesen war. Wie damals hieß es 1968 bei manchen studentischen Demonstrationen: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten.“ Die Anti-Schah-Demonstrationen in Berlin wurden angeheizt durch Aktivitäten des persischen Geheimdienstes. Sie eskalierten und fanden schließlich ihren tragischen Höhepunkt im Tod eines friedlichen Demonstranten. Der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 bei einem Polizeieinsatz abseits des Demonstrationsgeschehens von dem Beamten Karl-Heinz Kurras aus nächster Nähe erschossen. In einem Verfahren, das viele Fragen aufwarf, wurde er freigesprochen. Akten, die nach der Wiedervereinigung aufgefunden wurden, belegen, daß Kurras inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes gewesen war. Ein Zusammenhang zwischen dieser Tätigkeit und der Tötung kann nicht belegt werden. Freilich ist es eine Tatsache, daß das DDR-Regime in den Folgejahren eng mit den westdeutschen Terroristen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) zusammengearbeitet hat, die für zahlreiche politische Morde in der Bundesrepublik verantwortlich waren.

10 Thomas Petersen, 1968 und die Bewältigung der Diktatur im Spiegel der Demoskopie, Historisch-Politische Mitteilungen 25 (2018), S. 19 (26). 11 Aly (Fn. 7), S. 38.

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II. Innenpolitische Zuspitzung Der Tod von Ohnesorg löste bundesweite Proteste und Solidarisierungsaktionen aus. In der Folge waren es vor allem zwei Ereignisse bzw. Anlässe, die eine weitere öffentliche Polarisierung auslösten. Am 2. April 1968 verübten die Linksextremisten Andreas Baader und Gudrun Ensslin Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser; neun Tage später, am 11. April 1968, wurde Rudi Dutschke, SDS-Führer und Galionsfigur der linken Studentenbewegung, in Berlin niedergeschossen. Er sollte sich von den Verletzungen nicht mehr erholen und ist an den Spätfolgen des Attentats 1979 verstorben. Die Schüsse auf Ohnesorg und Dutschke führten „nicht nur in West-Berlin, wo sie fielen, in eine Phase schärfster Zuspitzung, Konfrontation, Dramatik“12. Das Attentat wurde von einem jungen Hilfsarbeiter begangen, der sich, wie erklärt wurde, durch die Berichterstattung der Boulevard-Presse über Dutschke und die Studentenproteste motiviert sah. In der Tat hatte sie über die studentischen Aktionen klischeehaft und mit einer für die Zeit typischen antikommunistischen Zuspitzung berichtet. In der „Frontstadt Berlin“, die nicht einmal sieben Jahre zuvor von der kommunistischen DDR buchstäblich eingemauert worden war, hatten schon die Demonstrationen samt ihren Angriffen gegen die Schutzmacht USA Empörung in der Bevölkerung ausgelöst; die teilweise reißerische Berichterstattung führte zu weiterer politischer Erregung. Der studentische Protest richtete sich gegen den Springer-Konzern, der mit dem Boulevard-Blatt „Bild-Zeitung“ die größte deutsche Tageszeitung herausgab; sie erreichte täglich eine zweistellige Millionenzahl an Lesern. Der Anschlag löste die größten innenpolitischen Unruhen aus, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte13. Weit über die Hochschulorte hinaus gingen in vielen Städten Zehntausende auf die Straße. Ziel der Proteste waren Redaktionen und Einrichtungen des SpringerKonzerns, bald auch staatliche Einrichtungen; vielerorts arteten sie in Gewalt aus. Die Proteste griffen über in das europäische Ausland, und Demonstrationen gab es selbst in den USA, Kanada und Israel. In München kamen zwei Demonstranten unter ungeklärten Umständen ums Leben, „möglicherweise durch Steinwürfe aus den eigenen Reihen“14. Die innenpolitische Situation spitzte sich zu, weil diese Aktionen zeitlich mit den Protesten gegen die sogenannten „Notstandsgesetze“ zusammenfielen. Seit 1966 wurde die Bundesrepublik durch die erste „Große Koalition“ aus CDU, CSU und SPD regiert. Eine ihrer wichtigsten Verabredungen war die Verabschiedung einer „Notstandsverfassung“, mit der Sicherheitsvorbehalte abgelöst werden sollten, die den (West-)Alliierten nach dem Deutschlandvertrag von 1952 zustanden.

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Kielmansegg (Fn. 1), S. 327. Wolfgang Kraushaar, 1968. Das Jahr, das alles verändert hat, 2. Aufl. 1998, S. 104. 14 Ebd., S. 107. 13

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Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, die eine Durchsetzung linker Vorstellungen ausschloß, bildete sich eine „Außerparlamentarische Opposition“ (APO). Vor allem linke Studenten, Politiker, Gewerkschafter, Intellektuelle und Journalisten, Vertreter der evangelischen Kirchen und nicht zuletzt Kommunisten sahen in der „Notstandsverfassung“ eine Art „Ermächtigungsgesetz“ nach dem Vorbild von 1933. Bis zum Ende des sog. „Dritten Reichs“ wurde es als formalrechtliche Grundlage des nationalsozialistischen Terrorregimes mißbraucht. Die Gegner der „Notstandsverfassung“ zeigten mit ihrer Haltung nicht nur ein geringes Vertrauen in den noch jungen demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, sondern sie konstruierten eine unerträgliche historische Analogie. So wurden die „Notstandsgesetze“ mit der Kurzform „NS-Gesetze“ abqualifiziert. In vielen westdeutschen Städten und in West-Berlin gab es Kundgebungen gegen die angebliche „faschistische Gefahr“. Für die Hauptveranstaltung, die in Bonn stattfand, registrierte die Polizei im Mai 1968 40.000 Teilnehmer. Es war die bis dahin größte Demonstration am Regierungssitz der Bundesrepublik. Unter ihnen befanden sich mehr als tausend Studenten, die mit einem Sonderzug aus der DDR anreisten15. Im Unterschied zu 17 Millionen Deutschen, die seit 1961 in der DDR eingesperrt waren und noch bis 1989 auf ihre Reisefreiheit warten mußten, sollten diese linientreuen Aktivisten den „Kampf der Antifaschisten in der BRD“ unterstützen. Die Kampagne gegen die Notstandsgesetze scheiterte. Die Grundgesetzänderung wurde mit der notwendigen parlamentarischen Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet und trat 1968 in Kraft. Die von den Gegnern prognostizierte Gefahr ist in den vergangenen mehr als fünfzig Jahren nicht eingetreten. Die Notstandsgesetze sind bis heute nicht angewendet worden.

III. „NS-Aufarbeitung“ an den Hochschulen Viele Hochschulen in Westdeutschland und West-Berlin boten 1968 das Bild eines permanenten studentischen Aktionismus. Schah-Besuch und Springer-Proteste, die Kampagne gegen die Notstandsgesetze – und an den meisten Hochschulen fanden ständig neue Protestaktionen statt: Solidaritätskampagnen mit den sogenannten Befreiungsbewegungen unter anderen in Angola und Mozambique, die sich gegen die portugiesische Kolonialherrschaft richteten, gegen das Obristenregime in Griechenland, gegen das Franco-Regime in Spanien und gegen Salazar in Portugal. Man zeigte Solidarität mit den radikalen Palästinensern; die israelisch-palästinensische Problematik war auch insofern ein Thema, als zu dieser Zeit zahlreiche Palästinenser an den Universitäten der Bundesrepublik studierten. Der Protest gegen die Politik Israels, im besonderen nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, wandte sich bald gegen die Existenz des Staates Israel. Wenig mehr als zwanzig

15

Horst-Pierre Bothien, Protest und Provokation. Bonner Studenten 1967/68, 2007, S. 56.

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Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus zeigte sich, daß Antisemitismus nicht nur ein rechtsextremes, sondern zugleich auch ein linksextremes Problem war. Es ist zurecht darauf hingewiesen worden, daß zwischen der Generation der „68er“ und den jungen Leuten von 1933 sozialisationswissenschaftlich „historische und familiengeschichtliche Bande“ bestanden. Viele Aktivisten der linken Studentenbewegung hatten diesen politischen Weg nicht zuletzt als Ergebnis eines Generationenkonflikts in der Familie genommen16. Kritische Fragen zur nationalsozialistischen Zeit konnten in manchen Elternhäusern nicht gestellt werden, sie führten zur Konfrontation oder blieben unbeantwortet. Spätestens die großen NS-Prozesse, die bereits einige Jahre vor Ausbruch der Studentenrevolte geführt oder eingeleitet worden waren, hatten zu einer größeren gesellschaftlichen und politischen Diskussion geführt. Gleichwohl hält sich die Legende, erst die „68er“ hätten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ausgelöst. Das ist historisch falsch. So wurde der erste Auschwitz-Prozeß in Frankfurt 1963 eröffnet. Richtig ist hingegen, daß linke Studenten das Thema in einer sehr spezifischen Weise in die Hochschulen hineingetragen haben. Die Folge waren Fragen an die ältere Professorengeneration, die als junge Wissenschaftler bereits in den 1930er Jahren tätig gewesen waren. In der linken studentischen Wahrnehmung galten sie grundsätzlich als Mitläufer und Mittäter, als Teil des „faschistischen Systems“. Ein signifikanter Fall ist in diesem Zusammenhang Benno von Wiese, renommierter „Groß-Ordinarius“ der Germanistik an der Universität Bonn. Seine Breitenwirkung war erheblich; angeblich hat er nicht einmal die Zahl seiner Doktoranden gekannt. Wie er in seinen Erinnerungen ausführte, war er im April 1933 in die NSDAP eingetreten, um „Schlimmes oder noch Schlimmeres zu verhüten“17. Dieser Versuch der Selbstrechtfertigung bedarf keiner Erörterung. In den 1930er Jahren hatte von Wiese Texte veröffentlicht, die den Geist der Zeit atmeten und die Ende der 1960er Jahre Gegenstand der studentischen Diskussion und Kritik wurden. Er überstand die Kampagne dank der Solidarität seiner Anhängerschaft im „Mittelbau“ und „seiner“ Studenten. Als eine Fakultätsveranstaltung gewaltsam aufgelöst wurde, stand an der Spitze des linken Studentensturms einer seiner Doktoranden. Von Wiese ergriff die Flucht. Wie manche seiner Kritiker behaupteten, hatte er ihn angenommen, um seine Liberalität zu demonstrieren, vielleicht auch, um sich eine Art Schutz zu erkaufen. Dazu würde jedenfalls sein Bekenntnis passen, das er im Hinblick auf 1933 ablegte: Es sei „eine Schwäche meiner Natur mit im Spiel“ gewesen, „der Mangel an Tapferkeit“18. Ein solches Bekenntnis hätte manchen Professoren des Jahres 1968 gut zu Gesicht gestanden. Hatte von Wiese eine Vergangenheit, die zumindest kritische Nachfragen rechtfertigte, so zeigt ein anderer Fall, daß die studentische Linke im Kampf gegen nicht 16 Aly (Fn. 7), S. XIII f.; so schon 1968 Helmut Kuhn, Zehn Thesen zur Studentenbewegung in der Bundesrepublik, Hochland 60 (1968), S. 369 – 374. 17 Benno von Wiese, Ich erzähle mein Leben. Erinnerungen, 1982, S. 138. 18 Ebd., S. 139.

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genehme Hochschullehrer auch vor Verleumdungen nicht zurückschreckte. Dem Bonner Kunsthistoriker Heinrich Lützeler warfen sie eine nationalsozialistische Vergangenheit vor, ohne irgendeinen Beleg für diese Behauptung vorzubringen. Es ging darum, einen Hochschullehrer zu diskreditieren, der als Dekan gegenüber der studentischen Linken auf Einhaltung der akademischen und rechtlichen Regeln bestand. Tatsächlich war Lützeler von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen im Jahre 1940 die Lehrbefugnis entzogen worden – aus einem Verfolgten des NS-Regimes machte die studentische Linke einen Nazi-Sympathisanten. Das extreme Gegenstück liefert ein Fall an der TH Aachen. Dort wurde 1965 ein ehemaliger hochrangiger SS-Mann unter neuer Identität auf einen germanistischen Lehrstuhl berufen: Aus Hans E. Schneider war Hans Schwerte geworden. Später ist er für mehrere Jahre Rektor der Universität gewesen. Die späten 1960er Jahre mit den kritischen studentischen Nachfragen zur Vergangenheit überstand er problemlos – er hatte sich ein linksliberales Image gegeben, stand mit den linken Studenten auf gutem Fuß und unterhielt beste Beziehungen zu der sozialdemokratisch geführten Landesregierung. Seine wahre Identität wurde erst 1994 aufgedeckt. Die Fälle von Wiese und Lützeler zeigen, daß es der studentischen Linken nicht wirklich darum ging, die Verwicklung von Wissenschaftlern in der NS-Zeit aufzudecken. Es ging um vermeintliche Belege für angeblich noch vorhandene oder vorherrschende „faschistische“ Gesinnungen und Strukturen in der Gesellschaft und der Hochschule.

IV. Gut und Böse Auch die angeführten Beispiele belegen, daß die „Revolte dieser Kinder … rasch in den Bann des alten Freund-Feind-Denkens“ ihrer Elterngeneration geriet19. Die Parallelen zum Ende der Weimarer Republik und den folgenden „tausend Jahren“ waren unübersehbar, so die Mißachtung des Rechtsstaates und der demokratischen Institutionen sowie die Einstellung zur Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. In der Berliner Studentenzeitung „FUSpiegel“ lobte man den „massiven Steinhagel“ gegen die Polizei, und wenn von dem Parlament als „Schwatzbude“ die Rede war, so war es nicht mehr weit bis zu dem von Joseph Goebbels verwandten Begriff „Quasselbude“. Man forderte, „einen reaktionären Richter so lange zu terrorisieren, bis er psychisch zusammenbricht“20. Dieses Denken hat seinen Anteil daran, daß der deutsche Terrorismus der 1970er Jahre, der zahlreiche Opfer gefordert hat, seine Wurzeln in einem Teil der linken Studentenschaft hatte. Die personellen Verbindungen sind hinreichend bekannt. Das zentrale Protestthema dieser Jahre blieb der Vietnam-Krieg. Es ging dabei keineswegs, wie heute in Deutschland bisweilen behauptet wird, um das Engagement 19 20

Aly (Fn. 7), S. XIII. Ebd., S. 125 ff.

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für Frieden und Menschenrechte. Es ging unmissverständlich um „Gut“ und „Böse“: Für den Vietcong und das kommunistische Regime in Nord-Vietnam. Ihnen galt die Solidarität, ohne daß der Charakter des Regimes und seine Einstellung zu Menschenrechtsfragen erörtert worden wäre – während genau das im Hinblick auf Süd-Vietnam, das von den USA gestützt wurde, der Maßstab war. Auch die Ernsthaftigkeit des Protestes ließ Zweifel zu. Die Aktionen nahmen oft Formen eines gemeinschaftsfördernden und zugleich selbst-bestätigenden Happenings an, so, wenn die Demonstranten untergehakt und fahnenbewehrt durch die Universitätsstädte trabten und den Namen des nordvietnamesischen KP-Führers Ho-Chi-Minh skandierten. Kaum jemandem fielen die Parallelen zu studentischen Aktionen vor und nach 1933 auf – lediglich die Bewegungsabläufe und die Farben schienen sich geändert zu haben.

V. Linke Mehrheiten? Bei diesen Aktionen schwang ein in Deutschland auf der rechten wie auf der linken Seite offen oder unterschwellig vorhandener Antiamerikanismus mit, der seine Wurzeln in einem Gefühl der kulturellen Überlegenheit hatte. Selbst Intellektuelle wie Thomas Mann sind davon vor 1933 nicht frei gewesen21. Jetzt, Ende der 1960er Jahre, kam angesichts des Vietnam-Krieges bei linken Studenten ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber den USA hinzu, der inneramerikanischen Opposition gegenüber dem „Establishment“ nicht unähnlich. Ein latenter Anti-Amerikanismus hat sich bis heute in der Bundesrepublik erhalten. Erst die dramatische Zuspitzung des Ukraine-Konflikts hat einer großen Öffentlichkeit wieder vor Augen geführt, daß der Schulterschluß mit den USA für Europa und gerade für Deutschland von existenzieller Bedeutung ist. Bezeichnenderweise nehmen die politische Rechte und die politische Linke auch in dieser Frage andere Positionen ein. Die Bilder des studentischen Protestes gegen den Vietnam-Krieg und andere Aktionen könnten im Rückblick den Eindruck vermitteln, daß hier die deutsche Studentenschaft insgesamt einer politischen Linie gefolgt wäre. Dieser Eindruck wird medial immer wieder unterstützt, auch, weil zahlreiche damalige Aktivisten journalistisch tätig wurden, nicht zuletzt in den öffentlich-rechtlichen Medien. Sie haben dort über die eigene Generation hinaus meinungsbildend gewirkt. Die Auffassung, daß es „die“ Studenten gegeben habe und daß alle oder fast alle linken Ideen gefolgt wären, ist unzutreffend. An vielen Hochschulen bildeten auch auf dem Höhepunkt der sog. Studentenrevolte eher konservative oder liberale Studenten die keineswegs nur schweigende Mehrheit. So weigerte sich im Sommersemester 1968 selbst an den Berliner Universitäten, Hochburgen der linken Studentenbewegung, jeder zweite Student den Teil der Studiengebühren zu bezahlen, der als

21 Vgl. dazu u. a. Joachim Scholtysek, Anti-Amerikanismus in der deutschen Geschichte, Historisch-Politische Mitteilungen 10 (2003), S. 23 (35 ff.).

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Pflichtbeitrag für die politische Arbeit des linken Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) zu bezahlen war22. In der Berichterstattung kamen und kommen gemäßigte Studenten kaum vor, weil sie mit bilderträchtigen und gewaltsamen Aktionen nicht dienen konnten. Bei demokratischen Wahlen zu den Studenten-Parlamenten und den Universitätsgremien sind sie an vielen Hochschulen auch 1968/69 erfolgreicher gewesen als ihre politischen Gegner. Die Linke griff zu Ausweichstrategien: Mit oft „spontanen“ Vollversammlungen erhob man den Anspruch der direkten Demokratie und suchte so die demokratisch legitimierten Gremien auszuhebeln, in denen man nicht über eine Mehrheit verfügte. An ihnen nahm meist nur ein kleiner, jedenfalls nicht repräsentativer Teil der Studenten teil; die breite Mehrheit sah solche Veranstaltungen als bedingt unterhaltsamen Zeitverlust und zog es vor, sich auf das Studium und das Examen zu konzentrieren. Die bundesweit größte anhaltende Bedeutung unter den demokratischen Studentenorganisationen erreichte der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), die Studentenorganisation von CDU und CSU. Daneben gab es die in dieser Zeit sehr erfolgreiche Deutsche Studenten-Union (DSU, später Sozial-Liberaler Hochschulverband, SLH) sowie lokal tätige Gruppen, die sich dem linken Alleinvertretungsanspruch entgegenstellten. Das galt vor allem für das sog. „politische Mandat“. Linke Gruppierungen nahmen für studentische Gremien an den Hochschulen, in denen sie eine Mehrheit hatten, in Anspruch, über die studentischen bzw. universitären Belange hinaus zu allgemeinen politischen Themen im Namen der gesamten Studentenschaft sprechen zu können – wie etwa dem Vietnam-Krieg23. Ende der 1960er Jahre waren die Studentenschaften überall zwangsverfaßt. Mit der Immatrikulation wurde man Mitglied der Studentenschaft, und die Möglichkeit eines individuellen Austritts gab es nicht. Folgerichtig erlaubte die rechtliche Lage den gewählten studentischen Gremien nur Äußerungen, die sich unmittelbar auf die Situation der Studenten oder auf die Universität bezogen. Beschlüsse von Studenten-Parlamenten oder anderen universitären Gremien zu allgemein-politischen Themen wie dem Vietnam-Krieg oder den Notstandsgesetzen waren daher unzulässig. Dagegen verstießen Studenten-Parlamente oder Allgemeine Studenten-Ausschüsse, in denen es eine linke Mehrheit gab, immer wieder; oft wurden in diesem Zusammenhang auch studentische Gelder mißbräuchlich verwendet. Vertreter nichtlinker Studentengruppen haben sich gegen solche Regelverletzungen zur Wehr gesetzt, indem sie den Rechtsweg einschlugen und die zuständigen Gerichte anriefen. Die Verwaltungsgerichte haben regelmäßig die Rechtswidrigkeit des „allgemeinen politischen Mandats“ festgestellt. 22

Aly (Fn. 7), S. 122. Christian Hillgruber, Studentenproteste und Hochschulreform (1965 – 1991), in: Dominik Geppert (Hrsg.), Forschung und Lehre im Westen Deutschlands 1918 – 2018. Geschichte der Universität Bonn, Bd. 2, 2018, S. 293 – 405. 23

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Hatte es vor 1968 Kontakte und Diskussionen über die studentischen „Lagergrenzen“ hinweg gegeben, so wurde das in der Folge zunehmend schwieriger, an manchen Hochschulen unmöglich. Dazu trugen zum einen ideologische Verfestigungen bei den linken Studenten bei, auch wenn die wenigsten von ihnen die Theoretiker tatsächlich umfassend gelesen hatten, auf die sie sich beriefen. Vor allem ließ die immer stärkere Gewaltanwendung gegenüber nichtlinken Studenten das Gespräch kaum mehr zu. Die Nachsicht, mit der heute oft über die Rechtsverstöße und die Gewaltanwendung in der Zeit der Studentenrevolte gesprochen wird, steht zu den Erinnerungen derer im Widerspruch, die diese Gewalt körperlich erfahren haben.

VI. Die Frage der „linken Einheitsfront“ Im linken Lager gab es eine Vielzahl von verschiedenen Gruppierungen24, die intern zum Teil sehr kontrovers über den richtigen linken Weg stritten, aber stets den Schulterschluß suchten, wenn es „gegen die Rechten“ ging, wie die nichtlinken Studenten und Studentenzusammenschlüsse genannt wurden. Nirgendwo sind die linken Gruppen Massenorganisationen gewesen, manche waren Kleinstgruppen. So bestand die Humanistische Studenten-Union (HSU) 1968 an der Universität Bonn de facto aus einem Studenten. Gleichwohl trugen Plakate und Flugblätter, auf denen zu Aktionen oder Solidaritätsbekundungen aufgerufen wurde, den Namen dieser und anderer Klein- und Kleinstgruppen. So entstand der Eindruck, daß hier eine massive studentische „Gegenmacht“ am Werke wäre. Selbst in der Literatur haben sich solche Bilder gehalten25. Wie in West-Berlin wurde die linke Szene an vielen Hochschulen über mehrere Semester angeführt durch den SDS, der mit zunehmender Dauer des „Kampfes“ an Geschlossenheit und Aktionskraft verlor. Ein Teil des SDS vertrat „antiautoritäre“ Positionen, ein anderer Teil wandte sich ideologisch dem dogmatischen Lager zu. Unter Führung der DKP wurde hier die DDR zum politischen Vorbild erhoben, und von dort erhielten verschiedene linke Gruppierungen und Einzelpersönlichkeiten finanzielle Zuwendungen. Zahlreiche Aktivisten wurden in dem SED-Staat geschult. Nach der politischen „Exkommunikation“ des SDS hatte die SPD als neue studentische Organisation den Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) gegründet. Auch dieser Verband wandte sich bald gegen die Vorstellungen und Positionen der Mutterpartei und wurde Teil der äußersten Linken. Schließlich vollzog die SPD-Parteiführung auch hier den Bruch. Einen weiteren Versuch mit einer eigenen Studentenorganisation hat die SPD nicht unternommen. Sie übertrug die Hochschul24

Axel Schildt, Neue Linke und Studentenbewegung, in: www.bpb.de/themen/zeit-kultur geschichte/68er-bewegung/51815/neue-linke-und-studentenbewegung (Zugriff: 20. Oktober 2023), insbes. S. 9; Langguth (Fn. 6), S. 7. 25 Vgl. etwa Bothien (Fn. 15).

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arbeit ihrer Nachwuchsorganisation, den Jungsozialisten (Jusos), die eigene Hochschulgruppen bildeten. Sie folgten im wesentlichen der marxistischen Linie des früheren SHB. Zwar gab es im linken Lager keine ideologische oder programmatische Einigkeit, sehr wohl aber eine Einigkeit nach außen. Linke Studentengruppen und „Linksunabhängige“, die fest mit diesen Gruppen verbunden waren, aber aus taktischen Gründen nicht für sie kandidierten, bildeten einen Einheitsblock, wenn es gegen die sog. „Rechten“ ging. „Rechte“ waren alle, die nicht bereit waren, sich dem linken Lager anzuschließen. Soweit einzelne Persönlichkeiten oder Gruppierungen versuchten, einen von den Linken unabhängigen Kurs zu vertreten, fielen sie günstigstenfalls in die Kategorie der „Scheißliberalen“. Dazu zählten auch Professoren, die eine vermittelnde Rolle zwischen linken Gruppen und Hochschulleitungen oder zwischen studentischen Gruppen einnehmen wollten. Im leninistischen Sinne befanden sie sich in der Rolle der „nützlichen Idioten“. Als dauerhafte Mediatoren oder Vermittler kamen sie nicht in Betracht, weil es aus linker Sicht um „Vermittlung“ bestenfalls aus taktischen Gründen und nur für die konkrete Situation ging. Das Ziel blieb die Durchsetzung linker Vorstellungen, letztlich eine andere Gesellschaft und ein anderer Staat. In dieser Strategie war eine andere Hochschule der erste Schritt.

VII. „Cancel Culture“ Die studentische Revolte hatte die damalige deutsche Universität ganz unvorbereitet getroffen. Im Rückblick auf die Mitte der 1960er Jahre waren die meisten Universitäten geprägt durch ein bürgerlich-traditionelles Erscheinungsbild: Die Professoren, fast ausschließlich männlich, waren meist hoch respektiert, verfügten über eine Autorität, die in der Regel nicht angezweifelt wurde, und die Anrede schloß selbstverständlich den akademischen Titel ein. Dem folgte an der Universität der äußere Umgang. Studenten – Studentinnen waren noch deutlich unterrepräsentiert – besuchten Seminare oft noch mit Krawatte, die vereinzelt sogar auf Demonstrationen zu sehen waren, und das förmliche „Sie“ bestimmte den Umgangston bei Studenten bis nach 1970. Dem stand der revoltierende Teil der Studentenschaft gegenüber, eine aktionsbereite, lautstarke Minderheit, die akademische Formen und traditionelle Konventionen ablehnte. Dazu gehörten auch Abläufe an den Universitäten, besonders das herkömmliche Vorlesungssystem. In den meisten Fächern waren die Rollen klar verteilt: Die Professoren dozierten, die Studenten hörten zu. Fragen, erst recht Zwischenfragen, gehörten nicht zu diesem Unterrichtsformat: Es wurde (vor-)gelesen. Hier setzten linke Aktivisten an. Vordergründig ging es um eine neue, auf Beteiligung der Studenten ausgerichtete Didaktik, auch, um angeblich ein besseres Verständnis des dargebotenen Stoffes zu erreichen. Insoweit fand die linke Forderung nach einem Fragerecht auch die Zustimmung unpolitischer Studenten. Tatsächlich

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aber ging es besonders in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern um die Hinterfragung und Infragestellung von Inhalten, um die wissenschaftliche und letztlich die politische Position des jeweiligen Hochschullehrers. Von seiner Selbsterklärung und Rechtfertigung sollte abhängig gemacht werden, ob seine Lehre bzw. er selbst im Sinne der linken Studenten zu akzeptieren war. Die Parallelen zu jüngsten Fällen von „Cancel culture“ in den USA, England oder Deutschland sind augenfällig. Exemplarisch war ein Fall, der sich im WS 1967/68 an der Universität Bonn abspielte. Dort hatte der Osteuropa-Historiker Horst Jablonowski eine Vorlesung über die Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis 1939 angekündigt, also vom Revolutionsjahr bis zum Hitler-Stalin-Pakt und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Unter der studentischen Linken in Bonn war der dogmatische, der DKP zuneigende Teil sehr stark. Das Thema ließ eine kritische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion erwarten und löste schon damit Widerspruch aus. Die Forderung nach einem Fragerecht war der formale Aufhänger einer Kampagne, die über Störungen und persönliche Angriffe eskalierte und auch durch ein Entgegenkommen des Dozenten nicht aufgehalten werden konnte. Er musste die Vorlesung abbrechen. Das Ziel der Aktivisten war erreicht: die Behandlung eines politisch unerwünschten wissenschaftlichen Themas wurde verhindert. Eine wirksame Unterstützung durch die Universitätsleitung unterblieb26. Die Ablehnung von Vorlesungsfragen und von Vorlesungskritik war unter Professoren „alter Schule“ 1968 nichts Ungewöhnliches. Ein prominentes Beispiel war der Berliner Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel. Fraenkel hatte sich wie sein Kollege Richard Löwenthal und andere jüdische Wissenschaftler rechtzeitig vor den Nationalsozialisten in Sicherheit bringen können. Beide gingen ins amerikanische Exil und kehrten nach Kriegsende zurück. Sie hatten auch das andere, vom Nationalsozialismus nicht infizierte Deutschland kennengelernt und glaubten an einen demokratischen Wiederbeginn. Daran wollten sie als Professoren der FU Berlin mitwirken. Fraenkel hielt Vorlesungskritik für „unerhört“ und befürwortete offen disziplinarrechtliche Maßnahmen und polizeiliches Vorgehen gegen Störer27.

VIII. Hochschulreform In der Tat waren es gerade aus dem Exil zurückgekehrte jüdische Wissenschaftler, die den Charakter der Revolte frühzeitig erkannten, von „linkem Faschismus“ sprachen und konkreten, auch organisierten Widerstand gegen die Rechtsbrüche an den Universitäten leisteten. Zugleich kamen aus diesem Kreis vielfach konstruktive Anregungen und Beiträge zur Hochschulreform. Im Unterschied zu anderen war ihnen aus persönlicher Erfahrung der 1930er Jahre die tatsächliche Zielsetzung der Revolte 26 27

Dazu ausführlicher Hillgruber (Fn. 23), S. 310. Aly (Fn. 7), S. 130 – 135, insbes. S. 133.

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klar, und sie ließen sich auch nicht durch das linke Schlagwort von der „Demokratisierung der Hochschule“ täuschen. Ihnen war bewußt, daß die „Sozialisierung eines Sozialbereichs … im strikten Sinne zunächst seine Politisierung“ bedeutete28. Die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Hochschulen stellte sich angesichts ihrer rechtsstaatlichen Grundlage in der Tat nicht. Die deutschen Hochschulen standen in den 1960er Jahren – von einigen kirchlichen Hochschulen abgesehen – fast ausnahmslos in der Trägerschaft der Länder. Die Universitäten und sonstigen Hochschulen wurden mithin durch den demokratischen Rechtsstaat getragen, und die Entscheidungen der Landesregierungen, auch die hochschulpolitischen, unterlagen ggf. der Überprüfung durch unabhängige Gerichte. Das war aber auch nicht der Ansatzpunkt der Linken. Nicht Reform war das Thema, sondern die revolutionäre Veränderung. Ein systemimmanentes Vehikel war die Forderung nach „Mitbestimmung“, die als Einstieg in die Demokratisierung der Hochschule propagiert wurde. So sollte die Machtfrage in die Hochschulen hineingetragen werden. Diesem Ansatz kam in entgegen, daß der Begriff „Mitbestimmung“ allgemein positiv besetzt ist, weil darunter Teilhabe und Abbau von Herrschaft verstanden wird. In der allgemeinen Hochschuldiskussion stieß die linke Forderung nach einer qualifizierten Mitbestimmung aller universitären Gruppen folglich nicht nur auf Ablehnung. Gemeint waren damit die Professoren, der sogenannte akademische Mittelbau und die Studenten. Später sollten die nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter als vierte Gruppe hinzukommen. Solche Mitbestimmungsvorstellungen standen in deutlichem Kontrast zu dem alten Modell der Universität, in der ein Ordinarius ein Fach vertrat und in der die Ordinarien das alleinige Entscheidungsrecht in allen inner-universitären Fragen hatten. Auf der Grundlage der Humboldt’schen Ideen hatte sie sich seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelt. In der öffentlichen Diskussion wurde der Eindruck erweckt, als ob sich in dieser Zeit nichts geändert hätte. Das aber war unzutreffend. Mitte der 1960er Jahre gab es längst konkret nachvollziehbare Reformansätze. Sie trugen unter anderem der Tatsache Rechnung, daß die Studentenzahlen unter demografischen und bildungspolitischen Aspekten stiegen und absehbar noch weiter signifikant steigen würden, und daß diese Entwicklung das bisherige Universitätsmodell überforderte. Der Wissenschaftsrat wurde schon Ende der 1950er Jahre aktiv, es folgte die Gründung des deutschen Bildungsrates und 1965 in Bochum die der ersten neuen Universität, der bald weitere folgten. Unbestreitbar gab es angesichts der steigenden Studentenzahlen Reformbedarf auch an den traditionellen Universitäten. Festgemacht wurde das in der Diskussion vor allem am äußeren Erscheinungsbild der Universität. Es erschien in einer Zeit des Aufbruchs in mancher Hinsicht als antiquiert, auch, weil bestimmte akademische Traditionen nicht mehr verstanden wurden. So wurde der Slogan „Unter den Talaren – 28 Wilhelm Hennis, „Demokratisierung“ – Zu einem häufig gebrauchten und vieldiskutierten Begriff, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 266 vom 14. November 2012, S. N 3.

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der Muff von tausend Jahren“, eine metaphorische Anspielung auf das sog. „Dritte Reich“, zum ironischen Kampfbegriff. Um so erstaunlicher ist es, daß in der jüngeren Vergangenheit öffentliche akademische Rituale eingeführt wurden, die schon Bachelor-Absolventen mit Insignien wie Talar und Hut versehen. Solche Äußerlichkeiten galten 1968 weithin als Ausdruck professoral-reaktionärer Haltung. Die von linker Seite eingebrachte, als Reformansatz propagierte Mitbestimmungsforderung ließ im universitären Kontext offen, wer über was in welcher Weise mitbestimmen sollte. Zunächst wurde ohne thematische bzw. sachliche Begrenzung eine „Drittelparität“ gefordert: In allen Universitätsgremien und auf allen Ebenen sollten Professoren, der akademische Mittelbau und die Studenten je ein Drittel der Stimmberechtigten stellen. Dieses Modell, das an ständische Ordnungsprinzipien der deutschen Geschichte erinnerte, hätte in der praktischen Konsequenz bedeutet, daß bei einem akademischen Qualifizierungsverfahren wie der Habilitation Vertreter die Mehrheit gehabt hätten, die selbst über keine entsprechende, möglicherweise gar keine wissenschaftliche Qualifikation verfügten. Eine solche Situation wäre auch bei Berufungsverfahren eingetreten mit der sicheren Folge, daß nicht die wissenschaftliche Qualität, sondern politische Präferenz, persönliche Sympathie oder andere nicht objektivierbare Kriterien noch stärker den Ausschlag gegeben hätten. Für die Universität muß die grundsätzliche Frage nach der Übertragung gesellschaftlicher bzw. wirtschaftlicher Mitbestimmungsmodelle gestellt werden. Sie konnte vernünftigerweise nur damit beantwortet werden, daß sich in geschlossenen gesellschaftlichen Teilbereichen, „in denen die Beteiligten nach Funktion, Ausbildung und Erfahrung ungleich sind“ das „demokratische Prinzip gar nicht oder nur bedingt anwenden“ läßt29. Der „Kampf für die Mitbestimmung“ ging linken Aktivisten nicht schnell und nicht weit genug. Wie bei anderen Gelegenheiten suchten sie ihre Ziele mit konkreten Aktionen durchzusetzen, die teilweise ihr Vorbild in den USA hatten. Mit „Sit-ins“ und „Go-ins“ sollten die Mitbestimmungsforderungen durchgesetzt werden. Die bewußten Rechtsverstöße lösten die einkalkulierten und taktisch gewünschten Polizeieinsätze aus. In der nächsten Stufe folgte die Skandalisierung der angeblichen Polizeigewalt wie überhaupt der Frage nach der Berechtigung eines Polizeieinsatzes auf dem Universitätsgelände. In der studentischen Mitbestimmungsforderung konnten sich die anfänglichen Extrempositionen nicht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Hochschulurteil von 1973 die Grundsätze der inneruniversitären Mitbestimmung festgelegt und die ursprünglichen Forderungen zurückgewiesen. Der Ansatz von 1968 machte für kritische Beobachter deutlich, daß es der Linken nicht um eine rechtsstaatliche „Demokratisierung“ ging, sondern um die Überwindung dieser Ord29 „Universität als Ausbildungsstätte kann nicht Ort politischer Auseinandersetzung sein“, Interview mit Rektor Prof. Hatto H. Schmitt, Bonner General-Anzeiger vom 23. Februar 1972.

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nung. Die Zusammenhänge sind vielfach, zum Teil bis heute nicht verstanden worden. An den Universitäten kam es zu schier endlosen, letztlich wenig ertragreichen Diskussionen über neue Satzungen, die erhebliche Zeit- und Arbeitskapazitäten kosteten. In der Kernfrage der universitären Mitbestimmung mußte letztlich der Gesetzgeber entscheiden. Die Landesregierungen stellten sich in den universitären Mitbestimmungsdiskussionen der Folgejahre auch nach „politischer Färbung“ auf. Insofern ist es nicht überraschend, daß die Berliner Hochschulen sich bis heute mit Problemen konfrontiert sehen, die etwa in Bayern längst überwunden sind. Die Diskussionen sollten noch Jahre anhalten. Die verabschiedeten gesetzlichen Regelungen sind je nach Land unterschiedlich. In keinem Land ist die ursprünglich geforderte Drittelparität bzw. Viertelparität mit unbeschränkten Entscheidungsmöglichkeiten Wirklichkeit geworden. Das Verfassungsgerichtsurteil war hier wegweisend. Gleichwohl ermöglichen die geschaffenen Strukturen vielerorts Sach- und Personalentscheidungen, die nicht in erster Linie notwendigen wissenschaftlichen Erfordernissen und Standards folgen, sondern politischen und persönlichen Erwägungen und Präferenzen Raum geben.

IX. Einordnungen Die Einordnungen dessen, was mit der Chiffre „68“ für Deutschland verbunden wird, dürften auch nach mehr als 50 Jahre kontrovers bleiben. Ralf Dahrendorf konzedierte, zu den positiven Folgen der Revolte habe ein „Modernitätsschub, mehr Partizipation und eine Entprovinzialisierung der bundesdeutschen Gesellschaft“ gehört30. Die Veränderungen dieser Zeit hängen freilich nicht nur, zum Teil überhaupt nicht mit der studentischen Revolte zusammen31. „68“, das ist auch die Zeit, in der junge Menschen erstmals seit dem Kriegsende in größerer Zahl und individuell internationale Reisen unternahmen, es ist die Zeit intensiver Kontakte mit der jüngeren Generation zum Beispiel in Frankreich und England, oft die Überwindung von nationalen Stereotypen der Elterngeneration – und zwar bei jungen Menschen jeder weltanschaulichen und politischen Couleur. Es ist die Zeit einer neuen Jugendkultur, neuer Musik und neuer Mode, eines neuen Lebensgefühls, und – als Folge neuer antikonzeptioneller Möglichkeiten – einer neuen sexuellen Freizügigkeit. In diesem Kontext konstatierte der Staatsrechtslehrer Josef Isensee, als katholischer Gelehrter unangemessener Kirchenkritik unverdächtig, 1968 sei mit der Enzyklika Humanae Vitae zum „Stalingrad der deutschen Moraltheologie“ geworden32. 30

Aly (Fn. 7), S. 208. Vgl. Petersen (Fn. 10), insbes. S. 29 f.; Schildt (Fn. 24); Hans-Albrecht Koch, Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, 2008, insbes. S. 225 – 242. 32 „Die Kirche hat systemisch versagt“. Staatsrechtler Isensee über Menschenwürde und Kirchenkrise, Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Nr. 24 vom 17. Juni 2022, S. 46 f. 31

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Es war der Moment, als die Kirche ihre moralische Autorität bei den jungen Menschen zu verlieren begann. Die „Protestbewegung“, wie die Studentenrevolte auch genannt wurde, ist in ihren unmittelbaren Zielen zweifellos gescheitert: Der SDS löste sich 1970 wegen unüberbrückbarer ideologischer Differenzen auf, Teile der „Bewegung“ wandten sich der DKP zu33 und betrieben das politische Geschäft der DDR. Aus Randgruppen der „Bewegung“ entstand der Terrorismus der 1970er Jahre, so die RAF, die Roten Zellen und die „Bewegung 2. Juni“. Andere überwanden frühere Vorbehalte gegen die SPD und engagierten sich dort oder später bei den Grünen, die zunächst als Partei neuen Typs auftraten. Viele zogen sich ganz aus dem politischen Geschehen zurück oder fanden Anschluß an alternative Lebensformen. Wieder andere entwickelten ein nicht zuletzt unter Journalisten – gerade auch im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien – verbreitetes links-bourgeoises Lebensgefühl. So manche ehemals „LinksEngagierte“ fanden sich nach überraschenden Wendungen in der bürgerlichen Welt wieder, selbst in der Wirtschaft. Sie kokettieren bisweilen gerne mit ihren jugendlichen Irrwegen. Die meisten von ihnen eint bis heute, daß sie die Ereignisse von 1968 als ihren Lebensweg (mit)bestimmende Erfahrung sehen, die sie sich nicht nehmen lassen wollen – ein psychologisches Phänomen, das wir auch aus anderen historischen bzw. politischen Zusammenhängen kennen. Frühere Fehleinschätzungen und konkretes Fehlverhalten, etwa in der Gewaltfrage, werden ausgeblendet oder verharmlosend relativiert. Auch wenn eine unmittelbare politische Wirkung von „68“ ausgeblieben sein mag, so folgten doch längerfristig politische und gesellschaftliche Wirkungen, die um so nachhaltiger gewesen sind. Die Revolte mündete jedenfalls zum Teil in einen „langen Marsch durch die Institutionen“, ein durch den SDS popularisierter Begriff, der an den „Langen Marsch“ des chinesischen KP-Führers Mao-Tse-tung erinnern sollte. Entsprechende Möglichkeiten boten sich nicht zuletzt dadurch, daß 1969 eine sozial-liberale Bundesregierung unter dem Sozialdemokraten Willy Brandt die vorherige Große Koalition ablöste. Auch wenn sie dem Extremismus u. a. durch den heftig umstrittenen „Radikalen-Erlaß“ (1972) entgegentrat und im besonderen auf den „harten“ Politikfeldern wie etwa der Wirtschaft oder der Verteidigung konsequent rationale Politik betrieb, so überließ sie doch, wie es im Rückblick deutlich wurde, manche Bereiche der Gesellschafts- und der Bildungspolitik linken „68“ern und ihren Epigonen als Experimentierfeld. Die Revolte der linken „68“er hat freilich auch längerfristig wirksame politische Gegenreaktionen ausgelöst. In Deutschland hat das bürgerliche Lager durch das reaktive Engagement junger Menschen, die konsequent für die von den Linken als „FDGO“ karikierte freiheitliche demokratische Grundordnung eingetreten sind, zu einer politischen und programmatischen Modernisierung von CDU und CSU beigetragen. Es kam zu mehr Pragmatismus und einer personellen Erneuerung dieser Parteien, die sich seit 1969 in der Opposition befanden. Damit wurde eine Voraussetzung 33

Vgl. Fn. 24.

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für den neuerlichen Regierungswechsel 1982 geschaffen, der zu einer Koalition von CDU und CSU mit der FDP führte. In der folgenden 16jährigen Epoche bis 1998 mußte sich die Bundesrepublik Deutschland Aufgaben von historischem Ausmaß stellen. Sie sind bei aller denkbaren Kritik beispielhaft gelöst worden: Die deutsche Einheit und die europäische Einigung in Frieden und Freiheit. Helmut Kohl, der diese Ära als Bundeskanzler geprägt hat, ist sich des Beitrags bewußt gewesen, den die „alternativen 68er“ für den demokratischen Rechtsstaat, und, wie er es formuliert hat, das Vaterland geleistet haben. Viele von ihnen haben ihn auf seinem historisch erfolgreichen Weg politisch begleitet. Unzweifelhaft gibt es auch eine „mythische Überhöhung der Studentenrevolte“. Für „die meisten Beteiligten war der Protest mehr Lebensgefühl als Ergebnis theoretischer Analyse“34, und doch war „68“ politisch der Beginn eines Prozesses, in dem es zu einer Werteverschiebung, auch zu einem Werteverlust kam. Der damalige SPDPolitiker Oskar Lafontaine spitzte das einige Jahre später (1982) zu in einem Vorwurf gegen den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, seinen eigenen Parteifreund: Mit dessen Wertevorstellungen von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit und Standhaftigkeit könne man auch „ein KZ betreiben“. In der Tat haben die Ereignisse von „68“ dazu geführt, daß das, „was 250 Jahre lang als bürgerliche Tugend galt“, in Bedeutung und Ansehen dramatisch gesunken ist: Es änderte sich „der gesamte Zeitgeist“35. Auch wenn es abwegig erscheint, den Rückgang und Bedeutungsverlust „christlich-abendländischer“ Werte und Vorstellungen monokausal auf „68“ zurückzuführen, wie es neben anderen von kirchlichen Vertretern behauptet wurde, so ist der Zusammenhang nicht zu übersehen. Zu dieser Entwicklung haben freilich auch Fehlleistungen und das Fehlverhalten kirchlicher Führungspersönlichkeiten beigetragen. „68“ war das Ergebnis eines Umbruchdenkens, das sich in zahlreichen Ländern zeigte. In Deutschland war es nicht jedoch mehr als das, und es blieb auch keine kurzfristige Episode. Das Jahr steht für einen Prozeß, der ein Jahrzehnt früher begann und noch nahezu drei Jahrzehnte andauern sollte36. Dieser Prozeß hat das Land tiefgreifend und anhaltend verändert. Summary The events of 1968 – the Vietnam War, the assassination of Martin Luther King and Robert Kennedy, and the civil rights movement – marked a deep cut in American history and beyond. The Vietnam War triggered anti-American protests in numerous Western countries. 1968 was also a landmark in the Eastern bloc: In Czechoslovakia, the Soviet Union used military force to suppress the experiment of „socialism with a human face“.

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Schildt (Fn. 24), S. 2. Petersen (Fn. 7), S. 30 f. 36 Ebd., S. 35.

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In West Germany 1968 was an epoch year. Diverse political protests, especially against the Vietnam War and the so-called emergency laws (Notstandsgesetze) determined the picture. Equidistance to the USA and the Soviet Union developed among parts of the students, despite the post-war events that occurred only a few years ago. The protest movement dominated the scene at many universities, with left-wing students taking the call for university reform as a precursor to fundamental political changes. Although 1968 was „mythically inflated“, these events undoubtedly contributed to far-reaching social and, as a result, political changes in the Federal Republic. A new zeitgeist emerged that had long-term effects in society, politics and also the church.

Für ein gerechteres und inklusiveres Wirtschaften: Der Beitrag der Franziskanischen Tradition Von Giuseppe Franco Als normative Wissenschaft benötigt die Wirtschaftsethik eine solide Grundlage in wirtschaftlicher und ethischer Theorie. In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung zu deskriptiven, normativen und religiösen Ansätzen der Wirtschaftsethik zugenommen, die sich auf unterschiedliche religiöse Traditionen1 und auf philosophische Theorien stützen – wie etwa Tugendethik, Vertragstheorie und diskursethische Konzeptionen2. Das sind Versuche, ethische Belange in der Wirtschaft und in einer globalisierten Welt umzusetzen, und ihre Vielfalt spiegelt nationale und kulturelle Besonderheiten, unterschiedliche Rechtstraditionen, wirtschaftliche und politische Entwicklungen, vor allem aber die Notwendigkeit, einen internationalen Diskurs zu führen. In diesem Zusammenhang bietet die mittelalterliche franziskanische Haltung zu ökonomischen Fragen einen sehr nachhaltigen und deshalb relevanten Ansatz. Im Gegensatz zu reinen utilitaristischen Konzeptionen haben franziskanische Theologen versucht, das wirtschaftliche Verhalten und die wirtschaftlichen Institutionen von einem umfassenden ethischen Standpunkt aus zu analysieren. Die Rückbesinnung auf diese franziskanische Denktradition ist angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen von höchster Aktualität. Der Beitrag zielt darauf ab, die wirtschaftliche Konzeption herauszustellen, die aus dem Geist der franziskanischen Armutsbewegung hervorgegangen ist. Nach einer kurzen historischen Kontextualisierung werden einige ökonomischen Ideen vorgestellt, die ausgewählte Vertreter dieser Denktradition formuliert haben, und es wird auch gezeigt, inwiefern diese in den Kontext ihres Armutsverständnisses eingebettet sind. Des Weiteren ist hier auch die Frage bedeutsam, ob es zwischen Armuts- und Reichtums-Verständnis ein Paradox gibt oder ob eine Kontinuität besteht. Darüber hinaus werden die Besonderheiten der Methodologie und der Leistungsmerkmale der franziskanischen Wirtschafsethik untersucht. Abschließend werden einige Anmerkungen zur Aktualität des franziskanischen Ansatzes gemacht.

1 Vgl. Domènec Melé, Religious Approaches on Business Ethics. Current Situation and future Perspectives, Ramon Llull Journal of Applied Ethics 6 (2015), S. 137 ff. 2 Vgl. dazu Michael Aßländer (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsethik, 2. Aufl. 2022; Bettina Palazzo, Interkulturelle Unternehmensethik, 2000; Christoph Lütge (Hrsg.), Handbook of the Philosophical Foundations of Business Ethics, 2013.

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I. Historischer Kontext Die Zeit vom 12. bis zum 13. Jahrhundert war in Europa eine durch tiefgreifende kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische und religiös-politische Änderungsprozesse gekennzeichnete Epoche. In dieser Zeit der Umbrüche gewann der Fernhandel immer mehr an Bedeutung: Kredit- und Geldwirtschaft entfalteten sich, die Märkte wurden zu Anziehungspunkten in den Städten, die Kaufleute spielten im Wirtschaftsleben, aber auch in Politik und Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle. All diese Phänomene warfen viele Fragen auf, etwa ob bestimmte wirtschaftliche Vorgehensweisen und Handelsaktivitäten erlaubt waren, und mit diesen Fragen haben sich Beichtväter, Theologen und Juristen auseinandergesetzt. Das Mittelalter war eine Zeit, in der sich Päpste, Theologen, Beichtväter und die öffentliche Meinung intensiv mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzten. Es war eine Zeit, in der Päpste Bullen erließen, um Streitigkeiten über Zinsen zu schlichten: „Theologen interessierten sich für die Dreifaltigkeit und für Geld, weil sie wußten, daß nach der Fleischwerdung des Wortes eine quaestio über den gerechten Preis die gleiche theologische Würde hatte wie eine über die Erlösung“3 und die Eucharistie. Wenn man diese Thematik behandelt, ist zu bedenken, daß es im Mittelalter die Wirtschaftsanalyse als selbständige Reflexion oder als Teil eines systematischen Theorienbestandes nicht gab. Diskussionen über ökonomische Fragen finden sich verstreut in Schriften von Theologen; sie wurden in Beicht-Summae und in theologischen Summae, in Predigten, biblischen Kommentaren oder in einzelnen Quaestiones behandelt. Diese Schriften sind Teil der ständig wachsenden Textproduktion, die dazu beitrug, die im Gange befindliche ökonomische Reflexion zu kodifizieren sowie wirtschaftliche und soziale Prozesse zu verbalisieren und zu konzeptualisieren4. Ein entscheidender Impuls für die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Übersetzung der Werke des Aristoteles ins Lateinische. Aristoteles’ Werke regten scholastische Theologen dazu an, über wirtschaftliche Probleme nachzudenken und dabei rationale und nicht nur theologische Argumente zu verwenden. Außerdem gab es im 12. und 13. Jahrhundert eine lebhafte intellektuelle Debatte über die Entwicklung der kanonistischen Lehren. So entstand eine ganze Reihe von Rechtsquellen, die Disziplinarmaßnahmen enthielten und ökonomische Fragestellungen aufgriffen. Unter diesen Texten sind das Decretum Gratiani und die Decretales von Papst Gregor IX. zu nennen; außerdem die Werke bekannter Kanonisten, wie zum Beispiel der Apparatus in quinque libros Decretalium von Sinibaldo de 3 Luigino Bruni, Perché l’economia di Adamo non è l’economia di Caino, Avvenire v. 20. Februar 2021, S. 16 (Übersetzung d. Verf.). 4 Vgl. Roberto Lambertini, Ökonomische Lehren, in: Alexander Brungs u. a. (Hrsg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des Mittelalters, Bd. 4: 13. Jahrhundert, 2017, S. 1536 ff.; Giacomo Todeschini, „Oeconomica franciscana“. Proposte di una nuova lettura delle fonti dell’etica economica medievale, Rivista di Storia e Letteratura Religiosa 1976, S. 15 ff.

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Fieschi, dem späteren Papst Innozenz IV.; die Summa confessorum des Dominikaners Raimund von Peñafort und die Summa aurea von Heinrich von Susa, genannt Hostiensis. Außer den Überlegungen dieser Kanonisten spielte die Tradition des Zivilrechts eine Rolle; sie wurde weiterentwickelt und das römische Recht wurde wieder aufgenommen. Das geschah insbesondere durch die Kodifikation des justinianischen Corpus Iuris Civilis, die bereits im 11. und 12. Jahrhundert durch die Rechtsschule von Bologna erfolgt war. Beide Rechtstraditionen drängten auf neue Prinzipien sowie auf begriffliche Klarstellungen. Das mittelalterliche Wirtschaftsdenken fiel demnach in den Bereich der Moraltheologie und war deshalb ein Thema für Theologen und Juristen. Auf der einen Seite untersuchte die Moraltheologie die moralische Absicht, die zum wirtschaftlichen Handeln antrieb und diskutierte, wie sündhaft oder nicht sündhaft wirtschaftliche Aktivitäten seien; auf der anderen Seite gab es die Kanonistik und das Zivilrecht, die mehr auf die formale Analyse von Verträgen und auf die Rechtmäßigkeit wirtschaftlicher Handlungen achteten und die Frage untersuchten, ob alles mit rechtlichen Vorschriften in Einklang gebracht werden könne5. Auch franziskanische Theologen setzten sich mit den damaligen sozio-ökonomischen Gegebenheiten auseinander. Da die Franziskaner mit den Geschehnissen vertraut und im Sozialgefüge der damaligen Zeit verankert waren, fühlten sie sich verpflichtet, bestimmte ökonomische Praktiken zu analysieren, ethisch zu beurteilen und rechtlich zu legitimieren, um gleichzeitig den Wirtschaftsakteuren und den Christen einen Weg zum Heil zu sichern.

II. Ökonomische Ideen: Gerechter Preis, Legitimität von Handel und Kapital Forschungsarbeiten haben gezeigt, daß einige der frühesten marktwirtschaftlichen Denktraditionen in vielerlei Hinsicht in der scholastischen und spätscholastischen Philosophie und Theologie begründet sind, insbesondere in der franziskanischen und dominikanischen Denktradition des 13. bis 15. Jahrhunderts6. Theologen franziskanischer Tradition, wie etwa Bonaventura (1221 – 1274), Petrus Iohannis Olivi (1248 – 1298), Johannes Duns Scotus (um 1266 – 1308), Geraldus Odonis 5

Vgl. Raoul Manselli, Il pensiero economico del Medioevo, in: Luigi Firpo (Hrsg.), Storia delle idee politiche, economiche e sociali. Bd. 2,2: Il Medioevo, 1983, S. 841 ff. 6 Vgl. Joseph Höffner, Wirtschaftsethik und Monopole im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert (1941), in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik, 2014, S. 33 ff.; Raymond De Roover, Business, Banking, and Economic Thought in Late Medieval and Early Modern Europe, 1974; Odd Langholm, Economics in the Medieval Schools, 1992; Martin Schlag, Economic and Business Ethics in Select Italian Scholastics (ca. 1200 – 1450), in: Christoph Lütge (Hrsg.), Handbook of the Philosophical Foundations of Business Ethics, Bd. 1, S. 179 ff.; Martin Schlag/Andrea Roncella (Hrsg.), Storia del pensiero economico e fede cristiana, 2020; Giuseppe Franco, Die Wirtschaftsethik von Petrus Iohannis Olivi, in: Petrus Iohannis Olivi, Traktat über Verträge, 2021. S. IX – CXXXVIII.

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(um 1285 – 1348), Francesc Eiximenis (1330 – 1409) und Bernardin von Siena (1380 – 1444), trugen beispielsweise zur Entwicklung neuer ökonomischer Ideen bei, beispielsweise des Konzeptes von Kapital und gerechtem Preis sowie der Legitimität des kaufmännischen Handels. Ein Thema, das den Scholastikern sehr am Herzen lag, war das des gerechten Preises, bei dem sich viele Autoren einig waren, daß der gerechte Preis der Marktpreis sei. Den Franziskanern ging es nicht in erster Linie darum, eine Analyse des Mechanismus für die Verteilung knapper Ressourcen anzubieten, sondern sie konzentrierten ihre Überlegungen auf den ethischen Aspekt, die Fairness und Gerechtigkeit des Preises. Um eine Lösung für dieses Problem zu finden, beschäftigten sie sich mit Fragen der Preisbildung und suchten in der Bestimmung des wirtschaftlichen Wertes das Kriterium für die Tauschgerechtigkeit. Eine besonders interessante und einflußreiche Figur war Petrus Iohannis Olivi, der hierzu systematische, innovative Gedanken entwickelte. In seinem Tractatus de contractibus unterschied er drei Wertbestimmungsfaktoren, nämlich die „Nützlichkeit“ der Dinge, die „Seltenheit und Schwierigkeit ihrer Beschaffung“ und das „Wohlgefallen des Willens“7. Diese drei Kriterien wurden später von Bernhardin von Siena wörtlich übernommen8 und virtuositas, raritas und complacibilitas genannt. Die Einführung der complacibilitas brachte die Idee der subjektiven Nützlichkeit ins Spiel. Von zentraler Wichtigkeit war auch, daß Olivi die Bedeutung der Übereinstimmung des Willens der Vertragspartner für die Preisvereinbarung hervorhob. Er unterstrich damit die Rolle des freiwilligen Konsenses für die Gültigkeit eines Vertragsabschlusses. Olivi setzte außerdem der individuellen Güterbewertung und der Preisfestlegung eine Grenze, indem er auch die Rolle gemeinschaftlicher Kriterien mit einbezog, nämlich die allgemeine Wertschätzung der Güter durch die Gemeinschaft – communis taxatio et estimatio. Olivi zufolge sollte man sich bei der Preisfestlegung nach diesen gemeinschaftlichen Schätzungen richten, damit schädliches und inkorrektes Verhalten vermieden werde und keiner das commune bonum, den allgemeinen Nutzen und die allgemeine Gerechtigkeit beschädige. Olivi ist auch eine weitere originelle begriffliche Neuerung zu verdanken, nämlich die systematische Einführung des capitale-Begriffs in die Debatte, bei der es um die Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit des Geldverleihens ging, sowie um die Verteidigung der Idee der Produktivität des Geldes. Trotz seiner Kritik am Wucherzins9, den er hauptsächlich als Verletzung eines Darlehensvertrages (mutuum) betrachtete, charakterisierte er bestimmte Geschäftspraktiken als nicht wucherisch und deshalb als nicht zu verurteilen. So unterschied Olivi zwischen dem bloß sterilen Geld (simplex pecunia) und dem fruchtbaren und gewinnbringenden Geld; letzteres nannte er capitale. Er führte das capitale auf eine Geldsumme zurück, die für einen 7

Vgl. Olivi, Traktat (Fn. 6), I, par. 9 – 11, S. 7 ff. Vgl. Bernhardin von Siena, Sermo XXXV, a. 1, c. 1, in: De contractibus et usuris, 1956, S. 190 f. 9 Zur Wucherfrage vgl. John T. Noonan, The Scholastic Analysis of Usury, 1957. 8

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Handel sowie für einen wahrscheinlichen Gewinn bestimmt war und eine gewinnträchtige Beschaffenheit (rationem seminalem lucri) in sich trug10. Er kritisierte die aristotelische Idee der Sterilität des Geldes und legitimierte das Kapital als Geld, das in ein Geschäft einbezogen werden sollte oder für einen Handel bestimmt war, so daß dem Darlehensnehmer für dessen Verwendung eine Entschädigung in Form eines interesse abverlangt werden könne. Damit rechtfertigte Olivi die moralische und ökonomische Rechtmäßigkeit des interesse, das von der usura zu unterscheiden sei, da es eine Entschädigung bzw. das Entgelt für die entgangene Eigennutzung des Kapitals wäre. Die Gewinnträchtigkeit hätte zur Folge, daß der Preis des Kapitals höher wäre als der Wert des einfachen Geldes. Die ratio seminalis lucri war nach Olivi das, was das Kapital, verglichen mit dem einfachen Geld, mit einem valor superadiunctus, also einem Mehrwert, ausstattete; und diesen Mehrwert sollte der Darlehensnehmer zusammen mit dem geliehenen Geld erstatten11. Im Zusammenhang mit diesen Fragen der Preisbildung und der Gerechtigkeit der Preise trugen die franziskanischen Überlegungen auch zur ökonomischen und ethischen Legitimierung des Handels bei, so daß dieser als wichtiger Bestandteil der sozialen Ordnung und als sozial nützlich angesehen wurde. Eine besondere Rolle im franziskanischen Diskurs spielte der Kaufmann (mercator), der im 13. Jahrhundert, wirtschaftlich gesehen, eine Neuheit war. In einer Abfolge franziskanischer Texte – von Olivi bis Bernhardin von Siena über Odonis, Scotus und Eiximenis – werden die positiven Eigenschaften des Kaufmanns verteidigt, der ein wirtschaftliches Subjekt und gesellschaftlicher Akteur sei. Der mercator galt als vertrauenswürdige Person, weil er ein Experte für den Wert von Gütern war, die Beziehungen zwischen den Vertragspartnern förderte und die Bedürfnisse der Mitglieder der Gemeinschaft befriedigte. Die Legitimität des kaufmännischen Gewinns wurde gerechtfertigt durch den Fleiß des Kaufmanns und sein Fachwissen sowie durch die Kosten, die er hatte, und die Gefahren, denen er bzw. das Geld, das er vorgestreckte, ausgesetzt waren. Es ist das Verdienst von Duns Scotus, dem Doctor Subtilis, daß er in einer bekannten quaestio eine Auffassung erarbeitete, die für spätere franziskanische Autoren einen Bezugspunkt darstellen sollte12. Scotus definierte zwei wichtige Gerechtigkeitsregeln für die Handelsgeschäfte, nämlich daß der Kaufmann einen nützlichen Dienst für die res publica leistete und eine angemessene Vergütung erhalten solle. Der ersten Regel zufolge bestand der Dienst des Kaufmanns für die Gesellschaft 10

Olivi, Traktat (Fn. 6), III, par. 63, S. 129: „Der Grund aber, warum er es (das Getreide, G.F.) zu diesem Preis verkaufen oder tauschen kann, ist einerseits: der, dem er es leiht, ist ihm zu einer mit Wahrscheinlichkeit gleichwertigen Leistung verpflichtet, bzw. dazu, ihn vor dem Verlust eines wahrscheinlichen Gewinns zu bewahren; andererseits: das, was nach dem festen Vorsatz seines Besitzers dazu bestimmt ist, einen wahrscheinlichen Gewinn abzuwerfen, hat nicht nur den Charakter des einfachen Geldes bzw. der einfachen Sache, sondern darüber hinaus noch eine gewinnträchtige Beschaffenheit, die wir gemeinhin Kapital nennen, und daher muss nicht nur sein einfacher Wert erstattet werden, sondern auch der Mehrwert.“ 11 Vgl. Olivi, Traktat (Fn. 6), S. 124 ff. 12 Vgl. Duns Scotus, Ordinatio, IV, d. 15, q. 2, n. 152 – 157, 2011, S. 95 ff.

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darin, daß er Güter herbeischaffte, um bestehende Bedürfnisse zu befriedigen. Nach Scotus waren kaufmännische Aktivitäten ethisch erlaubt, weil sie sozial produktiv und von öffentlichem Nutzen waren. Die res publica brauche den Kaufmann, so Scotus, weil er Waren importiere, die für die Gemeinschaft nützlich und/oder notwendig seien. Sein Beruf erfülle bestimmte Voraussetzungen; er besitze technische Fähigkeiten und Fachwissen und genieße Vertrauen, wovon Gesellschaft und Staat profitieren könnten. Nach der zweiten Regel des Scotus sollten Kaufleute, die ehrliche Arbeit leisteten und dem Staat Nutzen brächten, Anspruch auf eine angemessene Vergütung haben. Scotus rechtfertigte den Anspruch des Kaufmanns auf eine Entlohnung mit dessen Arbeit, seinen Fähigkeiten und den Risiken, denen dieser beim Transport der Waren oder wegen der Verlustgefahr des Kapitals ausgesetzt war. Deshalb plädierte Scotus dafür, daß die Regierung eines armen Landes auf eigene Kosten, wenn auch mit großem Aufwand, Kaufleute beschäftigen sollte, um sich deren Fleiß und praktische Erfahrung zunutze zu machen13. Entlang dieser Argumentationslinie ver13

Vgl. Duns Scotus, Political and Economic Philosophy, 2001, S. 57 ff.: „What follows are mercantile deals where the one making the exchange intends to do business with the thing he acquires, because he buys it not for his own use, but to sell it and that for a higher price; and these negotiations are called monetary or lucrative. And for such transactions, over and beyond the aforesaid rules as to what is just and unjust, I add two more. The first is that this exchange be something that is useful for the state. The second that the price corresponds to a person’s diligence, prudence and care as well as the risk one accepts in doing such business. The explanation for the first condition is that it is useful to the state to have suppliers who stock things for sale that they may be easily found by those wishing to buy them. Also, to go a step further, the state finds it useful to have importers of needed commodities that are scarce in the homeland, but are nevertheless beneficial or indispensable. And from this it follows that the merchant, who brings such commodities from the lands where they abound to the country where they are lacking or who stocks such imported staples for sale that they may be quickly found by one wishing to buy them, is doing business that is useful to the state. – So much for explaining the first condition. The second follows, for everyone engaged in honest work that serves the interests of the state needs to live by bis own labor. I say honest, because prostitutes or charlatans live dishonestly. But this person who imports or stocks merchandise is serving the state usefully and honestly. Hence he needs to live from his labor. Nor is it this alone, but each can justly sell his industry and solicitude. The industry of one transferring things from one country to another requires a great deal; one has to consider carefully what a country may need and with what it abounds. Therefore one can justly go beyond what one needs to support oneself and one’s family and, estimating what is needed, one can set a price that corresponds to one’s industry. Secondly, over and above this, a person deserves something that corresponds to the danger or risk taken. For if one is an importer, one transports things at a risk, or if one stocks things, one is at peril to guard them, and because of such dangers can securely accept some corresponding compensation; above all if, through no fault of one’s own, a person suffers losses through such service to the community. For instance, a merchant shipping by sea may lose a ship loaded with most of his goods; and at other times he may through an accidental fire lose precious things he is stocking for the state. All these matters are confirmed, for as much as a just and good legislator ought to reward any one who does a service to the state, so much can a merchant receive for himself from the state, if the legislator does not provide such, though not by extortion. In an indigent country, however, if the lawgiver is good, he ought to hire at great expense such merchants to import essential or indispensable goods and preserve and look after the things they bring. He ought to find not only the necessary sustenance for them and their families, but also make use of their industry and practical experience,

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laufen die Formulierungen der franziskanischen Autoren zu den Ideen des sozialen Nutzens des Geldes, der politischen Funktion des Marktes und des Handels als Instrumente zum Aufbau der res publica. Der Kaufmann war eine positive Figur, denn anders als der Wucherer neigte er nicht dazu, Geld zu horten, sondern er strebte nach Profit, um Geld in Umlauf zu bringen, wobei er als Ziel das Gemeinwohl und den Dienst an der Zivilgesellschaft im Auge hatte.

III. Das Armutsverständnis als normative und hermeneutisch-analytische Grundlage Es mag als ein Paradox erscheinen, daß die Franziskaner, diese leidenschaftlichen Verteidiger der evangelischen Vollkommenheit und Theoretiker der höchsten Armut, zugleich profunde Kenner bestimmter Handelstätigkeiten waren, und zwar in einem solchen Maße, daß sie eine ganze Reihe von neuen und wichtigen Begriffen erarbeiteten und sogar Befürworter des Gewinnstrebens wurden. Ein heftiger Streit, in den auch die mittelalterliche franziskanische Bewegung verstrickt war, resultierte aus der Auseinandersetzung über die Armutsfrage, deren wunder Punkt der usus pauper war14. In diesem Armutsstreit ging es um die richtige Auslegung der Regula des Franz von Assisi sowie um die theoretischen Grundlagen und praktischen Auswirkungen des von ihm hinterlassenen Armutsideals, also um den Nutzen von irdischen Gütern sowie um den individuellen und gemeinschaftlichen Eigentumsverzicht. Diese Auseinandersetzung wurde mit zunehmender Aggressivität ausgetragen und hatte später auch politische Konsequenzen15. Im Hintergrund des Armutsstreites stand immer die Frage, wie evangelische Vollkommenheit im Franziskanerorden und in einer Gesellschaft gelebt werden könne, die durch Besitz, kommerzielle Revolution und zunehmende Finanzaktivitäten geprägt war. Das Phänomen der Akkumulation von Reichtum nahmen die Franziskaner wahr als etwas, das zum Leben Christi in krassem Gegensatz stand. Die Entscheidung für die Armut bot eine Lösung dieses Konfliktes. Für die, die freiwillig arm waren wie die Franziskaner, bedeutete Armut Verzicht auf Eigentum und auf alle damit verbundenen Herrschaftsrechte; aber für diejenigen, die sich für den Besitzstand entschieden wie etwa die Kaufleute, schloß die Armut den Gebrauch von Reichtum nicht aus; er wurde lediglich zum Werkzeug, um den tugendhaften Umgang und geeigneten Gebrauch der Güter zu bewerten. Die Armut implizierte für den Reichtumsstand, also für die Kaufleute, auch den Verzicht auf den egoistischen Besitz der Dinge sowie auf die statische Aneignung von Gütern. Stattdessen legitimierte sie eine bestimmte Verwendung der Gelder, die auf Produktivität ausgerichtet sein mußte und and underwrite the risks they take. In offering things for sale, then, the merchants themselves can take all this into consideration.“ 14 Vgl. David Burr, Olivi and Franciscan Poverty, 1989; Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, 1969, S. 348 ff. 15 Vgl. David Burr, The Spiritual Franciscans, 2001.

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dem Gemeinwohl und der Gesellschaft dienen sollte. Nach dieser Auffassung konnten nicht nur die freiwillig Armen, sondern auch die ein unvollkommenes Leben führenden Kaufleute zur Gestaltung einer gerechten christlichen Gesellschaft beitragen, indem sie sich jeweils an bestimmte Normen hielten und bestimmten zivilgesellschaftlichen Verpflichtungen nachkamen. Dadurch zeigte das Armutsideal der Kaufleute einen Weg zum Heil sowie zur moralischen und wirtschaftlichen Vervollkommnung16. Dadurch erarbeiteten die Franziskaner, daß die theologische Heilsökonomie mit dem Heil der Ökonomie17 zusammengehörte. Es war gerade die als Verzicht auf Besitz und Eigentumsrechte verstandene Armut, die zum franziskanischen Umdenken in Bezug auf Eigentum, Geld und materielle Güter führte. Die bewußte franziskanische Distanz zur Welt wurde mithin zum Innovationsantrieb und zum Auslöser dafür, daß sich die Franziskaner um ein tieferes Verständnis des Wirtschaftslebens, um die Logik von Gewinn, Preisbildung und sozialem Nutzen kaufmännischer Aktivitäten bemühten. Die Armutskonzeption war kennzeichnend für das hermeneutische Vorverständnis, in dem der franziskanische ökonomische Diskurs begann. Armut als Nachahmung Christi wurde zu einem erkenntnistheoretischen Prinzip, zu einer Methode, um die ökonomische Wirklichkeit zu erkennen. Es war die Logik der Armut, die den Franziskanern das analytisch-epistemologische Instrumentarium an die Hand gab, um die verschiedenen individuellen Bedürfnisse zu verstehen, den Wert und den Nutzen der Dinge zu analysieren und unter bestimmten Bedingungen die Aktivitäten derjenigen anzuerkennen, die sich für das Eigentum entschieden18. Bedeutungsvoll war dabei auch, daß franziskanische Theologen aus dem Freiheitsbegriff heraus rechtfertigten, daß sowohl die Entscheidung für den Stand der Armut als auch die für den Besitzstand ihren Ursprung in der Willensfreiheit hätten und freiwillig angenommen werden sollten. Die theologische Armutsidee hat also die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Analyse eröffnet. Dabei wurde offenbar, daß es nicht um rein ökonomisches Wissen ging, sondern um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des anthropologisch-theologischen franziskanischen Kerns. Letzten Endes muß festgestellt werden, daß zwischen dem theologischen Armutsverständnis und der sozio-ökonomischen Reichtumsfrage kein Widerspruch besteht, sondern ein innerer Zusammenhang und damit eine Kontinuität19.

16

Vgl. Giacomo Todeschini, Ricchezza francescana, 2004, S. 64 ff. Luigino Bruni, C’è anche un profitto buono e non si chiama mai usura, in: Avvenire v. 21. November 2020, S. 16. 18 Vgl. Giacomo Todeschini, I mercanti e il tempio, 2002, S. 119 ff. 19 Vgl. Roberto Lambertini, La povertà pensata, 2000, S. 40 f. 17

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IV. Methodologie und Leistungsmerkmale franziskanischer Wirtschaftsethik Die franziskanischen Theologen erweisen sich als Denker, die bei der Behandlung ökonomischer Fragen fachkundig kanonistische, zivilistische, philosophische und theologische Perspektiven miteinander verknüpften. Charakteristisch für ihre Vorgehensweise ist, daß sie die Probleme und die untersuchten Fälle nicht a priori bewerteten oder gar verurteilten, sondern daß sie sich bemühten, die ökonomische Wirklichkeit und die ihr zugrunde liegende Logik zu verstehen. Ihren Überlegungen liegt eine interdisziplinäre argumentative Struktur zugrunde, die sich für die Annahme empirischer Daten öffnete und in die viele Ansichten integriert wurden, nachdem man sie diskutiert hatte. Franziskanische Theologen sind daher nicht als reine Moralprediger zu betrachten, und ihre Herangehensweise war nicht überwiegend normativ ausgerichtet. Tatsächlich erfordert das Verständnis der normativen Morallehre der franziskanischen Autoren eine detaillierte Kenntnis der wirtschaftlichen Bedingungen und Prozesse jener Zeit. Das zeigt, daß sie die Moral- und Sozialtheologie als eine res mixta verstanden, wobei sie sich auf die Bibel sowie auf andere Quellen stützten, etwa auf philosophische Argumentationen mit Bezug auf empirische Tatbestände. Zentral blieb dabei stets die Forderung, ökonomisches Handeln auf gesellschaftliche und ethische Ziele hin auszurichten. Die Franziskaner wollten sowohl eine Moral für den Einzelnen als auch eine Moral für die Gemeinschaft erarbeiten, um die gesellschaftlichen Beziehungen zu verbessern. Im Hinblick auf die franziskanische Tradition kann von einer economia francescana20 als einer Wirtschaftsethik gesprochen werden. Diese Wirtschaftsethik nach franziskanischen Denkmustern wird durch verschiedene Faktoren gekennzeichnet, wobei die franziskanischen Prinzipien zu Kriterien für die Analyse von Vertragsbeziehungen und wirtschaftlichen Praktiken wurden. Man kann daher von einem engen Zusammenhang zwischen der anthropologisch-ethischen und theologisch-rechtlichen Konzeption der franziskanischen Theologen und dem von ihnen erarbeiteten wirtschaftlichen Denken sprechen. Zu den Eigenschaften, die die franziskanische ökonomische Einstellung charakterisieren, gehören eine neue anthropologische Sensibilität, die die Franziskaner zu einer energischeren Integration in die damalige Gesellschaft führte; Aufmerksamkeit im Hinblick auf das städtische Leben mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten und deren neu entstehenden Anforderungen; der Vorrang des Subjekts und seiner freien Willensentscheidung; eine neue Vorstellung vom Verhältnis zu den zeitlichen Dingen und zum Eigentum; und schließlich die Verbindung zwischen Gewinn und utilitas publica, nämlich die Anerkenntnis, daß Reichtum einen sozialen Nutzen in Hinblick auf das Gemeinwohl haben kann.

20 Roberto Lambertini, „Economia francescana“. Momenti del percorso di un concetto storiografico, Divus Thomas 119 (2016), S. 171 (172).

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Franziskanische ökonomische Ideen sind nicht das Ergebnis einer gezielten wirtschaftswissenschaftlichen Analyse im engeren Sinne des Wortes, sondern sie resultieren aus dem Kontext von theologischer Reflexion und ethischem Urteil über die ökonomische Wirklichkeit und das soziale Handeln der Christen, insbesondere der Kaufleute. Die scholastische Reflexion und ihre ethische Konzeptualisierung des Wirtschaftslebens haben jedoch dazu beigetragen, „die Grundlagen einer wirtschaftlichen Analyse zu schaffen“, und „ein grundlegendes Lexikon für die zukünftigen Betrachtungen der Ökonomen aufgebaut“21. Die Texte mittelalterlicher franziskanischer Denker sind nicht als Mittel reiner Theoretisierung, sondern als historische Zeugnisse der mittelalterlichen ökonomischen und politischen Wirklichkeit zu verstehen22. Franziskanische Theologen entwickelten eine wirtschaftliche Nomenklatur, die eine unverzichtbare Voraussetzung dafür war, daß man wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen konnte. Es geht also, um es noch einmal pointiert zu formulieren, nicht darum, die Franziskaner als Entdecker marktwirtschaftlicher Gesetze und sogar des Kapitalismus zu feiern oder sie als Vorläufer der modernen Wirtschaftsanalyse zu sehen; vielmehr geht es um die Erforschung jenes ökonomischen Lexikons, das – nachdem es einmal erarbeitet worden war – durch die Zeiten erhalten blieb, von späteren Traditionen übernommen wurde und dann sinnvollerweise in die Terminologie der modernen Wirtschaftswissenschaft einging, wodurch moderne Wirtschaftstheorien möglich geworden sind23.

V. Gesellschaftliche Innovationen Das franziskanische Armutsverständnis hat nicht nur zu einer positiven Sicht auf die Rolle des Kaufmanns und auf das Unternehmertum im Mittelalter beigetragen, sondern auch gesellschaftliche Initiativen zur Armutsbekämpfung und zur Eindämmung des Wuchers hervorgebracht. Die franziskanische Logik der Vorteilhaftigkeit von Handel und öffentlicher Kreditvergabe fand ab dem 15. Jahrhundert eine direkte praktische Umsetzung in Form einer sozialen Innovation, nämlich der Einrichtung der sog. Monti di Pietà („Berge der Barmherzigkeit“), die als Frühformen der Sparkassen und somit des Bankenwesens verstanden werden können. Diese Institutionen wurden dank der Initiative der Franziskaner ab dem 15. Jahrhundert in italienischen Städten und später auch in anderen europäischen Ländern als Leihhäuser gegründet24. Der erste urkundlich be21 Ovidio Capitani, Introduzione, in: ders. (Hrsg.), L’etica economica medievale, 1974, S. 8 f. (Übersetzung d. Verf.). 22 Vgl. Todeschini, Ricchezza francescana (Fn. 16), S. 7. 23 Vgl. Amleto Spicciani, Economia politica come azione umana, in: Ettore Gucciardo, L’usura nel medioevo, 2017, S. 9 ff. 24 Vgl. Maria Giuseppina Muzzarelli, Il denaro e la salvezza. L’invenzione del Monte di Pietà, 2001; Oreste Bazzichi, Il paradosso francescano tra povertà e società di mercato, 2011.

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kannte Mons entstand 1462 in Perugia, und im Jahre 1472 wurde in Siena die heute noch existierende Banca Monte dei Paschi di Siena als Monte di Pietà eingerichtet. Die Montes pietatis wurden ursprünglich als Mittel zur Armuts- und Wucherbekämpfung konzipiert. Sie waren eine innovative gesellschaftliche Antwort auf die damals verbreitete Praxis des durch Zinswucher geprägten Geldverleihens. Es handelte sich um Pfandleihgeschäfte und kirchliche Leihanstalten, die armen, aber fähigen und geschäftstüchtigen Leuten Kredite und billige Darlehen gegen Pfand und niedrige Zinsen gewährten. Im praktischen Leben hatten sie als Finanz- und Wohltätigkeitseinrichtungen eine doppelte Funktion, da sie sowohl sozioökonomisch-politische bzw. gesellschaftliche als auch ethisch-theologische Ziele miteinander verbanden. Ein weiterer Aspekt der gesellschaftlich innovativen Wirksamkeit der franziskanischen Bewegung besteht darin, daß (Volks-)Predigten damals sehr wichtig wurden, die eine starke Wirkung auf städtische Bevölkerungskreise und auf das Kleinbürgertum hatten. Exemplarisch dafür war das Wirken von Bernhardin von Feltre25, der einer der einflußreichsten Volks- und Wanderprediger des 15. Jahrhunderts in Norditalien war. Er wandte sich in seinen Predigten gegen wucherischen Geldverleih durch Christen und Juden, und er war ein unermüdlicher Verbreiter und Gründer der Monti di Pietà, von denen etwa 30 auf seine Initiative zurückgehen. Seine Predigten sind aufschlußreiche Quellen und informieren über die damaligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge. Bernhardins Erfolg hing vor allem mit der Rolle zusammen, die die Predigt damals als Massenmedium spielte: Sie diente dem Wissenstransfer, war politisches Instrument und verbreitete christliche Verhaltensmodelle. Dank seiner großartigen Rhetorik und seiner Erzählfreude sowie seiner gestischen Inszenierung erreichte er mit seinen Predigten nicht nur die Menschen auf den Plätzen, sondern auch die Vertreter der städtischen Obrigkeit. Die franziskanischen Predigten hatten nämlich nicht nur eine pastorale Funktion, insofern sie das Evangelium verkündeten, die geistliche Erziehung der Zuhörer verbesserten und deren christliche Lebensgestaltung beeinflußten, sondern sie waren auch ein Mittel zur Bekämpfung sozialer Mißstände. Außerdem waren sie ein wichtiges Kommunikationsmittel: Einerseits dienten sie dazu, zwischen dem theoretischen Wissen von Universitätsgelehrten und dem Erfahrungswissen praktischer Experten zu vermitteln, also sozusagen eine Brücke zu schlagen zum Nutzen der zuhörenden Bevölkerung; andererseits ermöglichten sie durch ihren Einfluß auf die Einrichtung der Montes eine Institutionalisierung des damaligen Wissens26. Bernhardins Predigten enthielten nicht nur das wirtschaftliche Wissen, das in der früheren franziskanischen Tradition entwickelt worden war, sondern auch die Expertise von Juristen, Kanonisten und Zivilisten seiner Zeit. So stützte sich die Gründung der Montes auf das Wissen maßgeblicher Experten, die juristische Gutachten erstell25

Bernardino da Feltre, Sermoni del Beato Bernardino Tomitano da Feltre, 3 Bde., 1964. Vgl. Tanja Skambraks, Expertise im Dienste der Caritas. Die Monti di Pietà zwischen gelehrtem Wissen und Erfahrungswissen, in: Marian Füssel (Hrsg.), Wissen und Wirtschaft, 2017, S. 169 ff. 26

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ten27. In diesen Gutachten waren wirtschaftsethische Anweisungen enthalten, Argumente für und gegen die Rechtmäßigkeit der Zinsnahme und Ratschläge in Bezug auf die Gründung und Organisation der Montes. Diese Predigten hatten auch Auswirkungen auf die politische Praxis. Bernhardin ebenso wie andere geschickte PredigerKommunikatoren griffen in den Ablauf des Stadtlebens ein und hatten bei politischen Verhandlungen sogar Einfluß auf städtische Herrscher. Diese franziskanischen Prediger wollten nicht nur belehren und ermahnen, sondern auch zum Handeln anregen, weshalb sie das Wort zu einem Instrument der politischen und gesellschaftlichen Intervention machten. Bernhardin von Feltre etwa half häufig den Stadtbehörden, indem er ihre Politik unterstützte, wie z. B. beim Kampf gegen Luxus und unregulierten Konsum; andererseits kritisierte er die Obrigkeit aber auch, wenn diese den jüdischen Wucher nicht verbieten wollte28. Die franziskanischen Wirtschaftsideen waren auch in politischer Hinsicht von Bedeutung, zum Beispiel für einen Denker wie den katalanischen Franziskaner Francesc Eiximenis, der im 14. Jahrhundert ein aktiver politischer Berater im Kontext der Regierungsgeschäfte der Krone von Aragonien war. Im Regiment de la cosa pública und im Dotzè del Crestià stellte Eiximenis eine Synthese aus den Prinzipien des Christentums und den Grundlagen einer guten politischen Gemeinschaft vor29. Tatsächlich fanden katalanische Fürsten in seinen Schriften Bezugspunkte für ihre Regierungstätigkeit. Darin formulierte Eiximenis pädagogische Ideen zur zivilen Verantwortung von Behörden und gab Ratschläge für das Regierungshandeln von Fürsten und Verwaltern von Stadtgemeinden. Eiximenis schlug auch eine Ethik der königlichen Geschäfte vor; er argumentierte, daß der Fürst Geld investieren sollte, um bestimmten Mitgliedern der Gemeinschaft zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befänden, aber begabt und fähig wären und für das öffentliche Gut nützlich sein könnten, wie arme Ritter, junge Kaufleute oder Handwerker, die kein Kapital zum Handeln hatten. Die franziskanische freiwillige Armut bedeutete also nicht den Ausstieg aus der sozialen Welt als Folge einer überweltlichen Askese, sondern implizierte in der Praxis Solidarität, Befreiung und soziale Integration. Die Idee der altissima paupertas wurde zu einem wirksamen Projekt zur Erneuerung der Gesellschaft. Hier zeigt sich, daß das franziskanische Endzeit-Bewußtsein mit dem Armutsverständnis eng verknüpft war. Wenn man diese Verbindung versteht, kann man besser nachvollziehen, wieso die Leistungen der franziskanischen Armutsbewegung zur ethischen Bändigung und Neuorientierung der wirtschaftlichen Verhältnisse führten. Die eschatologische Endzeiterwartung wurde zum Antrieb, die evangelische Armut zu fördern und 27 Vgl. Saverio Amadori, Nelle bisacce di Bernardino da Feltre. Gli scritti giuridici in difesa dei Monti di Pietà, 2007. 28 Vgl. Maria Giuseppina Muzzarelli, Pescatori di uomini. Predicatori e piazze alla fine del Medioevo, 2005. 29 Vgl. Francesc Eiximenis, Regiment de la cosa pu´blica (hrsg. von Josep Palomero, 2009); Francesc Eiximenis, Il Dodicesimo libro del Cristiano, Cap. 139 – 152 und 193 – 197 (hrsg. von Paolo Evangelisti, 2013).

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sich an der Gestaltung menschenwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse aktiv zu beteiligen. Die Hinwendung zu den Armen in der Nachfolge Christi und das Streben nach Verbesserung der Lebensverhältnisse wurden zu ethischen und sozialen Faktoren, die sich in aktive Nächstenliebe verwandelten und die Sozialethik hervorbrachten. Dank dieser Verknüpfung gelang „ein echter Durchbruch zur Sozialethik“30.

VI. Die Fruchtbarkeit des franziskanischen Ansatzes zur Wirtschaftsethik Warum beschäftigen wir uns heutzutage mit der Wirtschaftsethik des Mittelalters? Tun wir es nur, um Lücken in unserem historischen Wissen zu schließen? Oder tun wir es in der Hoffnung, Orientierung zu finden in einer Zeit der Globalisierung und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, die die Covid19-Pandemie und die aktuellen Kriege in der Welt verursacht haben und die uns dadurch bewusster geworden sind? Die franziskanische Wirtschaftsethik ist auch heute unter veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen möglich und nützlich: Sie kann als ethische Orientierung dienen, theoretische und soziale Innovationen vorantreiben und ordnungspolitische Reformen initiieren31. Sie kann darüber hinaus das zunehmende Forschungsinteresse an religiösen Ansätzen in der Wirtschaftsethik steigern sowie die gegenwärtigen akademischen Debatten um die Grundlegung der Wirtschaftsethik bereichern. Der franziskanische methodische Ansatz könnte zu einer stärker integrierten und interdisziplinären Wirtschaftsethik beitragen. Die scholastische Kasuistik-Methode spielt beispielsweise eine Rolle als Übungsfeld für ethisch-ökonomische Argumentationen, indem sie eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, zwischen moralischen Prinzipien und konkreten Situationen ermöglicht. Sie fordert auch die Zusammenführung ethischer, juristischer, wirtschaftlicher und philosophischer Einsichten. Methodisch haben franziskanische und mittelalterliche Theologen über Jahrhunderte hinweg einen Ansatz entwickelt, der von der Beschreibung des Sachverhaltes über die Diskussion konkurrierender Meinungen zu einem abschließenden ethischen Urteil führt. Diese rational-argumentative und interdisziplinäre Methode berücksichtigt einen Pluralismus von Einsichten, und genau das macht das scholastische Denken auch heute noch anwendbar, wenn es um ethische Probleme im globalen und interkulturellen Kontext geht und wenn über die Methodologie der Wirtschaftsethik diskutiert wird, eine Diskussion, die durch die Spannungen zwischen den Verfechtern normativer bzw. empirischer Ansätzen oder durch bestimmte vor30 Peter Schallenberg, Zum Verhältnis von Moraltheologie und christlicher Sozialethik, in: Markus Vogt (Hrsg.), Theologie der Sozialethik, 2013, S. 189 (207 f.). 31 Vgl. Luigino Bruni/Stefano Zamagni, Zivilökonomie. Effizienz, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, 2013; Martín Carbajo Núñez, A Free and Fraternal Economy. The Franciscan Perspective, 2014.

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herrschende philosophische Ansätze32 gekennzeichnet ist. Detailliertere Kenntnisse der franziskanischen interdisziplinären Perspektive sind auch von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Frage nach Identität und Relevanz der christlichen Sozialethik geht, und um die Entscheidung darüber, welche verschiedenen Forschungsmethoden geeignet und von Nutzen sind, um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und zu zeigen, daß christliche Prinzipien für die Gestaltung einer menschenwürdigen Wirtschaftsordnung einen hohen Wert haben können. Aus dem franziskanischen Ansatz kann auch die Katholische Soziallehre Lehren gewinnen und sich beispielsweise darüber klar werden, daß sie ein interdisziplinäres Unternehmen ist und daß sie bei der Behandlung ökonomischer Fragen fächerübergreifende Perspektiven miteinander verknüpfen und die Ergebnisse aus anderen Disziplinen berücksichtigen sollte. Im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsethik besteht die derzeitige besondere Relevanz der franziskanischen Wirtschaftsethik also darin, eine in normative Fragestellungen eingebettete Wirtschaftsanalyse zu erarbeiten. Der franziskanische Ansatz kann dazu beitragen, aus der Sackgasse herauszufinden, in die Konzeptionen und Managementtheorien geraten sind, die auf einer Trennung von wirtschaftlicher Analyse und normativen Überlegungen bestehen. Beispielsweise ist die umstrittene Theorie von Milton Friedman, wonach „The Business of Business is Business“ und das Ziel von Unternehmen die Steigerung der Gewinne ihrer Stakeholder ist, auch nach fünfzig Jahren noch von großem Einfluß. Hier könnte die franziskanische Denktradition ein Paradigma für die Verbindung von wirtschaftlicher Effizienz mit der Wahrung sozialer Gerechtigkeit und der Förderung des Gemeinwohls liefern. Sie kann zur Kritik an zeitgenössischen ökonomischen Mentalitäten verwendet werden, z. B. zum Zweck der Korrektur einer rein utilitaristischen Konzeption der Wirtschaft; oder sie kann gegen die Logik der reinen Gewinnmaximierung eingesetzt werden, die ethische Überlegungen ausklammert und die politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen ebenso vernachlässigt wie die moralischen Reserven, die auch die Marktwirtschaft braucht und die wesentliche Bestandteile der franziskanischen Wirtschaftsethik waren33. Die Franziskaner sind keine Vorläufer des kapitalistischen Geistes. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der franziskanische Geist heute zur Erneuerung des Wirtschaftsverständnisses beitragen kann. Die franziskanische Vorstellung von „Kapital“ als Geld, das in die Wirtschaft investiert wird – mit dem Ziel, menschlichen Bedürfnissen zu dienen und nicht nur die Akkumulation von Reichtum zu ermöglichen – kann 32

Vgl. Ronald M. Green/Ainen Donavon, The Methods of Business Ethics, in: Georg G. Brenkert/Tom L. Beauchamp (Hrsg.), The Oxford Handbook of Business Ethics, 2010, S. 21 ff. 33 Vgl. Clément Lenoble, Monnaie, valeur et citoyenneté chez Olivi et Eiximenis. „Moralisation de l’économie“ ou „économie politique“ médiévale?, Médiévales 68 (2015), S. 161 (178 ff.); Sylvain Piron, L’Occupation du monde, 2018. Ferner vgl. auch Giuseppe Franco, Economia senza etica? Il contributo di Wilhelm Röpke all’etica economica e al pensiero sociale Cristiano, 2016; ders., Von Salamanca nach Freiburg. Joseph Höffner und die Soziale Markwirtschaft, 2018.

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auch helfen, den heutigen ideologischen Kapitalismus zu überdenken, der auf völliger wirtschaftlicher Freiheit beruht und nur begrenzte staatliche Regulierungen zuläßt. Auch der scholastische Verweis auf den finis operantis als Rechtfertigung des wirtschaftlichen Handelns ist wichtig. In der modernen Ökonomie, die zwischen finis operantis and finis operis trennt, wird ausschließlich auf den finis operis Bezug genommen. Das bedeutet, daß das vordringliche Ziel ist, Gewinne zu erzielen und den Unternehmenswert zu steigern usw. Die franziskanische Tradition könnte hier als Anregung dienen, beide fines wieder zusammen zu denken, die Frage nach dem bonum commune wieder zu stellen und so die ökonomische Theorie zu erneuern. Die Weisheit des Franz von Assisi und der franziskanischen Tradition hat auch die sozialethischen Schreiben von Papst Franziskus stark beeinflußt34. In der im Jahre 2015 publizierten Enzyklika Laudato si’ wird deutlich, daß der Papst den Heiligen von Assisi im Hinblick auf die moderne Gesellschaft als Vorbild betrachtet, der eine integrative Wirtschaft propagiert hat. Der Papst stellt ihn als Modell dar, der für eine ganzheitliche integrale Ökologie und ein gesundes Verhältnis zur Natur und zu irdischen Gütern steht, die man nicht als reine Gebrauchsgegenstände und Herrschaftsobjekte verstehen darf. Der Mensch sei Verwalter und nicht Besitzer der Güter, die auf die soziale Verpflichtung zum Gemeinwohl verwiesen sind. Auf diesem Fundament baut Fratelli tutti auf, die Enzyklika, die sicher nicht ohne Absicht genau am 4. Oktober 2020, dem Gedenktag von Franz von Assisi, publiziert wurde. Diese Enzyklika lädt dazu ein, nach einem neuen Wirtschafts- und Wohlstandsverständnis sowie nach Initiativen zur Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Naturverbrauch zu suchen. Die franziskanische Idee, Güter zu nutzen, ohne sie zu besitzen, ist auch heute noch aktuell im Zusammenhang mit den Eigentumsrechten an natürlichen Ressourcen oder im Hinblick auf die Tatsache, daß die Erdatmosphäre und die Ozeane als globales Gemeinschaftseigentum zu betrachten sind, denen gegenüber wir die Pflicht haben, sie zu schützen, indem wir nachhaltig handeln. Der franziskanische Gedanke, wonach das Privateigentum nichts Absolutes ist, ist auch im Kontext der derzeitigen Diskussionen über die Unternehmensführung von Bedeutung, wenn das absolute Recht auf Eigentum in Frage gestellt wird. Der franziskanische Bezug unterstützt den Gedanken, daß die Unternehmensführung sowohl gegenüber den Shareholdern als auch gegenüber den Stakeholdern Verantwortung trägt, deren Interessen jedoch dem Gemeinwohl untergeordnet sein sollten. Auf originelle Weise hat Giorgio Agamben gezeigt35, daß aus dem franziskanischen Armutsverständnis eine theologische Genealogie von ökonomischen, rechtlichen und politischen Ideen erwachsen ist, denen eine besondere theoretische und praktische Bedeutung zukommt. Im franziskanischen Erbe sieht Agamben die Möglichkeit, eine neue Lebensform zu definieren: Dazu würden eine Ontologie des Gebrauchs der Dinge sowie neue Ansichten zum Zusammenhang zwischen Theologie, 34 Vgl. Martín Carbajo Núñez, Schwester Mutter Erde. Franziskanische Wurzel der Enzyklika Laudato si’, 2019. 35 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer, 2021.

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Politik und Ökonomie und zur Korrektur der aktuellen Herrschaftsverhältnisse gehören. Agamben folgend, liegt die Aktualität der franziskanischen Konzeption nicht in der Abschaffung des Rechtes oder des Eigentums, sondern darin, von beiden Institutionen neuen Gebrauch zu machen, um dem Gemeinwohl zu dienen. Er ist der Meinung, daß die in der franziskanischen Lebensform enthaltene Kraft es möglich machen würde, die Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums, die globale Herrschaft des ökonomischen Paradigmas und damit auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft und die Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie zu destruieren. Die Franziskaner waren nicht nur Denker, sondern auch religiöse Unternehmer und geistliche Innovatoren in Zeiten des Umbruchs. Ihre Reflexion, ihre pastorale Tätigkeit und die Einrichtung der Monti di Pietà ermöglichten es den Franziskaner, eine Form von „produktiver Armut“36 zu entwickeln. Dabei handelte es sich um einen sozialen Prozess, bei dem wohlhabende Kaufleute und Bankiers Kapital für soziale Zwecke und in Bereichen wie Wohltätigkeit, Bildung und Gesundheit investieren konnten, so daß die Armen Teil eines produktiven, sozialen Kreislaufs wurden und an einer Wirtschaft mitwirkten, die auch Güter und Reichtum produzierte. Die Franziskaner haben aus dem Geist der Armutsbewegung eine neue sozio-ökonomisch-politische Ordnung geschaffen und institutionelle Veränderungen bewirkt, die starke Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft hatten. Dabei spielte das franziskanische Verständnis des ehrbaren christlichen Kaufmanns, dessen Wirken von sozialem Nutzen ist, eine wichtige Rolle. Ähnliches ließe sich in die zeitgenössische Debatte über die Corporate Citizenship in der Zivilgesellschaft und das soziale Unternehmertum einführen37. Basierend auf der franziskanischen Weisheit könnten neue Formen des Wirtschaftens und des Sozialunternehmertums entwickelt werden, durch die der Markt zum Praxisfeld für Bürgertugenden sowie für ethisches und geistiges Engagement werden könnte. Das franziskanische Armutsideal ist ein geeignetes Modell, das zeigt, wie durch eine alternative Herangehensweise eine nachhaltigere und inklusivere Wirtschaftsform geschaffen werden kann, in der soziale Ungleichheit und Exklusion reduziert würden. Außerdem liefert die franziskanische Wirtschaftsethik neue Perspektiven für die Zivilisierung des derzeitigen Finanzund Wirtschaftssystems. Hier zeigt sich auch die Aktualität der Monti di Pietà, die als Vorläufer der modernen Mikro-Kreditinstitutionen und ähnlicher Initiativen der Finanzethik betrachtet werden können und deren Ziel es heutzutage ist, den Armen und den Entwicklungsländern einen leichten Zugang zu Kapital und Krediten zu ermöglichen. Eine solche Art der Mikro-Finanzierung ist ein nützliches Modell, das zeigt, wie die Beziehung zwischen Krediten und Bürgern erneuert werden kann, zum Schutz der Armen vor den Risiken des Wuchers. Die franziskanische Tradition entstammt einer historischen Epoche, die entscheidend zum Aufbau der europäischen Zivilisation, zu den vorpolitischen normativen 36 Vgl. Orlando Todisco, La solidarietà nella libertà. Motivi francescani per una nuova democrazia, 2015. 37 Vgl. André Habisch/René Schmidpeter (Hrsg.), Handbuch Corporate Citizenship, 2007.

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Grundlagen des modernen Staates und zur Entwicklung der ökonomischen Begrifflichkeit beigetragen hat. Die franziskanische Erfahrung kann uns lehren, daß wirtschaftliches Wachstum, sozialen Wohlstand, Innovationen und Armutsbekämpfung von der Qualität inklusiver politischer und ökonomischer Institutionen abhängen. Zu diesen inklusiven Institutionen, die wir heute brauchen, gehören ein marktbasiertes Wirtschaftssystem im Gegensatz zum Staatskapitalismus, ein offener internationaler Handel im Gegensatz zum Protektionismus sowie Rechtsstaatlichkeit, um gegen Staatswillkür und Korruption vorzugehen. Weitere geeignete Maßnahmen zur Armutsbekämpfung im Hinblick vor allem auf Schwellenländern sind die Herstellung politischer Stabilität durch rechtsstaatliche Institutionen und eine Förderung aller Prozesse, die der Demokratisierung dienen; außerdem eine stärkere ökonomische Inklusion der ärmsten Entwicklungsländer in den Globalisierungsprozeß durch ökonomische und politische Maßnahmen auf internationaler Ebene38. Der franziskanische Geist regt dazu an, an der Evangelisierung des Sozialen zu arbeiten, eine Humanisierung der Wirtschaft und eine integrative Managementund Führungsethik in Gang zu setzen. Die Idee des Marktes, so wie sie bei den Franziskanern vorhanden ist, geht davon aus, daß Handelsbeziehungen in einem Kontext der Solidarität und Reziprozität abgeschlossen werden und auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Im Zeitalter der Globalisierung ist es notwendig, die ursprüngliche Bedeutung von Prinzipien wie Gegenseitigkeit, Vertrauen und Gemeinwohl in Erinnerung zu rufen, denn das traditionelle Verhältnis zwischen Staat, Markt und Gesellschaft ist durch den technologischen Fortschritt in Frage gestellt und muss neu ausgehandelt werden. Moralisches Kapital, zivilgesellschaftliches Engagement und das ethische Verhalten von Führungskräften in Wirtschaft und Gesellschaft müssen daher zu Schlüsselprinzipien für die tägliche Praxis werden39. Das franziskanische Paradigma ist keineswegs „vormodern“, sondern es zeigt, daß eine christlich begründete Wirtschaftsethik das moralische Fehlverhalten von Menschen und Institutionen analysieren und Handlungsempfehlungen formulieren kann, damit Verbesserungen erreicht werden, beispielsweise menschenwürdigere Arbeitsbedingungen und eine angemessenere Entlohnung für die Menschen, die das weitere Funktionieren unserer Gesellschaften sichern. Von der franziskanischen Tradition kann man lernen, daß in Zeiten der Globalisierung auch funktional ausdifferenzierte Gesellschaften normativen Kriterien unterworfen werden sollten, daß wirtschaftliche Prozesse und die Gestaltung einer menschenwürdigen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung an sozialen Zielen auszurichten sind und daß die Freiheit 38 Vgl. Douglas C. North, Institutions, Ideology and Economic Performance, in: James Dorn u. a. (Hrsg.), The Revolution in Development Economics, 1998, S. 95 ff.; Elke Mack, Armut in Licht der Enzyklika „Caritas in Veritate“, in: Jörg Althammer (Hrsg.), Caritas in veritate, 2013, S. 159 ff.; Daron Acemoglu/James Robinson, Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, 2012. 39 Vgl. Andreas G. Scherer/Guido Palazzo (Hrsg.), Handbook of Research on Global Corporate Citizenship, 2008; Thomas Dienberg, Economia e spiritualità. Regola francescana e cultura d’impresa, 2013.

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des Einzelnen von der Solidarität aller in einer sozial gerechten Gesellschaft abhängt. Ein solcher Ansatz gibt den Wirtschaftsethikern auch heute noch ihre Aufgaben vor! Summary The paper addresses the Franciscan approach to business ethics in the late Middle Ages when Franciscan theologians contributed to the economic discourse. Living in a society characterized by commercial revolution and increasing international financial activity based on the theological understanding of poverty and a profound knowledge of economic mechanisms, they legitimized the moral dimension of the market and the social function of merchants. They justified a particular use of money that was to be directed towards productivity and towards serving the society. However, the primary interest of Franciscan theologians was not the analysis of economic laws but the moral implications of economic activity, putting economic issues in a normative, social, and religious context. The interdisciplinary structure of Franciscan approach to economic issues can support today’s discourse on the theoretical and normative foundations of business ethics. Referring back to the Franciscan tradition is not „premodern“ but one can rather learn from it that in times of globalization, even functionally differentiated societies should be subjected to normative criteria, that economic processes and the shaping of a humane economic and social order should be oriented towards social goals, and that the freedom of the individual depends on the solidarity of all people in a socially just society.

Die Relevanz der Deutsch-Amerikanischen Tradition des sozialen Katholizismus für die zeitgenössische Bewegung „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“1 Von Martin Schlag

I. Einleitung Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion2 scheinen zu den Koordinaten und Eckpunkten eines neuen Wertesystems geworden zu sein, das die soziale Verantwortung von Unternehmen und akademischen Einrichtungen neu definiert und einfordert. Michael Naughton und Emery Koenig3 haben ihre Erkenntnisse über die „DEI“-Bewegung in der Wirtschaft in den folgenden Punkten zusammengefaßt: (1) Alle Werte haben ein Wurzelsystem, dem die Werte entstammen und dem sie ihr Wachstum verdanken. Die Wurzeln bestimmen weitgehend das Wachstum und Gedeihen der Pflanze. Viele der „DEI“-Programme sind, bewußt oder unbewußt, in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verwurzelt, was ein Problem darstellt. (2) Eine weitere Schwierigkeit bei der aktuellen Form von „DEI“ ist ihre reduktive Anwendung durch das Problem vereinfachende Quoten und Qunatifizierung. Die Probleme, denen sich „DEI“ stellt (Rassismus, Sexismus, strukturelle Ungleichheiten usw.), sind hochkomplexe zwischenmenschliche und gesellschaftliche Fragen. Quoten sind nützlich, aber gewiß nicht ausreichend, um sie anzugehen, geschweige denn, um sie zu lösen. (3) Ausgangspunkt für Naughton und Koenig ist jedoch die Erkenntnis, daß die Probleme, die „DEI“ anspricht, real und wichtig sind. Das Problem mit der gegenwärtigen Form der „DEI“ ist nicht, daß sie die falschen Fragen stellt, sondern daß sie die falschen Antworten gibt. Die Antwort, die Naughton und Koenig vorschlagen, lautet Subsidiarität. Benedikt XVI. bezeichnete Subsidiarität als Achtung der „Würde der Person, in der sie ein Subjekt sieht, das immer imstande ist, an-

1 Ein ähnliches Kapitel wird in einem von Bill Murphy herausgegebenen Sammelband auf Englisch erscheinen. 2 Ich verwende in der Folge die auch in der deutschen Sprache übliche Abkürzung „DEI“ obwohl sie für die englischen Worte diversity, equity, and inclusion steht. 3 „Putting First Things First: Ordering DEI (Diversity, Equity, Inclusion) in Light of Subsidiarity“, Business and Social Review (im Erscheinen).

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deren etwas zu geben.“4 Die Vielfalt der Gaben trägt zum Gemeinwohl bei, indem sie etwas einzigartig Neues schafft. Christliche Männer und Frauen sollten „DEI“ nicht in Bausch und Bogen ablehnen, sondern, ohne Naivität, eine Haltung der Offenheit gegenüber der modernen Kultur im Geiste des Dialogs beibehalten. Wir können Gott in der Gegenwart finden, in den Herzen und im Gewissen unserer Zeitgenossen. Um genauer zu sein: Wir können Gott finden in den Fragen und Herausforderungen – oft nicht in den Antworten –, die unsere Kultur und ihre Ausdrucksformen liefern. Es ist Aufgabe der Gemeinschaft der Gläubigen, Antworten zu finden und danach zu handeln, die von christlichem Humanismus inspiriert sind und über den Zeitgeist und den allgemeinen gesellschaftlichen Wertekonsens hinausgehen. Diese Notwendigkeit wird von Kritikern von „DEI“ nicht erkannt, die zu Recht gegenüber Parolen und Lösungsansätzen skeptisch sind, die nicht mit der christlichen Anthropologie übereinstimmen, ohne jedoch die zugrunde liegenden Fragen ausreichend zu berücksichtigen und Antworten darauf zu geben. Um ein Beispiel zu nennen: Vor einiger Zeit hielt ich auf einer internationalen Konferenz über Wirtschaftsethik einen Vortrag über „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion (DEI) in der katholischen sozialen Tradition“. Ich versuchte zu erklären, wie das Konzept der Vielfalt in den letzten Jahrzehnten verstanden wurde, welche Probleme es ansprach und welche Interpretationen der katholischen Anthropologie widersprachen. Ich war überrascht, daß die Kommentare während der Fragerunde die Notwendigkeit von „DEI“ leugneten, weil wir bereits das Prinzip der Menschenwürde hätten. Das war enttäuschend, weil ich versucht hatte zu erklären, daß „DEI“ Themen behandelte, denen in der Vergangenheit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden war.5 Im Gegensatz dazu versuchen einige fortschrittliche Denkansätze, Krankheiten mit Therapien zu heilen, die eigentlich keine Lösungen, sondern Symptome der Krankheit sind. Das Beispiel, das mir hier in den Sinn kommt, sind Anwendungen der sogenannten Kritischen Theorie auf soziale Probleme wie Rassismus und Geschlechterungleichheiten. Ich halte dafür, kritische Theorie durch kritisches Denken zu ersetzen. Kritisches Denken zielt auf Wahrheit durch die Betätigung der Vernunft. Es bedeutet, Annahmen in Frage zu stellen und nicht eher zu ruhen als bis wir der Wahrheit so nahe wie möglich gekommen sind. Kritisches Denken geht davon aus, daß unsere Zivilisation auf Wahrheit basiert und an ihr gemessen wird. Kritischer Theorie hingegen geht es um Macht. Sie geht davon aus, daß alle Strukturen der Gesellschaft versteckte Unterdrückung sind, die es verdienen, zerstört zu werden. Wahr4 Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in Veritate, 29. Juni 2009, in: AAS 101 (2009), 641 (692 f.), Nr. 57. 5 Für beunruhigende Illustrationen einiger dieser Probleme siehe z. B. Michelle Alexander, The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness, 10. Aufl. 2010; Bryan Stevenson, Just Mercy: A Story of Justice and Redemption, 2014; Franklin E. Zimring, When Police Kill, 2017, S. 41 – 73; William G. Bowen/Derek Bok, The Shape of the River: LongTerm Consequences of Considering Race in College and University Admissions, 2. Aufl. 2000; Gregory Boyle, Tattoos on the Heart: The Power of Boundless Compassion, 2010.

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heit ist für die kritische Theorie das Ergebnis des Handelns. Wahrheit werde geschaffen, um dem Willen der Gruppe zu entsprechen, die behauptet, unterdrückt und benachteiligt zu werden.6 Machtstrukturen können in der Tat ungerecht sein. Autorität und gerechte soziale Strukturen, jedoch, die im Laufe der Zeit geschaffen wurden, um dem Wohl von Individuen und Gemeinschaften zu dienen, sind befreiend und stabilisierend. Wie Edmund Burke bereits betonte, „wird unsere Freiheit zu einer edlen Freiheit“ durch „Einklang mit der Natur“ und Respekt für unsere Institutionen.7 Die Macht des Staates, aber auch der potentiell bedrohliche Einfluß aller anderen sozialen Interessengruppen, Medien, Lobbys usw. ist begrenzt durch Institutionen, die dem Zahn der Zeit widerstanden haben, von unseren Vorfahren ererbt und durch Erfahrung auf ihre Gemeinwohltauglichkeit geprüft sind. An erster Stelle unter diesen Institutionen steht die Familie. Bemühungen, Menschen aus den Zwängen der Familie zu befreien, schaden letztlich jenen Menschen, denen die Vertreter kritischer Theorien zu helfen vorgeben. Als jemand, der in Europa aufgewachsen ist und den größten Teil seines Lebens dort verbracht hat, empfinde ich die amerikanische Kultur als einen fruchtbaren Nährboden für Ideen und Innovationen. Die Menschen hier sind empfänglich für neue Ideen, die sie ansprechen, und sie neigen dazu, sie sofort in die Tat umzusetzen, manchmal auf ziemlich extreme Weise, öffentlich und mit beträchtlichem persönlichem Aufwand. Die Menschen hier werden dazu erzogen, ihre Meinung offen zu äußern. In Europa hingegen sind die Menschen eher skeptisch. Sie haben kulturell und historisch so viel durchgemacht, daß sie nicht so schnell und leicht zu etwas zu begeistern sind. Bildung in Europa ist kritischer und neigt dazu, die Motive hinter starken Behauptungen in Frage zu stellen.

II. Ein historisches Beispiel: Konservative Rekonstruktion oder progressive Reformen Ich bin auf eine faszinierende, für unser Thema relevante Spannung zwischen den deutsch-amerikanischen Katholiken, die im Zentralbüro und im Zentralverein organisiert waren, und „progressiven Amerikanisten“ wie John A. Ryan, die hauptsächlich irischer Herkunft waren, gestoßen. Sie liegt weit genug hinter uns, um nicht emotional aufgeladen zu sein und kann so helfen, die zugrunde liegenden Prinzipien zu veranschaulichen. Deutsche katholische Einwanderer in die USA gründeten 1855 den deutsch-amerikanischen katholischen „Central-Verein“, der ab 1909 eine zweisprachige deutsch-

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S. Noelle Mering, Awake, Not Woke: A Christian Response to the Cult of Progressive Ideology, 2021, S. 102 f; John McWhorter, Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America, 2021, insbes. S. 71 – 76. 7 S. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), 2009, S. 34.

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englische Zeitschrift in St. Louis, Central-Blatt and Social Justice herausgab.8 Unter der intellektuellen Leitung von Frederick P. Kenkel und P. William Engelen SJ, der ein Schüler von P. Heinrich Pesch SJ und seiner Schule des Solidarismus war, waren diese deutsch-amerikanischen Katholiken sowohl konservativ als auch kritisch gegenüber dem amerikanischen Wirtschaftssystem. Normalerweise würden wir davon ausgehen, daß ein konservativer Sozialethiker das amerikanische Wirtschaftssystem unterstützen würde. Im Falle der Herausgeber von Central-Blatt and Social Justice führte der Konservatismus jedoch dazu, daß sie die amerikanische Verfassung und ihre grundlegenden Werte verteidigten und aufrechterhielten, während sie gleichzeitig das amerikanische Wirtschaftssystem und die damalige Kultur scharf kritisierten, die sie für mit dem Katholizismus unvereinbar hielten.9 Der Liberalismus war ihr Feind, ebenso wie sein ökonomischer Ausdruck, der Kapitalismus. Engelen und Kenkel verbanden Kapitalismus mit Individualismus und Egoismus und träumten von einer Rückkehr zu einer mittelalterlichen, von Ständen strukturierten Gesellschaft. Stände und Korporationen vereinten alle Mitglieder eines Berufsstandes, einer religiösen Gruppe oder einer Gesellschaftsschicht in einer Organisation, unabhängig davon, ob sie Eigentümer oder bloße Lehrlinge waren. Das klassische Beispiel hierfür ist die Gilde. In der Vorstellung der Sozialromantiker des 19. und 20. Jahrhunderts arbeiteten die mittelalterlichen Korporationen unter der Führung des Klerus ohne Klassenkampf oder Streit harmonisch zusammen. Alle bauten den Körper der politischen Gesellschaft auf, der die Kirche als mystischen Leib Christi widerspiegeln sollte. Central-Blatt and Social Justice ist voll von Artikeln, die sowohl einen radikalen Sinneswandel als auch einen radikalen Umbau der Strukturen der Wirtschaft fordern. Reformen des bestehenden Systems, wie sie von Ryan und dem National Catholic Welfare Council vorgeschlagen wurden, erschienen Central-Blatt and Social Justice als bloße Pflaster, die nicht zum Kern der Sache gingen: den Strukturen.10 Obwohl John A. Ryan ein früher Mitarbeiter des Central-Blatt and Social Justice war und es keinen offenen Konflikt gab, brachte der Konservatismus die Autoren im Central-Blatt und Social Justice in Spannung mit dem reformierenden John A. Ryan. Ein Beispiel ist das Child Labor Amendment zur US-Verfassung im Jahr 1924. Es passierte erfolgreich beide Häuser, wurde aber bis heute nur von sechs Staaten ratifiziert. Es sieht die Befugnis des Bundesgesetzgebers vor, die Arbeit von Personen unter 18 Jahren zu regulieren, einzuschränken und zu verbieten. John A. Ryan unterstützte nachdrücklich die Änderung und ihre Ratifizierung. Frederick P. Kenkel, der Chefredakteur von Central-Blatt and Social Justice und 8 Zum historischen Hintergrund siehe Philip Gleason, The Conservative Reformers: German-American Catholics and the Social Order, 1968. 9 S. Charles E. Curran, American Catholic Social Ethics: Twentieth-Century Approaches, 1982, S. 103, 125. 10 Siehe Engelen’s letzte lange Artikelserie für Central-Blatt and Social Justice (fortan: CBSJ) mit der Überschrift „Sozialer Wiederaufbau“ (Original in Englisch „Social Reconstruction“). Es beginnt in CBSJ 17 (1924), S. 184 – 185 in 13 Teilen. Nummer 13 ist in fünf Unterteile geteilt. Insgesamt macht die Serie 17 Stück aus. Der letzte Artikel erschien in CBSJ 19 (Oktober 1926), S. 219 – 220. S. auch Curran (Fn. 9), S. 111.

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seit über vierzig Jahren sein Spiritus-Rector, lehnte die Änderung ab, weil sie die Rechte der Einzelstaaten verletzen würde. Kenkel erkannte, daß die Verteidigung der Rechte der Staaten ein wesentliches Element des amerikanischen Föderalismus ist. Obwohl das Prinzip verwendet werden kann, um gerechte Anliegen zu vereiteln – schließlich wurde es geltend gemacht, um die Sklaverei in den Südstaaten vor der Emanzipation aufrechtzuerhalten –, lehnte Kenkel die vorgeschlagene Verfassungsänderung im Namen der Erhaltung des Föderalismus ab. Er erkannte, daß das föderalistische Prinzip die Rechte der Einzelstaaten schützt und daher ein wichtiger Teil der in der Verfassung verankerten Gewaltenteilung ist, die die zentrale staatliche Macht in Schach hält. Seine Argumente offenbaren ein tiefes Wissen und eine große Liebe zur amerikanischen Verfassung und zur politischen Philosophie im Allgemeinen. Es ist nicht verwunderlich, daß ein wichtiges Argument in Kenkels Artikel11 die Subsidiarität ist, wenn man bedenkt, daß Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Bischof von Mainz, Vorkämpfer für Arbeiterrechte und eine Galionsfigur der sozialen Reformbewegung des rheinischen Katholizismus, von Subsidiarität gesprochen hatte. Die deutsch-amerikanischen Katholiken hatten geplant, ein Ketteler-Haus in New York zu gründen (das Projekt scheiterte an Spannungen mit anderen katholischen Gruppen), da sie seine Lehre nicht nur kannten, sondern von ihr beeinflußt waren. Dennoch ist es bemerkenswert, daß Kenkel das Wort Subsidiarität verwendet noch vor seiner offiziellen Einführung in die päpstliche katholische Soziallehre durch Pius XI. 1931 in der Enzyklika Quadragesimo anno. Obwohl die eng miteinander verbundene Gruppe deutsch-amerikanischer Katholiken sowohl von nicht-deutschen Amerikanern als auch von nicht-katholischen deutschen Einwanderern isoliert war und ihre sozialethischen Positionen kaum praktische Auswirkungen hatten, lobt Charles E. Curran sie: „In a very creative way they combined their Catholicity, their conservatism, and their critique of American society. By insisting that social reform involves both a change of heart and a change of structures, they made a lasting contribution to the ongoing dialogue about Christian social ethics in the United States.“12

Diese Bewegung endete während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Deutsch-Amerikaner wurden danach in die anglo-amerikanische Mehrheitskultur assimiliert. Seitdem gehen deutsche und amerikanische nationale Traditionen getrennte Wege, und der deutsche Einfluß auf die amerikanische katholische Sozialethik ist gering. Ich verstehe diesen Sammelband als Versuch, unseren transatlantischen Dialog fortzusetzen. Die USA sind im Gegensatz zu Deutschland und dem Rest der Welt ein Sonderfall für die katholische Kirche. In den USA war die Kirche weder Freund noch Feind, zumindest was die Verfassungsordnung anging. Das politische Regime der Religionsfreiheit (1. und 14. Verfassungszusatz) begünstigte die Ausbreitung der katholi11 12

CBSJ 18 (Juli 1925), S. 114 – 116. Curran (Fn. 9), S. 129.

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schen Kirche im ganzen Land. Trotz des Wachstums der Kirche waren und sind die Katholiken in Amerika eine Minderheit. Schon sehr früh in der Geschichte dieses Landes stellten sich die katholische Hierarchie und die Theologen, sobald sie existierten, auf die Seite der Armen, der Randgruppen, der Arbeiter und der Einwanderer. Der Grund ist einfach: Die Katholiken, seien es Deutsche, Iren, Italiener, Polen oder welcher anderen Nationalität auch immer, waren größtenteils arme Gastarbeiter, die von der WASP-Mehrheit nicht akzeptiert wurden; eine Situation, die sich in den 1960er Jahren änderte. So bedeutete die Sorge um die katholischen Gläubigen die Sorge um die Notlage der Arbeiter. Die Armen brauchen Unterstützung – damals und heute. Katholiken waren von den bestehenden, teils angesehenen protestantischen Erziehungseinrichtungen und Versicherungsgenossenschaften ausgeschlossen. Häufig war dieser Ausschluss auch von der katholischen Seite mitgetragen, im Sinn der katholischen Mentalität der Zeit, die den katholischen Glauben der Einwanderer durch konfessionelle Segregation bewahren wollte. Der Ökumenismus ist eine spätere Bewegung. Die Katholiken in den USA schufen daher ihre eigenen Institutionen für soziale Belange, Erziehung und Versicherung. Trotz dieser Segregation, oder vielleicht ihretwegen, hatten amerikanische Katholiken in der Vergangenheit das Gefühl, ihre amerikanische Identität und ihre Offenheit für die Prinzipien der amerikanischen politischen Gesellschaft verteidigen zu müssen angesichts protestantischer Vorwürfe, sie seien von einer ausländischen politischen Macht (dem Papsttum) abhängig. Amerikanische Katholiken mußten den protestantischen Amerikanern, den ursprünglichen Siedlern, beweisen, daß auch sie wahre Amerikaner waren. Die prominenten und freimütigen Katholiken dieser Neigung wurden „Amerikanisten“ oder „Liberale“ genannt. John Ireland, der mächtige Erzbischof von St. Paul, ist ein bekannter Vertreter dieser Strömung. Aaron Abell betont, daß der amerikanische katholische Liberalismus nicht nur patriotisch, sondern auch „sozial und ethisch in Ursprung und Zweck war und nicht mit der gleichnamigen theologischen Bewegung in der protestantischen Welt zu verwechseln war“.13 Die Amerikanisten wurden insbesondere nach der Finanzkrise von 1873 zunehmend zu Sozialreformern. Die reformierenden Katholiken, wie Ireland und Ryan, hatten wegen der sozialen und ethischen Bedeutung des Wortes nichts gegen das Etikett „liberal“, obwohl sie – nach heutigen Maßstäben – ihr Eintreten für die christliche Ehe und gegen Empfängnisverhütung dem „konservativen“ Lager zuschreiben würden. Nach den Maßstäben des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren sie „progressiv“. Progressivismus bedeutete damals etwas anderes als heute. Nach Abell wurde der Progressivismus zu einer bürgerlichen – und damit politisch wirksamen – Bewegung, als junge, fleißige Männer sich dessen bewußt wurden, daß ihnen Erfolg im Leben trotz angestrengter und gediegener Arbeit aufgrund kapitalistischer Monopole und monetärer Privilegien schwierig geworden war. Die Arbeiterklasse fand ihren Weg nach oben von der Plutokratie versperrt. Progressive Politiker von damals sprachen sich daraufhin gegen das Bankensystem 13 Aaron I. Abell, American Catholicism and Social Action: A Search for Social Justice 1865 – 1950, 1960, S. 97 f.

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und für mehr direkte Demokratie, weit gestreutes Eigentum, Gewerkschaften und Bauernbünde aus. Auf der sozialen Seite setzten sich die Progressiven für das Verbot von Kinderarbeit, für begrenzte Arbeitszeiten, gerechte Löhne und allgemein für den Schutz der Arbeit ein. Sie fanden überraschende Unterstützung unter den katholischen Liberalen. Die katholischen Sozialreformer der progressiven Ära, wie John A. Ryan, „the Right Reverend New Dealer“, sahen viele dieser Forderungen durch die von Präsident Roosevelt und dem New Deal eingeführten Reformen verwirklicht. Im Gegensatz zu den konservativen „Rekonstruktionisten“ machten die katholischen liberalen Sozialreformer konkrete und praktische Vorschläge, die dennoch kühn und radikal waren, wie Ryans Forderungen nach Arbeiterrechten, gewerkschaftlichem Zusammenschluss und einem existenzsichernden Mindestlohn. Seine Forderungen implizierten häufig eine Stärkung des Zentralstaats zur Umsetzung der Reformen, lehnten aber den Kapitalismus als solchen nicht ab. Im Gegensatz dazu lösten sich die Rekonstruktionisten zunehmend von der Realität und träumten vom Mittelalter als einem vermeintlich christlichem Ideal, während das moderne kapitalistische, liberale, individualistische und egoistische Wirtschaftssystem sie mit Abscheu erfüllte. Es ist interessant festzustellen, daß gegenwärtig die kapitalistische Wirtschaftsordnung von Katholiken eher in den USA als in Deutschland abgelehnt wird. Das Blatt scheint sich gewendet zu haben, wenn man bedenkt, daß der Distributismus trotz seines englischen Ursprungs hauptsächlich ein amerikanisches Phänomen geworden ist. Zudem belegen Umfragen, daß ein erheblicher Teil der Millennials in den USA dem Kapitalismus skeptisch gegenübersteht. In den USA gibt es bis in die Gegenwart katholische Bemühungen, das geistige Erbe von Heinrich Pesch SJ, den Solidarismus, lebendig zu halten.14 Der Solidarismus ist ein Versuch, eine ökonomische Theorie auf Prinzipien der christlichen Philosophie und der katholischen Soziallehre aufzubauen. In den Worten des verstorbenen Rupert J. Ederer: „Roman Catholic popes are not in a position to devise new economic or social systems; Pesch, as a trained economist, however, was, and that is precisely what he sought to accomplish by his work. On the basis of his social philosophy termed solidarism, he went on to develop an economic system called the solidaristic or social system of human work. It was designed to alleviate what the Jesuit scholar saw as the devastating effects of economic liberalism in the capitalistic order, and to avert the preposterous alternative suggested by Marx and his followers. Sometimes referred to as a ‘third way’ since it steers between the excesses and flaws in two alternative systems, the solidarist system nevertheless stands on its own principles and offers a separate and distinct approach to organizing an economic system.“15

14 S. Rupert J. Ederer (Hrsg.), Heinrich Pesch on Solidarist Economics: Excerpts from the Lehrbuch der Nationalökonomie, 1998. Rupert J. Ederer übersetzte auch andere Bücher von Heinrich Pesch und veröffentlichte eigene Werke zum Thema „Christliche Wirtschaft(swissenschaft).“ 15 Ebd., S. viii.

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In den Augen der Solidaristen wäre der Versuch, das „verrottete kapitalistische System“ zu reformieren, nichts als Zeitverschwendung. Mir sind keine Versuche in Deutschland bekannt, den Solidarismus wieder zu beleben. In diesem europäischen Land hingegen hat die soziale Marktwirtschaft ein Sicherheitsnetz für alle geschaffen, das es den Menschen ermöglicht, an freien (wenn auch regulierten) Märkten teilzunehmen, ohne die Marktwirtschaft als solche in Frage zu stellen.16 Es gibt zwar immer wieder Forderungen nach vollkommen anders rekonstruierten alternativen Wirtschaftssystemen, aber der Grundtenor scheint der Ruf nach Reformen zu sein, vor allem um saubere Energie und andere ökologische Ziele zu gewährleisten, da so viele soziale Ziele bereits erreicht wurden, anders als in den USA. Was könnten wir aus der historischen Spannung zwischen Rekonstruktionisten und Reformern in Amerika für heute lernen? Offensichtlich sind die Lehren, die daraus gezogen werden müssen, indirekt. Vieles von dem, was in der Vergangenheit äußerst umstritten war, wurde im Sinne der Reformer erreicht, z. B. durch die New-Deal-Gesetzgebung der 1930er Jahre. Die Spannung zwischen den irisch-amerikanischen katholischen Reformern und den deutsch-amerikanischen katholische Rekontruktionisten und das, wofür sie steht, ist jedoch nach wie vor von erheblichem Interesse im gegenwärtigen politischen Klima in den USA. Die Demokraten hoffen, eine neue Ära der „Sozialdemokratie“ einzuleiten, die eher europäischen Modellen entspricht, während die Republikaner einen Großteil dieser Gesetzgebung aufheben würden, zum Beispiel die von Präsident Obama eingeführte allgemeine Krankenversicherung. Die Republikaner neigen dazu, private Sozialversicherung dem Wohlfahrts- und Verwaltungsstaat vorzuziehen. Jemand wie ich, der aus Europa in die Vereinigten Staaten gezogen ist, kann es kaum vermeiden, erschrocken zu sein über die Spaltung und Polarisierung der amerikanischen politischen Szene, die Gewaltausbrüche und die scheinbare Unfähigkeit beider Parteien, miteinander zu sprechen. Der liberale Konsens der Nachkriegszeit scheint dem politischen Sektierertum gewichen zu sein. Robert D. Putnam und Shaylyn Romney Garrett beschreiben diese gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Buch Upswing.17 Die Hauptthese dieses Buches ist, daß es eine überraschende Konstanz in der grafischen Darstellung der statistischen Analyse einer Reihe von Trends gibt: Zu- und Abnahme wirtschaftlicher 16

Nach und bereits während des Zweiten Weltkriegs sah eine Gruppe deutscher Ökonomen die dringende Notwendigkeit, zu einer freien Marktwirtschaft zurückzukehren, ohne jedoch soziale Belange unberücksichtigt zu lassen, was zu neuen Formen von Totalitarismus hätte führen können. Sie entwickelten ein System, das einen rechtlichen Rahmen schafft („Wirtschaftsverfassung“), den Wettbewerb reguliert, aber nicht in die Märkte eingreift, und gleichzeitig die Grundbedürfnisse der Bevölkerung sichert. Dieses System wurde nach dem Krieg erfolgreich eingeführt und ist mit dem „deutschen Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit verbunden. Das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ hat im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche Bedeutungen angenommen. Es wurde von der Sozialdemokratie benutzt, um massive Umverteilung durch Steuern zu bewirken und ähnelt so eher einer keynesianischen Mischwirtschaft als der ursprünglichen Konzeption. S. Peter Koslowski, The Social Market Economy: Theory and Ethics of the Economic Order, 1998. 17 Robert D. Putnam/Shaylyn Romney Garrett, The Upswing: How America Came Together a Century Ago and How We Can Do It Again, 2020.

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Gleichheit; Übergang vom politischen Tribalismus zur höflichen Zusammenarbeit trotz grundsätzlicher Meingungsverschiedenheiten und die Umkehr dieser Bewegung; Überwindung sozialer Isolation und Erstarken der Solidarität zwischen Klassen und Gruppen, und wiederum Verlust der Solidarität; Sieg des Gemeinschaftsgeists über Individualismus, und dann Trendwende ins Gegenteil. All diese Phänomene können in einer umgekehrten U-Kurve dargestellt werden, die um 1900 mit einem kurzen Ausrutscher in den wilden 1920er Jahren (eine Rückkehr zum Individualismus) bis zu ihrem Höhepunkt in den frühen 1960er Jahren zu steigen beginnt. Danach sinkt die Kurve auf das niedrige Niveau des Gemeinschaftsgeistes, das unsere Zeit charakterisiert, genauso wie sie die Gilded Age am Ende des 19. Jahrhunderts charakterisierte. Die Autoren nennen dies die „Ich-Wir-Ich-Kurve“. Ihre kontinuierliche Aufwärtsbewegung von der Gilded Age zur progressiven Ära wurde plötzlich um das Jahr 1967 gestoppt, als sich alles abrupt veränderte. Die Autoren vergleichen diese kulturelle Bewegung mit einem Vogelschwarm, der unerwartet und unvorhersehbar die Richtung seines Fluges ohne klare Ursache ändert. Die Autoren können keine klare Kausalität für die Ich-Wir-Ich-Kurve feststellen, sondern schlagen eine narrative Beschreibung vor. In allen von ihnen untersuchten Daten – wirtschaftliche Ungleichheit, politische Höflichkeit, kulturelle Einstellungen, Assoziationismus, religiöser Kongregationalismus und Spenden, rassische und geschlechtsspezifische Fortschritte – tritt die wirtschaftliche Ungleichheit hinter die anderen Veränderungen als mögliche Ursache zurück. Wirtschaftliche Ungleichheit scheint eher die Folge kulturellen Wandels zu sein als umgekehrt. Während also einige versucht sein könnten, im Sinn von Karl Marx die treibende Kraft dieses Phänomens in der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Klassen zu erblicken, sehen die erwähnten Sozialwissenschaftler die Kultur als zentrales Element des Wandels an. Isolierung und Herzenskälte führen zu einer Atomisierung der Gesellschaft und damit zu einer Abnahme des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Ich bin auf das Buch von Putnam und Romney Garrett eingegangen, weil die Debatte zwischen irischen und deutschen Katholiken in die progressive Ära und damit in die Aufwärtsphase der Ich-Wir-Ich Kurve fällt und sie so historisch umrahmt wird. Zudem ist Kultur ein zentrales Thema der katholischen Soziallehre. Was könnte die katholische Soziallehre und die Tradition des sozialen Katholizismus zu einer Kultur sozialer Freundschaft und Nachbarschaft beitragen? Gibt es in der alten Debatte zwischen den konservativen Rekonstruktionisten und den progressiven Reformern irgendetwas Relevantes für das heutige soziale Klima? Ich halte es für bezeichnend, daß beide Seiten der Debatte ihre Forderungen mit naturrechtlichen Argumenten begründeten. Das Naturrecht war und ist eine wichtige Quelle für die katholische Soziallehre, die katholische Gesellschaftslehre und die christliche Ethik im Allgemeinen. Eine neue, wiederbelebte Form des Naturrechts in der Sozialethik könnte das Element sein, das der deutsch-irischen Debatte entnommen und für unsere katholische Analyse von „DEI“ verwendet werden könnte. Damit wende ich mich nun dem Thema Naturrecht zu.

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III. Wiederbelebung welcher Naturrechtstradition? Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil verwendete die katholische Soziallehre das Naturrecht großteils deduktiv. Diese sogenannte „neoscholastische Naturrechtstradition“ ist, in dieser Verallgemeinerung wohl zu Unrecht, als Ideologie bezeichnet worden, die darauf abzielte, die politische Macht zurückzugewinnen, die die Kirche im Laufe der Moderne verloren hatte.18 Dies ist nicht der Ort, um die unterschiedlichen Positionen zum Naturrecht nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu untersuchen. Wir brauchen in unserer eigenen Zeit eine Hermeneutik der Evangelisierung, die für soziale Gerechtigkeit eintritt, aber zugleich den katholischen Glauben unverkürzt teilt, wie Papst Franziskus hervorgehoben hat.19 Eine Hermeneutik der Evangelisierung strebt danach, den katholischen Glauben zu den gewöhnlichen Männern und Frauen in dieser Welt von heute zu bringen, zu den „Menschen auf der Straße“.20 Ihr Ziel ist es nicht, die Lehre der Kirche zu ändern, sondern neue Formen und Ausdrucksformen des Glaubens zu finden, die die wirklichen Fragen und Empfindungen der Menschen ansprechen. Sie setzt daher voraus, daß sie den Menschen zuhört, denen sie helfen möchte. Papst Franziskus hat diese Bemühungen auf unterschiedliche Weise beschrieben: „Synodalität“21, „Begleitung“22, „Dialog“23. Sie alle drücken den pastoralen Ansatz aus, der notwendig ist, um den Glauben mit Feingefühl, ja Zärtlichkeit zu teilen. Die Theologie spielt dabei eine wichtige Rolle. Mit Lonergan unterscheide ich zwischen Religion und Theologie.24 Religion ist heilsnotwendig, Theologie nicht. Theologie bedeutet, den Glauben im Licht der Tradition und in der Gemeinschaft der Kirche zu denken und zu entwickeln. Theologie ist nicht bloße Wiederholung lehramtlicher Texte, aber dennoch ein kirchlicher Dienst, der Religion und Glauben im jeweiligen Kontext verständlicher machen kann und soll. In diesem Sinn ist Theologie nicht nur das Ergebnis der christlich-katholischen Religion, sondern auch der jeweiligen Kultur.25 Jeder neue kulturelle Kontext prägt die Art, wie der Glaube kommuniziert werden muß, und damit die Theologie. In die18 Charles E. Curran, Catholic Social Teaching 1891 – Present: A Historical, Theological, and Ethical Analysis, 2002, S. 58. 19 S. insbesondere Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, 24. November 2013, in: AAS 105 (2013), 1019 ff. 20 S. Mariano Delgado/Michael Sievernich, Zur Rezeption und Interpretation des Konzils der Metaphern, in: dies. (Hrsg.), Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils: Ihre Bedeutung für heute, 2013, S. 15 – 32. 21 Franziskus, Ansprache zur Eröffnung der Synode, 9. Oktober 2021, zugänglich unter www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2021/october/documents/20211009-aperturacamminosinodale.html (Zugriff: 20. Oktober 2023). 22 Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris Laetitia, 19. März 2016, in: AAS 108 (2016), 311 (401 – 409), Nr. 223 – 243. 23 Franziskus, Evangelii Gaudium (Fn. 19), Nr. 110 – 129, 238 – 258. 24 S. Bernard Lonergan, Theology in Its New Context, in: Robert M. Doran/John D. Dadosky (Hrsg.), Collected Works of Bernard Lonergan, Vol. 13, A Second Collection, 2016, S. 48 (51). 25 Ebd.

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sem Sinne kann und sollte es zwar eine Kontinuität des Glaubens vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geben, aber eine Diskontinuität in der Theologie. Die Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie im Jahr 2005 gibt hilfreiche Ansatzpunkte für diese Unterscheidung im Zusammenhang mit seiner Erklärung der „Hermeneutik der Reform“. Papst Benedikt unterscheidet bekanntlich zwischen der Kontinuität immerwährender Prinzipien und der Diskontinuität ihrer Anwendung und wählt so eine Art Mittelweg zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Seine Hermeneutik der Reform ist zu einer Hermeneutik der Evangelisierung ausbaufähig, die uns helfen kann, Gott in „DEI“ zu finden.

IV. Die Tradition der Naturrechtstradition Der erste Schritt in einer Hermeneutik der Evangelisierung besteht darin, das Bestehende zu bejahen: Man kann das Evangelium nur weitergeben, wenn man die Person oder Kultur liebt, in die man die Liebe und Wahrheit Christi bringen möchte. In einem zweiten Schritt muß man helfen, Sünde zu überwinden. Dies impliziert eine Umarmung von Liebe und Wahrheit zugleich, die uns Gott ähnlich macht, der sich als Liebe offenbart und sich selbst den Weg, die Wahrheit und das Leben nennt.26 Wir können mit Joseph Ratzinger argumentieren, daß ein Gott, der Wahrheit und Liebe in sich vereint, unsere Freiheit nicht gefährdet, im Gegenteil, er schafft unsere Freiheit. Wahrheit, Freiheit und die Verbindung zwischen beiden sind enorme philosophische und theologische Themen, die in diesem Kapitel nicht vertieft behandelt werden können. Ich werde meine Bemerkungen auf einige Pinselstriche aus der katholischen Tradition beschränken. Bekanntlich verband Johannes Paul II. die Freiheit mit der Wahrheit als deren Grundlage und Bedingung. Er tat dies in mehreren seiner Dokumente, darunter die Enzyklika Centesimus annus. Es überrascht nicht, daß Milton Friedman grundsätzlich dieser Enzyklika positiv gegenüberstand, aber einräumt, „daß die Aussage des Papstes, Gehorsam gegenüber der Wahrheit sei die erste Bedingung der Freiheit, mir Schauer über den Rücken jagte. … Wessen ,Wahrheit‘? Von wem festgelegt? Ein Echo der spanischen Inquisition?“27 Der Grund für Friedmans Empörung ist ein Mißverständnis: Johannes Paul II. spricht von der moralischen Bedeutung der inneren Freiheit, während Friedman sich auf soziale und politische Freiheit bezieht. Während jeder Mensch, auch derjenige, der sich irrt, politische Freiheit genießen soll (solange sie innerhalb der öffentlichen Ordnung bleibt), wird im katholischen Verständnis die moralische innere Freiheit durch die teleologische Struktur der menschlichen Natur definiert. Unsere praktische Vernunft orientiert sich an den Objekten, die wir für ein glückliches, blühendes und sinnvolles 26

S. Joh 14,6 und 1 Joh 4,7 – 21. Zitiert nach David Hollenbach SJ, The Global Face of Public Faith: Politics, Human Rights, and Christian Ethics, 2003, S. 128; er gibt Friedmans Kommentar wieder in: Comments in the Symposium ,The Pope, Liberty, and Capitalism‘, National Review, Special Supplement, 1991, S. S-4. 27

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Leben durch natürliche Neigungen benötigen. Die grundlegenden natürlichen Neigungen unserer Natur (Ernährung, Zugehörigkeit und Beziehungen) sind dank unserer gemeinsamen Natur für alle Menschen gleich. Auf dieser Ebene kann es keine Vielfalt geben. Die spezifischen Wege und Mittel, mit denen wir unseren natürlichen Neigungen nachgehen, sind jedoch vielfältig. Um auf unser Thema „DEI“ mit seinem Schwerpunkt in Sexismus und Rassismus zurückzukommen, ist es nicht schwer, die Relevanz von Wahrheit, Natur und Freiheit zu erkennen. Gerade um Minderheiten vor Ungerechtigkeit zu bewahren oder davon zu befreien, müssen wir auf einem ontologischen Fundament der Wahrheit aufbauen, das die demokratische Mehrheit (oder sonstigen Machthabern, die nicht demokratisch legitimiert sind) von Entscheidungen fernhält, die den Rechtsstaat aushebeln, und damit den Ast absägen würden, auf dem auch sie sitzen. Es ist eine gefährliche, selbstzerstörerische Strategie, objektive Wahrheit durch subjektive Entscheidungen zu ersetzen. Freilich besteht eine immanente Unmöglichkeit im demokratischen Prozess, solche Entscheidungen außerdemokratisch zu verhindern. Der einzige Weg führt über die Kultur – und die Geduld, Mäßigung und Kompromißbereitschaft. Die Kirche hat gerade den Auftrag, die menschliche Person, und damit auch die Demokratie, durch Humanökologie vor Selbstzerstörung zu schützen. Benedikt XVI. drückte dieses Anliegen mit folgenden Worten aus: „Es ist nicht überholte Metaphysik, wenn die Kirche von der Natur des Menschen als Mann und Frau redet und das Achten dieser Schöpfungsordnung einfordert. Da geht es in der Tat um den Glauben an den Schöpfer und das Hören auf die Sprache der Schöpfung, die zu mißachten Selbstzerstörung des Menschen und so Zerstörung von Gottes eigenem Werk sein würde. Was in dem Begriff „Gender“ vielfach gesagt und gemeint wird, läuft letztlich auf die Selbstemanzipation des Menschen von der Schöpfung und vom Schöpfer hinaus. Der Mensch will sich nur selber machen und sein Eigenes immer nur selbst bestimmen. Aber so lebt er gegen die Wahrheit, lebt gegen den Schöpfergeist. Die Regenwälder verdienen unseren Schutz, ja, aber nicht weniger der Mensch als Geschöpf, dem eine Botschaft eingeschrieben ist, die nicht Gegensatz zu unserer Freiheit, sondern ihre Bedingung bedeutet.“28

Ich verstehe nicht, wie die Ablehnung von Rassismus als sozialem Konstrukt auf etwas anderem als der ontologischen Gleichheit aller Menschen in Würde und Rechten beruhen kann. Die politische Tradition der USA und der Moderne auch in Europa begann mit der Verteidigung angeborener natürlicher Rechte, die die Macht der Regierung einschränken. Nun, so scheint es, würden sich manche Bürger absolute Staaten und Unternehmen wünschen, die in der Lage wären, die menschliche Natur zu verändern, um einen Übermenschen zu schaffen. Solche Versuche sind eine Umkehrung der ursprünglichen Konzeption: Statt der Begrenzung der staatlichen Macht durch die Natur, die Entgrenzung der staatlichen und wirtschaftlichen Macht zur Veränderung der menschlichen Natur. Dies verwirrt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, 28 Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang, 22. Dezember 2005, in: AAS 98 (2006), 40 ff.

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das zumindest in der angelsächsischen Tradition auch die gesetzgebende Gewalt einschränkt, sogar die des Verfassungsgebers. Im sozialen Denken beziehen wir uns auf das Naturrecht als Quelle moralischer Urteile und sozialer Prinzipien und Werte. Für einen modernen Rechtsphilosophen besteht der springende Punkt des Naturrechts darin, daß es an keinen Glauben gebunden ist. Es ist vielmehr ein Instrument, um moralische Ansprüche als rein rational und damit universell verbindlich für alle Menschen aller Zeiten und Orte darzustellen, unabhängig von ihrem Glauben und unabhängig davon, ob sie die Autorität der Kirche als moralische Gesetzgeberin akzeptieren oder nicht. Ich glaube jedoch, daß die naturrechtliche Tradition selbst, wie sie von der katholischen Gesellschaftslehre verwendet wird, nur dann verständlich ist, wenn sie in eine Tradition eingebettet ist. Diese größere Tradition, die ihren Horizont ausmacht, ist die des katholischen Glaubens, der auf der Heiligen Schrift beruht. Jean Porter anerkennt, daß die mittelalterlichen Scholastiker, die die westliche Naturrechtstradition entwickelten, vorchristliche Elemente im Naturrecht akzeptierten, insbesondere aus der stoischen Philosophie und der römischen Rechtstradition. Definitionsgemäß beruhten diese Elemente nicht auf christlichem Glauben, sondern allein auf Vernunft. Die Scholastiker verstanden jedoch die menschliche Natur und Vernunft als etwas, das von der Heiligen Schrift, mithin der Offenbarung, geformt wurde. Die Scholastiker übernahmen ihr Grundgerüst und den Inhalt des Naturgesetzes aus der Offenbarung.29 Porter schreibt speziell über die katholische Soziallehre und bekräftigt: „Yet at the same time, they [the Scholastics] interpreted reason itself in theological and, ultimately, scriptural terms. That is why they did not hesitate to draw on Scripture as well as rational arguments in order to determine the concrete content of the natural law, and it is also why they did not attempt to derive a system of natural law thinking out of purely natural data or rationally self-evident intuitions.“30

John Coleman weist darauf hin, daß dies hingegen genau der Versuch der modernen Vertreter des Naturrechts war, und ihr Projekt scheint gescheitert zu sein. Die unverwechselbar moderne Annahme, daß das Naturrecht nur auf nichtreligiöser Vernunft beruhen kann und von der Schrift getrennt gehalten werden muß, hat „zu dem letztlich fruchtlosen Versuch geführt, ein rein rationales Naturgesetz von dem zu trennen, was als seine biblischen und theologischen Anlagerungen angesehen 29 Jean Porter, Natural and Divine Law: Reclaiming the Tradition for Christian Ethics, 1999, S. 123 – 141. In diesem Kapitel möchte ich die Debatten der letzten Jahrzehnte über das Naturrecht nicht zusammenfassen oder verdauen. Ich stimme grundsätzlich Martin Rhonheimers philosophischem Vorschlag zum Naturrecht zu, siehe z. B. Martin Rhonheimer, The Perspective of Morality: Philosophical Foundations of Thomistic Virtue Ethics, 2015). Ich wähle Jean Porter, weil sie, wie ich meine, den theologischen Rahmen ans Licht gebracht hat in einer Weise, die zeigt, daß wir die christlichen Werte des Naturrechts nicht ohne Christus haben können. 30 Jean Porter, Catholic Social Thought and the Natural Law Tradition (unveröffentlichter Vortrag), zitiert nach John A. Coleman SJ, The Future of Catholic Social Thought, in: Kenneth R. Himes OFM (Hrsg.), Modern Catholic Social Teaching: Commentaries and Interpretations, 2005, S. 522 (530).

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wird“.31 Porter hingegen möchte den theologisch informierten mittelalterlichen Begriff des Naturrechts wiederbeleben und nicht seine moderne, halbautonome, rationale Variante.32 Ein solches katholisches Naturgesetz „is not an exclusively or distinctly Christian tradition. Many of its elements are clearly preChristian in origin. Jews, secularists, and Muslims have espoused their own variants of natural law. Yet the natural law was adopted by early Christian thinkers for specifically theological reasons and transformed by its appropriation into a distinctively Christian variant of the doctrine. Thus, this Christian tradition of natural law cannot be said to generate a universally valid morality which would be instantly recognized as such by all rational persons. But neither is it so fundamentally tradition-bound as to be unintelligible to nonbelievers or those in other traditions.“33

Diese Worte stimmen mich nachdenklich. Seit Beginn meiner akademischen Laufbahn habe ich danach gestrebt, christliche Werte zu säkularen Bedingungen zu vertreten. Damit meine ich, daß ich von der Möglichkeit überzeugt war, die Rechtsordnung moralisch zu untermauern, ohne Gott zu erwähnen, daß das Naturrecht allein der Vernunft zugänglich sei, daß die Menschenrechte ein angemessenes Instrument für eine natürlich moralische Gesellschaftsordnung seien. Ich war bewegt von dem Wunsch, eine größere Kommunikation mit und Akzeptanz durch Ungläubige zu erreichen, und, ehrlich gesagt, von der Angst vor Ausgrenzung und Spott. Ich denke jetzt, daß dieser Weg nicht ans Ziel führt. Wir haben versucht, authentisch christliche Werte wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit zu säkularen, westlichen Bedingungen zu verbreiten. Ich denke jetzt, daß wir, um diese Werte als authentisch säkulare Werte zu bewahren, die die säkulare Gesellschaft prägen, ihre christlichen Ursprünge sowohl für Christen als auch für unsere säkularen Gesprächspartner deutlich machen müssen. Das bedeutet nicht, daß ich einen konfessionellen Staat oder, schlimmer noch, einen Ausschluß von Nichtchristen vom Genuß dieser universellen humanistischen Werte wünsche. Ein solcher Ausschluß wäre eine selbstwidersprüchliche Negation des Evangeliums, eine Anti-Evangelisierung. Was ich meine ist, daß die christlichen Werte von Würde, Gleichheit und Freiheit, wie sie in westlichen Rechtssystemen existieren, ihre Wurzeln im christlichen Glauben haben. Sie sind authentisch christlich und haben ihren Ursprung in der Kombination biblischer Werte mit römischen Rechtsinstitutionen. Die Betonung des christlichen Ursprungs liberaler politischer und wirtschaftlicher Institutionen könnte Konservative zurückgewinnen, die zunehmend anti-bzw. postliberal geworden sind, und Katholiken, die davon abgehalten zu sein scheinen, moderne Institutionen als Orte anzusehen, an denen sie für die Welt arbeiten können.34 Angesichts von Abtreibung, 31

Porter (Fn. 29), S. 141. S. Coleman (Fn. 30), S. 530. 33 Ebd. 34 Eines der Verdienste des Buches von Robert R. Reilly, America on Trial: A Defense of the Founding, 2020, ist, daß es den impliziten, vielleicht zufälligen Katholizismus der amerikanischen Gründung im Gegensatz zur explizit antikatholischen Französischen Revolution aufzeigt. 32

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Transgenderismus, Auflösung der Ehe zwischen Mann und Frau als Grundlage des Familienlebens und anderer Widersprüche zur christlichen Anthropologie sind nicht wenige Katholiken skeptisch geworden gegenüber der Fähigkeit des Liberalismus, sich selbst zu heilen und seine Krise zu überwinden.35 Die Versuchung ist groß, den Liberalismus aufzugeben, sich eher der radikalen Rechten als den Sozialenzykliken anzuschließen und in eine dystopische Welt der Autokratien zu verfallen. Die Frage ist, ob wir die sozialen Errungenschaften der Aufklärung vor ihrer Selbstzerstörung bewahren können, indem wir den den wissenschaftlichen und philosophischen Modellen der Aufklärung innewohnenden Ausschluß christlicher Offenbarung überwinden. Die westlichen Gemeinwesen und Gesellschaften haben die Werte des christlichen Humanismus aus der Vergangenheit ererbt, aber der Brunnen, aus dem sie stammen, wurde aus Gründen versiegelt, die der Kultur des exklusiven Humanismus und Säkularismus zuzuschreiben sind, die einen Großteil der Moderne charakterisiert. Ein interessanter Vorschlag, um der Sackgasse zu entrinnen, in die uns das Austrocknen des Saftes, der unsere Kultur und die großen sozialen Prinzipien und Werte unserer Gesellschaft belebt, treiben würde, ist Rafael Domingos Verwendung von Gott als metarechtlichem Begriff.36 Dieser Ansatz stellt einen Mittelweg zwischen einer rein religiösen Grundlage des Rechtssystems (und damit einer Ablehnung der Säkularität des Staates) und der Negation Gottes durch den Säkularismus dar. Ein säkulares Rechtssystem kann die Offenbarung nicht als Quelle für seine Rechtsnormen verwenden; es darf jedoch Gott nicht ignorieren oder leugnen. Metarechtliche Begriffe unterstützen, erleuchten und stärken Rechtsbegriffe und -systeme. Gott ist einer von ihnen. Als metarechtlicher Begriff verlangt Gott keinen Glauben oder Beweis, sondern kulturelle Erfahrung, die das Rechtssystem verständlicher und humaner macht. Der Schutz der natürlichen Umwelt, die Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit sind Rechtsbegriffe, die von Gott als metarechtlichem Begriff gestärkt werden. Was aus der Ablehnung Gottes folgt, ist vergleichbar mit einem Fußballfeld, von dem jemand die Tore entfernt hat. Für einige Zeit erinnern sich die Spieler daran, wo sie standen; die Regeln machen für sie immer noch Sinn. Spätere Generationen vergessen jedoch oder wußten nie, daß es einmal Tore gab und die Regeln werden unverständlich. Etwas Ähnliches kann dem menschlichen intellektuellen Leben, der Kultur und der Gesellschaft passieren, wenn der Glaube als solcher prinzipiell aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen wird. Offenheit für die Möglichkeit der Transzendenz und des Unbekannten hält den Geist offen, um weitere Wahrheit zu entdecken – wir sind nie am Ende des Wissens. So wie der Glaube ohne Grund leicht fanatisch werden kann, kann die Kultur durch die ausdrückliche Ablehnung des Glaubens ideologisch werden.37 35

S. z. B. Patrick J. Deneen, Why Liberalism Failed, 2018; John Milbank/Adrian Pabst, The Politics of Virtue: Post-Liberalism and the Human Future, 2016. 36 Rafael Domingo, God and the Secular Legal System, 2016. 37 Siehe Benedikt XVI., Begegnung mit Vertretern der Gesellschaft Großbritanniens in Westminster Hall, 17. September 2010, in: AAS 102 (2010), 635 ff.

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V. Schlußfolgerung Aus dem Gesagten möchte ich zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens: Angesichts der Vorstellungen von „DEI“, die der christlichen Anthropologie feindlich gegenüberstehen, brauchen wir meiner Meinung nach eine neue Ära des persönlichen Zeugnisses: eine Generation von Christen, die ihren Glauben in der Öffentlichkeit unmißverständlich leben, ohne jedoch Anerkennung durch die kulturellen und intellektuellen Eliten zu erwarten und ohne nach Macht oder Herrschaft über andere zu streben.38 Dies ist ein einsames Projekt. Wer sich jedoch auf diese glaubensgeleitete Mission der kulturellen Transformation einer Gesellschaft einläßt, kann sicher sein, daß die von der christlichen Offenbarung erleuchtete Vernunft vernünftiger ist als die bloße Vernunft ohne Glauben. Die Offenbarung ist ein Licht in der menschlichen Vernunft, das nicht im wissenschaftlichen Sinne „bewiesen“ werden kann, aber im Leben der Christen leuchtet. Christliche Ethik ist die Kunst, die Erlösung Christi für diejenigen, die nicht glauben, überprüfbar, sichtbar, greifbar zu machen. Authentisches christliches Leben ist natürlich attraktiv, weil die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern heilt, vervollkommnet und erhebt. Diese Anziehungskraft stellt Papst Franziskus in den Mittelpunkt seiner pastoralen Hermeneutik der Evangelisierung. Er will keinen „Proselytismus“, sondern Anziehungskraft. In der skeptischen und sogar feindseligen Umgebung der modernen westlichen Gesellschaften müssen Christen Glaubenszeugen sein, die ihren persönlichen Glauben bekennen, daß Christus ihr Erlöser ist; daß er für sie gelebt, gestorben und von den Toten auferstanden ist; und daß er jetzt in ihrem Leben lebendig und aktiv ist. Dieses Leben zeigt sich in Nächstenliebe und Offenheit gegenüber den anderen. Christus selbst verband die Begriffe der Nächstenliebe, der Einheit und der Glaubwürdigkeit: „Aber ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast.“39 Diese Worte beschreiben, wie sich Jesus den Beweis für seine göttliche Mission vorstellt: der Beweis ist unsere gegenseitige Liebe. Um Christus der Welt zu präsentieren, müssen Christen seine wahren Ikonen sein, nicht seine Karikaturen. Dies führt mich zur zweiten Schlußfolgerung. „DEI“ fordert uns heraus, die Probleme an ihrem Ursprung ernst zu nehmen. Wir müssen gegenwärtiges und vergangenes Unrecht anerkennen und uns ihm stellen. Jede falsche Antwort in unserer Kultur ist eine Antwort auf eine echte und wahre Frage. Ein christlicher Zeuge sollte keine dieser Antworten von vornherein und reflexartig ablehnen, sondern fragen, was das eigentliche, zugrunde liegende Problem ist und wie die christliche Ethik Licht darauf werfen könnte. Die christliche Tradition des Naturrechts kann diese Aufgabe auf intellektueller Ebene unterstützen. Eines 38

Benedikt XVI. macht folgende wichtige Bemerkung in seiner Enzyklika Deus caritas est vom 25. Dezember 2005, in: AAS 98 (2006), 217 (238 – 240), Nr. 28: Die Katholische Soziallehre „will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen“. 39 Joh 17,20 – 21.

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ihrer wichtigen Prinzipien ist die Güte der Schöpfung, die prima facie Annahme, daß das, was existiert, gut ist. Dies ist vereinbar mit dem Realismus zu wissen, daß menschliche Personen sündig und soziale Institutionen zumindest zweideutig sind. Die Institutionen unserer Gesellschaft bedürfen ständiger Wartung, um nicht ungerecht oder unterdrückerisch zu werden. Das gemeinsame Gut einer Organisation ist ein Produkt, keine Summe. Dies drückt sich im Subsidiaritätsprinzip aus, das die vielfältigen Gaben aller Mitglieder der Gemeinschaft anerkennt und einschließt, die dazu beitragen, etwas einzigartig Neues zu schaffen. In diesem Sinne ist „DEI“ ein soziales Prinzip dritter Ordnung: Nach der Menschenwürde und dem Gemeinwohl kommt die Subsidiarität, dann Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion. Alles andere wären destruktiv. Summary “Diversity, Equality and Inclusion” (“DEI”) is a new social principle that calls on employers and academic institutions on both sides of the Atlantic to rethink. “DEI” targets important concerns and should therefore not be hastily dismissed by Christian social ethicists. This chapter draws lessons from a historical dispute between Irish Catholic social reformers and GermanAmerican Catholic reconstructionists. Both sides based their positions on natural law. Even today, natural law arguments, but in an explicitly Christian form, can provide a key to DEI and its legitimate concerns. As meta-legal concepts, God, human dignity, freedom and equality are conditions for the preservation of a free social system. In this sense, DEI is a third-order principle, after human dignity and the common good (first order), subsidiarity and solidarity (second order).

III. Herausforderungen für das Handeln von Staat und Kirche/Challenges for the State and the Church

Meinungsfreiheit in Zeiten von Wokeness und Cancel Culture Von Christian Hillgruber

I. Einleitung: Wokeness: Achtlos aus Achtsamkeit Bunte Vielfalt, die Diversität verspricht, ist das Gebot der Stunde, der Regenbogen die Fahne, die sie hißt. Alles, was bisher – durch die vermeintliche Übermacht alter weißer, heterosexueller, mysogener und homophober und wer weiß wie noch von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit besessener Männer strukturell diskriminiert – bestenfalls ein Schattendasein fristete, soll sich endlich voll und frei entfalten und so zu seinem gleichen Recht kommen. So viele Geschlechter und Lebensformen, so viele soziale Identitäten und Teilidentitäten wie heute gab es noch nie. Und es gilt sie alle, so die Lehre von der Intersektionalität, in ihren Verwobenheiten und Überkreuzungen achtsam wahrzunehmen und auf sie behutsam Rücksicht zu nehmen, um nicht der Gefahr gleich mehrfacher Diskriminierung ein und derselben Person zu erliegen, etwa einer farbigen Transperson. Nur mit der Vielfalt der Meinungen, namentlich über die neue, den einen oder anderen Zeitgenossen doch verwirrende oder abstoßende Vielfalt selbst steht es nicht zum Besten, obwohl der Meinungspluralismus doch zum Kern und Unterpfand der Demokratie zählt. Wem es in der schönen neuen Welt der Vielfalt schon zu bunt geworden ist, wer etwa der antiquierten Auffassung anhängt, es gebe so etwas wie ein biologisches Geschlecht, das nicht beliebig ausgetauscht werden könne, muß als cisgender seine Zunge hüten. Denn die neue Wahrheit duldet keinen Widerspruch. Wer sich in den Augen der Gralshüter der neuen Vielfalt einer auch nur verbalen Diskriminierung schuldig macht, was angesichts der unbestimmten Vielzahl an neuen Diskriminierungskategorien kaum vermeidbar ist, soll aus der Diskursgemeinschaft exkommuniziert werden. Er wird in den sozialen Medien an den Pranger gestellt und durch stigmatisierende Etikettierung als Rassist, Faschist oder aktuell „TERF“, d. h. als „trans-ausschließende radikale Feministin“ geächtet. Der verbale Frontalangriff im Gender War wird dabei zum legitimen Verteidigungsmittel gegen Diskriminierung erklärt. Es ist zu einem Trend geworden, daß Gruppen, die die moralische Deutungshoheit für sich in Anspruch nehmen, Einzelpersonen stigmatisieren, weil sie etwas gesagt oder getan haben, das von ihnen als andere (insbesondere Minderheiten) verletzend

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empfunden wird, und die betreffende Person nicht nur öffentlich maßregeln, sondern ihren guten Ruf dauerhaft zu zerstören suchen. So sollen bestimmte Arten von vermeintlich „falschem Denken“ aus der öffentlichen Diskussion verbannt werden. Oft sind die Zielpersonen Prominente, aber am meisten gefährdet sind aufstrebende, im Berufsleben stehende Menschen mittleren Alters, deren Karrieren abrupt enden und die ihre Arbeit verlieren können, wenn sie durch Veröffentlichung auch nur eines kontroversen Blogbeitrags oder Tweets auf dem Index sententiarum prohibitarum der selbsternannten Zensoren landen, die erbarmungslos soziale Existenzen vernichten.

II. Woke Privatzensur als Bedrohung der Meinungsfreiheit Was hier passiert, stellt eine ernst zu nehmende Bedrohung der Meinungsfreiheit (und zunehmend auch der Wissenschaftsfreiheit1) durch meinungsstarke und einflußreiche gesellschaftliche Gruppen dar. Und weil die Meinungsfreiheit „in gewissem Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt“ ist2, „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“3, handelt es sich dabei um einen Angriff auf die Freiheit schlechthin. In seinem Klassiker On Liberty, warnte John Stuart Mill 1859: „The peculiar evil of silencing the expression of an opinion is, that it is robbing the human race … If the opinion is right, they are deprived of the opportunity of exchanging error for truth: if wrong, they lose the clearer perception of truth, produced by its collision with error.“4 Für Mill erforderte die Selbstverbesserung der Menschheit einen „Marktplatz“ der Ideen, auf dem unterschiedliche Überzeugungen in einem offenen, transparenten öffentlichen Diskurs frei miteinander kommunizieren konnten, anstatt von der Regierung oder einem Teil der Gesellschaft zensiert zu werden. Mit der Zeit, so seine Überzeugung, würden Unwahrheiten und fehlgeleitete Meinungen auf natürliche Weise herausgefiltert, während die besten Ideen gedeihen und sich verbreiten würden. Doch die neue Orthodoxie spricht der „falschen Meinung“ einfach den Charakter als Meinung ab: Das, was sie für Rassismus, Homo- oder Transphobie, Misogynie etc. hält und erklärt, sei gar keine Meinung, sondern ein Verbrechen! Damit wird die „falsche“, wirklich oder vermeintlich vorurteilsbehaftete Meinung einfach aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus definiert und damit die Sphäre des öffentlich Sagbaren entsprechend eingeschränkt. 1

Siehe dazu nur Philipp Bender, Die Schutzverantwortung des Staates für eine freie Lehre, Wissenschaftsrecht 52 (2019), S. 27 ff. 2 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. 3 U.S. Supreme Court Justice Benjamin N. Cardozo in Palko v. Connecticut, zitiert in BVerfGE 7, 198 (208). 4 Chapter 2. Of the Liberty of Thought and Discussion, p. 19.

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Mill hatte in seinen Ausführungen zur Bedeutung der Meinungsfreiheit dieses Argument schon vorweggenommen: „Wir dürfen und müssen unsere Meinung für wahr halten, um unser eigenes Verhalten zu leiten, und es bedeutet nicht mehr als dies, wenn wir schlechten Menschen verbieten, die Gesellschaft durch die Verbreitung von Meinungen zu verderben, die wir für falsch und verderblich halten.“5 Es sei aber, so Mill, „ein großer Unterschied, ob man eine Meinung für wahr hält, weil sie trotz aller Widerspruchsmöglichkeiten nicht widerlegt worden ist, oder ob man sie für wahr hält, um ihre Widerlegung nicht zuzulassen. Die völlige Freiheit, unserer Meinung zu widersprechen und sie zu widerlegen, ist gerade die Bedingung, die es rechtfertigt, ihre Wahrheit zu Zwecken des Handelns anzunehmen; und unter keinen anderen Bedingungen kann ein Wesen mit menschlichen Fähigkeiten eine vernünftige Gewissheit haben, im Recht zu sein.

III. Die prima facie-Reichweite der (politischen) Meinungsfreiheit: (Fast) Alles ist sagbar Verfassungsrechtlich ist die Lage im Ausgangspunkt eindeutig. Eine Begrenzung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit auf ein bestimmtes Spektrum zulässiger Meinungen wäre in der individualschützenden wie der demokratischen Wirkungsweise dieses Grundrechts sinnwidrig bzw. kontraproduktiv: Soll die einzelne Persönlichkeit ihre Überzeugungen frei bilden und offen artikulieren können, so kann man ihr nicht von vornherein die Äußerung und Verbreitung bestimmter Werthaltungen verwehren. Nichts anderes gilt für die demokratische Dimension und Funktion der Freiheit zu politischer Meinungsäußerung: „Die Spontaneität freier Rede, für deren Zulässigkeit die Vermutung spricht, ist Voraussetzung der Kraft und der Vielfalt der öffentlichen Diskussion, die ihrerseits Grundbedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens ist. Soll diese Kraft und Vielfalt generell erhalten bleiben, dann müssen im Einzelfall Schärfen und Übersteigerungen des öffentlichen Meinungskampfes oder ein Gebrauch der Meinungsfreiheit in Kauf genommen werden, der zu sachgemäßer Meinungsbildung nichts beitragen kann“6 – etwa der vielbeschworene Populismus. Es versteht sich daher im Grunde von selbst, daß Meinungsäußerungen der grundrechtliche Schutz „nicht schon aus der Erwägung abgesprochen werden kann, dieses Grundrecht schütze nur ,wertvolle‘ Meinungen, d. h. Meinungen, die eine gewisse ethische Qualität besitzen.“7 Eine derartige Einschränkung widerspräche offensicht5 Chapter 2. Of the Liberty of Thought and Discussion, p. 21: „We may, and must, assume our opinion to be true for the guidance of our own conduct: and it is assuming no more when we forbid bad men to pervert society by the propagation of opinions which we regard as false and pernicious.“ 6 BVerfGE 54, 129 (138 f.) – Römerberg-Gespräche. 7 BVerfGE 33, 1 (14 f.) – Strafgefangene.

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lich dem Sinn dieser Freiheitsgarantie. „Denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit will nicht nur der Ermittlung der Wahrheit dienen; es will auch gewährleisten, daß jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann.“8 Meinungen genießen vielmehr stets „den Schutz des Grundrechts, ohne daß es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“9. Dies gilt auch und gerade ohne jede Einschränkung für politische Meinungsäußerungen. Es hat zunächst betont, daß Meinungsäußerungen, die ein (Un-)Werturteil zu gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen enthalten, und damit die Aufmerksamkeit des Bürgers auf allgemeine Mißstände lenken, den Schutz der Meinungsfreiheit „in besonderem Maße“ genießen10 ; öffentliche Kritik muß grundsätzlich zulässig sein11, unabhängig davon ob sie von anderen, unter Umständen sogar der Mehrheit als anstößig betrachtet wird: „Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten; seine Ausübung darf nicht allgemein und ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem Schutzzweck des Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, daß die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht widersprechen.“12 Im Wunsiedel-Beschluß hat das Gericht sodann die prima vista unbegrenzte Reichweite politischer Meinungsfreiheit herausgestellt: Die Bürger seien rechtlich nicht gehalten, „die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, daß die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht (…). Geschützt sind damit von Art. 5 Abs. 1 GG auch Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind. Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“13 Mehr noch: Solche Meinungsäußerungen können auch nicht aufgrund des qualifizierten Gesetzesvorbehalts, unter dem die Garantie der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG steht, untersagt werden; denn das Grundrecht schützt nicht nur das Haben und Äußern einer Meinung als solches, sondern auch und gerade das gei8

BVerfGE 42, 163 (171) – Deutschland-Stiftung. St. Rspr.; s. nur BVerfGE 90, 241 (247) – Zulässigkeit von Auflagen für eine Versammlung, in der die Leugnung der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ zu erwarten ist; BVerfGE 124, 300 (320) – Wunsiedel. 10 BVerfGE 102, 347 (359) – Benetton-Werbung. 11 BVerfGE 60, 234 (240) – Kredithaie. 12 BVerfGE 111, 147 (156) – NPD-Demonstration gegen Synagogenbau. 13 BVerfGE 124, 300 (320 f.) – Wunsiedel. Vorher bereits in diesem Sinne BVerfGK 2, 1 (5); 7, 221 (227). 9

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stige Wirken durch die Meinungsäußerung14, und diese Wirkungsdimension15 ist für sich genommen kein hinreichender Grund für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit.

IV. Meinungsfreiheit für Woke und Nichtwoke Was bedeutet dies nun für die geistige Auseinandersetzung zwischen Woken und Nichtwoken? Beide Seiten können sich prima facie auf die Meinungsfreiheit berufen, d. h. ihre Standpunkte in öffentlicher Rede vertreten und sich dabei auch scharf verbal attackieren. Übertreibungen und Polemik sind zulässige Handlungsmittel im offen ausgetragenen geistigen Meinungskampf, der mit harten Bandagen ausgetragen werden darf. Grundsätzlich sind dabei auch den Kontrahenten stark abwertende Werturteile über andere Personen oder bestimmte Geschehnisse oder Verhältnisse durch die Meinungsfreiheit gedeckt16. Daß eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts17. Vielmehr gilt: „Wer selbst eine starke Polemik gebraucht, (kann) sich nicht beleidigt fühlen (…), wenn der Gegner ihm mit gleicher Münze heimzahlt.“18 Der Staat als der Grundrechtsadressat hat die gleiche Meinungsfreiheit aller zu respektieren und infolgedessen gegenüber konkreten Auseinandersetzungen im politischen Meinungskampf in rechtsstaatlicher Distanz strikte Neutralität zu wahren und darf nicht Partei zu ergreifen. Nicht tragfähig für die Rechtfertigung von staatlichen Eingriffen in die Meinungsfreiheit ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder auf die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen zielt: „Eine Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt und allein aus dem Inhalt der Ideen und deren gedanklichen Konsequenzen folgt, ist notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit und kann für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein.“19

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BVerfGE 7, 198 (210) – Lüth; 97, 391 (398). BVerfGE 97, 391 (398). 16 BVerfGE 33, 1 (14 f.) – Strafgefangene. 17 BVerfGE 54, 129 (138 f.) – Römerberg-Gespräche; 61, 1 (7 f.) – CSU als „NPD Europas“; 93, 266 (289) – „Soldaten sind Mörder“. 18 BVerfGE 42, 143 (153), Sondervotum Rupp-von Brünneck; 154, 161 – DeutschlandMagazin. 19 BVerfGE 124, 300 (334) – Wunsiedel. 15

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V. Die staatliche Schutzpflicht für die Freiheit politischer Meinungsäußerung Andererseits muß er die Integrität des Prozesses freier Meinungsbildung auch gegenüber privaten Akteuren wirksam schützen. Schon ganz zu Beginn seiner Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit hat das BVerfG die Gefahr erkannt, daß die Bürger von der ihnen von Verfassungs wegen zustehenden Meinungsfreiheit keinen Gebrauch machen könnten, weil sie befürchten, daß der Freiheitsgebrauch ihnen Nachteile bringt. Bereits im Lüth-Urteil von 1958 heißt es: „Der Beschwerdeführer befürchtet, daß durch Beschränkung der Redefreiheit einem einzelnen gegenüber die Gefahr heraufgeführt werden könnte, der Bürger werde in der Möglichkeit, durch seine Meinung in der Öffentlichkeit zu wirken, allzusehr beengt und die unerläßliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen sei nicht mehr gewährleistet. Diese Gefahr besteht in der Tat.“20 Aus dieser Überlegung heraus, daß aus Furcht vor Sanktionen auch zulässige politische Kritik unterbleiben könnte, hat das BVerfG nach und nach die Argumentationsfigur des sog. Einschüchterungseffekts entwickelt21 und daraus namentlich gefolgert, daß in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumal im politischen Meinungskampf, auch Kritik hingenommen werden müsse, die in überspitzter und polemischer Form geäußert wird, weil andernfalls die Gefahr einer Lähmung oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses drohte und damit Wirkungen herbeigeführt werden, „die der Funktion der Meinungsfreiheit in der durch das Grundgesetz konstituierten Ordnung zuwiderlaufen“22. Aus Gründen der Meinungsfreiheit muß ein vom Grundrechtsgebrauch abschreckender Effekt vermieden werden23. Denn ein solcher „chilling effect“ im gesellschaftlichen Diskurs würde „nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist“24. Bei alledem ging es aber stets um staatliche Sanktionen gegenüber Meinungsäußerungen, nicht um das auf für anstößig erachtete Meinungen durch schärfste moralische Verurteilung des Äußernden reagierende Verhalten Privater. Letztere dürfen auf von ihnen entschieden abgelehnte politische Meinungsäußerungen grundsätzlich 20

BVerfGE 7, 198 (211) – Lüth. Siehe dazu nur mit zahlreichen Nachweisen Christian Rath, Karlsruhe und der Einschüchterungseffekt – Praxis und Nutzen einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, Kritische Justiz Beiheft 1/2009 „60 Jahre Grundgesetz“, S. 65 ff. 22 BVerfGE 54, 129 (138 f.) – Römerberg-Gespräche; 60, 234 (241) – Kredithaie; 82, 272 (282) – Zwangsdemokrat. 23 BVerfGE 99, 185 (197) – Helnwein. 24 BVerfGE 65, 1 (43) – Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. 21

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nicht nur sachlich, sondern auch polemisch und in einer die Äußernden persönlich scharf attackierenden Weise reagieren und dabei das Ziel verfolgen, daß diese Meinungen keine Zustimmung mehr finden, sondern isoliert bleiben, sofern sie sich dabei nicht illegitimer Mittel bedienen. Die für alle politischen Kräfte gleiche, definitive Grenze dieses Meinungskampfes – gewissermaßen die Essenz der für ihn geltenden verfassungsrechtlichen Spielregeln – besteht – neben dem Gewaltverbot und der Unzulässigkeit persönlichkeitsrechtsverletzender Schmähkritik einschließlich der tatbestandlich aus Gründen der Meinungsfreiheit allerdings restriktiv auf Fälle der Menschenwürdeverletzung beschränkten Volksverhetzung – darin, daß man der jeweils anderen Seite nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung abspricht oder tatsächlich zu nehmen versucht. 1. Schutz gegen gewaltsame Unterdrückung von Meinungsäußerungen Niemand darf den eigenen Ansichten diametral zuwiderlaufende Meinungsäußerungen gewaltsam oder durch einschüchternde Drohung mit Gewalt gegen Personen zu unterdrücken versuchen. Damit wird die Ebene des geistigen Meinungskampfes verlassen und endet der Grundrechtsschutz25. Hier agieren in Selbstermächtigung gesellschaftliche Kräfte, die sich als Gralshüter der politischen Korrektheit und als Hüter eines vermeintlichen demokratischen Grundkonsenses begreifen, die all diejenigen, die sie außerhalb desselben ansiedeln, mundtot machen wollen und dabei teilweise auch vor Sachbeschädigung und tätlichen Angriffen nicht zurückschrecken. Der Staat steht in der grundrechtlichen Schutzpflicht, derartige private Unterdrückung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Störung des öffentlichen Friedens abzuwehren und als Selbstjustiz zu ahnden26. 2. Schutz gegen grundlose Herabsetzungen mit Beleidigungscharakter Schwieriger sind die Fälle zu beurteilen, in dem der zum Feind erklärte Gegner im Meinungskampf durch schlagwortartige Zuschreibung einer allgemein als schlechthin inakzeptabel angesehenen Ideologie („Nazi“, „Faschist“, „Antisemit“, etc.) sozial geächtet, ja moralisch vernichtet werden soll. Jedenfalls in Deutschland führen solche Zuschreibungen zum bürgerlichen Tod der so bezeichneten Person. Um die haltlose, aber gleichwohl ihre verheerenden, zu einem totalen Ansehensverlust der betroffenen Personen führende, bedenkenlose Verwendung dieser Zuschreibungen abzuwehren, muß die der Meinungsfreiheit gesetzte Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) mobilisiert werden, zu denen die Strafvorschrift gegen Beleidigung (§ 185 StGB) zählt. 25

Vgl. für die Versammlungsfreiheit BVerfGE 84, 203 (209 f.). S. zu der aus Art. 8 GG erwachsenden Schutzpflicht, die darauf zielt, „die Durchführung von Versammlungen und Aufzügen zu ermöglichen sowie die Grundrechtsausübung vor Störungen und Ausschreitungen Dritter zu schützen“, BVerfGE 69, 315 (355 f.) – Brokdorf. 26

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Soll eine Meinung ihres beleidigenden Charakters wegen zivil- oder strafrechtlich sanktioniert werden, so erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit im Regelfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen27. Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne daß es einer Einzelfallabwägung bedarf28. Dabei handelt es sich um verschiedene Fallkonstellationen, an die jeweils strenge Kriterien anzulegen sind. a) Die schlechthin unzulässige Schmähkritik Der Charakter einer Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik folgt nicht schon aus einem besonderen Gewicht der Ehrbeeinträchtigung als solcher und ist damit nicht ein bloßer Steigerungsbegriff29. Auch eine überzogene, völlig unverhältnismäßige oder sogar ausfällige Kritik macht eine Äußerung noch nicht zur Schmähung, so daß selbst eine Strafbarkeit von Äußerungen, die die persönliche Ehre erheblich herabsetzen, in aller Regel eine Abwägung erfordert30. Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht31. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre erfordern regelmäßig die Berücksichtigung von Anlaß und Kontext der Äußerung32. Erfolgen solche allein auf die persönliche Kränkung zielenden Äußerungen unter den Kommunikationsbedingungen des Internets, handelt es sich nicht selten nicht mehr um Privatfehden, sondern um rücksichtslos ad personam geführten Meinungskampf, bei dem persönlich nicht bekannte Personen, auch des öffentlichen Lebens, entweder im Schutz der Anonymität des Internets oder auch ganz offen, ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Haß- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden. 27 Vgl. BVerfGE 7, 198 (212) – Lüth; 85, 1 (16) – Bayer-Aktionäre; 93, 266 (293) – „Soldaten sind Mörder“; 99, 185 (195 f.); st. Rspr. 28 Vgl. BVerfGE 82, 43 (51) – „Strauß deckt Faschisten“; 85, 1 (16) – Bayer-Aktionäre; 90, 241 (248) – Auschwitzlüge; 93, 266 (293 f.) – „Soldaten sind Mörder“; 99, 185 (196) – Scientology; st Rspr. 29 S. jüngst BVerfG, NJW 2020, 2622, Rn. 18 ff. 30 BVerfGE 82, 272 (283) – Zwangsdemokrat. 31 Vgl. BVerfGE 82, 272 (283 f.) – Zwangsdemokrat; 85, 1 (16) – Bayer-Aktionäre; 93, 266 (294, 303) – „Soldaten sind Mörder“; BVerfG, NJW 2019, 2600, Rn. 18 – scharfe Kritik an Verhandlungsführung einer Richterin. 32 BVerfGE 93, 266 (303) – „Soldaten sind Mörder“; BVerfG, NJW 2019, 2600, Rn. 18 – scharfe Kritik an Verhandlungsführung einer Richterin.

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Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient. Das bedeutet für unseren Zusammenhang, daß im Regelfall keine schlechthin unzulässige Schmähkritik vorliegt, weil und soweit die persönliche ehrenrührige Herabsetzung des anderen, der sich in den Augen der Woken des unentschuldbaren Verbrechens der Diskriminierung schuldig gemacht hat, als Nazi etc. an eine vorangegangene Äußerung oder ein vorheriges Verhalten desselben anknüpft und damit einen Sachbezug aufweist. b) Die Formalbeleidigung In Fällen der Formalbeleidigung ist das eine Abwägung entbehrlich machende33, maßgebliche Kriterium nicht der fehlende Sachbezug einer Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut mißbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form dieser Äußerung. Der Tatbestand der Formalbeleidigung erfaßt besonders krasse, aus sich heraus herabwürdigende Schimpfwörter – etwa aus der Fäkalsprache –, deren Verwendung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts vermissen läßt. Dem liegt die zutreffende Einschätzung zugrunde, daß die Bezeichnung anderer Personen mit solchen Begriffen sich gerade ihrer allein auf die Verächtlichmachung zielenden Funktion bedient, um andere unabhängig von einem etwaigen sachlichen Anliegen herabzusetzen. c) Der Angriff auf die Menschenwürde Die Meinungsfreiheit muß schließlich auch dann stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) eines anderen verletzt. Dies kommt indes nur in Betracht, wenn sich die Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.34 Die hier in Rede stehenden abschätzigen Bezeichnungen stellen sich, so schwerwiegend ehrverletzend sie sein können, weder als Formalbeleidigung noch als Angriffe auf die Menschenwürde der so etikettierten Personen dar.

33

Vgl. BVerfGE 82, 43 (51) – „Strauß deckt Faschisten“; 93, 266 (294) – „Soldaten sind Mörder“; BVerfG, NJW 2019, 2600, Rn. 18 – scharfe Kritik an Verhandlungsführung einer Richterin. 34 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 61, Rn. 40; NJW 2010, 2193, Rn. 31; jeweils m. w. Nachw. Aktueller Fall: BVerfG, NZA 2020, 1704, Rn. 18 – Adressierung einer Person nicht als Mensch, sondern als Affe.

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4. Die Notwendigkeit der Abwägung im Regelfall Liegt keiner der drei eng umgrenzten Ausnahmetatbestände vor, so steht damit noch keineswegs die Zulässigkeit der Äußerung fest. Es bedarf dann vielmehr einer Gewichtung der Beeinträchtigungen, die durch ein Verbot der Äußerung der Meinungsfreiheit einerseits, durch deren Zulassung dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen andererseits drohen. Bei der anzustellenden Abwägung spielen verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle: Mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung ist zunächst deren konkreter ehrschmälernder Gehalt erheblich. Dieser hängt insbesondere davon ab, ob und inwieweit die Äußerung grundlegende, allen Menschen gleichermaßen zukommende Achtungsansprüche betrifft oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälert. Ebenfalls kann in Rechnung zu stellen sein, ob eine abschätzige Äußerung die Person als ganze oder nur einzelne ihrer Tätigkeiten und Verhaltensweisen betrifft. Für das Gewicht der in die Abwägung einzustellenden Meinungsfreiheitsinteressen kann von Bedeutung sein, ob durch staatliche Sanktion die Freiheit berührt wird, bestimmte Inhalte und Wertungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, ob und wieweit also alternative Äußerungsmöglichkeiten selben oder ähnlichen Inhalts verbleiben. Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann, ja muß vor allem relevant sein, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlaß bestand, sie also eine hinreichende tatsächliche Grundlage hat, mag diese durch sie auch polemisch-überspitzt bewertet worden sein, oder aus der Luft gegriffen erscheinen. Darüber hinaus kommt es darauf an, welche konkrete Verbreitung und Wirkung die Äußerung entfaltet. Äußerungen in „sozialen Netzwerken“ im Internet, das bekanntlich nicht vergißt35, können eine dauerhafte negative Breitenwirkung haben, die den Betroffenen zu einer ehrlosen, jede soziale Achtung verlierenden Person werden läßt, ohne jede Hoffnung auf Resozialisierung. Deshalb müssen von Rechts wegen gegenüber einer auf die Person abzielenden, öffentlichen Verächtlichmachung äußerungsrechtliche Grenzen markiert werden. Das gilt ganz besonders für Bewertungen, die im geistigen Meinungskampf als tödliche Waffe moralischer Vernichtung eingesetzt werden wie der Vorwurf, Faschist, Nazi oder Antisemit zu sein.

35 Zu möglichen Löschungsansprüchen s. Art. 17 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sowie EuGH (Große Kammer), NJW 2014, 2257 – Google Spain SL und Google Inc./Agencia Española de Protección de Datos (AEPD) und Mario Costeja González; EuGH (Große Kammer), NJW 2019, 3499 – Google LLC, Rechtsnachfolgerin der Google Inc./Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL); BVerfGE 152, 152, Rn. 75 ff. – Recht auf Vergessen I; 152, 216, Rn. 98 ff. – Recht auf Vergessen II.

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5. Zwei Beispielsfälle 2019 entschied das VG Meiningen nach Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, daß die Bezeichnung des AfD-Politikers Björn Höcke als „Faschist“ im Rahmen des Kundgebungsthemas einer angemeldeten Versammlung vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt sei, weil die Auseinandersetzung in der Sache und nicht die Diffamierung der Person im Vordergrund gestanden habe36. Zwar könne die Bezeichnung „Faschist“ ehrverletzenden Charakter haben. Die Veranstalterin der Versammlung hatte zur Rechtfertigung des Kundgebungsthemas („Protest gegen die rassistische AfD insbesondere gegen den Faschisten Höcke“) geltend gemacht, „die Bezeichnung Faschist setze an realen Handlungen und Äußerungen Höckes an“ und dies mit Zitatstellen aus einem Buch Höckes und Presseberichten belegt37. Damit hatte sie nach zutreffender Ansicht „in einem für den Prüfungsumfang im Eilverfahren und angesichts der Kürze der für die Entscheidung des Gerichts verbleibenden Zeit in ausreichendem Umfang glaubhaft gemacht, daß ihr Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht“38. Es kommt für die Zulässigkeit der Bezeichnung als „Faschist“ nicht darauf an, ob diese Einschätzung allgemein geteilt wird; notwendig ist jedoch angesichts der mit ihr verbundenen sozialen Ächtung, daß sie eine tatsächliche Grundlage hat, die eine solche Bewertung nachvollziehbar macht39. Nicht zu überzeugen vermag vor diesem Hintergrund dagegen die Entscheidung des LG Offenburg, in der es um die Bezeichnung eines bei einer geplanten öffentlichen Veranstaltung als Redner angekündigten Vertreters einer politischen Partei ging, der ohne jede Begründung40 als „übelster Rassist“ und „Betreiber derbster Nazi Propaganda“ im Zusammenhang mit Äußerungen auf einem FacebookKonto bezeichnet wurde, bei denen es im Kern um die Warnung vor einer gegen 36

VG Meiningen, AfP 2019, S. 555 ff. Ebd., Rn. 17 f. 38 Ebd., Rn. 19. 39 Der mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einhergehende Schutz der sozialen Anerkennung des Einzelnen geht „nicht so weit, daß es dem Einzelnen einen Anspruch darauf verliehe, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte. Jedenfalls wird er aber vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen seiner Person geschützt, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind“; BVerfGE 99, 185 (194) – Scientology. 40 Erst im gerichtlichen Verfahren, in dem es um eine von dem betroffenen Redner beantragte einstweilige Verfügung ging, hat der Äußernde geltend gemacht, er „habe berechtigte Gründe zur Annahme, der Antragsteller vertrete rechtsnationale und/oder rechtsradikale Positionen, da er als einziger seiner Fraktion nicht die Erklärung, in welcher sich die Fraktion von Antisemitismus distanziert habe, unterzeichnet habe. Ferner habe der Antragsteller andere Abgeordnete als „Volksverräter“ bezeichnet (LG Offenburg, Urt. v. 24. Oktober 2017 – 4 O 272/17 –, juris, Rn. 27). Darauf hat das LG aber nicht abgestellt. Die Entscheidung mag daher im Ergebnis sogar vertretbar sein, die Begründung ist es, wie im Folgenden dargelegt wird, nicht. 37

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die Rundfunkgebühren gerichteten Versammlung als vermeintlich „getarnter“ Wahlveranstaltung der AfD im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 ging41. Das OLG hielt die Bezeichnung für durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt. Die Begriffe „Rassist“ und „Rassismus“ sowie der Begriff „Nazi Propaganda“ seien „nicht inhaltlich starr definiert“. Sie beschrieben vielmehr ganz verschiedene gesellschaftliche Phänomene, die in unterschiedlicher Ausprägung und Ausrichtung (wieder) vorkommen bzw. vorgekommen sind. Im politischen Diskurs, um den es hier gehe, werde der Begriff „Rassist“ bzw. „Rassismus“ inzwischen auch zur Beschreibung einer Haltung gebraucht, die bewußt und offensiv diskriminiert, nicht nur anhand der Hautfarbe oder Herkunft, sondern auch anhand der Religion oder Gesinnung. Ähnlich verhalte es sich mit dem Begriff „Nazi Propaganda“, der in heutiger Zeit im Zusammenhang mit offen auftretendem Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus wieder häufiger verwendet wird. Der Begriff sei nicht mehr eingeengt auf Anhänger des Nationalsozialismus und dessen hinreichend bekannte Themen, u. a. die Vorgenannten, und daher nicht damit gleichzusetzen. Beschrieben werde damit heutzutage vielmehr der Vorgang einer Stimmungsmache mit bestimmten – emotional besetzten – Themen. Daß die fraglichen Begriffe heute inflationär verwendet werden und jede Trennschärfe eingebüßt haben, ist zutreffend, mindert aber eben gerade nicht die mit ihnen verbundene Herabwürdigung in der Öffentlichkeit, die vielmehr an dem den Begriffskern bildenden Bedeutungsgehalt anknüpft42. Das Perfide des alltäglichen Gebrauchs dieser Bezeichnung in Fällen bloß populistischer Stimmungsmache liegt gerade in der Asymmetrie von Anlaß und Wirkung. Die Bezeichnung reagiert auf das ubiquitäre Phänomen der Vereinfachung und Emotionalisierung von Sachverhalten, die zwar einem rationalen politischen Diskurs abträglich ist und daher kritikwürdig erscheint, aber, will man den Nationalsozialismus nicht in grotesker Weise verharmlosen, mit diesem offensichtlich nicht gleichgesetzt werden kann und darf. Daß der Vorwurf des Rassismus und der Nazi-Propaganda gegenüber dem Redner nicht mit Fakten unterlegt war, hielt das LG Offenburg indes für unschädlich. „Die Offenbarung der tatsächlichen Bezugspunkte für eine Meinung sei nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit ihrer Äußerung.“43 Das ist zwar im Ausgangspunkt zutreffend, kann aber nicht einschränkungslos für schwerwiegend ehrenrührige Vorwürfe 41

LG Offenburg, Urt. v. 24. Oktober 2017 – 4 O 272/17 –, juris. Der gegen vermeintlich transphobe Feministinnen eingesetzte Kampfbegriff TERF’s dürfte, obwohl von den Verwendern – nicht anders als „bitch“ oder „witch“ als beleidigendes Schimpfwort verstanden – schon deshalb nicht die gleiche Wirkung sozialer Existenzvernichtung haben, weil er bisher im Wesentlichen nur in der Blase woker Queerfeminist(inn)en gebräuchlich ist und sich in seinem pejorativen Bedeutungsgehalt noch nicht in der breiten Öffentlichkeit etabliert hat. Im Übrigen ist er zwar abschätzig gemeint, aber umschreibt im Wesentlich zutreffend den in Rede stehenden Tatbestand: die – wie auch immer zu beurteilende – Ausgrenzung von Transfrauen aus der Gruppe der sich über ihr biologisches Geschlecht definierenden Gruppe der Frauen durch eine bestimmte Richtung des Feminismus. 43 LG Offenburg, Urt. v. 24. Oktober 2017 – 4 O 272/17 –, juris, Rn. 82. 42

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gelten, wie sie hier geäußert worden sind. Insoweit muß, wie dargelegt, eine Tatsachenbasis bestehen, die eine solche Herabsetzung mit der Wirkung sozialer Ächtung zumindest ansatzweise plausibel macht. Andernfalls wäre man Ehrabschneidungen schutzlos ausgeliefert. Das LG Offenburg erklärte demgegenüber kurzerhand, der beschimpfte Redner sei „in der von ihm – selbst gewählten – Sozialsphäre als Mandatsträger der AfD und als öffentlich Mitwirkender betroffen“44 – als ob der Vorwurf „übelster Rassist“ sich auf die Sozialsphäre beschränken ließe und nicht die ganze Persönlichkeit trifft?! – und urteilte lapidar: Der Redner „muß in dieser Situation, in die er sich selbst gebracht hat“ – weil er vor einer Bundestagswahl die Öffentlichkeit gesucht hat –, „auch stark vereinfachende und drastische Einordnungen seiner politischen Gesinnung (,übelster Rassist‘, ,derbste Nazi Propaganda‘) hinnehmen“45.

VI. Wider die einschüchternde Praxis sachlich unhaltbarer Zuschreibung verwerflicher Geisteshaltungen Diese Rechtsprechung verkennt die Bedeutung des Schutzes der persönlichen Ehre sowohl für die Würde und Selbstachtung des Menschen wie auch für die Demokratie. „Der Mensch ist auf Gemeinschaft hin angelegt, nicht ein isoliertes Individuum. Ein Rufmord, der ihn seines sozialen Umfelds beraubt, gehört neben Mord, Körperverletzung und Raub seiner gesamten Habe zum Schlimmsten, was einem Menschen angetan werden kann. Seine Freunde und Nachbarn ziehen sich zurück, sie grüßen nicht mehr, wechseln auf die andere Seite der Straße, wenn sie ihm begegnen. Er weiß: Sie denken, was über mich verbreitet worden ist, sei wahr. Er hat praktisch keine Möglichkeit, sich aus dieser Schande und Isolation zu befreien. Das ist ein hinreichendes Motiv, sich aus Beruf und öffentlichem Leben zurückzuziehen, die Heimat zu verlassen oder sich das Leben zu nehmen. Der ungerechtfertigte Angriff auf den guten Ruf eines Menschen ist ein Angriff auf seine Menschenwürde. Der Schutz der persönlichen Ehre ist aber darüber hinaus ebenso wie der der Meinungsfreiheit konstitutiv für die Demokratie. Wer sich am öffentlichen Leben beteiligt, sei es auch nur, indem er zu besonderen Sachverhalten öffentlich Stellung nimmt, ist einem erhöhten Risiko öffentlicher Angriffe ausgesetzt. Dieses Risiko ist ihm zuzumuten, wenn er weiß, daß ihn die Rechtsordnung vor Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung wirksam schützt. Kann er sich dessen nicht mehr sicher sein, so setzt er sich durch Beteiligung am öffentlichen Leben unkalkulierbaren Gefahren aus. Sensiblere Menschen, die an sich bereit wären, sich im öffentlichen Leben zu exponieren, scheuen das Risiko und verzichten lieber auf die Beteiligung am demokratischen Leben. Denn sich ohne Rechtsschutz Diffamie-

44 45

Ebd., Rn. 83. Ebd., Rn. 86.

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rungskampagnen auszusetzen, erfordert mehr als Zivilcourage und kann billigerweise von niemandem erwartet werden.“46

Den woken, aus sich selbst zugeschriebener Achtsamkeit gegenüber allen anderen, ihre Sichtweise nicht teilenden Bürgern in kühler Berechnung der dadurch zu gewinnenden Meinungsmacht acht- und rücksichtlos agierenden Ehrabschneidern darf deshalb nicht das Feld überlassen werden. Ihnen muss der Staat durch wirksamen Ehrenschutz das einschüchternde Handwerk legen. Das ist gleichermaßen zur Abwehr von Persönlichkeitsgefährdungen durch diese selbsternannten moralischen Scharfrichter wie zum Schutz der Demokratie geboten. Sonst wird „ein circulus vitiosus ausgelöst: Je hemmungsloser die Angriffe auf die persönliche Ehre geführt werden dürfen, desto mächtiger werden diejenigen, die über die Instrumente des Rufmords verfügen. Je mächtiger sie werden, desto mehr Angst flößen sie ein, und desto mehr Lohn verspricht es zugleich, ihnen zu Diensten zu sein und ihren Wünschen entgegenzukommen.“47

VII. Die Verteidigung der Universität als Ort freier Rede Eine der political correctness geschuldete Cancel Culture bedroht zunehmend auch die Wissenschaftsfreiheit. Ort der Wissenschaft sind keine Wohlfühlräume, sondern vielmehr gerade Orte systematischer und produktiver geistiger Verunsicherung! Alles andere ist ein groteskes Mißverständnis der Aufgabe von universitärer Wissenschaft. Wer auch geistig in Watte gepackt sein und bleiben will, wen fremde, nicht geteilte Auffassungen als vermeintliche „sprachliche Gewalt“ verstören, sollte die Universität, „marketplace of ideas“, als „gefährlichen Ort“ unbedingt meiden! Freie Wissenschaft duldet keine Denk- und Sprechverbote, sondern lebt vom freien Austausch wissenschaftlich fundierter Meinungen, von dem sie sich wissenschaftlichen Fortschritt verspricht. Wo Wissenschaftsfreiheit herrscht, kann es keine ein für alle Mal feststehenden Wahrheiten geben. Die in der Wissenschaft vorherrschende Auffassung zu einem Problem ist gewissermaßen nur der letzte Stand der Irrtümer. Die Wissenschaft lebt geradezu von der permanenten Infragestellung vermeintlicher Wahrheiten. Wie sehr diese Einsicht sich zunehmend in Frage gestellt sieht und der energischen Verteidigung bedarf, zeigt eine erst jüngst ergangene Entscheidung des United States Court of Appeals for the Eleventh Circuit im Fall Speech First, Inc. v. Cartwright vom 21. April 2022, in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren48. 46 Martin Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, S. 1897 (1897 f.). Siehe auch Udo Di Fabio, in: Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Art. 2 Abs. 1 (Stand: Juli 2001), Rn. 169; BVerfGE 99, 185 (193 f.) – Scientology. 47 Kriele (Fn. 46), S. 1905. 48 Abrufbar unter https://casetext.com/case/speech-first-inc-v-cartwright (Zugriff: 20. Oktober 2023).

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In der Berufung gegen die Ablehnung eines Antrags auf eine einstweilige Verfügung mußte entschieden werden, ob zwei von der University of Central Florida erlassene Richtlinien zur Meinungsäußerung – eine, die mehrere Formen der Meinungsäußerung verbietet, die als „diskriminierende Belästigung“ gelten, und eine andere, die auf so genannte „voreingenommene Vorfälle“ abzielt –, wahrscheinlich gegen den ersten, die Garantie der Freiheit der Rede beinhaltenden Verfassungszusatz verstoßen. Die Richtlinie über diskriminierende Belästigung (discriminatory-harassment policy) verbietet „verbales, körperliches, elektronisches oder sonstiges Verhalten“ auf der Grundlage einer langen Liste von Merkmalen, darunter „Religion (oder) Nicht-Religion“, „genetische Informationen“ und „politische Zugehörigkeit“ und gilt für jegliches Verhalten, das beispielsweise die „Teilnahme an einem Universitätsprogramm oder einer Aktivität“ eines anderen Studenten „in unangemessener Weise beeinträchtigt“. Die Richtlinie betont, daß diskriminierende Belästigung „viele Formen annehmen kann“ – darunter im weitesten Sinne „verbale Handlungen, Beschimpfungen, grafische oder schriftliche Äußerungen (…) oder andere Verhaltensweisen, die erniedrigend sein können“. Auf der Grundlage der „Gesamtheit der bekannten Umstände“ und unter Verwendung einer nicht erschöpfenden Liste von Faktoren soll im Einzelfall festgestellt werden, ob eine Äußerung eines Studenten den Verbotstatbestand erfüllt. Schließlich verbietet die Richtlinie den Studenten nicht nur die Begehung der genannten Handlungen, sondern auch das „Dulden“, „Ermutigen“ oder sogar das bloße „Nicht-Eingreifen“, um sie zu verhindern. Die Richtlinie über voreingenommene Vorfälle (bias-related incidents) schafft einen Mechanismus, mit dem ein Student der Universität anonym einer „Haß oder Voreingenommenheitshandlung“ beschuldigt werden kann, d. h. einer „beleidigenden“ Handlung, selbst wenn diese „legal“ und „unbeabsichtigt“ ist und sich gegen eine andere Person aufgrund einer Reihe von Merkmalen richtet, die sich an die in der Richtlinie über diskriminierende Belästigung aufgeführten Merkmale anlehnen. Ein die gesellschaftliche Vielfalt abbildende „Gerechte Richter Antwortteam“ (Just Knights Response Team) „überwacht“ und „verfolgt“ in einem vermuteten Zusammenhang mit Vorurteilen stehende Vorfälle, „koordiniert die Ressourcen der Universität“, stellt eine „umfassende Reaktion“ zusammen und koordiniert erforderlichenfalls „Interventionen“ bei den betroffenen Parteien. Beide Richtlinien seien in verfassungswidriger Weise zu weit gefaßt, und die Richtlinie über diskriminierende Belästigung schränke auch die Meinungsäußerung auf der Grundlage von Inhalt und Standpunkt unzulässig ein. Das Gericht teilte diese Auffassung. Die Richtlinie über diskriminierende Belästigung schrecke objektiv von Meinungsäußerungen ab, da ihre Anwendung einen vernünftigen Studenten dazu veranlassen würde, die Äußerung potenziell unpopulärer Überzeugungen zu fürchten. Die terminologische Ungenauigkeit der Richtlinie verschärfe ihre abschreckende Wirkung noch. Richter Newsom konstatierte: „In Anbetracht der erstaunlichen Breite – und Schlüpfrigkeit – der Richtlinie über diskri-

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minierende Belästigung ist es unserer Meinung nach klar, daß ein vernünftiger Student befürchten könnte, daß seine Äußerungen ihn mit der Universität in Konflikt bringen würden, und daß er besser den Mund halten sollte.“ Nicht anders verhalte es sich mit der bias-related-incidents policy: Ein durchschnittlicher Student im College-Alter würde durch die Unterwerfung unter die Richtlinie und die Rolle des Just Knights Response Team bei deren Durchsetzung eingeschüchtert – und dadurch von der Ausübung seiner Rechte auf freie Meinungsäußerung abgehalten. Kein vernünftiger Student möchte das Risiko eingehen, eines „beleidigenden“, „feindseligen“, „negativen“ oder „schädlichen“ Verhaltens beschuldigt zu werden – ganz zu schweigen von „Haß oder Vorurteilen“. Ebenso wenig würde der durchschnittliche Student das Risiko eingehen wollen, daß die Universität ihn deswegen „verfolgt“, „überwacht“ oder eine „umfassende Reaktion“ gegen ihn einleitet. In der Sache seien die Richtlinien mit dem First Amendment aus zwei Gründen unvereinbar. Zum einen sei eine Regelung, die wesentlich mehr Redebeiträge verbiete, als der Erste Verfassungszusatz erlaube, zu weit gefaßt und daher ungültig. Zum anderen handele es sich auch um eine unzulässige Beschränkung der Meinungsäußerung aufgrund von Inhalt und Sichtweise. Der Oberste Gerichtshof habe immer wieder den grundlegenden Grundsatz des ersten Verfassungszusatzes bekräftigt, daß „Meinungsäußerungen nicht mit der Begründung verboten werden dürfen, daß sie Ideen ausdrücken, die beleidigend sind“. Inhaltsbezogene Beschränkungen der Meinungsfreiheit müßten einer strengen Prüfung standhalten, und solche, die auf einem bestimmten Standpunkt beruhten, seien verboten, und zwar per se. Zum Abschluß seines Votums wird Richter Newsom grundsätzlich, und seine Ausführungen verdienen es, zitiert zu werden: „Nirgendwo ist die freie Meinungsäußerung so wichtig wie in unseren führenden Hochschulen. Hochschulen und Universitäten dienen als Quellen – und als Testgelände – für neue Ideen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Studenten in die Lage zu versetzen, Argumente kritisch zu prüfen und, was vielleicht noch wichtiger ist, junge Bürger darauf vorzubereiten, sich am bürgerlichen und politischen Leben unserer demokratischen Republik zu beteiligen. … Dementsprechend ist es zwingend erforderlich, daß Hochschulen und Universitäten bei der Überwachung, Beaufsichtigung und Regulierung der studentischen Meinungsäußerung die verfassungsmäßige Linie einhalten.“

Richter Marcus pflichtete in seiner Concurring Opinion Richter Newsom bei: „Ich schreibe gesondert, um die große Gefahr zu unterstreichen, die von einer Politik ausgeht, die das Festhalten an einem intellektuellen Dogma effektiv vorschreibt. Die Geschichte warnt uns eindringlich vor den Zeiten und Orten, an denen Hochschulen und Universitäten aufgehört haben, nach der Wahrheit zu suchen, und sich stattdessen in Kathedralen für die Anbetung bestimmter Dogmen verwandelt haben. Wenn eine Gesellschaft sich selbst akademischer Institutionen beraubt, die die Wahrheit über alle anderen Belange stellen, läuft sie Gefahr, in den Abgrund der Unwissenheit zu stürzen. Die Menschen sind nicht klug genug, um Ideen zu haben, die nicht hinterfragt und diskutiert werden können. Eine Politik der Dis-

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kriminierung und Belästigung, die davon ausgeht, daß die populärste Idee oder die Idee, die am wenigsten ,die Bedingungen der Bildung beeinträchtigt, einschränkt, entzieht oder verändert‘, die richtige ist, steht eindeutig im Widerspruch zum Ersten Verfassungszusatz und unserer Vorstellung von Redefreiheit. Gerade in einem universitären Umfeld müssen unsere grundlegenden Ideen geprüft und neu untersucht werden. Der Prozeß ist nicht unbedingt sanft oder gar herzlich, aber er darf nicht unterbrochen werden, weil er manchmal unangenehm, provokativ oder ärgerlich ist. … Die Richtlinie der Universität zu diskriminierender Belästigung berührt jedes denkbare Thema, das auf einem College-Campus zur Sprache kommen kann. Religion, politische Zugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, nationale Herkunft, Alter, Geschlechtsidentität oder -ausdruck und genetische Informationen sind nur einige wenige, die von der Richtlinie erfaßt werden. Das Schreckgespenst der Bestrafung für die Äußerung unorthodoxer Ansichten zu diesen Themen erstickt eine rigorose intellektuelle Debatte im Keim. Und der Schaden ist nicht auf Professoren und Studenten beschränkt, solange sie sich auf dem Campus befinden. Unsere zukünftigen bürgerlichen und wissenschaftlichen Führungskräfte werden diese Werte nach ihrem Abschluß sicherlich mitnehmen. … Eine Universität, die dem Schutz von Gefühlen oder einem sicheren intellektuellen Raum höchste Priorität einräumt, hat ihre Kernaufgabe aufgegeben. Der Schutz von Gefühlen oder die Schaffung eines sicheren Raums mag in manchen Situationen, wie bei einem Familienessen, zu Recht das oberste Ziel sein, aber für eine Universität ist es nicht richtig. Ihre eindeutige Aufgabe muß das Streben nach Wahrheit bleiben.“

Marcus zitiert abschließend John Stuart Mill mit seiner berühmten Formulierung zu „the peculiar evil of silencing the expression of an opinion“, die hier bereits wiedergegeben worden ist.

VIII. Fazit Damit schließt sich der Kreis und es bleibt festzuhalten: Die Verteidigung der Meinungsfreiheit sieht sich in Zeiten von Wokeness und Cancel Culture einer doppelten Herausforderung gegenüber: Sie muß den freien „marketplace of ideas“ gegen „wettbewerbsverzerrende“ Verengungen und Schließungen verteidigen und zugleich die durch grundlose Verächtlichmachung von Äußernden in und über soziale Netzwerke nicht weniger als durch restringierende staatliche Regulierung eintretende Einschüchterungseffekte, die von der Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit abhalten können, abwehren49. So oder so geht es um nichts weniger als die Erhaltung einer mittlerweile ernsthaft bedrohten, für eine demokratische Gesellschaft schlechthin konstitutiven Freiheit. 49 Die Abwehr von privaten Beschränkungen der Meinungsfreiheit fällt in Amerika deutlich schwerer als in Deutschland, weil das amerikanische Verfassungsrecht weder eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte noch eine den Grundrechten immanente Schutzpflichtendimension kennt, so daß es einer state action bedarf, um eine verfassungsrechtliche Kontrolle am Maßstab der Grundrechte zu eröffnen. Der Fall Speech First, Inc. v. Cartwright, betraf denn auch eine staatliche Universität.

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Summary Colorful diversity is the order of the day. Only the diversity of opinions, especially about the new diversity itself, which confuses or repels some contemporaries, is not universally appreciated, although pluralism of opinion is one of the central values and promises of democracy. Anyone who, in the eyes of the guardians of the grail of the new diversity, is guilty of even verbal discrimination, which is hardly avoidable in view of the indefinite multitude of new discrimination categories, is to be excommunicated from the discourse community. He is pilloried in the social media and ostracized by stigmatizing labeling as racist, fascist, or currently “TERF,” i. e., “trans-exclusionary radical feminist.” The defense of free speech faces a double challenge in times of wokeness and cancel culture: It must defend the free “marketplace of ideas” against “competition-distorting” constrictions and closures, and at the same time fend off the intimidating effects of gratuitous disparagement of expressers on and through social networks no less than restrictive state regulation, which can discourage the exercise of free speech. Either way, what is at stake is nothing less than the preservation of a fundamental freedom that is now seriously threatened.

„Es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt“ (2 Tim 4,3): Herausforderungen für den Verkündigungsdienst der Kirche Von Stefan Mückl

I. Maximen einer neuen Zeit Gesellschaftliche und politische Umbrüche finden – in Geschichte wie Gegenwart – ihre prägnante Zielbeschreibung in einer Maxime1. Je eingängiger und allgemeiner sie gefaßt ist, um so größer ist ihre Durchschlagskraft. Entscheidend für ihren Erfolg ist, daß sie sich einerseits (explizit oder unausgesprochen) von einer negativ konnotierten Vergangenheit abhebt, um sodann positiv eine um so hellere Zukunft zu verheißen. Die in der neueren Geschichte wirkmächtigste Maxime war der Dreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution. Ideengeschichtlich in der Zeit der Aufklärung gereift, bildete er das zündende Gegenprogramm zu einer Staats- und Gesellschaftsordnung, deren Grundpfeiler Absolutismus, Feudalismus und Standesprivilegien waren. Eine vergleichbare Rolle wie beim Umbruch von der Vormoderne zur Moderne scheint in unseren postmodernen und postfaktischen Zeiten ein anderer Dreiklang einzunehmen: „Vielfalt, Gleichstellung, Inklusion“. Anders als der große Bruder aus dem 18. Jahrhundert, hat die neue Maxime weder einen längeren diskursiven Prozeß durchlaufen noch vermochte sie eine annähernd gleiche Publizität zu erreichen. Sie war, so der Eindruck, auf einmal „da“ – und erhebt schon dadurch, mit der subtilen Insinuation des Selbstverständlichen, allgemeine Geltung, welche die Frage nach einer inhaltlichen und konzeptuellen Begründung wie Rechtfertigung erst gar nicht aufkommen läßt. Dem politischen Prozeß mit Rede und Gegenrede hat sich die Maxime jedenfalls nicht stellen müssen, ihre rechtlichen Konturen sind allenfalls schemenhaft erkennbar. Ihre wirkmächtigen Verfechter wie Anwender findet die Maxime bei (im Regelfall international organisierten) Non-Profit-Organisationen und Wirtschaftsunter1

Zum Begriff der „Maxime“ geht auf Boethius zurück („De topicis differentiis“, Liber Primus, 1176C: „Et illae [scil.: propositiones] quidem quarum nulla probatio est, maximae et principales vocantur.“). In der „Metaphysik der Sitten“ (1797) definiert Immanuel Kant wie folgt: „Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will.“) – Hervorhebung im Original.

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nehmen. Ersteren geht es erklärtermaßen um die Veränderung der Welt: So läßt sich Rotary International von der „Überzeugung“ leiten, „daß die Förderung einer Kultur basierend auf Diversität, Gleichstellung und Inklusion unerläßlich ist, um unsere Vision einer Welt zu verwirklichen, in der Menschen gemeinsam beginnen, nachhaltige Veränderungen zu schaffen.“2 Knapper noch bekennt die „Open Society“ den Glauben, „daß Integration, Gleichberechtigung und Vielfalt grundlegende Bausteine einer offenen Gesellschaft sind.“3 Deutlich pragmatischer ist der Zugriff der internationalen Wirtschaftsunternehmen – es geht um die Steigerung der Geschäftsergebnisse, in den Worten einer bekannten Beratungsgesellschaft: „Nachweislich erzielt ein divers aufgestelltes Unternehmen profitablere Geschäftsergebnisse und sichert den langfristigen Unternehmenserfolg durch eine zufriedenere und produktivere Belegschaft.“4

II. Christliche Wurzeln und Aversion gegen das Christentum Angesichts der manifesten Prägekraft von Christentum und christlichem Gedankengut in der westlichen Welt ist wenig erstaunlich, daß heute allgemein konsentierte zentrale Begriffe wie auch wirkmächtige Maximen ihre Ursprünge christlichen Autoren und Denkern verdanken oder sich wenigstens auf christliches Gedankengut zurückführen lassen. Daß diese Zusammenhänge heute nicht mehr stets offen zutage liegen, ist auch dem Umstand geschuldet, daß solche Begriffe und Maximen von christlichen Institutionen – pars pro toto, dem kirchlichen Lehramt – zunächst zurückgewiesen und verurteilt wurden, so en bloc die Französische Revolution und die mit ihr untrennbar verbundenen Ideen der Menschenrechte und der Demokratie5. Dabei war gerade ihre Maxime von der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ von einem katholischen Bischof geprägt worden: Franc¸ ois Fénelon (1651 – 1715)6, seit 2 So die 2019 von einer „DEI-Taskforce“ verabschiedete „DEI-Erklärung“, s. www.rotary. org/de/about-rotary/diversity-equity-and-inclusion (letzter Zugriff auf sämtliche Links dieses Beitrags: 20. Oktober 2023). 3 www.opensocietyfoundations.org/employment/our-commitment-to-diversity. 4 S. nur www.pwc.de/de/im-fokus/customer-transformation/diversity-equity-and-inclusion. html. 5 Zentrale Stationen der Lehrverurteilungen: Pius VI. Breve Quot aliquantum vom 10. März 1791; Gregor XVI., Enzyklika Mirari vos vom 15. August 1832; Pius IX., Enzyklika Quanta cura vom 8. Dezember 1864 mit dem umfangreichen Annex der bereits zuvor verurteilten Irrtümer („Syllabus errorum“). – Analyse bei Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, 2021, S. 134 ff.; Josef Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, 1987, S. 138 ff. 6 Über ihn eingehend Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, 1963 (2. Aufl. 1990).

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1695 Erzbischof von Cambrai, hatte den Dreiklang in seinem für den Herzog von Burgund verfaßten Erziehungsroman „Die Abenteuer des Telemach“ (1699) erstmals verwendet. Im Zuge der Revolution von 1848 feierten auch katholische Priester einen „Christus der Brüderlichkeit“ und segneten „Freiheitsbäume“. Mittlerweile sehen selbst sozialistische – und damit traditionell „laizistische“ – Politiker in jener Maxime „säkularisierte christliche Werte“7. Der postmoderne Dreiklang von „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ läßt sich demgegenüber keinem Schöpfer konkret zuordnen, er ist vielmehr ein Produkt geistiger In-Vitro-Fertilisation. In der Sache lassen sich die Begriffe und die dahinterstehenden Anliegen mit zentralen Aussagen der christlichen Glaubenslehre, wie sie in Schrift und Tradition zum Ausdruck kommt, vereinbaren. Gerade ein Leitprinzip der katholischen Soziallehre gebietet, den Menschen in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ernst zu nehmen, ihn nicht zu kollektivieren, zu diskriminieren und stigmatisieren – das Prinzip der Personalität8. Wie schon das (Spät-)Judentum im Zeitalter des Hellenismus9, hat sich die Kirche von Anfang an Bestrebungen widersetzt, in eine – wie auch immer konzipierte – Einheitskultur der jeweiligen zeitgenössischen Gegebenheiten ein- und damit in ihr untergehen zu müssen. Die Kirche war niemals ein monolithischer Block, seit der Väterzeit hat sie sich als eine „Einheit in Vielfalt“ verstanden10 – weit über ein Jahrtausend, bevor dieser Topos in säkularisierter Form als Leitspruch der Vereinigten Staaten von Amerika („E pluribus unum“11) oder der Europäischen Union („In Vielfalt geeint“) adaptiert wurde.

7 So der damalige französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement, La République et le fait religieux, in: ders. (Hrsg.), La République contre les bien-pensants, 1999, S. 91 (93): „ces valeurs républicaines, il faut le reconnaître, ce sont pour une large part des valeurs chrétiennes laïcisées“. 8 Eingehende Exposition des Grundsatzes in: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006, Nr. 105 – 159. 9 Die unter dem Seleukidenkönig Antiochos IV. Epiphanes eskalierenden Konflikte mit dem Verbot der jüdischen Religionsausübung im Jahr 168 v. Chr. sind in verschiedenen Schriften des Alten Testaments (1. und 2. Buch der Makkabäer, Buch Daniel) beschrieben. Aus profanhistorischer Sicht Johannes Christian Bernhardt, Die Jüdische Revolution. Untersuchungen zu Ursachen, Verlauf und Folgen der hasmonäischen Erhebung, 2017; Peter Franz Mittag, Antiochos IV. Epiphanes. Eine politische Biographie, 2006; Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus, 3. Aufl. 1988, insbes. S. 108 ff.; Eric S. Gruen, Hellenism and Persecution. Antiochus IV and the Jews, in: Peter Green (Hrsg.), Hellenistic History and Culture, 1996, S. 238 ff. 10 Vgl. Joseph Ratzinger, Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter (1971), in: ders., Gesammelte Schriften, Band I, 2011, S. 555 ff.; der Topos wurde ab dem 19. Jahrhundert im Kontext der ökumenischen Bewegung fruchtbar gemacht, so bei Johann Adam Möhler, s. später Karl Rahner, Einheit in Vielfalt. Schriften zur Ökumenischen Theologie, in: ders., Sämtliche Werke, Band 27, 2002. 11 W. C. Harris, E Pluribus Unum. Ninteenth-Century American Literature and the Constitutional Paradox, 2005; Günther E. Thüry, Von Köchen, Christen und der Politik: Ein Motto und seine Geschichte, Antike Welt 8 (2010), 38 f.

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Lehre und Praxis schon des frühen Christentums hatten manifest egalisierende Inhalte wie Wirkungen. „Es gibt bei Gott kein Ansehen der Person“, schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief12. Noch expliziter und exemplifizierter heißt es im Galaterbrief: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ,einer‘ in Christus Jesus.“13 Die Gleichheit in der Würde aller Personen ist auch heute ein zentraler Grundsatz der katholischen Soziallehre14. Eng verbunden damit ist der umfassende Zugriff der christlichen Botschaft: Sie gilt allen Menschen, unabhängig von materiellen Umständen, sozialem Stand oder ethnischer Zugehörigkeit. Schon die Evangelien bringen deutlich die Zuwendung Christi für die Ausgegrenzten und Marginalisierten zum Ausdruck, die Armen und Kranken, Zöllner und Sünder, Samariter und Heiden. Dem Christentum war von Anbeginn der universale Charakter eingestiftet, von den antiken Formen von Religion und Kult hob es sich grundlegend dadurch ab, daß es nicht eine bloße „PolisReligion“15 war. In dem einen wie dem anderen Fall waren und sind die christlichen Wurzeln der erwähnten Maximen weder bewußtseinsrelevant noch handlungsleitend. Schon kurz nach ihrem Ausbruch wandte sich die Französische Revolution dezidiert von ihren geistigen Grundlagen ab (eine A-version im wörtlichen Sinne), um sich wenig später in blutigen Verfolgungen von Religion und Kirche zu entladen. Diese sprachen nicht nur dem rhetorischen Pathos der Maxime eklatant Hohn, sondern werden – wie die eklatantesten Beispiele der guillotinierten Karmelitinnen von Compiègne16 oder der Massaker in der Vendée17 – bis heute allenfalls in Fachkreisen als Schattenseiten der Revolution deutlich benannt. Hingegen dürften die christlichen Wurzeln der Maxime von der „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ noch nicht einmal ihren Multiplikatoren und Verwendern vor Augen stehen. Gewiß lassen sich beide Maximen noch weiter auf jeweils ein gemeinsames Leitprinzip zurückführen (einst: „Gegen die Ty12 Röm 2,11. – Die Formel findet sich bereits beim hl. Augustinus (so in den Confessiones [4,8,13] und im Psalmenkommentar [Enarrationes in Psalmos 150,2]), näher Wolfgang Hübner, E pluribus unum bei Augustin, Revue d’études augustiniennes et patristiques 57 (2011), 137 ff. 13 Gal 3,28; ebenso Kol 3,11. 14 Kompendium der Soziallehre der Kirche (Fn. 8), Nr. 144 – 148; Ausfaltung bei Paul Kirchhof, Menschenwürde und Freiheit, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, 2008, S. 40 ff. 15 Zu dieser Kategorie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Stellung und Bedeutung der Religion in einer civil society, in: ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, 1999, S. 256 (259 ff., insbes. Fn. 7). 16 Der historische Stoff wurde wiederholt künstlerisch verarbeitet, so in der Novelle „Die Letzte am Schafott“ von Gertrud von Le Fort (1931) oder im Drehbuch „Les Dialogues des Carmélites“ von Georges Bernanos (als Oper von Francis Pulenc 1957 vertont, 1960 verfilmt). 17 Reynald Sécher, Le génocide franco-franc¸ ais. La Vendée-Vengé, 4. Aufl. 1992; Jean Tulard/Jean-Franc¸ ois Fayard/Alfred Fierro, Histoire et dictionnaire de la Révolution franc¸ aise, 1789 – 1799, 1987, S. 1113 ff.; aus dem deutschen Schrifttum stellvertretend Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, 3. Aufl. 2002, insbes. S. 54 ff.

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rannei“, jetzt: „Für Gleichheit und Solidarität“), das seinerseits wiederum mehr vorausgesetzt als begründet wird. An diesem Punkt erscheinen Spannungen und Konflikte mit dem Sendungsauftrag der Kirche als absehbar, wenn nicht als vorprogrammiert. Zumindest deren Abmilderung wäre aber dann nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn allen Beteiligten das Ringen um das Herausarbeiten tragfähiger Fundamente derartiger Maximen ein erkennbares Anliegen wäre. Dies schlösse auf der einen Seite generelle Verurteilungen (wie in Zeiten der Französischen Revolution geschehen18) ebenso aus wie auf der anderen die Ambition, auf sämtliche Akteure in Staat wie Gesellschaft umerziehend einwirken zu wollen.

III. Grundanliegen des kirchlichen Verkündigungsdienstes und seine Gefährdungslagen Die Kirche weiß sich seit Anbeginn dem Auftrag des Auferstandenen verpflichtet, in die ganze Welt hinauszugehen und das Evangelium allen Geschöpfen zu verkündigen19. Daß die Verkündigung der Jünger nicht nur auf aufnahmebereite Ohren stoßen werde, hatte schon Christus selbst ihnen angekündigt20. Widerspruch und Verfolgung waren stete Begleiter des Wirkens der Jünger, welches dadurch weder beeinträchtigt noch konditioniert sein sollte: Der Schluß der Apostelgeschichte berichtet, wie der Apostel Paulus auch in seiner (ersten) römischen Gefangenschaft „mit allem Freimut, ungehindert“ das Reich Gottes verkündete und über Jesus Christus, den Herrn, lehrte21. Genau hier findet das essentielle Anliegen des kirchlichen Verkündigungsdienstes seinen Grund wie Anspruch, nämlich zu jeder Zeit und an jedem Ort „ungehindert“ das Evangelium zu verkündigen. Auf dem II. Vatikanischen Konzil hat die Kirche diese Position für die Gegenwart erneut bekräftigt22 und sie in ihrem aktuell geltenden Gesetzbuch in juristische Form gegossen: Die Kirche hat das „ihr angeborene Recht …, unabhängig von jeder menschlichen Gewalt, allen Völkern das Evangelium zu verkündigen“, was „immer und überall“ die Darlegung der „sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung“ sowie die Abgabe von Urteilen „über menschliche Dinge jedweder Art“ einschließt, „insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“23. 18

S. Fn. 5. Mk 16,15. 20 Mt 10,14; noch deutlicher 2 Tim 4,2 – 8. 21 Apg 28,31. 22 II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 76: „Immer und überall aber nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen. Sie wendet dabei alle, aber auch nur jene Mittel an, welche dem Evangelium und dem Wohl aller je nach den verschiedenen Zeiten und Verhältnissen entsprechen.“ 23 c. 747 §§ 1 und 2 CIC. 19

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In Geschichte wie Gegenwart ist dieser Anspruch der Kirche alles andere als unangefochten. Immer wieder gab und gibt es Bestrebungen und Tendenzen, die Art und Weise, mit der die Kirche ihrem Dienst der Verkündigung nachgeht, zu beeinflussen und zu konditionieren, indem ihr die Angleichung und Anpassung an die jeweils vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Strömungen abverlangt wird. Unter den gegenwärtigen Umständen sieht die Kirche die Unversehrtheit ihrer Botschaft und deren Verkündigung drei verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt, die sich zudem wechselseitig verstärken (können): – Auf einer ersten Ebene begleiten eine kritische Öffentlichkeit und andere, mitunter konkurrierende, gesellschaftliche Akteure, das kirchliche Wirken. – Der Staat und seine Organe überprüfen, bei grundsätzlich gewährleisteter Freiheit der Religionsausübung und der kirchlichen Selbstbestimmung, das Handeln der Kirche und ihrer Amtsträger an den Maßstäben und Rationalitäten des weltlichen Rechts. – Im Inneren der Kirche selbst artikulieren sich Stimmen, welche bestimmte Bestandteile der kirchlichen Botschaft für „überholt“, „obsolet“, „nicht mehr vermittelbar“ oder „reformbedürftig“ halten und dementsprechend entweder die kirchliche Lehre selbst oder zumindest ihre Verkündigung modifizieren oder gänzlich ändern wollen.

IV. Erste Ebene: Kirche und Gesellschaft In weiten Teilen der westlichen Welt ist die Kirche heute Ärgernis und Störfaktor. Schon durch ihre Existenz, mehr noch durch die Verkündigung ihrer Botschaft, erregt sie Kritik und Ablehnung. Gleichgültigkeit ist vielerorts offener Feindseligkeit gewichen. Auch diese Erfahrung begleitet die Kirche von Anfang an: „von dieser Sekte ist uns bekannt, daß sie überall auf Widerspruch stößt“24. Daß die christliche Botschaft in ihrer – im wörtlichen Sinne verstandenen – Radikalität mit den volatilen Tendenzen und Strömungen eines bestimmten Zeitalters in einem Verhältnis von Spannung und Gegensatz steht, ist gleichermaßen eine historische Konstante. Pointiert formuliert: Die Botschaft des Christentums war nie modern, noch weniger war und ist sie bequem. Denn das Evangelium mutet dem Menschen zu, umzukehren und sich zu ändern, um ein höheres Ziel – das ewige Leben – zu erlangen. Das Evangelium bestätigt und bestärkt den Menschen nicht einfach in seinen Neigungen, Haltungen und Verhaltensweisen, sondern es hält ihm unerbittlich den Spiegel vor. Es will den Menschen bewegen, sich (in einem existentiellen) Sinn mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dabei stellt es dem Menschen einen unverrückbaren Maßstab vor Augen: Jesus Christus. Das II. Vatikanische Konzil hat den Zusammenhang so formuliert: „Christus … macht dem Menschen den Menschen selbst 24

Apg 28,22.

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voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“25 Ein solcher Grundansatz ist einer Gesellschaft, die den Genuß des irdischen Lebens zu maximieren trachtet und daher vom ewigen nichts weiß oder wissen will und die in Jesus Christus allenfalls eine historische Gestalt des Vorderen Orients erblickt, nicht zu vermitteln. Sie wird in der Botschaft, die sich auf Ihn beruft, nicht mehr als die Anmaßung der Einmischung in die höchstpersönlichen Lebensumstände der Menschen erblicken. In einer pluralistischen Gesellschaft, deren Grundkonsens in zentralen Fragen sich mehr und mehr auflöst, muß die Kirche Anfechtung und Widerspruch aushalten und ertragen. Sie ist insoweit eine Akteurin unter vielen, ihr bleiben allein die Kraft ihres Wortes und die Macht ihres Beispiels, welche vom Vertrauen in ihre übernatürliche Sendung Zeugnis abgeben. Wie zu Zeiten der frühen Kirche auch, stellt sich den heutigen Christen wieder die Herausforderung, „kreative Minderheit“26 zu sein, der die Erinnerung des Apostels Paulus gilt: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.“27 Ähnlich wie die Apologeten des 2. Jahrhunderts gegenüber den heidnischen Philosophen die rationalitas der christlichen Botschaft aufwiesen (sie verteidigten den christlichen Glauben als die „wahre Philosophie“28), besteht eine wesentliche Aufgabe der Gegenwart darin, wohlklingende Formeln wie diejenigen von „Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion“ nicht als Vehikel der ubiquitären Nivellierung der Gesellschaft anhand aller denkbaren Befindlichkeiten und Präferenzen zu akzeptieren, sondern auf ihren konkreten Gehalt hin zu befragen und auf dieser Grundlage eigenständige, aus der christlichen Botschaft gespeiste Ansätze zu entwickeln. Ein statisches und undifferenziertes Verständnis von Gleichheit, wie es jener Maxime weithin unausgesprochen zugrunde liegt, wirft erhebliche Folgeprobleme für die Freiheit auf, die Freiheit, andere gesellschaftliche Entwürfe vertreten und artikulieren zu dürfen, zumal in jenen Bereichen, die – wie Glaube und Religion – auf der persönlichen Entscheidung einer jeden Person beruhen: „Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen“29.

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Pastorale Konstitution Gaudium et spes (Fn. 22), Nr. 22. Diesen Topos des britischen Historikers und Kulturphilosophen Arnold J. Toynbee hat vor allem Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. für die heutige Situation der Kirche in den westlichen Ländern fruchtbar gemacht, s. Joseph Ratzinger, Europas Identität. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute und morgen, in: ders., Werte in Zeiten des Umbruchs, 2005, S. 68 ff. Auch in seinem Lehramt rekurriert er auf den Gedanken, so während des PresseInterview auf dem Flug in die Tschechische Republik am 26. September 2009 (www.vatican. va/content/benedict-xvi/de/speeches/2009/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20090926_in terview.html). 27 Gal 5,9. 28 Dazu die Bonner Antrittsvorlesung von Joseph Ratzinger, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis (1959), in: ders., Der Gott des Glaubens und der Gott des Philosophen. Philosophische Vernunft – Kultur – Europa – Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Band 3/1, 2020, S. 189 ff. 29 Paul Kirchhof, Erbrecht, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band V, 2013, § 112 Rn. 30. 26

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V. Zweite Ebene: Kirche und staatliche Rechtsordnung Die Kirche erfüllt ihre Sendung in der Welt und unter den Bedingungen der Welt. Sie erhebt sich nicht über die staatliche Rechtsordnung, mehr noch, sie hält ihre Gläubigen zum Gesetzesgehorsam an30. Sie kennt nur die eine Schmerzgrenze, göttliche Gebote menschlichen Satzungen nachordnen zu sollen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“31 Der Verkündigungsauftrag des Auferstandenen („Geht hinaus in die ganze Welt“) stellt ein solches essential dar. Die historisch wechselhafte und nicht selten spannungsreiche Frage der Zuordnung von Gottesgebot und Staatsgesetz hat im freiheitlichen Verfassungsstaat der Moderne einen befriedenden und befriedigenden Ausgleich gefunden: Die Kirche stellt nicht mehr die Macht-, der Staat nicht mehr die Wahrheitsfrage. Die Kirche nimmt den Staat nicht mehr in Dienst, um mit seinen Machtmitteln geistliche Ziele durchzusetzen. Der Staat seinerseits, religiös-weltanschaulich „farbenblind“32, gewährt allen Kirchen und Religionsgemeinschaften gleiche Rechte und erweist ihnen gleiche Ehre. Gegenüber dem Verfassungsstaat und in ihm genießt die Kirche umfassende Freiheit: Die Religionsfreiheit kommt neben den einzelnen Gläubigen auch ihr zugute und ermöglicht ihr das Wirken in der Welt durch die Verwirklichung ihrer Sendung. Ergänzend verbürgt das Recht der Selbstbestimmung der Kirche, ihre innere Ordnung nach ihren eigenen, glaubensgeleiteten Maßstäben auszugestalten. In Deutschland hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Schutzbereich der Religionsfreiheit wie des Selbstbestimmungsrechts weit gezogen. Demnach gestattet die Religionsfreiheit dem Grundrechtsträger, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“33. Das Selbstbestimmungsrecht „umfaßt alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen“34. Staatliche Beschränkungen dieser Rechtspositionen sind nicht aus Gründen des Glaubens, sondern allein aus solchen des Verhaltens von Gläubigen und Amtsträgern statthaft35. 30 Röm 13,1 – 7. – Eingehend zur Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Staat nach katholischer Auffassung Stefan Muckel, Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat, in: Stephan Haering/Wilhelm Rees/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl. 2015, § 116; Ansgar Hense, Das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Dietrich Pirson/Wolfgang Rüfner/Michael Germann/Stefan Muckel (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 3. Aufl. 2020, § 3. 31 Apg 5,29. 32 So treffend Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 1989, § 138 Rn. 116. 33 Grundlegend BVerfGE 32, 98 (106), seitdem st. Rspr. 34 St. Rspr., zuletzt BVerfGE 137, 273 (307 f.). 35 BVerfGE 102, 370 (394).

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Unbeschadet dieser klaren Verfassungsrechtslage und der gefestigten Rechtsprechung sieht sich die Kirche seit geraumer Zeit Tendenzen aus dem politischen Raum ausgesetzt, den Inhalt ihrer Glaubenslehre und Grundsätze ihrer inneren Organisation am Maßstab der Strukturentscheidungen des weltlichen Rechts zu messen und Änderungen einzufordern36. Regelmäßig werden vorgebliche kirchliche Defizite im Hinblick auf das Demokratieprinzip, die Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Frau sowie den weiten Bereich der „Anti-Diskriminierung“ behauptet37. Bislang resultierten aus derartigen politischen Meinungsäußerungen keine konkreten Maßnahmen des Staates auf dem Gebiet der Gesetzgebung, sie wären rechtlich schlechterdings nicht zulässig: „Keine Religion muß ihre Glaubenswahrheiten nach dem Muster der Grundsätze freiheitlicher Verfassungsstaaten zuschneiden.“38 Speziell im Hinblick auf die kirchliche Verkündigung läßt der freiheitliche Verfassungsstaat kein Sonderregime zu. Glaubenslehren mag man folgen oder man mag sie ablehnen, ihre wortgewaltige Verbreitung mag Zustimmung oder Ablehnung auslösen, gerade dann, wenn sie „performativ“ ist, also eine bestimmte Wirkung beim Empfänger intendiert. Über 80 Jahre existierte in Deutschland indes ein auf die kirchliche Verkündigung zugeschnittenes Sonderdelikt, der 1871 in das Strafgesetzbuch eingefügte § 130a, der sog. „Kanzelparagraph“ 39. Diese Norm eröffnete eine ganze Serie von Spezialnormen zur gezielten Bekämpfung des katholischen Klerus im sog. „Kulturkampf“ nach 187040. Die Norm bedrohte mit Gefängnis oder (ehrenhafter) Festungshaft denjenigen Religionsdiener, der „in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche, oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht“. Von dieser Norm wurde in den 1870er Jahren reichlich Gebrauch gemacht – der prominenteste Verurteilte war der Posener Erzbischof Graf Halka-Ledóchowski41 –, 36 Gegenwärtig zeigt sich diese Tendenz mit Macht bei dem vielschichtigen Terminus des „Gender Mainstreaming“, frühzeitig dazu bereits Manfred Spieker, Gender-Mainstreaming in Deutschland. Konsequenzen für Staat, Gesellschaft und Kirche, 2. Aufl. 2016. 37 Ähnliche Defizite werden gegenüber „dem“ Islam ausgemacht, zu deren Abhilfe nicht wenigen die Beförderung eines „Euro-Islam“ durch Gesellschaft und Staat als Königsweg gilt, dazu etwa Claus Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, 2002. 38 Zutreffend Horst Dreier, Religionsverfassung in 70 Jahren Grundgesetz – Rückblick und Ausblick, JZ 2019, 1005 (1013); frühzeitig bereits BVerfGE 33, 23 (33): „Dem Staat ist es verwehrt, … den Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten“. 39 Gesetz, betreffend die Ergänzung des Strafgesetzbuchs für das Deutschen Reich vom 10. Dezember 1871, RGBl. S. 442. 40 Historische Einordnung bei Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, 2010, S. 304 ff.; s. ferner die beiden zeitgenössischen Doktorarbeiten von Otto Elble, Der Kanzelparagraph (§ 130a St.-G.-B.), 1908; sowie Ludwig Dietl, Der Kanzelparagraph (§ 130a RStGB), 1932. 41 Der Erzbischof erhielt 1874 die Höchststrafe von zwei Jahren. Nach einem Jahr wurde er aus der Haft entlassen, nachdem ihn Papst Pius IX. zum Kardinal erhoben hatte.

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ebenso während der NS-Diktatur, bei der es gleichermaßen katholische Priester wie die Seligen Rupert Mayer SJ42 und Bernhard Lichtenberg als auch protestantische Pastoren wie Martin Niemöller traf. Mit der Aufhebung der Strafnorm im Jahr 195343 unterfielen denkbare Delikte im Kontext der kirchlichen Verkündigung den allgemeinen Strafrechtstatbeständen, ohne daß diese – soweit ersichtlich – in der Praxis Bedeutung erlangt hätten. Die Lage hat sich seit der Jahrtausendwende grundlegend geändert, seit der wenig trennscharfe Begriff der „Haßrede“44 zunehmend auch gegen mißliebige und dem aktuellen gesellschaftlichen Mainstream widersprechende Glaubenslehren in Stellung gebracht wird. Im Unterschied zu anderen Rechtsordnungen hat der deutsche Gesetzgeber auf die Einführung eines spezifischen Delikts der „Haßrede“ verzichtet und pönalisiert eine Handlung, die „gegen Teile der Bevölkerung … zum Haß aufstachelt“ als Volksverhetzung (§ 130 StGB). Aufgrund dieser Norm versuchen vermehrt einschlägige pressure groups sowie Einzelpersonen, ihnen mißliebige Äußerungen sowie Publikationen von Gläubigen und kirchlichen Amtsträgern, vorzugsweise zu Fragen von Ehe und Familie, der kirchlichen Sexualmoral und zu Fragen des Lebensschutzes, durch strafgerichtliche Verfolgung zu unterbinden. Bisher zeigen die Gerichte eine gewisse Zurückhaltung, derartige gesellschaftliche Kontroversen mit den Mitteln des Strafrechts zu bewältigen. Beispielhaft illustriert dies ein seit 2020 laufendes und immer noch nicht abgeschlossenes Strafverfahren gegen einen protestantischen Pastor aufgrund dessen Polemiken gegen praktizierte Homosexualität und gegen „Gender-Theorien“45. Ein anderes Verfahren gegen zwei katholische Priester endete im Mai 2022 mit der Einstellung gegen Zahlung einer Geldauflage46. In Zürich wurde im Juli 2022 ein „Bußprediger“ zu einer Geldstrafe verurteilt47. Höchst ungewöhnlich war ein weiterer Fall, in dem der in einer Predigt eines Bischofs kritisierte Aktivist einer weltanschaulichen Gruppierung gegen den Bischof 42 Der Fall ist umfassend dokumentiert durch die Studien von Otto Gritschneder, Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht, 1965; ders., Die Akten des Sondergerichts über Pater Rupert Mayer S.J., 1974; ders., Ich predige weiter. Pater Rupert Mayer und das Dritte Reich, 1987. 43 Art. 2 Nr. 18 des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1953, BGBl. I, S. 735 (741). 44 Frühzeitig Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede?, AöR 128 (2003), 372 ff.; monographisch Christian Mensching, Haßrede im Internet. Grundrechtsvergleich und regulatorische Konsequenzen, 2014. 45 Erstinstanzlich war der Pastor zu einer Geldstrafe verurteilt worden (AG Bremen, Urt. v. 26. November 2020, Nr. 96 Ds 225 Js 26577/20), auf seine Berufung hin wurde er freigesprochen (LG Bremen, Urt. v. 20. Mai 2022, Nr. 51 Ns 225 Js 26577/20). Der Freispruch wiederum wurde auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben (OLG Bremen, Urt. v. 23. Februar 2023, Nr. 1 Ss 48/22), der Fall muß neu verhandelt werden. 46 www.lto.de/recht/nachrichten/n/535cs12721-amtsgericht-koeln-volksverhetzung-priesterkirche-lgtbq. 47 www.nzz.ch/zuerich/homophobie-in-zuerich-selbst-ernannter-bussprediger-verurteilt-ld. 1695757?ga=1&kid=nl167_2022-7-29&mktcid=nled&mktcval=167_2022-07-29.

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einen Unterlassungsanspruch wegen Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen geltend machte. Soweit ersichtlich, wurde damit erstmals nach 1945 ein zentrales Medium der kirchlichen Verkündigung zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens. Das Bundesverwaltungsgericht gab der Klage statt48.

VI. Dritte Ebene: Lebens- und Rechtsordnung der Kirche Die Gewährleistung grundrechtlicher und institutioneller Sicherungen der kirchlichen Verkündigung erfährt ihre innere Legitimation dadurch, daß die Kirche den ihr gewährten Freiheitsraum auch in Anspruch nehmen will. Tua res agitur – je mehr jener staatlich garantierte Freiheitsraum mit Leben gefüllt wird, auch und gerade die Freiheit, sich unterscheiden zu dürfen, desto fester und stabiler ist der rechtliche Rahmen. Umgekehrt wird eine rechtliche Regelung, die nicht oder nur unvollkommen in Anspruch genommen wird, tendenziell auf ihre künftige Erforderlichkeit und Angemessenheit hin befragt werden. Das Risiko einer (faktischen oder rechtlichen) Erosion besteht. An dieser Stelle kommt erneut die grundlegende Aufgabe der Kirche (wie allgemein der Religion) zum Tragen: Sie ist nicht in erster Linie Legitimationsinstanz des Staates und Sinnstiftungsagentur für die Gesellschaft. Ihr auch für den Staat (jedenfalls den freiheitlichen Verfassungsstaat) relevantes Proprium ist es, den Blick von der Horizontalen zur Vertikalen zu weiten, das Bewußtsein für die Begrenztheit allen menschlichen Tuns wachzuhalten und gerade dadurch den Staat davor zu bewahren, selbst den Menschen und alle seine Lebensbereiche regeln und reglementieren zu wollen, in extremis, totalitär zu werden. Eben darum schadet es Kirche und Staat, würde die Kirche sich darauf zurückziehen, all das zu akklamieren und zu ratifizieren, was die Gesellschaft in ebenso regelmäßigen wie abwechselnden Abständen an Strömungen und Tendenzen zutage fördert und später der Staat in rechtliche faßbare Formen gießt. Hingegen dient es Kirche und Staat, wenn die Kirche zuerst und vor allem Kirche ist, den Zugang zum „Quell des lebendigen Wassers“ offenhält, nicht aber – gar noch mit Finanzhilfe des Staates – ihre eigenen Zisternen gräbt, „Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“49. Schon vor Jahrzehnten wurde mit Recht davor gewarnt, eine (Selbst-)Säkularisierung der Kirche gefährde die Säkularität des Staates50 – und damit eine seiner wesentlichen Grundlagen. Anzeichen einer derartigen Selbstsäkularisierung sind im kirchlichen Leben der westlichen Länder seit Jahrzehnten virulent, in den letzten Jahren mit einer erhöhten Intensität und Dynamik. Obschon die kirchliche Rechtsordnung eindeutige Vorgaben 48

BVerwG, NVwZ 2011, 278. Vgl. Jer 2,13. 50 Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, 1986, S. 164 – 178. 49

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für die Ausübung des Verkündigungsdienstes aufstellt (1.), werden diese faktisch nicht immer beachtet oder rechtlich konterkariert (2.). Hinzu treten jüngst Bestrebungen, explizit Bestandteile der kirchliche Lehre ändern zu wollen (3.). 1. Vorgaben der kirchlichen Rechtsordnung Die Mahnung des Apostels Paulus, das Wort Gottes „ob gelegen oder ungelegen“ zu verkündigen51, betrifft sämtliche Bereiche des kirchlichen Verkündigungsdienstes, sei es den Dienst am Wort Gottes im engeren Sinne, die Missions- und Erziehungstätigkeit sowie den Einsatz der Kommunikationsmittel. Dabei stehen der zu verkündende Inhalt und die Person des Verkünders in einer untrennbaren Wechselbeziehung: Der Inhalt muß die gesamte Lehre der Kirche abdecken, also vollständig und er muß tatsächlich Lehre der Kirche sein. Der Verkünder verkündigt nicht sich selbst und seine Positionen, sondern die Lehre der Kirche. Aus diesem Grund benötigt er für seine Tätigkeit einen Auftrag der Kirche (mandatum), dessen Erteilung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird, welche die Glaubwürdigkeit der Verkündigung sicherstellen wollen. Als Grundnorm schreibt c. 760 CIC für den Dienst am Wort vor, dieser habe sich „auf Schrift und Überlieferung, auf Liturgie, Lehramt und Leben der Kirche zu stützen“ und „das Geheimnis Christi vollständig und getreu vorzulegen“. Das gilt sowohl für die liturgische Verkündigung in Homilie und Predigt52 als auch für außerliturgische Formate wie insbesondere die Katechese. Deren Begriff und Konzeption ist im Codex vorausgesetzt, die notwendigen Erläuterungen lassen sich unverändert dem Apostolischen Schreiben Catechesi tradendae von Papst Johannes Paul II. (1979) entnehmen, desgleichen dem vom zuständigen Dikasterium der Römischen Kurie herausgegebenen „Allgemeinen Direktorium für die Katechese“53. Schon Johannes Paul II. betonte den Aspekt der Vollständigkeit des zu vermittelnden Glaubensinhalts: „(J)eder Jünger Christi“ habe das Recht, ,das Wort des Glaubens‘ nicht verstümmelt, verfälscht oder verkürzt zu empfangen, sondern voll und ganz, in all seiner Macht und Kraft.“ Dem Hörer, der „Christus noch besser kennenzulernen“ wolle, dürfte man „unter keinem Vorwand irgendeinen Teil dieser Kenntnis verweigern“. In der Konsequenz dessen sei „kein wahrer Katechet berechtigt, nach eigenem Gutdünken das Glaubensgut aufzuteilen und zu trennen zwischen dem, was er für wichtig hält, und anderem, was ihm unwichtig erscheint, um dann das eine zu lehren und

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2 Tim 4,2. Einzelheiten: c. 768 CIC. 53 Die ersten beiden Ausgaben wurden 1971 bzw. 1997 von der Kongregation für den Klerus verantwortet, die aktuell maßgeblich Version wurde am 23. März 2020 vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung veröffentlicht, die deutsche Version findet sich in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Schriftenreihe „Veröffentlichungen des Apostolischen Stuhls“, Heft 224, 2020. 52

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das andere zu unterschlagen.“54 Auf diese Weise sucht die kirchliche Rechtsordnung einzulösen, was sie zuvor als Grundrecht der Gläubigen ausgestaltet hat: Das Recht auf Empfang geistlicher Hilfen durch das Wort Gottes55. Gewiß, die zu vermittelnde Lehre ist stets „in einer den Zuhörern und den Erfordernissen der Zeit angepaßten Weise vorzutragen“56, doch betrifft dies das „Wie“, nicht hingegen das „Ob“ der Verkündigung. Analoge Vorgaben finden sich für die Bildung und Erziehung in Schule und Universität, speziell in den theologischen Disziplinen, desgleichen für die Verkündigung mittels der Medien. Da der Verkünder nicht in privater, sondern in amtlicher Eigenschaft tätig wird, erteilt ihm die Kirche einen entsprechenden Verkündigungsauftrag, der üblicherweise an zwei Bedingungen geknüpft ist, sachlich an die Rechtgläubigkeit der Glaubensverkündigung, persönlich an die eigene beispielhafte Lebensführung, welche die jeweilige Tätigkeit erst authentisch und glaubhaft werden läßt. Religionslehrer bedürfen der missio canonica, Universitätsprofessoren der venia docendi, die Professoren der Theologie der missio canonica und des nihil obstat. 2. Vollzugsdefizite Das vorhandene rechtliche Instrumentarium wird – nicht erst in jüngerer Zeit – allenfalls zurückhaltend eingesetzt, um die Integrität der Glaubensverkündigung zu sichern. Entgleisungen in Predigten bleiben üblicherweise unbeanstandet, zumindest ungeahndet, jedenfalls wenn der Tenor den gegenwärtigen Tendenzen und Sensibilitäten folgt57. Je drastischer hingegen eine Predigt Glaubenswahrheiten in Zweifel zieht und lächerlich macht, kann sie sich der Verbreitung auch durch offiziöse kirchliche Medien gewiß sein. Der nach kanonischem Recht explizit vorgesehene Entzug der facultas zur Wortverkündigung58 bleibt weithin ungenutzt, desgleichen der Entzug der missio canonica für Religionslehrer oder der Widerruf des nihil obstat eines Professors der Theologie. Jedenfalls in Deutschland lassen sich die wenigen Gegenbeispiele der letzten zehn Jahre an den Fingern einer Hand abzählen. Die praktische Nichtbeachtung bestehenden Rechts wird in neuerer Zeit durch gegenläufige rechtliche Maßnahmen ergänzt und „geheilt“: Bereits 2015 hatten – wenn auch gegen den hinhaltenden Widerstand einiger weniger Bischöfe – die deutschen 54 Sämtliche Zitate: Johannes Paul II., Apostolisches Mahnschreiben Catechesi tradendae vom 16. Oktober 1979, AAS 71 (1979), 1277 ff., Nr. 30. 55 c. 213 CIC. – Entfaltung der Rechts der Gläubigen im Bereich der Katechese bei Richard J. Barret, The right to integral catechesis as a fundamental right of the Christian faithful, Apollinaris 67 (1994), 179 ff., ders., The right to adequate catechesis as a fundamental right of the faithful, Apollinaris 70 (1997), 185 ff. 56 So explizit für die liturgische Verkündigung des Wortes c. 769 CIC) 57 Pars pro toto die (von der bistumseigenen Homepage so apostrophierte) „Donner-Predigt“ eines münsterländischen Pfarrers, s. www.kirche-und-leben.de/artikel/18000-klicks-fuereine-donner-predigt-des-pastors-von-visbek. 58 c. 764 2. Halbsatz CIC.

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Bischöfe die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ geändert59 und dergestalt entschärft, daß die Anforderungen insbesondere an die persönliche Lebensführung in der Praxis kaum noch relevant sein können. Im November 2022 wurden bei einer abermaligen Überarbeitung der Grundordnung60 die noch verbliebenen Spurenelemente von Loyalitätsanforderungen an im kirchlichen Dienst Tätige eliminiert. Der Paradigmenwechsel kommt im Normtext selbst mit aller Klarheit zum Ausdruck, wenn es in Art. 3 Abs. 2 nunmehr heißt: „Vielfalt in kirchlichen Einrichtungen ist eine Bereicherung. Alle Mitarbeitenden können unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Alters, ihrer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität und ihrer Lebensform Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer den Menschen dienenden Kirche sein.“ Nachdem bereits im Sommer 2022 mehrere deutsche Diözesen angekündigt hatten, künftig auch an Religionslehrer keinerlei Anforderungen mehr an die persönliche Lebensführung stellen zu wollen, beschloß die Deutsche Bischofskonferenz im März 2023 eine Neufassung der „Musterordnung für die Erteilung der Missio canonica für den katholischen Religionsunterricht“61. In ihrer Präambel (welche fast ebenso lang ist wie der normative Teil) wird den Religionslehrern nur noch die „Bereitschaft“ abverlangt, „den Religionsunterricht in Übereinstimmung mit der Lehre der katholischen Lehre zu erteilen“. Eher schon wird nun von ihnen eine „kritische Loyalität“ erwartet, aufgrund derer sie sich bei „kontrovers diskutierten kirchlichen Themen auch im Unterricht theologisch begründet positionieren und so zu einer lebendigen Kirche beitragen“ sollen. Daß derartige Bestimmungen in einem erheblichen Spannungsverhältnis mit dem universalen Kirchenrecht stehen, wird auch von dem Anliegen prinzipiell aufgeschlossenen Kirchenrechtlern nicht in Abrede gestellt62. Um so mehr wirft es gewichtige Fragen auf, wenn Diözesen – nach Umsetzung der Musterordnung in diözesanes Recht – die missio canonica abermals an Personen erteilen, denen sie aufgrund der (unveränderten) Vorgaben des universalen Rechts in der Vergangenheit entzogen wurde63.

59 Text abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Schriftenreihe „Die Deutschen Bischöfe“, Heft 95 A, 4. Aufl. (als „völlig überarbeitete Neuauflage“ bezeichnet) 2015. 60 Text abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Schriftenreihe „Die Deutschen Bischöfe“, Heft 95 A, 5. Aufl. (wiederum als „völlig überarbeitete Neuauflage“ apostrophiert) 2022. 61 Text abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Schriftenreihe „Die Deutschen Bischöfe“, Heft 112, 2023. – Die vorgehende Fassung stammte aus dem Jahr 1973. 62 www.katholisch.de/artikel/40305-neue-grundordnung-bier-warnt-vor-konflikten-mit-uni versal-kirchenrecht. 63 So geschehen im Juni 2023 im Bistum Trier, s. www.katholisch.de/artikel/45807-bistumtrier-erneuert-lehrerlaubnis-fuer-homosexuelle-religionslehrer.

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Lebhafte Diskussionen hat in den beiden vergangenen Jahren ein „Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht im Bistum Chur“64 ausgelöst. Das Dokument bezweckt die Prävention vor sexuellem, spirituellem und Machtmißbrauch und ist in weiten Teilen inhaltlich unstrittig. Die Kritik hat sich vor allem an drei Verpflichtungen entzündet, welche Priester und sonstige pastorale Mitarbeiter als Voraussetzung für ihre Anstellung eingehen müssen: „Ich verzichte auf pauschal negative Bewertungen von angeblich unbiblischem Verhalten aufgrund der sexuellen Orientierung.“, „In Seelsorgegesprächen greife ich Themen rund um Sexualität nicht aktiv auf. In jedem Fall unterlasse ich offensives Ausfragen zum Intimleben und zum Beziehungsstatus. Dies gilt auch für Gespräche, die ich als Vorgesetzte führe.“ und „Ich unterlasse jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Identität.“ Gewiß können derartige Wendungen auch in Übereinstimmung mit der Tradition der kirchlichen Lehre und Disziplin verstanden werden65, doch im aktuellen kommunikativen Kontext werden sie verbreitet als Distanzierung oder gar Abkehr davon wahrgenommen. Wohl auch deshalb wurde im Bistum Chur bisher darauf verzichtet, die Annahme des „Verhaltenskodex“ tatsächlich durchzusetzen66. Atmosphärisch zeigt sich das Bemühen kirchlicher Stellen um (vermeintliche) „Anschlußfähigkeit“ in einem zunehmend kritischen und indifferenten gesellschaftlichen Umfeld im Sprachgebrauch. „Gendern“ ist kirchlichen Kommunikationsabteilungen längst in Fleisch und Blut übergegangen, auch deutsche Bistümer gedenken mittlerweile der „verstorbenen Drogengebraucherinnen und Drogengebraucher“ (oder kurz: „Drogengebrauchenden“)67 – was selbst bei der säkularen Berliner Hauptstadtpresse auf Unverständnis stößt68. 3. Änderungen der kirchlichen Lehre? Schließlich haben sich in jüngerer Zeit, vor allem in Deutschland, vermehrt Stimmen Gehör verschafft, welche die kirchliche Lehre ausdrücklich „ändern“ wollen. Reiches Anschauungsmaterial liefert gegenwärtig der sog. „Synodale Weg“, auf dem (rechtlich freilich nicht verbindliche) „Beschlüsse“ erfolgt sind, welche vor 64 Zugänglich unter www.bistum-chur.ch/wp-content/uploads/2022/04/2022_verhaltensko dex_macht_bistum_chur.pdf. 65 Möglicherweise hätte sich die Akzeptanz des „Verhaltenskodex“ steigern lassen, wenn dessen Autoren auf die Bestimmung von c. 888 § 2 CIC/1917 verwiesen hätten, welche den Beichtvätern einschärfte, sich „neugieriger oder unnötiger Fragen, insbesondere hinsichtlich des sechsten Gebots des Dekalogs zu enthalten“ („Caveat omnino …, ne curiosis aut inutilibus quaestionibus, maxime circa sextum Decalogum praeceptum … interroget“). 66 Vgl. die Erklärung des Bischofs zu möglichen „Präzisierungen“ seitens der durch den „Verhaltenskodex“ in die Pflicht Genommenen: www.bistum-chur.ch/allgemein/praezisierun gen-zum-verhaltenskodex-des-bistums-chur. 67 www.erzbistum-koeln.de/news/25.-Gedenktag-fuer-verstorbene-Drogengebraucherinnenund-Drogengebraucher. 68 www.bz-berlin.de/meinung/kolumne/kolumne-mein-aerger/die-politisch-korrekte-spra che-treibt-in-spandau-neue-blueten.

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allem Fragen der Sexuallehre sowie von Ehe und Familie betreffen. Bis weit in die Reihen der Bischofskonferenz lassen sich Stimmen vernehmen, entsprechende Aussagen im Katechismus der Katholischen Kirche „müßten“ geändert werden, da sie heute nicht mehr verstanden würden und außerdem mit den Erkenntnissen „der“ modernen Humanwissenschaften nicht vereinbar seien. Bibliotheken von vorgeblich exegetischen Studien bemühen sich, den gegenläufigen biblischen Textbefund zu entschärfen, weitere Publikationen – nicht selten mit bischöflichen Geleitworten – popularisieren die anvisierte Zeitenwende. Die „Schleifung der Bastionen“69 ist weit vorangeschritten. Bestand noch vor einem Jahrzehnt nahezu einhelliger Konsens über die moralische und gesellschaftliche Bewertung der Abtreibung, fordern mittlerweile die Repräsentanz „der“ katholischen Gläubigen beanspruchenden Vertreter, „sicherzustellen, dass der medizinische Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs flächendeckend ermöglicht wird“70 – freilich deutlich widersprochen von einem prominenten Exponenten der katholischen Soziallehre71. Die aktuellen Tendenzen sind weniger neu als es den Anschein haben mag. Bereits das Volk Israel widersetzte sich wiederholt mit Wort und Tat dem göttlichen Gesetz, der Offenbarung. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die wiederholten eindringlichen Mahnungen des Apostels Paulus, vielleicht am eindringlichsten im Galaterbrief: „Es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Jedoch, auch wenn wir selbst oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten als das, das wir verkündet haben – er sei verflucht. Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das ihr angenommen habt – er sei verflucht.“72 Mit großer konzeptioneller Schärfe arbeitet der Apostel die dahinter stehende Motivation heraus und formuliert jene Alternative, die auch heute Gläubigen wie Hirten zur Unterscheidung der Geister nützlich sein kann: „Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen oder geht es mir um Gott? Suche ich etwa Menschen zu gefallen? Wollte ich noch den Menschen gefallen, dann wäre ich kein Knecht Christi.“73 Summary The article examines the extent to which the current slogan of “diversity, equality and inclusion” (DEI) affects the Church’s teaching office. It starts clarifying that the elements of this slogan can be traced back to Christian thought, even if the slogan’s current use antagonises Christianity. 69

Klassisch bereits die gleichnamige Studie von Hans Urs von Balthasar (1952). www.zeit.de/2022/29/schwangerschaftsabbrueche-katholische-kirche-medizinische-ver sorgung/komplettansicht. 71 Peter Schallenberg, Abtreibung ist kein „Grundrecht“, in: Die Tagespost, Nr. 29 v. 21. Juli 2022, S. 28. 72 Gal 1,7 – 9. 73 Gal 1,10. 70

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Against the background of DEI, the challenges for the teachings of the Church in the present day lie in three different fields. First, an adverse public opinion to the Church’s activities. Second, the State and its institutions that, while in principle upholding religious freedom and Church autonomy, scrutinise the activities of the Church and its ministers according to the logic of secular principles. Finally, voices inside the Church that, influenced by the two factors just mentioned, consider certain components of the Church’s message to be “outdated”, “obsolete”, “no longer communicable” or “in need of reform” and accordingly want to modify or completely change either the Church’s doctrine itself or at least its way of teaching.

Overcoming the Limits of Identity Politics Religion and Manners as Dispositive for Social Justice By Matthew Walz Achieving anything almost always results from a deliberate intention to strive for more than what we want to achieve. The reason is simple: we human beings are defectible by nature; we naturally fall short. Thus we tend not to fulfill challenging goals that we set for ourselves, at least not apart from redoubled effort. Indeed, defectibility so understood seems part and parcel of the human condition. Perhaps it is owing to original sin, perhaps to the essential complexity of human nature, i. e., the tension between our being simultaneously spiritual and animal. Whatever its source, human defectibility is evident enough, and practically speaking we have to learn how to deal with it. We can deal with it, as I already suggested, by striving for something beyond what we want to achieve. This is prudent, because it compensates for the natural bent to “come up short” or to “run out of steam.” If, for example, a basketball player sets a goal of making eight out of ten free throws during real games, it is crucial that he strive to shoot better than that – say, to make nine out of ten – during practice. Or if I am working to acquire moderation when it comes to food, it will likely prove ineffective to set my mind simply on eating just the right amount at every meal; likely I will have to fast at times, abstaining altogether from this or that meal. For only by “bending the stick backward” along these lines will I “get over the hump,” overcome my desires, and begin to exercise genuine dominion over my appetite for food. In order to achieve X, therefore, it is prudent – in fact, it seems well-nigh necessary – to strive for more-than-X. In what follows, I articulate certain practical dimensions of this principle in our attempts to achieve social justice, i. e., to bring about within a community a matrix of human relationships, both vertical and horizontal, in which each receives what is his or her own in accord with pursuit of the common good on the basis of solidarity among its participants. I articulate these practical dimensions, moreover, with an eye to our current situation in Western societies, marked as they are by different forms of “identity politics.” Owing to its proclivity to cover over our shared humanity as a basis for justice and thus to undermine ways of acting that aim beyond justice, every form of identity politics diminishes the pursuit of justice into a pursuit for something less-than-just, which manifests itself in an increasingly irreligious and unmannerly social milieu.

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My claim is double-sided. One side is affirmative: our pursuit of justice is apt to reach fulfillment only within a context in which we strive for more-than-justice. Such striving springs from attitudes and habituations that relate us to others in a manner that is beyond justice or more-than-just. To unfold this, I consider three virtues and dispositions that Thomas Aquinas calls “potential parts” of justice, namely, the virtue of religion in relation to God as well as the virtues of affability and gratitude in relation to fellow human beings – which we might sum up concisely with the phrase “religion and manners.” Our natural defectibility strongly suggests that only by cultivating religion and manners will we establish a wide enough and supple enough moral context within which social justice can be achieved. This is because religion, affability, and gratitude buttress and buffer our pursuit of social justice by disposing us to be sensitive and responsive to the shared humanity of others – human sensitivity and responsiveness that can illuminate and soften the sometimes hard and sharp edges of justice. My consideration of these potential parts of justice is complemented by the flip side of my claim, the critical side: identity politics undercuts the human pursuit of justice by aiming for something like “unbuffered justice,” which turns out to be less-than-just. The covering over of the shared humanity of others with different identities goes hand in hand with the removal of any support and “padding” that the pursuit of justice requires and that religion, affability, and gratitude provide. Absent the supplemental presence of these virtues – i.e., absent the widespread and habitual consciousness and affirmation of the shared humanity of others – the pursuit of justice predictably devolves into a pursuit for something less-than-just, based on groupings into those who are “ours” and those who are “not ours.” Identity politics, therefore, necessarily falls short of real justice; it does not aim far enough. For in both the consciousness and attitudes it fosters, it fails to press all the way to what underlies all truly just relationships, namely, recognizing and affirming the shared humanity of others. For those conversant with the Catholic intellectual tradition, the shortcomings of identity politics quickly become evident when it is placed under a philosophical or theological microscope. Perhaps less evident is just how deeply identity politics strikes at the heart of the Church’s social teaching, especially the Church’s basic claim that participants in any community are called to pursue the common good in solidarity. For when the common good is understood as “the sum total of social conditions which allow people, either as groups or as individuals, to reach their fulfilment more fully and more easily,”1 religion and manners should come to the fore as indispensable “social conditions” that make achievement of the common good a real possibility. Religion and manners do so especially insofar as they foster solidarity. If, indeed, solidarity “is not a feeling of vague compassion or shallow distress at the mis1 Second Vatican Council, Pastoral Constitution on the Church in the Modern World Gaudium et spes, n. 26: “bonum commune – seu summam eorum vitae socialis condicionum quae tum coetibus, tum singulis membris permittunt ut propriam perfectionem plenius atque expeditius consequantur.”

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fortunes of so many people, both near and far,” but instead exists as “a firm and persevering determination to commit oneself to the common good, that is to say, to the good of all and of each individual, because we are all really responsible for all,”2 then the value of religion and manners becomes even more manifest, precisely because these habituations curb self-interestedness and channel our consciousness and attitudes toward the good of others. My goal here, though, is not to offer any quick solutions to the contemporary problem of identity politics and many of the wrongheaded “DEI” (diversity – equity – inclusion) initiatives to which it gives rise. Rather, I simply hope to clarify the practical significance of cultivating religion, affability, and gratitude in our communities if we want a realistic chance of achieving true social justice. This suggests, of course, that the task of rebuilding the culture is primary, especially our local culture – a task that demands patience and time, perhaps even a few generations, and a task that must begin in and among families whose parents recognize what is at stake not only personally and familially, but also politically and socially, in raising deliberately religious and mannerly children.

I. Religion and Manners: Contextualizing the Pursuit of Justice First, then, the affirmative side of my claim: we ought to pursue justice by aiming for more-than-justice. To see this, it is helpful first to clarify the notion that I am borrowing from Aquinas, that of a “potential part” of justice. When Aquinas discusses justice in the Summa theologiae, he includes treatments of “potential parts” of justice. A potential part of justice does not refer to an attitude or habituation that could or could not be a part of justice or that may or may not be present in someone who is otherwise just.3 That’s not the sense of “potential” in this con2 John Paul II, Encyclical Sollicitudo rei socialis, 30 December 1987, n. 38: “Cum ita mutua copulatio agnoscitur et assumltur, ei respondet, tamquam habitus moralis et socialis, tamquam ‘virtus’, consensio; quae igitur non simplex est et vagus misericordiae sensus vel levis miseratio tot personarum malis tributa, vicinarum aut longinquarum; sed est contra voluntas firma et constans bonum curandi commune, seu bonum uniuscuiusque et omnium, quia omnes vere recipimus in nos.” Interestingly, in the Encylical Centessimus annus, 1 May 1991, John Paul II calls attention to the fact that Leo XIII refers to what is now called the principle of “solidarity” as “friendship” (amicitia), following the Greeks in this regard (“Crebrius quidem a Leone XIII sub ‘amicitiae’ titulo memoratur, quam apud Graecos iam reperimus philosophos” [n. 10].) At least conceptually, then, this suggests a connection between the virtue of affabilitas (which Aquinas also calls amicitia) and solidarity. For Leo XIII’s articulation of “friendship” in this social/political sense, see Encyclical Rerum novarum, 15 May 1891, n. 114 – 116. 3 Bonnie Kent, e. g., seems to suggest something along these lines when she writes: “By distinguishing between the cardinal virtues and various secondary virtues potentially related to the cardinals, a distinction that figures prominently in the Secunda secundae, Thomas respects the common intuition that certain virtues are simply more essential than others to good moral

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text. Rather, a potential part of justice refers to a distinct virtuous disposition that cannot be captured altogether within the intelligible parameters of justice, even though justice – i.e., the obligation and inclination to give back to others what is owed to them – provides the core intelligibility according to which we are to understand this disposition. These dispositions, then, are not actual manifestations of justice, strictly speaking, because they do not fit the definition of justice without some kind of intelligible overfill. Usually this is because justice, properly defined, entails equality, or at least determinate proportionality.4 Actions that are just in the strict sense, in other words, achieve a fixed equilibrium between persons, a settled balance. This results from either an exchange of things that are valued equally by two parties (as in commutative justice) or a distribution of goods that corresponds determinately and proportionately with the needs or merits of the recipients (as in distributive justice). As Aquinas learns from Aristotle’s Nicomachean Ethics,5 there is something quantifiable and mathematical in justice, which allows justice to have an objective and legally binding status in society. But we human beings relate to others, of course, in ways that are not so determinately quantifiable or obligatory. We enjoy relationships, e. g., in which giving back what is owed is simply not achievable, because what is owed can never be fully repaid. In relationships of this sort, no matter how much we give back, we still remain in debt. For Aquinas, such relationships fall within the realm of pietas, “piety”, which encompasses obligations to honor and revere our parents, our country, and, especially, God. And, more specifically, striving for right relationship to God gives rise to religion understood as a virtue and as a potential part of justice.

character”, see Habits and Virtues, in: Stephen Pope (ed.), The Ethics of Aquinas, 2002, pp. 116 – 130 (124). 4 Consider Thomas Aquinas, Summa theologiae, II-II, q. 80, a. 1: “Sunt enim quaedam virtutes quae debitum quidem alteri reddunt, sed non possunt reddere aequale. Et primo quidem, quidquid ab homine Deo redditur, debitum est, non tamen potest esse aequale, ut scilicet tantum ei homo reddat quantum debet; secundum illud Psalm., quid retribuam domino pro omnibus quae retribuit mihi? Et secundum hoc adiungitur iustitiae religio, quae, ut Tullius dicit, superioris cuiusdam naturae, quam divinam vocant, curam caeremoniamque vel cultum affert.” 5 See Aristotle, Nicomachean Ethics (trans. Robert Bartlett and Susan Collins, University of Chicago Press, Chicago 2011), V.3-4, 1131a10-32b20. In these chapters about justice, we can read the following sorts of claims by Aristotle: “The just, therefore, is a certain proportion. Proportion is not peculiar to abstract number, but belongs to number generally. For proportion is an equality of ratios, and it involves at least four terms” (1130a30-33); “The just in this case, then, is the proportional; the unjust is what is contrary to the proportion. The unjust, therefore, is both what is more [than the proportion], on the one side, and what is less than it, on the other, which is in fact what happens when it comes to our deeds” (1131b16-19); “The just in transactions is a certain equality, and the unjust, a certain inequality, yet not in accord with the proportion just indicated but in accord with an arithmetic one” (1131b33-32a1).

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1. Religion: Relativizing and Buffering Justice In the case of religion, the “potency,” the intelligible overfill, has to do with our ability – or, perhaps more precisely, our inability – to pay God back what is actually owed, in that God can always be paid back more than any amount we have already given. For as Creator, God is ultimately and universally responsible for my existence and the existence of all else that exists. God’s bringing all realities into existence out of nothing (including myself) as well as God’s constantly maintaining them in their existence establish at the core of every human being an unpayable metaphysical debtstructure, so to speak. Each of us exists as ongoingly indebted for every moment of our existing from God and by God. This is the deepest possible indebtedness, and it ought to induce us to honor and serve God in a unique and superlative manner – even with full awareness that no matter how much we honor and serve God, we will never fully “settle accounts” with God. Articulated in Augustinian terms, this indebtedness underlies the cor inquietum, the “restless heart”, that each of us has and experiences. Thus, Augustine repeats twice in the opening lines of the Confessions: laudare te vult homo, aliqua portio creaturae tuae, “man, a certain portion of Your creation, wants to praise You.”6 At the heart of being human stands our deepest inclination as a rational creature: to honor God, to praise Him, especially for the very gift of our existing at all. The moral universe, then, is “charged” or “magnetized” by an ever-present potency to give back to God more and more. This potency, moreover, is ever increasing, as it were, because simply by existing, we continue to rack up more debt – and at a rate quicker than any of our actions toward God are capable of matching. By acknowledging and responding to this human situation, the exercise of the virtue of religion has positive effects on social relationships, especially insofar as recognizing the givenness of our existence as creatures and our profound indebtedness to God relativizes the debts that we owe one another. For, as Aquinas puts it, “In God is found firstly and chiefly the cause of anything owed, in that He is the first principle of any goods that are ours.”7 When accepted and responded to, then, this metaphysical condition of incalculable indebtedness in which each of us exists can buffer the justice between and among human beings that we pursue. At the very least, a religious disposition puts into perspective any offenses against us when we do not receive from others what is owed. As a humbling disposition of soul that locates the pursuit of justice within its widest context and helps us to recognize our shared lot as human beings, religion should incline us toward mutual deference and benevolence. Christ himself brings these implications of a religious disposition to light in his parable of the unforgiving servant who pleads for the forgiveness of his immense debt to his master, only to become positively stingy and small-souled in demanding to be repaid by a fellow servant. 6

Augustine, Confessions, I.1.1 (my translation). Aquinas, Summa theologiae, II-II, q. 106, a. 1: “In Deo autem primo et principaliter invenitur causa debiti: eo quo ipse est primum principium omnium bonorum nostrorum.” 7

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Upon hearing about this ungrateful servant, the master in that parable summons this servant and scolds him thus: “You wicked servant! I forgave you all that debt because you pleaded with me. Should you not have had mercy on your fellow servant as I had mercy on you?” (Matthew 18:32 – 33).8 A genuine religious disposition, then, helps us to assess more deeply and more accurately the moral debts that we owe each other in light of the metaphysical debt that each of us owes the Creator – a metaphysical debt to God that we recognize owing to the very humanity with which we have been endowed by God. Recognition and affirmation of God’s generosity in creating us precisely as human, and thus precisely as free, ought to suffuse our encounters with others. Indeed, a religious disposition can and ought to open up a channel within us to mediate the Creator’s generosity in relationships with others. And two other potential parts of justice that Aquinas discusses indicate how this could come about, namely, affabilitas and gratitudo, affability and gratitude. The “potency” at work in these intentional attitudes toward others consists not so much in the ever-existing ability to give back more and more, but rather in the availability of opportunities to give back to others even when no giving back is, strictly speaking, obligatory. 2. Affability and Gratitude: How Manners Supplement the Pursuit of Justice Consider the following situation. A white man is standing in line at a grocery store with just a few items for purchase, and he is antsy. A black woman ahead of him, who has a cart full of groceries, perceives that he is in a hurry and allows him to go ahead of her in line. He gladly receives her offer and, as he does so, smiles at her and says, “Thank you! I really appreciate it.” This seemingly insignificant “exchange” that takes place – one place in line for one expression of thanks, as it were – is not, of course, a matter of justice in the strict sense. The exchange does not take place, in other words, under the impetus of a prescribed obligation, and it is difficult to determine whether things of equal value have been exchanged. Rather, both the white man and the black woman are operating in a space not only of personal freedom, but also of unnecessary reciprocation. Describing it morally, we can call the woman’s act “affable” or “friendly” and the man’s response “grateful” or “gracious.” What surfaces in this simple interaction – an interaction marked by its “politeness” or “mannerliness” – is humanity. The humanity of the black woman encounters the humanity of the white man; each person recognizes the other’s humanity, and each responds suitably. Both affability and gratitude spring from awareness of anoth8 In this context of religion and how some of its dimensions appear in Scripture, I am reminded of the words of the Apostle James: “Religion that is pure and undefiled before God and the Father is this: to visit orphans and widows in their affliction, and to keep oneself unstained from the world” (James 1:27). James suggests, then, that positive social actions like caring for orphans and widows, though not aimed at God directly, nonetheless witness to the actual presence of religion in the souls of human beings.

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er’s humanity. Such awareness underlies not only legal obligations, but also something more fundamental than these, namely, a shared way of life within which legal relationships come to exist.9 Along these lines, consider how Aquinas describes affability or friendliness: “[S]ince virtue is ordered to what is good, a specific virtue has to exist where a specific notion of the good occurs. Now, the good consists in order … It has to be the case, however, that human beings be fittingly ordered to others in a common way of life, both in things they do and things they say, so that they may relate to everyone in accord with what’s decent and suitable. For this reason, a specific virtue that observes this fittingness of order has to exist, and that virtue is called friendliness or affability.”10

The word translated as “way of life” here is conversatio, a beautiful word with a long and meaningful history in the Catholic intellectual tradition. Transliterating it into English as “conversation” is too limiting as a rendering, although this rendering does capture important aspects of what’s at stake here, namely, an entire way of life. Consider the conditions that have to be met for a conversation to take place between two people: shared space, healthy and functioning senses, and, perhaps most germane in this context, shared language and grammar. We often take for granted these conditions for conversations, conditions that serve to knit together everyday social life. I want to call special attention to the shared language and grammar that underlies conversation. We are usually initiated into these early on in life, and when we strike up a conversation with someone whom we know, we simply presume this commonness. Now, affability operates in the realm of human sociability as something like the attitudinal equivalent to shared language and grammar in the realm of human conversation. In this way, then, affability or friendliness is prior to justice; it provides a kind of framework for justice, even an implicit standard for it. Affability – which is sometimes also called “friendliness” – is the corresponding bookend, one might say, to actual friendship itself, which is a relationship of love and affection that exceeds justice, insofar as friends do not just give each other what is owed, but relate 9 Sometimes the social condition that underlies the harmonious version of this shared way of life is called “civility,” and thus it is often said that politics needs to be more “civil” or our political discourse more “civil.” Some have even identified the potential parts of justice as “virtues of civility.” See, e. g., Romanus Cessario, The Virtues, or the Examined Life, Continuum, New York 2002, pp. 147 – 148; also, M.-Michel Labourdette, Cours de théologie morale: La justice (IIa-IIae, 57 – 76), vol. I, Parole et Silence, Toulouse 1960, p. 430. I hesitate to talk about “civility” in this context, inasmuch as in the context of social life or public discourse, this word can suggest something less than a virtue that has to be instilled and something more like rules to be followed – and I think the fact that affability and gratitude exist as virtues, i. e., as just habituations rooted in a specific consciousness and attitude toward others as human, is crucial. 10 Summa theologiae, II-II, q. 114, a. 1: “cum virtus ordinetur ad bonum, ubi occurrit specialis ratio boni, ibi oportet esse specialem rationem virtutis. Bonum autem in ordine consistit. … Oportet autem hominem convenienter ad alios homines ordinari in communi conversatione, tam in factis quam in dictis, ut scilicet ad unumquemque se habeat secundum quod decet. Et ideo oportet esse quandam specialem virtutem quae hanc convenientiam ordinis observet. Et haec vocatur amicitia sive affabilitas.”

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to one another as other selves. Affability or friendliness prefigures this mature form of deliberate, self-giving friendship, which itself completes the virtue of justice. Friendship exists in choice and in the heart, one might say – on the level of our deepest affects; relating affably or in a friendly manner toward others, by contrast, exists chiefly on the level of external words and deeds.11 Compared to the fullness of friendship, therefore, affability or friendliness may appear superficial, but it is not necessarily so – and certainly it is not superficial when it is a virtue, i. e., when it is undertaken deliberately in recognition of the objective humanity of the other.12 Indeed, as a virtue, it is rooted in the conviction that we are called to live in harmony with all others to whom we relate socially – in daily life, business transactions, and political discourse – and that the principal key of that harmony is our shared humanity. As the story about the black woman and the white man at the grocery store suggests, gratitude complements affability. As affability prompts us to reach out and to give to others in “supra-obligatory” and more-than-just ways, so gratitude prompts us to receive and respond to others in “supra-obligatory” and more-than-just ways. As Aquinas puts it, gratitude “renders thanks back to those who have done good for us.”13 The Latin verb translated here as “renders back” is recompensare – a telling word. Its root is the verb pensare, which is to weigh or to balance things. Gratitude balances the scales of human relationality, as it were; it disposes me to give back freely a sign of recognition and affirmation to another who has recognized my humanity by giving something freely. As a potential part of justice, of course, this balancing of the scales is not incumbent upon someone owing to any sort of prescribed or legal debt. Indeed, no one can be sued for not saying “thank you”!14 It arises, rather, from what Aquinas calls a debitum honestatis, a debt of honorableness or honesty. “To the virtue of graciousness or gratitude,” Aquinas says, “there pertains a paying-back that comes about

11 See, e. g., Summa theologiae, II-II, q. 114, a. 1 ad 1: “philosophus in libro Ethicorum de duplici amicitia loquitur. Quarum una consistit principaliter in affectu quo unus alium diligit. Et haec potest consequi quamcumque virtutem. … Aliam vero amicitiam ponit quae consistit in solis exterioribus verbis vel factis. Quae quidem non habet perfectam rationem amicitiae, sed quandam eius similitudinem, inquantum scilicet quis decenter se habet ad illos cum quibus conversatur.” 12 See, e. g., Summa theologiae, II-II, q. 114, a. 1 ad 2: “omnis homo naturaliter omni homini est amicus quodam generali amore, sicut etiam dicitur Eccli. XIII [v. 9], quod omne animal diligit simile sibi. Et hunc amorem repraesentant signa amicitiae quae quis exterius ostendit in verbis vel factis etiam extraneis et ignotis. Unde non est ibi simulatio. Non enim ostendit eis signa perfectae amicitiae, quia non eodem modo se habet familiariter ad extraneos sicut ad eos qui sunt sibi speciali amicitia iuncti.” 13 Summa theologiae, II-II, q. 106, a. 1: “est gratia sive gratitudo, quae benefactoribus gratiam recompensat.” 14 One might contrast with this what is often seen in DEI initiatives, namely, the insistent demand that others recognize and affirm certain identities, which appears to place something closer to a legal debt on the one at whom such a demand is aimed.

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only owing to a debt of honorableness, which someone carries out spontaneously. Hence gratitude is less free when it is coerced.”15 The pregnant phrase that Aquinas deploys here, debitum honestatis, is difficult to translate, and I’ve captured it insufficiently with “debt of honorableness.” In other contexts, honestas names the form of goodness that belongs to things that are good in their own right or for their own sake and, in turn, are fruitful.16 Honestas might be captured better in English, then, with the word “dignity,” which often signifies the inherent worth of a being, especially a human being.17 In this passage, then, Aquinas is suggesting that gratitude arises from the fact that I “owe” something to another because of my own dignity, i. e., my dignity as a human being who is capable of recognizing that another has given me something gratis and that as a human being I am able – and in some sense I ought – to respond in kind. Simple exchanges of this sort, human to human, lie at the heart of social life and supply the fitting context for the pursuit of justice. Gratis accepistis, gratis date; “Freely you have received; freely give” (Matthew 10:8): so says Jesus to his apostles, capturing something so vital to establishing harmony in particular relationships as well as in society in general. The reason that one pays back a legal debt can in fact be some sort of coercion. In other words, one pays it back because one has to; otherwise, certain punishments will ensue. Imagine, though, that someone were to ask the man who accepted the place in line ahead of the woman who offered it: “Why did you thank her?” What might he say? No doubt he’d stumble to provide an answer. Aquinas, however, suggests one with his notion of a debitum honestatis: “I thanked her because I am honorable and dignified” – or, perhaps even more fundamentally, “I thanked her because she and I are human.”

15 Summa theologiae, II-II, q. 106, a. 1 ad 2: “ad virtutem gratiae sive gratitudinis pertinet retributio quae fit ex solo debito honestatis, quam scilicet aliquis sponte facit. Unde gratitudo est minus grata si sit coacta.” 16 This sense of honestas traces all the way back to the opening of Book II of Plato’s Republic, when Socrates identifies three forms of the good: the useful, the pleasurable, and that which we love “for itself and for what comes-to-be from it” (aqt| te artoO w\qim !cap_lem ja· t_m !pû aqtoO cicmol]mym) (357c1 – 2). In the Latin tradition, these these three forms of the good are named utile, delectabile, and honestum, respectively. 17 Another possible translation might be “integrity,” especially when it names a wholeness or fullness of character, such as when we speak of someone as a person of integrity or as having integrity. This suggests that the debt of which Aquinas speaks springs from the wholeness of someone; something would be missing in the man, then, if he did not express gratitude to the woman who gave him her place in line. For more on the notion of a moral debt, see Stephen Theron, Justice: Legal and Moral Debt in Aquinas, in: American Catholic Philosophical Quarterly 78 (2004), pp. 559 – 571. Theron says that when it comes to moral debts, things “are not owed to the recipient with the binding force of law, but rather as it were to one’s own character – to its beauty, we might well say” (p. 561).

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3. Religion and Manners: Underlying a Politics of Shared Humanity In discussing these potential parts of justice – religion, affability, and gratitude – I have emphasized the role of our humanity as such as the basis for responding religiously to God as Creator and for dealing affably and gratefully with fellow human beings. Within the context that these potential parts of justice provide stands justice itself, and at the heart of justice, of course, lies the acknowledgment of others precisely as human as well as the obligation to give back what is owed to them precisely because of their humanity. Justice arises, then, out of recognition and affirmation of shared humanity within a community, and as a virtue it inclines us against any forms of selfishness whereby we unfairly prefer ourselves or our own, however it is that we decide to define “our own.” I have been suggesting, moreover, that the actualizing of justice as a social reality depends on the cultivation of religion, affability, and gratitude in individuals – attitudes and dispositions that relate us human persons to each other in more-than-just ways and that prompt us at times even to prefer another’s good to our own. Absent such dispositions in our souls, it seems to me, we are likely to collapse into various forms of selfishness, as individuals or as groups, in our pursuit of social justice. In a way, then, this takes us back to the beginning: if we want X, we ought to strive for more-than-X. If we want social justice, we ought to strive first for religion, affability, and gratitude. These attitudes and habituations strengthen and expand our alltoo-human hearts so as to withstand temptations to selfishness when the demands of justice become difficult to meet. Like the basketball player making nine out of ten free throws in practice, or my fasting regularly in order to become moderate when it comes to food, being religious and being deliberate in mannerliness dispose human beings appropriately toward one another and make them supple pursuers of justice in the real world, where the deep inclination for one’s own good and the good of one’s own can so easily be pitted against the good of others and the common good.

II. Unbuffered Justice: A Politics of Identity in Lieu of a Politics of Humanity Religion, affability, and gratitude: these virtues, three potential parts of justice, underlie harmonious social relationships by inclining us to overshoot justice in our particular dealings with others.18 When these virtues suffuse human relationality 18

It is crucial to see that potential parts of justice fall short of justice only, as it were, logically, inasmuch as they fall short of the full definition of virtue, as was indicated above. As moral realities, however, they are truly virtues and in some ways exceed a (merely) just disposition toward others. For more on this point, see Adam Eitel, “Virtue or Art? Political Friendship Reconsidered”, in: Journal of Religious Ethics 44 (2016), pp. 260 – 277. – Consider

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within a community, they make social justice more achievable. This is because the overshooting of justice that these virtues encourage creates a buffer or padding between and among human beings in a community, easing their relationships, making those relationships more supple. A religious and mannerly social milieu, then, can soften and blunt the sometimes hard and sharp edges of justice, whose perfection often lies in its rigorous, objective determinations expressible in quantitative terms. And at the root of this social milieu stands our shared humanity, which subsists more deeply than any differences that we may assert as identifying ourselves or those whom we recognize as our own. Such are my affirmative claims, inspired by the thought of Thomas Aquinas and his comprehensive account of justice in the Summa theologiae – although, I might add, my reading of Aquinas is often done through a more personalistic lens of the sort found in the works of Karol Wojtyla/ John Paul II. In light of what has been discussed thus far, it is not difficult to show how identity politics predictably falls short in its pursuit of social justice. The basic reason is fairly simply: a politics of identity covers over our shared humanity as the basis of human relationality by drawing our attention first and foremost to different identities – sexual and racial, in particular – as the basic framework within which human relationships come to be, at least practically speaking. According to a politics of identity, then, what ought to be cultivated most fundamentally is not recognition and affirmation of our shared humanity, but the detection and approval (or disapproval) of the sameness or difference of others in relation to ourselves.19 In order to clarify this, I want to differentiate in a more abstract and logical manner between a “politics of identity” (with which all of us have become familiar in recent years) and a “politics of shared humanity” (rooted in the cultivation of religion and the way Eitel puts it when describing piety and gratitude precisely as potential parts of justice: “So in saying these virtues ‘lack’ something proper to justice, he cannot mean that they somehow lack something proper to virtue. No. Piety and gratitude are virtues in their own right – no less so than justice. Indeed in a less noticed passage, Thomas argues that piety and gratitude go beyond justice by lending it ‘ornament’ or ‘aid.’ … Bolstering its work, extending its province, and indeed completing it, piety and gratitude in some sense perfect justice by disposing us to obligations that fall beyond the authority of human law. It is precisely because piety and gratitude go beyond justice that they “lack” something proper to its nature: they have “different specific natures” (diversas speciales rationes) insofar as they regard “different natures of debt” (diversas rationes debiti, ST I-II, Q. 60, A. 3)” (pp. 271 – 272). For further evidence of how Aquinas’s rich account of justice takes us beyond a merely legalistic understanding of justice, see Eleanor Stump, Aquinas on Justice, in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 71 (1997), pp. 61 – 78. 19 In Book II of Plato’s Republic, in laying out the initial qualities of the guardians of the city, Socrates considers the noble dog (cemma?or j}ym) who is gentle to its own and cruel to enemies (pq¹r l³m to»r oQje_our pqõour aqto»r eWmai, pq¹r d³ to»r pokel_our wakepo}r). See 375c – e. This is an immature, pre-philosophic stage in the development of those who go on to become full guardians, especially by means of a philosophical education. Noble dogs who are gentle with their own and cruel to enemies could be taken as a metaphor to help us understand those who relate to others on the basis of a politics of identity.

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manners). In doing so, I hope to clarify the opposing ways in which these two forms of politics predispose us toward human relationality, i. e., the different ways in which each shapes our underlying consciousness and attitudes toward others human beings. First, then, a politics of humanity. To recognize and to affirm, primarily and principally, the shared humanity of others gives rise to recognizing and affirming our shared otherness as well. By acknowledging my shared humanity with another, I am aware too that I am just as other to you as you are to me. This consciousness of otherness-within-sameness inclines one to deference and benevolence, even sympathy, toward human beings in general, which should prompt and influence our pursuit of social justice. Indeed, by recognizing and affirming someone as other within a shared humanity, I am disposed to wonder at the fact that we have been placed here together in this world, sharing a common lot.20 Such consciousness of others in our shared humanity coheres and synergizes with religion and manners: on the one hand, the development of these potential parts of justice is spurred by such consciousness; on the other hand, such consciousness is enhanced and solidified by the exercise of these very virtues. A politics of identity, by contrast, encourages a different sort of consciousness of others. It encourages, in fact, a converse sort of “first look” at others, namely, the detection and confirmation of sameness or difference in relation to oneself. In this case, then, the primordial look at others implicates one immediately in a context of potential opposition. I begin from the standpoint of an identity that I myself have, one that either I am responsible for determining (in the case of sexual identity) or one that that I am responsible for fostering and deploying (in the case of racial identity), and from that identity-based standpoint I perceive others principally according to their belonging or not belonging to those who are my own. This puts me in a position either to embrace my identity along with those who are my own, or in some way to scorn my identity and give precedence to those who are not my own. This latter approach is embodied in what is often called “allyship” (when it comes to sexual identity) or “anti-racism” based on an awareness of “white privilege” (when it comes to racial identity). It seems obvious that the consciousness of others and the attitudes toward them that a politics of identity encourages are antithetical to the potential parts of justice (religion, affability, gratitude) spelled out above. It would be difficult to imagine, e. g., a genuinely religious attitude that, in light of our obligations to God the Creator, 20 Cf. John Paul II, Encyclical Fides et ratio, 14 September 1998, n. 4: “Concupiscens extremam vitae veritatem homo adipisci, illas universales studet comparare cognitiones quae ei facultatem dant melius se comprehendendi ulteriusque progrediendi ad se perficiendum. Fundamentales hae notiones illa ex admiratione emanant quam rerum creatarum contemplatio in eo excitat: rapitur enim homo stupens quod se in rerum universitatem videt insertum cum aliis sui similibus consociatum quibuscum etiam communicat sortem. Iter hinc incipit quod illum pervehet ad novos usque cognitionis orbes detegendos. Nisi obstupescens miraretur homo, in repetitionem quandam sterilem recideret ac, paulatim, facultatem amitteret vitae reapse personalis ducendae.”

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fails to look at others first and foremost in their humanity as created by God and instead sees them through the lens of this or that limited identity. This becomes even harder to imagine when that identity is thought of as an aspect of one’s humanity that is not given, but that is postulated as something created by a person’s own willing and desire – as, e. g., gender ideology conceives of sexual identity. It should be no wonder, then, that Robert Cardinal Sarah asserts the following when it comes to such an ideology: We receive our nature as man and woman. This becomes unbearable to the modern spirit. Gender ideology is a Luciferian refusal to receive from God a sexual nature. The West refuses to receive; it only accepts that it constructs its very self. Transhumanism is the ultimate avatar of this movement. Human nature itself, because it is a gift from God, becomes unbearable to Western man.21

Any such conception of identity along the lines of gender ideology, then, inevitably falls short of a truly religious disposition. It would also be difficult to imagine how affability and gratitude could cohere with looking at others, not first and foremost in their shared humanity, but instead as subjects possessing an identity.22 Hence the influence that a politics of identity has on our perception of others seems to lead to deliberate unmannerliness. Is it any wonder, then, that political discourse in Western societies, so often carried out in terms of identity politics, is plagued by widespread incivility? Not only do different forms of social media promote this, but also every form of identity politics deliberately (and often loudly) conceals our shared humanity and urges us to relate to one another in a manner that divides us from the start. Indeed, by terminating the depth of our looking at others at the level of their various identities, a politics of identity inures us to the shared humanity of others, making us increasingly less capable of respectful dialogue, let alone genuine friendship. No matter which sorts of identity are at play, they simply do not manifest the depth of others’ selves or souls, which stand at the heart of their humanity. This is how an identity politics falls short in comparison to a politics of shared humanity. At this point a passage early in Book II of Augustine’s Confessions comes to mind, a passage in which he is recollecting his stormy youth, when he delighted so much in 21 This is taken from an interview with Cardinal Sarah: “Nous recevons de lui notre nature d’homme et de femme. Cela devient insupportable aux esprits modernes. L’idéologie du genre est un refus luciférien de recevoir de Dieu une nature sexuée. L’Occident refuse de recevoir, il n’accepte que ce qu’il construit lui-même. Le transhumanisme est l’ultime avatar de ce mouvement. Même la nature humaine, parce qu’elle est un don de Dieu, devient insupportable à l’homme d’Occident” (Christophe Geffroy, Un monde à reconstruire, La Nef 313, April 2019, see https://lanef.net/2019/03/29/un-monde-a-reconstruire [last visit 20 October 2023], my translation). 22 I am reminded here of the idea of “concupiscence of the eyes” discussed in John Paul II, Man and Woman He Created Them: A Theology of the Body, Pauline Books, Boston 2006. See especially § 42:1 – 2, where John Paul II correlates this form of concupiscence to a Marxian way of seeing others, which diminishes the way we look at our fellow human beings.

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loving and being loved. In reflecting on this period of life, he laments his failure to live up to the measure that ought to have informed his relationships. The measure of his loving and being loved, he asserts, should have been the pathway of friendship. Augustine confesses thus: “The measure from soul all the way to soul, however, was not maintained by me, even though this is the luminous pathway of friendship.”23 The pathway of friendship – and, indeed, the pathway toward others opened up by religion and manners – reaches from soul all the way to soul. To settle for anything less, to shorten this path in any way by consciously stopping at the level of this or that identity, dooms human relationships from the start. Thus, as a politics of shared humanity proposes, when it comes to the pursuit of social justice, we do well both to begin and to end on the luminous pathway of friendship.

III. Concluding Reflections Allow me to conclude with a few brief reflections that, hopefully, expand the scope and consideration of these matters. The first is this: as Qoheleth teaches us in Ecclesiastes, there is nothing new under the sun. The reality of identity politics is nothing new, even if it bears a new name. It is a mode of understanding human relationality and society that appears, e. g., on Socrates’s philosophical radar throughout the Republic. Socrates knows that the enduring difficulty of politics is drawing us away from a preference for our own and persuading us to adhere to true justice, which entails pursuing the common good – i.e., the good of the community as a whole – which is rooted in the shared humanity of the participants. When we read the Republic, moreover, we may be inclined to think that Socrates’s primary opponent is Thrasymachus, Socrates’s interlocutor in Book I who holds that justice consists in the advantage of the stronger – in other words, that “might makes right.” In some sense, of course, this is true. Thrasymachus’s extreme view of justice seems, however, easier to overcome than a less extreme, more attractive, and thus maybe a more dangerous view of justice, namely, justice as “helping one’s friends and doing harm to one’s enemies.” This view of justice, which operates as something like a default position into which we human beings fall owing to our defectibility, becomes especially problematic when we ourselves determine the boundaries of friendship and those of enmity rather than accepting them according to nature-based moral standards. Every contemporary politics of identity, then, can be seen as embodying this default, defective view of justice, and so it may behoove us to return to Plato’s Republic to learn how to argue against it. A second brief reflection takes its start from the opening chapter of Aristotle’s discussion of friendship in the Nicomachean Ethics, where Aristotle asserts the following: 23 Augustine, Confessions, II.2.2: “Sed non tenebatur modus ab animo usque ad animum, quatenus est luminosus limes amicitiae.”

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It seems too that friendship holds cities together and that lawgivers are more serious about it than about justice. For like-mindedness seems to be something like friendship, and lawmakers aim at this especially and drive out discord because it especially produces hatred. When people are friends, they have no need of justice, but when they are just, they do need friendship in addition; and among things that are just, the most just seems to be that which involves friendship.24

As we increasingly face the deep limitations of identity politics, I have grown to appreciate Aristotle’s insights here more and more. There’s too much to unpack in this passage, of course, and so it may be sufficient simply to underline here Aristotle’s insight into the primacy of friendship in relation to justice when it comes to politics. The consequences of this truth are significant, and they may compel us to focus our efforts on the familial and cultural dimensions of society rather than on the strictly legal and political, because it is in those dimensions that we develop our underlying conscious of and attitudes toward others, the quality of which determines our potentiality for friendship and, in turn, our manner of pursuing social justice. A third and final reflection has to do with Catholic social teaching, a teaching about human social life that embodies the premise with which I began, namely, the practical wisdom of striving for more-than-justice if we are going to have any chance at achieving real justice. Catholic social teaching not only highlights the dignity of human persons, but also, as I noted at the start, the pursuit of the common good in solidarity with all other participants in one’s community. One advantage of Catholic social teaching, of course, is that it is rooted in a deeply religious understanding of human persons, each of whom is called to eternal life – which stands as our eschatological end that can certainly be described as “more-than-just” inasmuch as God freely and affably offers it to us while we freely and gratefully receive it. The Church is aware, moreover, that the reality of this more-than-just end should suffuse the moral, political, and social dimensions of human life in this world. The principles of Catholic social teaching make this manifest, especially the dignity of human persons, the principle of the common good, and the call to solidarity with others; for each of these principles implies a value belonging to the human person that transcends not only his or her individuality, but also life in this world. In this regard, then, not only Plato and Aristotle, but also the Church’s rich treasury of social teaching can provide much for us to ponder as we strive to overcome the limits of any politics of identity in any age. For the Church in every age is well aware that if we want justice, we ought to aim for more-than-justice, and that the wherewithal to do so is to be found in the cultivation of human souls in virtue – in the case at hand, in religion and manners. The “little way” of overcoming the limits of identity politics, then, is available to us daily, in the everyday call to worship God in truth and to treat our neighbors with dignity. 24

Aristotle, Nicomachean Ethics, VIII.1, 1155a23 – 29: 5oije d³ ja· t±r p|keir sum]weim B vik_a, ja· oR moloh]tai l÷kkom peq· aqtµm spoud\feim C tµm dijaios}mgm: B c±q bl|moia floi|m ti t0 vik_ô 5oijem eWmai, ta}tgr d³ l\kistû 1v_emtai ja· tµm st\sim 5whqam owsam l\kista 1neka}mousim: ja· v_kym l³m emtym oqd³m de? dijaios}mgr, d_jaioi dû emter pqosd]omtai vik_ar, ja· t_m dija_ym t¹ l\kista vikij¹m eWmai doje? (my translation).

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Zusammenfassung Um die Grenzen und Unzulänglichkeiten von Identitätspolitik und DEI (Diversity – Equity – Inclusion) abzugrenzen, untersucht dieser Beitrag, wie die Tugend der Religion zusammen mit den Tugenden der Freundlichkeit und Dankbarkeit („Umgangsformen“) zu einer wohlfundierten sozialen Gerechtigkeit befähigt, d. h. zu einer Gerechtigkeit zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, die aus der gegenseitigen Anerkennung unserer gemeinsamen Menschlichkeit und dem Eingehen auf sie erwächst. Diese Tugenden bilden die Grundlage für eine „Politik der Menschlichkeit“, die gegen die Tendenz des Etikettierens und der ungeordneten Bevorzugung des eigenen Standpunkts ankämpft – einer Tendenz, die einer „Identitätspolitik“ latent, wenn nicht sogar explizit innewohnt. Im Zuge dieser Überlegungen werden die theoretische wie praktische Bedeutung der Lehre über die „potentiellen Teile“ der Gerechtigkeit in der Summa theologiae des Thomas von Aquin beleuchtet.

IV. Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft/ Impact on the Economy and Society

Diversität in Deutschland – zwischen „Nur-Vielfalt“, Antidiskriminierung und Macht im Recht Zur Wirkmächtigkeit politischer Agenden1 Von Lothar Häberle Auch wenn der Begriff Diversität nicht selten negativ konnotiert ist,2 lohnt es sich, ihn auch von anderen Seiten zu beleuchten. Denn Diversität ist sehr wohl auch hilfreich, sinnvoll und sogar unverzichtbar, nicht nur in der Musik, dort aber besonders. Bei Wettbewerben etwa junger Pianisten wird Differenziertheit in der Anschlagtechnik, weil sie zu Vielfalt in den Klangfarben und im musikalischen Ausdruck führt, immer hoch bewertet, macht oft den Unterschied aus zwischen einer vielleicht sogar technisch perfekten Notenwiedergabe und authentischer Kunst. Diversen Facetten von Vielfalt (unter I.) und Paradigmen der Diversität (II.) folgt die Analyse konzeptioneller Umrisse der Diversität (III.). Ausgehend vom Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) ist der Hauptteil dieses Beitrags den weiterführenden Überlegungen zur Antidiskriminierung gewidmet (IV.), gefolgt von Überlegungen zu Macht und Gegen-Macht (V.). Anschließend wird die Wirkmächtigkeit politischer Agenden beleuchtet (VI.). Abgeschlossen werden die Ausführungen mit einigen wenigen Aspekten zur Diversitätsdimension Meinungsfreiheit (VII.) und einem Fazit (VIII.).

I. „Nur-Vielfalt“? Diverse Facetten von Vielfalt 1. Begriffliche Vorfragen Diversität wird meist individual-bezogen3 gesehen als „Vielfalt menschlicher Identitäten im Hinblick auf die (weitgehend positivrechtlich normierten) Kategori1

In den folgenden Ausführungen wird durchgehend das generische Maskulin verwendet. Siehe nur René Pfister, Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, 2022, S. 68 f. 3 Das soll nicht ausschließen, daß die zwischen Individuen bestehenden identitätsstiftenden Merkmale auch in „gruppenkonstituierender Weise geteilt werden können“, aber der Fokus gilt dem Individuum. Ulrike Lembke, Diversity als Rechtsbegriff. Eine Einführung, Rechtswissenschaft 2012, 46 (49). – Dies scheint Schorkopf insofern anders zu sehen, als er vermittels des Konzepts der Identität von Gruppen auch für Diversität sich öfter auf Gruppen 2

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sierungen, welche Ausdruck oder Mittel gesellschaftlicher Hierarchisierungen sind“.4 Über die begriffliche Unterscheidung Vielfalt und Diversität gibt es noch keine Eindeutigkeit in der Literatur. Sinnvoll erscheint die Verknüpfung von Diversität mit Normativität, wodurch Diversität zum Gesellschaftskonzept wird, hingegen sollte Vielfalt zur Beschreibung des Tatsächlichen verwendet werden.5 2. Gleichheit ordnet Vielfalt Die Menschen sind bzgl. vieler Dimensionen verschieden. Einige dieser Dimensionen (Alter, Geschlecht, etc.) findet das Recht vor und hat sie in sachgerechten Differenzierungen oder rechtlichen Angleichungen zu würdigen, andere Ungleichheiten werden gesetzlich verändert (finanzielle Situation) usw. Das Gesetz sucht in der Verallgemeinerung den richtigen Grad der Gleichheit,6 um Vielfalt erst zu begreifen, dann zu ordnen. Dabei ist der Gegenbegriff zu Gleichheit „nicht Vielfalt, sondern Ungleichheit (Differenz), Vielfalt steht in einem Gegensatz zu Gleichförmigkeit, Einheitlichkeit bzw. Homogenität oder auch Konformität“.7 Da die Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Begabungen, Fähigkeiten und Interessen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen unterschiedlich nutzen, führt eine zu gleichem Freiheitsgebrauch ermächtigende, abstrakte Gleichheit zu konflikthafter sozialer Vielfalt, erzeugt soziale Ungleichheit. Formale Gleichheit macht rechtliche und tatsächliche Ungleichbehandlungen nicht unzulässig, jedoch setzt sie der Gleichheitsanspruch unter Rechtfertigungszwang. „Gleichheit wird so zu einem Instrument der Kritik“, ermöglicht, „tradierte Strukturen in Frage zu stellen und normative Leitbilder herauszufordern“.8 Da das Gleichheitsurteil auf einem Vergleich beruht, der Übereinstimmung nur bestimmter Merkmale feststellt, richtet sich deren Auswahl nach dem Zweck des Vergleichs – mit „dem Vergleich wird die reale Vielfalt nach bestimmten Zwecken kategorisiert“.9

bezieht, s. Frank Schorkopf, Staat und Diversität. Agonaler Pluralismus für die liberale Demokratie, 2017, S. 19 ff. und passim. 4 Lembke (Fn. 3), 46 (52). 5 Schorkopf (Fn. 3), S. 10 (dortige Anm. 9). 6 Paul Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Josef Isensee/ders. (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 1 und 3. 7 Friederike Wapler, Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen und des juristischen Diskurses, VVDStRL 78 (2019), S. 53 (56). 8 Zum ganzen Abschnitt ebd., S. 53 (59 f.). 9 Ebd., S. 53 (62).

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3. Vielfalt und Identität Vielfalt steht in engem Zusammenhang zu individueller und kollektiver Identität. Der Begriff der Identität ist komplex: Identität ist „weder zwingend starr und einheitlich noch notwendig im Singular zu verstehen. Der Wandelbarkeit korrespondiert so eine mögliche Mannigfaltigkeit der Identitäten“, wobei der „Vielfalts- und Identitätsbezug deshalb eine besondere Dynamik“ besitzt. „Er ist nicht auf seine historische Ausgangsperspektive begrenzt, sondern durch eine Ausweitungstendenz gekennzeichnet“, wobei offen ist, „wie weit diese Expansionsbestrebungen getrieben werden können“.10 Das wird noch näher zu beleuchten sein.11 4. Vielfalt-Zunahme durch Migration Vielfalt kann im Tatsächlichen etwa durch Migration zunehmen. Für die Migrations-Wahrnehmung durch die aufnehmende Bevölkerung etwa für die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft sind verhaltensabhängige Kriterien – ob jemand die deutsche Sprache beherrscht, Straftaten begangen hat oder sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt – in den letzten 20 Jahren wichtiger geworden, mithin verhaltensunabhängige – ob jemand in Deutschland geboren oder deutscher Abstammung ist oder lange dort gelebt hat – im Zeitverlauf deutlich weniger bedeutsam.12 5. Vielfalt und Gemeinwohl Die Begriffe Vielfalt und Diversität haben inzwischen13 in Deutschland Konjunktur. Dabei läßt sich, wie bereits in den 1960er und 1970er Jahren festgestellt wurde, Vielfalt mit dem Gemeinwohl in Bezug setzen: Die verschiedenen privaten Interessen sollen sich „zu einem gemeinwohlorientierten öffentlichen Interesse“ integrieren. Interessen sind ihrem Wesen nach unterschiedlich, kaum je gleich.14 Um so wichtiger ist die Integrationsaufgabe – wie weit läßt sie sich erfüllen? Auch eine Gemeinwohl-Frage berührt die Tatsache, daß das Vielfaltskonzept – bezogen auf die Vergangenheit – auf manchen „blinden Flecken“ aufmerksam gemacht hat, etwa auf das fehlende Wahlrecht für Frauen oder in den USA auf das Problem der 10

Zu diesem Abschnitt: Steffen Augsberg, Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen und des juristischen Diskurses, VVDStRL 78 (2019), S. 7 (25 ff.). 11 Siehe unten unter IV. 2., 4. und 5. 12 Sachverständigenrat für Integration und Migration, Normalfall Diversität? Wie das Einwanderungsland Deutschland mit Vielfalt umgeht. Jahresgutachten 2021, 2021, S. 112 f. 13 Historische Reflexion von Diversität in Philosophie und Theologie seit Antike und Mittelalter bei Georg Toepfer, Diversität. Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart, Zeithistorische Forschungen 17 (2020), S. 130 (131 ff.). 14 Zu diesem Absatz und Zitat: Anna Leisner-Egensperger, Vielfalt – ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004, S. 36.

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Sklavenhaltung. Für diese im Recht lange Zeit unzureichend berücksichtigten Bevölkerungsteile wird Nichtdiskriminierung und Anerkennung, ggf. sogar eine überproportionale, ausgleichende Berücksichtigung eingefordert.15 6. Vielfaltssicherung durch Organisation und Verfahren Vielfaltssicherung sieht auch das Bundesverfassungsgericht als eine seiner Aufgaben, um das Problemlösungspotenzial der Gesellschaft hinreichend zur Entfaltung kommen zu lassen. Dabei will es zum einen Freiheitsverbürgungen organisatorisch vorstrukturieren – ohne Einfluß zugunsten eines einzigen Organisationsmodells zu nehmen – wie etwa beim Rundfunk, bei Schulen und Hochschulen oder bei politischen Parteien. Zum anderen sind Verfahren freiheitssichernd zu gestalten, etwa bei der Online-Durchsuchung, bei längerfristiger Observation oder bei der Hochschul-Zulassungsbeschränkung.16

II. Paradigmen der Diversität 1. Vier Paradigmen der Diversität Dies mag zum hier eher deskriptiv verstandenen Ausdruck Vielfalt genügen. Zu dem mit Normativität verknüpften Begriff der Diversität lassen sich vier Paradigmen ausmachen: a) Naturschutz- und Marktparadigma Der Begriff „Bio-Diversität“ ist zum zentralen Wert des Naturschutzes geworden.17 Diversität als Marktparadigma weist einerseits Vielfalt positiv aus für die Wahl von Produkten und Dienstleistungen, andererseits gilt Diversität beim Personal vieler Unternehmen als wichtiger Wettbewerbsfaktor (Integration unterschiedlicher Mentalitäten und Sprachkenntnisse).

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Augsberg (Fn. 10), S. 7 (16 f.). Andreas Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung. Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das Bundesverfassungsgericht, in: ders., Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, 2021, S. 241 (259 ff.). 17 Erstmals 1958 wurde in einem Buch des britischen Ökologen Charles Elton (The Ecology of Invasions by Animals and Plants, London 1958, S. 154 ff.) Diversität als primäres Ziel des Naturschutzes vorgestellt, so Toepfer (Fn. 13), S. 130 (137 f., 142 f.). 16

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b) Gerechtigkeitsparadigma Obwohl ein weißer Medizinstudien-Bewerber bessere Noten hatte als dunkelhäutige Mitbewerber, wurde er wegen einer Quotenregelung der betreffenden Universität nicht aufgenommen. Seine Klage landete schließlich beim US-Supreme Court, der 1978 in der Uni-Zulassungsregelung zugunsten eines „diverse student body“ einen hinreichenden Grund sah, um mit „race“ ethnische Gesichtspunkte bei Zulassungsentscheidungen zu berücksichtigen18 – einschließlich „positiver Diskriminierung“ zum Ausgleich bisheriger Benachteiligungen. Er verband damit Diversität mit Rassendiskriminierung und ging auch über die color-blindness – Hautfarbe darf kein Diskriminierungsgrund sein – hinaus zur color-consciousness über19: hin zu einer Gesellschaft, die sich der Ethnien ihrer Mitglieder „bewußt“ ist. Die vorhandene gesellschaftliche Vielfalt ist in wichtigen Teilbereichen (Universitäten, politischen Gremien, auch Unternehmen und anderen Organisationsformen) abzubilden.20 c) Selbstentfaltungsparadigma Die Wurzeln des Selbstentfaltungsparadigmas reichen bis in die Zeit der Romantik um 1800 zurück, in der das Ideal einer nonkonformistischen Innerlichkeit mit nach außen demonstriertem Individualismus propagiert wurde, in der das Besondere, die Eigenart von Kulturen und Völkern, die Verbundenheit mit bestimmten Landschaften, die Pflege von Freundschaft und Liebe zählten. Um 1968 herum profilierte sich u. a. daraus eine „Gegenbewegung zur durch Uniformierung und Regulierung geprägten Kultur der Nachkriegsgesellschaft bis in die 1960er Jahre“. Mit dem Selbstentfaltungsparadigma stand statt Existenzsicherung jetzt die von Willy Brandt 1971 propagierte „Lebensqualität“ im Vordergrund. „In der linksalternativen Szene der 1970er Jahre, die eine Vorreiterrolle einnahm, galt es als Ideal, unabhängig vom sozial Geforderten oder Gewünschten ,sein Ding zu machen‘, die eigene Individualität zu entdecken und zu leben“: „authentisch“ zu sein. „,Unkonventionell‘ und ,kritisch‘ waren die am höchsten im Kurs stehenden Attribute“. Daß damit „eine Pluralisierung der Sinnsysteme verbunden“ sein würde, überrascht nicht.21 2. Strukturelle Ähnlichkeit und vielfache Anwendbarkeit der Diversitäts-Paradigmen Diese vier Paradigmen der Diversität weisen insofern eine strukturelle Ähnlichkeit auf, „als Diversität kontextübergreifend das Prinzip der reihenden Nebenordnung betont und dabei eine gegenüber Unterschieden tolerante Haltung fördert“. 18

US Supreme Court, 438 U.S. 265, 315 f. (1978) – Bakke. Schorkopf (Fn. 3), S. 7 ff. 20 Toepfer (Fn. 13), S. 130 (140 f.). Siehe auch Michael J. Sandel, Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, 2013, S. 229 ff. 21 Alle Zitate dieses Absatzes: Toepfer (Fn. 13), S. 130 (140). 19

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Bei Diversität geht es um heterogene Perspektiven, die sich deshalb nicht vereinheitlichen lassen, da das Konzept eine „nicht von einem Einheitspunkt gedachte oder auf einen solchen bezogene Pluralität“ bezeichnet. Vielmehr werden Vorstellungen von Einheit oft „als partikular, interessengeleitet und ideologisch zurückgewiesen“. Gerade die vielfache Anwendbarkeit läßt Diversität – auch gegenüber einem „Multikulturalismus“22 – vorteilhaft erscheinen speziell für die politische Sprache: Diversität vermag ästhetische, ethische, biologische und ökonomische Aspekte zusammenzuführen. Jedoch: Zu je mehr sie nützlich erscheint, desto unpräziser wird ihre Bedeutung.23 3. Eine strategische Frage Daraus ergeben sich zwei mögliche Strategien: Entweder bemüht man sich darum, die Begrifflichkeit präziser zu fassen, um dieser Tendenz aktiv entgegen zu wirken. Oder man hat daran gerade kein Interesse und nimmt diese Tendenz wohlwollend in Kauf oder befördert sie sogar. Denn durch eine „Verunklarung“ von Begriffen, die letztlich auch juristische Tatbestände erfassen, erweitert man diese Tatbestände „unter der Hand“ mit allen Folgen, die dies zu haben pflegt. Im Folgenden wird sich zeigen, welche Strategie gerade gesellschaftspolitisch von besonderer Bedeutung ist.

III. Konzeptionelle Umrisse der Diversität 1. Bedroht Diversität staatliche Einheit? Nicht unwichtig ist die Frage, in welchem Verhältnis Diversität zur Einheit des Staates steht, ob sie diese in bestimmten Konstellationen zu gefährden droht.24 Immerhin: Ausgangspunkt des Grundgesetzes ist das „Nie wieder“ zum Nationalsozialismus, zu „einem faschistischen Regime, in dem es gerade keine Vielfalt geben sollte, sondern Einheit, Einheitlichkeit, Uniformität, Gleichmacherei als zwingende, als mörderische Norm galt.“25 Susanne Baer beantwortet die Frage, ob nur eine „oft auch in erstaunlich partikularer Verkürzung und Zuspitzung historischer Entwicklungen“ als homogen konstruierte Einheit durch Vielfalt bedroht ist: Keineswegs leide der 22

Siehe hierzu nur Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2009, mit Beiträgen u. a. von Amy Gutman – aktuell Botschafterin der USA in Deutschland – und Jürgen Habermas. 23 Zu diesem Absatz inkl. seiner Zitate Toepfer (Fn. 13), S. 130 (143 f.). 24 Zwar definieren sich identitäre Gruppen über einheitsstiftende Merkmale, aber im Verhältnis zur politischen Gemeinschaft grenzen sie sich hart ab. Das „Einheitsparadigma für die höhere Ordnungsebene (wird) gezielt in Frage“ gestellt, „gegen jede Vorstellung einer homogenen Gesellschaft“, s. Schorkopf (Fn. 3), S. 19 f. 25 Susanne Baer, Wie viel Vielfalt garantiert/erträgt der Rechtsstaat?, RuP 2013, 90 (94).

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Staat unter Vielfalt, sondern vielmehr sorge er für sie und garantiere sie. Aber das geht nicht ohne Konsequenzen für viele ab, wie sie offen einräumt: „Damit muß der Rechtsstaat zugleich dazu zwingen, daß wir diejenige Vielfalt, die uns persönlich vielleicht nicht begeistert, ertragen. Verfassungsrechtlich gesehen ergibt sich aus Vielfalt also ebenso sehr eine Garantie wie eine Grenze gesellschaftlichen Miteinanders.“ Wie viel Vielfalt in Form durchsetzbarer Grundrechte garantiert der Rechtsstaat, „und wie viel Vielfalt lässt er uns auch ertragen?“26 Nicht gut zu ertragen ist für einige die „Amalgamisierung oder die Anpassung an eine – horribile dictu – sog. Leitkultur“. „Integration, nicht Assimilation lautet das einschlägige Schlagwort – wobei aber offenbleibt, was mit Integration genau gemeint ist und welche Konsequenzen bei einer bewußten oder ungewollten Nichtintegration drohen.“ Auf jeden Fall ist Diversität „kein (etwa migrationsbedingtes) Übergangsphänomen, sondern ein auf Dauer gestelltes Ideal. Das mag man politisch unterstützen. Es besitzt aber erkennbar normativ betrachtet problematische Implikationen auf Gleichheitsvorstellungen.“27 Diversität als „gestaltete und zu gestaltende gesellschaftliche Realität“ lenkt den Blick mithin auf mögliche normative Anforderungen wie etwa „Verpflichtung zu Anerkennung, Förderung, proaktiver Herstellung oder Schutz von Vielfalt“. Dabei geht es „grundsätzlich um die Felder, in denen menschliche Vielfalt von Recht prominent adressiert wird, wie Gleichheit, Demokratie und Maßnahmen gegen Diskriminierung in pluralistischen Gesellschaften.“28 2. Konstruktion von Wirklichkeit für Diversität und Gleichheit Bei der Gleichheit ist deren relationaler und „Konstruktionscharakter“29 für gewöhnlich ein Kernproblem: Da Menschen immer in ihren Beziehungen zueinander Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, ist entscheidend, welche Gegebenheiten der Gesetzgeber als rechtlich relevant erklärt. Dabei hat er jedoch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG zu beachten,30 denn an die dort genannten Kategorien darf er nicht anknüp26 Ebd., 90 (92). – Vgl. auch Schorkopf (Fn. 3), S. 36 ff., allerdings mit anderer Grundrichtung. 27 Augsberg (Fn. 10), S. 7 (29). 28 Lembke (Fn. 3), 46 (52). 29 Ebd., 46 (57) (Hervorh. durch den Verf.). – Paul Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Art. 3 I (Stand: 2015), Rn. 118 verwendet Begriffe wie „Auswahl“ und „dem verbindlichen Verallgemeinern dienende Begriffsbildung“, weist dabei zugleich auf ein „Verengungs- und Überdehnungsverbot“ (Rn. 119) und ein „Annäherungs- und Vergröberungsverbot“ (Rn. 120) für den Gesetzgeber hin. Das dürfte mit möglichst unbegrenzter Konstruktion, die Lembke vorzuschweben scheint, kontrastieren. 30 Allerdings gilt das für beide Absätze in unterschiedlicher Weise: Abs. 2 als lex specialis von Art. 3 Abs. 1 GG mit einer über Abs. 1 hinausgehenden Verpflichtung staatlicher Organe, Abs. 3 als integrierte Prüfungsstruktur (Prüfmaßstab) für Abs. 1, so Thorsten Kingreen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 (Stand: 2020), Rn. 111; vgl. auch Rn. 645.

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fen, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. „Einige dieser Kategorisierungen sind auch Kategorisierungen im Sinne des hier vorgestellten Diversity-Konzeptes, also identitäts- und gruppenkonstituierend und Anknüpfungspunkt für strukturelle gesellschaftliche Hierarchisierungen.“31 Dabei wird unter Hierarchisierung gesellschaftliche Über- und Unterordnung verstanden, einige Aspekte und Interessen werden stärker gewichtet und betont, andere schwächer32. Die Konstruktion von Wirklich nach Ulrike Lembke geht aber darüber hinaus: „Nun ist nicht mehr primär entscheidend, ob etwa Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich sind oder durch gesellschaftliche Interaktion unterschiedlich gemacht werden (doing gender) oder beides, sondern ob und in welcher Weise diese Unterschiede eine Regelungsaufgabe aufwerfen.“ Differenzen seien mithin „nicht vorfindlich existent“, sondern „das Produkt von Wertungen, Konstruktionsprozessen und rechtlichen Zuordnungen“. Hier stellt sich vor allem die Frage,33 wer wertet und konstruiert. Es drängt sich der Eindruck auf, daß hier an eine Selbstermächtigung der Einzelnen gedacht ist. Wenn Lembke zudem schreibt, das Gleichheitsrecht sei „auf die Gestaltung von gesellschaftlicher Wirklichkeit angelegt“, sollte spätestens dann die konstruktivistische Akzentsetzung dieser Ausführungen deutlich werden. Diese enden in der Machtfrage: „Gleichheitsdogmatik kommt folglich ohne Analyse konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht aus“.34 Auch wenn eine solche Analyse dem Erkenntnisgewinn dient, dürften die Ansprüche von Anhängern eines politischen Diversitäts-Konzepts wohl weiter reichen: Denn nur aufgrund einer derartigen Analyse kann man gezielt kontrafaktisch agieren und Gegenmacht aufbauen.

IV. Antidiskriminierung und der möglichst grenzenlose Schirm des Antidiskriminierungsrechts35 1. Ein Hochplateau als Ausgangspunkt des Antidiskriminierungsrechts Aus einem „kritischen Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse“ folgert Lembke: „Schutz vor Diskriminierung ist die Voraussetzung, damit Menschen 31

Lembke (Fn. 3), 46 (57). Wapler (Fn. 7), S. 53 (63). 33 Weitere kritische Fragen bei Augsberg (Fn. 10), S. 7 (30 ff.). 34 Lembke (Fn. 3), 46 (59 f.). Ähnlich Wapler (Fn. 7), S. 53 (63): Historisch gewachsene Anschauungen spiegeln auch gesellschaftliche Machtverhältnisse wider. Denn hinter einer „alternativlos erscheinenden Ordnung können sich historisch bedingte Privilegien, unhinterfragte Normalitätsvorstellungen, Stereotype und andere ,blinde Flecken‘ der Wahrnehmung verbergen“. Deshalb müsse die Rechtswissenschaft „bereit und in der Lage sein, die hinter den Normen stehenden Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und das eigene Vorverständnis kritisch zu reflektieren“ (S. 65 f.). 35 Zu Entwicklung und Einordnung des Antidiskriminierungsrechts in die Gesamtheit des deutschen Rechts erhellend: Anna Katharina Mangold, Von Homogenität zu Vielfalt. Die 32

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sich in ihrer Vielfalt in ein verfasstes Gemeinwesen einbringen können. Antidiskriminierungsrecht ist Voraussetzung und ,kleine Münze‘ inklusiver demokratischer Modelle.“ Das ist insofern nachzuvollziehen, als die Bedeutung eines Diskriminierungsschutzes außer Zweifel steht, der Freiheitsgebrauch möglichst diskriminierungsfrei erfolgen sollte. Dabei gilt es jedoch, den Ausgangspunkt für jede weitere Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in den Blick zu nehmen. Neben den im GG festgeschriebenen Art. 3 Abs. 2 und 3, die allerdings unmittelbar nur den Staat binden, ist schon mit dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) von 2006, durch das diverse Richtlinien der EU umgesetzt wurden, geradezu ein Hochplateau im Antidiskriminierungsrecht errichtet worden, auf das keineswegs alle Rechtswissenschaftler und noch weniger alle Rechtsverpflichteten gerne hinaufzusteigen bereit waren und sind. Hier ist nicht der Ort, um die damalige Kontroverse nachzuzeichnen oder gar ausführlich zu kommentieren. Deshalb sei stichwortartig lediglich auf einige der besonders umstrittenen gesellschaftspolitischen und rechtlichen Themen36 verwiesen: a) Die Motivation politischer Entscheidungen Es handelt sich um politische Entscheidungen.37 Das ist völlig legitim, läßt aber nach deren Motivation fragen: sozialpolitische Notwendigkeit angesichts vielfacher ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen von Schwächeren – was mit gestörter Vertragsparität38 einhergehen kann – oder Verfolgen einer moralisch-gesellschaftspolitischen Agenda? Auch mangels des Nachweises einer Vielzahl von Ungleichbehandlungen39 ist vom Zweiten auszugehen40.

Entstehung von Antidiskriminierungsrecht als eigenständigem Rechtsgebiet in der Berliner Republik, in: Thomas Duwe/Stefan Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 2018, S. 461 ff. 36 Bei unterschiedlichen Standpunkten differenziert: Matthias Jestaedt, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (301 m. w. Nachw.); Gabriele Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, VVDStRL 64 (2005), S. 355 m. w. Nachw.; Winfried Kluth, Der späte Sieg der Gleichheit: Gefährden postmoderne Diskriminierungsverbote die Freiheit?, in: Hans Thomas/Johannes Hattler (Hrsg.), Glaube und Gesellschaft. Gefährden unbedingte Überzeugungen die Demokratie?, 2009, S. 139 (157 ff.). 37 So auch Britz (Fn. 36), S. 355 (359 und passim). 38 Aus grundsätzlichen Überlegungen hält dies nicht für gegeben Jestaedt (Fn. 36), S. 298 (339 ff., insbes. 342). 39 In diesem Sinne explizit Kluth (Fn. 36), S. 139 (159) 40 Auch Jestaedt (Fn. 36), S. 298 (350) meinte 2005: Bestehende Bedenken gegen eine „Verrechtlichung von Moral“ seien keineswegs ausgeräumt. A. A., da sie eine Verrechtlichung von Moral auch als politische Entscheidung versteht, Britz (Fn. 36), S. 355 (393 ff., insbes. 396 ff.).

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b) Verbote als das formal schärfste Instrument Dafür spricht auch, daß mit den im AGG festgeschriebenen Verboten das dem Gesetzgeber verfügbare formal schärfste Instrument in Ansatz gebracht worden ist. Angesichts der gesellschaftlich kontroversen Diskussion einiger Diskriminierungs-Kategorien droht die Gefahr, daß ein derartiges politisches Vorgehen gesellschaftlich desintegrierend wirkt.41 c) Eingriff in privates Verhalten und Beweislastumkehr Indem die EU42 sich „für ein Modell der starken Antidiskriminierung entschieden hat“, wird die Freiheitsvermutung umgekehrt und privates Verhalten43 dem staatlichen gleichgesetzt, „indem es einem allgemeinen Rechtfertigungszwang unterworfen wird“. Da privates Verhalten nun unter einem „allgemeinen Diskriminierungsverdacht“ steht, wird grundrechtliche Freiheit gefährdet, denn „die getroffenen Regelungen (erscheinen) unverhältnismäßig“.44 Die mangelnde Verhältnismäßigkeit gilt speziell für die im AGG verankerte Beweislastumkehr45 : Nicht der Kläger muß seine Anschuldigungen belegen, sondern der Beklagte seine Unschuld, indem er außerhalb der Diskriminierungs-Kategorien liegende Gründe für sein (wirtschaftliches) Verhalten benennt. Die im Folgenden diskutierten Forderungen haben dieses Hochplateau des Antidiskriminierungsrechts zum Ausgangspunkt. Es wird interessant sein zu sehen, in welche Richtung von hier aus weitergedacht wird. 2. Ein Schirm für „eine Vielfalt fluider Identitäten“? Der Umfang des mit dem Antidiskriminierungsrecht aufzuspannenden Schirms soll u. a. zielen auf „die Vielfalt fluider Identitäten“, konkreter beispielsweise auf „das Ermöglichen individueller Entfaltung bei Achtung pluraler Identitäten, Schutz vor Assimilierungszwängen und diskriminierenden Zuschreibungen sowie die gleichberechtigte Anerkennung selbst gewählter Gruppenzugehörigkeiten oder des Wechsels zwischen ihnen.“46 Hier ist zu fragen, was mit fluiden Identitäten gemeint ist – auf jeden Fall nicht eine klar abgegrenzte Entität, sondern eine fließende. Auch 41

Kluth (Fn. 36), S. 139 (159 f.). Zur historischen Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts in Europa Jestaedt (Fn. 36), S. 298 (305 ff.), zu dessen „Bauplan“ ebd., S. 311 ff. 43 Gerade viele Privatrechtler verstört das – politisch gewollte – Eindringen des Antidiskriminierungsrechts in die „Privatheit“, wie zutreffend entfaltet wird von Britz (Fn. 36), S. 355 (360 ff., insbes. 368 ff.). 44 Kluth (Fn. 36), S. 139 (158). Deutliche Kritik auch bei Jestaedt (Fn. 36), S. 298 (333). 45 Kluth (Fn. 36), S. 139 (159). Eine Beweislastumkehr findet sich schon in der EURichtlinie, s. Jestaedt (Fn. 36), S. 298 (316). 46 Lembke (Fn. 3), 46 (68). 42

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die selbst gewählte Gruppenzugehörigkeit, um so mehr der Wechsel in eine andere, lassen nur den Schluß zu: Offensichtlich geht es um maximale Unbestimmtheit, ohne dies an dieser Stelle so deutlich zu artikulieren. 3. Exkurs: Singularisierung im Streben nach Außergewöhnlichkeit Die „Vielfaltsvervielfältigung“ wird noch weiter auf die Spitze getrieben, wenn Individuen im Zentrum der Betrachtung stehen in einer „soziale(n) Logik des Besonderen“47: Anders als Individualisierung ist für Singularisierung zentral „das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“.48 Im Modus der Singularisierung wird das Leben „nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv.49 Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit.“50 Dann ist „Abweichung vom Durchschnitt kein Defizit mehr, sondern ein Asset“.51 Das bleibt nicht ohne Konsequenzen: Weil Schichten und Klassen davon unterschiedlich affiziert werden und somit „entsprechende Differenzen reaktualisiert“ werden, zudem „eben nicht jede Einzigartigkeit gleichwertig ist“, werden im Ergebnis neue Ausschlußmechanismen geschaffen.52 Quintessenz: Differenz wird zur neuen Normalität, Anderssein zum Standard.53 4. Wie mit Komplexität rechtlich umgehen? Lembke weiter: „Diversity als die Möglichkeit gesellschaftlicher und individueller nicht-hierarchischer Vielfalt menschlicher Identitäten ist damit Leitbild wie Aufgabe von Antidiskriminierungsrecht. Vor welchen Herausforderungen steht angesichts der damit verbundenen Komplexitätsmaximierung die Rechtsdogmatik?“ Diese Frage kann angesichts des Begriffs „Komplexitätsmaximierung“ verstörend wirken, denn dieser Begriff ist in hohem Maße kontra-intuitiv. Es sei die Gegenfrage erlaubt: Soll eine Rechtsdogmatik überhaupt eine Komplexitätsmaximierung struk47 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 5. Aufl. 2018, S. 11. 48 Ebd., S. 9 (Hervorh. im Original). 49 Dies läßt sich durchaus als Fortführung der oben unter II. 1. c) beschriebenen Einstellung lesen. 50 Reckwitz (Fn. 47), S. 9 (Hervorh. im Original). 51 Ebd., S. 381 f. (Hervorh. im Original). 52 Augsberg (Fn. 10), S. 7 (37 f.). 53 Ebd., S. 7 (37).

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turieren und einhegen? Oder geht es gerade darum, daß das nicht stattfindet, weil es gar nicht stattfinden kann? Erhellend ist Lembkes Fortsetzung: „Die wesentlichste Komplexitätsreduktion erfolgt im Antidiskriminierungsrecht durch die Beschränkung auf einige relevante Kategorisierungen. Ein Vorwurf, der hiergegen vorgebracht wird, ist, daß dies gesellschaftliche Vielfalt nicht abbilde und gegen die Idee des Gleichheitsgedankens an sich verstoße.“54 Unter Verweis auf Judith Butler55 kritisiert Lembke, daß „Denken und Handeln, welches Identität und Normen über den Prozeß lebendigen Aushandelns und Austausches zwischen Individuen stellt, selbst als gewaltförmig anzusehen ist; soll dies vermieden werden, bedarf es der Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf nicht-normierte, interaktionelle Prozesse einzulassen und ungeordnete Mannigfaltigkeit auszuhalten.“56 Auf den Punkt gebracht wird hier behauptet: Normen zu folgen ist gewaltförmig, stattdessen hat man sich auf nicht-normierte Prozesse einzulassen und ungeordnete Mannigfaltigkeit auszuhalten, wobei „aushalten“ ja immer inkludiert, daß einige (oder viele) das gar nicht vergnüglich finden. Solche Forderungen einer politisch offensichtlich eindeutig orientierten Philosophin mag man – vermutlich schon nicht problemlos – hinnehmen, eine Juristin, die sich diese zu eigen macht, muß sich jedoch fragen lassen, welche Rolle in diesem Kontext irgendeinem Recht, das ja immer normen-basiert und auf Struktur und Ordnung ausgerichtet ist, zugedacht sein mag. 5. Auch aufgrund Intersektionalität Forderung nach einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht Zur Verdeutlichung von Intersektionalität eignet sich gut der Fall DeGraffenreid v. General Motors: Bei einer Massenentlassung wurde auch vor Gericht die Klage gegen mittelbare Diskriminierung gerade von schwarzen Mitarbeiterinnen abgewiesen, denn weiße Frauen seien von der Entlassung kaum betroffen, also läge keine Diskriminierung wegen des Geschlechts vor, und schwarze Männer auch kaum, mithin würde es keine rassistische Diskriminierung geben. Würde man jedoch, so das Gericht, schwarze Frauen als eigenständige Gruppe anerkennen, würde man eine neue Superkategorie schaffen und das US-Antidiskriminierungsrecht überdehnen. Damit blieben gerade die an der Schnittstelle zweier Kategorien besonders Diskriminierungsgefährdeten schutzlos.57 54

Lembke (Fn. 3), 46 (68). Judith Butler, Zur Kritik der ethischen Gewalt, 2003. 56 Lembke (Fn. 3), 46 (68, Fn. 117; Hervorh. durch den Verf.). 57 Lembke (Fn. 3), 46 (71). Der grundlegende Text ist Kimberlé Crenshaw, Die Intersektion von race und Geschlecht vom Rand ins Zentrum bringen: eine Schwarze feministische Theorie und antirassistische Politik, in: Kristina Lepold/Marina Martinez Mateo (Hrsg.), Critical Philosophy of Race. Ein Reader, 2021, S. 304 (engl. Original in: The University of Chicago Legal Forum 1989, 139 ff.); leider fehlt in der Übersetzung das hier resümierte Beispiel. 55

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Dazu Lembke: „Solchen Kollateralschäden des Diskriminierungsschutzes steht Diversity als Leitbild aber diametral entgegen. Es geht um mehr als Gleichheit ohne Angleichung“, denn dieser Schutz „muß ohne Assimilierungszwang“ erfolgen, „selbst gewählte Gruppenzugehörigkeiten müssen ebenso respektiert werden wie ein Wechsel zwischen ihnen“, denn „in der fremdbestimmten Zuweisung einer Gruppenzugehörigkeit kann aber selbst eine schwer wiegende Benachteiligung liegen“. Zudem gelte es, „die Positionierung von Personen innerhalb und an den Schnittstellen zwischen Gruppen zu beachten und in die dogmatischen Konzepte zu integrieren“.58 Mithin gelte es, den kategorialen Ansatz, wie er das deutsche AGG von 2006 prägt, mit dem u. a. die Antidiskriminierungs-Richtlinien der EU umgesetzt wurden, zu transformieren in ein postkategoriales Antidiskriminierungsrecht, das „auf Handlungen, Prozesse und Verhältnisse rekurriert und Diskriminierungen als in diese eingebunden entgegenwirkt“. Das soll auf zwei Weisen geschehen: Erstens will man die Kategorien reformulieren und zweitens kategoriale Termini ersetzen, um so „mit der Loslösung von merkmalsbezogenen Gruppenbezeichnungen rechtspraktische Fehlinterpretationen sowie Reifizierungen zu erschweren“. So lasse sich durch das Recht auch „das Prozessuale an diskriminierenden Praktiken fassen und viel eher intervenierend und verändernd wirken“.59 Auch hier gilt: Das Prozessuale läßt sich schon aufgrund der ihm innewohnenden Dynamik und ex-ante-Unbestimmtheit im Ergebnis viel weniger klar fassen als eine (ihrer Natur nach statische) Kategorie. Auch das dürfte zur Tendenz der Grenzenlosigkeit beitragen.

V. Macht und Gegenmacht Zurück zur Macht-Frage,60 die Lembke am Ende ihres Beitrags deutlich thematisiert: „Gesellschaftliche Machtverhältnisse verschieben sich unter vielfältigen Einflüssen, nicht zuletzt durch die Regelungswirkungen von Gleichheits- und Antidiskriminierungsrecht.“61 Der (historisch gebildeten) Macht ist mithin die durch das neue Recht zu gestaltende Gegenmacht entgegen zu stellen. Das dürfte positive Diskriminierung in Form von Fördermaßnahmen für bisher Benachteiligte einschließen.62 58

Lembke (Fn. 3), 46 (72 f.). Doris Liebscher/Tarek Naguib/Tino Plümecke/Juana Remus, Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, KJ 2012, 204 (217). 60 Siehe oben am Ende von III. 2. 61 Lembke (Fn. 3), 46 (76). 62 Zur Diskussion unterschiedlicher Aspekte positiver Diskriminierung siehe Sandel (Fn. 20), S. 228 – 250 mit US-amerikanischen Beispielen. 59

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1. Bisherige Fördermaßnahmen: (Frauen-)Quoten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft Grundsätzlich neu wären Fördermaßnahmen nicht. Sie werden bisher schon beispielsweise – auf diesem Feld existieren sie schon länger – aus Art. 3 Abs. 2 GG hergeleitet und können auch Frauen-Quoten umfassen, sofern folgende Grenzen eingehalten werden: Es muß um den Ausgleich struktureller Benachteiligungen gehen; sie müssen im Umfang und in ihrer Dauer begrenzt sein und sind mithin zu beenden, sobald ein verfassungskonformer Zustand erreicht ist. Nach der herrschenden Meinung sind flexible Quoten im öffentlichen Dienst zulässig, sofern etwa Frauen gegenüber Männern in einer bestimmten Ausgangsgruppe unterrepräsentiert sind und der Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) – leistungsabhängige Quotierung: Bevorzugung des weiblichen Bewerbers nur bei gleichwertiger Qualifikation – eingehalten wird.63 – In der Privatwirtschaft gesetzliche (Frauen-)Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände von Kapitalgesellschaften einzuführen würde deutlich mehr Schwierigkeiten bereiten als im öffentlichen Dienst, weil sie in deren Grundrechte der Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) eingreifen würden.64 Zudem besteht eine unmittelbare Drittwirkung des Gleichstellungsauftrags in Art. 3 Abs. 2 GG oder des Diskriminierungsverbots in Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG bzw. Abs. 3 S. 1 GG gegenüber Privatrechtssubjekten nicht.65

2. Diversität erhöhende Quoten Es ist nicht zu vermuten, daß die Diversitäts-Protagonisten sich mit derartiger bisheriger Förderung zufrieden geben, zumal sie „zumeist auch entsprechenden Gestaltungswillen haben“66. So wird etwa als „starke Konzeption von Chancengleichheit“67 eine (Frauen-)Quotenregelung zur Sicherung vor Anpassungszwängen auch in der Privatwirtschaft vorgeschlagen. Durch rechtlich verbindliche Quoten sollen „Anpassungsprozesse im ökonomischen System“ angestoßen und ein Überdenken der „traditionellen Parameter des Leistungsprinzips“ erzwungen werden. „Anforderungsprofile an die berufliche Tätigkeit müssen dann so gestaltet werden, daß sie von bisher nicht anpassungsfähigen oder -bereiten Individuen erfüllt werden können.“ Quoten bewirken, daß die „Vorstellungen darüber, welche Eigenschaften für die jeweils konkreten beruflichen Anforderungen offengelegt und vor dem Hintergrund ihrer sozialen Kontexte gerechtfertigt werden müssen. Darin liegt das rationalitätssteigernde 63

Christine Langenfeld, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Art. 3 Abs. 2 (Stand: 2015), Rn. 92, 94, 96; Kingreen (Fn. 30), Rn. 458. 64 Langenfeld (Fn. 63), Rn. 105. 65 Ebd., Rn. 123. 66 Schorkopf (Fn. 3), S. 63. 67 Michael Grünberger, Vielfalt durch Quote – Umgekehrte Diskriminierung zu Lasten des Leistungsprinzips?, NZA 2012 (Beilage), 139 (144).

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und damit im Ergebnis freiheitssichernde Potenzial von Quotenregelungen.“68 Bei der Umsetzung eines derartigen Vorschlags kommt es dann darauf an, daß er konkret die grundrechtlichen Prüfkriterien69 erfüllt. Gelegentlich wird vorgeschlagen, „Migrantenquoten“ einzuführen zur bevorzugten Stellenvergabe für Migranten im öffentlichen Dienst. Das wäre aber nur dann rechtlich zulässig, sofern die zu besetzende Stelle ein Eignungsprofil erfordert, in dem die zu fördernden Personen ggf. Vorteile haben (etwa bzgl. Sprache und besonderer interkultureller Kompetenz). Ansonsten gelten die oben beschriebenen Kriterien.70 Eine derartige Maßnahme gilt als verfassungswidrig, abgesehen von Abgrenzungsproblemen beim Adressatenkreis der „positiven Diskriminierung“.71 3. „Diversitätsdefizit“ beseitigen? Auch wenn für die deutsche Rechtspraxis – anders als etwa in den USA oder im Vereinigten Königreich – zur Situation von People of Color als Jurastudenten, um so mehr als Beschäftigte in internationalen Anwaltskanzleien oder in der Justiz noch keine belastbaren Daten existieren, erscheinen einige Faktoren für strukturelle Diskriminierung vorzuliegen, also für Benachteiligungen, die in der Struktur und in Abläufen von Institutionen bestehen und nicht notwendigerweise auf Vorurteile oder Diskriminierungsabsicht zurückzuführen sind. Zu solchen Faktoren werden u. a. gerechnet:72 – rassistische Diskriminierungserfahrungen für People of Color im Umgang mit Polizei, Ämtern, Schule, Universität oder Arbeitssuche; – Nachteile bei den juristischen Examensnoten mit einem einen Migrationshintergrund vermuten lassenden Namen oder entsprechender Physiognomie sowie – die Neigung von „Leistungseliten“ ihresgleichen zu rekrutieren, wobei „das vermeintlich objektive Entscheidungskriterium ,Eignung‘ oder ,Passfähigkeit‘ so potenziell (fungiert) als Transmissionsriemen für strukturelle Diskriminierung“. – Zudem: „Offen exkludierend wirkt ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen.“ Diese strukturellen Benachteiligungen führten dazu, People of Color vom Jurastudium abzuhalten. Ein solches „Diversitätsdefizit“ bewirke konkrete Defizite im 68

Ebd., 139 (145). Siehe nur Volker Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 48 ff. 70 In Abschnitt 1. 71 Zu diesem Absatz Christian F. Majer/Arne Pautsch, „Positive Diskriminierung“ – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von „Migrantenquoten“ und Bevorzugung wegen Migrationshintergrund beim Zugang zum öffentlichen Dienst, ZAR 2020, 414. 72 Zum Folgenden Michael Grünberger/Anna Katharina Mangold/Nora Markard/Mehrdad Payandeh/Emanuel V. Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, NJW 2021, 1799 (1800 f.). 69

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Rechtssystem, u. a.: Fehlendes Erfahrungswissen über die Lebensrealität von People of Color ziehe fehlende Sensibilität für die rassistische Dimension von Straftaten nach sich und „diskriminierende Praktiken in der Strafjustiz“, insbesondere, wenn Gerichte die Eingriffsintensität oder gar -qualität einer rassistischen Diskriminierung bezweifeln. „Dies kann zu Entfremdung und Vertrauensverlusten führen, wie die geringe Anzeige- und Klagebereitschaft gegen rassistische Diskriminierung indiziert.“ In deutschen Fakultäten werde das Antidiskriminierungsrecht kaum gelehrt, zudem gebe es „bisher wenig intensive Auseinandersetzung mit Rechtsfragen rund um Rassismus“.73 Bezüglich möglicher Maßnahmen erscheint deutlich mehr quantitative und qualitative Forschung in Deutschland erforderlich, zudem die Ausweitung von Gleichstellungsplänen und -beauftragten auf weitere Diversitätsdimensionen (neben dem Geschlechtsmerkmal), die Pseudonymisierung von Lebensläufen bei Bewerbungen, Diversity-Trainings zum Sensibilisieren gegenüber möglicherweise unreflektierten Stereotypen und Vorurteilen, aktiver Austausch von Best Practices unter Hochschulen, Vorbereitungskurse auf das Jurastudium inkl. Förderung der Sprachkompetenz (für alle – wobei People of Color davon besonders profitieren könnten), besonders auf hinreichende Diversität achten gerade bei international tätigen Kanzleien, Herausgeberkreise und Schriftleitungen rechtswissenschaftlicher Zeitschriften diversitätsfreundlicher besetzen, usw.74 Unter diesen Vorschlägen befinden sich viele überlegenswerte. In der Tat sollte auf strukturelle Diskriminierung mit strukturverbessernden Vorschlägen reagiert werden. Die folgende grundsätzliche Aussage des Autorenkollektivs sollte allerdings genau gelesen werden, denn nur wörtlich genommen läßt sie sich richtig verstehen, ohne über das Geschriebene hinaus vergrößert zu werden: „Ein Rechtssystem, an dem nicht alle gesellschaftlichen Gruppen hinreichend personell mitwirken, läuft mittel- und langfristig Gefahr, erhebliche Akzeptanz- und Legitimationsdefizite aufzuweisen. Fehlende Repräsentation kann insofern gesellschaftliche Spaltung und Desintegration begünstigen.“ Und nur dann erscheint auch die folgende Wertung stimmig: „Soweit wir negative Folgen für das Rechtssystem insgesamt beobachten, dient eine Steigerung von Diversität zudem gerade nicht allein den vermeintlichen Partikularinteressen von People of Color, sondern dem Gemeinwohl.“75 Der Tendenz nach sind viele dieser Überlegungen hilfreich. Das vermutete Diversitätsdefizit – für Deutschland fehlen bekanntlich verläßliche Daten – wird sich aber kaum vollständig ausgleichen lassen: Dem dürften allein schon Begabungsunterschiede zwischen den Einzelnen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entgegenstehen. Darüber hinaus könnte man zu Recht bezweifeln, daß ein vollstän73

Ebd., 1799 (1802). Ebd., 1799 (1802 f.). Ausführlichere Fassung dieser Überlegungen: Michael Grünberger/Anna Katharina Mangold/Nora Markard/Mehrdad Payandeh/Emanuel V. Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Ein Essay, 2021. 75 Grünberger u. a. (Fn. 72), 1799 (1802). 74

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diger Ausgleich eine anzustrebende Zielsetzung wäre – eine Beseitigung des Defizits auch nur versuchen zu wollen, wäre überzogen. Zudem ist bei einem solchen niederschwelligen Thema darauf zu achten, möglichst wenig zu verrechtlichen, weil das Freiheitsgrade reduzieren würde. Unter der Überschrift „Macht und Gegenmacht“ wären konfliktivere Ausführungen als solche zu Fördermaßnahmen, Quoten und einer vollständigen Beseitigung eines Defizits denkbar. Bei jeder Zielsetzung jedoch, die auf einen vollständigen Ausgleich eines wie auch immer gearteten Defizits hinaus will, wird eine Entgrenzung freigelegt, die weitreichende Konsequenzen aufweisen kann. Dies sei im Folgenden näher beleuchtet.

VI. Zur Wirkmächtigkeit politischer Agenden Bisher wurden unter „Nur-Vielfalt“ (unter I.) im Wesentlichen Sachverhalte beschrieben, die von einer politischen Agenda – von wem auch immer betrieben – nicht betroffen sind. Das gilt nicht mehr für das 3. und 4. Diversitätsparadigma: Sowohl bei der Entscheidung des US-Supreme Courts (unter II. 1. b)) als auch beim Selbstentfaltungsparadigma (II. 1. c)) wurde politischen Agenden gefolgt. Die Betonung der Konstruktion von Diversität (III. 2.) durch die jeweiligen Individuen öffnet politischer Wirkmächtigkeit der Einzelnen und den diese orientierenden oder gar steuernden politischen Gruppen und Parteien Tür und Tor. Das setzt sich konsequent fort in der Forderung nach einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht (IV. 4. und 5.), dem das Qualitätsmerkmal „grenzenlos“ gebührt. Wenn jeder ungehindert durch Kategorien-Grenzen selbst definieren können soll, weshalb er diskriminiert worden sei, sind Handlungs- und Meinungsfreiheit „unliebsamer“ Anderer nichts mehr wert, werden sich in der Abwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern nicht mehr durchsetzen können. Mithin würden durch Entgrenzung einerseits die als starr kritisierten Kategorien des AGG aufgebrochen, andererseits soll offensichtlich – da von den Autoren nicht modifiziert – die Schärfe des Instruments der Verbote (mit Beweislastumkehr und InPflicht-Nahme der Privaten) des AGG genutzt werden.76 Dann würde die Machtfrage für Andersdenkende eine durchaus unangenehme Antwort finden. Das Recht – auch das Antidiskriminierungsrecht – würde dann seiner Funktion der Freiheitssicherung für alle Andersdenkenden nicht mehr nachkommen können und auch der der Friedenssicherung kaum oder gar nicht mehr.77

76 Hier stellt sich zuerst einmal die Frage, ob und ggf. wie eine solche subjektivistische Position sich rechtfertigen lassen könnte, im positiven Fall dann aber auch, wie sie denn rechtlich zu konturieren wäre. 77 Vgl. zu diesen Aufgaben des Rechts nur Uwe Volkmann, Rechtsphilosophie, 2018, § 2 Rn. 5.

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Zu Ende gedacht könnte das darauf hinauslaufen, sich – schneller und entschiedener als andere – der scharfen Instrumente des Staates zu bedienen, um seine speziellen Vorstellungen von dem, was man unter Antidiskriminierung versteht, politisch und rechtlich durchsetzen zu lassen gegenüber jedem, der in seinem Verhalten andere Vorstellungen offenbart. Dann stellt sich schon die Frage, wohin eine derartige Position führen mag, konkret: wozu ideologische Aktivisten eine solche nutzen könnten.78

VII. Meinungsfreiheit – (eigentlich) Ausdruck von Diversität 1. Derzeitige Herausforderungen der Meinungsfreiheit Ein großes Meinungsspektrum ist Ausdruck großer Vielfalt in diesem Bereich. Vergrößert sich das Meinungsspektrum, wächst die Diversität. Obwohl das offensichtlich ist, existieren nicht nur in Deutschland Tendenzen, die nun gerade das nicht zum Tragen kommen lassen. Die Meinungsfreiheit als eines der Kommunikationsgrundrechte ist zuerst einmal Abwehrrecht gegen den Staat.79 Inzwischen haben sich aber in einigen Bereichen die Akzente dahingehend verschoben, daß die Äußerungsfreiheit von mächtigen Privaten beschnitten wird, wobei sich dann die Frage nach der staatlichen Schutzpflicht zugunsten der in ihrer Meinungsfreiheit Beeinträchtigten stellt. 2. Bedeutung der negativen Meinungsäußerungsfreiheit Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert, inwieweit russische Künstler in Deutschland noch auftreten dürften, bevor sie sich öffentlich gegen diesen Krieg erklärt hätten. Diese Forderung verstört in mehrfacher Hinsicht: Welche Verantwortung trägt jemand aus irgendeinem Staat für das, was die Regierenden dort tun? Läuft eine solche Forderung nicht letztlich auf Sippenhaft hinaus?80 Rechtlich be78 Vgl. in anderem Kontext auch Stefan Luft, Anti-Rassismus mit Nebenwirkungen: Eine Kritik, RuP 2020, 80 (83) sowie Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 221 f.: „Der Traum vom Absoluten gebiert absolute Gewalt.“ Derartige Aktivisten könnten sich auch angeregt fühlen von Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert P. Wolff/Barrington Moore/ders., Kritik der reinen Toleranz, 1965, S. 91 (122 ff., 126 f.). – Aus den in diesem Aufsatz analysierten Texten geht nicht hervor, daß sich deren Autoren derartige Weiterungen zu eigen machen. 79 Statt vieler: Epping (Fn. 69), Rn. 208 ff.; siehe auch Lothar Häberle, Toleranz in islambezogenen Konflikten um Religions- und Meinungsfreiheit, in: ders. (Hrsg.), Islam – Meinungsfreiheit – Internet, 2020, S. 55 (74 ff.). 80 Bzgl. Sippenhaft könnte auch Art. 3 Abs. 3 GG einschlägig sein, demzufolge die Anknüpfung an das Kriterium Abstammung (landsmannschaftliche Zugehörigkeit der Eltern) verboten ist, s. Langenfeld (Fn. 63), Rn. 43.

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trachtet steht einem solchen Erklärungszwang die negative Meinungsäußerungsfreiheit81 entgegen, die als sog. Jedermann-Grundrecht auch allen in Deutschland agierenden Russen zusteht: Jeder hat auch das Recht zu schweigen und sich zu etwas Bestimmtem nicht zu erklären. Darüber hinaus könnte eine Erklärung eines in Rußland Lebenden eine Selbstgefährdung bedeuten, wenn dieser den Krieg kritisieren würde, ggf. sogar eine Gefährdung seiner dort lebenden Verwandten. Anders liegt der Fall bei russischen Künstlern, die offensichtlich eine besondere Nähe zum russischen Präsidenten demonstriert haben. So wurde Valery Gergiev von der Stadt München aufgefordert, sich bis zu einem bestimmten Stichtag öffentlich vom Ukraine-Krieg zu distanzieren. Denn zum einen sei er als künstlerischer Leiter der Münchner Philharmoniker „Botschafter“ von München, zum anderen hatte das Orchester erklärt, ohne eine Verurteilung dieses Krieges durch Gergiev mit ihm nicht weiterarbeiten zu wollen. Die Erklärung blieb aus, Gergiev mußte seine Tätigkeit in München beenden. Rechtlich verfügt auch Gergiev über die positive wie negative Meinungsäußerungsfreiheit, die negative nahm er auch in Anspruch. Diesmal stehen in der Abwägung aber gewichtige Gründe dagegen, nämlich die aufgrund politisch unüberbrückbarer Differenzen aufgekündigte Zusammenarbeit mit dem Orchester sowie die Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Stellung als Musikdirektor. In diesem Kontext ist erfreulich, daß die Veranstalter des diesjährigen Van Cliburn International Piano Competition in Fort Worth/Texas sowohl belarussische als auch russische Pianisten zuließen. Unter den sechs Finalisten waren immerhin zwei Russen und einer aus Belarus, eine Russin gewann die Silbermedaille. Politische Erklärungen wurden von keinem der Künstler verlangt. Die Tennisspielerin Elena Rybakina, vor 23 Jahren in Moskau geborene Russin, spielt seit 2018 für Kasachstan. So konnte sie im Wimbledon-Turnier 2022, wo Spieler aus Russland und Belarus vom Veranstalter ausgeschlossen waren, teilnehmen. Sie gewann das Turnier. Zum Ukraine-Krieg befragt, ließ sie sich in der Sache nur insoweit ein, als sie auf ein baldiges Ende der Auseinandersetzungen hoffe. Damit nahm sie die ihr zustehende negative Meinungsfreiheit in Anspruch. Mutig oder gar heroisch war sie damit sicher nicht, klug vielleicht schon.

VIII. Fazit Die Konzepte der Vielfalt und – mehr noch – der Diversität sind als ambivalent zu bezeichnen. Vielfalt ist einerseits meist ein quantitativer Zugewinn sowohl für denjenigen, der jetzt Zugang zu etwas bekommen hat, als auch für das Ganze, das durch das neue Element breiter und ggf. auch reicher geworden ist. Andererseits ist die Qualität dieses Zugewinns näher zu beleuchten und könnte zu einer sehr differenzierten Bewertung führen. 81

Epping (Fn. 69), Rn. 222.

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Lothar Häberle

Das normativ aufgeladene Diversitätskonzept könnte sich als Einfallstor erweisen für einen neuen Konstruktivismus, für eine Überdehnung des Antidiskriminierungsrechts, für die Aushöhlung rechtlich klarer Strukturen. Das muß nicht so werden, aber wenn einigen rechtspolitischen Tendenzen gefolgt werden sollte, wäre das eine naheliegende, fast unvermeidliche Konsequenz. Die Freiheit der Vielfaltskategorie Meinung erscheint gerade im Kontext des Ukraine-Kriegs nicht so sehr vom Staat als vielmehr von Privaten gefährdet. Hier wurde diskutiert, daß auch Russen in Deutschland über die negative Meinungsfreiheit verfügen. Aber wie so oft liegt jeder Fall anders. Abschließend stellt sie die Frage, was außer Wachsamkeit gegenüber rechtspolitischen Aktivitäten, die einer einseitigen Agenda folgen, zu tun wäre. Konrad Adenauer soll einmal gesagt haben: „Nehmen sie die Menschen, wie sie sind, es gibt keine anderen.“ Diese Allerweltsweisheit gilt es auszuloten: Jeden einzelnen ernst nehmen bedeutet vor allem auch, seine Menschenwürde „zum vollen Nennwert“ zu nehmen, gerade auch von demjenigen, der andersartig ist oder andere Ansichten vorträgt. Das ist eine Bildungsfrage, die tief ansetzen muß: bei Anthropologie und Ethik. Einfacher sind Fortschritte dabei nicht zu haben. Summary Diversity is an ambivalent term with often positive, but also with considerably negative connotations. This paper focuses on positions that link diversity to a political agenda. Those who consider diversity to be a construct of reality see law as designed to shape social reality. From a critical view of social power relations, protection against discrimination is demanded as a prerequisite for people to be able to participate in their diversity in a constituted community. A postcategorical anti-discrimination law is supposed to break up the categories inherent in this law in order to be able to better correspond to a “multitude of fluid identities” that are supposed to be able to choose their category affiliation and possibly its change themselves. Through the combination of this unlimited discrimination sensitivity with the legal enforcement power with which anti-discrimination law has been endowed in Germany since 2006, the law would then no longer be able to fulfill its function of securing freedom for all dissenters and also that of securing peace hardly or not at all.

Diversity: The Power and the Perils By Nicholas T. Pinchuk

I. Overview All collectives start with a spark … an idea … a feeling … an organizing principle that brings to life a purpose that provides a special benefit to the members and fulfills a need for the general society. Assuming these characteristics are present, the group will prosper and progress. As time passes, the collective will invariably seek to expand, to enlist others in its causes, extend its reach, and increase its power. It’s an inevitable imperative to survive. To accomplish this, the collective must add various populations, large and small, that are somewhat different from the original core. In other words, it must embrace diversity in pursuit of size, scale, associated power, and sustainability. As time passes, this process is inexorably duplicated over and over. As such, organizations must adopt a continually wider population as they follow the growth imperative. This is a practice that has a long history; the greatest Empire of the West, Rome, employed it continually. As Mary Beard observed, “Roman political culture’s extraordinary openness and willingness to incorporate outsiders, set it apart.”1 Enlisting diverse populations is a standard approach for an overwhelming number of collectives, applying to all such entities, from nations to religions to corporations to societies. The positive of this necessary evolutionary process is that it imparts an ability to keep pace with the natural need for growth in value and in societal relevance. You can often see this in a Nation’s drive for immigration; a religion’s desire to convert or absorb, or a corporation’s imperative to expand its capability and size through hiring or acquisitions. A contemporary example is the commonly held wisdom that a corporation must increase its diversity if it expects to have the employee power needed to grow in an environment marked by the changing makeup of the workforce. The downside of this natural process is that a collective with an ever-diversifying membership has a substantial risk of diluting its purpose, its focus, and its relevance. In effect, as an organization becomes more diverse in pursuit of building its power, it risks encountering strong competing interests and priorities that will dilute its collective strength and render it less and less effective. This is an inherent challenge for all collective organizations and creates a tension between the power and the perils of diversity that this paper will explore as it proceeds. 1

Mary Beard, SPQR: A History of Ancient Rome, Liveright Pub Corp, 2015, p. 67.

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II. Corporations – The Collective Classroom Collectives shared a similar purpose. Nations, religions, societies, and corporations are all social organizations where people come together to create value for themselves and others that they could not achieve individually. They all also tend to share structural characteristics, all having internal and external constituencies that are essential for their existence. To study the process of collective growth by diversification, observing real-life situations is the most useful mechanism for determining the positive or negative effects of various behaviors. As such, multinational corporations present a useful laboratory for learning. Businesses can be found of all sizes, in multiple positions on their evolutionary path, encountering a wide variety of challenges, and existing in a broad range of economic, cultural, and regulatory environments. In that regard, they can be a veritable cornucopia of collective experimental data. In addition, the outcomes of commercial activities play out over much shorter and more observable time frames than in other collective organisms. Further, though not totally without emotion, the business-related actions do not carry the same sensitivities common in different milieux. In this paper, therefore, we will use corporate examples as our guide in developing a usable framework with which collectives of all types can engage the power and the perils of diversity. Having developed a possible approach, we’ll then test that hypothesis against the experiences of various sovereign nations, determining its usefulness in broad organizational applications.

III. Eastman Kodak – The Focus Trap Eastman Kodak was founded in 1888 and, over the next century, developed into one of the world’s most successful industrial giants, focusing on the consumer camera and film business. In that rise, the enterprise brought significant prosperity to its home city of Rochester, New York. At its height in the late 20th century, Kodak’s revenues were over $ 15 billion; its market capitalization was over $ 20 billion, and it employed over 145,000 people. The name Kodak became synonymous with photography in the minds of everyday Americans. One of its film products, Kodachrome, even became the title of a highly successful pop song of that era. The Corporation bestrode the photography industry, creating extraordinary prosperity for its investors, its employees, and the community it inhabited. Rochester was even viewed as a kind of cold-weather renaissance city, in no small part due to the vitality imparted by Kodak. But then, a threat started to rise on the periphery of the Corporation’s world, i. e., digital cameras. In effect, a photography technology emerged that was not dependent on the organic chemistry of film but rather on purely electronic images. The Corporation did make an effort to expand into the new technology. Its actions, however, were not strong enough to keep pace with the expanding digital wave. The enterprise saw the new technology not as an opportunity but as a threat to the existing business. In effect, Kodak resisted diversifying its approach and was unable

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to ride the trend of the photographic evolution. The Company viewed its commonality as not residing in expertise in images for photographic experience, but rather in its considerable capability regarding organic chemistry, which was the basis of its film business. The result of not adopting the new technologies to enable growth in its real core, e. g., optics and the consumer photography processes, was that it started a disastrous downward spiral that significantly reduced its scale, relevance, and prosperity. Today, Kodak is a much smaller and weaker enterprise, with sales of just over $ 1 billion in 2021 dollars, annual losses of $ 377 million, employment of only about 4,000 people, and a market capitalization of just $ 360 million. The Company is a pale reflection of its former self, and the city of Rochester is much diminished. Kodak is a demonstration of the need for an agile acceptance of diversity despite the changes it may require.

IV. American Motors – The Criticality of Scale During the auto industry’s golden age, American Motors was the smallest of the car industry’s big four but still was an enterprise of significance. Over the years, it had reached its size via a continuous series of mergers with a number of even smaller organizations, eventually accumulating a vehicle brands portfolio that included some storied names: Nash, Rambler, Hudson, and Jeep. Each car line was well-recognized by the American public; the products were well manufactured in a strong array of plants across the United States, and the vehicles were sold by a dedicated, reasonably robust-national dealer network. Despite its comprehensive position, however, American Motors was significantly smaller than its three main rivals, Ford, General Motors, and Chrysler and, in the auto industry cost advantage is generally driven by size and scale. The larger the company, the greater the number of units over which fixed costs can be spread, the higher the learning curve benefits, and, therefore, the lower the cost per unit. Larger operations commonly have superior efficiencies, which is a significant competitive advantage. In addition, because of its lack of scale, American Motors was also at a clear disadvantage in generating customer preference for its various vehicle lines. The other three manufacturers had much larger and more influential platforms for convincing car buyers that their particular innovations were the most forward-looking or for making their product-styling cues the accepted image of a new car. American Motors fully recognized that its survival depended on growth that might remedy those difficulties. As such, it endeavored to expand organically, trying to capture additional customers by penetrating other segments and attempting to gain share and size. Some of the efforts succeeded because they represented diverse departures from the Company’s standard design landscape and offered customers new and exciting choices. Other efforts stayed closer to the standard American silhouette and featured packages that did not capture the consumer’s imagination. In effect, American Motor’s team could not grow organically in a meaningful way because it could not find a balance

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between diversifying designs that would draw attention and the common design that would allow greater scale and improved cost positions. The Corporation also tried to grow inorganically by acquisition. It tried a foray into the appliance business, acquiring and building on the Kelvinator Home Appliance brand. In the end, while it was a reasonable effort, it had only scarce commonality with the vehicle operations and, therefore, produced very little in terms of operational and design efficiency. As a result of these less-than-successful growth initiatives, the Company’s smaller scale continued to press on with its operations. Eventually, American Motors was absorbed by its competitors, and the result was a tragedy for its people, who had been loyal to the enterprise over the years. A large portion of the employees in the corporate headquarters rapidly lost their jobs. Plant workers, like those in the Kenosha, Wisconsin Jeep facility, held their jobs for some time. But eventually, all the Company’s facilities were closed, visiting substantial economic deprivation on the former American Motor’s team and on the associated communities. In the end, the Corporation is the poster child for the importance of enterprise growth. American Motors was ended because it failed to find the balance between diverse growth and the continuation of commonality that turns expansion into scale.

V. Ford – The Wages of Uncertainty The Ford Motor Company started with the idea that motor vehicles could be more efficiently produced by workers performing a single task repeatedly, summoning unprecedented speed and accuracy. The concept was called the assembly line and when enlisted in producing cars, it spawned a mighty industry that revolutionized mobility and generated extraordinary prosperity for many. Ford held onto its dominant vehicle market share position for some period by focusing on the efficiency of manufacturing similar units. Over time, however, various rivals, notably General Motors, surpassed Ford because they could diversify into vehicles of significant variety. Ford had chosen to focus on a concept of superior efficiency, in part borne out of product consistency and similarity. Henry Ford expressed this focus by saying, “we’ll give them any color they want … as long as it’s black.” Failing to meet the demand for diversified models, the Company then embarked on a long downward spiral losing substantial share to its competition. Following World War II, Henry Ford II, grandson of the founder, became the CEO, bringing with him a group of highly educated executives, including Robert McNamara, who was destined to become a storied U.S. Secretary of Defense. The new team was dubbed the “Whiz Kids,” and they applied their energy and analytic insight to improve the operations and to diversify geographically, building strong operating companies in Europe, Brazil, Argentina, Mexico, and Australia, among other locations. The diverse positions restored momentum to the enterprise, although it still trailed its main rival General Motors. Later, Ford diversified into the smaller car segment with its celebrated Mustang sports models. At the time, however, the vehicle industry as a whole was growing rapidly in the post-war prosperity and

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Ford’s gains were achieved more on general economic growth rather than on competitive advantage derived from scale. The inflation of the late-to-mid 1970s and government-guided labor contracts of the early 1980s revealed the substantial inefficiencies of Ford’s diverse operations that were operating without the commonality that could wring scale advantages out of raw size. The Corporation’s disadvantage in this regard was especially clear when compared to its rising rival, Toyota. The Japanese manufacturer had clearly established a globally common focus on production efficiency, design simplification, and quality. Seeing the Toyota example, Ford recognized the need to create cohesion among its designs to achieve better results via greater commonality. At first, it didn’t work. After several years of touting the Escort, its new small car entry in the U.S. and European markets, as a “world car” spanning both markets, it became clear that the Company’s effort was unsuccessful. This was made evident at a meeting in the Corporation’s Dearborn headquarters when an engineer brought the “world car” to the colloquium in a briefcase containing the single common part used by both the U.S. and European models. Eventually, the Ford empire did strike back, and the Corporate center did create design consistency as a key companywide commonality. The scale advantage was finally demonstrated in the popular and profitable “gum drop” Thunderbird and Taurus models. With that progress, Ford began ascending. Again, however, the Company became distracted, and the centrifugal forces of the diverse periphery overcame the center, and at the same time, the Company became embroiled in a series of controversial CEO appointments. Bill Ford, the great-grandson of the founder, emerged from the fray during the dotcom boom. The new leader abandoned the common design focus, which had been working well, focusing instead on making Ford and its vehicles internet enabled. The direction took little advantage of Ford’s existing positions or capabilities and, like most of its dot-com ventures of the day, was a significant disappointment. The resulting slide was so deep that Ford turned to an outsider from the aerospace industry, Alan Mulally, an experienced executive and a Boeing veteran. Mulally recognized the need for focus and commonality. He brought the operation back to common design efficiency, and the result was a reversal of fortune and the restoration of Ford to a reasonable level of scale and strength. Unfortunately, soon after Mulally retired, Bill Ford again gained control and adopted sustainability as the Company’s guiding and shared principle. The outcome of this change in direction has not yet played out, but it does not appear to be promising. The power of scale requires a commonality that will stand the test of time so that stakeholders can invest their capital and their energy in the concept with great confidence. The common concepts, of course, can evolve over time, but the motion must be measured and sure-footed. Ford’s on-again, off-again strategies have not served it well, and many stakeholders, employees, investors, and communities have suffered as a result.

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VI. General Electric – A Flawed Commonality General Electric (GE) was a company founded in 1892 by eminent American industrialists including Thomas Edison and JP Morgan. Its early years paralleled the rise of electricity as the driving force behind a variety of life-transforming products. Eventually, the Corporation established itself as a leader in the underpinning of society with strong positions in power generation, lighting, and appliances. For decades, GE uniformly followed its original focus, expanding continuously along electricity-based paths. Leadership was passed from CEO to CEO, and in the late 1970s, the central chair was occupied by Reginald Jones, who continued to chart a course true to the Corporation’s roots and aimed, according to its well-publicized motto, “Progress is Our Most Important Product,” at the betterment of society. It was an effort that each element of the organization embraced, and it represented a common cause in which many constituents, employees, stockholders, customers, and communities could enlist. GE was considered, during that time, to be one of the most important and revered of multinational corporations. In the early 1980s, with CEO Jack Welch, GE embarked on a new expansion strategy, diversifying beyond the original electricity-based commonality. The growth vector took the Corporation through many acquisitions, with the only common direction that the additions had to hold their industry’s first or second market share position. This was an endeavor of massive proportion, venturing far from the original electrical-based commonality that underpinned GE’s ongoing prosperity. Businesses in far-ranging areas such as oil and gas, medical, chemicals, jet engines, banking, real estate, and entertainment were added to the collective. In effect, the Corporation had grown by accepting diversification. Still, in so doing, it had significantly reduced the commonality that would enable the scale so important for commercial collective power. In effect, the move had significantly diluted the value of the experience and capabilities that could be shared across the organization. Such actions often raise questions that are asked of all the diverse collectives named conglomerates, i. e., is the whole organization of greater value to society than the sum of the individual parts? In other words, does the collective have sufficient scale born out of an effective commonality? Will the relevance and value of the individual businesses be increased by virtue of being brought together in a single entity? GE management did recognize that the new divisions simply being amongst the industry leaders did not create sufficient multiplicative advantage. To create a stronger commonality, GE established a management training center in Crotonville, New York to share expertise and build a superior management team aimed at developing standard practices across the organization. In addition, driven by Jack Welch’s particular concentration, the enterprise became uniformly focused on driving stock prices upward from quarter to quarter. The Corporation spent considerable effort emphasizing the advantages of specific GE management doctrines and the positive characteristics of making stock price the principal performance metric. It worked for a while and the collective prospered quite well, moving forward temporarily because

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of favorable acquisition choices, positive economic environments, and the persuasive investor relations efforts of the CEO. In the end, however, it all started to unwind. It became clear that the GE management approach might have been only partially effective. They did develop a training center as a strategy for their businesses. Even with that effort, however, the Corporation could not develop a common approach for managing businesses of such diversity, leaving a significant part of tactics and strategy rooted in the individual industries and particular customer bases. Each business presented its own challenges, which defeated the attempts at corporate commonality via management scale. In addition, the attention to the development of select management and the focus on stock prices are not efforts in which the entire employee base can enlist from top to bottom, from the factory floor to the executive suite. GE had abandoned its successful commonality rooted in the business of electricity and the goal of general progress for society. All constituencies, including investors, noticed the dilution authored by the diverse businesses and the absence of value-creating scale. For the new GE, it became clear that the sum of the diverse parts did offer much more value than the loosely connected whole, and the Corporation embarked on a downward spiral. It’s now being broken apart and will likely never again return to its original prominence or relevance.

VII. Snap-on – Commonality and Belief From its very beginning, over 100 years ago, the Snap-on Corporation and its people have had a clear understanding of who they are, what they do, and the characteristics that mark them as part of their unique collective. In 1920, the enterprise was founded in an environment with 7.5 million cars on U.S. roads, substantially fewer than the 285 million in the modern day. The auto industry was just starting, and the Corporation’s founder had an idea, i. e., a set of tools that would make car repair easier. The innovation was a tool set consisting of five handles in different configurations and included 10 sockets of varying dimensions, all designed to “snap on” interchangeably. It was a revolutionary invention. But, the people of Snap-on did something else besides the hardware that was special. The Company bypassed the usual selling distributors, accessing customers directly. It sent its representatives physically into the repair shops, laying the five handles and 10 sockets out on green felt in front of the mechanics, treating the tools as if they were as precious as a surgeon’s knives, implying to the technicians that if they used Snap-on tools, they would declare to the world they were doing something special, perhaps as special as an actual surgeon. The Company has continued that approach today and, as a result, the Snap-on brand has become the outward sign of the pride and dignity working men and women take in their profession. As time progressed, vehicles became more prominent, expanding to the ubiquity we recognize today with cars and trucks engrained in both our commercial and residential societies. Further, as dependence on vehicles has grown, accuracy and speed

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in repair have become essential. Snap-on recognized that trend and defined itself as an enabler and solver of critical tasks performed by serious repair professionals. Snap-on people see themselves as having enlisted in a collective that is marked by criticality, professionalism, pride, and dignity. Each individual associated within the Corporation recognizes that commonality and acts accordingly. It’s the beacon that guides them in their everyday commercial interactions, including their endeavors to grow. As such, this commonality has guided the Corporation’s expansion into more diverse areas. A recent acquisition was Norbar, a company that manufactures heavyduty torque wrenches for industrial applications, e. g., oil and gas platforms, wind towers, and undersea cables. It was already an organization focused on professionalism and criticality. But, as part of the acquisition, it was introduced to the particular Snap-on culture of visible and keen respect for the dignity of work and it was also schooled in the Snap-on value creation process to author constant improvement. Today, Norbar and its people retain their unique industrial-focused character, but they’ve also added substantially to the Snap-on presence across the commercial and industrial business landscape. In effect, the Norbar operation has added its diversity to Snap-on’s presence and, at the same time, has increased the Corporation’s scale by adopting the Company’s unique commonality. Consistent with the Norbar experience, Snap-on has grown over the years, from its car-repair beginning, by entering new industries, including aerospace, military, heavy-duty equipment, and natural resources. It also expanded beyond North America, operating on six continents, and doing business in over 130 countries. Along the way, it has grown organically, building on existing activities and expanding inorganically in both old and new business arenas, acquiring additional companies such as Car-O-Liner vehicle collision equipment from Sweden, Dealer-FX car dealership software from Canada, Ecotechnics vehicle air-conditioning units from Italy, and Wanda general purpose hand tools from China. In effect, it diversified its activity from an industry, product, and geographic perspective. At the same time, however, each of the diverse additions adopted a clear focus on the commonalities that defined and differentiated Snap-on: criticality; respect for the pride and dignity of work; professionalism, and continuous improvement. It all worked. Because of the diversified growth and enforced commonality, Snap-on grew in size, almost doubling. The new activities aligned to create higher sales and increased profitability. The market value of the enterprise rose more than tenfold and the organization and its people prospered as a result. The success was a direct result of the Corporation’s recognition that it needed diversity to grow, but the progress was also authored by the Company’s understanding that the expansion could only be valuable if the new activities were enlisted in the commonalities that identified and distinguished Snap-on. The commonality was used not only to integrate new additions to the collective, but it was also used as a guidepost for moving forward, defining what activities can and, most importantly, cannot be effectively enlisted in the Snap-on team. For exam-

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ple, in the pursuit of growth, it can be quite tempting for Snap-on to venture into the discretionary “do it yourself” (DIY) arena. It is, after all, a much larger segment with substantial opportunities. Nevertheless, one clear rule in Snap-on’s commonalities of criticality and professionalism is, “thou shalt not sell to amateurs.” As such, the Company has consistently eschewed the DIY sector. As a result, it may have bypassed a significant growth opportunity, but it has avoided the dilution associated with the lack of fully-aligned commonalities. As a result, the Corporation is much stronger. An additional comment on Snap-on was that it benefited, just after the turn of the last century, from having a steadfast new leader, Jack Michaels, who demonstrated strong-minded character and confidence regarding the way forward and who was able to energize the Corporation’s full range of constituents. He clearly understood the need to celebrate the common behaviors that defined Snap-on. Among the positive actions was a formal and clear statement of “Who We Are” which was a declaration of the corporate commonalities of criticality, professionalism, pride, and dignity. The document also made statements of the Corporation’s necessary, but not unique, beliefs and values rooted in commercial best practices and in the positive personal behaviors implicit in natural law. Under the CEO’s guidance, the “Who We Are” statement was placed prominently in every major room across the Corporation. In effect, Snap-on adopted a continuous and visible celebration and reinforcement of its common behaviors. It was successful, with the people of Snap-on across the Corporation believing deeply in their shared direction. Throughout the organization, collective and individual actions are guided by the Corporation’s commonalities as defined in the “Who We Are” declaration. As a result, over time, Snap-on has effectively balanced diversity and commonality and the Corporation has continued an upward trend, benefitting the associates, franchisees, investors, customers, retirees, and communities, all of the Company’s primary stakeholders.

VIII. A Framework for Harnessing the Power of Diversity In the preceding pages, we have explored a number of real-life examples of corporate organizations seeking to grow by creating collective scale along a series of diverse corridors to maintain relevance and competitiveness in a changing world. The events considered played out in relatively short time periods, generally measured by years and decades, many of them fully observable even from the relatively static point occupied by the author. Taken together, these various multinationals and their individual experiences point the way to a socioeconomic framework that has the potential to serve as a guide in harnessing diversity for collective advantage. The elements of that framework are: A Common Belief in the Role of Diversity; Conviction on the Necessity of Strong Scale; Determination of an Effective and Inclusive Commonality; a Continuous Celebration of the Collective’s Defining Characteristics; and the Presence of Steadfast and Moral Leadership. Each of these elements is important

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in the success and, indeed, the ongoing sustainability of any significant economic, social, political, or religious collective in almost any environment.

IX. Belief in the Role of Diversity – The Air We Breathe Members of any collective must be welcoming of diverse participants as a matter of continuing existence. As the world and society move forward, continuous growth is clearly simple table stakes for remaining viable with certain exceptions during major cataclysmic events, such as the disintegration of empires, plagues, and social turmoil like the Chinese cultural revolution. In effect, the size and the scale necessary to maintain existence against predatory competitors both display fundamental entropic characteristics. This fact is written in the black letter law of corporations. For a collective, increasing diversity and the associated growth is like the air it breaths, without which our existence cannot continue. You can see it clearly in the various multinational examples. All of them, Eastman Kodak, American Motors, Ford, GE, and Snap-on, clearly recognized the imperative for diversity. They, however, pursued that goal with varying levels of success. Of course, within any collective, there are those individuals and sub-organizations which oppose such expansion, shortsightedly seeing diversification as an erosion of their position. These must be overcome. The wide range of outcomes for the corporate entities in this study are confirmation of that fact. All of the commercial entities sought to expand their size via diversification. Most succeeded, but some did fail because they lacked the resolve and the belief in their quest. Kodak could not summon the organizational commitment to refocus from its organic chemistry base and the Corporation was diminished. American Motors failed to grow sufficiently, perhaps because certain elements of its structure resisted more aggressive diversification. In any case, American Motors fell behind its competitors and was assimilated, losing, for all time, its distinctive character and resulting in substantial hardship for many individuals that had labored under its banner. Belief in diversity’s role, therefore, is essential for ongoing collective health.

X. Conviction on the Necessity of Scale – Alignment Ascendant As outlined earlier, the pursuit of diversification is essential for a collective. It is, however, not sufficient to drive ongoing success. In fact, in certain situations, diversity can be quite a dilution, creating a serious disadvantage. The power of scale, i. e., the ability to align in common cause and effort, is the real author of collective success and capability. In effect, organizations must welcome diverse additions to their population but, at the same time, they must insist that these additions adopt the collective’s commonality such that they can add to the group’s multiplicative power we call scale. The example of GE shows that it’s much easier to diversify than it is to create

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the commonality necessary to leverage the collective’s size. In the contemporary environment, many will assert that diversity itself will strengthen an organization in measurable ways by virtue of adding multiple ideas, perspectives, skills, and backgrounds. While these varied characteristics may make an organization a more interesting environment, without a clearly shared commonality, the group may be even less powerful than more uniform entities of smaller size. In today’s world, there are many social pressures in play that ascribe great benefit to variation of background and experience in an attempt to overcome potential opposition to diversification. This is well-meaning but it ignores the fact that diversification alone will likely weaken as opposed to strengthen the collective. In such an environment, a collective must have great conviction regarding the need for scale and the commonality required to generate power. You can see this in the corporate examples regarding Ford and Snap-on. Ford was successful in diversifying its activities and building large operations in Europe, Australia, Brazil, Argentina, Thailand, and Taiwan, together with significant joint venture enterprises in China and Korea. Ford, however, could not summon conviction sufficient to drive and enforce commonality across its enterprise, as demonstrated by the Corporation’s struggles in developing its “world” car. Ford built the necessary size, but that growth alone wasn’t enough to deliver the company from evil. As such, Ford struggled going forward with lackluster stock performance, a series of restructuring actions, and considerable angst and disadvantage for its team. On the other hand, Snap-on similarly pursued growth through industry and geographic diversity. While it welcomed the associated new additions, it also insisted that they adopt the commonalities that were the essence of the collective’s distinct identity. These characteristics focused on critical tasks that required repeatability and reliability, a restriction to only professional customers, and an emphasis on the Corporation’s beliefs and values resident in Snap-on’s declaration of “Who We Are.” The strong conviction regarding the essential need for scale and the uncompromising expectation of commonality for new operations generated significant increases in strength. The Corporation’s constituents, investors, associates, retirees, and the host communities prospered as a result. In effect, Snap-on is a demonstration that conviction regarding the need for scale is a significant ingredient in collective success.

XI. Choice of Commonality – The Science and the Art of Benefit It is also evident from our real-world situations that the belief in diversity and conviction of scale is not enough. The selected common characteristics must actually generate benefit for the collective that accrues to all constituents. Once again, we can see this conclusion laid out clearly in the corporate examples. GE embraced diversity and committed to an enforced commonality, requiring market leadership in its new additions and attempting to drive a common management approach through its Croton Training Center. In the end, these were bad choices for commonality. Market

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leadership generated no scale and no power across industries and the common management approach proved ineffective when applied to activities in different businesses. In effect, the GE commonalities were not axes along which activities in the diverse industries could be aligned. GE eventually floundered because its chosen commonalities could not draw power from its diverse but sizeable portfolio. We also can consider Ford’s choice of commonality, creating standard platforms such as the world car, as an effective decision. The endeavor, however, lacked the consistency and the Corporation floundered. There were a few periods when Ford did accomplish some standardization and the collective prospered. The effort, in other words, the Ford experience shows that choosing the right commonality matters, but it must be matched with continuous conviction and support to maintain advantage. The automaker failed to sustain the required focus on commonality and it suffered as a result.

XII. Celebration of the Commonality – Reinforce the Bond In addition, it doesn’t appear sufficient simply to grow by diversification, to enforce the adoption of commonality, and make the right choice of what characteristics the collective will share. It’s also necessary to celebrate the corporate similarities, raising them to marks of the special, the unique, and the relevant. This is again evident in the corporate examples we’ve just reviewed. Ford had the possibility of collective success by enforcing standard design platforms across the operation. What Ford did not do was draw attention to their commonality and make it a permanent part of the organization’s basic nature. They failed to convince their constituents regarding the importance of the commonality. If, from time to time, the corporation did establish some scale across their diverse operations, they let it slip away through inattention. On the other hand, at Snap-on placards in each major room across the enterprise state and celebrate their commonalities, reminding the constituents of the special nature of their mission and of the importance and power of working together. The narratives of the Corporation are prominently infused with the celebration of the common behaviors and the special value to all. For example, during the pandemic, the Snap-on team, i. e., designers, salesmen, factory workers, franchisees, and technician customers, continued their essential work enabling society’s critical mobility, keeping the world from disintegrating while it engaged and defeated the COVID. Snap-on people were characterized as those who stood firm against the threat, persevering our society in the gloom. Such celebration convinces the people of Snap-on that their enlisting in the collective commonality makes for a life worth living and represents an endeavor worth continuing. Energized by the celebration, Snap-on’s scale is strong and sustainable, and the Corporation and its constituents have enjoyed consistent prosperity as a result.

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XIII. Steadfast and Moral Leadership – Beacon of Confidence The test of any collective comes through periods of extreme threat and turbulence, e. g., wars, economic difficulties, extreme competition, etc. Various accounts of soldiers in battle situations have reported that, in such conditions, individuals turn to their leaders, taking inspiration from their behavior. This is especially true if the commander is recognized for consistent and moral character. In any case, should leadership waiver or fail to display confidence in the group, in the fundamental position of the collective, or in the plan to overcome the immediate difficulties, the soldiers lose heart, abandon their training, and tend to fail, leading to significant losses. St. Paul said, “For if the trumpet sounds uncertain, who will prepare for war.” And so it is for armies and for collectives of all stripes. Considering our corporate examples, even with a somewhat flawed commonality, GE maintained its position boosted by the confidence of its leader. It was only when a less confident CEO took over that the Company began its free fall. The Ford situation demonstrates another different but relevant example. The Corporation was able to summon the commonality of its standard platform design during certain short periods, guided during those interludes by determined, steadfast, and respected CEO leadership. Ford’s CEOs, however, tended to have short tenures, and the occasional periods of conviction and confidence regarding commonality was overcome by longer periods of leaders who were not so convinced of the need to summon scale. In the end, Ford’s general slide partially reflected the lack of leadership regarding the need for commonality.

XIV. Testing and Confirming the Framework by Considering Nations The real-life corporate examples outlined in the previous discussions demonstrate a five-point framework prescribing an effective use of diversity by a collective, generating the power of diversity but avoiding the associated perils. To confirm the practical and broad validity of our corporate-derived framework for accessing the power of diversity, we’ll test its usefulness in examining the growth efforts and the corresponding results achieved by another type of collective entity, sovereign nations. Countries are among those organisms that also bring groups and individuals together to create value and, accordingly, have many similarities to multinational corporations. In the test of our framework we chose to reflect on the experiences of Japan and the U.S. both established democracies, and of India, an emerging market democracy. By considering a range of nations, we hope to disprove, revise, or confirm our hypothetical corporate-derived framework and its pillars of diversity, scale, commonality, celebration, and leadership.

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XV. Japan – Bounded Commonality Japan is a relatively prosperous nation with a strong sense of commonality and little recognition of the value associated with diversity. Eisenstadt observed that “one aspect of Japanese collectivity has been the impossibility of becoming Japanese by conversion.”2 It’s a country with a deep sense of its commonality rooted in communitarian ideals, in the wisdom of its unique literature, like the Heike Monogatari, and in the unique behavioral norms of Honne and Tatemae, the concepts of the “way things are one and the way everyone says they are.” In other words, in Japan accepted dialogue doesn’t necessarily adhere to truth. They are a people apart. In that regard, Japanese creation myths characterized them as “a people who fell from a star” and in some ways it seems to be so. The intricate and vivid Japanese commonality enjoys wide conviction on its importance throughout the land. You can speak to almost any member of the population and hear a similar expression of what it means to be Japanese. In addition, the elements of the commonality represent a construct that’s an effective choice for an isolated and unique nation that is devoid of natural resources. You can see this clearly in the well-earned reputation of Japan as an extraordinary engine of continuous improvement and efficiency. Japan simply makes the most out of what it has, bringing substantial progress and prosperity to its people. This phenomenon has been evident over the years, from its various societal accelerations in the Nara period, to its rapid modernization in the last half of the 19th century, to its quick recovery following the devastation of World War II, after which it appeared that the Country might be headed toward world economic leadership. In each of these events, however, its trajectory was interrupted by a deep resistance to diversification. The people who fell from a star have such a unique commonality that it cannot be shared, even partially by others. Japan has powerful scale, but it’s not been able to grow and sustain its position among the nations of the world. Today, Japan is plagued by an aging population, a loss of national energy, and an almost chronically weak and increasing tenuous economy. Commonality and extreme scale are not enough, and without the first element of our framework – a recognition of the need for diversity, Japan is having significant difficulty and is on a downward slide.

XVI. India – The Perils of Diversity India is the second largest Country in the world, includes legions of brilliant and erudite citizens, and has a rich and ancient culture. It is, however, not particularly successful in achieving progress for its people. In fact, the land stands out as having among the most untapped potential of any nation in the world. But the possibilities have proved elusive. It’s often quipped by Indians and non-Indians alike that it’s the 2 Shmuel N. Eisenstadt, Japanese Civilization: A Comparative View, University of Chicago Press, Chicago 1998, p. 264.

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“Country of the future, and it always will be.” For example, with a GDP of over $ 2.7 trillion, it ranks fifth in the world, reflecting its massive size. Its GDP per capita, however, at just over $ 6,000, ranks only 128th and below Angola, Iraq, and Mongolia. The Country is not able to summon scale from its massive population and the problem is clear. India suffers from a dizzying diversity that drastically subdivides the Nation’s population in the absence of any palpable commonality. India has grown to its current size through annexation and absorption of various peoples and cultures. It did not exist in its current geographic form until the British arrived. In fact, the British may have exacerbated the situation as Jane Burbank and Frederick Cooper noted that “the divisions within India were crucial to the ability of the British to control”3. The Country’s massive diversity is a monumental disadvantage bringing the very definition of what it means to be an Indian under considerable question. For example, the Tamils, which inhabit the country’s southeast corner, wear different clothes, eat different foods, worship different gods, speak a different dialect, and use a different alphabet than the Punjabis who live in the northwest. This raises the question, “why are both groups called Indians.” They appear to have nothing in common. This difficult condition is amplified by the principles upon which India was founded. Mahatma Gandhi, the leader of the independence movement, said the principal governmental entity should be the 650,000 villages … yes, 650,000 different sets of interests! He also held that the majority was not as important as the multiple minorities spread throughout the landscape. Finally, his drive to home rule was enabled by dependence on civil disobedience, non-violent disobedience, but disobedience never-the-less. The combination of multiple political entities, greater emphasis on the minority interest, and a view that civil disobedience is a saintly endeavor have proved to be a powerful impediment to finding and wielding an effective Indian commonality. Subsequent Indian leaders have recognized the need for scale and a common definition of what it means to be an Indian. All have been unsuccessful in that effort. The first president of independent India, Jawaharlal Nehru, in fact, recognized the need for commonality. He struggled, however, to find it, saying, “India was layer upon layer of thought and reverie … yet no layer hid or erased what had come before”4. The statement in itself stands as a declaration that India is inherently a variegated and immiscible landscape. Nevertheless, grasping for some measure of similarity, Nehru saw that perhaps the only characteristic that all the provinces of India had in common was the ubiquitous presence of the poor. He, therefore, chose socialism and a policy of income redistribution as the common theme, creating a natural leaning toward the Soviet Union during his presidency. Over the years, this proved ineffective because it did not create consistent value for the Nation. In more recent times, the BJP Party, the opposition to Nehru’s Congress Party, attempted to build a commonality around the principles of the Hindu religion. This has also not been successful. Although Hindus are in the majority, hundreds of millions of Muslims reside in the Country and are 3 Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History: Power and the Politics of Difference, Princeton University Press, Princeton, 2011 p. 316. 4 Shashi Tharoor, Nehru: The Invention of India, Arcade, New York 2008, p. 225.

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joined by large numbers of Sikhs, Jains, Buddhists, and Christians. They are not particularly drawn to a Hindu-based commonality. Further, Hinduism itself has little internal commonality, having expanded principally by absorbing and adopting the customs of other religious sects. In effect, the Nation continues to lack the power of scale and, therefore, struggles to fulfill its massive potential. The story of India is that of a massive collective whose substantial prospects have been greatly dimmed the perils of diversity.

XVII. The United States – Diminishing Commonality, Receding Power For centuries the United States has been perhaps the most effective wielder of diversity in the world. As the Country expanded, various populations representing diverse cultures were added to the American collective generating great benefit to the land and its people. Over the years, Dutch, French, English, Irish, Italians, Germans, Polish, Chinese, Japanese, and many other nationalities flocked into North America’s shores. As is always the case, there was opposition rooted in fear of loss and its selfish intent. But, the “Angel in the Whirlwind” guiding the American evolution eventually prevailed. There was work to be done, a frontier to be extended, forests to be tilled, and a continent to tame. The Nation, in general, welcomed each diverse group. Each kept some of its cultural distinctions: the tulip festival in Albany, New York, where the Dutch first settled; the dialects of the east coast, which heavily reflect the part of England from which the original settlers came; and the customs and cuisines of Louisiana region, preserving the flavors brought by the French immigrants who came there first. In fact, to this day, when a U.S. citizen is asked about their nationality, they’re more likely to say German, Chinese, Irish, or Italian than they are to declare themselves American. Having said this, the process was effective because diversity was seen clearly to have its limits. Diversity in America was always attenuated by a melting pot ethos whereby immigrants adopted the commonalities that marked individuals as American. The question of identity is a very interesting one when posed in the United States. Unlike most countries, Americans have not been defined by a common origin. The citizens are from many places. The national character is not based on the practice of a particular religion. Many forms of worship exist across the land. The Nation is not even defined by geographic boundaries. The shape of the Country has changed as often as stars have been added to the national flag, and two new “state” stars have been added to the field in living memory. Uniquely, Americans are defined by their beliefs and their words. These include special words such as “E Pluribus Unum, From Many, One.” This motto represents a belief with a two-fold meaning: the individual states come together to form one union and that individual people of different origins and cultures enlist in a single commonality. It’s a powerful force for scale. Other words are also deeply rooted parts of the American identity, like the ones in the Declaration of Independence, “We hold these truths to be self-evident, that all

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men are created equal.” These statements that represent a clear inclusion of the shining precepts of national law as part of the Nation’s primary commonality. These are the words that, for the almost 250 years since its founding, have anchored the public and private beliefs and the general philosophies that have marked Americans. There are also more pragmatic and demonstrable requirements that underpin the commonality, such as speaking a common language, strong reverence for the flag, and serving in the armed forces. These commonalities were well chosen as they created scale, emanating from basic moral code, prompted acceptance of new additions to the Nation, and created an energy-producing patriotism. Another national characteristic that energized the melting pot process was the continual and visible celebration of the American commonality. Every American child can recite the common beliefs such as those written in the Declaration of Independence. Further, as you traverse American communities, large and small, rich and humble, you are presented with a striking view of national flags, the stars and stripes, visibly and voluntarily displayed, not just holidays, but continually and with a considerable ubiquity. Finally, the Country has generally benefitted from leaders of strong moral fiber, who have believed in diverse growth, have understood the requirement for commonality, and have vigorously celebrated those characteristics that mark Americans and their collective. Of course, there have been exceptions to this quality and commitment but, until very recently, any such temporary flaws in the leadership did not dim America’s conviction regarding the Nation’s commonality. In effect, the positive evolution of the United States has been one rooted in a belief in diversity, a conviction regarding scale, positive choice regarding the power and distinction of its commonality, enthusiastic and continuous celebration of what all of it means, and a leadership that is committed to those concepts. As a result, America moved from a group of peripheral, disjointed European colonies to a collective of considerable prosperity and power. Unfortunately, in recent times, the Country appears to be departing from the formula that has enabled its success. There is abroad in the land a fundamental misunderstanding of the role of diversity and a common philosophy that characterizes disagreement with such contemporary assertions as signs of flawed and unenlightened, if not malfeasant, character. An example of this can be seen in the publicly funded institution, The University of California, which published an official memo charging its faculty and administrators to avoid “micro-aggressions” such as characterizing America as a “melting pot” or expecting minorities to adopt a national commonality. Such statements occurring relatively often in today’s environment are signs of diminished conviction regarding the necessity of commonality and a departure from the concept of E Pluribus Unum. The Country is migrating away from commonality to what Dante Chinni has described as a “Patchwork Nation,”5 comprised of an array of differently minded enclaves that share little commonality with the other 5 Dante Chinni, Our Patchwork Nation: The Surprising Truth About the Real America, Avery 2010, p. 186.

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areas. This has been starkly demonstrated in recent years where dialogues over issues large and small, fanned by the narrow corridors of social media and 24-hour news, embracing hyperbole in pursuit of more attention, have become decidedly rancorous and occasionally violent. The development of personalized communication has led to a wider range of opinionate, ideological niches.” As a result, commonality has been strained, wearing thinner and thinner as the days go by. Exacerbating and perhaps driving some of this trend has been a leadership that has failed to demonstrate a clear commitment to the necessity of commonality, choosing instead to focus on building support that relies on a compendium of separate, unaligned groups. The difficulty with this construct is that this emphasizes individuality and autonomy without regard to the behaviors, ideas, and beliefs we share as members of a national community. America has great power derived from its diversity and its commonality, but it’s losing the plot.

XVIII. Conclusion One of the major issues of the current day is the acceptance of diverse populations as part of a group. This applies to a large range of collective organizations, including nations, communities, religions, societies, and corporations. Although there is a substantial contemporary discussion on the subject, it’s a dialogue that has long-standing relevance to organizational dynamics. In fact, over some time, among the primary challenges for collectives has been to grow sufficiently to maintain relevance. One of the principal mechanisms for accomplishing this task is to add diverse groups, expanding the collective’s size and potential for strength and influence. Corporations have been and still today are active participants in this endeavor. We’ve chosen to study a number of them in an attempt to develop a blueprint for success in this area. Taking advantage of the relatively short time constants which inhabit the commercial world, we looked at American Motors, where we saw the unfavorable impact of not summoning sufficient urgency to expand. We then moved to Ford, which was able to diversify, pushing into far-flung geographies, but underestimated the centrifugal and dilutive forces that were generated by that diversity absent an enforced commonality that would extract the power of scale from the expansion. GE was a company that did grow by diversification and understood the need for commonality to make the whole more powerful than the sum of its individual parts but failed in choosing areas of shared behavior that would amplify effort through alignment and create scale. GE also highlighted the advantage of committed and confident leadership, which in that Corporation’s case overcame the flaws and kept the entity prosperous until a new, less capable CEO was installed. Finally, Snap-on grew by diversity, had a deep conviction regarding the need for a commonality-driven scale that generated clear value and, in addition, celebrated the Corporate commonality in ways that sustained the energy applied and instilled a clear feeling of uniqueness, relevance, and worth among the Corporation’s constituents regarding their combined endeavors.

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The Corporate experiences, both positive and negative, supported the derivation of a framework that could serve as a guide for most collective organizations seeking to joust with the challenges of growth. The elements of the framework are: Belief in the Need for Diversity; Conviction on the Essential Power of Scale; Choice of Effective Commonality; Celebration of the Collective’s Defining Character; and the Presence of Steadfast and Moral Leadership. The exploration of another collective category, nation-states, provided an opportunity to validate the corporate-derived model. In that regard, Japan demonstrates that without a recognition of the need for diversity, growth will be weak and positive trends will be elusive, leading to a dead end in most collectives. India shows clearly the difficulties of growth by diversity without commonality. As such, it has remained an underachieving society for many decades. The U.S. was an example of clear, positive performance, but the vision is blurring. E Pluribus Unum was an expression of diversity and at the same time, an expression of the need for commonality that was used to create powerful scale by common beliefs and behaviors that were celebrated broadly and driven by consistent, confident, committed, and moral leadership. When the balance between diversity and commonality shifted to an approach promoting diversity for diversity’s sake, and when its leadership faltered in driving commonality, the Nation started to struggle and lose confidence in itself. America always welcomed diversity and celebrated commonality, but that successful construct is fading. Collective social organisms of all types have an inexorable need to expand in the pursuit of ongoing competitiveness. Our study of corporations has yielded a framework for positive outcomes in the endeavor to grow, the elements of which are: Diversity, Scale, Commonality, Celebration, and Leadership. Further, our study of national experiences, viewing the positives and negatives that countries encounter as they move forward, confirms that the framework set forth in this paper does, in fact, reliably guide collective organisms to sustainable success for all of its constituents. Zusammenfassung Die gegenwärtig vorherrschende Diskussion über Vielfalt hat zweifellos in erheblichem Maße Eingang in die Unternehmenskultur gefunden. Dieser Beitrag zeichnet die Entwicklung zahlreicher Unternehmen in Amerika und weltweit nach, die sich mit der Frage der Diversifizierung von Produkten, Managementstil, Kulturen und Beschäftigungspraktiken auseinandergesetzt haben. Sowohl zu restriktive Praktiken als auch zu viel Vielfalt können zu problematischen Umständen führen; es bedarf sowohl einer ausreichenden Gemeinsamkeit als auch einer legitimen Diversifizierung, um erfolgreich zu sein. Die Bereitschaft, offen zu sein für Veränderungen, für neue Ideen und Praktiken, für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen innerhalb des Unternehmens und für die Bedürfnisse der größeren Gemeinschaft – all das sind entscheidende Elemente, die zu einem florierenden Unternehmen gehören müssen. Amerika hat nicht nur von seinem Wachstum und seiner Diversifizierung profitiert, sondern auch von seinem dauerhaften

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Engagement für übergreifende Prinzipien wie Gleichheit und den Schutz der Rechte aller. Organisationen und Gemeinschaften, die sich einerseits zu sehr abkapseln oder denen es andererseits an einem verbindenden Kern fehlt, stehen vor weitaus größeren Herausforderungen als diejenigen, die die Vorteile beider Qualitäten miteinander verbinden können.

Sexuelle Vielfalt – Woher kommt und was will das Gender-Mainstreaming? Von Manfred Spieker

I. Karriere und Philosophie des „Gender-Mainstreaming“ Die Implementierung des „Gender-Mainstreaming“ beginnt in Deutschland mit einem Kabinettsbeschluss der Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer am 23. Juni 1999, ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt. Weder eine parlamentarische Debatte noch eine gesellschaftliche Diskussion gingen dem Beschluß voraus. Alle Ministerien wurden auf das Leitprinzip der „Geschlechtergerechtigkeit“ verpflichtet. Vier Jahre zuvor hatte die Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking das „Gender-Mainstreaming“ propagiert. Sie verabschiedete eine umfangreiche Aktionsplattform zur „Herbeiführung der Machtgleichstellung der Frau“, die zwar das Substantiv „Gender-Mainstreaming“ nicht verwendete, aber von allen Regierungen erwartete, daß sie „promote an active and visible policy of mainstreaming a gender perspective in all policies and programmes“1. Damit war das „Gender-Mainstreaming“ geboren. Unter Mainstreaming ist mithin eine Strategie zu verstehen, ein bestimmtes Thema – hier die Geschlechterperspektive – in den „Hauptstrom“ der Politik einzubringen, also zu einer alle Politikbereiche übergreifenden Querschnittaufgabe zu machen. Mit einer Änderung der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien am 26. Juli 2000 erhielt das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend die Kompetenz, alle Gesetzgebungsverfahren auf ihre Auswirkungen von gleichstellungspolitischer Bedeutung zu überprüfen. In den neuen § 2 dieser Geschäftsordnung fand auch der Begriff „Gender-Mainstreaming“ erstmals Eingang. „Gender-Mainstreaming“ geht von der Überzeugung aus, daß das Geschlecht nicht etwas von der Natur Vorgegebenes ist, sondern durch Gesellschaft, Kultur und Sprache determiniert wird. Wollte man der Gender-Perspektive einen wahren Kern zugestehen, könnte man sagen, in der Tat ist menschliche Sexualität nicht nur „Natur“, sondern immer auch Kultur. Sie ist nicht nur ein Trieb. Sie bedarf der verantwortungsbewußten Kultivierung, der Be1

Resolution 1 der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking, Anlage II, Ziffer 202, in: www.un.org/depts/german/conf/beijing/beij_bericht.html. Die offizielle deutsche Übersetzung dieser Ziffer klingt dagegen harmlos: Die Regierungen und andere Akteure sollen „eine aktive und sichtbare Politik der konsequenten Einbeziehung einer geschlechtsbezogenen Perspektive in alle Politiken und Programme fördern“.

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herrschung und der Integration in die Person. Sie ist auf Erziehung angewiesen. Sie ist also nicht nur ein Gegenstand der Biologie2. Aber die Gender-Perspektive geht weit darüber hinaus. Es geht ihr nicht um die Kultivierung, sondern um die Dekonstruktion der Sexualität, genauer um die Dekonstruktion der Heterosexualität. Heterosexualität ist für sie ein Synonym für die Beziehung von Mann und Frau, die durch gesellschaftlich oktroyierte Normen geregelt wird. Deshalb ist in der Gender-Perspektive häufig nicht von Heterosexualität, sondern von „Zwangsheterosexualität“ die Rede. Wenn das Geschlecht primär eine Konstruktion der Gesellschaft und der Kultur ist, dann gilt auch die Zweigeschlechtlichkeit als eine solche Konstruktion. Jeder Form der Sexualität wird als gesellschaftlicher und kultureller Konstruktion das gleiche Recht zugesprochen. An die Stelle der sexuellen Identität als Mann oder Frau, die von der Natur vorgegeben ist, tritt die sexuelle Orientierung, die der Mensch selbst wählt, die also, losgelöst von der Biologie, allein von seinem Willen abhängen soll. „Gender-Mainstreaming“ ist in einem ersten Schritt ein Kampf für die Anerkennung der Homosexualität. Ihr sollen der gleiche Rang und der gleiche staatliche Schutz zukommen wie der Heterosexualität. Die Ehe von Mann und Frau darf in dieser Perspektive gegenüber gleichgeschlechtlichen Verbindungen nicht privilegiert werden. Das gilt für alle Rechtsbereiche, insbesondere für das Familienrecht, das Steuer- und Erbschaftsrecht und das Adoptionsrecht. Homosexualität gilt deshalb als „subversiver Protest gegen die Zweigeschlechtlichkeit“3. In einem zweiten Schritt ist „Gender-Mainstreaming“ ein Kampf für die LGBTIQ-Agenda. Nicht nur homosexuelle, also lesbische und schwule (gay) Lebensweisen sollen heterosexuellen Beziehungen gleichrangig sein, sondern auch bisexuelle und solche, die als „Transgender“, intersexuell oder queer bezeichnet werden. Der Begriff „Gender“ dient also nicht nur der Dekonstruktion der Geschlechtspolarität, sondern der Relativierung des Geschlechts selbst. Er leugnet eine vorgegebene Natur des Menschen. Er reduziert den Menschen auf den Willen, der nur ein leibfeindliches Selbst kennt und die sexuelle Identität bestimmt. Diese Leugnung der vorgegebenen Natur kann durchaus skurrile Formen annehmen, so wenn gefordert wird, die Begriffe Vater und Mutter in Geburtsurkunden durch die Begriffe „Elter 1“ und „Elter 2“ oder „Progenitor A“ und „Progenitor B“ zu ersetzen, wenn bei Facebook 56 Geschlechtsvarianten zur Wahl stehen, wenn die Bundesärztekammer in gendersensiblem Übereifer genetische Labors auffordert, neben den üblichen Geschlechtsbezeichnungen „männlich“ und „weiblich“ noch eine Rubrik für ein drittes Geschlecht „x“ einzuführen oder wenn Schulverwaltungen Schulen anweisen, Transgender-Schülern zu gestatten, die Umkleide- und Duschräume des Geschlechts zu nutzen, dem sie sich zugehörig fühlen. 2 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Gender: eine Theorie auf dem Prüfstand, IKZ Communio 35 (2006), S. 361 ff. 3 Uwe Sielert, Gender-Mainstreaming im Kontext einer Sexualpädagogik der Vielfalt, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Forum Sexualaufklärung, in: www.forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=667 (Zugriff: 20. Oktober 2023), S. 3 f.

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Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, das literarische Flaggschiff des „Gender-Mainstreaming“, dient, wie der Untertitel im englischen Original zum Ausdruck bringt, „the subversion of Identity“, der Zerstörung einer vorgegebenen geschlechtlichen Identität. Die Kategorie „Frau“ ist für Butler, wie für Simone de Beauvoir, nichts Vorgegebenes, sondern „ein prozessualer Begriff, ein Werden und Konstruieren“, bei dem es keinen Anfang und kein Ende gibt4. Das gilt dann konsequenterweise auch für den Mann. Die Attribute und Akte geschlechtlicher Identität seien „performativ“, das heißt sie werden erst im konkreten Verhalten geschaffen. Deshalb gebe es „weder wahre noch falsche, weder wirkliche noch verzerrte Akte der Geschlechtsidentität“5. Für Elisabeth Tuider sind „Identitäten, geschlechtliche und sexuelle Positionierungen … mit einem Ablaufdatum versehen und sagen höchstens ,zur Zeit‘ etwas über einen Menschen aus“6. Im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom November 2021 hat dieses performative Verständnis von geschlechtlicher Identität, die Ebene der Politik erreicht. Die Regierungskoalition will ein „Selbstbestimmungsgesetz“ verabschieden7, für das Justizminister Buschmann und Familienministerin Paus im Juni 2022 die Eckpunkte vorgestellt haben. Am 23. August 2023 wurde der Gesetzentwurf vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht. Danach sollen volljährige Personen ihren Geschlechtseintrag und dementsprechend ihre Vornamen künftig in einem einfachen Verfahren vor dem Standesamt ändern können. Eine „Erklärung mit Eigenversicherung“ soll ausreichend sein. Ärztliche Atteste oder Begutachtungen, die im Transsexuellengesetz noch gefordert werden, sollen entfallen. Auch Jugendliche ab 14 Jahren können gegenüber dem Standesamt eine solche Erklärung abgeben, bedürfen allerdings der Zustimmung der Eltern, die aber bei Differenzen durch ein Familiengericht ersetzt werden kann, das sich „am Kindeswohl“ orientieren muß. Beabsichtigt jemand nach einer Änderung seines Geschlechtseintrags eine erneute Änderung, muß eine Sperrfrist von einem Jahr beachtet werden, die dem „Übereilungsschutz“ dienen und „die Ernsthaftigkeit des Änderungswunsches sicherstellen“ soll. Ein „Übereilungsschutz“ vor dem ersten Antrag auf Änderung des Geschlechtseintrages wird dagegen nicht gefordert. Entscheidungen über die Teilnahme von transgeschlechtlichen Personen an sportlichen Wettbewerben werden an die Sportverbände delegiert.

4 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 60 (Original: Gender-Trouble. Feminism and the subversion of Identity, New York 1990). 5 Ebd., S. 207 f. 6 Elisabeth Tuider, Vielfalt als Alternative zu schwul-lesbischer Aufklärungsarbeit?, in: 10 Jahre SchLAu NRW, Köln 2010, S. 32. 7 „Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021 – 2025“, S. 119.

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II. Eingetragene Lebenspartnerschaften Der Gesetzgeber in Deutschland hat sich die Perspektive des „Gender-Mainstreaming“ allerdings nicht erst 2021, sondern schon 20 Jahre früher zu eigen gemacht – mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. Februar 2001, das gleichgeschlechtlichen Verbindungen einen eheähnlichen Status verlieh und durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 als grundgesetzkonform erklärt wurde. Daß eine eingetragene Lebenspartnerschaft im Gegensatz zur Ehe nicht auf ein eigenes Kind hin angelegt ist, nicht zu Elternverantwortlichkeit führt und keinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft leistet, blieb im Gericht eine Minderheitenmeinung8. Die Mehrheit wollte nicht sehen, daß Homosexualität generationenblind und lebensfeindlich ist. Der Eifer der Homo-Lobby, in allem Ehe und Familie gleichgestellt zu werden, wollte mit der Dekonstruktion von Ehe und Familie in der Gendertheorie nicht so recht übereinstimmen: Man kämpft um die Legalisierung dessen, was man lange Zeit als überholt geschmäht und als Anachronismus abgelehnt hat. Das Bundesverfassungsgericht ignorierte in seinem Urteil von 2002 und in weiteren Entscheidungen den Grund für den besonderen Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG, nämlich deren Beitrag zur Regeneration der Gesellschaft und zur Bildung des Humanvermögens der nächsten Generation durch die familiäre Erziehung. Es band die Privilegierung der Ehe fälschlicherweise an die „heterosexuelle“ Orientierung, um so eine Diskriminierung der Menschen mit homosexueller Orientierung konstruieren zu können. Eine weitere Entscheidung des Gerichts von 2009 zur betrieblichen Hinterbliebenenversorgung von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst, die auch homosexuellen Partnern zugesprochen wurde, ist von Verfassungsrechtlern mit Recht als „ein grobes Fehlurteil“ bezeichnet worden, „in dem die Richter nicht der Verfassung, sondern dem Zeitgeist folgten“9. Der Bundestag beschloß am 20. Juni 2014, einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts folgend, ein Gesetz zur Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner. Bedenken gegen die Sukzessivadoption hatte das Gericht unter Berufung auf die überwiegende Zahl der sachverständigen Stellungnahmen zurückgewiesen. Sie hätten keine Bedenken gegen das Aufwachsen von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften geäußert. 8

So die Richterin Evelyn Haas in ihrem Minderheitenvotum, BVerfGE 105, 313 (360, 362). 9 Josef Isensee, Dem Zeitgeist gefolgt. Interview mit der Tagespost vom 27. Oktober 2009. Vgl. auch Christian Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, 1 BvR 1164/07 vom 7. 7. 2009, JZ 2010, S. 41 ff.; Arnd Uhle in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 36.3, 37; Christian Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt? Der Auftrag des Art. 6 GG und das einfache Recht, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014, S. 37 (55 f.); Manfred Spieker, Generationenblind und lebensfeindlich. Zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe, Die Neue Ordnung 64 (2010), S. 203 ff.

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Im Zentrum dieser Stellungnahmen steht meist die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführte Bamberger Studie von Marina Rupp über „Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften“10, die zu dem Ergebnis kam, Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ginge es genauso gut wie Kindern in heterosexuellen Familien. Daß diese Studie auf einer äußerst zweifelhaften methodischen Grundlage durchgeführt wurde, wird nur selten zur Sprache gebracht11. Da es in Deutschland bis dahin keine amtlichen Daten über Kinder in eingetragenen Lebenspartnerschaften gab, wurden homosexuelle Paare in einschlägigen Medien aufgefordert, sich für Interviews zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis war vorhersehbar. Am Kindeswohl gab es bei den Paaren, die sich zur Verfügung stellten, keine Zweifel. Schon gar nicht sind Kinder, die noch in diesen Haushalten leben, in der Lage, objektiv Auskunft über sich selbst zu geben. Das gibt selbst die Studie von Rupp zu. Der Großteil der Kinder sei zum Erhebungszeitraum noch zu jung gewesen, um die Bedeutung der Familienform zu erfassen12. Auf wesentlich seriöserer Grundlage beruht dagegen eine kanadische Untersuchung von Douglas W. Allen, dem amtliche Zahlen der kanadischen Statistik zur Verfügung standen und der im Hinblick auf den Schulerfolg von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften zu dem Ergebnis kam, daß solche Kinder gravierende Nachteile haben: Nur 65 % erreichen den High School-Abschluß, Mädchen aus lesbischen Haushalten sogar nur zu 35 % und aus schwulen Haushalten nur zu 15 %. Douglas Allen läßt es als Ökonom offen, was die Ursache für die deutlich größeren Probleme dieser Kinder ist. Er neige zu der Ansicht, meint er mit angelsächsischem Understatement, daß Väter und Mütter sich gegenseitig nicht voll ersetzen können. Fest stehe für ihn jedenfalls, daß die landläufige Ansicht, es gebe keine Unterschiede, nicht haltbar ist13.

III. „Serielle Monogamie“ und Kinderkrippen Ein bedeutender Schritt der Implementierung des „Gender-Mainstreaming“ war der im April 2006 von Familienministerin Ursula von der Leyen veröffentlichte 7. Familienbericht der Bundesregierung „Familie zwischen Flexibilität und Verläßlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik“. Obwohl er in der öffentlichen Debatte weithin unbeachtet geblieben ist, hat er einen nachhaltigen Einfluß auf die Familienpolitik der Bundesregierung, genauer auf ihre Krippenpoli10 Marina Rupp (Hrsg.), Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, 2009. 11 Zu den Ausnahmen gehört Klaus Ferdinand Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung? Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: Arnd Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (Fn. 9), S. 85 (96, Fn. 47). 12 Rupp (Fn. 10), S. 289. 13 Douglas W. Allen, High school graduation rates among children of same-sex households, Review of Economics of the Household 2013, S. 635 ff.

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tik, ausgeübt. Er geht wie die Gender-Theorie davon aus, daß Geschlechterrollen gesellschaftliche Konstruktionen sind. Dementsprechend gilt auch die Familie als „eine soziale Konstruktion“14. Er sieht in der Familie nicht mehr eine auf Dauer angelegte Beziehungseinheit verschiedener Geschlechter und Generationen, für die die natürliche Geschlechter- und Generationendifferenz eine wesentliche Voraussetzung ist, sondern eine Ansammlung von Individuen mit jeweils eigenen Rechten, die die Aufteilung der Arbeiten in Haushalt, Erziehung und Pflege in einem permanenten Aushandlungsprozeß regeln. Die auf einer Ehe beruhende Familie aus Vater, Mutter und Kindern, deren Pflege und Erziehung, so Art. 6 Abs. 2 GG, „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ ist, sei als „bürgerliche“ Familie ein „Anachronismus“15. In Zukunft werde, so der Familienbericht, die Mehrheit der Menschen „unabhängig davon, ob eine Heirat erfolgte oder nicht, im Laufe ihres Lebens multiple Beziehungen mit verschiedenen Lebenspartnern erfahren. Der Wechsel von einem Modell der lebenslangen Ehe zu einem Modell der ,seriellen Monogamie‘“ sei ein Faktum, das eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft repräsentiere. Hauptmotiv für das Eingehen einer Ehe sei „die Maximierung des individuellen Glücks in einer auf Dauer angelegten, qualitativ hochwertigen Beziehung“, die bei unbefriedigendem Verlauf aufgegeben werde, um „nach besseren Perspektiven zu suchen“16. Deshalb müsse Familienpolitik „lebenslaufbezogen“ sein. Kinderkrippen erhalten in einem Familienalltag, dessen Basis die „serielle Monogamie“ ist, und in einer Familienpolitik, die daran anknüpft, eine neue Bedeutung. Sie sind nicht mehr die gelegentlich notwendigen Hilfen zur Unterstützung elterlicher Erziehungsverantwortung, sondern die ruhenden Pole im Alltag einer Patchwork-Familie mit Müttern, die allein schon wegen des gendersensiblen Scheidungsrechts zur außerhäuslichen Erwerbstätigkeit gezwungen sind. Kinderkrippen sind die Knoten im Netz frühkindlicher Betreuungsorte. „Die Erschließung und Vernetzung der kindlichen Freizeit- und Bildungsorte wird zu einer neuen familialen Aufgabe“. Die „Konstrukteure“ des Familienlebens nehmen diese Aufgabe aber trotz Art. 6 Abs. 2 GG nicht mehr selbst wahr. Sie übertragen sie der Gesellschaft. Ihr komme eine „besondere Verantwortung“ für den gelebten Alltag der Familie zu17. Patchwork-Familien erziehen also nicht mehr die Kinder, sie vernetzen nur noch die verschiedenen Orte der Erziehung. Die Konsequenz dieser Perspektive war die starke und einseitige Förderung des Krippenausbaus18. 14

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familie zwischen Flexibilität und Verläßlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, 7. Familienbericht, 2006, S. 11 f. 15 Ebd., S. 69. 16 Ebd., S. 126. 17 Ebd., S. 12 f. 18 Manfred Spieker, Voraussetzungen, Ziele und Tabus der Krippenpolitik in Deutschland. Sozialethische Anmerkungen zur Rolle der Familie, in: Burkhard Kämper/Hans-Werner Thönnes (Hrsg.), Kinderbetreuung in der ersten Lebensphase zwischen Familie, Kirche und Staat. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 43, 2009, S. 69 ff.

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IV. „Sexualpädagogik der Vielfalt“ Ein weiterer Schritt in der Implementierung des „Gender-Mainstreaming“ in Deutschland sind die Pläne und Beschlüsse verschiedener Bundesländer, die Schulen auf die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ zu verpflichten. Die Strategien der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ sind das eigentliche Schlachtfeld des „Gender-Mainstreaming“. Was ist die „Sexualpädagogik der Vielfalt“? Keine neue Variante des Sexualkundeunterrichts! Auch keine neue Antidiskriminierungskampagne! Die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ bedient sich des unverfänglichen, in der Regel positive Konnotationen auslösenden Begriffs der „Vielfalt“, um den gesamten Unterricht in allen Fächern und Schulstufen dazu zu nutzen, die „Zwangsheterosexualität“ in Frage zu stellen und alle sexuellen Orientierungen und Praktiken als normal und gleichwertig zu präsentieren. „Gender-Mainstreaming“, so Uwe Sielert, der akademische Kopf der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ auf der Homepage der von ihm stark beeinflußten Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon 2001, ist für diese Pädagogik nur „ein Anfang in die richtige Richtung“, ein „Baustein im Rahmen einer breiteren sexualpädagogischen Strategie“, an deren Ende das „Diversity-Mainstreaming“ steht. „Gender-Mainstreaming“ helfe, die „kulturell vorgestanzte Dichotomie“ der Geschlechter zu überwinden. Das Diversity-Mainstreaming geht einen Schritt weiter. Es will nicht nur die Gleichberechtigung von Homo- und Heterosexualität erreichen, sondern auch „die potenzielle Vielfalt der Lebensweisen … zwischen den polaren Identitätsangeboten“, ermöglichen. Es propagiert darüber hinaus alle Formen der Familie und der Reproduktion, einschließlich künstlicher Befruchtung und Leihmutterschaft, als gleichwertig. Die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ habe, so Sielert, „Heterosexualität, Generativität und Kernfamilie zu ,entnaturalisieren‘“ und „Lust, Zärtlichkeit und Erotik als Energiequelle für Lebensmut und Wohlbefinden, auch unabhängig von Ehe und Liebe in allen Altersphasen“ zu vermitteln. Sie soll „Erlebnisräume öffnen, damit Kinder und Jugendliche gleichgeschlechtliches ebenso wie heterosexuelles Begehren ausdrücken und leben können“19. Wie Judith Butler so geht auch Uwe Sielert von einer konstruktivistischen Anthropologie aus, für die es keine menschliche Natur, sondern nur das „erzählte und konstruierte Selbst“ gibt, das „letztlich ein Fluß, ein Prozeß, ein Suchgeschehen“ ist. Das Selbst werde „durch unsere Selbstentfaltung und die Konstruktion von Sinn“ gebaut. Wer dagegen auf „kulturell festgelegte Markierungen“ wie Geschlecht, Kernfamilie und biologische Elternschaft Wert lege, wolle nur „dem aufregenden und zugleich befriedigenden Selbstentwurf“ aus dem Weg gehen20. Wer mit dieser konstruktivistischen Anthropologie konfrontiert ist, steht etwas ratlos vor der Frage, welches „Selbst“ dann ein Mensch hat, der sich noch nicht oder nicht mehr an der „Konstruk-

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Sielert (Fn. 3), S. 6 f. Ebd., S. 5.

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tion von Sinn“ beteiligen kann, wie Ungeborene, Neugeborene, demente oder bewußtlose Personen. In ihrem Standardwerk mit dem Titel „Sexualpädagogik der Vielfalt“ haben Schüler von Uwe Sielert diesen sexualpädagogischen Ansatz dann für die Anwendung in Schule und Jugendarbeit heruntergebrochen. Sie wollen Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 16 Jahren Wege in jene „Erlebnisräume“ weisen, in denen Lust, Zärtlichkeit und Erotik erfahren werden und gleichgeschlechtliches und heterosexuelles Begehren als gleichwertig gelten. Das Lernziel für 13jährige Jugendliche der 7. Klasse lautet: „Heterosexualität als Norm in Frage stellen“21. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist überzeugt, daß bereits Kindergärten und Kindertagesstätten „Sexualaufklärung flächendeckend als Bildungsaufgabe wahrnehmen müssen“. Sie bietet Materialien an, die der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ folgen. Die Kindergartenbox „Entdecken, Schauen, Fühlen“ mit den Stoffpuppen Lutz mit Penis und Hoden und Linda mit Scheide schließt an das Aufklärungsbuch „für Kinder und ihre Eltern“ von Frank Herrath und Uwe Sielert „Lisa und Jan“ an22. Ziel beider Angebote ist es, den Kindern deutlich zu machen, daß sie spielerisch sexuelle Lusterfahrungen sammeln sollen. Mehrere Bundesländer haben in den vergangenen 15 Jahren Aktionspläne verabschiedet (zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Berlin und Baden-Württemberg), in denen eine Fülle von Maßnahmen zur Förderung der „Diversity“ aufgelistet wird. Auch das von CDU und SPD regierte Sachsen-Anhalt hat 2015 einen von den Oppositionsfraktionen der Linken und von Bündnis 90/ Die Grünen beantragten Aktionsplan gegen Homophobie beschlossen. Diese Aktionspläne betreffen nicht nur die Schulen, sondern die gesamte Verwaltung einschließlich der Kommunen, die Polizei und die Justiz, Kindergärten und Hochschulen, soziale Einrichtungen, Rundfunk- und Fernsehräte und auch die Zivilgesellschaft. Sie werden begleitet von der Errichtung neuer Abteilungen und Referate in Ministerien, neuen Haushaltstiteln und breiten Fördermaßnahmen für schwule und lesbische Interessengruppen, Aufklärungsinitiativen und Beratungseinrichtungen. Nach den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Mai 2022 schloß die CDU Koalitionsverträge mit den Grünen, in denen sie das Programm der „Queerpolitik“ der Grünen weitgehend akzeptierte23. Fast 200 Einrichtungen für Gender-Studies gibt es an deutschen Hochschulen. Sie wollen nicht nur Diskriminierungen abbauen und Toleranz fördern, sondern eine „sichtbare Wertschätzung von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen und geschlechtlichen 21 Elisabeth Tuider/Mario Müller/Stefan Timmermanns/Petra Bruns-Bachmann/Carola Koppermann, Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit, 2. Aufl. 2012, S. 99. 22 Frank Herrath/Uwe Sielert, Lisa und Jan. Ein Aufklärungsbuch für Kinder und ihre Eltern, 3. Aufl. 1996. 23 „Ideen verbinden-Chancen nutzen. Schleswig-Holstein gestalten. Koalitionsvertrag 2022 – 2027 zwischen CDU und Bündnis 90/Die Grünen“, S. 70 ff.; „Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen. Koalitionsvereinbarung von CDU und Grünen 2022 – 2027“, S.122 f.

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Identitäten in der Gesellschaft fördern“24. Gruppen, die kein Interesse an der sexuellen Vielfalt haben oder sie ablehnen, wird dagegen mit Umerziehungs- und Sanktionsmaßnahmen gedroht. So verpflichtete das Land Berlin schon 2009 alle Empfänger öffentlicher Leistungen und Fördermittel „in besonderer Weise …, sich mit der kulturellen Vielfalt und der Unterschiedlichkeit sexueller Orientierung, Identitäten und individuellen Lebensentwürfen auseinander zu setzen.“ Der Senat wurde aufgefordert, einen Dialog mit den Religionsgemeinschaften zu führen, „um Akzeptanz sexueller Vielfalt zu erreichen“25. Das „Gender-Mainstreaming“ hat sich in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland weitgehend durchgesetzt. Seine Implementierung hat Kultur, Sprache und Gewohnheiten verändert. Die zunächst nur schleichende Kulturrevolution ist längst eine galoppierende geworden. Homosexualität gilt in Deutschland wie in den meisten Staaten des Westens inzwischen als „normal“. Nur eine Minderheit sieht dies anders und eine noch kleinere Minderheit wagt dies auch auszusprechen und praktizierte Homosexualität als unsittlich zu bezeichnen. Viele Maßnahmen in den Aktionsplänen der Bundesländer zwingen zu dem Schluß, daß Kritiker der Homosexualität, der Diversity-Politik und der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ als „homophob“, also als krank und behandlungsbedürftig gelten. Den Unterschied zwischen der Bewertung der Homosexualität und der Diskriminierung von Menschen mit homosexueller Orientierung zu verwischen, verstößt jedoch gegen die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Rücksichtnahme auf unterschiedliche Werthaltungen in Fragen der Sexualität und gegen einen vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen von 2007, daß nämlich zwischen der Bewertung der Homosexualität und der Achtung des gleichen Eigenwerts eines jeden Menschen ungeachtet seiner sexuellen Orientierung ein Unterschied zu machen sei26. Die Bewertung praktizierter Homosexualität als unnatürlich oder unsittlich ist also nicht mit einer Diskriminierung von Menschen mit homosexueller Orientierung gleichzusetzen. Die Antidiskriminierungskampagne der Homo-Lobby nimmt inzwischen selbst diskriminierende Formen an. Es genügt ihr nicht, „daß sie die Entfaltungsfreiheit für ihre Klientel und die Meinungsführerschaft erstritten hat, sie will jetzt der Minderheit, die noch immer eine abweichende Meinung vertritt, die Freiheit nehmen, Homosexualität weiterhin negativ zu bewerten und ihr Verhalten gegenüber Dritten an dieser Bewertung zu orientieren“27. Sie will Menschen mit homosexueller Orientierung, die ihre Orientierung verändern wollen, durch gesetzliche Therapieverbote die Freiheit nehmen, Psychotherapeuten zwecks Überwindung ihrer Homose24 NRW-Aktionsplan der Landesregierung für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt – gegen Homo- und Transphobie, 2012, S. 9. 25 Berlin, Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Homophobie/Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“, 2009, S. 19 f. 26 OVG NRW, Urt. v. 5. September 2007 – 19 A 2705/06 –, juris, Rn. 66. 27 Christian Hillgruber, Wo bleibt die Freiheit der anderen? Ein Plädoyer für den Schutz einer neuen Minderheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 44 v. 21. Februar 2014, S. 7.

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xualität aufzusuchen. Die Ampelkoalition will gemäß ihrem Koalitionsvertrag 2021 ein vollständiges Verbot von Konversionsbehandlungen auch an Erwachsenen prüfen28. Sie will damit einen der zentralen Widersprüche der Gender-Perspektive festschreiben: Alle sexuellen Orientierungen gelten als veränderbar, nur Homosexualität nicht. Die Gender-Lobby will nicht nur Toleranz, sie besteht auf Akzeptanz. Sie verlangt, ihre Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität gutzuheißen. Akzeptanz zu verweigern, heißt für sie diskriminieren. Wer die Forderung einer „Ehe für alle“ ablehnt, sieht sich plötzlich als Zielscheibe des allenthalben von Regierungen, Medien und auch Kirchen ausgerufenen „Kampfes gegen rechts“ bzw. des Kampfes gegen Homophobie. Es wird der katholischen Kirche nicht erspart bleiben, selbst ins Visier des „Kampfes gegen rechts“ zu geraten29. Die Gender-Lobby benimmt sich wie Englands König Heinrich VIII., dem es im 16. Jahrhundert nicht genügte, daß sein Kanzler Thomas Morus zu seiner Scheidung und Wiederverheiratung schwieg. Er bestand darauf, daß Thomas Morus seine neue Ehe gutzuheißen habe. Weil Thomas Morus, wie auch der Bischof von Rochester John Fisher als einziger der englischen Bischöfe, dies in Treue zur katholischen Lehre ablehnte, wurden beide hingerichtet.

V. Gender-Mainstreaming und die Christen Es fehlt nicht an kritischen Stimmen von Christen gegenüber dem „Gender-Mainstreaming“. Aber es fehlt auch nicht an Stimmen und Beschlüssen, die das „GenderMainstreaming“ in die Kirchen implementieren wollen. Unter letzteren ragt die Familien-Denkschrift der EKD von 2013 hervor, die „Familie neu denken“ und die Vielfalt von privaten Lebensformen unterstützen will30. In der katholischen Kirche reichen die positiven Stimmen zum Gender-Mainstreaming von naiver Rezeption der Gender-Perspektive wie in einem Beschluß des BDKJ von 200231 und – bei wohlwollender Lesart – im Gender-Flyer der Deutschen Bischofskonferenz „Gender – katholisch gelesen“ von 201532 über problematische Anpassungen wie in den familienpolitischen Beschlüssen des ZdK von 2008 und 2015 oder in Revisionen des kirchlichen Arbeitsrechts durch die Deutsche Bischofskonferenz von 2015 und 2022 bis zu Positionen von Theologinnen, die mit missionarischem Eifer das „befreiende Po-

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„Mehr Fortschritt wagen“ (Fn. 7), S. 120. Wolfgang Ockenfels, Am rechten Rand, Die Neue Ordnung 69 (2015), S. 243 f. 30 Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verläßliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2013, Rn. 51. 31 Gender-Mainstreaming – ein neuer Impuls für den BDKJ. Beschluß des BDKJ-Hauptausschusses vom 18./19. September 2002. 32 Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz/Kirchliche Arbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in den deutschen Diözesen (Hrsg.), Geschlechtersensibel – Gender katholisch gelesen, Oktober 2015. 29

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tential“ der Gender-Perspektive für die Kirche fruchtbar machen wollen33. Diese Stimmen offenbaren in der Regel ein amputiertes Verständnis menschlicher Geschlechtlichkeit, in dem der Zusammenhang von Sexualität und Fruchtbarkeit ausgeblendet wird. Deshalb fordern sie von der Kirche nicht nur mehr Geschlechtersensibilität, sondern eine neue Sexualethik jenseits von Humanae vitae. Diese Perspektive hat inzwischen Eingang in das offizielle Reformunternehmen der katholischen Kirche in Deutschland, das sich „Synodaler Weg“ nennt, gefunden. Kritische Stellungnahmen zum „Gender-Mainstreaming“ finden sich in Veröffentlichungen der Glaubenskongregation, der Bildungskongregation, im Kompendium der Soziallehre der Kirche des Päpstlichen Rates Justitia et Pax, in Reden von Papst Benedikt XVI., in Äußerungen von Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si‘ (Rn. 155) und im Apostolischen Schreiben Amoris laetitia (Rn. 56), in zahlreichen Erklärungen nationaler und regionaler Bischofskonferenzen sowie einzelner Bischöfe34. Auch an kritischen wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen aus christlicher Perspektive fehlt es nicht35. Stellungnahmen der Deutschen, der Schweizer oder der Österreichischen Bischofskonferenz sind bisher allerdings nicht zu finden, und solche einzelner deutschsprachiger Bischöfe sind rar. Zu den wenigen Ausnahmen unter den Bischöfen gehören Voderholzer (Regensburg), Oster (Passau), Hanke (Eichstätt), Algermissen (Emeritus von Fulda), Huonder (Emeritus von Chur) und die Weihbischöfe Renz (Rottenburg) und Laun (Emeritus in Salzburg). Eine ausführliche Kritik aus schöpfungstheologischer Perspektive ist die Salzburger Erklärung der Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften36 sowie das Dokument der Bildungskongregation37.

33 Zu den Positionen von Regina Ammicht Quinn, Marianne Heimbach-Steins, Saskia Wendel, Regina Heyder und Rebeka Jadranka Anic vgl. Manfred Spieker, Gender-Mainstreaming in Deutschland. Konsequenzen für Staat, Gesellschaft und Kirchen, 2. Aufl. 2016, S. 48 ff. – Margit Eckholt vereint in ihrem Sammelband „Gender studieren. Lernprozeß für Theologie und Kirche“ (2017) rund 20 Theologinnen, die sich für die Rezeption der GenderPerspektive in Kirche und Theologie einsetzen. Kritische Stimmen gelten als „Rechtspopulismus“ (so S. 120). 34 Spieker, Gender-Mainstreaming in Deutschland (Fn. 33), S. 55 ff. 35 Gabriele Kuby, Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, 2012; Mathias von Gersdorff, Gender. Was steckt dahinter? 2015; Birgit Kelle, GenderGaga, 2015; Dominik Klenk (Hrsg.), Gender Mainstreaming. Das Ende von Mann und Frau, 2009; Daniel Ange, Éblouissante Sexualité, pourquoi te dynamiter?, 2014; Christoph Raedel, Gender. Von Gender-Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt, 2017; Antonio Malo, Mann und Frau. Eine anthropologische Betrachtung zur Differenz der Geschlechter, 2018. 36 Salzburger Erklärung: Die heutige Bedrohung der menschlichen Geschöpflichkeit und ihre Überwindung. Leben nach dem Schöpferwillen Gottes, Diakrisis 2015, S. 161 ff. 37 Kongregation für das Katholische Bildungswesen, „Als Mann und Frau schuf er sie“. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen, 2019; deutschsprachiger Abdruck: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Nr. 230, 2019.

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Die theologische Kritik der Gender-Perspektive geht von der biblischen Anthropologie aus, die im Buch Genesis und im Neuen Testament grundgelegt ist: Gott hat den Menschen als Mann und als Frau erschaffen und füreinander bestimmt zur gegenseitigen Hingabe und Mitwirkung an seiner Schöpfung. Der Leib und die Generativität, die blinden Flecken der Gender-Perspektive, sind die ontologischen Voraussetzungen von Ehe und Familie. Wenn die theologische Kritik am Gender-Mainstreaming die Dualität und die Generativität der Geschlechter verteidigt, dann ist das nicht Biologismus oder essentialistische Geschlechteranthropologie38, sondern ein Faktum menschlicher Existenz zu allen Zeiten, in allen Kulturen und Religionen. Dieses Faktum anzuerkennen, ist die conditio sine qua non für die Kultivierung der Sexualität und die Humanisierung menschlicher Beziehungen. Nicht die Rivalität, sondern die Komplementarität von Mann und Frau steht im Zentrum dieser Verteidigung – eine Komplementarität, die gelingen, aber auch mißlingen kann. Sie zum Gelingen zu bringen, ist die lebenslange Aufgabe von Mann und Frau, die dazu bestimmt sind, füreinander da zu sein. Die tiefe Unwahrheit der Gender-Perspektive, so Benedikt XVI. am 21. Dezember 2012, liege darin, daß sie leugnet, daß der Mensch „eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat“. Die im Umgang mit der Umwelt so oft beklagte „Manipulation der Natur … wird hier zum Grundentscheid des Menschen im Umgang mit sich selber … Wenn es aber die von der Schöpfung kommende Dualität von Mann und Frau nicht gibt, dann gibt es auch die Familie als von der Schöpfung vorgegebene Wirklichkeit nicht mehr“. Das Kind wird dann aus einem eigenen Rechtssubjekt zu einem Objekt, das man sich beschaffen kann. Wo aber „die Freiheit des Machens zur Freiheit des Sich-selbst-Machens wird, wird notwendigerweise der Schöpfer selbst geleugnet und damit am Ende auch der Mensch als göttliche Schöpfung, als Ebenbild Gottes im Eigentlichen seines Seins entwürdigt“39. Bereits in seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011 wies Benedikt XVI. die Gender-Perspektive zurück, ohne sie beim Namen zu nennen: Der Mensch habe „eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört und sie annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat“40.

38 So aber der Vorwurf von Margit Eckholt, Die Freiheit der „imago Dei“. Anmerkungen zur Gender-Diskussion in theologisch-anthropologischer Perspektive, in: dies. (Hrsg.), Gender-Studieren (Fn. 33), S. 189 ff, gegenüber der theologischen Gender-Kritik. 39 Benedikt XVI., Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie am 21. Dezember 2012, in: L’Ossservatore Romano (deutsch) v. 4. Januar 2013, S. 7. 40 Benedikt XVI., Ansprache im Deutschen Bundestag am 22. September 2011, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, Reihe „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“, Nr. 189, 2011, S. 30 (37). – Papst Franziskus zitiert diese Passage mehrfach in seiner Enzyklika Laudato Si‘ (Rn. 6 und 155).

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Die Gender-Perspektive geht demgegenüber davon aus, daß die Kategorien Frau und Mann nichts Vorgegebenes, sondern „prozessuale“ Begriffe sind, Konstruktionen, bei denen es keinen Anfang und kein Ende gebe. Geschlechtliche Identität ist für sie nicht eindeutig, nicht klar und selbstverständlich, sondern kontingent, fluid, mithin nur zeitweise fixiert. Sie ist „performativ“, ein jederzeit veränderbares Produkt des menschlichen Willens. Sie wird von der Weitergabe des Lebens getrennt. Der handhabbare, tätowierbare, in Prostitution oder Leihmutterschaft verkaufbare Körper tritt an die Stelle des vorgegebenen Leibes. Die Person ist nicht mehr die Einheit von Leib, Geist und Verstand, sondern nur noch ein bewußtes und begehrendes Selbst, das im Körper ein Instrument des individuellen Begehrens sieht41. Damit steht die Gender-Perspektive in einer langen Tradition der Leibfeindlichkeit, die bis in die Gnosis der frühen Christenheit zurückreicht, die im Leib wie in der Materie schlechthin ein Gefängnis des Willens sah und die davon ausging, daß der Mensch ein göttergleiches Wesen sei, eingesperrt in die dumpfe Trägheit des Fleisches. In der Perspektive der neuen Gnosis sind wir nicht der, der zu sein wir meinen, sondern Götter, die noch in der Körperlichkeit gefangen sind. Die Erkenntnis, daß wir göttergleiche Alleskönner sind – auch im Hinblick auf die Sexualität und die Generativität – gilt als Bedingung der Befreiung. Sie soll allein von unserer Erkenntnis und von unserem Willen abhängen. Wir bestimmen dann, was Liebe ist. Wir bestimmen, was Leben ist. Wir bestimmen, ob ein Embryo schon und ein pflegebedürftiger oder dementer Patient noch ein Mensch ist. Der Wille maßt sich an, einem Menschen sein Menschsein zu- oder abzusprechen. „Pro Choice“ heißt die Bewegung, die beansprucht, dem menschlichen Willen diese Souveränität zuzusprechen und der Gegenseite, der Bewegung „Pro Life“, die Legitimität abzusprechen. Diesen Kern der Gender-Perspektive kritisiert auch Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia: „Die menschliche Identität wird einer individualistischen Wahlfreiheit ausgeliefert, die sich im Laufe der Zeit auch ändern kann“42. Eine Lehre, die davon ausgeht, daß die Geschlechterdualität anzunehmen ist, daß eine Ehe ein lebenslanges Bündnis eines Mannes und einer Frau und die Bedingung der Generationenfolge ist, die überzeugt ist, daß das Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod zu schützen ist, die sich deshalb „Pro Life“ engagiert, gilt in dieser Perspektive als eine Fessel, die unsere Freiheit bedroht. Die Gender-Perspektive, das Geheimwissen einer Elite von gendersensiblen Autoren, soll die Befreiung aus dem Gefängnis der vorgegebenen Leiblichkeit ermöglichen. Dieser neuen Gnosis ist entgegenzuhalten: Wer die Differenzen zwischen Mann und Frau als Biologismus kritisiert, die Geschlechterdualität und -komplementarität in ein „Kontinuum“ auflöst, die Empfängnis als Fortpflanzungszentriertheit denunziert und die sexuelle 41

Robert P. George, Was die Ehe ist und was sie nicht ist, in: Lothar Häberle/Johannes Hattler (Hrsg.), Ehe und Familie – Säulen des Gemeinwohls, 2014, S. 96 ff; Kongregation für das Katholische Bildungswesen, „Als Mann und Frau schuf er sie“ (Fn. 37), Rn. 20. 42 Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia über die Liebe in der Familie vom 19. März 2016, Rn. 56; Kongregation für das Katholische Bildungswesen, „Als Mann und Frau schuf er sie“ (Fn. 37), Rn. 5 f.

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Identität als eine Frage des subjektiven Willens behandelt, gefährdet das Glück zwischenmenschlicher Beziehungen, das Glück der Familien und damit auch das Gemeinwohl. Ehe und Familie gegen diese Demontage zu schützen und damit das Gemeinwohl zu sichern, ist ein zentrales Anliegen der katholischen Soziallehre. Summary The UN World Conference on Women in Beijing in 1995 propagated gender mainstreaming. Germany, under Chancellor Gerhard Schröder, adopted it in a new set of rules of procedure of the Federal Government on 26 July 2000. Gender mainstreaming was also promoted under Chancellor Angela Merkel, from the 7th Family Report of the Federal Government in 2007 to the introduction of “marriage for all” in 2017. Gender mainstreaming is based on the conviction that gender is not something given by nature, but is determined by society, culture and language. In a first step, gender mainstreaming was concerned with the equality of homosexuality with heterosexuality, and in a second step, with the recognition of the LGBTIQ agenda. Judith Butler’s book “Gender Trouble” is the flagship of gender mainstreaming, the “sex education of diversity” coined by Uwe Sielert and his students is the pedagogical implementation. Christian positions on gender mainstreaming are divided. An unconditional adoption of the gender perspective, as in the resolutions of the so-called “Synodal Path” in Germany, is countered by well-founded distancing of the popes, various bishops’ conferences and individuals.

Personenverzeichnis Abell, Aaron 86 Acemoglu, Daron 79 Agamben, Giorgio 77 f. Alba, Richard D. 21 Alexander, Michelle 82 Algermissen, Heinz-Josef 205 Allen, Douglas W. 199 Althammer, Jörg 79 Aly, Götz 46 f., 50 f., 53, 56, 59 Amadori, Saverio 74 Ammicht Quinn, Regina 205 Ange, Daniel 205 Anic, Rebeka Jadranka 205 Antiochos IV. Epiphanes 121 Arendt, Hannah 46 Aristoteles 27, 29, 31 ff., 38, 64, 140, 150 f. Aßländer, Michael 63 Augsberg, Steffen 157 f., 161 f., 165 Augustinus 122, 141, 149 f. Baader, Andreas 48 Baer, Susanne 160 Balthasar, Hans Urs von 134 Barret, Richard J. 131 Bartlett, Robert 140 Bazzichi, Oreste 72 Beard, Mary 175 Beaucamp, Tom L. 76 Beauvoir, Simone de 197 Bender, Philipp 102 Benedikt XVI. (siehe auch Ratzinger, Joseph) 81, 91 f., 95 f., 125, 205 f. Bernanos, Georges 122 Bernhardin von Feltre 73 f. Bernhardin von Siena 66 f. Bernhardt, Johannes Christian 121 Bernini, Gian Lorenzo 12 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 120, 122 Boesche, Roger 23 Boethius 119 Bok, Derek 82

Bonaventura 65 Borutta, Manuel 127 Bothien, Horst-Pierre 49, 54 Bowen, William G. 82 Boyle, Gregory 82 Brandt, Willy 60, 159 Brenkert, Georg G. 76 Britz, Gabriele 163 f. Brugger, Winfried 128 Brungs, Alexander 64 Bruni, Luigino 64 Bruns-Bachmann, Petra 202 Burbank, Jane 189 Burke, Edmund 83 Burr, David 69 Buschmann, Marco 197 Butler, Judith 25 f., 38 f., 166, 197, 201 Capitani, Ovidio 72 Carbajo Núñez, Martín 75, 77 Cardozo, Benjamin N. 102 Carlen, Claudia 19 Cessario, Romanus 143 Chevènement, Jean-Pierre 121 Chinni, Dante 191 Coleman, John A. 93 f. Collins, Susan 140 Cooke, Jacob E. 14 Cooper, Frederick 189 Craycraft, Kenneth 23 Crenshaw, Kimberlé 166 Curran, Charles E. 84 f., 90 Dadosky, John D. 90 Dahrendorf, Rolf 59 Dante 38 De Roover, Raymond 65 Delgado, Mariano 90 Deneen, Patrick J. 95 Di Fabio, Udo 114 Dienberg, Thomas 79

210

Personenverzeichnis

Dietl, Ludwig 127 Domingo, Rafael 95 Donavon, Ainen 76 Doran, Robert M. 90 Dorn, James 79 Dougherty, Richard J. 11 ff. Douglass, Frederick 11 Dreier, Horst 127 Duns Scotus, Johannes 65, 67 f. Dürig, Günter 114, 161, 168 Dutschke, Rudi 48 Duve, Thomas 163 Eckholt, Margit 205 f. Ederer, Rupert J. 87 Edison, Thomas 180 Eisenstadt, Shmuel N. 188 Eitel, Adam 146 f. Eiximenis, Francesc 66 f., 74, 76 Elble, Otto 127 Elliot, Jonathan 15 Elton, Charles 158 Engelen, William 84 Ensslin, Gudrun 48 Epping, Volker 169, 172 f., 198 Evangelisti, Paolo 74 Fast, Francis 25 ff. Fayard, Jean-Franc¸ ois 122 Fénelon, Franc¸ ois 120 Fierro, Alfred 122 Fischer, Joseph 175 Fisher, John 204 Fitzpatrick, Antonia 27 Ford, Bill 179 Ford, Henry 178 f. Fraenkel, Ernst 56 Franco, Francisco 49 Franco, Giuseppe 63 ff., 65, 76 Franz von Assisi 69, 77 Franziskus (Papst) 77, 90, 96, 205 ff. Friedmann, Milton 76, 91 Füssel, Marian 73 Gandhi, Mahatma 189 Gärditz, Klaus Ferdinand 199 Geffroy, Christophe 149 George, Robert P. 207

Geppert, Dominik 53 Gergiev, Valery 173 Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara Germann, Michael 126 Gersdorff, Mathias von 205 Gleason, Philip 84 Grass, Günter 45 Green, Peter 121 Green, Ronald M. 76 Gregor IX. 64 Gregor XVI. 120 Gritschneder, Otto 128 Gruen, Eric S. 121 Grünberger, Michael 168 ff. Gucciardo, Ettore 72

196

Haas, Evelyn 198 Habisch, André 78 Häberle, Lothar 155 ff., 172, 207 Haering, Stephan 126 Halka-Ledóchowski, Mieczsylaw 127 Hanke, Gregor Maria 205 Harris, W. C. 121 Hattler, Johannes 163, 207 Heerten, Lasse 45 Heimbach-Steins, Marianne 205 Heinrich VIII. 204 Heinrich von Susa (Hostiensis) 65 Hengel, Martin 121 Hense, Ansgar 126 Herrath, Frank 202 Herzog, Roman 114 Heyder, Regina 205 Hillgruber, Christian 53, 56, 101 ff., 198, 203 Himes, Kenneth R. 93 Ho-Chi-Minh 52 Höcke, Björn 111 Höffner, Joseph 65, 76 Hollenbach, David 91 Hollerbach, Alexander 126 Hübner, Wolfgang 122 Humbold, Wilhelm von 57 Hunold, Gerfried W. 129 Huonder, Vitus 205 Iredell, James 15 Ireland, John 20 ff., 86

Personenverzeichnis Isensee, Josef 198

59, 120, 126, 129, 156,

Jablonowski, Horst 56 Jestaedt, Matthias 163 f. Johannes Paul II. 27, 91, 130 f., 139, 147 ff. Jones, Reginald 180 Joy, John 27 Kämper, Burkhard 200 Kant, Immanuel 119 Kelle, Birgit 205 Kenkel, Frederick P. 84 f. Kennedy, Anthony 25 Kennedy, Robert 43, 61 Kent, Bonnie 139 Kergorlay, Louis de 17, 23 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 85 Kielmansegg, Peter Graf 43, 46, 48 Kingreen, Thorsten 161, 168 Kirchhof, Paul 122, 125 f., 156, 161 Kissinger, Henry 44 Klenk, Dominik 205 Kluth, Winfried 163 f. Koch, Hans-Albrecht 59 Koenig, Emery 81 Kohl, Helmut 61 Konstantin (Kaiser) 12 f. Koppermann, Carola 202 Korff, Wilhelm 129 Koslowski, Peter 88 Kraushaar, Wolfgang 43, 48 Kriele, Martin 114 Kuby, Gabriele 205 Kuhn, Helmut 50 Kurras, Karl-Heinz 47 Labourdette, M.-Michel 143 Lafontaine, Oskar 61 Lambertini, Roberto 64, 70 f. Langenfeld, Christine 168, 172 Langguth, Gerd 46, 54 Langholm, Odd 65 Laun, Andreas 205 Le Fort, Gertrud von 122 Leggewie, Claus 127

Leisner-Egensperger, Anna 157 Lembke, Ulrike 155 f., 161 f., 164 ff. Lenoble, Clément 76 Leo XIII. 19, 139 Lepold, Kristina 166 Leyen, Ursula von der 199 Lichtenberg, Bernhard 128 Liebscher, Doris 167 Lincoln, Abraham 11, 16 Lonergan, Bernard 90 Löwenthal, Richard 56 Luft, Stefan 172 Lütge, Christoph 63, 65 Luther King, Martin 43, 61 Lützeler, Heinrich 51 l Mack, Elke 79 Majer, Christian F. 169 Malo, Antonio 205 Mangold, Anna Katharina 162, 169 f. Mann, Thomas 52 Manselli, Raoul 65 Mao-Tse-tung 60 Marcuse, Herbert 26, 38, 172 Markard, Nora 169 f. Martínez Matteo, Marina 166 Maunz, Theodor 161, 168 Maxentius 12 Mayer, Rupert 128 McNamara, Robert 178 McWorter, John 83 Melé, Domènec 63 Mensching, Christian 128 Mering, Noelle 83 Merkel, Angela 208 Merten, Detlef 125 Michaels, Jack 183 Miethke, Jürgen 69 Milbank, John 95 Mill, John Stuart 102 f., 117 Mittag, Peter Franz 121 Möhler, Johann Adam 121 Moore, Barrington 26, 172 Morgan, JP 180 Morus, Thomas 204 Muckel, Stefan 126 Mückl, Stefan 119 ff.

211

212 Mulally, Alan 179 Müller, Mario 202 Murphy, Bill 81 Murray, John Courtney 23 Muzzarelli, Maria Giuseppina

Personenverzeichnis Putin, Wladimir 44 Putnam, Robert D. 88 f. 72, 74

Naguib, Tarek 167 Naughton, Michael 81 Nehru, Jawaharlal 189 Niemöller, Martin 128 Noonan, John T. 66 North, Douglas C. 79 Obama, Barack 88 Ockenfels, Wolfgang 204 O’Connell, Marvin 21 Odonis, Geraldus 65, 67 Ohnesorg, Benno 47 f. Olivi, Petrus Iohannis 65 ff., 69, 76 Oster, Stefan 205 Pabst, Adrian 95 Palazzo, Bettina 63 Palazzo, Guido 79 Palomero, Josep 74 Papier, Hans-Jürgen 125 Paus, Elisabeth 197 Pautsch, Arne 169 Payandeh, Mehrdad 169 f. Peñafort, Raimund von 65 Pera, Marcello 26 Pesch, Heinrich 84, 87 Petersen, Thomas 47 Petri, Thomas 27 Pfister, René 155 Pinchuk, Nicholas T. 175 ff. Piron, Sylvain 76 Pirson, Dietrich 126 Pius VI. 120 Pius IX. 120, 127 Pius XI. 85 Platon 27, 145, 147, 150 f. Plümecke, Tino 167 Pope, Stephen 140 Porter, Jean 93 f. Publius 14 f. Pulenc, Francis 122

Raedel, Christoph 205 Rahner, Karl 121 Rath, Christian 106 Ratzinger, Joseph (siehe auch Benedikt XVI.) 26, 37, 91, 122, 125 Rauscher, Anton 122 Reckwitz, Andreas 165 Rees, Wilhelm 126 Reichardt, Rolf 122 Reilly, Robert R. 94 Remus, Juana 167 Renz, Thomas Maria 205 Rhonheimer, Martin 93, 120 Robinson, James 79 Romney Garrett, Shaylyn 88 f. Roncella, Andrea 65 Roosevelt, Franklin D. 87 Röpke, Wilhelm 76 Rüfner, Wolfgang 126 Rupp, Martina 199 Rupp-von Brünneck, Wiltraut 105 Ruppert, Stefan 163 Ryan, John A. 83 f., 86 f. Rybakina, Elena 173 Sandel, Michael J. 159, 167 Sarah, Robert 149 Schallenberg, Peter 75, 134 Scherer, Andreas G. 79 Schildt, Axel 54, 59, 61 Schindler, David 23 Schlag, Martin 65, 81 ff. Schmidpeter, René 78 Schmidt, Helmut 61 Schmitt, Hatto H. 58 Schmitz, Heribert 126 Schneider, Hans E. (alias Schwerte, Hans) 51 Scholtysek, Joachim 52 Scholz, Rupert 114 Schorkopf, Frank 155 f., 159 ff., 168 Schröder, Gerhard 195, 208 Sécher, Reynald 122 Seiler, Christian 198 Sheridan, J. J. 12

Personenverzeichnis Sielert, Uwe 196, 201 f., 208 Sievernich, Michael 90 Sinibaldo de Fieschi (Innozenz IV.) 64 f. Skambraks, Tanja 73 Sofsky, Wolfgang 172 Sokrates 32, 145, 147, 150 Spaemann, Robert 121 Speed, Joshua F. 16 Spicciani, Amleto 72 Spieker, Manfred 127, 195 ff., 198, 200, 205 Stevenson, Bryan 82 Stump, Eleanor 147 Stüwe, Klaus 17 Taylor, Charles 160 Tharoor, Shasi 189 Theron, Stephen 145 Thomas, Hans 163 Thomas von Aquin 25 ff., 39, 138 ff., 152 Thönnes, Hans-Werner 200 Thüry, Günther E. 121 Timmermanns, Stefan 202 Tocqueville, Alexis de 16 ff., 23, 38

213

Todeschini, Giacomo 64, 70, 72 Todisco, Orlando 78 Toepfer, Georg 157 ff. Towfigh, Emanuel V. 169 f. Toynbee, Arnold J. 125 Tuider, Elisabeth 197, 202 Tulard, Jean 122 Uhle, Arnd

198

Vergil 38 Voderholzer, Rudolf 205 Vogt, Markus 75 Volkmann, Uwe 171 Voßkuhle, Andreas 158 Walz, Matthew 137 ff. Wapler, Friederike 156, 162 Welch, Jack 180 Wendel, Saskia 205 Wiese, Benno von 50 f. Wolff, Robert Paul 26, 172 Zamagni, Stefano

75

Stichwortverzeichnis Absolutismus 119 Abtreibung 25, 134 „Amerikanismus“ 21, 86 Anthropologie 82, 95 f., 201, 206 Antiamerikanismus 52, 61 Antirassismus 148, 172 Antisemitismus 50, 111 f. Armut 69 f., 74, 78 ff. Ärzte ohne Grenzen 45 Aufklärung 95, 119 Biafra-Krieg 45 Bischofskonferenz – Deutsche 130, 132, 134, 204 ff. – Österreichische 205 – Schweizerische 205 Breschnjew-Doktrin 44 Buddhismus 190 Bundesverfassungsgericht 46, 58, 102 ff., 105 ff., 109 ff., 114, 126 f., 198, 158, 198, 203 Bundesverwaltungsgericht 129, 203 Bürgerrechtsbewegung 43, 61 Cancel Culture 55 f., 101 ff. Codex Iuris Canonici (siehe auch Kirchenrecht) 123, 130 f., 133 Corpus Iuris Civilis 65 Demokratie 16 ff., 38, 43 f., 53, 86, 92, 101, 113 f., 118, 161, 187 Diskriminierung 101, 109, 116, 133, 161 f., 166 f., 169 f., 198 – Anti-Diskriminierung 127, 155 ff., 201, 203 – „positive Diskriminierung“ 159, 169 Diversifizierung 176, 180, 184 ff., 188, 192 f. Ehe und Familie 128, 134, 198, 206 ff. Eigentum 69 ff., 77, 86

Einheit in Vielfalt 121, 190 f., 193 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 204 Federalist Papers 14 Feudalismus 82 Frankfurter Schule 81 Französische Revolution 16, 18, 83, 95, 119 f., 122 f. Freiheit 11, 15 ff., 23, 70, 77, 79 f., 83, 91 f., 94 f., 97, 102 f., 106, 110, 115, 117 ff., 124 ff., 129, 142, 164, 174, 203, 206 f. Gemeinwohl 32, 34, 69 ff., 77 ff., 81, 97, 106, 137 ff., 146, 150 ff., 157, 170, 208 Gender (Theorie, „Mainstreaming“) 25, 92, 127 f., 149, 195 ff. Gerechtigkeit 66 – gerechter Preis 64, 65 ff. – soziale Gerechtigkeit 76, 83 f., 90, 137 ff., 152 – Tauschgerechtigkeit 66 f. Gleichberechtigung 120, 127, 164, 201 Gleichheit 14 ff., 18, 20, 88, 92, 94 f., 97, 119 f., 122 f., 125, 134, 140, 156, 161, 167, 191, 194, 208 Globalisierung 63, 75, 79 f. Haßrede 115 f., 128 Hellenismus 122 Hinduismus 189 f. Humanismus 82, 95 Humanökologie 92 Identität 11 ff., 13, 20, 22 ff., 25 ff., 38 f., 86, 125, 132 f., 137 ff., 155, 157, 166, 185, 190, 196 f., 207 f. Integration 71, 74, 120, 158, 161, 196 Islam 94, 127, 172, 189 Israel 48 f., 134

216 Judentum

Stichwortverzeichnis 94, 121

„Kanzelparagraph“ 127 Kapital 65 ff., 74, 76, 78 f., 179 Kapitalismus 72, 77, 84, 87, 91 Katechese 130 f. Kirchenrecht (siehe auch Codex Iuris Canonici) 64 f., 131 f. Kirchliches Arbeitsrecht 132, 204 Kommunismus 44 ff., 48 f., 52 Korruption 79 Kulturkampf 127 Kulturrevolution 184, 203 Lebensschutz 128, 207 Liberalismus 23, 25 f., 39, 84, 86 f., 95 Markt 64, 78 f. Marktparadigma 78, 158 Marktpreis 66 Marktwirtschaft 76, 87 f. Meinungsfreiheit 101 ff., 155, 171, 172 f., 174 Menschenrechte 52, 91, 94, 120, 127 Menschenwürde siehe Würde der Person Migration 157, 161, 169, 175 Missio canonica 131 f. Mittelalter 63 ff., 69, 72, 75, 84, 87, 93 f., 157 Monti di Pietà 72 ff., 78 Moral 31, 71, 139, 142, 145, 150, 163, 187 Multikulturalismus 37, 160 Multinationale Unternehmen 176, 180, 183 f., 187 Nationalismus 32, 112 Nationalsozialismus 50, 56, 112, 160 Naturrecht 29, 31 ff., 35 ff., 89 f., 93 f., 97, 183 „Neue Linke“ 45 ff. New Deal 87 f. Nihil obstat 131 Non-Profit-Organisationen 119 Notstandsverfassung 48 f., 53, 62 Personalität 121 Persönlichkeitsrecht 107, 109 ff. Postmoderne 119, 121, 163

Prager Frühling 44 f. Predigt 17, 64, 73, 128, 130 f. Protektionismus 79 Quotenregelungen

81, 159, 168

Rassismus 81 f., 92, 102, 112, 170 Rechtsstaat(lichkeit) 49, 57 f., 61, 79, 92, 161 Religionsfreiheit 15, 17, 19 f., 23, 85, 124, 126, 135 Römisches Recht 93 f. Römisches Reich 12 „Rote Armee Fraktion“ (RAF) 60 Säkularismus 95 Säkularisierung der Kirche 129 Säkularität des Staates 19, 95, 129 Scholastik 64, 72, 75, 77, 93 Schule 131, 158, 169, 196, 199, 201 f. Sechs-Tage-Krieg 49 Selbstbestimmung (individuelle) 39, 106 Selbstbestimmungsrecht der Kirche 124, 126 Selbstbestimmungsrecht der Völker 44 f. Sexualmoral der Kirche 128 Sklaverei 11, 85, 158 Solidarismus 84, 87 Solidarität 45, 49 f., 52, 74, 79 f., 88, 97, 123, 137 ff., 151 Sowjetunion 43 ff., 56, 61 f., 189 Sozialismus 44 f., 189 – demokratischer Sozialismus 45 – mit menschlichem Antlitz 44, 61 – Sozialistischer Deutscher Studentenbund 47 f., 54, 60 Soziallehre der Kirche 75 f., 85, 87, 89 f., 93, 96, 121 ff., 138, 151, 205, 208 Springer-Konzern 48 f. Staatssicherheitsdienst der DDR 47 Strafrecht 21, 108, 128 Subsidiarität 34, 81, 85, 97 Supreme Court 102, 159, 171 Toleranz 26, 202, 204 Transhumanismus 149 Tugend 30 ff., 61, 93, 95, 138 ff., 141, 143 ff., 146 f., 151 f.

Stichwortverzeichnis Ukraine-Krieg 44, 52, 172 ff. Unabhängigkeitserklärung (USA) 13 ff., 190 f. Universalität 17, 19, 44, 122 Universitäten 53, 55, 56 ff., 114 ff., 131, 159, 169 – Mitbestimmung 57 ff. – Studentenbewegung 43, 48, 50, 52, 54, 60 f. Venia docendi 131 Verfolgung 122 Verkündigungsdienst der Kirche

119 ff.

217

Vernunft 29, 32, 35, 38, 82, 91, 93 f., 96 Vietnam-Krieg 43 f., 46, 51 ff., 61 Volksverhetzung 107, 128 Wiedervereinigung Deutschlands 47, 61 Wirtschaftsethik 63, 71 ff., 75 ff. Wirtschaftswachstum 77 ff. Wissenschaftsfreiheit 102, 114 Wokeness 83, 101 ff. Wucher(zins) 66 f., 70, 74 Würde der Person 81 f., 94 f., 97, 107 ff., 113, 120, 122, 174

Autorenverzeichnis Aretz, Jürgen, Dr. phil., M.A., Staatssekretär a.D., Generalbevollmächtigter der Thüringer Aufbaubank in Brüssel a.D., Bonn-Bad Godesberg. Dougherty, Richard, Ph.D., Department Chairman and Graduate Director of the Politics program, University of Dallas, USA. Fast, Francis, Ph.D., Assistant Professor of Philosophy, Newman Theological College, Edmonton, Kanada. Franco, Giuseppe, Privatdozent, Dr. phil. Dr. theol., Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Häberle, Lothar, Dr. rer. pol., stellvertretender Direktor des Lindenthal-Instituts, Köln. Hillgruber, Christian, Professor Dr. iur., Direktor des Instituts für Kirchenrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Mückl, Stefan, Professor Dr. iur. Dr. iur. can., Professor für Kirchenrecht, insbesondere Verkündigungs- und Staatskirchenrecht, Fakultät für Kanonisches Recht, Päpstliche Universität Santa Croce, Rom. Pinchuk, Nicholas T., Chairman and Chief Executive Officer of Snap-on Incorporated, Kenosha (Wisconsin), USA. Schlag, Martin, Professor Dr. iur. Dr. theol., Inhaber des Alan W. Moss Stiftungslehrstuhls für Katholische Soziallehre am Zentrum für Katholische Studien, University of St. Thomas (Minnesota), USA. Spieker, Manfred, Professor em., Dr., Lehrstuhl für Christliche Soziallehre, Universität Osnabrück. Walz, Matthew, Ph.D., Assistant Professor of Philosophy, University of Dallas, USA.